Operative Psychologie

Forschungs- und Lehrfach

Die „Operative Psychologie“ war ein Forschungs- und Lehrfach an der Juristischen Hochschule (JHS) des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) der DDR. Diese beschäftigte sich mit „den Erscheinungen, Bedingungen, Gesetzmäßigkeiten und des psychischen Erlebens und der psychischen Steuerung des Verhaltens und der Handlungen der Menschen in der politisch-operativen Arbeit des MfS“.[1] Die auf diese Weise gewonnenen Erkenntnisse wurden zur gezielten Anwerbung und „Stabilisierung“ von Mitarbeitern als auch zur systematischen „Zersetzungpolitischer Gegner des SED-Regimes genutzt.

Lehrstuhl

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Der 1965 vom Ministerium für Staatssicherheit gegründete Lehrstuhl für Operative Psychologie entstand aus der „Arbeitsgruppe Operative Psychologie“ am Lehrstuhl für marxistisch-leninistische Philosophie und wurde zu Beginn von deren Mitarbeitern getragen, allesamt in der Anfangszeit keine Psychologen. Die Mitarbeiterzahl erhöhte sich von zunächst vier auf neun. Erst 1969 wurde der erste Diplompsychologe eingestellt. Später achtete man darauf, den Lehrstuhl mit Fachkräften zu besetzen.[2]

„Operative Psychologie“ als Lehrfach

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Anfangs spielte psychologisches Wissen während der Ausbildung an der Juristischen Hochschule keine Rolle. Die erste auffindbare Schrift, die die Aufgaben und Grundzüge der Psychologie innerhalb des MfS umreißt, stammt aus dem Jahr 1960.[3][4] Der 1965 gegründete Lehrstuhl wurde in die Sektion „Politisch-operative Spezialdisziplin“ eingegliedert. Spätestens mit Inkrafttreten der MfS-Richtlinie Nr. 1/76 zur Entwicklung und Bearbeitung Operativer Vorgänge (OV)[5] gewannen Faktoren zur Beeinflussung der Persönlichkeitsentwicklung von Menschen an Bedeutung.[6] Forschung und Lehre in der „operativen Psychologie“ waren praxisnah und anwendungsorientiert. Die „Operative Psychologie“ förderte hierbei weniger grundlegend neue psychologische Erkenntnisse zu Tage, sondern beschäftigte sich vorrangig analytisch mit dem Einsatz bekannter Methoden.[7] Den Studenten wurden hierbei vor allem Grundkenntnisse der Psychologie vermittelt.[8][9] So sollten Untersuchungsergebnisse zu Gefühlen, Bedürfnissen und Beziehungen von Menschen, aber auch Erkenntnisse der Gruppenanalyse und zwischenmenschlicher Phänomene wie Vertrauen, Bindungen und Leitung für Zersetzungsmaßnahmen nutzbar gemacht werden.[10] „Operative Psychologie“ war Pflichtfach an der Juristischen Hochschule der Staatssicherheit.[11] Der Anteil am Gesamtanteil am Studium betrug 131 von 2.615 Unterrichtsstunden.[12] Insgesamt haben rund 10.000 MfS-Offiziere an der JHS Kurse in Psychologie gehört.[13] Es bestand die Möglichkeit, mit Studien zur „operativen Psychologie“ einen Doktorgrad zu erwerben.[14] Der Sprachstil und die Ausdrucksweise der Promotionsarbeiten war häufig polemisch und propagandistisch und teils so einfach gehalten, dass die Diktion eher journalistischen Darstellungen als wissenschaftlichen Arbeiten glich. Es fanden sich darin kaum konkrete Anweisungen zur Umsetzung der Operativen Psychologie. Das MfS konnte seinen selbst gestellten wissenschaftlichen Anspruch nicht erfüllen, denn außer vagen Aussagen und abgekupferten allgemeinpsychologischen Statements brachte die Operative Psychologie keine eigenen wissenschaftlichen Leistungen hervor. Alle wichtigen Kriterien für wissenschaftlich-psychologisches Arbeiten, wie empirische Untersuchungen, theoretischer Unterbau, mögliche Falsifizierbarkeit von Hypothesen, Offenheit und Wertfreiheit wurden kaum erfüllt.[15]

Einsatz und Folgen „operativer Psychologie“

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Die während der Ausbildung zum MfS-Diplomjuristen vermittelten Wissensbestände dienten unmittelbar als praktisches Mittel zur „Feindbekämpfung“. Ziel war es, mit psychologischen Mitteln Einfluss auf Personen in der Form zu nehmen, dass „diese erschüttert und allmählich verändert werden beziehungsweise Widersprüche sowie Differenzen zwischen feindlich-negativen Kräften hervorgerufen, ausgenutzt oder verstärkt werden“[16] um eine „Zersplitterung, Lähmung, Desorganisierung und Isolierung feindlich-negativer Kräfte“[16] zu bewirken. Der „operativen Psychologie“ kam hierbei die Aufgabe zu, das „Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl eines Menschen [zu] untergraben, Angst, Panik, Verwirrung [zu] erzeugen, einen Verlust an Liebe und Geborgenheit [hervorzurufen] sowie Enttäuschung schüren“.[17] Bei politischen Gegnern sollten Lebenskrisen hervorgerufen werden, die diese so stark verunsicherten und psychisch belasteten, dass diesen die Zeit und Energie für staatsfeindliche Aktivitäten genommen wurde. Das MfS als Drahtzieher der Maßnahmen sollte hierbei für die Opfer nicht erkennbar sein.[18] Psychologische Mittel sollten hierbei helfen, „die Psyche des Feindes genauer zu erkennen und zu beeinflussen“[19], um „Erkenntnisse über Gedanken oder Gefühle, typische Verhaltensweisen und psychische Eigenschaften des Gegners, die wertvolle Hinweise für seine Entlarvung und Liquidierung, Beeinflussung, Zersetzung und Überwachung“ liefern, zu erhalten.[19]

Auch während Verhören fanden Methoden der „operativen Psychologie“ zur „Stimulierung der Aussagebereitschaft von Personen in der Untersuchungsarbeit“ Anwendung.[20] Hierbei kamen auch Geräusche und Lichteffekte zur Erzeugung von Schlaflosigkeit, Angstzuständen oder Desorientierungen hinzu. Zudem wurde die „operative Psychologie“ seitens der Führungsoffiziere bei der Zusammenarbeit mit inoffiziellen Mitarbeitern (IM) eingesetzt, um neue Mitarbeiter anzuwerben sowie Vertrauensverhältnisse aufzubauen.[21]

Bei den Opfern von Zersetzungsmaßnahmen auf Grundlage „operativer Psychologie“ lassen sich häufig bis heute psychosomatische Erkrankungen und posttraumatische Belastungsstörungen feststellen. Der Schriftsteller Jürgen Fuchs sprach deshalb auch von „psychosozialen Verbrechen“ und einem „Angriff auf die Seele des Menschen“.[17], der Psychotherapeut Klaus Behnke bezeichnete diese Methoden als „psychische Folter“.[22]

Die Operative Psychologie beschäftigte sich gemessen an ihren Zielen am häufigsten mit den Feinden, womit sie ihre Ausrichtung gegen Menschen zeigt. Es wurden vier Ziele, die zur Verwirklichung der Operativen Psychologie innerhalb der Stasi beitragen sollten, selbst genannt:[23]

  1. Feindbearbeitung
  2. Arbeit mit hauptamtlichen Kadern
  3. Arbeit mit IM
  4. Arbeit am Feindbild und die Auseinandersetzung mit feindlichen Ideologien

Literatur

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  • Babett Bauer: Kontrolle und Repression – Individuelle Erfahrungen in der DDR 1971–1989. Göttingen 2006.
  • Klaus Behnke: Zersetzungsmaßnahmen – Die Praxis der „operativen Psychologie“ des Staatssicherheitsdienstes und ihre traumatisierenden Folgen. In: Ulrich Baumann, Helmut Kury (Hrsg.): Politisch motivierte Verfolgung – Opfer von SED-Unrecht (= Kriminologische Forschungsberichte aus dem Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht, Bd. 84). Freiburg i. Br. 1998.
  • Jürgen Fuchs, Klaus Behnke: Zersetzung der Seele: Psychologie und Psychiatrie im Dienste der Stasi. Hamburg 1995, ISBN 3-88022-365-3. Neuauflage, Hamburg 2010, ISBN 978-3-931705-35-0.
  • Sandra Pingel-Schliemann: Zersetzen – Strategie einer Diktatur (= Schriftenreihe des Robert-Havemann-Archivs, Bd. 8). Berlin 2003.
  • Holger Richter: Die Operative Psychologie des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR. Frankfurt am Main 2001, ISBN 3-933050-72-3.
  • Stefan Trobisch, Klaus Behnke: Panik und Bestürzung auslösen. Die Praxis der „operativen Psychologie“ des Staatssicherheitsdienstes und ihre traumatisierenden Folgen. In: Gedenkstätte für die Opfer politischer Gewalt Moritzplatz Magdeburg u. a. (Hrsg.): Die Vergangenheit lässt uns nicht los. Haftbedingungen politischer Gefangener in der SBZ/DDR und deren gesundheitlichen Folgen. Berlin 1997, S. 165–188.
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  • Maik Bieleke: Operative Psychologie: Der Missbrauch einer Wissenschaft durch das Ministerium für Staatssicherheit der DDR. Archiviert vom Original;.
  • Ministerium für Staatssicherheit: Richtlinie Nr. 1/76 zur Entwicklung und Bearbeitung Operativer Vorgänge (OV). 1. Januar 1976; (wiedergegeben auf stasi-mediathek.de).
  • Gábor Paál, Maximilian Schönherr: Die geheime Stasi-Akademie für „Operative Psychologie“. (mp3-Audio; 47,3 MB; 55:07 Minuten) In: Archivradio. 11. Juni 2020;.

Einzelnachweise

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  1. Zitiert nach Sandra Pingel-Schliemann: Zersetzen – Strategie einer Diktatur (= Schriftenreihe des Robert-Havemann-Archivs, Bd. 8). Berlin 2003, S. 202.
  2. Holger Richter: Die Operative Psychologie des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR. Kap. 7, S. 311.
  3. P. Felber: Der Gegenstand der Psychologie und die Bedeutung der Psychologie für die Arbeit des Ministeriums für Staatssicherheit, MfS JHS VVS Z. Tgb.-Nr. 145/60, BStU ZA JHS K 468.
  4. Holger Richter: Die Operative Psychologie des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR. Mabuse-Verlag 2015. S. 311.
  5. Ministerium für Staatssicherheit: Richtlinie Nr. 1/76 zur Entwicklung und Bearbeitung Operativer Vorgänge (OV). 1. Januar 1976, abgerufen am 18. Juni 2020 (wiedergegeben auf stasi-mediathek.de).
    Richtlinie Nr. 1/76 zur Entwicklung und Bearbeitung Operativer Vorgänge vom 1. Januar 1976. Dokumentiert in Roger Engelmann, Frank Jostel: Grundsatzdokumente des MfS. In: Anatomie der Staatssicherheit – Geschichte, Struktur, Methoden. Berlin 2004, S. 285f.
  6. Vgl. Pingel-Schliemann: Zersetzen, S. 201.
  7. Operative Psychologie. (pdf; 103 kB) In: Zersetzung.net. 2. März 2010, abgerufen am 27. August 2010.
  8. Vgl. Klaus Behnke: Zersetzungsmaßnahmen – Die Praxis der „operativen Psychologie“ des Staatssicherheitsdienstes und ihre traumatisierenden Folgen, in: Ulrich Baumann/Helmut Kury (Hg.): Politisch motivierte Verfolgung – Opfer von SED-Unrecht, Kriminologische Forschungsberichte aus dem Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht, Bd. 84, Freiburg i. Br. 1998, S. 381.
  9. Vgl. Holger Richter: Die Operative Psychologie des Ministeriums für Staatssicherheit in der DDR, Frankfurt a. M. 2001, S. 193.
  10. Pingel-Schliemann: Zersetzen, S. 202 u. 211, sowie Richter: Psychologie, S. 212.
  11. Karl C. Mayer: Glossar: Zersetzen. In: neuro24.de. 9. April 2012, abgerufen am 7. August 2010.
  12. Günter Förster: Die Juristische Hochschule des MfS. In: Anatomie der Staatssicherheit – Geschichte, Struktur, Methoden, Bd. III/6. Berlin 1996, S. 7f.
  13. Holger Richter: Die Operative Psychologie des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR. In: Holger-Richter.de. Archiviert vom Original am 30. März 2019; abgerufen am 18. Juni 2020.
  14. Gisela Schütte: Die unsichtbaren Wunden der Stasi-Opfer. In: welt.de. 2. August 2010, abgerufen am 18. Juni 2020.
  15. Holger Richter: Die Operative Psychologie des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR. Mabuse-Verlag 2015. S. 308f.
  16. a b Ministerium für Staatssicherheit (Hg.): Wörterbuch zur politisch-operativen Arbeit, 2. Auflage (1985), Stichwort: „Zersetzung“, S. 464.
  17. a b Pingel-Schliemann: Zersetzen, S. 188.
  18. Sandra Pingel-Schliemann: Lautlose Formen der Zerstörung – Zersetzungsmaßnahmen des MfS, in: Deutschlandarchiv 35 (2003), S. 235.
  19. a b MfS JHS VVSo001 – 106/68 BStU ZA JHS 24 470.
  20. Aus dem Lehrplan der Juristischen Hochschule Potsdam-Eiche, zit. n. Klaus Behnke: Lernziel: Zersetzung, in: Jürgen Fuchs/Klaus Behnke: Zersetzung der Seele – Psychologie und Psychiatrie im Dienst der Stasi, Hamburg 1995, S. 20.
  21. Vgl. Babett Bauer: Kontrolle und Repression – Individuelle Erfahrungen in der DDR 1971–1989, Göttingen 2006, S. 89f.
    Wie eine Marionette. In: Der Spiegel. Nr. 13, 1995 (online27. März 1995).
  22. Psychologie im Dienst der Stasi. In: Arte.tv. Archiviert vom Original am 13. April 2010; abgerufen am 18. Juni 2020 (Interview mit Klaus Behnke).
  23. Holger Richter: Die Operative Psychologie des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR. S. 312.