ANNE TYLER
Drei Tage im Juni
Übersetzt von Michaela Grabinger
Gail ist direkt, pragmatisch und ehrlich. Auf andere, erfährt man schon auf den ersten Seiten, wirkt ihre Kompromisslosigkeit und Unfähigkeit, sich leutselig zu geben, aber auch irritierend. Ihr Blick auf die Welt ist voll entlarvender, feinsinniger Nuancen. Jetzt heiratet ihre Tochter Debbie, ihr Ex-Mann Max quartiert sich überraschend mit einer Katze bei ihr ein, und ihre Stellung an einer Schule ist wegen angeblicher Sozialinkompetenz plötzlich in Gefahr. Gails Unverständnis über die Vorwürfe ihrer Vorgesetzten, ihr vorsichtiger Umgang mit dem gemütlichen Max und die Katze, die sie nicht will, aber deren Nähe sie dennoch sucht, zeichnen das Bild einer vielschichtigen Frau, die oft Einsamkeit den Komplikationen des menschlichen Miteinanders vorzieht. Anne Tyler ist eine Meisterin der leisen Töne, in ihren Erzählungen schwingt Wertschätzung für die Unterschiedlichkeit von Bedürfnissen und Wahrnehmung mit, die ihresgleichen sucht. Gails Herz und Humor sind vielleicht nicht für alle fassbar, aber mehr als reichlich vorhanden, wenn man sie nimmt, wie sie ist. Tylers drei Tage langsamer Wiederannäherung sind wunderschön, ein Kammerspiel und Vorgeschmack auf ihre großartigen Romane für alle, die diese noch nicht kennen! (md)
Anne Tyler kann Beziehungen, selbst schwierige, mit stillem Zauber füllen. Unbedingt lesenswert!
KEIN & ABER, 240 Seiten, 23 Euro
HÉLÈNE LAURAIN
Bis alles brennt
Übersetzt von Isabel Kupski
Laetitia referenziert ihr Leben an Katastrophen wie in Tschernobyl: „am 26. April 1986 / 44 Minuten nach Mitternacht / kam ich auf der Entbindungsstation des Orangers zur Welt / 3 Minuten vor der Schwester / 39 Minuten vor der Freisetzung / von 200 Hiroshima-Bomben“ Sie will nicht hinnehmen, dass radioaktiver Abfall in Lothringen gelagert wird, wo sie lebt. Mit beißender Ironie skizziert sie Konsequenzen, rechnet mit dem Untergang. Laetitia verschreibt sich dem Aktivismus, ihr gelingt eine erfolgreiche Aktion. Doch das reicht nicht. Sie distanziert sich von ihrer Familie, greift zum letzten Mittel. Der Roman adressiert ein frankophiles Publikum, werden doch Verweise auf die Aktivismus-Geschichte des Landes nicht erklärt. Laurain handelt die großen Differenzen en passant mit stereotypen Szenen ab: keine Kinder in die Klimakrise gebären, Verzicht auf Fleischkonsum, die Doppelmoral hinter Palmöl („vegan der Art Waldzerstörung“) – diese Themen waren so präsent, dass das im poetischen Stil funktioniert. So widmet der Roman sich weniger dem Austausch von Argumenten als