Elternbuch2016 PDF
Elternbuch2016 PDF
Elternbuch2016 PDF
Vorwort 4
1. Teil
Über die Grundbedürfnisse von Kindern
Einführung 6
Die Bedürfnisse von Kindern sind immer die gleichen 7
Eltern sorgen für die Befriedigung von Grundbedürfnissen 8
Grundbedürfnisse und Erziehung 9
Zur Auswahl der Grundbedürfnisse 9
Die Grundbedürfnisse im Einzelnen 12
Physische Grundbedürfnisse 12
Das Bedürfnis nach Sicherheit 15
Das Bedürfnis nach Liebe 19
Das Bedürfnis nach Anerkennung 21
Das Bedürfnis nach Vertrauen 24
Das Bedürfnis nach Führung 27
Das Bedürfnis nach Förderung 30
Das Bedürfnis nach Freude 33
Das Bedürfnis nach Verständnis 35
Das Bedürfnis nach Frieden 37
Das Bedürfnis nach Sinn 40
Zum Schluss 44
2. Teil
Was Eltern und Berufspädagogen
bewegt
1.
Übereinstimmungen in der Erziehung
Einführung 47
Die Familie als interaktives Geflecht 48
In der Erziehung an einem Strang ziehen 51
Eltern erziehen nicht allein 53
2.
Drohen, strafen, Grenzen setzen
Einführung 56
Was sind Strafen? 57
Straffolgen 58
Brauchen Kinder Strafe? 60
Kinder lernen aus Folgen 62
Kinder ermutigen 64
1
3.
Unsere Kinder reiben sich an uns und wir an ihnen
Einführung 65
Die menschlichen Aggressionen 66
Einige Ursachen aggressiven Verhaltens 69
Aggressivität in unserem Alltag 73
Aggression und Gewalt als pädagogische Herausforderungen 74
Zank und Streit unter Kindern 79
Geschwister streiten gern miteinander 81
Im Vorschulalter macht uns der kindliche Trotz zu schaffen 84
4.
Über die Ängste von Kindern
Einführung 92
Die Verlassenheitsangst 92
Von der Angst, nicht beachtet zu werden 94
Die Versagens- oder Leistungsangst 94
Vom Umgang mit Ängsten 97
Einige Hinweise zum Schluss 98
5.
Sexualität und Erziehung
Einführung 100
Sexualität ist natürlich 101
Sexualität als soziales Verhalten 101
Sexualität und Entwicklung 102
Sexualität und Erziehung 107
6.
Kinder werden selbständig
Einführung 106
Die Verselbständigungsphase „Pubertät“ 107
Selbständigkeit als Erziehungsaufgabe 110
Selbständigkeitsstreben und Elternverantwortung 113
Günstige Bedingungen auf dem Weg zur Selbständigkeit 115
Wer sich lösen können soll, muss sich gebunden haben 118
Erfahrungen von Eltern 119
7.
Der Umgang mit Geld
Einführung 121
In den Familien ist Geld immer ein Thema 122
Einige Rahmenbedingungen und Erfahrungen 125
8.
Kinder spielen und lernen
Erfahrungen und Empfehlungen zum schulischen
und außerschulischem Lernen
Einführung 131
Die kindliche Neugier 132
Kinder brauchen andere Kinder 134
Einige Informationen über das Lernen 135
Was das Lernen fördert oder behindert 136
Über das Spiel und seine Bedeutung 142
2
Spielen muss möglich sein 144
Spielen wir gern mit unseren Kindern? 146
Formen des Spiels 148
Spielleidenschaft 149
9.
Lernen und Schule
Einführung 152
Die Schule als Herausforderung 153
Elternhaus und Schule müssen zusammenwirken 156
Eltern und Kinder berichten 158
Pädagogische Einrichtungen sind Teil eines Gemeinwesens 163
Lernmotivation und Schule 166
Eine gute Schule? 168
Bewährte Haltungen und Strategien 171
10.
Unsere Kinder und die Bildschirmmedien
Einführung 177
Elektronische Medien und Erziehung 178
Vor dem Bildschirm 182
Der Computer als Freund und Helfer? 187
Mit den Fingern auf dem Smartphone 193
Anmerkungen zum Internet 195
Zusammenfassung 199
11
Schlussbemerkungen 200
Anmerkungen 201
Literaturverzeichnis 205
3
„Sei still!“
Erziehung und Bildung in der Familie
Ein Buch für Eltern
und für alle, die sich mit Erziehung und Bildung befassen
Vorwort
„Wer seine Kinder liebt, der züchtigt sie“ mit diesen Worten überreichten
meine Großeltern meinen Eltern für ihre beiden Kinder einen Rohrstock, als
sie uns Ende der dreißiger Jahre im vergangenen Jahrhundert besuchten.
Meine Schwester und ich waren empört. Und als Oma und Opa wieder ab-
gereist waren, zerbrachen wir den Stock.
Mich ließ dieses Erlebnis nicht los. Ich muss noch heute immer wieder daran den-
ken. Und dass ich später Pädagoge von Beruf wurde, ist auch dieser Erinnerung
geschuldet.
Brauchen Kinder „Züchtigungen“? Müssen wir Eltern und Berufspädagogen sie
aus welchem Anlass ständig ermahnen: „sei still!“ oder sonst wie „zur Ordnung
rufen“ und auch noch bestrafen? So, wie das in einigen Kulturen und Religionsge-
meinschaften noch heute üblich ist.
Seither suchte und fand ich Antworten auf diese und viele andere Fragen.
Gern berichte ich Ihnen darum auf den folgenden Seiten über meine Erfahrungen
als Erzieher vieler Kinder, eigenen und fremden. Und ich trage zusammen, was ich
mit anderen Eltern in vielen Elternabenden und Familienwochenenden über Er-
ziehungsfragen austauschte. Aus alledem ergaben sich eine ganze Reihe von Emp-
fehlungen ganz allgemein zum Leben mit Kindern und im Besonderen zu be-
stimmten Einzelthemen.
Ich hatte bereits vor zehn Jahren begonnen, alles dies auf meine Homepage
www.rumpfs-paed.de einzustellen. Sehr häufig wird sie inzwischen aufgesucht. Ich
habe einen großen Teil dieser Texte überarbeitet und in diesem Buch für Sie zu-
sammengestellt.
Es ist kein einfaches Unterfangen, dieses Buch zu lesen. Ich habe nicht nur rund
sechzig Jahre in pädagogischen Berufen gearbeitet, sondern mich auch theoretisch
mit Themen aus Erziehung und Bildung befasst. Aus beidem erwuchsen die An-
sprüche an Inhalt und Form alles dessen, was hier zusammengestellt ist. Sollten
Sie Fragen haben oder etwas ergänzen wollen, dann teilen Sie mir das bitte mit!
Und wenn Sie es wünschen, dann füge ich gern Ihre Erfahrungen auf die thema-
4
tisch dazu passenden Seiten auf meine Homepage mit ein. Vielleicht gelingt es
dann mit der Zeit, beide mit Gewinn zu verbinden: einen Buchtext, der ja nicht
einfach verändert werden kann, mit dem dazu passenden Aufsatz im Internet, der
jederzeit modifiziert und gleichsam auf den neuesten Wissensstand gebracht wer-
den kann.
Die von mir verfassten Texte ersetzen weder die Fachliteratur über die jeweiligen
Gegenstände noch können und wollen sie mit Elternratgebern über Fragen der Er-
ziehung und Entwicklung konkurrieren. Ich denke da unter anderem an Veröffentli-
chungen wie die im Internet „Elternwissen kompakt“ oder die Schriftenreihe „Klett
Extra für Eltern“ aus den siebziger Jahren, an die Taschenbücher aus dem Rowohlt
Verlag „Das Elternbuch“ oder an die Eltern-Ratgeber-Reihe aus dem Südwest-
Verlag, die ganz neu in den Buchhandel kamen. Aber auch die populärwissenschaftli-
chen Bücher von dem Adler-Schüler Rudolf Dreikurs u.a. (z.B. „Kinder fordern uns
heraus“) oder von der Ärztin und Waldorfpädagogin Michaela Glöckler (z.B. „Eltern-
fragen heute“), möchte ich interessierten Eltern als Literatur empfehlen.
Im Unterschied zu diesen Schriften sind meine Texte auf wenige Erziehungsproble-
me beschränkt und konzentrieren sich auf Fragestellungen, die Eltern im Alltag be-
wegen. Ihre Auswahl wurde von der Häufigkeit bestimmt, mit der die jeweiligen Ka-
pitel in meiner Homepage aufgerufen wurden.
Meine eigenen fachlichen Überzeugungen werden von drei humanwissenschaft-
lichen Erkenntnissen geleitet:
5
1. Teil
Einführung
Einmal im Monat kommen Elsbeth und ihre Tochter uns besuchen. Die kleine
Anita ist inzwischen anderthalb Jahre. Stolz über ihre Leistung schaut sie mei-
ne Frau und mich an, nachdem sie die zwei Etagen ganz allein und Stufe für
Stufe emporgestiegen ist. „Was sagt ihr nun? Bin ich nicht schon groß?“
Natürlich bewundern die Mama und wir ihren Erfolg und lächeln sie an und
freuen uns darüber.
Anschließend geht sie voran in den Raum mit den vielen Büchern. Zielsicher
strebt sie dem kleinen Tisch zu, auf dem, wie sie von den vorangegangenen Be-
suchen her weiß, etwas zum Spielen für sie bereitliegt. Diesmal ist ein kleines
Büchlein dabei: Die Biene Maja ist auf dem Einband zu sehen. Sie nimmt das
Buch, zeigt es strahlend ihrer Mama, schaut sich um und geht durch den Raum
hinüber zur Couch auf die sie hinaufklettert. Sie wendet sich zum Tisch, legt
das Büchlein darauf und beginnt zu blättern. Ihr Tun begleitet sie mit Ein- und
Zweiwortsätzen, auf die wir Erwachsenen jeweils bestätigend reagieren. Einer
von uns setzt sich zu ihr und schaut mit ihr gemeinsam die Bilder an und
spricht mit ihr darüber…
Nichts Besonderes möchte man sagen. So begegnen wir unseren Kindern doch je-
den Tag. Das ist doch für uns kein Thema! Was hat dieses alltägliche Geschehen
mit den Bedürfnissen der Anita zu tun?
In unserem Alltagshandeln im Umgang mit unseren kleinen und großen Kindern
gehen wir auf sie ein, befriedigen so deren Bedürfnisse, sorgen dafür, dass sie sich
wohl fühlen. Michele erfuhr in dieser kaum halbstündigen Episode eine vielseitige
Förderung: Die Herausforderung des Treppensteigens, den Stolz auf die erbrachte
Leistung, die Anerkennung von Seiten der für sie wichtigen Bezugspersonen, die
Freude über ein neues Spielzeug und dessen Aufforderungscharakter, die verbale
Kommunikation vor dem Hintergrund liebevoller, akzeptierender Zuwendung…
Und über jede Stunde im Leben dieses Kindes in Gemeinschaft mit seinen Eltern
und anderen Erwachsenen und Kindern ließe sich viel erzählen. Auch darüber,
dass Anita fordernd und quengelig sein kann, wenn sie mit den Eltern über den
Markt geht, oder dass sie sich beim Spiel mit Gleichaltrigen heftig streitet mit älte-
ren Kindern aber gut zu Recht kommt. Und stets sind Mutter und Vater gefordert
so zu reagieren, dass sie den Bedürfnissen ihres Kindes gerecht werden, sie ange-
messen „beantworten“ und auf diese Weise dessen Wohl fördern. Und dieses
„Wohl“, um das es im Zusammenleben mit unseren Kindern unaufhörlich geht,
soll nun etwas ausführlicher betrachtet werden.
6
Die Bedürfnisse von Kindern sind immer die gleichen.
Die Bedürfnisse von Kindern waren und sind zu allen Zeiten und in allen Kultu-
ren oder in jeder Bevölkerungsgruppe die Gleichen. Bei näherem Hinschauen ist
erkennbar, dass die hier vorgetragenen "Grundbedürfnisse" konkreter Ausdruck
der in der deutschen Rechtsprechung zentralen Formel vom "Wohl des Kindes"
sind.
Weder Veränderungen in politischen und ökonomischen Systemen noch in den
Bereichen der Kultur, wie zum Beispiel unterschiedlicher Akzentuierungen von
Wertvorstellungen, haben etwas an diesen Grundbedürfnissen geändert.
In einem Interview in der Zeitschrift Diskurs (2/1992) sprach Urie Bronfenbrenner
in diesem Zusammenhang von den in der Erziehung gültigen "Universalien".
Diese "Universalien in der Kindererziehung" sind genau die, die sich in den For-
schungsergebnissen der verschiedenen humanwissenschaftlichen Disziplinen wi-
derspiegeln.
Die US-amerikanischen Professoren Thomas Berry Brazelton und Stanley Green-
span (2002, S. 9) ziehen nach ausführlichen Recherchen eine niederschmetternde
Bilanz:
"Die elementaren Bedürfnisse der Kinder werden weder bei uns noch in anderen
Ländern wirklich befriedigt". Beide Mediziner haben folgende Grundbedürfnisse"
("irreducible needs", d. i.: nicht ableitbare, unabdingbare Bedürfnisse) herausge-
arbeitet:
beständige liebevolle Beziehungen,
körperliche Unversehrtheit, Sicherheit und Regulation,
Erfahrungen, die auf individuelle Unterschiede zugeschnitten sind,
entwicklungsgerechte Erfahrungen,
Grenzen und Strukturen,
stabile, unterstützende Gemeinschaften und kulturelle Kontinuität,
globales Verantwortungsbewusstsein, das auch die Kinder in armen Ländern
einbezieht.
7
oder sehr wohl beschreibbare "Familienatmosphären" andeuten. Armin Krenz hat
nicht zuletzt aus dieser Erkenntnis heraus, unsere Begegnungen mit dem Kind als
eine, an Werten orientierte „Umgangskultur“ beschrieben (1999, S. 69 ff).
Welches Einzelthema wir auch betrachten: unsere pädagogische Wirksamkeit in
Erziehung und Bildung in den Familien und in pädagogischen Einrichtungen ist
von vielen dieser allgemeinen Bedingungen beeinflusst. Und wenn hier die Formu-
lierung gewählt ist: „Jedes Kind hat das Bedürfnis nach…“ dann sollte das nicht
missverstanden werden. Es ließe sich dafür auch setzen:
„Jedes Kind hat Anspruch auf…“ oder „Jedes Kind hat ein Recht auf…“. Dies zu
vermitteln, ist ein ganz zentrales Anliegen dieses ersten Teils.
Kinder sind nicht - zumindest nicht in erster Linie - für ihre Eltern da. Wohl aber
Eltern für ihre Kinder! Die Entscheidung für ein Kind ist stets zugleich die Ent-
scheidung für eine ganz besondere Form der Verantwortung!
Ein Kind ist kein Besitz wie ein Fahrrad oder ein Möbelstück. Es gehört also nicht
uns, auch wenn wir als Mutter oder Vater von "meinem" Kind sprechen. Doch das
ist so selbstverständlich und banal, dass es eigentlich keiner gesonderten Erwäh-
nung bedürfte, wenn - ja wenn! - es nicht doch Eltern gäbe, die meinten, das ist
mein Kind und ich allein habe zu bestimmen, ich allein weiß, was ihm gut tut, ich
..., ich..., ich...". Jedes Kind aber ist und hat eine eigenständige Persönlichkeit von
Anfang an, die sich entwickelt und ausformt im Dialog mit uns. Und Dialog heißt
unter anderem auch, den eigenen Willen und das eigene Streben unseres Kindes
mit unseren Erfahrungen, Einsichten und Erkenntnissen in einer für unser Kind
fördernden Weise in Beziehung zu bringen.
Was Eltern in Bezug auf ihr Kind wirklich und zunächst unteilbar "besitzen", das
ist die Verantwortung für ihr Kind. Die Eltern tragen diese Verantwortung zu-
nächst ungeteilt und sorgen dafür, dass die Grundbedürfnisse ihres Kindes befrie-
digt werden. Im Grunde lassen sich Eltern wie überhaupt die Erwachsenen im
Umfeld eines Kindes selbst zu den „Grundbedürfnissen“ zählen1. Bei dieser Für-
sorge für ihre Kinder bedürfen Eltern in allen Kulturen selbstverständlich der
wohlwollenden Förderung durch ihr Umfeld. Das ist einmal die eigene Familie, in
der Regel also die Großeltern, die Geschwister und die anderen in enger Verbin-
dung mit ihm lebenden Verwandten. Das sind aber auch die ideellen und materiel-
len Rahmenbedingungen, die das Familienleben in vielfältiger Weise fördern, wie
unsere Familiengesetzgebung, die Länder, Landkreise, Städte und Gemeinden o-
der die Wirtschafts- und Gesellschaftsverfassung in unserem Staat. Von dort her
sind familienunterstützende Einrichtungen am Werk und müssen ständig ausge-
baut werden. Während Kinderkrippe und Kindergarten – gleichsam im Auftrage
der Eltern – an der Betreuung, Erziehung und Bildung mitwirken, tritt später die
Schule im Auftrag des Staates hinzu und teilt sich von nun an mit dem Schwer-
punkt auf die „Bildung“, die Verantwortung für die Entwicklung eines Kindes.
8
Auf den folgenden Seiten wird diese Verantwortung in Bezug auf die Beachtung
der Grundbedürfnisse von Kindern beschrieben.
Die Entwicklung eines Kindes lässt sich auch als ein von der Natur her angelegtes
ständiges Streben nach Kompetenz und Autonomie, nach Eigenständigkeit und
Unabhängigkeit betrachten.
Diese Bestrebungen begleiten und unterstützen Eltern und Berufserzieher nach
besten Kräften. In unseren Zielvorstellungen, wenn wir Antwort auf die Frage ge-
ben, wohin wir das Kind führen wollen, bringen wir das gern zum Ausdruck. Die
Prozesse unserer Begleitung, Unterstützung oder Führung bezeichnen wir - etwas
verkürzt - als "Erziehung".
Erziehung wird in dem Ausmaß erleichtert, in dem wir Erwachsenen bereit und in
der Lage sind, auf die Grundbedürfnisse eines Kindes zu achten und sie zu befrie-
digen. Zu diesen Grundbedürfnissen gehören neben den physischen die nach Lie-
be, Sicherheit, Anerkennung, Vertrauen, Verständnis, Orientierung bzw. Führung,
Förderung, Freude, Frieden oder Sinn.
Wenn wir uns deutlich machen, was sich hinter diesen Begriffen verbirgt, wie sie
im Alltag unseres Familienlebens umgesetzt werden, dann wird uns bald klar, dass
diese Grundbedürfnisse universell sind für das Wohlbefinden eines Menschen.
Haben wir Erwachsenen das erkannt, dann ist der Schritt nicht mehr weit zu der
Erkenntnis, dass wir dann von günstigen Entwicklungsbedingungen für unser
Kind sprechen können, wenn in unserer Familie eine ausgewogene Balance zwi-
schen der Befriedigung der Grundbedürfnisse unseres Kindes und unserer eigenen
besteht. Diese Balance ist bei allen folgenden Erörterungen mitzudenken.
Für diese Ausgewogenheit freilich kann nicht unser Kind sorgen. Ein Beispiel:
Wenn Kinder zu ihrem Gedeihen "Frieden" brauchen, die ihnen wichtigen Er-
wachsenen aber im Unfrieden miteinander leben, dann sind alle Betroffenen sehr
unglücklich darüber. Und es ist die Aufgabe der Erwachsenen, dafür zu sorgen,
dass sich dieser Zustand ändert.
9
Woher kennen wir Erwachsenen diese Bedürfnisse, die selbstverständlich auch in
Erziehungs- und Bildungseinrichtungen wirksam sind? Vor allem sind es die Kin-
der selbst, die ihre Bedürfnisse aus gegebenem Anlass ausdrücken können und, je
älter umso klarer, sagen, was sie wollen und was nicht. Darum ist anzumerken,
dass mein "Katalog" keineswegs vollständig ist und, je nach eigener Erfahrung er-
weitert werden kann. Es haben sich aber auch Psychologie, Pädagogik, Anthropo-
logie oder Neurobiologie mit diesen Fragen beschäftigt. Viele ihrer Vertreter
kommen hier zu Worte.
Eltern und Erzieher werden immer wieder feststellen,
dass sich alle Bedingungen, die wir für eine positive Entwicklung unserer
Kinder brauchen, überschneiden. Eine säuberliche Trennung ist nicht immer
möglich.
Es ist zugleich mit zu bedenken, dass die hier als Grundbedürfnisse einer gedeihli-
chen körperlichen und seelischen Entwicklung von Kindern vorzustellenden Le-
bensbedingungen auch für Erwachsene Geltung besitzen. Ich denke da besonders
an unser Bedürfnis, von anderen Menschen freundlich und höflich (vgl. dazu auch
unten S. 22) angesprochen zu werden. Unsere Kinder wünschen sich das von uns
auch. Daraus folgt, dass wir unsere Kinder nicht anders behandeln, wie wir von
anderen Menschen behandelt werden möchten. Diese Grundbedingung eines
friedfertigen zwischenmenschlichen Umgangs kommt nicht aus der Pädagogik o-
der der Psychologie, sondern ist wenigstens so alt, wie das Christentum. Sowohl im
neuen wie im Alten Testament finden wir dieses Gebot (vgl.: Evangelium des Mat-
thäus, Kap. 7.12). Dass diese „Goldene Regel“ so schwer zu verwirklichen ist und
wir deren Verletzung noch heute und an jedem Tag erleben, zeigt uns, dass es nicht
leicht ist, ein als wertvoll anerkanntes Verhalten in die Tat umzusetzen. Insofern
auch wollen wir uns bescheiden: Alle von pädagogischen Fachkräften als sinnvoll
und richtig erkannten Verhaltensweisen von Eltern ihren Kindern gegenüber ste-
hen unter dem Vorbehalt unserer eigenen Unzulänglichkeit. Wir wollen zwar im-
mer das Beste aber wir "sind halt auch nur Menschen".
Diese Selbsterkenntnis soll uns jedoch nicht daran hindern, darüber nachzuden-
ken, darüber zu sprechen und uns zu vergewissern, was denn - von unserer Le-
benserfahrung und von den Wissenschaften her bestätigt - für unsere Kinder gut
und schlecht ist.
Am Anfang der Entwicklung eines Menschen stehen die Kindheitsphasen in El-
ternhaus, Tagesstätten und Schulen. Diese Lebensbereiche sind es, die für eine
entwicklungsfördernde Befriedigung der Grundbedürfnisse jede Unterstützung
verdienen. Sowohl die politischen Gremien, die staatliche Verwaltung wie auch
jeder Einzelne in seiner Eigenschaft als Staatsbürger tragen die Verantwortung
dafür, dass alle Mittel bereit gestellt und alle Möglichkeiten genutzt werden, um
die Rahmenbedingungen zu schaffen, die die Grundbedürfnisse unserer Kinder
sichern.
Mit der Bedürfnisauswahl werden Akzente gesetzt ohne damit andere Lebensbe-
dingungen, die dem Kindeswohl dienen, ausschließen zu wollen. Für die Entwick-
lung von Kindern sind zum Beispiel Bewegung, Musik, Räume, Begegnungen mit
anderen Kindern und der Natur ebenfalls von großer Bedeutung. Gläubige Men-
10
schen in den verschiedenen Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaften
werden ihre Glaubensinhalte als Bedürfnisse betrachten.
Bruno Bettelheim schrieb ein Buch mit dem Titel "Kinder brauchen Märchen",
(München 12/1988) eine Einsicht, die auch die Waldorfpädagogik teilt, wie es Ar-
nica Esterl (2011) darstellt und Hildegard Bockhorst überschreibt ihr Buch: „Kin-
der brauchen Spiel und Kunst“ (2/2006).
Andere Autoren widmen noch anderen Bedürfnissen ihre Aufmerksamkeit, wie
zum Beispiel Wayne Dosick: „Kinder brauchen Werte“ (München 1995) oder ganz
allgemein: Armin Krenz: "Was Kinder brauchen. Entwicklungsbegleitung im Kin-
dergarten" (Freiburg 1995). Einige, der in meinem Aufsatz erwähnten Bedürfnisse
überschneiden sich auch oder widersprechen sogar den Auffassungen anderer Pä-
dagogen. So grenzt zum Beispiel Armin Krenz "Erziehung" ab von "Entwicklungs-
begleitung". Wir finden ähnliche Unterscheidungen im Konzept der "Antipädago-
gik", wie es Ekkehard von Braunmühl (Weinheim 1983) oder etwas modifiziert
Hubertus von Schoenebeck (München 1982) vertreten. Dagegen wurde von eini-
gen Autoren, von Eltern und Berufspädagogen mehr "Mut zur Erziehung" gefor-
dert und der Erziehungsprozess gleichgesetzt mit Befehl und Gehorsam (vgl. z. B.:
Bernhard Bueb: Lob der Disziplin. München 2006).
Derartig unterschiedliche Vorstellungen trugen und tragen nicht zuletzt zu den
bereits erwähnten Unsicherheiten bei, von denen vor allem die in Ausbildung be-
findlichen Berufspädagogen betroffen waren. Ob ein Kind Erziehung, verstanden
als bewusste direkte und indirekte Formen der Beeinflussung von Haltungen und
Verhaltensweisen durch Erwachsene überhaupt braucht, wird von einigen Autoren
in Frage gestellt. Über diese Fragen nachzudenken ist legitim. Wer aber Eltern und
Berufspädagogen keine andere Orientierung, die sich in der Lebenswirklichkeit
bewährte, anzubieten hat, handelt leichtfertig.
Jeder von uns Eltern und Berufserziehern hat erlebt, dass unsere erzieheri-
schen Bemühungen in jeder Entwicklungsphase an Grenzen stießen. Gren-
zerfahrungen aber sollten zum Nachdenken über uns selbst, über unser Ver-
halten dem Kind gegenüber und nicht in die Resignation führen oder uns zu
einer Haltung veranlassen, das Kind sich gleichsam selbst zu überlassen.
Wer nach vergeblichen Anläufen der Einflussnahme auf ein Kind das Handtuch
wirft und sagt "mach doch was du willst", öffnet dem Kind, das Orientierung
wünscht und Grenzen fordert, die Tür hin zu anderen, durch uns nicht beeinfluss-
baren Ansichten und Verhaltensweisen. Wenn Eltern sich sagen (lassen) müssen,
dass Fehlentwicklungen ihrer Kinder in Umständen ihre Wurzeln haben, die in
den Familie beziehungsweise im familiären Umfeld gesucht werden müssen, oder
wenn Fehlentwicklungen in der Schule ausgelöst werden, weil dort die Grundbe-
dürfnisse nicht beachtet wurden, dann steht nun eine Plattform zur Verfügung von
der aus die Situation eines Kindes geprüft und diskutiert werden kann mit dem
Ziel, eine optimale Entwicklung dieses Kindes zu ermöglichen. Nach wie vor aber
gilt, dass unseren Kinder selbst jene Bedürfnisse, die sie wünschen und brauchen,
bewusst sind. Hierbei ist ihnen die Familie selbst die Wichtigste2.
11
Die Grundbedürfnisse im Einzelnen
Physische Grundbedürfnisse
Sie sind eigentlich am einfachsten zu erkennen: Nahrung, Wärme, Schlaf und Be-
wegung brauchen wir alle, um wachsen und gedeihen zu können. Wir Erwachse-
nen bremsen eher bei der Nahrungsaufnahme; vor allem, wenn wir Gewichtsprob-
leme bekommen. Aber auch unsere Kinder brauchen von Anfang an die für sie
richtige Ernährung. Spätestens an den Zähnen merken wir, wenn wir hier nicht
aufgepasst haben. Da begegnet uns zum Beispiel ein Sechsjähriger, dessen Zähn-
chen aus schwarzen Stummeln bestehen. "Das kommt von der Flasche", erklärt der
Zahnarzt. Das Kind hatte seine Flasche nicht entbehren wollen, er war nicht recht-
zeitig "entwöhnt" worden und durfte bis zur Schuleingangsuntersuchung süße
Tees und Säfte aus der Flasche nuckeln.
12
Wie viel und welche Nahrung Kindern gut tut, ist zweifellos individuell verschie-
den. Nicht zuletzt spielen hier die Orientierungen der Eltern, die kulturellen Um-
welten mit ihren oft grundverschiedenen Nahrungsangeboten und Essensgewohn-
heiten eine wichtige Rolle. Gerade am Beispiel der unterschiedlichen Ernährungs-
weisen ließe sich gut darstellen, dass Essen und Trinken für sich genommen, nicht
maßgeblich für das Gedeihen eines Kindes sein müssen – wenn es nur nicht hun-
gern und dürsten muss.
Oder denken wir an die Bedeutung ausreichenden Schlafs. Was für uns Erwachse-
ne in der Regel ausreicht, um uns am nächsten Tag ausgeschlafen und fit dem All-
tag zu stellen, das wissen wir ganz genau. Und wir können leicht erkennen, dass
zum Beispiel unsere gedrückte Stimmung, unsere leichte Reizbarkeit oder die ge-
bremste Arbeitslust auf eine schlaflose Nacht zurückzuführen sind. Bei Kindern ist
das nicht anders. In Kindergarten und Schule sind unsere Kinder dann "ganz aus-
geschlafene Kerlchen", wenn sie genügend Schlaf hatten und nicht (zum Beispiel)
mit uns oder älteren Geschwistern bis in die Nacht hinein vor einem Bildschirm
hockten. Übrigens würde unseren Kindern dann auch die Bewegung fehlen. Aus-
toben, wenn irgend möglich im Freien, verhilft unserem Kind zu der Müdigkeit,
die es für einen gesunden Schlaf braucht.
Dass ausreichende Bewegung bei Kindern von großer Bedeutung ist, das weiß heu-
te jeder Mensch. Allein die Fernseh- und Zeitungswerbung von Sportartikelher-
stellern führen uns das ständig vor Augen. Wozu wir Erwachsene uns aber gleich-
sam "antreiben" müssen, das ist bei Kindern selbstverständlich. Sie sind von Natur
aus immer in Bewegung. Ein Besuch in einer Kinderkrippe, in einem Kindergarten
oder Beobachtungen auf Kinderspielplätzen lassen das jeden nacherleben, der
selbst keine Kleinkinder mehr daheim in der Familie hat.
Wenn die Kinder sich nicht mehr oder zu wenig bewegen, dann sind es die Er-
wachsenen, die sie daran hindern. Zum Beispiel, wenn sie Kindern statt Bewe-
gungsgelegenheit den Fernseher anbieten. In den USA verbringen bereits Zweijäh-
rige im Durchschnitt täglich zwei Stunden vor dem Fernseher. Dass es bei uns
nicht besser aussieht, wies Manfred Spitzer nach. Fernsehen aber macht nicht nur
dumm sondern auch dick. Dicksein - also Übergewichtigkeit - ist ein Risikofaktor.
Allein für Deutschland werden gegenwärtig etwa 20.000 Tote pro Jahr geschätzt,
die auf den Risikofaktor "Übergewicht durch Fernsehen (Bewegungsmangel)" zu-
rückgeführt werden müssen (Manfred Spitzer in: „Mediale Umweltverschmut-
zung“. SWR2 Aula am 27.02.2005). Diese Zahl wird weiter ansteigen, wenn bereits
Kinder daran gehindert werden, sich altersgerecht zu bewegen.
13
dick; sie will aber nicht, dass ihre Tochter die höchstens zehn Minuten zur
Schule läuft. Es könnte ihr ja etwas passieren…
Nach langem Hin und Her habe ich von ihr einfach gefordert, dass sie im Inte-
resse der Gesundheit ihres Kindes, sie wenigstens am Morgen in die Schule
laufen lässt… Doch schon nach dem ersten Tag passte mich die Mutter nach
der Schule ab: ob die Heike nicht besser mittags nach Hause laufen sollte. Sie
kämen morgens nicht so schnell (!) zum Haus raus…
Ich bestand aber darauf, dass Heike morgens laufen müsse, weil sie dann - al-
lein durch die frische Luft - nicht mehr so unausgeschlafen sei sondern statt-
dessen aufnahmebereiter werden würde…“
Diese Episode beleuchtet beispielhaft ein weit verbreitetes Problem. Denn nicht
nur in dem kleinen Schwarzwalddorf gibt es übergewichtige Kinder. Das Phäno-
men ist so weit verbreitet, dass die deutsche Ratspräsidentschaft den Kampf gegen
Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen in Europa vorantreiben wollte.
„10 bis 20 % der Schulanfänger sind heute zu dick, darunter befinden sich wie-
derum zwischen 4 und 8 % Kinder, die sogar fettsüchtig sind. Parallel dazu
gibt es den anderen Trend: Viele Mädchen eifern bereits im zarten Alter von 9
Jahren einem Körperideal nach, das eindeutig im untergewichtigen Bereich
liegt. Sie wollen schön sein, und hervorgerufen wird dieser Normdruck durch
umstrittene TV- Sendungen wie "Germany's Next Top Model" und durch die
neuen Körperideale der Gesellschaft.“ 3
Bereits 1992 wies die Ärztin und Professorin Michaela Glöckler in dem Buch: „El-
ternfragen heute“ (S. 391) auf den engen Zusammenhang zwischen Bewegungs-
reichtum und geistiger Entwicklung:
„je geschickter und koordinierter (ein Kind) sich bewegen lernt und seinen Be-
wegungssinn aktiviert, umso differenzierter und leistungsfähiger wird auch
das Nervensystem…“
„Freiheit“ als ein grundlegendes Lebensgefühl kann sich für die aus der anthropo-
sophischen Anthropologie kommende Ärztin nur herausbilden, wenn Freiheitser-
lebnisse durch intensive Bewegungserfahrungen wie Skateboard fahren, Rad fah-
ren und viele andere sportliche Aktivitäten gepflegt werden.
Wer als Kind nicht herumtoben durfte, stets „still sitzen“ musste oder wer
sich gar vor dem Fernseher „anbindet“, wird weder das hier angesprochene
„Freiheitsgefühl“ entwickeln noch die in ihm angelegten kognitiven und kre-
ativen Möglichkeiten optimal fördern.
14
Bewegung, das ist ein Schlüssel, um geistig und schöpferisch ebenso „fit“ zu blei-
ben wie körperlich. Dass Bewegung Konzentration, Lerneifer und Selbstdisziplin
fördern kann, das hat am 4. Februar 2007 in einem Rundfunkvortag der Erzie-
hungswissenschaftler Ulrich Hermann am Beispiel eines sehr mutigen und päda-
gogisch verantwortungsvoll handelnden Lehrerteams vorgestellt:
Für die Entwicklung von Kindern sind Sicherheit und Verlässlichkeit von existen-
zieller Bedeutung. Es ließen sich zu beiden Bedürfnissen eigene Kapitel füllen.
Hier werden sie gemeinsam betrachtet.
Geschützt und geborgen fühlt sich unser Kind bereits im Mutterleib (vgl.: Schinde-
le, Eva: „Beziehung von Anfang an.“ (In: SWR 2 Wissen am 16.02.2008). Sobald es
geboren wurde, "ersetzt" die Mutter (die Eltern) diesen Schutz, wenn sie das Kind
in ihren Armen birgt. Es ist - auch für den Vater - ein unbeschreiblich gutes Ge-
fühl, dieses kleine Menschenkind, zum Beispiel auf dem eigenen Bauch liegen zu
haben und mitzuempfinden, wie es sich in Sicherheit fühlt und, von unseren Hän-
den umfasst, schläft. So wie wir atmen, bewegt es sich sanft auf und nieder und
unseren Herzschlag spürt es, wie wir den seinen. Dieses kleine Kind, das noch kein
Bewusstsein seiner selbst hat, lebt sozusagen allein durch uns und mit unserer Hil-
fe. Mehr noch: Damit es sich später, etwa nach 18 Monaten, von uns lösen und ein
15
eigener kleiner Mensch mit eigenem Wissen und Wollen werden kann, muss es
sich erst ganz fest an uns binden können. Natürlich kann das Kind derartiges noch
nicht denken. Wohl aber fühlt es mit all seinen Sinnen - und ist in dieser Bezie-
hung bereits als Fötus außerordentlich empfindlich - ob wir diese Bindung zulas-
sen. Diese erfühlten Erfahrungen, die für ein Kind gleichsam Antworten auf die
Fragen geben: werde ich geliebt und angenommen, bin ich erwünscht und gebor-
gen, bilden jenes Urvertrauen heraus, aus dem jeder Mensch sein späteres Selbst-
wertgefühl entwickeln kann4.
Wir vermitteln unserem Kind die feste Bindung und ein Urvertrauen unter ande-
rem auch dann, wenn wir uns über sein Dasein freuen, seine Nähe genießen und
für das Kind da sind, wenn es uns braucht. Natürlich müssen diese Aufgaben nicht
die leiblichen Eltern übernehmen. Nur das Bindungsangebot muss verlässlich sein,
das heißt, dass die Bezugspersonen nicht ständig wechseln. Auf die Bedeutung der
Mutter-Kind-Beziehung weist folgendes Beispiel:
Die Geschäftsinhaberin bringt die acht Monate alte Sarah mit in den Laden
und berät die Kunden bei der Auswahl von Dekorationsstoffen. Währenddes-
sen krabbelt das Kind auf dem Fußboden herum und geht auf Entdeckungsrei-
sen. An einem der vielen Regale kann sie sich aufrichten und beginnt, den Re-
galinhalt zu untersuchen. Gründlich prüft das Kind die Papprollen, bewegt sie
hin und her, führt sie ans Gesicht und wirft sie endlich hinter sich, und wendet
sich dem nächsten Gegenstand zu. Das Kind ist von Natur aus ein aktiver Er-
kunder und lernt auf diese Weise, seine soziale und dingliche Umwelt kennen.
Während Sarah krabbelt und den Regalinhalt untersucht, wendet sie ihren
Kopf immer wieder mal zur Mutter. Vor allem dann, wenn diese längere Zeit
nicht zu hören ist, weil die Kundschaft spricht. Doch nun muss die Mutter das
Ladenlokal verlassen, um im Lager etwas zu suchen. Das Kind bleibt bei der
der Mutter gut bekannten Kundschaft zurück. Es dauert gar nicht lange, da
hört das Kind auf, das Regal zu untersuchen. Es lässt sich zu Boden gleiten,
bleibt sitzen und sucht mit den Augen seine Mutter. Wenige Minuten verhält
sich das Kind still, so, als ob es gelähmt sei. Dann beginnt es zu weinen. Bevor
aus dem Kummer Angst wird, ist die Mutter wieder da. Und sofort verstummt
das Kind und wendet sich wieder dem Regal zu.
Ein Kind in diesen ersten anderthalb Lebensjahren braucht, um aktiv sein zu kön-
nen, eine ihm vertraute Bezugsperson, die ihm das Gefühl der Sicherheit und Ge-
borgenheit vermittelt. Nur aus diesem Gefühl heraus kann es sich der Umwelt zu-
wenden, sie erkunden und damit zugleich "lernen".
Natürlich beschränkt sich dieses Bedürfnis nach Sicherheit im Sinne von Schutz,
Liebe, Geborgenheit und Zuverlässigkeit nicht auf die ersten achtzehn Lebensmo-
nate. Auch später wird ein Kind sich dessen vergewissern wollen, ob Mutter
und/oder Vater für es da ist. Wir Eltern können uns auf den Kopf stellen: unser
Kind wird sich durch seine Verhaltensweisen und seine Fragen immer wieder ver-
16
gewissern wollen, ob wir es noch lieb haben oder es fragt: "hast du mich genau so
lieb wie...?"
Selbstverständlich ist, und das wissen wir alle aus der eigenen Lebensgeschichte,
dass sich die hier gemeinte Sicherheit in Bezug auf die Eltern mit zunehmendem
Alter wandelt, bis wir endlich ganz ohne unsere Eltern leben können. Doch die er-
wähnten Bedürfnisse bleiben für uns ein Leben lang wichtig. Sie geben uns Halt.
Nicht wenige unter uns Erwachsenen können sich ein Leben als "Einzelgänger" gar
nicht vorstellen. Sie brauchen die Bindungen an andere Menschen, das Gefühl, in
einer sozialen Gruppe aufgehoben und geborgen zu sein, sei das nun eine Partner-
bindung, die aktive Mitgliedschaft in einem Verein oder in einem Freundeskreis.
Nur haben wir Erwachsenen es selbst in der Hand, für Schutz, Liebe, Geborgenheit
und Zuverlässigkeit in dem Ausmaß zu sorgen, wie wir es für unser Wohlergehen
brauchen. In einem Elternseminar bestätigte ein Vater: "Das was wir hier bespre-
chen, das gilt doch nicht nur für unsere Kinder. Das gilt doch genauso für uns Er-
wachsene".
Eine ganz andere Dimension von "Sicherheit und Zuverlässigkeit" kommt in den
Blick, wenn wir auf den Familienalltag schauen. Auch hier muss und will sich ein
Kind darauf verlassen können, dass sich möglichst wenig verändert.
Die folgende Schilderung eines Tagesablaufes ist als "idealtypisch" zu betrachten
und der eine oder andere wird sie als übertrieben ansehen. Die hier in einem
Hochschulseminar zusammengetragenen entwicklungsfördernden Strukturele-
mente könnten, das war die Überzeugung aller Teilnehmerinnen und Teilnehmer,
von jeder Mutter und jedem Vater unabhängig von sozialem Status oder Lebensort
im Familienalltag beachtet werden.
Ganz gleich welche regelhaften Abläufe (Strukturen) im Alltag einer jeden Familie
üblich sind:
Es kommt darauf an, dass es überhaupt welche gibt!
Freundlich wird das Kind jeden Morgen rechtzeitig geweckt. Mit Mutter und
Vater oder wer immer die Hauptbezugsperson für das Kind ist, wird ge-
meinsam und in aller Ruhe gefrühstückt und dann das Kind mit dem
selbst gerichteten Vesperbrot auf den Weg zur Schule oder in den Kindergarten
17
gebracht oder geschickt. Kommt es dann wieder nach Hause, dann freuen sich
Mutter oder Vater über das Wiedersehen, sie hören zu, was das Kind zu erzäh-
len hat, zeigen Verständnis für Probleme, die das Kind mit nach Hause bringt
und auch dafür, dass das Kind nicht immer begeistert ist von dem, was es heu-
te zum Mittagessen gibt. Sie trösten das Kind, wenn es traurig ist, weil etwas
nicht gelang. Abends geht das Kind stets zur gleichen altersgemäß gestaffelten
Zeit in sein Zimmer. Wenn die Eltern hier freundlich und mit ruhiger Be-
stimmtheit auf Regelmäßigkeit und Pünktlichkeit achten, Ausnahmen für das
Kind erkennbare Ausnahmen bleiben und keine hektische Atmosphäre in der
Familie herrscht, sind kaum Schwierigkeiten zu erwarten. Nicht einmal das
Fernsehen wird zu einem Problem, wenn die Eltern selbst darauf verzichten,
solange das Kind um sie herum ist. Überhaupt gilt in allem, dass ich das, was
ich vom Kind erwarte, selbst zuverlässig tue, weil Vorbild die beste Erziehung
ist. Die meisten der Grenzen, die wir dem Kind setzen müssen, sind ohnedies
Regeln, die auch für Erwachsene verbindlich sind. Von dieser gemeinsamen
Verbindlichkeit her lassen sich Regeln auch am besten begründen.
Liegt das Kind im Bett, setzen sich Mutter oder Vater zu ihm und verweilen
noch ein bisschen. Auch bei mehreren Kindern ist das möglich. Vielleicht wird
noch eine Geschichte vorgelesen oder ein Bilderbuch angeschaut. Wenn aber
die Kinder älter werden, ist der Abend die beste Zeit, Probleme zu erörtern und
Differenzen ins Reine zu bringen. Die Eltern achten darauf, dass ihr Kind nicht
einschläft, bevor nicht die gelegentlich unausbleiblichen Konflikte zwischen El-
tern und Kind bereinigt sind. Das Kind bleibt erst dann allein in der Wohnung
(bei Tag und in der Nacht), wenn es von seiner Reife her das Alleinsein gut
verkraftet. Das Kind muss sich auf seine Eltern verlassen können, d. h., die El-
tern sind immer da für das eigene Kind. Je jünger das Kind ist, umso mehr
braucht es diese Verlässlichkeit, aus der heraus das "Urvertrauen" wächst.
Nur wenn eine dem Kind vertraute Person als Ersatz zur Verfügung steht, dür-
fen es die Eltern in einem vorher gemeinsam vereinbarten zeitlichen Umfang
verlassen.
18
Familientisch. Sie würden es ja nicht einmal tolerieren, wenn Mutter und Vater die
Plätze wechseln. Vor allem, wenn Veränderungen anstehen, können sie sich auf
unsere Kinder dramatisch auswirken.
Von noch viel größerer Bedeutung für jeden Menschen sind die Beziehungen zu
unserem Du. Wir brauchen und wollen Verlässlichkeit in unseren Beziehungen zu
den Eltern, dem Freund, der Freundin, der Partnerin oder dem Partner. Wir wol-
len uns auf sie verlassen können. Und aus der Sicherheit dieser sozialen Bindun-
gen wächst uns die Kraft zu, die wir brauchen, um unseren Alltag zu bestehen und
in ihm andere Beziehungen herzustellen und die gelegentlichen Belastungen in
zwischenmenschlichen Begegnungen zu ertragen. Ein Kind, das in der Schule Är-
ger mit seinem Lehrer hatte oder Streit mit dem Klassenkameraden, soll sich da-
rauf verlassen können, dass es daheim von einer verständnisvollen Mutter in den
Arm genommen und getröstet wird.
Mit einer allzu spröden Auffassung oder gar rigiden Handhabung derartiger ver-
lässlicher Elemente unseres Lebens, sind aber auch Gefahren verbunden. Dort, wo
Ordnungen um der Ordnungen erzwungen oder zwischenmenschliche Begegnun-
gen besonders streng geregelt werden, können sie ·umkippen. Darum auch lässt
sich nur zustimmen, wenn es in Bezug auf die pädagogische Bedeutung von Struk-
turen heißt, dass sie sich positiv auswirken, "wenn sie flexibel genug sind, um Kin-
dern Raum für eigene Aktivitäten zu lassen" meint die Pädagogin Anneliese Spre-
ckels-Hülle, (2005, S. 18-20).
Im Grunde handelt es sich um "Liebe", die wir dem Kind über unsere sorgende
Anwesenheit, über unsere verlässliche Existenz (ich bin für dich da, wenn du mich
brauchst; ich verlasse dich nicht) und über den Schutz (ich passe auf dich auf; ich
helfe dir,) vermitteln. Mit elterlicher Liebe ist eigentlich alles gemeint, was hier
beschrieben wird. Es wird damit deutlich, dass Liebe nicht nur ein unbestimmtes
Gefühl oder gar nur eine Gefühlsaufwallung ist. Ganz im Gegenteil: Kinder fühlen
sich besonders betrogen, wenn sie gelegentlich, so aus einer Stimmung heraus, mit
Zärtlichkeit überschüttet werden, Zuwendung und Zeit aber vermissen müssen.
Liebe ließe sich also auch mit den drei "Z" umschreiben:
Zärtlichkeit, Zuwendung und Zeit!
Dennoch ist es nicht leicht zu erklären, was elterliche Liebe ist oder worin sie sich
unterscheidet von der Liebe zwischen Mann und Frau. "Liebe ist Verantwortung"
19
sagt Martin Buber und entspricht damit am ehesten jener Grundgesetzformulie-
rung in der es heißt:
"Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die
zuvörderst ihnen obliegende Pflicht".
Die Betonung liegt auf "zuvörderst ihnen", eine Akzentuierung, die in allen Aus-
führungen auf diesen Seiten über die Erziehung und Bildung von Kindern stets
mitzudenken ist.
Im Familienalltag spielt die Zeit, die wir unseren Kindern widmen, eine große
Rolle. Alles Leben vollzieht sich in Zeit, lässt sich in Zeit messen. Wenn wir uns
unseren Kindern zuwenden, mit ihnen essen, spielen, sprechen, etwas unterneh-
men oder ihnen zuhören, gelegentlich auch mit ihnen einen Film anschauen, dann
geben wir ihnen (und sie uns) Zeit. Und allein an dieser Gabe können unsere Kin-
der gleichsam unsere Liebe erkennen.
Materielle Zuwendungen können fehlende Zeit für unsere Kinder nicht aufwie-
gen. Vielmehr stehen an erster Stelle unserer Zuwendungen jene, die kein Geld
kosten.
Die meisten von uns haben einen Arbeitsplatz. Mütter und Väter, die außer Haus
Geld verdienen gehen, haben irgendwann Feierabend, arbeitsfreie Wochenenden
und Urlaub. Und diese Zeiten gehören dem gemeinsamen "Tun" und keineswegs
nur dem gemeinsamen "Schauen" mit den Kindern. Elternverantwortung zeigt
sich im Alltag vor allem darin, dass Eltern auf die Bedürfnisse ihrer Kinder "ant-
worten". Das kann in vielfältiger Weise geschehen. Auch dort, wo wir unsere Kin-
der in die Pflichten für Wohnung, Haus oder Garten mit einbinden und gemein-
sam mit ihnen schaffen. Verantwortungslos handeln Eltern, wenn sie an ihren
Kindern vorbei oder neben ihnen her leben.
„Ich habe jetzt keine Zeit“ sagt Frau L. und wendet sich wieder dem Gespräch
mit ihrer Bekannten zu, als Tochter Anita sie ansprach: „Mama, kannst du mal
kommen?“. Nun lassen sich Vierjährige nicht mehr so nebenbei abspeisen, son-
dern versuchen es noch einmal: „Mama, komm jetzt!“. Frau L. ungeduldig und
lauter: „Nerv mich nicht! Wirst ja wohl warten können.“
Eine Situation, wie Eltern daheim und Erzieherinnen in der Tagesstätte sie
häufig erleben. Wenn sich aber derartige Zurückweisungen häufen – und je öf-
ter sich ein Kind abgewiesen fühlt, umso häufiger wird es zunächst die Zeit der
Erwachsenen fordern – umso stärker wird das Gefühl, nicht angenommen zu
werden, nicht geliebt zu sein. Es sind die vielen, oft kaum bewussten Zurück-
weisungen, die sich von kleinen Narben zu großen Verletzungen auswachsen.
Sind diese seelischen Verletzungen groß genug, kann sich ein Kind zurückzie-
hen, unansprechbar werden oder aber aggressiv, gewalttätig gegen Sachen,
andere Kinder oder gegen sich selbst.
Die Berücksichtigung dessen, was Kinder brauchen, wenn sie ein stabiles Funda-
ment für ihr Leben erhalten sollen, zeigt uns also aus verschiedenen Perspektiven,
was Eltern und Berufserzieher alles zu leisten haben. Hier und da sind derartige
20
Leistungen Opfer, die mit jenem Verzicht zu vergleichen sind, die Eltern ihren
Kindern in Notzeiten bringen, wenn sie eigene elementare Bedürfnisse zu Gunsten
ihrer Kinder hintanstellen.
Der Freiburger Oberarzt Professor Dr. Joachim Bauer bestätigte mit seinen For-
schungen, dass die Beziehungen von Eltern zu ihren Kindern von herausragender
Bedeutung für eine gesunde Entwicklung sind. Er spricht von der "Erfahrung des
Geliebt - Werdens ohne Bedingungen" ((5/2005, S. 57 ff). Seine Forschungen über
Ursachen depressiver Gesundheitsstörungen führten zu den Ergebnissen, dass ei-
ne Quelle des menschlichen Selbstwertgefühls die Erfahrung der bedingungslosen
Liebe im Kindesalter ist. Defizite in diesem Feld der zwischenmenschlichen Bezie-
hungen begünstigen die Herausbildung depressiver Krankheitsbilder.
Kinder kommen mit Versagungen, Verboten oder gar Strafen und Züchtigungen
überhaupt nicht zurecht, wenn sie sich der liebenden Fürsorge ihrer Eltern nicht
sicher sind. Und mit jeder Gewalt, die wir ihnen antun, verunsichern wir sie mehr,
so dass sie sich am Ende ungeliebt fühlen. Wenigstens ebenso dramatisch wirken
sich wechselhafte erzieherische Verhaltensweisen, instabile Beziehungen zwischen
den Eltern und andere Verletzungen elementarer kindlicher Bedürfnisse aus. Eines
Tages wird dann aus Gewaltphantasie Gewalttätigkeit, aus dem Wunsch nach
Schutz und Geborgenheit Abneigung und Hass. Diese, die Persönlichkeit unserer
Kinder schwer belastenden Erfahrungen richten sich als Aggressionen gegen sich
selbst und/oder nach außen; sie führen aber auch zu völliger Resignation und zur
Suche nach Ersatz wie zum Beispiel zu Süchten.
Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen, soll noch einmal ausdrücklich
betont werden, dass es sich bei diesen Ausführungen um einen Versuch handelt,
dem Phänomen "elterliche Liebe" etwas näher zu kommen. Liebe im zwischen-
menschlichen Bereich, so wie wir sie als Liebe zwischen Mann und Frau oder ganz
allgemein als "Menschenliebe" bezeichnen, spricht andere Dimensionen unseres
Fühlens und Verhaltens an. Und wieder anderer Natur sind alle zwischenmensch-
lichen Kontakte, die auf Ausgleich beruhen, auf ein ausgewogenes Geben und
Nehmen oder auf die Erwartung, dass das Lächeln, das wir aussenden stets zu uns
zurückkommt, wie ein chinesisches Sprichwort sagt. Im Alltag aber werden sich
nicht selten die hier angesprochenen Elemente unseres Verhaltens vermischen.
Ein vierjähriges Kind bringt ein Bild aus dem Kindergarten mit, das es dort
gemalt hat. "Guck, das hab ich gemalt" verkündet es stolz, überreicht das
Kunstwerk und schaut die Eltern erwartungsvoll an. "Danke" sagen die Eltern,
schneiden ein Stückchen Tesaband ab und hängen es neben die anderen Bilder
an die Küchentür. Weil dort fast kein Platz mehr ist, schlagen sie vor, ein altes
wieder zu entfernen und in die Mappe mit den Bildern unseres Kindes zu legen.
21
Denn alles, was unser Kind uns schenkt, ist uns wertvoll. Und alles, was es mit An-
strengung und Ausdauer schafft, denken wir an unsere Treppen steigende Anita
zurück, erkennen wir an. Gerade in den Bereichen von Sport und Bewegung, beim
bildnerischen Gestalten oder – nicht zuletzt – beim Musizieren bietet sich unseren
Kindern eine Fülle an Möglichkeiten lustvollen Schaffens. Kinder, die nicht erleben,
dass ihre „Leistungen“ auf Interesse stoßen oder gar anerkannt werden, strengen sich
nicht mehr an. Mit der Zeit verlieren sie die Lust, sich zu bemühen. Und wenn dann
etwas nicht gleich klappt, heißt es rasch: „das kann ich nicht“. Die Anerkennung und
das Interesse an kindlichem Bemühen oder Leistungsstreben durch jene Personen,
die für ein Kind wichtig sind, sind eine bedeutsame Quelle der Leistungsmotivation,
die in Schule und Beruf gebraucht wird.
Mäkeln wir aber ständig an dem herum, was unser Kind als Ergebnis seiner Anstren-
gungen vorweist, wird es am Ende resignieren und in seinem Verhalten zeigen, dass
ja „alles keinen Zweck“ hat.
Anerkennung der Persönlichkeit unseres Kindes meint aber noch mehr, als
Ermutigung. Hier ist an das Verfassungsgebot von der Beachtung der Würde
des Menschen zu denken. Der dänische Familientherapeut Jesper Juul spricht
von „Gleichwürdigkeit“ und meint damit, dass Anerkennung heißt, sich in
Würde zu begegnen, sich aufgehoben fühlen im liebenden Blick eines Gegen-
übers, stellt keine Bedingungen und fordert nichts (2009, S. 211). Nicht alle
mögen gleich empfindsam (oder empfindlich) sein. Wenn aber mein Vater zu
mir "Dummkopf", mein Lehrer zu mir "Hornochse" oder die Mutter zur
Schwester "blöde Kuh" sagte, dann waren wir Kinder tief verletzt. Natürlich
zeigten wir das nicht so deutlich; wir waren ja vom guten Willen unserer El-
tern und Lehrer abhängig. In unserem Inneren aber taten uns derartige Her-
absetzungen weh. Und so kann eine kleine seelische Narbe zu der anderen
kommen und unser Selbstwertgefühl ganz erheblich beschädigen. Wer stets ein
Kind als „dumm“, faul“, „behindert“ bezeichnet, darf sich nicht wundern, wenn
es in Kindergarten und Schule nicht mitkommt. Es wird „misserfolgsmoti-
viert“.
Wer so etwas in seinem Leben erfahren hat, und von seinen Eltern und Erziehern
als dumm, ungeschickt oder minderwertig erlebt wird, dem fällt es später schwer,
selbständig zu werden. Er gibt rasch auf und traut sich wenig zu. Statt zu demüti-
gen sollten wir unsere Kinder viel mehr ermutigen.
Es waren unter anderen Rudolf Dreikurs und Vicki Soltz, die diese Haltung in ih-
rem viel beachteten Buch "Kinder fordern uns heraus" (Stuttgart 2005) empfahlen.
Strafen im Zusammenhang mit schulischem Lernen können den guten Willen ei-
nes Kindes empfindlich beeinträchtigen.
Eine einzige Strafe kann ein Kind schocken und für eine lange Zeit verängstigen und
verunsichern. Angst und Unsicherheit aber sind genau das Gegenteil von
anerkennenden Verhaltensweisen und damit keine guten Begleiter auf dem Weg in
22
eine selbstbewusste Existenz. Es gibt sehr viele Frauen und Männer, die - noch bis
ins hohe Alter hinein - voller Ängste und Unsicherheiten sind, die sie gelegentlich
völlig lähmen. Sie trauen sich nichts zu, weil ihnen in ihrer Kindheit die
Anerkennung für ihre Bemühungen fehlte.
Bevor Andreas eingeschult wurde, freute er sich wie alle anderen Kinder auf
den neuen Lebensabschnitt. Und ebenso wie die meisten Kleinen hatte er Mühe,
den Stift richtig zu halten und bei Versuchen im Kindergarten, auf dem Papier
seine „Wellen“ und die „Berge und Täler“ von links nach rechts einigermaßen
gerade oder gar zwischen vorgedruckte Linien zu malen, hatte er offenbar
Schwierigkeiten. Was Andreas von den anderen Kindern unterschied, das wa-
ren Eltern, die damit nicht umgehen konnten. Vielleicht hatten sie keine Zeit
gehabt zum Elternabend zu gehen, als Funktion und Bedeutung derartiger
Übungen erklärt wurden, vielleicht hatten sie einfach nicht richtig zugehört
oder verstanden: sie mäkelten an den Versuchen ihres Jungen herum, die er
vom Kindergarten mit nach Hause genommen hatte, um sie den Eltern zu zei-
gen. Die ordneten darauf hin „Hausaufgaben“ an und wollten, dass er zu Hau-
se übe. „So macht man das doch nicht ... Nun gib dir endlich mal Mühe... stell
dich bloß nicht so an... das ist doch kinderleicht... wenn das so weitergeht,
wirst du nie schreiben lernen...jetzt machst du das alles noch einmal, aber or-
dentlich...“ so tönte es unentwegt aus dem Mund der Mutter und wenn der Va-
ter kam, dann gab auch der noch seine Kommentare dazu ab.
Die Eltern meinten es nicht böse mit ihrem Kind. Aber so geht es nicht! Hier fehlt
jeder Ansatz von Ermutigung. Andreas hörte nur die eine Botschaft: wir sind mit
dir nicht zufrieden -! Die Eltern haben versäumt, ihm Mut zu machen: „Mach nur
weiter, das schaffst du schon“ oder: Beim nächsten Mal wird es sicher besser!“
Kann man es mit dem Anerkennen und Ermutigen auch übertreiben? Gewiss, man
kann in allen Lebenssituationen des "Guten zu viel" tun. Kinder aber haben ein
gutes Gefühl dafür, wenn Eltern sie ständig loben oder gar belohnen, auch wenn
sie sich nicht angestrengt haben. Denken wir noch einmal an die Szene mit dem
Bild, das uns unser Kind vom Kindergarten mitbringt. Wer hindert uns daran, do-
siert zu reagieren? Niemand zwingt uns, ein Bild schön zu finden, das wir für "Ge-
schmier" halten. Wohl aber können wir ganz genau hinschauen. Wir kennen unser
Kind und seine Möglichkeiten und darum erkennen wir auch, wie viel Mühe es
sich gegeben hat. Und wenn wir mehrere Bilder zur Auswahl haben, dann sagen
wir, was uns warum besser gefällt. Kritische Hinweise verträgt ein Kind besser als
Missachtung. Und wenn wir wissen, dass ein Kind etwas besser machen kann,
dann sagen wir ihm das auch - aber eben so, dass wir es nicht entmutigen! Ein
Kind braucht nicht nur Anerkennung und Ermutigung, sondern auch Anforderun-
gen und Gütemaßstäbe.
"Der entscheidende Stimulus für die Vitalitätssysteme des Gehirns - sie wer-
den auch Motivationssysteme genannt - ist die Zuwendung und Wertschät-
23
zung anderer Menschen..." sagt der Neurowissenschaftler und Arzt Joachim
Bauer6.
In unserem Alltag zeigt sich diese Wertschätzung nicht zuletzt in einem höflichen
Umgang miteinander. Darum auch gehört das „Bitte“ und „Danke“ sagen, allein
schon als Ausdruck von Anerkennung der Persönlichkeit des anderen, zu den
Selbstverständlichkeiten unseres Zusammenlebens. Gerade ein „Dankeschön“ als
positives Feedback wirkt sich bei jedem Empfänger – also nicht nur bei unseren
Kindern – motivationsfördernd und auf die zwischenmenschlichen Beziehungen
außerordentlich positiv aus. Zugleich fühlt sich ein Kind in seiner Gruppe, also in
der eigenen Familie oder den anderen Kindern wie zum Beispiel im Kindergarten
oder in einer Schulklasse angenommen, anerkannt, akzeptiert. In diesen „Primär-
gruppen“, also innerhalb seiner Familie oder den „Sekundärgruppen“, also in allen
die Familie ergänzenden, wie Kindergarten, Hort oder Schule oder gar ersetzenden
Gruppen, wie Kinderheime, kann sich ein Kind entwickeln, sofern dort seinen
Grundbedürfnissen optimale Beachtung zuteil wird und das heißt auch, dass sich
kulturpolitische Entscheidungen am Wohl der Kinder und weniger an Ideologien
orientieren.
Dieses Stichwort fügt sich nahtlos an das soeben Besprochene an und es wird er-
neut deutlich, wie sehr alles, was hier ausgeführt wird, wechselseitig zusammen-
hängt und einander durchdringt. Dem Kleinkind sagen Eltern: "Lass die Finger
davon, das kannst du noch nicht", unseren älteren Kindern untersagen wir mög-
licherweise den Umgang mit bestimmten anderen Kindern, weil wir einen
"schlechten Einfluss" befürchten. In beiden Fällen sprechen aus uns die Sorgen um
unser Kind, die Verantwortung, die wir für sein Wohlergehen tragen und unser
Wunsch, dass unser Kind so wird, wie wir es uns vorstellen.
Sobald wir aber Misstrauen in unseren Gründen spüren, mit denen wir von unse-
rem Kind etwas fordern oder ihm etwas verwehren, beginnt der Wurm an unserem
Vertrauen zu nagen. Unser Kind, ob klein oder groß, hört genau heraus, ob uns
echte Sorge um das Kind umtreibt, oder ob wir ihm einfach nicht zutrauen, mit der
Aufgabe oder Situation umzugehen.
Es muss uns jedoch bei dem Problem des Vertrauens nicht immer um unser Kind
gehen. Eine Voraussetzung dafür, Vertrauen geben zu können, ist, Vertrauen zu
sich selber zu haben. Wer sich selbst nicht traut (oder nichts zutraut), dem fällt es
auch schwer, anderen Menschen Vertrauen zu geben. Also schauen wir auch in
dieser Beziehung in uns selbst hinein und forschen nach unseren Motiven!
Hier ein Beispiel, wie es uns häufig begegnet. Und wieder geht es um die Arbeiten
für die Schule.
24
Wir alle kennen Eltern, die nur das Beste wollen für ihre Kinder. Da ein höhe-
rer Bildungsabschluss, also zum Beispiel das Abitur, nach unserer gegenwär-
tigen Erfahrung bessere Berufsaussichten mit höheren Verdiensten und Presti-
gegewinnen verspricht, wollen diese Eltern, dass ihre Kinder gute Schüler
sind. Bereits im Kindergarten sollen die Kinder auf die Anforderungen der
Schule vorbereitet und erste Kenntnisse im Schreiben, Lesen und Rechnen
vermittelt werden. Ist aber das Kind erst in der Schule, dann wachen Mutter
oder Vater sorgsam und besorgt darüber, dass das Kind auch wirklich alles
gut mitkriegt. Zu denken ist da zum Beispiel an ein Elternpaar, das ganz be-
sonders großen Wert darauf legt, dass ihre Kinder das den Eltern vorschwe-
bende Schulziel erreichen. Jede Bastelarbeit oder jedes Bild, das ihr Kind im
Kindergarten angefertigt hat, lassen sie sich vorlegen. Nicht aber, um es deut-
lich sichtbar in der Wohnung auszustellen, sondern um es zu überprüfen. Pin-
geliger als jede pädagogische Fachkraft setzen sie ihren Kindern gegenüber die
eigenen Maßstäbe durch. Eine scheinbar schlechte Arbeit wird von den Eltern
als eine persönliche Beleidigung erlebt.
Je stärker ein Kind im Bereich eigener Schöpfungen, seien sie daheim oder in der
Tagesstätte angefertigt, von den Erwachsenen gegängelt und kontrolliert wird, je
enger sein eigener Entscheidungs- und Gestaltungsspielraum ist, umso größer ist
die Wahrscheinlichkeit, dass es Schwierigkeiten bekommt, ja, dass es völlig ver-
sagt.
Und im Umkehrschluss lässt sich festhalten:
Je frühzeitiger ein Kind in Bezug auf seine eigenen Leistungen in die eigene
Verantwortung gestellt wird, und je konsequenter und überzeugter die El-
tern der Fähigkeit ihres Kindes vertrauen für seine Angelegenheiten selbst
die Verantwortung zu übernehmen, umso geringer ist die Wahrscheinlich-
keit, dass es – zum Beispiel später in der Schule - die Ziele nicht erreicht.
25
Das Ehepaar Z. im Nebenhaus hatte zwölf gesunde Kinder. Als das älteste
Kind, die Käthe, siebzehn Jahre alt war, wurden die jüngsten Kinder geboren.
Frau Z. brachte Drillinge zur Welt, wovon ein Kind ein Junge war.
Obwohl Frau Z. keiner außerhäuslichen Tätigkeit nachging, wird es leicht ver-
ständlich sein, dass sie sich nicht um alle Kinder mit gleicher Intensität küm-
mern konnte. Sie sah ihre Hauptaufgabe darin, ihren Kindern und dem Vater
täglich ein schmackhaftes Essen zuzubereiten. Die ältesten Mädchen übernah-
men es, die Geschwister zu betreuen. Und alle wirkten, je nach ihren Möglich-
keiten, an der Haushaltgestaltung mit. Kein Kind besuchte einen Kindergarten.
Stattdessen waren ständig Nachbarskinder in dem kleinen Siedlungshaus oder
in dessen Garten anzutreffen. Oft weinte ein Kind und musste von einem ande-
ren getröstet werden. Wenn es gar zu schlimm wurde, lief wohl auch mal eines
in die Küche zur Mutter. Die meisten Angelegenheiten regelten die Kinder un-
tereinander selbst, zum Beispiel wer mit welchem Spielzeug spielte oder wer
wessen Kleider anzog. Die Kleineren trugen stets die Kleider der Größeren. Für
die Flick- und Näharbeiten war die Mutter solange zuständig, bis die älteren
Mädchen das selbst tun konnten.
Es versteht sich von selbst, dass sich Mutter oder Vater nicht um die Schulauf-
gaben kümmerten. Natürlich freuten sie sich über Erfolge ihrer Kinder. Wenn
aber eines Hilfe brauchte, dann holte es sich die bei seinen älteren Geschwis-
tern. Und die leisteten ganz selbstverständlich diese Hilfe.
Dieses Beispiel deutet auf eine bedeutsame Bedingung, die die Selbständigkeit und
damit die Eigenverantwortlichkeit von Kindern fördert:
Wenn ein Kind erkennt, dass sich Mutter und/oder Vater um seine alltäglichen
Angelegenheiten gar nicht kümmern können, dann zeigt es gleichsam „automa-
tisch“, dass es bereit und in der Lage ist, ein Stück weit für sich selbst zu sorgen.
Und „ein Stück weit“ heißt eben: soweit es das von seiner körperlichen, geistigen
und seelischen Entwicklung her kann. Eltern können von einem Dreijährigen zwar
nicht erwarten, dass er Kartoffeln schält und sie zubereitet. Wohl aber wird er sich
an- und ausziehen und seine Schuhe binden, allein auf die Toilette gehen oder sich
allein waschen können.
Kinder können und werden überall dort mithelfen, den Alltag zu bewältigen, wo
die Eltern berufstätig sind oder wo Erkrankungen unseren vollen Einsatz in Haus-
halt und Erziehung erschweren. Jede/r von uns, die/der vorübergehend wegen
Krankheit oder aus anderen für Kinder gut einsehbaren Gründen ausfiel, wird die
Erfahrung gemacht haben, dass sich die Kinder in erstaunlichem Ausmaß darum
bemühen, die entstandene Lücke zu füllen und zum Beispiel die Wohnung pflegen
oder einkaufen gehen.
Kinder wollen aus eigenem Antrieb heraus die Welt erkunden! Sie sind von Natur
aus neugierig, probieren gern etwas aus und möchten gern alles selber machen.
Ein Kind sollte selber sagen oder am eigenen Leibe erfahren, was es leisten kann
und was noch nicht. Das Bewusstsein eigener Verantwortung macht ein Kind
eifrig, stolz und zufrieden.
26
Das Bedürfnis nach Führung
Dieser Begriff soll provozieren und Mut machen zugleich. Anders ausgedrückt lässt
sich sagen, dass ein Kind sich fragend an die Erwachsenen wendet und von ihnen
Orientierung erwartet. Wir haben uns daran gewöhnt, diesen Orientierungs-
wunsch und unsere Reaktion darauf „Erziehung“ zu nennen. Dieses Grundbedürf-
nis wird ja nicht allein und schon gar nicht bewusst von einem Kind eingefordert.
Andere Kräfte, die Gesellschaft, die Politik und die sozialen Gruppen in denen wir
leben, erwarten von den Eltern, dass sie ihre Kinder an die Normen und Werte
dieser Kultur heranführen. Zur Unterstützung der Familien, die ja diesen Erwar-
tungen nicht im vollen Umfang ohne Hilfe gerecht werden können, wurden Erzie-
hungs- und Bildungseinrichtungen wie zum Beispiel Kindertagesstätten und Schu-
len geschaffen. Und alles was dort – also in Familie, Kindertagesstätte oder Schule
geschieht - hat mit Erziehung zu tun.
„Erzieherinnen und Leitungskräfte müssen sich selbst als werteorientierte Bil-
dungsträger verstehen und in ihrer Person Werte und Bildungsmerkmale tra-
gen, die sich entwicklungsförderlich für Kinder erweisen…“
fordert Armin Krenz (2007, S. 90).
Bereits 1927 setzte Theodor Litt, einer der einflussreichsten deutschen Pädagogen
in seiner Schrift „Führen oder wachsen lassen“ (Stuttgart 7/1958) ausführlich mit
der Frage auseinander, ob man sich im Umgang mit Kindern darauf beschränken
dürfe, es gleichsam sich selbst zu überlassen oder ob es zu führen sei. Dabei ver-
stand Litt unter Führung die erzieherische Aufgabe, jedes Kind einzuführen in bzw.
heranzuführen an die „Wertsphäre“ von Kultur und Gesellschaft (S. 72 u. 75). Litt
kam zum Ergebnis, dass beide Seiten, das unbewusste von der individuellen Ent-
wicklung bestimmte Heranwachsen und die „Ein-Führung“ einander ergänzen. Den
Erziehern kommt die entscheidende Vermittlerfunktion zu8. In der pädagogischen
Literatur wird unterschieden zwischen bewusstem, beabsichtigtem und zielorien-
tiertem erzieherischen Handeln und den unbeabsichtigten, nicht durch uns ge-
steuerten Handlungen oder Situationen, die gleichwohl von nachhaltiger Wirkung
sind. Die letzteren meinen wir, wenn wir sagen, dass wir auf das, was ein Kind von
der Straße, von anderen Kindern oder aus der Schule mitbringt, keinen Einfluss
haben. Auf diese "funktionalen" erzieherischen Prozesse, zu denen auch die Nut-
zung elektronischer Medien gehört, wird an dieser Stelle nicht eingegangen.
Führung, Grenzen setzen, Orientierungshilfen geben ... alles das sind Elemen-
te von „Erziehung“ und elementare Notwendigkeiten, um unseren Heran-
wachsenden zu einem Gewissen zu verhelfen, das ihnen sagen kann, was gut
und richtig ist
(vgl. dazu Hans Janssen 1994).
27
und Berufserzieher hinter ihnen stehen, umso weniger wirken sich gegenläu-
fige funktionale Einwirkungen aus.
Das Ehepaar Herzig gehört zu jenen, die „es geschafft“ haben. Noch relativ
jung an Jahren besitzen sie ein schönes geräumiges eigenes Haus in dem jeder
ihrer drei Buben (5, 7 und 8 ½ Jahre alt) jeder ein eigenes Zimmer bewohnt.
Die Kinderzimmer sind nach allen Regeln der Kinderzimmer-Werbe-Kunst
eingerichtet. Sie verfügen zum Beispiel über zwei Ebenen mit Rutsche und Lei-
ter, eine bunte schier unendliche Fülle wertvollen Spielzeugs, sind ausgestattet
mit Fernseher und Video und die Mama ist daheim und kümmert sich um ihre
Sprösslinge rund um die Uhr. Papa hat im Untergeschoss ein komfortables Bü-
ro, in dem er nach Feierabend seine Ingenieurstätigkeit fortsetzt. „Man muss
laufend am Ball bleiben, sonst kann man das alles hier (er deutet mit einer
weit ausholenden Handbewegung auf seine Einrichtung) vergessen“.
Der älteste Sohn Hans aber wurde vom Besuch einer öffentlichen Grundschule
ausgeschlossen und in eine Schule für Erziehungshilfe eingeschult. Eine Erklä-
rung bietet der Junge selbst an. Aus gegebenem Anlass sagt der sehr intelligen-
te und sprachgewandte Hans: „Ich mache was ich will. Meine Mutter sagt im-
mer, du bist für das, was du tust selbst verantwortlich.“
Diese Haltung lebt die Mutter tatsächlich. Ganz gleich, wie sie das für sich be-
gründet: Hans war mit diesem Verständnis von Eigenverantwortung deutlich
überfordert. Keine Pflöcke, keine Grenzen an seinem Weg führten ihn in das
Chaos einer theoretischen Eigenverantwortung, die er praktisch auf seine Wei-
se füllt. Und das bedeutet, dass er sich von niemanden - auch von Mutter und
Vater nicht - etwas sagen lassen will.
An diesem Beispiel wird deutlich, dass alle Bedürfniselemente, wie hier zum Beispiel
„Anerkennung“, „Vertrauen“, „Förderung“ und „Führung“ nicht allein eng mitei-
nander verflochten sind, sondern auch in einem Spannungsverhältnis zueinander
28
stehen. Diese Spannungen sind in einer, auf die jeweilige Persönlichkeit eines Kin-
des hin orientierte elterliche Haltung auszuhalten und auszugleichen. Nicht jedes
Kind reagiert auf elterlichen Führungsanspruch oder Führungsverzicht gleich heftig.
Erziehung heißt praktisch und in Bezug auf jedes unserer Kinder gebieten, verbie-
ten, meinem Kind ermöglichen, aus den Folgen seines Verhaltens zu lernen, sowie
es belohnen und ermutigen. Außerdem muss ich fordern oder verzichten, beharrlich
bleiben oder nachgeben. Jede Mutter, jeder Vater oder jede/r Berufserzieher/in
wird aber streng darauf achten, dass dem Kind in diesem Prozess kein Leid angetan
wird. Das heißt, dass wir auf körperliche Züchtigung ebenso verzichten, wie auf die
Würde des Kindes verletzende Äußerungen. Gerade in kritischen Situationen wird
es sich zeigen, ob wir ruhig und souverän handeln können, ob wir mit Geduld und
Verständnis das durchsetzen, von dem wir überzeugt sind, dass es gut ist für unser
Kind hier und heute und in seiner Zukunft.
Kein Erzieher darf den Anspruch von Kindern auf Orientierung ignorieren und
meinen, dass die Anderen oder "das Leben" die Kleinen schon formen werden.
Zum Leben eines Kindes gehören zunächst und vor allen andere Menschen: die
Eltern, die Erzieher und die Lehrer. Und je jünger die Kinder sind, umso wichtiger
sind sie. An uns richten die Kinder mit ihrem Verhalten die Fragen:
Wie weit darf ich gehen? - Was darf ich? - Was darf ich nicht?
Sie fordern den erzieherischen Dialog mit uns heraus! Und die Kinder haben einen
Anspruch darauf, eine klare Antwort zu erhalten!
Jede Mutter und jeder Vater wird sich daran erinnern, wie ein Kleinkind etwas tat
und dabei genau wusste, dass das nicht in Ordnung ist. Denken wir an einen zwei-
jährigen Jungen, der im Bad spielt, indem er am Waschbecken Wasser in den
Zahnbecher laufen lässt und den Becher in die Badewanne leert. Als er merkt, dass
er beobachtet wird, entleert er den Becher auf den Fußboden. Dabei schaut er zum
Vater und in seinem Gesicht lesen wir die Frage: " Was machst du nun?"
Können wir Eltern und Erzieher nun angemessen darauf reagieren? "Angemessen"
das heißt, zu erkennen, dass uns das Kind weder ärgern will, noch tut es das, weil
es bestraft werden möchte. Mit seinem Verhalten fordert es eine Reaktion heraus
(es "provoziert"), die wir so übersetzen müssen:
"Zeige mir meine Grenzen!"
Grenzen, die einem Kind zeigen, wohin es gehen soll, haben Verhaltenssicherheit
zur Folge. „Das tut man" oder „das tut man nicht" sagen wir gern. Die Maßstäbe
für das, was gut und richtig ist, nehmen wir einmal aus unserer eigenen Lebenser-
fahrung; vor allem aber aus der uns umgebenden Kultur, die diese unsere Le-
benserfahrung mit beeinflusste. Denken wir an das Beispiel "Zeit", von dem oben
bereits im Zusammenhang mit "Geduld" die Rede war. Dass ein Mensch den Fak-
tor Zeit zu beachten hat und zum Beispiel lernen muss pünktlich zu sein, in be-
stimmten Situationen schnell zu reagieren, seine Zeit einteilen können muss u. v.
a. m., das ist ja keine subjektive, willkürlich gesetzte, sondern eine für alle gleich-
ermaßen geltende gesellschaftliche Norm.
29
Wir prüfen also, wenn wir etwas von unseren Kindern verlangen beziehungsweise
sie Grenzen erfahren lassen, ob wir unseren Maßstab gleichsam aus einer Laune
heraus nehmen oder ob es sich um eine allgemein anerkannte gesellschaftliche
Norm handelt.
Mit Förderung ist das gemeint, was im alten Jugendwohlfahrtsgesetz Anspruch auf
Erziehung zu seelischer, geistiger und körperlicher Tüchtigkeit hieß. Eltern bemü-
hen sich nicht selten um die geistige Förderung ihres Kindes, wenn sie versuchen,
es mit Hilfe von "Nachhilfestunden" zu fördern, um ihm etwas vermitteln zu las-
sen, was es einfach nicht begreift. Diese Form der Förderung ist nicht gemeint.
Hier geht es um mehr. Das, was Förderung umfasst, beginnt bereits im Säuglings-
alter, wie wir oben erfahren haben. Denn wenn unser Säugling und Kleinkind Ver-
lässlichkeit, Zärtlichkeit und Zuwendung, Akzeptanz und Vertrauen erlebt, dann
wird es gut gerüstet sein für alle Anforderungen, die das Leben an es stellt. Es soll
sich dereinst im sozialen Feld unauffällig bewegen können und dennoch durchset-
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zungsfähig sein, es soll interessiert und aufgeschlossen sein und gern lernen wol-
len und Aufgaben bewältigen, auch wenn es mal schwer fällt. Es soll in Krisenzei-
ten nicht gleich den Kopf verlieren und durchhängen, sondern sich im vollen Ver-
trauen auf seine eigenen Kräfte auch schwierigen Situationen stellen. Eine Menge
guter Eigenschaften wünschen wir uns für unser Kind und fragen uns, was wir
denn dafür tun können.
Das Beispiel von dem Erkundungsdrang des acht Monate alten Kindes deutete be-
reits darauf hin, dass wir unserem Kind als einem von Natur aus aktiven Erkunder
die Gelegenheit anbieten müssen, die Welt selbst zu erkunden und sich im Entde-
cken, Ausprobieren und dann weiter beim Spiel zu üben. Dazu braucht es sicher
Möglichkeiten, sich zu bewegen, auszutoben, sich im Freien zu tummeln, aber
auch einen Platz in unserer Wohnung, eine Ecke, in der es ungestört spielen kann.
Spielzeug werden wir ihm kaufen oder schenken lassen, das das Bedürfnis nach
aktiver Auseinandersetzung fördert.
Am besten ist es, wenn wir unsere Kinder mit Dingen spielen lassen, die sie in viel-
fältiger Weise herausfordern. Es gibt zum Beispiel heute bereits Kindergärten, die
tageweise oder ganz auf fertiges Spielzeug und andere, industriell gefertigte Spiel-
materialien verzichten. Die Kinder langweilen sich keineswegs. Aus "wertlosem
Material", wie Papprollen, Holzstücken oder Stoffresten können phantastische Ge-
bilde entstehen. Und draußen können Kinder mit Sand, Erde, Steinen und Ästen
lange spielen ohne sich zu langweilen. Kinder sind von Natur aus kreativ und wiss-
begierig; man kann auch sagen: sie lernen gern!
Dass es aber auch anders sein kann und Kinder geradezu daran gehindert
werden, ihre natürlichen Kräfte zu entfalten, zeigt das Schicksal von Heinz. In
der Familie, in der er heranwuchs, bestimmte der Fernseher, gekoppelt mit ei-
nem Video-Gerät, die Freizeiten. Das Gerät wurde morgens angestellt, und
weil die Mutter jede freie Minute vor dem Fernseher hockte, taten die drei Kin-
der ihr das nach. Am Nachmittag und an den Wochenenden setzte sich noch
der Vater hinzu, holte die ausgeliehenen Videofilme aus der Tasche und ließ sie
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ablaufen. Dabei war es den Erwachsenen gleich, ob die Filme für die noch
nicht schulpflichtigen Kinder geeignet waren oder nicht. Als Heinz eingeschult
werden sollte, wurde gleichsam aktenkundig, was Erzieherinnen bei seinen
sporadischen Kindergartenbesuchen bereits festgestellt hatten: Heinz war (un-
ter anderem) in seiner Sprachentwicklung erheblich zurückgeblieben.
In der Familie von Heinz waren ganz einfache Muster des Lernens unbeachtet ge-
blieben:
Sprechen lernt ein Kind, wenn es viel spricht und alles benennt oder wenn
die Eltern auf seine Fragen antworten; soziale Verhaltensweisen lernt es,
wenn es mit anderen Kindern spielt; seinen Körper lernt es zu beherrschen,
wenn es läuft, springt und sich vielfältig bewegt. Sehen lernt es, wenn es be-
obachtet, Fahrrad fahren, wenn es Fahrrad fährt und nicht vom Zuschauen.
Kinder lernen also am ehesten, wenn sie etwas tun. An allem Tun sollten möglichst
viele seiner Sinne beteiligt sein. Zwingen wir aber ein Kind dazu, passiv zu sein,
nimmt es Schaden an Geist und Seele. Es sind gerade die Forschungsergebnisse
von Manfred Spitzer (2002) oder Joachim Bauer (2005), die uns heute aus neuro-
logischer Sicht nachweisen, auf welche Weise Kinder gefördert oder auf welche
Weise der kindlichen Entwicklung erheblicher Schaden zugefügt werden kann.
Eines Tages wird es gar nicht mehr aktiv sein wollen. Das angeborene Interesse am
eigenen Erkunden wird dem ebenfalls angeborenen Hang zur Bequemlichkeit Platz
machen. Erst wurden die natürlichen Bedürfnisse eines Kindes übersehen oder
missachtet. Bald kommt der Zeitpunkt, wo es nicht mehr will. Später wird es zum
Verweigerer, der jede Anstrengung scheut und zu nichts "Lust" hat.
Genau hier liegt das Geheimnis der Freude und des Interesses an der Leistung.
Gerade bei allen Angeboten, die die Kreativität eines Kindes herausfordern, spielt
das eine große Rolle. Dort fallen aber noch andere Faktoren ins Gewicht: Zum Bei-
spiel, die Gelegenheit, den schier unerschöpflichen Bewegungsdrang der Kinder
ausleben zu können – auch und nicht zuletzt in Freien -, die Art und Weise der
Vermittlung von Wissen, die entsprechenden didaktischen Kenntnisse und Strate-
gien der Pädagoginnen und Pädagogen oder die Arbeitsatmosphäre.
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Das Bedürfnis nach Freude
Fangen wir bei uns selber an: Wir wünschen uns bei allen Gelegenheiten "frohe
Festtage, Gesundheit und Freude". Sich auf etwas freuen dürfen und freuen kön-
nen gilt seit langem als ein Gefühl, das dazu beiträgt, das Leben lebenswert zu ma-
chen. Friedrich Schiller widmete dieser - nur dem Menschen eigentümlichen
Grundstimmung - ein Gedicht, das Ludwig van Beethoven vertonte und an den
Schluss seiner Neunten Symphonie setzte. Die "Ode an die Freude" ist zu einer
Welthymne geworden. Auch die christliche Botschaft, und hier besonders das
Weihnachtsevangelium stellt die Freude in das Zentrum. Während wir Erwachse-
nen uns aus gutem Grund "Freude" wünschen, weil wir oft verlernt haben, uns zu
freuen, freuen sich Kinder gleichsam von Natur aus. Hier ist uns Menschen die
Bereitschaft zu einer Stimmung angeboren, die wir nicht erst lernen müssen. Alle
Kinder, denen kein Leid angetan wird und deren Bedürfnisse eine hinreichende
Befriedigung erfahren, freuen sich bei vielen Gelegenheiten. Frohsinn und Lebens-
freude bringen sie ebenso unmittelbar mit ihrem ganzen Körper zum Ausdruck,
wie sie ihren Kummer in elementarer Weise so zum Ausdruck bringen, als stürze
die ganze Welt zusammen. Freude und Leid liegen noch ganz dicht beieinander.
Und wir Eltern und Erzieher möchten unseren Kindern recht viel Freude bereiten.
"Mein Kind macht mir viel Freude" sagen wir dann gern und bringen damit zu-
gleich zum Ausdruck, dass auch unser Kind viel Freude hat. Denn wer Freude
schenkt, dem wird Freude gegeben. Oder, wie es im Volksmund heißt: "Wie es in
den Wald hinein schallt, so ruft es wieder raus."
Freude schenken ist bei Kindern nicht schwer. Gerade weil sie sich noch über alles
freuen können, brauchen wir nicht, wie bei Erwachsenen, lange zu überlegen.
"womit könnte ich ihr/ihm nur eine Freude machen?" Zugleich aber könnte diese
Frage Maßstab dessen sein, was wir "Verwöhnen" nennen. Kinder die alles be-
kommen, eigentlich noch bevor sie ein begehrliches Auge darauf geworfen haben,
werden rasch verlernen, sich zu freuen. Ihnen wird das Leben öde und langweilig.
Bereits unsere alten Volksmärchen wussten davon zu erzählen: Nur wer noch
Wünsche hat, kann sich auch auf etwas freuen.
Dass zur Freude die freudige, spannungsreiche Erwartung gehört, das erfahren
Eltern und Berufserzieher immer dann, wenn ein für Kinder besonders bedeutsa-
mes Ereignis bevorsteht.
Und wieder denken wir an die eigene Kindheit zurück: Die Wartezeit vor der
„Bescherung“ am Heiligen Abend, die Zeit, die nicht vergehen wollte, wenn wir
mit den Eltern ins Kasperle-Theater oder zur Kindervorstellung ins Theater
gehen durften, sie füllte unser ganzes Ich mit freudiger Erwartung aus, die so
tief erlebt wurde, dass wir sie noch heute als Erwachsene gut erinnern können.
Später, als wir dann groß waren, erlebten wir eine ähnliche spannungsreiche
Vorfreude, wenn wir uns auf die Verabredung mit der Freundin /mit dem
Freund vorbereiteten.
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Die Freude eines Kindes wächst also aus freudigem Erleben. "Schau mal!" ruft der
zweijährige Karl beim Spaziergang und strahlt vor Aufregung und Vergnügen und
zeigt uns einen Käfer, der gerade über den Weg eilt. Und so entdecken unsere Kin-
der die Welt, sind freudig erregt und können sich vor Freude gar nicht lassen,
wenn sie etwas sehen, was ihnen neu ist und/oder gefällt.
Wenn die Eltern mit ihrem fünf Jahre alten Roman in die Stadt fuhren, dann
wusste er genau, wo die Spielplätze waren. Dort zog es ihn (und er seine El-
tern) hin. Keine größere Freude konnten sie ihm bei diesen Stadtbesuchen be-
reiten, als mit ihm auf den Spielplatz zu gehen. Dort saßen die Eltern dann ir-
gendwo in Sichtkontakt mit Roman, der mal mehr, mal weniger zielstrebig,
auf die im Sandkasten spielenden oder auf den Gerüsten herumturnenden Kin-
der zuging.
Wenn spielbereite und kontaktfreudige Kinder da waren, brauchten die Eltern
viel Zeit und Geduld, bis Roman, zufrieden zurück kam und bereit war, weiter
mitzugehen. Gelegentlich aber kam es zu Differenzen mit anderen Kindern.
Seinen Frust beendete Roman, in dem er zu den Eltern lief und offensichtlich
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froh war, weggehen zu können. Beim nächsten Besuch in der Stadt aber war
der Spielplatz erneut sein Ziel.
Freude und Frustration, Lachen und Weinen können also dicht beieinander liegen.
Wichtig aber ist es, dass unsere Kinder beides erfahren und frühzeitig ihre sozialen
Erfahrungen machen. Ob das mit einer Sandschaufel auf einem Spielplatz ist oder
noch mit Windeln am Po, im Kinderzimmer.
Ich bemühe mich weiter, ein Kind zu verstehen, wenn ich ihm richtig zuhöre, mich
ihm mit ungeteilter Aufmerksamkeit zuwende und versuche, mich in es hineinzu-
versetzen.
"Verständnis" also noch eine andere, sehr wichtige Grundlage: ich meine "Kennt-
nis", man kann auch "Wissen" sagen.
Um Verständnis dafür zu haben, dass ein Kleinkind alles, was es in die Finger be-
kommt, zum Munde führt und daran herum lutscht oder darauf zu beißen ver-
sucht, ist es für Eltern gut zu wissen, dass der Mund - wie alle anderen Sinnesor-
gane des Kindes - an der Erkundung der Welt aktiv Anteil hat. Er stellt gleichsam
so eine Art "Erkundungslabor" dar, das unter anderem prüft, wie etwas schmeckt,
riecht, ob etwas mehr genießbar scheint oder weniger…
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Gewiss sind die Eltern in der Pflicht, darauf zu achten, dass Gegenstände, die bei
diesem Prüfvorgang ein Kind verletzen könnten, nicht in einer für es erreichbaren
Nähe sind. Ein generelles Verbot oder Verhindern "ba, das tut man nicht" nimmt
einem Kind wichtige Möglichkeiten, Erfahrungen zu sammeln. Doch um das Ver-
halten eines Kindes richtig zu deuten und es nicht unnötig zu bremsen, wenn es
dabei ist, seine Umwelt zu erkunden und zu lernen, müssen Eltern einfach wissen,
was ein Kind zu seinem Gedeihen braucht und warum es etwas tut oder lässt.
Ähnliches gilt auch für die Lösungsphasen, also die Perioden, in denen Kinder uns
in besonderer Weise zu erkennen geben, dass sie von uns "weg wachsen". Freuen
wir uns über jedes unserer Kinder, das uns "vergisst", wenn es am Eingang zum
Kindergarten losstürmt und sich über die anderen Kinder freut. Oder über den
pubertierenden Heranwachsenden, der jede unserer Äußerungen kritisch prüft
und nur noch selten bereit ist, kommentarlos zu "schlucken", was wir ihm sagen
oder von ihm erwarten. Wer nicht weiß, dass Kinder, um zu reifen, Erwachsene
brauchen, um sich an ihnen reiben zu können, wird eher verzweifeln über die Wi-
derstände seiner Kinder und sie nicht als notwendig und natürlich begreifen. Auch
in dieser Entwicklungsphase lauern vielfältige Gefahren auf unsere Tochter, unse-
ren Sohn. Und es braucht von unserer Seite viel Vertrauen in die guten Kräfte in
unserem Kind, um auch jene Situationen, die wir als kritisch erleben, mit Gelas-
senheit und Zuversicht zu leben.
Ein Elternpaar mit vier Söhnen, deren Ältester in die Abschlussklasse der
Hauptschule kam, war über dessen Trägheit und Wurschtigkeit ganz verzwei-
felt. "Zu nichts hat er Lust… er hängt nur rum… lässt sich volldröhnen (mit lau-
ter Musik)… zu den Hauaufgaben muss man ihn zwingen… es ist zum Verzwei-
feln"
Zum "Verzweifeln" war aber auch, dass die Mutter ständig und der Vater nach
Feierabend dem Sohn ihren Kummer vorhielten und immer wieder prophezei-
ten: "mach nur so weiter: so wird nie was aus dir!"
Es konnten die Eltern davon überzeugt werden, dass diese Phasen vorüber ge-
hen würden und sie ganz fest darauf vertrauen sollten, dass der Junge - und
auch die drei jüngeren, von denen eines noch im Kindergartenalter war, ihren
Weg schon machen würde. Sie sollten nur fest zu ihnen halten, ihnen, trotz al-
ler Schwierigkeiten die sie haben und bereiten, zur Seite stehen und ihnen be-
hutsam helfen (zum Beispiel dem Ältesten eine Lehrstelle zu finden, eine Per-
spektive anzubieten…).
Während die Mutter sogleich bereit war, ihre verbalen Attacken einzustellen,
zu schweigen, wo sie vorher vorwurfsvoll "gepredigt" hatte, anzuerkennen und
zu ermuntern, was sie vorher selbstverständlich nahm, blieb der Vater noch
skeptisch. Immerhin bremste er sich und verzichtete auf Moralpredigten.
Heute, zehn Jahre später, alle drei Jungen sind in ihren Berufen erfolgreich tätig,
bestätigten sie, dass ihnen das Wissen um die natürlichen Krisen in der Entwick-
lung und die aus diesen Kenntnissen erwachsende Zuversicht geholfen habe. Die
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Konflikte mit den Söhnen verringerten sich und verloren an Schärfe. Stattdessen
lernten - nach der Bilanz der Eltern - auch die Kinder, sich und ihre Möglichkeiten
günstiger einzuschätzen. Die Mutter hatte sogar den Mut als Elternvertreterin im
Kindergarten und dann in der Schule, diese Einsichten dort offen zu vertreten und
andere Eltern zu bewegen, mehr Vertrauen in ihre Kinder und mehr Verständnis
für sie zu haben.
Eigentlich versteht es sich von selbst, dass jedermann in einer friedlichen Welt le-
ben möchte. Es sieht auch so aus, als gelänge es der Staatengemeinschaft - zumin-
dest für die Region Westeuropa - den Frieden für die jetzt lebenden Generationen
zu sichern. Dieser Frieden ist für die Entwicklung von Kindern der Rahmen, der zu
unseren allen allgemeinen Lebensbedingungen gehört, so wie auch der Schutz und
die Erhaltung unserer natürlichen Umwelt. Sind diese gefährdet wie in Kriegen
oder durch den unverantwortlichen Umgang mit unseren natürlichen Lebens-
grundlagen, werden die elementaren Menschenrechte aller Menschen, besonders
aber der Kinder missachtet.
Für jedes einzelne Kind von unmittelbarer Bedeutung ist der Frieden in seiner so-
zialen Umwelt, also der friedvolle Umgang der Familienmitglieder untereinander,
der Umgang mit Nachbarn oder mit der Erzieherin im Kindergarten und dem Leh-
rer oder der Lehrerin.
Das Schrecklichste was einem Kind angetan werden kann, sind sich streitende El-
tern. Einwände wie: "Kinder müssen frühzeitig lernen, Konflikte auszuhalten und
auszutragen" oder: "Streitigkeiten kommen in den besten Familien vor" sind unak-
zeptable Ausreden, die in dem hier gemeinten Zusammenhang nicht gelten - auch
wenn sie für sich genommen stimmen. Es gibt unter Erwachsenen beziehungswei-
se Mutter und Vater verschiedene Meinungen, Auffassungen oder Absichten, die
zu Differenzen führen. Das ist ebenso natürlich, wie es Stunden oder Tage gibt, wo
man mal nicht so gut beieinander und darum schlecht gelaunt oder besonders
reizbar ist. Dies aber sind alles keine stichhaltigen Gründe dafür, eine Familienat-
mosphäre durch entsprechende Verhaltensweisen zu vergiften. Kinder wissen im
Allgemeinen recht gut zu unterscheiden, zwischen einem vorübergehenden Don-
nerwetter und einer über Stunden und Tage andauernden unfriedlichen Atmo-
sphäre.
Wenn Eltern einen an und für sich geringfügigen Anlass("wer hat denn da wieder
die Tür aufgelassen, es zieht ja wie Hechtsuppe") dazu benutzen, sich zu zanken
und es im Verlaufe dieser Auseinandersetzungen immer lauter und im Ton aggres-
siver wird, ja sogar beleidigende, Persönlichkeitsverletzende Äußerungen fallen
oder es, was noch schlimmer ist, zu Tätlichkeiten kommt, dann haben wir es hier
nicht mit einer empfehlenswerten Strategie zu tun, Konflikte zu bewältigen. Auch
Formen des "ich rede nicht mehr mit Dir", des über längere Zeiten andauernden
"eisigen Schweigens" oder des sich "Aus-dem-Wege-gehens" (möglicherweise in
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die nächste Kneipe oder zur guten Freundin) reinigen die Atmosphäre in der Regel
nicht, sondern vergiften sie.
Wie bereits in früheren Jahren Kinder unter den sich streitenden Eltern litten, zei-
gen uns die Lebenserinnerungen eines deutschen Erzählers. Ernst Wiechert erin-
nert sich in seiner Autobiographie „Wälder und Menschen“ (1936, S. 49) an die
Ehekrisen im Elternhaus um 1890 und er schreibt:
„… aber die tiefste Verdüsterung meines kindlichen Lebens habe ich in jenen
zahllosen und endlosen Stunden erfahren, in denen ich vor der geschlossenen
Tür oder am Fenster des Schlafzimmers gelauscht habe, ob meine Mutter wei-
ne.
Und noch schrecklicher als diese sichtbaren Schmerzen waren die Tage kalten
Schweigens, die sich an solche Stunden schlossen. Dann war es, als sei alles
Leben in unserem Hause gelähmt, als werde die Sonne nie wieder scheinen, als
wäre es am besten zu sterben und von der Not der Menschen nie mehr etwas
zu wissen…“
Jeder von uns, der Zank und Streit der eigenen Eltern miterlebte, kann das gut
nachvollziehen. Eine Mutter erzählte aus ihrer Kindheit:
„Wenn sich meine Eltern vor uns Kindern stritten und laut anschrien, dann
haben mein Bruder und ich mit geschrien – doch nicht aus Zorn, sondern in
heller Panik. Und wissen Sie, wie meine Eltern dann reagierten? Sie schlugen
beide auf uns ein… ich werde das nie vergessen“.
Wie aber auch immer die Konfliktstrategien in den Familien aussehen: die Kinder
stehen zwischen ihren Eltern und leiden. Der Streit zwischen Menschen, zu denen
Kinder einen guten Bezug haben oder haben möchten, macht Kinder kaputt. Eine
interdisziplinäre Fachtagung, die im November 2006 in Freiburg stattfand und
sich dem Thema häuslicher Gewalt und ihrer Folgen in Deutschland befasste, wies
an Hand dramatischer Zahlen und Schicksalen nach, dass Kinder Gewalt in der
Familie als existentielle Bedrohung empfinden. Oft ist nicht die Scheidung von
Eltern der Grund von erheblichen seelischen Erkrankungen von Kindern, sondern
die Zeiten, die der Trennung vorausgingen. Ein ganz besonders dramatisches Ka-
pitel in der Geschichte von unfriedlichen Familien ist die Gewalt, die gegeneinan-
der ausgeübt wird. Das kann die Gewalt gegen Kinder sein oder die der Erwachse-
nen untereinander.
Nun wird mich jede/jeder, die/der die Realitäten in unserer Gesellschaft kennt, zu
denken ist da zum Beispiel an die Mitarbeiterinnen in Frauenhäusern, einen welt-
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fernen Träumer nennen. Doch wie für alle genannten Bedürfnisse gilt gerade in
Beziehung auf den Umgang von Eltern miteinander und mit ihren Kindern, dass
Friedfertigkeit Kindern hilft und Unfriede und Aggressivität Kinder massiv ver-
stört. Um die Auswirkungen auf "Kinder in Gewaltbeziehungen" machte Beate
Hinrichs im September 2004 in einer gleichnamigen Radiosendung eindrucksvoll
aufmerksam10.
In einer Familie, in der Gewalt gelebt wird, verstärken gewalttätige Computerspie-
le die Bereitschaft, selbst gewalttätig zu sein. Vorbilder in der Familie und / oder
die Überzeugung, dort nicht geliebt (nicht wichtig) zu sein, sind nicht selten die
Ursache für eine ungünstige Persönlichkeitsentwicklung zu der - als ein Beispiel -
die Flucht in die Gewalt (z.B. Gewaltverherrlichenden Filme und Spiele) gehört.
Hier ist zum Beispiel weiter an eine weit verbreitete Art und Weise, Gewalt auszu-
üben und aggressiv zu sein zu denken: an die Zuschauer von Fußballspielen. In
den Niederlanden war im November 2012 ein Schiedsrichter-Assistent von Zu-
schauern tot geprügelt worden. Bei uns in Deutschland sieht es nicht viel besser
aus. „Was sich Schiedsrichter von Trainern, Eltern und Spielern, vor allem bei dem
Nachwuchs, anhören müssen ist unterste Schublade“11.
Über das friedliche Miteinander in den Familien hinausgehend, muss hier auch
auf die hohe Bedeutung eines friedfertigen Umgangs zwischen den Erwachse-
nen aus der Herkunftsfamilie und allen anderen an der Erziehung und Bildung
eines Kindes Beteiligten hingewiesen werden. Unter anderem hat die Koopera-
tionsforschung zu Tage gefördert, welch ein Förderungspotential in einem gu-
ten Zusammenwirken zum Beispiel zwischen Elternhaus und Kindertagesstätte
oder Schule enthalten ist und welche Schädigungen für ein Kind folgen können,
wenn Eltern und Erzieher nicht gut miteinander auskommen.
Doch selbst in der friedfertigsten Familie bleiben Eltern und Kinder nicht von
Zank und Streitereien verschont. Unfrieden aber löst Ängste aus, vor allem bei un-
seren Kindern. Wenn Geschwister sich in die Haare kriegen, werden Mutter oder
Vater als Vermittler gerufen. Bei der Frage nach dem Umgang mit dieser Proble-
matik im Familienalltag ist darauf hinzuweisen, dass Eifersucht unter Geschwis-
tern, genauso wie Rivalität unter Kindern überhaupt, normal ist. Für das Einzel-
kind tritt unter Umständen ein Elternteil an die Stelle eines fehlenden Geschwis-
terchens.
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Das Bedürfnis nach Sinn
"Den Sinn des Lebens anzunehmen, als den konkreten Inhalt dieses konkreten
einmaligen Lebens, macht aus, mit meinem Eigentlichen identisch zu sein".
(Monika Maron 1981, S. 99)
Während für uns Erwachsene die Frage nach dem Sinn unseres Lebens von exis-
tentieller Bedeutung ist, wachsen unsere Kleinen zunächst noch heran, ohne über
sich nachzudenken. Unsere Kinder sind im Kreise von Eltern und Geschwistern
geborgen und wenn sie auf die Frage nach dem Sinn ihres Daseins antworten
könnten, dann würden sie vermutlich sagen: "Mein Leben hat den Sinn, dass ich
da bin". Tatsächlich fließt unseren Kindern, vor allem zunächst im Kleinkindalter,
der Lebenssinn durch uns Erwachsene zu: Wenn wir uns darüber freuen können,
dass dieses Menschlein auf der Welt ist und wächst und gedeiht, darüber, dass es
lächelt, laufen lernt und zu sprechen beginnt, dann teilt sich dem Kind diese Freu-
de mit. Auf diese Weise lernt das Kind, sich seines Daseins zu freuen, sich positiv
zu erleben. Diese Grunderfahrung ist die Voraussetzung dafür, dass unser Kind, je
älter es wird umso mehr, ein gutes Bild von sich selbst aufbauen und einen Sinn in
seiner Existenz sehen kann.
Auch ein Kind, das durch Krankheit und Behinderung früh gezeichnet ist, lernt,
sein Dasein anzunehmen, in erster Linie durch die positive, fürsorgende Zuwen-
dung, die Freude an seiner Existenz, die die Eltern dem Kind zeigen. Es sind gera-
de die belastenden, die seelischen Kräfte von Eltern und Kindern besonders her-
ausfordernden Lebenssituationen, aus denen allen Beteiligten Lebenssinn zu-
wächst. Der Wiener Arzt und Psychotherapeut Viktor Frankl, der die Bedeutung
der Sinnfrage im menschlichen Leben in den Vordergrund seiner Arbeit stellte,
sagt unter anderem, dass jeder Mensch selbst die Antworten auf die Fragen nach
dem Sinn seines Lebens finden kann. Er findet sie mit Hilfe seines Gewissens, das
ihm sagt, auf welche Weise er auf die Lebenssituation, in der er sich befindet, ant-
wortet, sie verantwortet.
Mit dieser Erkenntnis wird uns die Bedeutung des Gewissens vor Augen geführt,
das uns in allen kleinen und großen Entscheidungen unseres Lebens berät. Also ist
die Frage nach dem Sinn eng mit der Herausbildung eines Gewissens verknüpft.
Unser Gewissen entwickelt sich gleichsam im Dialog mit unseren Eltern und den
anderen Menschen und in den Situationen, die wir erleben. Es sagt uns in allen
Lebenslagen, was gut ist und was schlecht. Armin Krenz (2008) verbindet darum
auch die Frage nach dem Sinn ganz eng mit der nach der Heranbildung unserer
Werte. Im Grunde bilden die hier vorgetragenen Grundbedürfnisse zugleich eine
Werteskala ab, wie in der Einführung bereits angedeutet. In dem Ausmaß, in dem
ein Kind die mit ihr verbundenen Haltungen bzw. Verhaltensweisen durch alle ihm
wichtigen Bezugspersonen erfährt, kann sich sein Gewissen ausbilden und das
Kind Sinn erfahren.
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Als Kläre mit fünf Jahren an einer fieberhaften und ansteckenden Krankheit
litt, musste sie in ein Kinderkrankenhaus. Es war das erste Mal, dass sie sich
unter diesen für Eltern und Kind gleichermaßen belastenden Umständen von
der Familie trennen sollte. Die Konzeption des Krankenhauses aber ermöglich-
te es, dass jeweils ein Elternteil das Krankenzimmer mit dem Kind teilen konn-
te. Es war darum für Mutter und Vater selbstverständlich, dass sie, obwohl
beide in ihren Berufen sehr gefordert waren, abwechselnd über Nacht bei der
Tochter schliefen. Sie konnten ihr die Hand halten, die Beine wickeln und jene
Pflege und Fürsorge angedeihen lassen, die das Kind rasch wieder gesund
werden ließ.
Es ist weiter anzuknüpfen an das Bedürfnis des Kindes nach "klärenden Antwor-
ten" wie sie oben erwähnt wurden. Diese Antworten durch uns Eltern, durch Er-
zieherinnen / Erzieher und Lehrerinnen / Lehrer sind es, die maßgeblich das Ge-
wissen formen. Aber auch die Erfahrungen von Sicherheit, Liebe, Anerkennung,
Vertrauen, Geduld, Förderung oder Frieden beeinflussen unsere Maßstäbe und
damit unser Gewissen.
Halten wir uns auch vor Augen, dass eigene Leistungen und der Verzicht unsere
Gewissensbildung beeinflussen. Denken wir zum Beispiel an die "Erziehung zur
Sauberkeit": Unser Kind lernt durch unsere Ermunterung und Freude, seine Aus-
scheidungen "herzugeben" und zugleich seine Darm- und Blasenfunktionen zu
"beherrschen". In ähnlicher Weise werden wir von ihm später Verzicht und Leis-
tung erwarten, wenn es darum geht, eine Tätigkeit zu unterbrechen und zum Essen
zu kommen oder uns hier und dort ein wenig zur Hand zu gehen oder, was wohl
sehr häufig geschehen wird, seine spontanen Wünsche, die wir ihm nicht erfüllen
("Mutti ich will ...," "Mutti, kauf mir..."), zu verarbeiten. In dem Ausmaß, in dem es
uns im Großen und Ganzen gelingt, aus Leistung und Verzicht gleichsam einen
seelischen Erfolg werden zu lassen, helfen wir am Aufbau eines Gewissens und
damit zum Fundament späterer Sinnerfüllung. Denn nach solchen Situationen hat
ein Kind in seinem Innern ein gutes Gefühl, weil es seine eigene Trägheit oder sei-
ne momentane Begehrlichkeit überwand. Voraussetzung unserer Bemühungen
freilich ist, und dies gilt gerade im Zusammenhang mit der Erziehung zu Sinn und
Wert eines Lebens, dass Eltern selbst Sinn und Werte vorleben.
Und noch ein Beispiel:
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Sinnerfüllung findet der Mensch in der Hingabe an eine Aufgabe. In Bezug auf
Kinder sagen wir gerne, dass sie selbstvergessen spielen. Unseren Kindern die-
se Erfahrung zu ermöglichen, dass sie sich einem Spiel beziehungsweise einer
Tätigkeit voll "hingeben" können, lehrt sie, dass aus dieser Hingabe Sinn
wächst.
Der zweijährige Fabian, der von seiner Mutter in eine Kleinkindergruppe ge-
bracht wurde und dort auf andere Kinder traf, "vergaß" nach kurzer Zeit die
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Mama. Die anderen Kinder waren ihm wichtig und selbstvergessen nahm er
die vielen Gelegenheiten zu sozialen Kontakten im gemeinsamen Spiel wahr.
Das Streben, sich als Teil einer Gemeinschaft zu erleben, die nicht die eigene
Familie ist, dort angenommen und wahrgenommen zu werden, zieht alle Kin-
der - genau wie Fabian - zu anderen Kindern. In vergleichbaren Altersphasen
erleben alle Eltern, dass ihre Kinder gern auf die Spielplätze gehen, auch in
fremden Städten und in anderen Ländern.
Diese sozialen Kontakte vermittelten schon sehr früh das bewusste Streben nach
Zielen. Wenn ein Kind erlebt, dass ein anderes Kind etwas kann beziehungsweise
tut, was ihm noch fremd ist aber reizvoll erscheint, wird es das ebenfalls tun wol-
len. Einen Drachen steigen lassen, ein Modellflugzeug bauen: das Leben eines
Kindes ist überreich an Anregungen, die ihm aus der sozialen Umwelt zuwachsen
und die ihm Ziele vorgeben. Wir Erziehenden greifen lenkend und fördernd ein
und achten darauf, dass nicht das "Haben" das Grundmotiv ist (oder gar bleibt),
sondern das bewusste Streben nach einem Ziel. Nicht also der Besitz eines Kon-
struktionsspielzeugs zum Beispiel, wie es ein Modellflugzeug sein kann, sondern
der Bau und die Flugfähigkeit - also das "Tun" steht im Vordergrund. Um diese
Ziele zu erreichen, braucht es nicht wenig Geduld, Geschick, Lernbereitschaft und
Ausdauer. Aber auch Verzicht wird geübt, wenn stattdessen andere, vielleicht
leichtere und bequemere Spielalternativen zurückgestellt werden müssen.
Fabian ist inzwischen drei Jahre alt und beginnt, sich für Spielzeug zu interes-
sieren, das vergleichbare Anforderungen stellt, wie das Beispiel vom Modell-
flugzeug. Die Angehörigen und die Berufserzieher in der Tagesstätte haben
diese Interessen im Auge und stimmen ihre Angebote darauf ab. So wie bei ihm
tun das in einer guten Einrichtung alle Berufspädagogen in Bezug auf alle
Kinder und achten darauf, welche Angebote welche Kompetenzen zu fördern
vermögen und den betreffenden Kindern Erfolgserlebnisse vermitteln. Diese
Schritte: Angebot / Anregung - Ziel (das will ich können / erreichen) - Durch-
führung (Leistung) - und Erfolg (Produkt) erleben ein Kind und seine Eltern
und Erzieher als Freude (Stolz). Nehmen wir die Erkenntnis von der Bedeu-
tung einer sinnhaften Existenz in den Blick, dann wissen wir jetzt, dass diese
scheinbar winzig kleinen Schritte einem Heranwachsenden ermöglichen, sei-
nem Leben Ziele und damit Sinn zu geben.
Ohne Sinn kann der Mensch nicht leben“ sagt Viktor Frankl und beschreibt „Wege
zum Sinn“ (Alfried Längle, 1985). Bereits Antoine de Saint Exupery hat hierin die
Bestimmung des Menschen gesehen und mit seinem eigenen Leben vorbildhaft
verwirklicht. Sein Gebot „Dem Leben einen Sinn geben“ (1952) steht als bewusster
oder unbewusster Auftrag vor jedem Einzelnen und macht, sobald er seinen Le-
benssinn gefunden hat, einen guten Teil seiner seelischen Gesundheit aus. Am An-
fang individueller Entwicklungen aber stehen die Kindheitsphasen und in ihnen
alle Erwachsenen, die für ein Kind Vorbilder sind.
43
Zum Schluss
In einem Brief schrieb eine Erzieherin sinngemäß, dass alles das, was hier als
Grundbedürfnisse aufgelistet und erörtert worden ist, für jeden Menschen gilt. So
ist es in der Tat! Und wenn in diesem Beitrag auf Kinder abgehoben wird, dann ist
dieser Akzent den Adressaten, den pädagogischen Fachkräften geschuldet. Jede
Leserin und jeder Leser kann leicht nachvollziehen, dass für sie und ihn jedes der
genannten Bedürfnisse hohe Bedeutung besitzt. Vielleicht in bestimmten Lebens-
phasen oder Situationen mal das eine mehr als das andere. Doch sind Erwachsene
in anderer Weise betroffen. Ganz allgemein und stark vereinfachend ließe sich das
geflügelte Wort „Jeder ist seines Glückes Schmied“ ins Feld führen und sagen, dass
Erwachsene in der Lage sind, selbst dafür zu sorgen, dass ihre Bedürfnisse zu ih-
rem Recht kommen. Und fragt man danach, ob sie noch andere, als die genannten
Grundbedürfnisse haben, werden sie noch viele andere nennen, an die hier gar
nicht gedacht worden ist. Bei Kindern verhält es sich ganz anders. Sie wachsen erst
heran, sie „entwickeln“ sich – und wissen noch nichts von ihren „Grundbedürfnis-
sen“. Sie leben, und leben gern und voller Frohsinn und Lust, mit wahrhaft unbe-
kümmerter Freude über jeden neuen Tag, wenn sie sich geliebt und geborgen füh-
len. Für ihre Entwicklung tragen die Eltern und Berufspädagogen gemeinsam mit
dem ganzen sozialen Umfeld und in unterschiedlicher Weise die Verantwortung.
Darum hat jeder erwachsene Mensch, der mit Kindern umgeht, die hier genannten
Bedürfnisse – gleichsam als eine Norm – zu beachten, um die Entwicklung eines
Kindes von der Zeugung bis zu der ihm möglichen Selbständigkeit in positiver
Weise zu fördern, sein „Wohl“ zu sichern.
44
Pädagogischer Einrichtung und sozialen Diensten, deren Aufgaben darin bestehen,
für das Wohl aller Kinder Sorge zu tragen, sind auch die Gemeinden bzw. Stadtbe-
zirke, Kinder- und Jugendorganisationen wie z. B. Sportverbände, die Familienge-
richte und die Gesundheitsämter eingebunden. Es sollte allen Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern in diesen Organisationen genauso wie den Angehörigen einer
Familie das Wohl der Kinder, und das heißt konkret: die Sicherung ihrer Grund-
bedürfnisse, ein hohes und unverzichtbares Gut sein. Sie basieren, wie hier ge-
schildert, auf den Erkenntnissen der verschiedenen Disziplinen der Humanwis-
senschaften, zu denen auch das Konzept des lebensbezogenen Ansatzes in der Pä-
dagogik gehört. Unter dieser Bezeichnung finden wir den „bisher einzigen didakti-
schen Ansatz, der direkt auf dem Grundbedürfnisansatz beruht“ (Jutta Mägdefrau
2007, S. 84. Norbert Huppertz 2008 1/3). Die Aufgabe, in Konzeption und Praxis
von den Grundbedürfnissen auszugehen, stellt sich auch all jenen, die sich darum
bemühen, den Personen und Personengruppen gerecht zu werden, die aus den un-
terschiedlichsten Motiven heraus, zu uns nach Deutschland gekommen sind. Ge-
rade, wenn es sich um Eltern und ihre Kinder handelt, die einem anderen Kultur-
kreis angehörten, ist die in diesen Texten vertretene Einsicht, dass alle Menschen
die gleichen Grundbedürfnisse haben, sehr wichtig. Zu denken ist da zum Beispiel
an gesellschaftliche Gruppen wie Religionsgemeinschaften, deren Wertvorstellun-
gen von jenen abweichen, wie sie in unseren westlichen Demokratien, angefangen
von der Erklärung der Menschenrechte bis hin zu Verfassung und Recht, die bei
uns gelten, selbstverständlich sind. Denken wir nur an die Ausführungen von Je-
sper Juul über die Anerkennung der kindlichen Persönlichkeit, ihrer Würde und
Unantastbarkeit und daran, dass diese Normen für Mädchen und Jungen, für
Frauen und Männer gleichermaßen Gültigkeit besitzen. Unabhängig von Hautfar-
be, Geschlecht, Behinderung oder Krankheit sind in allen Personen die gleichen
Bedürfnisse vorhanden und haben einen Anspruch darauf, von den sozialen Ge-
meinschaften beachtet zu werden. In Familien, Kindergruppen, Schulen oder an
Ausbildungs- und Arbeitsplätzen begegnen wir uns in diesem Verständnis. Und
wenn „Integration“ als Konzept inzwischen von allen diesen sozialen Gemeinschaf-
ten gefordert wird, dann wird sie umso eher gelingen, je überzeugender Grundbe-
dürfnisse, wie zum Beispiel die nach Anerkennung, Förderung oder Freude erlebt
und vorgelebt werden. In unserem Alltagsleben – und ich greife eine Forderung
von Bernhard und Helma Hassenstein (7/1978, S. 56) auf – kommt es darauf an,
dass wir uns vorbildhaft verhalten und durch gemeinsames Tun zu Leitbildern für
unsere Kinder werden. Kinder sind für sich selber da und nicht für uns Erwachse-
nen. Diese schlichte Erkenntnis wird in dem Ausmaß verwirklicht, in dem wir un-
serer Verantwortung gerecht werden, für die Beachtung der Grundbedürfnisse ei-
nes Kindes zu sorgen. Von dieser Fürsorge – wenn sie denn im hier dargestellten
Verständnis verwirklicht wird – emanzipiert sich unser Kind vor allem ab der Pu-
bertät mehr und mehr. Und ist eines Tages das Ziel all unserer Fürsorge erreicht
und unser Kind tritt uns als selbständige, eigenverantwortlich handelnde Persön-
lichkeit gegenüber, dann ist das bis zu diesem Zeitpunkt von uns und dem Kind so
erlebte „Gefälle“ zwischen uns ausgeglichen. Tochter oder Sohn werden uns in ihr
„eigenes Leben“ verlassen, aus dem wir uns strikt herauszuhalten haben. Helfen,
45
Beistehen, Raten werden wir uns sicher in differenzierter Weise gegenseitig, wenn
es denn von uns oder unseren Kindern gewünscht wird oder eine Notlage gebietet.
Die Eltern – Kind – Beziehung wird bei verständnisvoller, und das heißt die
Grundbedürfnisse beachtender Haltung eine neue und beide Teile beglückende
Dimension erreicht haben. Unschwer lässt sich erkennen, dass alle die hier bespro-
chenen Bedürfnisse von Kindern nicht nur innerhalb einer Familie beachtet werden
sollten, sondern in Kindergarten und Schule und darüber hinaus in unserem ganzen
Leben eine gleichrangige Bedeutung haben. Es sei in diesem Zusammenhang noch
einmal auf Pestalozzi verwiesen. Er war es, der dem Menschen die Aufgabe stellte,
„Werk seiner selbst“ zu werden. Wir können das, was Pestalozzi meinte, mit den von
Maslow genannten Bedürfnissen vergleichen und sagen: nach der Befriedigung der
physischen und Sicherheits- Bedürfnisse, sowie dem Wunsch nach Anerkennung und
Akzeptanz von den Eltern und in den gesellschaftlichen Gruppen, erfüllt sich ein
Menschenleben, wenn es dem Einzelnen gelingt, seinen eigenen unverwechselbaren
Weg zu finden. Es haben gewiss viele Mütter, Väter und Erzieherinnen und Erzieher
in der eigenen Kindheit manches von dem entbehren müssen, was hier alles genannt
worden ist. Und sie werden sagen: „trotzdem ist aus mir etwas geworden“. Damit
bringen sie zum Ausdruck, dass wir im Erwachsenenalter ein „Werk unser selbst“
wurden. Der Pädagoge Armin Krenz überträgt gleichsam das Pestalozziwort in unse-
re Zeit, wenn er schreibt (Freiburg 1999, S. 53):
„Ich bin der, der ich bin, und kann mich jederzeit ändern, wenn ich es will.“
Auf unserem Willen also kommt es an und auf die Kraft, gegenüber uns selbst unse-
ren Willen durchzusetzen, wenn wir etwas ändern möchten. Und auf diese Weise
überwanden wir auch die negativen Erfahrungen unserer Kindheit und Jugend. Ob
wir unseren Kindern diese Erfahrungen ersparen wollen und ihnen das geben, was
sie für ihr Gedeihen brauchen, das liegt in unserer Verantwortung. Dass damit nur
einige Grundbedingungen gegeben sein werden und im Übrigen noch viel in Erzie-
hung und Bildung zu tun bleibt, das zeigen uns die nächsten Kapitel, in denen einige
Themen aus dem pädagogischen Alltag in Familien besprochen werden. Stets aber
denken wir an das zurück, was Kinder brauchen, denn hier finden wir die meisten
Antworten zum Beispiel auf die Fragen nach dem „Wie“: was kann ich tun oder was
muss ich lassen, um zu erreichen, dass mein Kind selbständig wird und sein Leben
meistert.
46
2. Teil
Was Eltern und Berufspädagogen
bewegt
2.
Übereinstimmungen in der Erziehung
Einführung
Eigentlich versteht es sich von selbst, dass Eltern in der Erziehung und Bildung
ihrer Kinder wenigstens soweit übereinstimmend handeln, dass Kindern entwick-
lungsschädigende Diskrepanzerfahrungen erspart bleiben. Nicht immer aber be-
steht eine derartige Übereinstimmung. Dieser Mangel kann zu erheblichen Kon-
flikten führen, die den Familienfrieden empfindlich stören. Hier ein Beispiel:
In einer Familie gibt es erheblichen Ärger wegen des Fernsehens. Die Eltern
sind der Überzeugung, dass zu viel und unkontrollierter Fernsehkonsum ihrer
fünfjährigen Tochter schadet. Mutter und Vater sind sich einig und haben den
Fernseher aus dem Wohnzimmer verbannt. Aber Opa, der mit der Oma in der
unteren Wohnung des Zweifamilienhauses lebt, Rentner ist und viel Zeit vor
dem Fernseher verbringt, findet nichts dabei, wenn sein Enkelkind ihm beim
Fernsehen Gesellschaft leistet. Also geht die Tochter einfach die Treppe hinun-
ter und schaut beim Opa mit.
47
Die Familie als interaktives Geflecht
Halten wir uns die Heranbildung einer Familie kurz vor Augen:
Eine Frau und ein Mann lernen sich kennen und lieben; sie beschließen, zusam-
menzuziehen und beieinander zu bleiben. Häufig heiraten sie auch.
Bereits in dieser Zweierkonstellation - einer Dyade - gibt es eine Fülle wechselsei-
tiger Beziehungen, mit einer eigenen Dynamik. Ohne an dieser Stelle eine ausführ-
lichere Analyse vorzunehmen, sollen fünf Elemente dieser Beziehung erwähnt und
erläutert werden:
Die Erwartungen: Jeder der beiden Partner trägt an sich selbst und an den Ande-
ren Erwartungen heran. Hierzu ein Beispiel: Untersuchungen ergaben, dass junge
Frauen und Männer an ihre künftigen Partner sehr unterschiedliche Erwartungen
herantragen, was die Mithilfe im Haushalt betrifft. Während die befragten weibli-
chen Jugendlichen es als selbstverständlich betrachteten, dass ihr Mann später
seinen Anteil an der Hausarbeit übernimmt, sehen das 2/3 der befragten männli-
chen Jugendlichen ganz anders. Sie erwarten, dass sie keine Arbeitsleistungen im
Bereich des Haushalts zu erbringen haben, weil das eine Sache der Frau sein soll.
Leider wird über die gegenseitigen Erwartungen zu wenig miteinander gesprochen
oder während der Phase des Honey-Moon als nicht so wichtig angesehen. Es lässt
sich voraussagen, dass jeweils unterschiedliche Erwartungen zu erheblichen Kon-
flikten führen werden -„wenn ich das vorher gewusst hätte ...“-. Hier sind zu einem
hohen Anteil Ursachen zu suchen, die später zu Trennung und Scheidung führen.
Die Gefühle: Sie sind es, die über die „Einfärbung“ von Erwartungen und Wahr-
nehmungen entscheiden. Sie stehen in einem ständigen Austausch untereinander
und fragen sich gleichsam in jedem Menschen ständig:
Stimmen meine Gefühle wie Liebe oder Zuneigung noch mit dem überein, was ich
am Anderen wahrnehme, wie sie/er meine Erwartungen erfüllt? Können sie das
ausgleichen, was ich lieber anders hätte? Gefühle können sich allmählich verän-
dern. Günstigstenfalls wird aus Liebe verständnisvolle Zuneigung, in ungünstig
verlaufenden Beziehungen sprechen wir von Gewöhnung und/oder Gleichgültig-
keit. Gelegentlich kommen Eheleute so weit, dass sie der Partnerin/dem Partner
absichtlich „zu Leid“ leben.
48
Die Kommunikation: In der Begegnung mit anderen Menschen kommunizieren
wir mit ihnen. Wir sprechen miteinander, drücken unsere Erwartungen, Wahr-
nehmungen und Gefühle in Sprache, Mimik und Gestik aus. Die Kommunikations-
forschung hat uns hier ebenso verständliche wie überzeugende Informationen an-
zubieten (Watzlawick 1989 und Hofstätter Stuttgart 1966).
Noch einmal sei darauf hingewiesen: Das sind nicht alle Beziehungselemente! Zwi-
schen den Partnern kommen noch die Sexualität hinzu, solidarische Verhaltens-
weisen - einer unterstützt/hilft/verteidigt den anderen, gemeinsame Vorlieben
und Steckenpferde, wie Reisen, Musizieren, Tanzen, bestimmte musikalische Rich-
tungen... u. a. m.
Eine Partnerschaft ist also ein ebenso kompliziertes wie vielseitiges und empfindli-
ches Beziehungsgefüge dessen Charakteristika die Gegenseitigkeit und die Verän-
derbarkeit sind. Urie Bronfenbrenner fasst diese Dynamik von Dyaden in den Satz:
„Wenn sich bei einem Beteiligten an der Dyade etwas verändert / eine Entwick-
lungsveränderung eintritt, verändert sich auch beim anderen etwas“ (Stuttgart
1983, S. 74). In der soziologischen Literatur wird die Familie als soziales System
definiert. Die Wechselseitigkeit -Fachbegriff: Reziprozität- und gegenseitige Ab-
hängigkeit – Interdependenz - des zwischenmenschlichen aufeinander bezogenen
Handelns – Interaktion - sind Eigenschaften eines sozialen Systems.
Und nun kommt der Tag, da tritt in dieses Beziehungsgefüge eine weitere Person
ein: das erste Kind. Dieses Kind verwandelt die Zweierbeziehung in eine Dreierbe-
ziehung, die es von Anfang an sehr aktiv beeinflusst.
Für das Kind ist - nicht nur in unserem Kulturkreis - zunächst die Mutter die wich-
tigste Person. In den vorgeburtlichen Phasen und nach der Geburt immer stärker
werdend, beeinflussen die physischen und psychischen Kontakte zur Mutter die
Entwicklung des Kindes. Aber auch in der Mutter-Kind-Beziehung wirkt das Prin-
zip der Wechselseitigkeit und es ist nicht ungewöhnlich, dass ein Kind auf seine
Mutter einen größeren Einfluss ausübt, als das umgekehrt der Fall ist. Von Anfang
an braucht ein Kind, wie im Kapitel über die Grundbedürfnisse ausführlich be-
schrieben, Anerkennung, Sicherheit, Vertrauen, Förderung, Verlässlichkeit, Ver-
ständnis und Zuneigung um gedeihen zu können. Ängstlichkeit, Besorgtheit und
Verzärtelung sind ungeeignete Formen der Zuwendung.
49
Der Vater steht trotz dieser Beziehungspriorität zwischen Mutter und Kind kei-
neswegs draußen. Seine Rolle in dem „System“ dieser Familie verändert sich aber
ebenso, wie die der Mutter. Für das Kind wird er allmählich die gleiche Bedeutung
erhalten wie die Mutter und muss seinen Platz finden und ausfüllen.
Kommen ein oder mehrere Kinder hinzu, verändert sich jedes Mal das Bezie-
hungsgefüge erneut. Die Eltern stehen wegen ihres Entwicklungsvorsprungs -
gemessen an ihren Kindern - in besonderer Verantwortung, weil sie maßgeblich
die Beziehungen in allen ihren Elementen beeinflussen. Erwartungen, Wahrneh-
mungen und Gefühle werden von Kindern übernommen, verarbeitet und beant-
wortet. Veränderungen - vor allem mit negativem Charakter - werden empfindsam
registriert, ganz gleich, von welcher Person in diesem Gefüge -in diesem „System“-
die Veränderungen ausgehen. Dieses Wechselspiel gegenseitiger Beziehungen wird
in der folgenden Darstellung angedeutet:
Mutter Vater
Kind Kind
In dieser Darstellung wird von einer Familie mit vier Personen ausgegangen. Jede
hinzutretende Person, das können weitere Kinder sein aber auch andere Familien-
angehörige - Großeltern zum Beispiel - vervielfältigen die wechselseitigen Bezie-
hungen mit ihren Elementen Erwartungen, Wahrnehmungen, Gefühle, Kommuni-
kationen oder gemeinsame Aktivitäten.
Über das, was Eltern tun und lassen sollten, um die Entwicklung ihrer Kinder op-
timal zu unterstützen, gibt es, denken wir allein an die Grundbedürfnisse - in die-
sem Buch eine Fülle an Aussagen. Die Eltern selbst fragen in jeder Generation aufs
Neue danach, wie sie denn „richtig“ erziehen sollten. In Gesprächen mit Eltern
taucht immer wieder die zweifelnde und meist unnötige Frage auf: „Was hätte ich
anders machen sollen?“ Nicht selten lohnt sich dann ein Blick auf die eigene Erzie-
hungspraxis innerhalb einer Familie. Dann auch zeigt es sich, wie sehr es dem Fa-
milienfrieden gut tut, wenn Kinder ein übereinstimmendes Erzieherverhalten er-
50
leben, so wie es in dem Eingangsbeispiel geschildert wurde. Um nicht missver-
standen zu werden: übereinstimmend handeln bedeutet nicht, wie im nächsten
Abschnitt erläutert wird, dass sich jeder dem Kind gegenüber gleich verhält.
Knüpfen wir an das Beispiel vom Fernsehen an und schauen auf die beteiligten
erwachsenen Personen: Mutter und Vater, Oma und Opa gehören in die Familie.
Tragen wir sie in das Bild ein, dann werden wir für Oma und Opa einen Platz au-
ßerhalb der Kernfamilie - so nennen wir die vier Personen in dem Viereck - zeich-
nen müssen, zu denen gleichwohl Verbindungslinien - also wechselseitige Bezie-
hungen - einzutragen sind. Oma und Opa aber sind nicht nur „draußen“ - außer-
halb der Kernfamilie -, sie sind auch älter, sind anders eingerichtet, haben einen
anderen Tagesablauf, sie sprechen anders, bevorzugen andere Speisen und vieles
andere mehr. Die fünfjährige Tochter z. B. ist sehr gut in der Lage und alt und klug
genug, um diese Unterschiede zu den eigenen Eltern beziehungsweise zur Kernfa-
milie zu erkennen. Wenn ein Kind aber Unterschiede zwischen „signifikanten“ an-
deren Personen (damit sind alle die gemeint, die für ein Kind eine wichtige Bedeu-
tung haben, und das sind nicht allein Mutter und Vater) wahrnimmt, dann kann es
auch mit den unterschiedlichen Wert- und Normvorstellungen umgehen.
Probleme wird es erst dann geben, wenn die Bezugsgruppen Elternpaar und Groß-
elternpaar mit dem, was die jeweils anderen tun, nicht einverstanden sind. Und
noch schlimmer wird es, wenn sie ihre Meinungen in Gegenwart des Kindes laut
und deutlich, in Sprache, Mimik und Gestik, zum Ausdruck bringen.
Die eigenen Erinnerungen von jedem von uns bestätigen diese Erfahrung: Wenn
sich unsere Eltern negativ über die von uns geliebten Großeltern ausließen, dann
kamen wir in einen „Loyalitätskonflikt“. Wem sollten wir Recht geben, wem durf-
ten wir glauben? Noch schlimmer wird die Situation eines Kindes, wenn auch die
Großeltern ihrerseits über die Eltern oder über einen Elternteil „herziehen“. Der
Gipfel eines derartigen Loyalitätskonfliktes wird für ein Kind dann erreicht und es
in eine schier ausweglose Lage gebracht, wenn es von den beteiligten Eltern weg-
geschickt wird mit der Aufforderung: „Geh doch zum Opa! Hast ihn ja eh’ lieber...“.
Konflikte dieser Art aber, die das seelische Gleichgewicht eines Kindes empfindlich
durcheinander bringen und die Beziehungen zu den anderen Bezugspersonen ne-
gativ einfärben, führen unweigerlich zu, zum Teil erheblichen, Erziehungsschwie-
rigkeiten. Das, was in diesem Beispiel über die Bedeutung übereinstimmenden
bzw. gemeinsam verabredeten Verhaltens einem Kind gegenüber gesagt wird, gilt
selbstverständlich genauso in Bezug auf die anderen für ein Kind wichtigen Be-
zugspersonen wie z. B. pädagogische Fachkräfte in Kindertagesstätte und Schule.
Die Lösung beziehungsweise entsprechende Vorbeugung ist eigentlich denkbar
einfach:
51
In dem Ausmaß, in dem die beteiligten Erwachsenen ihre Verschiedenheiten
akzeptieren - zumindest aber tolerieren - , können Kinder mit den aus diesen
Verschiedenheiten herrührenden unterschiedlichen Erziehungsverhalten wie z.
B. Geboten oder Verboten leben.
Akzeptanz und Toleranz bedeuten also keineswegs in allen Fällen zugleich Über-
einstimmung im Handeln! Je unterschiedlicher die Lebenserfahrungen und An-
sichten der Menschen sind, umso geringer ist die Aussicht, in allen Punkten der
Erziehung und Bildung auf einen Nenner zu kommen. Das ist auch gar nicht not-
wendig. Wenn nur, so ließe sich allgemein sagen, die gegenseitigen Beziehungen
„stimmen“. In derartigen Fällen bezieht sich die Übereinstimmung nicht auf ein
bestimmtes erzieherisches Handeln und die dahinter stehenden Überzeugungen,
sondern darin, dass die Erziehungsbeteiligten sich darin einig sind, sich gegensei-
tig zu tolerieren. Sind die Beziehungen aber gestört und stimmen wir nicht in un-
serem Toleranzverhalten überein, dann müssen wir damit rechnen, dass die Stö-
rungen über das Kind ausgetragen werden und es Schaden nimmt.
Ganz besonders vertraut ist uns diese Erkenntnis aus Trennungssituationen. Und
damit sind wir erneut bei der Kernfamilie. Alles was für die Verbindung zwischen
Eltern und Großeltern gilt, trifft natürlich auch für die Eltern selbst zu. Als je bes-
ser ein Kind die Beziehungen zwischen seinen Eltern erlebt, umso eher kann es
Unterschiede in den jeweiligen Erziehungsverhalten verkraften.
Verändern sich aber die guten Beziehungen zwischen Mutter und Vater zum Nega-
tiven hin, sei es, dass sie sich nicht achten, andere Frauen/Männer attraktiver fin-
den oder sich einfach nicht mehr riechen können, dann wächst die Gefahr, dass
derartige Beziehungsstörungen auf dem Rücken der Kinder ausgetragen werden.
„Geh zu deinem Vater... zu Deiner Mutter“ heißt es dann und nicht mehr: „Geh zu
Papa ... Mama“. Ist dann eines Tages tatsächlich die Trennung/Scheidung eine
beschlossene Sache, ist in Bezug auf eine positive Entwicklung von Kindern schon
viel Porzellan zerschlagen worden.
Wir Eltern sind in derartigen Phasen so mit uns selbst und unserem Leid beschäf-
tigt, dass wir übersehen können, dass sich das Selbstwertgefühl eines Kindes oder
Jugendlichen aus der Liebe, der Akzeptanz und der Zuverlässigkeit der Beziehun-
gen, im Grunde sogar aus dem ganzen Beziehungsgeflecht speist. Gehen die Bezie-
hungen zu Bruch, leidet das Selbstbild eines jungen Menschen. Wir können es
drehen und wenden wie wir wollen: Ein Kind fühlt sich schuldig und ist beschä-
digt, wenn Eltern sich trennen oder wenn es in einer Familie zu Brüchen z. B. zwi-
schen nahen Verwandten kommt.
Nun liegen zwischen der zeitweiligen völligen Übereinstimmung in Fragen der Er-
ziehung und Bildung und Gegensätzen, die unauflösbar sind, weil die Beziehungen
nicht mehr stimmen, eine ganze Palette von „Hü- und Hott- Situationen“, die un-
seren Familienalltag bestimmen. Wo die Grenze des Erträglichen für ein Kind
liegt, kann nur vom Kind selbst beantwortet werden.
52
Es erscheint als unmöglich, eine für alle Kinder gleichermaßen gültige Toleranz-
grenze zu bestimmen, ab der sich unterschiedliche Erziehungsverhalten von Eltern
oder Beziehungsprobleme zwischen ihnen schädlich auf die Entwicklung auswir-
ken.
Wir wissen aber, dass gute Beziehungen zwischen Eltern die gute Chance bergen,
dass unterschiedliche Auffassungen von allen Beteiligten gut verkraftet werden.
Wann immer wir bereit sind, den anderen Elternteil, eine Erzieherin oder Lehrerin
in ihren Eigenartigkeiten und Einzigartigkeiten anzunehmen und zu akzeptieren,
fällt es auch einem Kind nicht schwer, mit unterschiedlichen Reaktionen zurecht-
zukommen.
Kinder bauen ihre Erfahrungen gern in ihr Verhaltensrepertoire ein. Sie gehen
vielleicht zuerst zu der/dem, wo sie damit rechnen können, ihren Wunsch erfüllt
zu bekommen. Das ist kein Beinbruch, vorausgesetzt, dass sich niemand deswegen
gegen den anderen ausgespielt fühlt. Wenn es uns aber zu viel wird oder wir ver-
unsichert sind, weil derartige Diskrepanzen zu häufig auftreten und wir den Ein-
druck haben, dass unser Kind Schaden nimmt, und wir z. B. sagen müssen: „Du
verwöhnst das Kind. Wenn Du so weitermachst, lässt es sich von mir nichts mehr
sagen ...“, dann ist es Zeit, sich zusammenzusetzen und miteinander darüber zu
sprechen. Wir müssen deswegen keine allwöchentlichen Familienkonferenzen ein-
richten. Dennoch sind die entsprechenden Empfehlungen von Thomas Gordon in
seinem Buch „Familienkonferenz“ - noch immer gültig. Es ist immer besser, mitei-
nander zu reden, als es darauf ankommen zu lassen, uns wegen unterschiedlicher
Auffassungen und Entscheidungen in die zu Wolle kriegen. Die Bereitschaft zum
Gespräch, zur Offenheit und zum einander zuhören ist Ausdruck unserer Bezie-
hungen. In einem solchen gemeinsamen Gespräch können wir unsere Kinder
selbst fragen, was sie an unserem Erziehungsverhalten stört. Wir sollten keine
Angst haben, dass Familienkonferenzen zu diesem Thema unsere Autorität beein-
trächtigen. Autorität begründet sich unter anderem mit Offenheit und mit unserer
Fähigkeit und Bereitschaft, miteinander zu sprechen und das vorzuleben, was wir
von unserem Kind und seinen „signifikanten Anderen“, zu denen nicht zuletzt die
pädagogischen Fachkräfte in Kindertagesstätten und Schulen gehören, erwarten.
Sobald ein Kind einen Teil seines Tages außerhalb der Kernfamilie verbringt, sei es
in einer pädagogischen Einrichtung wie z. B. Kinderhort oder Schule oder aber in
einer Tagespflege, erziehen wir Eltern nicht mehr allein. Es sind jeweils zwei bis
drei Träger von Erziehung und Bildung, die sich, ein jeder auf seine Weise und in
eigener Verantwortung, um das gleiche Kind bemühen. Nehmen wir noch hinzu,
dass in der Familie, in der ein Kind heranwächst, mehrere Erwachsene - zum
Beispiel Mutter und Vater, vielleicht noch die Großeltern, wie oben beschrieben -
auf das Kind einwirken, dann können wir uns vorstellen, wie wichtig es ist, dass
alle an einem Strick ziehen und übereinstimmend bzw. aufeinander abgestimmt
und einander ergänzend handeln.
53
Der guten Kooperation aller an der Erziehung und Bildung eines Kindes
Beteiligten, kommt also ein hoher Stellenwert zu!
Hier ist vor allem an die Kindergärten und Schulen zu denken, die durch unsere
Kinder mit der Familie verbunden sind. Nicht selten kann es zu Unstimmigkeiten
zwischen den Eltern einerseits und den pädagogischen Fachkräften in
Kindergarten und Schule andererseits kommen. Zur Erziehung gehören nicht nur
bestimmte Ziele, die wir vor Augen haben, oder Erziehungsmittel, wie zum
Beispiel Ermutigung/Lob oder Drohung/Strafe, sondern auch bestimmte Normen
und Wertvorstellungen. Da kann es Eltern geben, denen Ordnung und Genauigkeit
- zum Beispiel bei der Heftführung oder den Hausaufgaben - nicht so wichtig sind
wie der Lehrerin/dem Lehrer oder umgekehrt. Dann wird es unverzichtbar sein,
sich zu verständigen. Halten wir uns die Bedeutung dieser Verflechtung der
Lebensbereiche Familie einerseits und Schule beziehungsweise Kindergarten
andererseits mit Hilfe der folgenden kurz skizzierten Erkenntnisse vor Augen:
1. Erkenntnis:
Alle menschliche Entwicklung vollzieht sich in Interaktion mit verschiedenen
Umwelten.
Urie Bronfenbrenner (1981, S. 199 ff) sieht die Entwicklung des einzelnen Men-
schen im Kontext seiner sozialen Umwelten und bezieht die komplexen Beziehun-
gen verschiedener sozialer Umwelten beziehungsweise Lebensbereiche, in denen
eine Person gleichzeitig heranwächst, in seine Entwicklungspsychologie mit ein.
Stellen wir uns diese Beziehungen zwischen den verschiedenen Lebensbereichen
mit Hilfe eines Modells vor Augen:
Mesosystem
Exosystem
Makrosystem
Die durch ein Kind bestehende Verbindung von Lebensbereichen, wie die Familie
und z. B. die Schule, bezeichnet Bronfenbrenner als „Mesosystem“. Ich führte be-
reits aus, dass der Charakter der Beziehungen zwischen den verschiedenen Le-
bensbereichen die Situation eines Kindes beeinflusst. Haben ErzieherInnen/ Leh-
54
rerinnen und Lehrer eine gute Beziehung zum Elternhaus -und umgekehrt-, wirkt
sich das auf die seelische Befindlichkeit des Kindes aus.
Die von außen auf das Mesosystem einwirkenden Systeme - z. B. Richtlinien, Ver-
ordnungen aber auch alle anderen von den einzelnen Lebensbereichen nicht beein-
flussbaren Faktoren, die aber auf sie einwirken, wie z. B. Massenmedien, Verkehr
u. a. - bezeichnet Bronfenbrenner als „Exosysteme“.
Das kulturelle Gesamt einer Gesellschaft bis hin zu den ökonomischen und politi-
schen Verhältnissen in der Welt bezeichnet er als „Makrosysteme“.
Eltern richten ihr Augenmerk vor allem auf die Phänomene innerhalb des Meso-
sytems, also zum Beispiel der durch ihr Kind konstituierten Verbindung mit der
Schule.
2. Erkenntnis:
Alle Beteiligten stimmen sich ab.
Man könnte statt „Abstimmung“ auch Kooperation sagen. Zu einem Team oder
einer kooperierenden Gruppe gehören alle an der Erziehung und Bildung eines
Kindes Beteiligten. Wir wissen genau, dass das so ist. Nicht nur in der Phase des
Handelns sollten wir übereinstimmend vorgehen, sondern bereits in der Analyse
des Einzelfalls. Wenn zum Beispiel Eltern wissen, dass ihr Kind in bestimmten Si-
tuationen „zumacht“ und für sie vorübergehend nicht mehr erreichbar ist, wäre es
hilfreich - kooperationsbereite Pädagogen vorausgesetzt -, sich mit der Erziehe-
rin/der Lehrerin/dem Lehrer darüber auszutauschen, wenn mit ähnlichen Reakti-
onen in Kindergarten oder Schule gerechnet werden muss.
Es könnten sich, um bei diesem Beispiel zu bleiben, alle in einer Familie, in einem
Team oder Eltern mit den anderen Erziehern über ihre Reaktionen auf das Verhal-
ten des Kindes verständigen und dann gemeinsam nach Strategien Ausschau hal-
ten, einmal, wie die Ursachen vermieden werden könnten, zum anderen, wie dem
Kind aus seiner Verweigerungshaltung herausgeholfen werden kann. Alle die in
einem Boot sitzen, müssen auch in die gleiche Richtung paddeln und sich gleich-
ermaßen anstrengen. Wie bei Mannschaftssportarten gehören auch bei unter-
schiedlichen Erziehungsträgern kooperative Arbeitsweisen zur Grundlage jedes
Erfolges. Sie sind sozusagen die Mindestleistungen, die erbracht werden müssen.
Ist hier bereits Sand im Getriebe, müssen z. B. ein Kindergartenteam und die El-
tern gemeinsam erst einmal diesen Sand entfernen, wenn sie Problemsituationen
mit Aussicht auf Erfolg bearbeiten wollen.
3. Erkenntnis:
Je weniger die an der Erziehung und Bildung eines Kindes Beteiligten überein-
stimmend handeln, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass das Kind in
seiner Entwicklung beeinträchtigt wird.
Ausgehend von dieser Erfahrung, ist den Eltern eine möglichst enge Zusammenar-
beit mit den Berufserziehern selbstverständlich. Wenn wir Eltern oder Kindergar-
ten und Schule Erziehungsprobleme haben und/oder wir uns einer Kooperation
55
verschließen, ist im Interesse eines Kindes eine Änderung unserer Zurückhaltung
dringend geboten. Alles muss getan werden, was zu gegenseitigem Vertrauen und
Verständnis führt und alles ist zu vermeiden, was Vertrauen und Verständnis be-
einträchtigt. Dann lassen sich Schuldzuweisungen vermeiden, Vorurteile und
Misstrauen verringern. Zum Schluss dieses Abschnitts fassen wir noch einmal zu-
sammen:
2.
Drohen, strafen, Grenzen setzen
Einführung
56
Was sind Strafen?
Ganz allgemein und sehr weit gefasst ließe sich sagen, dass wir jedes zwischen-
menschliche Verhalten, das wir als Strafe auffassen (wir fühlen uns bestraft oder wir
wollen bestrafen) damit meinen. In unserem Rechtssystem zum Beispiel füllen
Straftheorien, Strafpraxis oder Gesetze, Urteile und Kommentare zu Strafproblem
ganze Bibliotheken. Wir sprechen in unserem Zusammenhang aber nur von der
„pädagogischen Strafe“ also von einer Handlung im Zusammenhang mit einer er-
zieherischen Absicht.
Erzieherinnen und Eltern formulierten in einem gemeinsamen Gespräch:
Diese Beispiele zeigen uns, was Strafe nicht ist: Sie ist keine gleichsam natürliche
Konsequenz, die sich aus einem Verhalten ergibt. Es wäre für uns zu schön, weil so
bequem, hätten Strafen den objektiven Charakter von Naturgesetzen: wenn die
Puppe auf den Boden fällt, geht sie entzwei. Dieser Vorgang besitzt auch dann kei-
nen Strafcharakter, wenn das Kind zuvor von den Eltern auf die „logische Folge“
seiner Handlung aufmerksam gemacht wird. Das Kind wäre zwar betrübt, weil die
Puppe zerbrochen ist, kann sich aber nicht bestraft fühlen, weil die Eltern diesen
Vorgang nicht herbeigeführt haben. Erst wenn die Eltern anschließend schimpfen:
„Du bist doch ein ungezogenes Kind... wir haben es dir ja gleich gesagt ..., das hast
du nun davon ..., jetzt setzt es was ...“ beginnt die Bestrafung. Wir sehen an diesem
Beispiel: Zur Strafe gehört die Strafabsicht des Erziehenden.
Das reicht aber nicht aus, da sich ein Kind durchaus nicht immer bestraft fühlen
muss, wenn wir strafen. Die Wirksamkeit einer Strafe hängt von den Beziehungen
ab, die zwischen Kind und Erwachsenem bestehen. Der Charakter der Beziehungen
zwischen beiden kann dazu führen, dass sich ein Kind weder durch Strafen noch
durch Belohnungen angesprochen fühlt. Mit einem mangelhaften oder fehlenden
Echo bei einem Kind oder Jugendlichen müssen wir dann rechnen, wenn die gegen-
seitigen Beziehungen auf Gleichgültigkeit beruhen.
Eine negative Reaktion (ein Kind setzt zur Gegenwehr an, wird seinerseits traurig,
zornig, aggressiv) dagegen zeigt uns, dass es emotional betroffen ist. Gelegentlich
erwächst aus diesen gefühlsmäßig aufgeladenen Situationen die Chance zu Einsicht,
Verständigung und Versöhnung. Besser wäre es freilich, es käme gar nicht erst zu
diesen Straffolgen.
Schwierig wird es auch, wenn ein Kind die Strafwürdigkeit seines Verhaltens gar
nicht erkennen kann. Unverständnis aber führt zu Unsicherheit und Angst und
57
macht alles nur noch schlimmer, weil das Kind gleichsam „nun erst recht“ sein Ver-
halten fortsetzt. Hierzu kann es kommen, wenn zum Beispiel die Vorstellungen was
gut ist und richtig in einer Familie auf der einen Seite, im Kindergarten oder Schule
auf der anderen Seite weit auseinander liegen.
In Bernds Familie ist es zum Beispiel üblich, dass die Eltern grob und unhöf-
lich miteinander und mit Bernd und seinen Geschwistern umgehen. Bernd
übernimmt die für ihn vorbildlichen Verhaltensweisen und trägt sie in die
Kindergartengruppe und fällt dort damit unangenehm auf. Vor allem aber
gerät er mit seinen (beziehungsweise den elterlichen Verhaltensweisen) in
deutlichen Widerspruch zu den Erziehungsvorstellungen und sozialen Verhal-
tensnormen der Erzieherinnen. Wenn diese sich nun gezwungen sehen, ande-
re Kinder vor Bernd in Schutz zu nehmen, ja ihn sogar zu bestrafen, könnte
der Junge die Gründe gar nicht begreifen. Er würde sich ungerecht behandelt
fühlen und noch aggressiver werden. Mit Hilfe von Strafen lassen sich zwar
in derartigen Fällen vorübergehend insofern Erfolge erzielen, als Kinder er-
fahren, dass sie sich in einem anderen sozialen Feld anders verhalten müssen.
In einigen Fällen ist sogar eine Anpassung nicht jedoch eine tiefreichende
Verhaltensänderung zu erwarten. Noch am gleichen Tage wird die Erzieherin
bei Bernd erneut eingreifen müssen und so wird es jeden Tag - mal mehr mal
weniger für alle Beteiligten erträglich - zugehen.
Dieses Beispiel lässt sich auf viele Unterschiede zwischen den Lebensbereichen El-
ternhaus, Kindergarten und Schule übertragen und betont noch einmal, wie wichtig
eine gute Zusammenarbeit in Fragen der Erziehung und Bildung unserer Kinder ist.
Straffolgen
Mit einem Beispiel soll zunächst auf mögliche Folgen der Strafpraxis aufmerksam
gemacht werden.
58
Michael war daraufhin still und fügte sich.
Michael zog sich zurück, wenn immer die Erzieherin in seiner Nähe war; er
tat zwar, was sie gebot; aber sie konnte nicht mehr mit ihm sprechen.
Es war in einem späteren Gespräch mit der Erzieherin nicht mehr aufzuklären, ob
die Erzieherin ihn unsanft anfuhr beziehungsweise bestrafte, weil sie zeigen wollte,
dass sie nichts durchgehen lassen wird, oder ob sie an diesem Tage mit dem linken
Fuß zuerst aufgestanden war. Für den Effekt ist das auch von untergeordneter Be-
deutung: Michael blieb ihr gegenüber reserviert. Er war weiterhin ein fröhliches und
dynamisches Kind. Nur zwischen den beiden war das Vertrauensverhältnis dahin.
Die Beziehungen blieben gestört.
Dieses Beispiel aus einer Horteinrichtung bestätigt uns, was wir, bei entsprechender
Empfindsamkeit der Beteiligten im Leben immer wieder erfahren: Ein böses Wort,
eine (sogar missverstandene) Äußerung oder Geste können genügen, zwischen-
menschliche Beziehungen wie Vertrauen, Glaubwürdigkeit, Zuverlässigkeit oder gar
Liebe zu beeinträchtigen. Es wäre so schön, wenn wir die Beziehungen innerhalb
einer Familie nicht mit derartigen Störungsursachen belasten würden!
Schauen wir weiter auf Straffolgen. Hier sind die Ergebnisse einer Befragung von
Erzieherinnen und Erziehern13 und die von Eltern interessant. Die Frage lautete:
„Was haben bei Ihnen nach Ihrer Erfahrung Strafen durch Eltern bewirkt?“ Als
Antworten waren möglich:
1. Ich habe mein Verhalten in der von den Eltern gewünschten Weise geändert.
2. Ich habe mein Verhalten nicht geändert bzw. nun
3. genau das Gegenteil von dem getan, was die Eltern bei mir durch die Strafe
erreichen wollten.
Nur zu einem Drittel bewirkten Strafen eine Verhaltensänderung in dem von den
strafenden Eltern gewünschtem Sinne. Zu zwei Dritteln erfüllten die Strafen ihren
Zweck nicht. Ein Teil von diesen gab an, nun erst recht das Gegenteil von dem getan
zu haben, was die Eltern wollten.
Strafen, also Reaktionen von Erzieherinnen und Erziehern, Eltern oder Lehrerinnen
und Lehrer und Lehrern, die als Strafe beabsichtigt waren und auch vom
betreffenden Kind so erlebt wurden, erreichen nur selten den gewünschten Effekt.
Vielleicht entlasten sie für einen Moment die Situation. Doch eine andauernde
Verhaltensänderung, die obendrein noch auf einer Einsicht des Kindes beruht: das
war jetzt falsch, das darf ich so nicht machen, ist kaum zu erwarten. Schauen wir aber
noch ein bisschen genauer hin, was wir mit Schimpfen und Strafen anrichten
können:
59
Heinz war im zweiten Schuljahr, als er im Rechenunterricht aufgerufen wurde.
Weil er nicht aufgepasst hatte, ging der Lehrer zu ihm und tat, was er
üblicherweise zu tun pflegte: Er gab Heinz eine schallende Ohrfeige.
Daheim, wo Schläge nicht üblich waren, verschwieg Heinz den Vorfall. Er wusste
aus Erfahrung, denn die ältere Schwester ging bereits ins vierte Schuljahr, dass
die Eltern nichts unternommen hätten. „Pass halt das nächste Mal auf“ wäre das
Einzige gewesen, was die Mutter gesagt hätte. Am nächsten Morgen klagte der
Junge über Bauchschmerzen. Die besorgte Mutter behielt ihn daheim. Der Arzt
konnte aber keine Erkrankung feststellen.
Heinz ging am übernächsten Tag, wenn auch angstvoll, in die Schule. Im
Rechenunterricht verhielt er sich mucksmäuschenstill und zeigte sich als „braver“
Junge. Nur mit dem Rechnen wollte es nicht mehr klappen. Es war, als hätte der
bis dahin schulisch unauffällige Junge eine Blockade im Kopf.
Einige Monate nach diesem Ereignis wurde der Mathematiklehrer versetzt.
Heinz hat ihn nie wieder gesehen.
Der Junge war zwar froh darüber, dass er diesen „strengen“ Lehrer los war.
Doch mit dem Rechnen wollte es nie mehr recht klappen und das Kind hinkte
während seiner ganzen Schulzeit in diesem Fach den anderen hinterher. Die
Eltern erklärten die „Rechenschwäche“ mit Vererbung: „Ich war im Rechnen
auch keine gute Schülerin“, sagte die Mutter.
Eine einzige Strafe kann ein Kind schocken und für eine lange Zeit verängstigen und
verunsichern. Angst und Unsicherheit aber sind keine guten Begleiter auf dem Weg
in eine selbstbewusste Existenz. Es gibt sehr viele Frauen und Männer, die - noch bis
ins hohe Alter hinein - voller Ängste und Unsicherheiten sind, die auf Bestrafungen
in der Kindheit zurückzuführen sind und die sie gelegentlich völlig lähmen.
Nach dem Aufstehen zanken sich die vierjährige Anita und der achtjährige
Klaus. Die sehr geduldigen Eltern, die sich den Sonntagmorgen nicht verderben
lassen wollen, halten sich heraus. Der Streit versickert. Übellaunig kommt A-
nita, die vermutlich bei der geschwisterlichen Auseinandersetzung den Kürzeren
gezogen hat, an den Frühstückstisch. Dort stellt sie ihren Trinkbecher mit der
Behauptung „der Kakao ist kalt“ ruckartig beiseite und bekleckert das frische
Tischtuch.
60
muss so beantwortet werden, wie die Kinder es erwarten: Zeige mir meine Grenzen!
Kinder brauchen also keine Strafen, sondern Eltern und Erzieher, die ihnen zeigen,
wo die Grenzen sind, die man beachten muss, wenn man in dieser unserer Gesell-
schaft und Kultur in sozial anerkannter Weise leben will.
Noch einmal sei auf die Einleitung zum Abschnitt „Führung“ im ersten Kapitel über
die „Bedürfnisse“ von Kindern verwiesen: Führung, Grenzen setzen, Orientierungs-
hilfen geben ... alles das sind Elemente von „Erziehung“ und elementare Notwen-
digkeiten, um unseren Heranwachsenden zu einem Gewissen zu verhelfen, das
ihnen sagen kann, was gut und richtig ist14. Jede Mutter, jeder Vater oder jede/r Be-
rufserzieher/in wird aber streng darauf achten, dass dem Kind in diesem Prozess
kein Leid angetan wird. Das heißt, dass wir auf körperliche Züchtigung ebenso ver-
zichten, denn „Die gesunde Ohrfeige macht krank“15, wie auf die Würde des Kindes
verletzende Äußerungen. Gerade in kritischen Situationen wird es sich zeigen, ob
wir die Ruhe und Souveränität besitzen, die Geduld und das Verständnis, die Festig-
keit unserer Überzeugung über das, was unserem Kind nützt oder schadet. Erzie-
hung, das heißt zum Beispiel gebieten, verbieten, meinem Kind ermöglichen, aus
den Folgen seines Verhaltens zu lernen, unter Umständen belohnen und ermutigen.
Außerdem muss ich fordern oder verzichten, beharrlich bleiben oder nachgeben.
Nicht allen Kindern ist das freilich nicht immer gleich selbstverständlich einsichtig.
Auf eine recht allgemeine Formel gebracht ließe sich sagen: Während sie sich stän-
dig an uns reiben, reifen sie heran. Sozialisation, also das Hineinwachsen in unsere
Kultur und Gesellschaft lässt, sich durchaus auch unter diesem Gesichtspunkt be-
trachten. Im kindlichen Trotz wird das besonders deutlich.
Ein Vater erzählte einmal, dass er seinen wenige Monate alten Sohn baden
und bei dieser Verrichtung die Mutter vertreten sollte. Der Vater, der immer
zugesehen hatte, wenn die Mutter den Jungen badete, abtrocknete und
frisch windelte, übernahm diese Aufgabe gern. Doch während der ganzen
Badeprozedur schrie das Kind wie am Spieß. Der Vater wurde so nervös
und innerlich aggressiv, dass er froh war, als der Junge endlich wohl ver-
wahrt in seinem Bettchen lag und Ruhe gab. Dem Vater war klar, dass in
den früheren Entwicklungsphasen das Bewusstsein des Kindes an dem Vor-
gang noch nicht beteiligt war. Dennoch erlebte der Vater dies ihm zunächst
unverständliche Verhalten des Kindes als ein gegen ihn gerichteter Protest,
als eine gleichsam kritische Äußerung. Das hatte dann auch entsprechende
Folgen: er fasste den Sohn anders, vielleicht unmerklich zaghafter an, als er
ihn in die Wanne hielt. Das Kind beruhigte sich dann auch.
Dem eigenen Willen und dem Reibungsbedürfnis unserer Kinder lässt sich also in
einer für seine Entwicklung positive Weise begegnen. Wenn wir da sehr weit neben
den Bedürfnissen unserer Kinder agieren, dann kann es erheblichen Schaden da-
vontragen, wie das folgende Schicksal zeigt:
61
Die Mutter verließ Herrn Zet bald nach der Geburt des zweiten gemeinsamen
Kindes. Die dreijährige Tochter kam zur Großeltern, der anderthalbjährige Pe-
ter blieb beim Vater und dessen Freundin und spätere Frau. Der Vater wollte
von Anfang an keine Fehlentwicklung riskieren, nichts durchgehen lassen und
den Jungen zu einem ordentlichen Menschen erziehen. Doch auf die natürli-
chen eigenwilligen Verhaltensweisen des Kindes und dessen Widerstände, auf
die Wünsche nach „Klärenden Antworten“ beantwortete der Vater mit großer
Härte. In hilfloser Wut schlug er auf den Jungen ein, wenn er sich provoziert
fühlte. Einmal, so ist überliefert, hielt er den damals Vierjährigen sogar zu ei-
nem Fenster der in der zweiten Etage eines Mietshauses liegenden Wohnung
hinaus mit der Drohung: Wenn du jetzt nicht folgst, lasse ich dich fallen!“
Selbst wenn der Vater hinterher seine „unbeherrschten“ Reaktionen bedauerte:
an den Folgen änderte das nichts. Denn Peter antwortete auf die brutalen Er-
ziehungsmethoden seines Vaters mit Zerstörungen. Er bohrte Löcher in die
Wände seines Kinderzimmers, zerkratzte die Türen und - sich selbst. Das Mar-
tyrium beider (auch der Vater war am Ende mit seinen Nerven) wurde öffent-
lich, als der Junge eingeschult werden sollte. Da zeigte es sich, dass das Kind in
seiner Entwicklung erheblich zurückgeblieben war. In der Vorschulförderein-
richtung war Peter, der sich nichts zutraute und allen Anforderungen verwei-
gerte auch nicht zu helfen.
Der Vater brachte seinen ältesten Sohn, inzwischen waren drei weitere gebo-
ren worden, in einer stationären Jugendhilfeeinrichtung unter. Wenn auch das
Kind dort allmählich lernte, dass er etwas leisten kann, so vermochte sich ein
gesundes Selbstwertgefühl in der Kindheit und Jugend nur schwer herauszu-
bilden.
Das ist ja schrecklich und so darf Erziehung auch nicht aussehen, werden Sie, liebe
Eltern zu Recht sagen. Gibt es aber einen gangbaren Weg zwischen Drohungen
und Strafen und gar nichts tun? Gewiss, und wir kennen diese Wege gut, weil wir
sie selbst erlebten. Mein erstes Beispiel kommt aus dem schulischen Bereich. Ein
Kind, das eine schlechte Leistungsbeurteilung erhält, fühlt sich so, als wenn es be-
straft worden wäre. Es kann aber bereits in der ersten Klasse sehr gut verstehen,
dass es für eine mäßige Leistung nicht gelobt werden kann. Vor allem dann geht
das nicht, wenn wir Erwachsenen genau wissen, dass hier nicht Unvermögen son-
dern Faulheit im Spiele war. Das Kind weiß das auch. Darum braucht ein Schul-
kind nicht zur schlechten Bewertung obendrein noch abfällige Bemerkungen des
Lehrers oder gar eine Strafe durch die Eltern.
Gerade dieses Beispiel, von dem wir im Handumdrehen viele Variationen aus allen
Lebensphasen zusammentragen könnten, weist auf eine Tatsache, deren Wirkung
Eltern und Berufserzieher unterschätzen: Gemeint sind die Folgen, die ein
62
Fehlverhalten für ein Kind selbst - und ganz ohne unsere zusätzlichen Kommentare -
hat.
Kein Kind kommt auf die Welt mit der Absicht, seine Eltern „bis aufs Blut“ zu
peinigen. Im Kapitel über Trotz und Aggressivität wird erörtert, mit welchem
Erkundungsverhalten bei Kindern gerechnet werden muss. Außerdem gibt es
zahlreiche Normvorstellungen von Eltern (das darfst Du - das darfst Du nicht), die
ein Kind erst lernen muss und nicht automatisch und nur darum, weil wir es lieb
haben oder so gut mit ihm meinen, übernimmt. Mit Geduld, Ruhe und Festigkeit
erbitten oder fordern wir, dass es etwas tut oder lässt. Dabei lassen wir uns auf
keinen Machtkampf ein, sondern verhalten uns entsprechend, wie die Beispiele bei
kindlichem Trotz oder Geschwisterstreit zeigen. Gründe, die ein Kind zu
Verhaltensweisen führt, die Drohungen oder Strafen heraufbeschwören können,
sind zu bedenken. Ein Beispiel: Wer auf Fehlverhaltensweisen seines Kindes mit
Drohung und Strafe reagiert, verstärkt dessen Verhalten, wenn das Kind eben dies
beabsichtigt.
Reagieren Eltern und Erzieher aber so, dass das Kind die Folgen seines Verhaltens
selbst zu spüren bekommt - und keine besondere soziale Beachtung erfährt, - dann
wird es von selbst sein Fehlverhalten unterlassen. Das Buch der Psychologen Rudolf
Dreikurs und Loren Frey ist voll von überzeugenden Beispielen. „Die logische Folge
ist logisch mit dem Fehlverhalten verknüpft, die Strafe ist es selten“ überschreiben
sie die folgende Geschichte (Freiburg 11/1994, S. 58):
„Es gab Schwierigkeiten mit einer dreizehnjährigen Tochter, weil sie die Kleider
nicht aufhängen wollte. Sie ließ sie nicht nur liegen, wo sie sich gerade
ausgezogen hatte, sondern schien auch noch Spaß daran zu haben, sie zu
zerknittern. Früher war sie verhältnismäßig gut mit ihren Sachen umgegangen,
und die Mutter verstand die Veränderung nicht. Nachdem sie es mit
Überredung, Drohung und Schimpfen versucht hatte, sagte sie ihrer Tochter
schließlich, sie könne so weitermachen und ihre Sachen hinwerfen, fügte aber
hinzu, dass sie selbst sie dann nicht aufheben oder bügeln würde. Die Tochter
beklagte sich, dass sie nicht genug anzuziehen hätte, aber die Mutter weigerte
sich, das zu ändern, bis das Mädchen sich um das, was es an Kleidung besaß,
besser kümmerte. Es trug ein paarmal schmutzige und zerknitterte Kleider in der
Schule, bis es begann, sorgfältiger zu werden. Es dauerte nicht lange, bis es seine
Kleider aufhängte.“
Natürlich änderte sich das Verhalten des Kindes nicht von heute auf morgen. Als es
aber merkte, dass es der Mutter ernst war und sie selbst die Verantwortung für den
Zustand ihrer Kleider mit allen Konsequenzen übertragen bekommen hatte, änderte
es sich allmählich.
Mit Hinweisen auf die Strategie „Ermutigung“ sei dieses Kapitel abgeschlossen.
63
Kinder ermutigen
Wenn ein Kind im Alter von vier oder fünf Jahren nicht mit seinem Schuhbändel
zurechtkommt, lernt es nicht, selbständig zu werden, wenn die Mama sich hinun-
ter beugt und ihm den Schuh zumacht, denn das Kind fühlt sich schnell unzuläng-
lich und entmutigt. Stattdessen sprechen wir dem Kind Mut zu: lass dir nur Zeit,
du wirst es schon schaffen. Dieses Prinzip der Ermutigung und unsere Bemühun-
gen, alles zu vermeiden, was ein Kind mutlos machen könnte, ist eine der Grund-
haltungen, die uns Dreikurs/Grey empfehlen. Ermutigung ist ein wichtiger Schlüs-
sel in der Erziehung zu Selbständigkeit und Leistungsbereitschaft. Voraussetzung
aber ist, dass wir selbst zutiefst davon überzeugt sind, dass unser Kind „es“ schafft.
Das Gegenteil von ermutigen ist entmutigen. An Beispielen von Entmutigung wird
unmissverständlicher klar, dass ermutigende Signale von Seiten der Eltern und
anderer Erwachsener für die Entwicklung eines Kindes besser sind.
Als Andreas eingeschult wurde, freute er sich wie alle anderen Kinder auf den
neuen Lebensabschnitt. Und ebenso wie die meisten Kleinen hatte er Mühe, den
Stift richtig zu halten und bei den ersten Versuchen auf dem Papier seine „Wel-
len“ und die „Berge und Täler“ von links nach rechts einigermaßen gerade oder
gar zwischen vorgedruckte Linien zu malen. Andreas hatte, wie die meisten
seiner Altersgefährten also Schwierigkeiten mit dem „Schreiben“. Was Andreas
von den anderen Kindern unterschied, das waren Eltern, die damit nicht um-
gehen konnten. Vielleicht hatten sie keine Zeit gehabt zum Elternabend zu ge-
hen, als Funktionen und Bedeutung der ersten Übungen erklärt wurden, viel-
leicht hatten sie einfach nicht richtig zugehört oder verstanden: sie mäkelten
an den Versuchen ihres Jungen herum. „So macht man das doch nicht ... Nun
gib dir endlich mal Mühe... stell dich bloß nicht so an... das ist doch kinder-
leicht... wenn das so weitergeht, wirst du nie schreiben lernen...jetzt machst du
das alles noch einmal, aber ordentlich...“ so tönte es unentwegt aus dem Mund
der Mutter und wenn der Vater kam, dann gab auch der noch seine Kommen-
tare dazu ab.
Die Eltern meinten es nicht böse mit ihrem Kind. Aber so geht es nicht! Hier fehlt
jeder Ansatz von Ermutigung. Andreas hörte nur die eine Botschaft: wir sind mit
dir nicht zufrieden! Die Eltern haben versäumt, ihm Mut zu machen: „Mach nur
weiter, das schaffst du schon“ oder, falls die Lehrerin/der Lehrer nicht zufrieden
waren: Beim nächsten Mal wird es sicher besser!“
Das Beispiel von Andreas lässt sich in viele alltägliche Zusammenhänge übertra-
gen. Man kann sagen, dass alles, was in unserem Verhalten dazu geeignet ist, ein
Kind zu entmutigen, seine Erfolgsaussichten einschränkt. Im Zusammenhang mit
dem Thema „Wie Kinder lernen“ ist ebenfalls davon die Rede. Wer seinem Kind zu
verstehen gibt: Ich halte dich für einen Versager, für einen Menschen mit „zwei
linken Händen“, für ungeschickt, dumm oder faul, der darf sich nicht wundern,
wenn das Kind so wird oder bleibt, wenn Mutter oder Vater das so sagen. Eine er-
mutigende Erzieherhaltung aber ist besser geeignet, Fehlentwicklungen zu ver-
64
meiden oder zu beheben. Eine der entscheidendsten Voraussetzungen für eine
derartige Erziehungshaltung ist das Zutrauen zu den eigenen Fähigkeiten bezie-
hungsweise ein gewisses Ausmaß an eigenem Selbstwertgefühl. Es fällt uns leich-
ter, Kinder zu ermutigen, wenn wir in unserem eigenen Leben Ermutigung erfah-
ren haben. Wenn ein Mann seine Frau durch sein Verhalten demütigt oder gar
schlägt und beschimpft oder eine Frau ihrem Mann immer wieder unter die Nase
reibt, dass er ein Versager sei, dann dürfen wir uns nicht wundern, wenn beide zu
den Fähigkeiten ihres Kindes kein Zutrauen haben.
Lassen wir dieses Kapitel aber nicht ohne einen Blick auf eine andere Realität aus-
klingen, an die wir denken, wenn wir Eltern auf unsere eigene Kindheit und die
Folgen von Frustrationen bei uns selbst zurückdenken. Sobald wir mit anderen
Eltern darüber sprechen, werden wir feststellen, dass sich viele der uns zugefügten
seelischen Wunden geschlossen haben. Wir sagen dann gern, dass wir das Leben
trotz alledem gemeistert haben. Einige meinen dann gelegentlich sogar, dass ihnen
die Schläge, die sie bekamen, nicht geschadet hätten. Nun, mit derartigen Verklä-
rungen unserer Kindheitserinnerungen sollten wir schon darum vorsichtig sein,
wenn sie zur Rechtfertigung unserer eigenen Strafpraxis herhalten müssen. Wenn
auch darüber keine verallgemeinerbaren Untersuchungsergebnisse vorliegen, so
lässt sich sagen, dass die meisten von uns sich tatsächlich ihren negativen Erfah-
rungen stellen, sie bewusst bearbeiten und auf diese Weise die Beschädigungen an
ihrem Selbstwertgefühl überwinden. Ob es Erzieher, Lehrer oder die eigenen El-
tern waren, die uns mehr oder weniger bewusst seelisch verletzten: wenn wir uns
als Erwachsene damit auseinander setzen, können uns die entsprechenden Aus-
wirkungen nicht mehr beeinträchtigen. Nun sind wir selber Eltern geworden. Da
wir wissen, was Drohungen und Strafen anrichten können, halten wir uns zurück.
Wenn uns aber mal der Zorn übermannt und die Gefühle mit uns durchgehen,
dann – so werden die meisten Eltern, die mit ihren Kindern hinterher darüber
sprechen, feststellen können, - werden unsere Kinder für uns sehr viel Verständnis
haben und der Schaden bleibt gering.
3.
Unsere Kinder reiben sich an uns und wir an ihnen
Einführung
65
auch situative Einflüsse, wie z.B. Anlässe, Umgebungen oder subjektive Befind-
lichkeiten, entscheiden darüber, wann bei einem Menschen dieser Prozess beginnt.
Mit Gewalt bzw. gewalttätigem Verhalten meinen wir umgangssprachlich jene, die
sich gegen Sachen und Lebewesen (gegen Tiere, andere Menschen und sich selbst)
richten. Nicht alle Gewalthandlungen müssen mit aggressiven Empfindungen ver-
bunden sein. Ein Bomberpilot zum Beispiel hat in der Regel keine aggressiven Ge-
fühle, wenn er im Auftrag seiner Vorgesetzten Städte bombardiert und Menschen
tötet. In zwischenmenschlichen Begegnungen sind Gewaltakte nicht selten mit Ag-
gressionen verbunden, die unter anderem durch Gefühle wie Zorn, Hilflosigkeit
oder Hass ausgelöst wird. Hier ist zum Beispiel zu denken an Gewalttätigkeiten in
der Familie, die in unserer Gesellschaft zwar häufig unter der Decke gehalten wird,
aber viel öfter vorkommt, als bekannt ist (Philip Zimbardo 1995, S. 425).
Neben den direkten zwischenmenschlichen Gewalttätigkeiten stehen noch andere
Gewaltformen. Wenn wir an unsere eigene Gewalterfahrungen denken, dann emp-
finden wir vielleicht alles, was wir gegen unseren eignen Willen oder unsere eigene
Überzeugung akzeptieren müssen, wozu wir uns „gezwungen“ fühlen, als eine
„Vergewaltigung“. Wir sagen dann vielleicht auch: „Da wurde mir Gewalt angetan“
oder: „Ich musste mir Gewalt antun“.
Da Menschen diese Gewalterfahrungen auch in Institutionen wie Betrieben, Verei-
nen oder in und durch staatliche Organe (denken wir nur an das „Gewaltmonopol
des Staates“) machen können, diese Gewalt aber keine gleichsam personale ist,
spricht man auch von „struktureller Gewalt“ (Alexander Mitscherlich, Zürch o. J.).
Aggressionen und gewalttätige Verhaltensweisen beobachten wir aber am häufigs-
ten in unseren Familien selbst. Zwei Themen sind es, die uns Eltern da besonders
zu schaffen machten:
unsere streitenden Kinder, die sogar mit Fäusten aufeinander losgehen und sich
„bis aufs Blut“ peinigen, können uns „bis zur Weißglut“ reizen.
Oder danken wir an den Trotz, mit dem uns unsere Kleinen herausfordern. Wir
werden darum auch diesen beiden Erscheinungen, der Geschwisterrivalität und
dem Trotz in diesem Kapitel noch einmal unsere Aufmerksamkeit widmen.
66
ches im Alltag erreichtes Ideal ist (beziehungsweise vor etwa vierzig Jahren war).
Es fehlte den Kindern also das aggressive Vorbild der Erwachsenenwelt.
William.W. Lampert (1979, S. 19) untersuchte Konflikte in 6 Kulturen (in Nordin-
dien, Neuengland, Mextecan-Indianer in Mexiko, Kenia, Okinawa und auf den Phi-
lippinen) bei 3 bis 10 Jahre alten Kindern. Er fand, dass sofortiges Zurückschlagen
mit physischem Schlagen und verbalem Angreifen, in allen sechs Kulturen univer-
sell ist. Und das, obwohl diese Aggressionen und Gegenaggressionen kulturell
sanktioniert, also von den Erwachsenen unerwünscht sind und bestraft werden.
Die Anzahl der Vergeltungsschläge ist im Vergleich zu den Angriffen bei allen In-
dividuen und Kulturen konstant. Jungen schlagen in 30% der Fälle sofort zurück,
Mädchen nur in 15 % aller Fälle. Die Gesamtmenge gezeigter Aggressivität variiert
auch nicht mit dem Alter: Es ist kein quantitativer Sozialisationseffekt nachweis-
bar (Karl Grammer Darmstadt 1988).
Mit der Feststellung, dass jeder Mensch aggressive Impulse haben kann, ist nichts
darüber gesagt, wie diese Impulse zu bewerten sind. Um Missverständnisse zu
vermeiden lässt sich darum von vorn herein erklären, dass es zu den Zielen aller
pädagogischen Bemühungen gehört, Heranwachsende zu einer prinzipiell friedfer-
tigen Haltung zu führen und auf Gewalt als Mittel der Konfliktlösung verzichten zu
können.
Bei unseren Kindern beobachten wir schon früh aggressive Verhaltensweisen. Die
Reaktionen auf Versagenserlebnisse zum Beispiel, wir sagen auch „Frust“ dazu,
verraten eigentlich schon recht früh, wie groß die entsprechenden Verhaltensdis-
positionen sind. Fragen wir uns zum Beispiel:
Wie zornig wird unser Kind, wenn wir es gegen seinen Willen festhalten?
Wird es aggressiv, wenn es sich zu wenig beachtet fühlt?
Wie reagiert es, wenn eine spielende Aktion nicht oder nicht gleich zum Erfolg
führt?
Wie verhält es sich anderen (gleichaltrigen, jüngeren, älteren) Kindern gegen-
über?
67
menhang mit ihren Ausprägungen, Häufigkeiten, Befindlichkeiten des Betreffen-
den (Schuldgefühle z.B.), und den jeweiligen Ursachen erkennen. Darum lässt sich
im Grunde keine wirksame Strategie gegen ein gewalttätiges Verhalten von Kin-
dern einschließlich einer aggressiven Ausdrucksweise anwenden, ehe nicht nach
den Ursachen und/oder Auslösern der uns störenden Verhaltensweisen gefragt
wird.
Was nun diese Ursachen betrifft, gibt es mehrere Erklärungen aus unterschiedli-
chen theoretischen Sichtweisen mit jeweils verschiedenen Ausgangspositionen. Es
können hier nur einige Andeutungen gemacht werden:
Ein religiöser Mensch, der die Welt ausschließlich als Gottes Werk sieht, wird Ag-
gressivität und Gewalt aus dem göttlichen Willen heraus erklären und auf die Erb-
sünde verweisen, auf die dunklen Seiten menschlicher Existenz, auf Kain und Abel
vielleicht oder auf Engel (Himmel) und Teufel (Hölle).
Es gibt mehrere psychologische Schulen, die über die Ursachen von und die Ein-
flussmöglichkeiten auf menschliche Aggression nachgedacht und geforscht haben.
Ein analytisch orientierter Psychologe, der zum Beispiel aus der Schule von Sieg-
mund Freud kommt, untersucht die Individualentwicklung und hier besonders die
unbewussten Erfahrungen - vergessene oder verdrängte - aus den Kindheitspha-
sen. Die Schüler Alfred Adlers wiederum fragen stärker danach, ob und in welcher
Weise einer Persönlichkeit in seinem Leben Anerkennung versagt blieb und das
natürliche Streben nach Geltung und Einfluss behindert wurde.
Ein Vertreter der Humanistischen Psychologie setzt bei den Bedürfnissen der
Menschen an und sieht Ursachen von Aggressionen in bestimmten Mangeler-
scheinungen oder Strebungen nach Befriedigung unzureichend erfüllter Bedürf-
nisse.
Ein Soziologe sieht Ursachen und Erscheinungen von Aggression und Gewalt eher
in gesellschaftlichen Bedingungen wie Arbeitslosigkeit, Abhängigkeit oder Gefühle
von Ohnmacht und Wut gegen gesellschaftlich, wirtschaftlich oder politisch be-
gründbare Benachteiligungen. Aber auch die Einflüsse aus der Freundesgruppe, in
der sich ein Kind oder Jugendlicher bewegt, können, wenn in der Gruppe Aggres-
sionen und Gewalt selbstverständlich sind, als Vorbild wirken.
Verhaltensforscher (Ethologen) suchten und fanden, wie oben ausgeführt, unter
anderem Antworten auf Fragen wie: sind Aggressionen in allen Kulturen gleich-
sam „natürlich“ zu beobachten? Verfügte der Mensch in seiner Entwicklung schon
immer über die Disposition zu aggressivem Verhalten? Welche Funktionen hatten
diese Dispositionen und gelten diese auch unter den gegenwärtigen (veränderten)
Lebensbedingungen?17
Welche dieser Erklärungen ein Mensch für sich als wahrscheinlich richtig über-
nimmt, hängt nicht zuletzt damit zusammen, wie ein Erklärungsansatz mit seinen
eigenen Lebenserfahrungen und Lebensanschauungen übereinstimmt bezie-
hungsweise wie „plausibel“ ihm ein Erklärungsansatz erscheint. Allerdings lassen
sich in der Praxis kaum eindeutige Zuordnungen ermöglichen. Fragen wir nach
Ursachen von aggressiven Verhaltensweisen oder Gewalt bei einem Menschen,
spielen nicht selten mehrere Faktoren eine Rolle. Es dürfte bei der Suche nach den
68
Gründen für das Verhalten eines Kindes nützlich sein, wenn Eltern und Berufser-
zieher verschiedene Erklärungsmuster beziehungsweise theoretische Ansätze ken-
nen und in ihre Praxis integrieren können. Es erleichtert uns die Deutung und Be-
wertung eines Verhaltens und hilft uns bei der Suche nach einer geeigneten päda-
gogischen Strategie oder psychotherapeutischen Behandlung.
1. Gestörte Familienbeziehungen
Beziehungen zwischen Menschen verändern sich. Auch die zwischen Eltern unter-
liegen einem fortwährenden Wandel. So kann es in einigen Ehen dazu kommen,
dass die Gefühle und Erlebnisse, die zwei Menschen zusammenführten, verküm-
mern, sich verlieren oder gar in ihr Gegenteil verkehren. Aus Liebe wird Hass.
Nichts braucht ein Kind zu seiner harmonischen Entwicklung mehr, als die Ge-
wissheit, angenommen und geliebt zu sein, wie oben im Zusammenhang mit den
Grundbedürfnissen bereits beschrieben. Andererseits bindet sich jedes Kind mit
all seinem Sein an seine Eltern. Je jünger es ist, umso vorbehaltloser ist diese Bin-
dung. Und ein Kind liebt beide Eltern und möchte sie im Grunde immer bei sich
haben, bei ihnen geborgen wissen. Ein Kind wird zutiefst verstört, wenn sich seine
Eltern streiten und nicht wenige Kinder tragen diese Verstörungen als aggressive
Verhaltensweisen in die Kindergruppen hinein.
69
Jahre alt, erfuhr die Lehrerin, dass der Vater des Kindes seine Frau und inzwi-
schen auch die Tochter schlägt. Sie war darauf gekommen, weil Karola nachts
im Schlaf mit dem Kopf an die Wand schlug und viel jammerte, so dass die an-
deren Kinder nicht schlafen konnten.
Die seelische Not Karolas aber trat nicht nach außen als Aggressionen gegen ande-
re Kinder, sondern richteten sich gegen sich selbst. Diese Autoaggressionen sind
keine Seltenheit. Doch wird diesen Kindern weniger geholfen und meistens recht
spät, weil sie in ihren Gruppen weniger auffallen. Da verhält es sich mit Jochen
ganz anders.
Seine alleinerziehende Mutter, an der Jochen sehr hängt, ist immer wieder auf
Partnersuche. Wenn sie dann einen Freund gefunden hat und ihn mit in die
Wohnung bringt, freut sich Jochen jedes Mal. Vielleicht ist dieser Mann ein
neuer Papa, auf den er so sehr wartet. Die Mama von Jochen aber scheint nur
bei gewalttätigen Männern „Glück“ zu haben. Immer wieder erlebte der Junge
über kurz oder lang, dass seine Mutter misshandelt wurde. Als er miterleben
musste, wie einer der Freunde die Mutter vergewaltigte, rastete Jochen, der zu
diesem Zeitpunkt elf Jahre alt war, aus und schlug einen Schulkameraden aus
geringstem Anlass auf dem Schulweg zusammen. Da Jochen bereits in der vo-
rangegangenen Zeit durch gewalttätige Verhaltensweisen aufgefallen und die
Sozialarbeiterin des Jugendamtes von der Schule eingeschaltet worden war,
musste ein Ausweg für alle Betroffenen gefunden werden. Die Mutter konnte
niemand zwingen, sich helfen zu lassen. Sie wollte auch nicht herausfinden, wo
eventuell ihre eigenen Anteile an der Misere liegen könnten. Sie sah die Ursa-
chen für die Gewaltbereitschaft ihres Sohnes allein in ihm selbst. „So war schon
dessen Vater...“, das war ihre Erklärung. Sie beantragte Erziehungshilfe für
ihr Kind, die dann auch gewährt und in einem Heim durchgeführt wurde.
Während seiner ganzen Schulzeit fiel Jochen mit seinem aggressiven Verhalten
auf. Aus geringstem Anlass ging er auf Mitschüler und jene Lehrer los, die er
als „schwach“ einstufte. Erst nach der Pubertät, Jochen hatte mit Erfolg eine
Handwerkslehre beendet, wurde er ruhiger. Er zog weit weg von der Mutter
und baute sich in einer großen Stadt sein eigenes Leben auf.
70
machen von sich reden, sondern die, vor denen andere Angst haben. Das haben
wir am Beispiel von Jochen gesehen.
Wer sich gemessen an den jeweiligen Bezugsnormen (Schulklasse, Erwartungen von
Lehrern, Eltern, Ausbildern u.a.) als Versager erlebt, kann kein positives Selbstbild
aufbauen. Auf diese Weise lernt ein Mensch, sich selbst zu hassen. Treten zu diesen
Erfahrungen entsprechende Dispositionen hinzu, hilft er sich selbst, in dem er
seinerseits die Anderen hasst. Dieser Hass als Folge einer Reihe von Frustrationen
richtet sich erfahrungsgemäß gegen Schwächere. Dann wird draufgeschlagen auf alle,
die als schwächer erlebt werden (auf die kleinen Kinder im Bus, auf die, die bereits
am Boden liegen, auf Frauen oder auf die Ausländer ...). Auf diese Weise hat der
Aggressor für einen Moment ein Gefühl von Macht und Überlegenheit. Der
Volksmund sagt dazu dann: "den Sack schlägt man - den Esel meint man". Es lässt
sich zum Beispiel nachweisen, dass die zum Teil dramatischen Zwischenfälle in den
Schulbussen im Regelfalle mittags nach der Schule auftreten. Hat ein junger Mensch
mit seinen aggressiven Handlungen Erfolg, vielleicht weil ihm die anderen Kinder
aus dem Wege gehen oder Angst vor ihm haben u. ä., wird sein Verhalten „verstärkt“.
Selbst Bestrafungen wird er, seiner Grundeinstellung folgend, nur als Bestätigung
dafür erleben, dass ihn niemand anerkennt und mag.
Und bei diesem Bezugsfeld scheint eine andere, nicht minder starke Ursache für
Aggressionen auf: die Angst. Während wir die Ursachen bzw. Auslöser von Frus-
trationen bei genauem Hinschauen unschwer erkennen können (Leistungsversagen,
Straferfahrungen u. ä.) ist das bei Ängsten sehr viel schwerer möglich. Wenn wir also
von einem Menschen sagen, dass er aggressiv und gewalttätig sei, dann können wir
auch davon ausgehen, dass Ängste und/oder Frustrationen diese Verhaltensweisen
und Einstellungen verursacht haben.
4. Diskriminierungserfahrungen
Besonders in der Schule treffen wir diskriminierende, die Persönlichkeit von Kin-
dern zutiefst verletzende Verhaltensweisen an, wenn zum Beispiel Lehrer Leis-
tungsbewertungen mit herabsetzenden, spöttischen oder beleidigenden Bemer-
kungen „würzen“. Aber auch in Familien oder in Sportvereinen (zu denken ist be-
sonders an Fußball) sind diskriminierende Prozesse keine Ausnahme. Wie oft
müssen die betreffenden Kinder den eigenen Zorn, die stille Wut oder den tiefen
Hass gegen die Peiniger in sich „reinfressen“. Das Gebot von einem Menschen-
würdigenden Umgang sollte uns Erwachsene in der Begegnung mit Kindern leiten
und das heißt, ihre Persönlichkeit zu achten, zu akzeptieren und anzuerkennen.
Und was hier in Bezug auf unsere Kinder gesagt wird, das gilt auch für uns Er-
wachsene. Immer wenn wir unseren Zorn, unsere Aggressionen bei erfahrener
Diskriminierung „wegdrücken“, spüren wir diesen Druck auf uns selbst körperlich.
Nicht wenige Magen- und Herz- und Kreislauferkrankungen haben hier ihre Ursa-
chen.
71
5. Überforderungen
Auch hierzu ein Beispiel:
Kemal ist der einzige Sohn seiner Eltern. Drei Schwestern, alle älter als Ke-
mal, leben noch in der Familie. Bereits im Kindergarten reagierte Kemal
sehr heftig, als ihn ein Kind „Türke“ nannte und nicht mit dem Namen an-
sprach. Es gab noch mehr Türken und andere ausländische Kinder in der
Gruppe. Nur Kemal schimpfte und schlug andere Kinder, sobald er „Türke“
gerufen wurde. Kinder streiten sich gern wie wir wissen. Und wenn sie er-
fahren haben, worüber sich ein anderes Kind besonders ärgert, dann provo-
zieren sie es auch häufig. So geriet Kemal recht bald in eine Außenseiterrolle
und niemand wollte mehr mit ihm spielen. Die Eltern, nur der Vater konnte
sich mit den Erzieherinnen etwas verständigen, sahen allein die Schuld für
die Aggressionen des Jungen im Kindergarten. Kemal kam dann nur noch
selten in den Kindergarten. Niemand aber konnte herausbringen, warum
Kemal auf die Bezeichnung „Türke“ so heftig reagiert hatte. Als er in der
Schule war, konnte er auf ein anderes Kind losgehen, nur wenn er meinte, es
hätte ihn „Türke“ genannt. „Ich habe ihn doch nur angeschaut“ verteidigte
sich in einer derartigen Situation der völlig überraschte Mitschüler.
Seine Schwestern, die die gleiche Schule mit gutem Erfolg besucht hatten,
unterschieden sich in ihrem Verhalten nicht von den anderen Kindern. Nach
vielen Bemühungen um den Jungen in der ersten Klasse wurde eine geistige
Behinderung erkannt. Wenig später änderte sich sein Verhalten. In der
Schule für behinderte Kinder wurden die Lernanforderungen seinen Mög-
lichkeiten angepasst. Nun konnte er auf seine Aggressionen verzichten, die
seine Antwort auf die für ihn unverständlichen Anforderungen in Kinder-
garten und Grundschule waren. Seine Eltern, so stellte es sich dann heraus,
hatten die Not des Jungen durch ihre Erwartungen verstärkt. Sie verglichen
ihn mit den Schwestern und konnten selbst nicht verstehen, warum bei Ke-
mal nichts gelingen wollte, was den Mädchen so leicht gefallen war.
6. Gruppennormenen
Kinder und wir Erwachsenen haben das Bedürfnis, einer sozialen Gruppe anzuge-
hören. Ist es in den Kinderjahren zunächst die eigene Familie, kommen später
Kinder hinzu, mit denen man spielt. Eine Freundin zu haben oder einen Freund ist
wichtig und es wird einiges dafür getan, um die Freundschaft am Leben zu erhal-
ten. Da werden schon mal Normen verletzt und die Gebote Erwachsener übertre-
ten. Denken wir nur an die Geschichten, die uns Mark Twain über Tom Sawyer
erzählte. Einfühlsam und mit viel Verständnis für die Bedürfnisse von Kindern
erfahren wir, dass die Freunde die Gruppen sind, innerhalb derer eigene Normen
ausprobiert werden können. Diese Freundesgruppen sind aber zugleich der soziale
Raum, der tröstet und Alternativen anbietet, wenn man der Überzeugung ist, dass
man von niemandem mehr geliebt wird. Mark Twain erzählt in seinem Buch über
Tom Sawyer:
Tom „hatte versucht, das Rechte zu tun und gut zu sein, aber sie ließen’s ja nicht
zu. Jetzt wollte er das Leben eines Verbrechers führen, es blieb ihm keine andere
72
Wahl...“ Und Tom tat sich zusammen mit seinen Freunden Joe Harper und Huck-
leberry Finn und alle drei suchten eine Insel im Mississippi auf, die unweit ihres
Heimatortes lag und wurden „Seeräuber“.
Wir können unschwer diese Geschichte in unsere Realitäten übertragen. Nur se-
hen die Begleitumstände und die Folgen oft nicht so harmlos aus. Unsere Kinder
und Jugendlichen, die sich daheim „unverstanden“ fühlen, geraten unter Umstän-
den in Gruppen in denen Aggression und Gewalt als Gruppennormen gelten. Für
eigene Frustrationserlebnisse werden andere Menschen verantwortlich gemacht.
Rasch sind Feindbilder konstruiert: der Ausländer, der Asylant, der Stadtstreicher,
die Neger oder auch nur: die Jungen aus dem Nachbardorf, die Anhänger der geg-
nerischen Mannschaft. Und wer in der Gruppe nicht als Feigling gelten will, der
muss sich beweisen. Da werden schon mal jugendliche Fußballanhänger für Anhä-
nger anderer Mannschaften gefährlich.
Jede/r von uns geriet irgendwann und irgendwo einmal in einen Stau. Nehmen wir
an wegen einer Baustelle war die Autobahn nur noch auf der rechten Spur befahr-
bar. Während wir brav auf der rechten Seite immer langsamer wurden, fuhren an-
dere Autofahrer links an uns vorbei und drängten sich vor uns hinein. Da bekamen
wir eine große Wut in den Bauch. Wir fluchten und schimpften laut vor uns hin
und schlugen wohl auch auf das Lenkrad.
Bleiben wir noch bei diesem Beispiel: Die Situation verliert ihren relativ harmlosen
Charakter, wenn wir die Familie im Auto haben. Vielleicht fahren wir gerade in die
Ferien an den Genfer See oder ins Wallis. Auf der N 1 kommen wir bei Bern nicht
mehr weiter und quälen uns im „Stop and Go“ langsam vorwärts. Dazu kommt die
Hitze an diesem Tag. Es scheint auch wieder mal alles schief zu laufen. Und schon
beginnt der Konflikt unter den Erwachsenen: „Ich habe ja gleich gesagt, wir hätten
gestern Abend losfahren sollen ...“.
Und während auf den Vordersitzen der Streit zwischen den Eltern zu eskalieren
beginnt, werden die Kinder auf den Rücksitzen immer unruhiger. Nichts ist für sie
schlimmer als Krach zwischen Mutter und Vater. „Seid endlich ruhig!“ fordern wir
die Kinder auf. Weil sie sich aber nun nicht mehr kontrollieren können, zu lange
saßen sie schon im Auto still und zu groß ist die Angst davor, dass die Eltern sich
weiter streiten, werden sie immer lauter, quengeln, weinen und hauen sich. Nun
fahren wir, Mutter oder Vater, dazwischen und schimpfen und drohen.
Verständlich ist für uns diese Situation und unschwer nachvollziehbar. Die meis-
ten von uns haben in Belastungssituationen - also unter Stress - vergleichbar rea-
giert. Mit einem Fuß aber stehen wir mit derartigen Reaktionsweisen bereits im
Bereich der Destruktivität, also in Bereichen aggressiven Verhaltens, mit denen
wir anderen Schaden zufügen oder, wie Erich Fromm sie nennt: der bösartigen
Aggression. Lassen Sie uns noch einmal auf die Familie im Auto zurückkommen.
Ohne jede Beschönigung müssen wir festhalten: Die Eheleute waren untereinan-
73
der aggressiv und gegen die Kinder gewalttätig. Vielleicht gab es sogar eine Ohrfei-
ge.
Die Kinder mögen hinterher ganz schön auf die Eltern wütend gewesen sein. Und
in ihren Gedanken kamen Gewaltphantasien hoch: „soll der Alte doch gleich gegen
den Vordermann fahren“ oder „ich wünschte, ich wäre jetzt tot; dann würden die
aber weinen; aber dann wäre es zu spät...“
Kinder aber wollen geliebt, geborgen und beschützt sein. Auch die Kinder in dem
Auto haben in ihrem Alltag vielfältige Beweise der Fürsorge ihrer Eltern erfahren.
In kranken und gesunden Tagen, bei Kummer in Kindergarten und Schule, stets
konnten sie sich auf Mutter und Vater verlassen.
Darum auch trocknen die Tränen bald wieder, die Gewaltphantasien machen
freundlicheren Gedanken Platz und - am Ferienort angekommen - ist alles wieder
vergessen. Vergessen? Nun ja, nicht ganz: Mutter und Vater verständigten sich
kurz, dazu brauchte es nicht viele Worte, und gingen mit den Kindern noch ein Eis
essen. Als Wiedergutmachung sozusagen. Obwohl niemand mehr ein Wörtchen
über die Situation im Auto verlor.
In jeder Familie und, je nach Kinderzahl und/oder Belastbarkeit und Tempera-
ment der Eltern, mal mehr mal weniger gibt es derartige Stresssituationen. Den-
ken wir nur daran, dass Erziehen auch heißt, „nein“ sagen zu können. Kinder
kommen damit ganz gut zurecht, wenn sie wissen oder fühlen, dass es um ihr Wohl
geht und sie sich in der liebenden Fürsorge ihrer Eltern geborgen wissen.
74
Das muss nicht so bleiben. Wir kennen alle Erwachsene, vielleicht gehören wir
selbst zu ihnen, die sich schworen, ihre eigenen Kinder nicht mehr zu schlagen.
Die Schläge aus der Kindheit „brennen“ noch so sehr, dass wir den eigenen Kin-
dern diese Erfahrungen ersparen möchten. Unsere eigene Erinnerung ist im
Grunde unser bester Lehrmeister. Dieser Lehrmeister verhilft manchen Eltern zu
der Kraft, in ihrem Bemühen durchzuhalten und es anders zu machen als die eige-
nen Eltern.
Es ist sicher nicht immer einfach, die Aggressionen unserer Kinder auszuhalten
und auf Gegenaggression zu verzichten. Aggressionen aber sind bei unseren Kin-
dern notwendig, wie wir gesehen haben.
Vor unsere Reaktionen sollten wir also die Frage stellen, warum sich unser Kind
aggressiv verhält, welche Motive es bewegt. Wenn wir an die bisher genannten Mo-
tive aggressiven Verhaltens denken, dann ließe sich sagen: die sind ja alle ver-
ständlich. Streit unter Kindern, „Kämpfle“, die sie miteinander austragen, Trotz,
Frust, Verteidigung oder Nachahmung, das alles lässt sich leicht nachvollziehen
und sollte Eltern und Erzieher nicht beunruhigen. Es sind dies allenfalls uns stö-
rende oder ärgernde Verhaltensweisen aber keine, die uns signalisieren, dass ein
Kind Hilfe braucht. Sogar jene Kinder, die gleichsam von Natur aus lebhafter sind
und stärker nach außen agieren und hierbei aggressiver oder draufgängerischer
sein können als andere Kinder, bewegen sich in einem Bereich, den wir - sofern
wir durch unsere Erziehung dieses Verhalten nicht verstärken - akzeptieren müs-
sen. Grenzen sind deutlich dort und dann zu ziehen, wenn aggressive Verhaltens-
weisen, ob mit Worten, Gesten oder verletzenden und zerstörerischen Akten
„Feindlichkeit“ erkennbar wird. Erich Fromms Unterscheidung zwischen gutarti-
ger und bösartiger Aggression deutet zugleich auf die unterschiedlichen Ursachen-
bereiche und damit auf die verschiedenen erzieherischen Interventionen. Wenn
wir uns davon überzeugt haben, dass die aggressiven Akte eines Kindes in einer
Art „feindlicher“, gegen seine Umwelt oder gar gegen sich selbst gerichteten Ein-
stellung ihre Ursache haben, dann braucht dieses Kind - oder ein Erwachsener -
Hilfe. Eine „feindliche“ Haltung anderen Menschen gegenüber beziehungsweise
„bösartige“ Aggressionen bilden sich eher unter bestimmten belasteten Lebenssi-
tuationen heraus und können oft nur in diesem Ursachenzusammenhang erkannt
werden. Zu derartigen Situationen gehört vielleicht eine ungenügende Beachtung
kindlicher Grundbedürfnisse, wie wir sie im ersten Kapitel kennengelernt haben.
In einer jüngst veröffentlichten Studie aus Zürich ist nachgewiesen worden, dass
Kinder, die an verkehrsreichen Straßen und in beengten Wohnverhältnissen her-
anwachsen, aggressiver sind als jene, die sich draußen in der Nähe ihrer Wohnun-
gen austoben können. „Man kann einen Menschen mit einer Wohnung erschlagen,
wie mit einer Axt“ hat Heinrich Zille, der Maler und Zeichner des Berliner Milieus
zu Beginn des vorigen Jahrhunderts einmal gesagt. Eine als feindlich und zerstöre-
risch erlebte Umwelt ebnet den Weg in aggressive Grundhaltungen genauso wie
materielle Not, Arbeitslosigkeit oder Beziehungsstörungen.
Persönliche Dispositionen oder Lebensbedingungen, die destruktive Aggressionen
hervorbringen oder verstärken, sind mit Hilfe erzieherischer Reaktionen allein nur
75
begrenzt beeinflussbar. Da brauchte es heilpädagogischer oder sogar psychothera-
peutischer Unterstützung und eine Veränderung der agrressionsauslösenden Le-
bensbedingungen. Kindergarten oder Schule zum Beispiel, wo Aggressionen ein-
zelner Kinder das soziale Umfeld besonders belasten, können allein die Probleme
nicht lösen und dem Kind oder gar dessen Eltern helfen. Die Einrichtungen der
Jugendhilfe, vertreten durch das Jugendamt oder soziale Dienste freier Träger,
können im Bedarfsfalle Hilfen vermitteln. Eine enge Zusammenarbeit zwischen
Kindergarten, Schule, Elternhaus und Jugendhilfe wird überall dort unverzichtbar
sein, wo uns Kinder durch den Charakter ihres aggressiven Verhaltens zeigen, dass
sie in seelischer Not sind.
Handlungsempfehlungen für den Familienalltag, in denen einige der bereits darge-
legten Erkenntnisse noch einmal betont werden, sollen dies Kapitel abschließen:
76
am Abend - Gelegenheit schaffen, das Vorgefallene mit dem Kind zu besprechen.
Dann kann man gemeinsam, je nach Vorfall, auch mit den anderen Familienmit-
gliedern, nach neuen Wegen Ausschau halten. Feste Absprachen - gleichsam Ver-
träge - mit den Kindern zu vereinbaren, ist aber nur sinnvoll, wenn man Termine
setzt, an denen man deren Einhaltung überprüft (Thomas Gordon, München
1972).
77
bestimmte Aktivitäten erheblich frustrierende und damit nicht selten aggressions-
auslösende Wirkungen. Die Folge dieser Erkenntnis liegt auf der Hand: wir haben
unseren Kindern reichlich Möglichkeiten zu "Wirkmächtigkeit" zu geben. In der
Praxis ist das eigentlich gar kein Problem: Bereits kleine Kinder schaffen gern. Wir
haben in den Kapiteln über die Bedürfnisse unter den Stichworten „Anerkennung“
und „Förderung“ oder denen über das Lernen bestätigt gefunden, dass Schöpfer-
kraft und Einsatzfreude davon abhängen, wie weit wir Eltern bereit und in der La-
ge sind, unsere Kinder entsprechend zu ermuntern. Je jünger sie sind, umso wich-
tiger ist es ihnen, dass wir mit ihnen spielen, basteln, etwas gemeinsam unterneh-
men. Von herausragender Bedeutung sind in diesem Zusammenhang alle sportli-
chen und musischen Aktivitäten. Selbstvertrauen und Selbstwertgefühle wachsen
in dem Ausmaß, in dem Kinder ihre Fähigkeiten bzw. Talente in diesen Bereichen
einsetzen können und gefördert werden.
78
Zank und Streit unter Kindern
Der achtjährige Klaus kommt weinend aus der Schule nach Hause.
„Mama, der Karl hat mich gehauen...“
Mama beugt sich zu ihm: „Zeig mal, wo hat er dich denn gehauen“ und sie
tröstet ihren Jungen, indem sie ihn in den Arm nimmt.
Eigentlich reicht das in den meisten Fällen. Vor allem dann, wenn wir Eltern wis-
sen, dass der Klassenkamerad und Nachbar ein von Klaus gern gesehener Spielge-
fährte ist. Wir nehmen zur Kenntnis, dass Klaus wieder einmal ruft: „Nie mehr
spiele ich mit ihm! Nie, nie mehr!“ Seitdem wir Nachbarn sind, geht das nun schon
so. Meistens spielen sie schön zusammen und vertragen sich auch gut. Manchmal
gibt es Streit. Und weil sich beide Eltern aus dem Streit ihrer Kinder heraushalten
und wissen, dass wir die Ursachen eines Konflikts nachträglich ohnehin nicht
mehr herausfinden können und sowieso beide ihren Teil dazu beigetragen haben,
ist es müßig, sich aufzuregen, möglicherweise der Sache auf den Grund gehen zu
wollen und sogar selbst noch zu schimpfen und zu klagen.
Zunächst also gilt in derartigen Situationen: trösten, ruhig bleiben und abwarten.
Kinder können ihre Zwistigkeiten ganz gut selbst beheben.
Etwas anders sieht es aus, wenn Karl kein Freund von Klaus ist. Vielleicht ist der
Junge noch gar nicht lange in unsere Straße gezogen oder in das Haus, in dem wir
wohnen. Wir Eltern wissen also noch wenig von dem Jungen.
In derartigen Fällen verhalten wir uns zunächst ähnlich, wie im ersten Beispiel
beschrieben. Zugleich versuchen wir bei unserem Kind etwas mehr von Klaus zu
erfahren: in welche Klasse geht er denn; ist er größer und stärker; vor allem aber
wird es uns darum gehen, herauszufinden, ob unser Klaus Angst hat vor dem an-
deren Jungen. Selbst wenn unser Junge es nicht zugeben möchte: manchmal er-
fahren wir von seinen Ängsten, weil er von nun an zu vermeiden sucht, mit dem
gefürchteten Buben zusammenzutreffen. Wenn unser Kind aber tatsächlich Angst
hat, dann müssen wir etwas tun. Aber was? Da ist guter Rat teuer.
Grundsätzlich gilt: alles, was meinem Kind hilft, aus seiner Angst herauszukom-
men und auch dem anderen Kind keine Angst macht, ist nützlich. Wie ging die Ge-
schichte nun weiter?
Die Mutter von Klaus hielt es für das Beste, die Familie von Karl zu besuchen.
Mit ihrem Klaus klingelte sie an der Wohnungstür, nachdem sie sich vorher
vergewissert hatte, dass auch die Mutter von Karl daheim war. „Guten Tag,
sagte sie, „ich bin die Mutter von Klaus. Bitte entschuldigen sie die Störung! Ich
möchte gern sie und Karl kennen lernen, weil unser Klaus Angst hat vor Karl
und das finde ich schade.“ Freundlich-sachlich und ohne vorwurfsvollen Ton
wurden mit diesen wenigen Worten Anliegen und eigene Position vorgetragen.
Die Mutter von Karl spürte zuerst etwas wie Abwehr (hier will jemand mein
Kind angreifen / ihm etwas am Zeuge flicken). Aber sie bat die beiden herein
und rief nach Karl, der gerade an seinen Hausaufgaben saß. Etwas erstaunt,
79
verwirrt und ein bisschen verlegen wurde er, als er die beiden Besucher sah.
Auch Klaus hat die Situation zunächst nicht behagt. Bevor Karls Mutter ihren
Sohn befragen konnte, hatte die Mutter von Klaus die Situation insofern ent-
spannt, als sie Karl freundlich begrüßte und ihm das gleiche sagte: „Ich finde
es schade, dass ihr euch auf dem Schulweg gestritten habt. Ich wollte dich gern
kennen lernen.“ Beide Buben wussten nicht, was sie nun sagen, wie sie sich
verhalten sollten. Karls Mutter bat Ihre Gäste, sich zu setzen und hielt sich mit
Bemerkungen zurück. Weder suchte sie, ihren Sohn zu verteidigen noch forder-
te sie von ihm Rechenschaft. Da die Besucherin das ganze Thema offensichtlich
fallen ließ und das Gespräch mit der Frage eröffnete, woher sie denn zugezo-
gen seien, konnten die beiden Frauen zunächst einmal über ein neutrales The-
ma miteinander reden.
Nach wenigen Sätzen, die Buben hatten verlegen aneinander vorbeigesehen
und sich nur verstohlen den einen oder anderen Blick zugeworfen, forderte die
Mutter von Karl ihren Jungen auf, Klaus sein neues Spielzeug zu zeigen. Tat-
sächlich gingen beide Jungen aus dem Zimmer. Keiner brauchte Angst zu ha-
ben, dass die Mütter über sie zu Gericht sitzen würden. Was die Buben taten
und sprachen, wissen wir nicht. Die Mütter aber redeten noch ein bisschen
miteinander über Wohnung und Teuerung. Natürlich sprachen sie auch über
ihre Kinder - aber eher allgemein: „es ist nicht einfach mit den Buben... es hat
gar keinen Zweck, nach Gründen für Streitigkeiten zu fragen oder sich einzu-
mischen ... ja, meine beiden (es gab also Geschwister) streiten sich immer wie-
der, weil sie Angst haben, sie kämen zu kurz ...“. Nach einer halben Stunde
verabschiedete sich die Mutter von Klaus wieder, bedankte sich dafür, dass sie
angehört worden ist und bat abschließend darum, Karl nun keine Vorwürfe zu
machen. Ihr Anliegen war es, ihre und ihres Kindes Sorgen mitzuteilen in der
Hoffnung, dass, wenn sich alle Beteiligten erst kennen gelernt haben, derartige
Konflikte nachlassen. Die Buben wurden gerufen. Klaus und seine Mutter ver-
abschiedeten sich, ohne den Anlass ihres Besuches noch einmal zu erwähnen
und gingen.
Klaus hatte seitdem keine Angst mehr vor Karl und Karl gab ihm auch gar
keinen Grund mehr dazu.
Ein interessantes Beispiel, das uns Mut macht - wenn wir den Mut haben und so
handeln, wie die Mutter von Klaus. Auch die Mutter von Karl blieb gelassen und
wusste sehr gut, dass Vorwürfe oder gar Schimpfen oder Strafen gar nichts verän-
dern. Im Gegenteil: hätte sie Karl für sein Fehlverhalten bestraft, hätte dieser ei-
nen Grund gehabt, sich an Klaus für diese Demütigung zu „rächen“. So erhielten
sie die Chance, ohne Gesichtsverlust, einander näher zu kommen.
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kommen. Es ist eine alte Erfahrung, dass es Menschen schwerer fällt gegeneinan-
der loszugehen, die sich näher kennen gelernt haben und davon überzeugt sind,
dass die anderen einem nichts tun wollen. Darum war die Entscheidung von der
Mutter von Klaus richtig, bevor sie sich beschwert, erst einmal das Kind und die
Familie kennen zu lernen. Bekanntheit schafft Nähe und Nähe kann hilfreich sein.
Geschwister streiten besonders häufig. Der Grund liegt auf der Hand und ist für
alle, die selbst Geschwister haben, leicht nachvollziehbar: Die Geschwistereifer-
sucht, auf deren Normalität u. a. Wolfgang Endres (Weinheim 4/1994, S. 106) hin-
gewiesen hat, ist allgemein verbreitet. Allerdings finden wir die darauf zurückzu-
führenden Symptome nicht nur bei Geschwistern. Auch Kinder in Kindergruppen
in Kindergarten, Schule oder Heim neigen dazu, eifersüchtig darüber zu wachen,
dass alle das „gleiche“ bekommen, niemand sich bei gemeinsamen Mahlzeiten ein
größeres Stück nimmt, als man selbst es hat. Ich denke da zum Beispiel an den
Nachtisch am Familientisch. In der Küche wurden die Portionen abgefüllt. Kommt
dann das Tablett mit den Schüsselchen auf den Tisch, misst jedes Kind - zumin-
dest mit den Augen - ob auch überall gleich viel drin ist. Unsere Geschwister da-
heim halten sogar Schokoladenriegel nebeneinander und prüfen, ob auch wirklich
jeder ein gleich langes Stück bekommen hat. Sogar bei Erwachsenen kann man
derartige, im Grunde ichbezogene Verhaltensweisen beobachten. Bei Familie Ypsi-
lon war es der Vater, der für sich das größte oder das beste Stück Fleisch, Kuchen
u.a.m. beanspruchte. Er hatte es so von seinem Vater gelernt. Und außerdem war
er der jüngste von drei Geschwistern. In der Entwicklungspsychologie spricht zum
Beispiel Anton Busemann vom Entwicklungsimpuls „Rivalität“, das ist für Luit-
gard Brem Gräser „der Kampf um das Oben sein“ 18.
Die natürliche soziale Umwelt des Kindes ist zunächst die Familie, vor allem die
Geschwisterschar. In ihr muss das Kind seinen Platz verteidigen, der ihm durch
die Altersrangfolge zugeschrieben ist. Dies ist die Vorschule aller späteren Selbst-
behauptung in der sozialen Ebene, sie prägt den sozialen Charakter meist bis ans
Lebensende. Ob man mit jener Selbstverständlichkeit Geltung beansprucht, an die
man sich als Ältester in der Geschwisterschar gewöhnte, ob man ewig selbstunsi-
cher und auf kämpferische Durchsetzung bedacht bleibt, weil man ein mittleres
Kind war, oder ob man immer fremde Hilfe und ein Gegängelt-werden erwartet,
weil man Letztkind war, das lässt sich oft noch am Erwachsenen eindeutig ablesen.
Der Platz in der Geschwisterreihe wirkt sich also aus. Jedes Kind fühlt sich durch
ein nachfolgendes Geschwisterchen aus seinen Rechten verdrängt und reagiert
darauf mit Eifersucht beziehungsweise mit Ängsten (vgl. weiter dazu unten, S. 95
f.) die sich jedoch nicht immer in Aggressionen gegen den Eindringling äußern
muss. Es gibt Kinder, die fallen in bereits überwundene frühkindliche Verhaltens-
weisen zurück, wenn sie wieder am Daumen lutschen, einnässen oder unruhiger
und widersetzlicher werden. Wenn dann noch die Eltern die Situation missverste-
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hen und das Kind bestrafen, dann fühlt es sich bestätigt in seiner Vermutung, dass
das neue Kind ihm die Liebe von den Eltern weggenommen hat. Wenn ein Kind
befürchtet, die Liebe und die Beachtung seiner Eltern zu verlieren, dann wird es
mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln um elterliche Zuwendung kämp-
fen. Und wenn das nicht durch Wohlverhalten geht, dann eben im Bösen. Aggres-
sivität und Zerstörungswut haben nicht selten darin ihre Ursachen. Und wenn die
Mutter hundertmal sagt: „Ich habe dich genau so lieb, wie deine Schwester, deinen
Bruder...“, reden nützt nicht viel. Beweise braucht das Kind.
Erstgeborene sind im Allgemeinen eifersüchtiger als Zweitgeborene und in einer
Familie mit zwei Kindern kann die Situation in dieser Beziehung zeitweise un-
günstiger sein, als in einer mit drei oder mehr Kindern. Das mittlere von drei Kin-
dern freilich kann durchaus Mühe haben, ebenso viel Beachtung zu finden, wie das
älteste oder das jüngste Kind.
Im Umgang mit Geschwistern, hier bezogen auf die Situation nach der Geburt ei-
nes Geschwisterchens, sind Eltern besonders gefordert. In dieser Phase können
wir recht wirkungsvoll die Beziehungen zwischen den Geschwistern positiv beein-
flussen, wenn wir einige Hinweise beachten:
82
4. Der Vater wird besonders wichtig.
Ist ein zweites Kind geboren, kann der Vater sich stärker dem Erstgeborenen wid-
men und auf diese Weise den Zuwendungsverlust durch die Mutter etwas ausglei-
chen. Der Vater braucht sich gar nicht sehr um seine Älteste/seinen Ältesten zu
bemühen. Sie/er kommt von ganz alleine und stellt seine Ansprüche. Darauf soll-
ten die Väter vorbereitet sein und sich einlassen wollen.
Eine hohe Sensibilität ist also von uns gefordert. Dennoch lassen sich viele in der
Geschwisterrivalität begründete Konflikte, nicht vermeiden. Wir müssen uns da-
mit abfinden und sie aushalten. Nur wenn wir die Nerven behalten, ruhig und be-
stimmt die Unterschiede leben und vertreten, die nun einmal entwicklungsbedingt
vorhanden sind, lernen die Geschwister mit den Jahren, dies auch zu akzeptieren.
Bei der Frage nach dem Umgang mit dieser Problematik im Familienalltag ist also
zunächst noch einmal darauf hinzuweisen, dass Eifersucht unter Geschwistern,
genauso wie Rivalität unter Kindern überhaupt, normal ist. Für das Einzelkind tritt
unter Umständen ein Elternteil an die Stelle eines fehlenden Geschwisterchens.
Eltern, die wissen, dass Eifersucht mit all ihren Folgen normal ist, stellen sich da-
rauf ein und betrachten eventuell auftretende Verhaltensänderungen ihres älteren
Kindes nicht als gegen sich gerichtet.
Außerdem gilt auch hier alles, was für den Umgang mit Aggressivität und Gewalt
gültig ist: Ruhe, Gelassenheit und Neutralität sind immer noch besser, als sich bei
jeder Gelegenheit einzumischen. Auch eine gemeinsame Festlegung von Regeln
und Pflichten des Zusammenlebens unter Beachtung der unterschiedlichen Alter
hat sich bewährt. Sobald wir Erwachsene uns am Geschwisterstreit beteiligen, wird
es Sieger und Verlierer unter den Geschwistern geben. Und dies wäre keine Lö-
sung, sondern nur die Wurzel neuer Konflikte. Vertrauen wir unseren Kindern,
dass sie ihre Probleme, die sie miteinander haben auch selber lösen können19. Es
ist zwar leichter gesagt als getan: „Behalte immer die Nerven!“ Nur, wenn wir sie
verlieren und dazwischenfahren, schimpfen, drohen oder gar schlagen, dann ist
das unser Problem. Verwechseln wir also nicht Ursache und Wirkung. Wenn Kin-
der sich streiten, so lautet unsere Erkenntnis, dann ist das normal. Wenn wir uns
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darüber aufregen, dann ist das eine Angelegenheit unserer eigenen nervlichen Be-
lastbarkeit in dieser Situation.
Auch dieser Abschnitt soll mit einem Erlebnis begonnen werden, über das ein El-
ternpaar berichtete.
Ohne darüber erst groß zu diskutieren, einigten die beiden Eltern Müller
sich kurz, einfach weiterzugehen und das schreiende Kind stehen zu lassen.
Sie erklärten ihr in das brüllende Gesicht hinein, wenn sie gern schreien und
stehen bleiben wolle, dann möge sie hier am Brunnen warten. Nicht ganz
freiwillig ließ sie die Hand los, an der sie ihren Vater festzuhalten suchte
und die Eltern strebten eilig hinüber unter die Arkaden. Dort, wo Herr K.
von seinem Rollstuhl aus jahraus jahrein Heftle verkauft, blieben sie hinter
einer Säule stehen, schauten zurück und beobachteten sie. Das Kind war
nicht stehen geblieben, sondern ihnen langsam nachgekommen. Sehen
konnte sie uns nicht mehr, wegen der Säule und der vielen Menschen, die
vorbeiströmten. Das Schreien war in Weinen übergegangen und Tränen lie-
fen ihr die Backen herunter. Was hat den Eltern in diesem Moment ihr Kind
leidgetan! Sie aber hielten sich noch zurück und gingen ihr nicht entgegen.
Stattdessen traten sie hinter der Säule hervor, so dass sie die Eltern sehen
konnte und warteten. Als sie sie erblickte - seit ihrem Entschluss einfach
weiterzugehen waren inzwischen keine drei Minuten vergangen - lief sie
rasch die paar Schritte zu ihnen hin und verbarg ihr Gesicht im Kleid der
Mutter und schluchzte erbärmlich. Die drei gingen gemeinsam weiter und
verloren über den Zwischenfall kein Wort mehr; weder an diesem Tag noch
an einem anderen. Eine solche Szene hat sich dann auch nicht wiederholt.
Jedenfalls nicht auf offener Straße.
Bevor wir uns der Überlegung zuwenden, ob denn das immer so klappt, wie bei
diesem Beispiel und wir es verantworten können, ein Kind einfach stehen zu lassen
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mitten im Großstadtgewühl, schauen wir erst einmal auf die Lebenssituation eines
Kindes in diesem Alter. Die Kenntnis von Lebenssituationen - also die Antwort auf
die Frage, was für ein Kind in diesem Alter entwicklungstypisch ist - ist eine wich-
tige Voraussetzung für unser erzieherisches Verhalten.
Eva reagierte, das konnte jeder Ohren- und Augenzeuge unschwer feststellen, trot-
zig. Mit Trotz bezeichneten bereits unsere Großeltern und deren Großeltern jenes
Verhalten ihrer Kinder, bei dem die Kinder nicht das tun wollten, was die Eltern
erwarteten und ihre Weigerung durch schreien, schimpfen, mit den Füßen auf den
Boden stampfen, das Spielzeug an die Wand werfen oder gar an den eigenen und
den Kleidern der Eltern herumreißen, unterstrichen. Heinz Remplein, ein Psycho-
loge, beschrieb den Trotz als die Sperre eines Kindes gegen fremden Willen (1965,
S. 247). „Es sperrt sich“, sagen auch wir, wenn unser Kind nicht so will, wie wir
wollen oder etwas unbedingt haben oder erreichen will – ertrotzen -, was wir ihm
verwehren.
Woher kommt aber nun plötzlich dieser Trotz? Unser Kind war doch bisher relativ
pflegeleicht und machte uns mehr Freude als Kummer?
Nun, einiges hat sich schon verändert. Ein Kind wird größer, entwickelt sich weiter
und ist längst kein Baby mehr. Mit zweieinhalb Jahren ist die Sprache häufig so-
weit herausgebildet, dass sich unser Kind gut verständlich machen kann. Doch
noch sagte zum Beispiel Eva „Eva“, wenn sie von sich sprach. Eines Tages aber -
und das lag vor dem Auftritt in Freiburg gar nicht solange zurück - da sagte sie
nicht mehr: „Mama, Eva möchte auch trinken“. Stattdessen sagte sie: „Ich möchte
trinken!“ Eva hat zum ersten Mal „ich“ gesagt. Eigentlich gehört dieser Moment
festgehalten. Wir müssten ihn rot im Kalender eintragen. Es ist das für uns er-
kennbare Zeichen, dass sich unser Kind als eine eigenständige Persönlichkeit ent-
deckt hat!
Doch meistens merken wir Eltern das gar nicht. Unauffällig gleitet für uns das
Kind von der dritten Person in die erste; von „Eva will, hat, kann...“ zu „ich will,
habe, kann...“. Auffällig und nicht mehr zu übersehen aber wird dieser Prozess
dann, wenn wir spüren, dass mit der Entdeckung des „Ich“ zugleich der eigene
Wille entsteht. Die Entwicklung des Ich - Bewusstseins bedeutet eine Trennung
des Kindes von der Mutter. Es erlebte sich bis zu dieser Zeit sozusagen als Teil der
anderen Menschen um sich herum, insbesondere der Mutter. Unschwer ist das an
der Tatsache nachzuweisen, dass es sich ja genauso ansprach, wie die anderen es
taten: mit dem Namen. Obwohl unser Kind das Wort „ich“ längst kannte, weil wir
Erwachsenen ja auch nicht ständig zu dem Kind sagen: „Gib Mama das...“ sondern
„Gib mir das...“, war es erst in der Lage, dieses Wort auf sich selbst anzuwenden,
als es begriff, dass es „selbst-ich“ war. Nun erst kann sich unser Kind als Zentrum
eigenen Erlebens begreifen: mir tut etwas weh, ich freue mich, ich bin traurig aber
auch: ich will etwas...
Der Psychoanalytiker Siegmund Freud ging von der Annahme aus, dass diese Er-
kenntnis, die ein Kind gleichsam von der Mutter löst, recht schmerzlich für ein
85
Kind sei und es darum besonders empfindlich reagiert. Diese Empfindlichkeit wä-
re aber umso geringer, je mehr das Kind in seinem Leben bisher erfahren hat, dass
die Mutter es liebe und berge und immer da war, wenn es sie brauchte, so dass das
Kind keine Verlassenheitsängste entwickelte.
Und noch eine Einsicht gehört hierher. Rudolf Dreikurs (z. B.: Freiburg 11/1994, S.
17), hat in seinen Forschungen nachgewiesen und wie das bereits erwähnt wurde,
dass jeder Mensch danach strebt, in einer sozialen Gruppe, also zum Beispiel in
der Familie, geborgen zu sein, angenommen zu sein, etwas zu gelten, Macht und
Einfluss zu haben. Mit diesem Streben nach Geltung, Einfluss und Macht lassen
sich recht gut die uns provozierenden, gleichsam einen „Machtkampf“ herausfor-
dernden Verhaltensweisen unseres Kindes deuten. Ulrich Diekmeyer (Hamburg
1992, S. 108 ff) hat eine weitere Erklärung gefunden. Er schreibt, dass unser Kind
eigentlich schon immer trotzig war und zum Beispiel bereits als Säugling krebsrot
wurde und aus Leibeskräften schrie, wenn es sich unbehaglich fühlte. Nur war –
und das deuteten ja bereits das Beispiel oben (S. 63) bereits an - in den früheren
Entwicklungsphasen das Bewusstsein noch nicht beteiligt und wir Eltern haben
dieses Verhalten noch nicht als Trotz empfunden. Erst in dem Maße, in dem wir
selbst auf die Wünsche des Kindes achteten, ihm zuhörten, wenn es uns sagte, was
es will oder was es nicht will, lernte unser Kind zu versuchen, uns gegenüber sei-
nen Willen durchzusetzen.
In dieser Zeit, in der sich in unseren Kindern dieser Wandel vollzieht, beginnt die
Herausbildung des Gewissens: Nun erst wird unser Kind begreifen lernen, was Gut
und Böse ist, wenn es über die Begegnung mit den Eltern und anderen Menschen
erfährt, wann es mit seinem Tun und Lassen auf Anerkennung oder Ablehnung
stößt. Es ist dem Kind so nicht bewusst, aber es erkundet seine Grenzen und fragt
uns gleichsam durch sein Verhalten: „Wieweit kann ich gehen? Was darf ich? Was
darf ich nicht?“ Und unser Kind will und braucht auf alle seine Fragen, die es über
sein Verhalten an uns richtet, eine klärende normsetzende Antwort!
Eine andere Erfahrung illustriert, wie derartige Antworten aussehen und was sich
hinter unserem Elternverhalten für Motive verbergen können.
Hans, ein stolzer Vater einer fast dreijährigen Tochter, bekam kürzlich beinahe
Streit mit seiner Frau. Er hatte mit der Tochter auf der Terrasse gespielt. 17,30
Uhr aber - so ist es in dieser Familie an arbeitsfreien Tagen üblich - bereiten
sich alle aufs Abendessen vor. Bisher hat das auch stets geklappt und Karla ist
brav mit ins Bad gegangen, um sich die Hände zu waschen und ist dann auf
ihr Stühlchen am Esstisch geklettert. Doch an diesem Abend wollte Karla nicht
mit hinein. Sie weigerte sich, wollte weiterspielen und auf alles Zureden ant-
wortete sie mit zornigem und immer lauter werdendem Gebrüll. Hans, der an
Karla herumzerrte und sie reinziehen wollte, hätte seiner Tochter eine kräftige
Ohrfeige gegeben, wenn seine Frau nicht hinzugekommen wäre: „So geht das
nicht“, sagte sie. „Lass das Kind dort stehen und komme rein! Wir essen.“ Und
so geschah es auch. Nachdem die Mutter dem Kind in aller Ruhe und Gelas-
senheit und ohne jede Ironie in der Stimme erklärt hatte, dass es nur draußen
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bleiben und weiterschreien solle, hörte das Gebrüll rasch auf als Karla tatsäch-
lich draußen auf der Terrasse alleine stand und durchs Fenster sah, wie die El-
tern ohne sie anfingen, zu essen. Bald darauf kam das Kind, ging sich die Hän-
de waschen und kletterte auf sein Stühlchen und alles war vorbei. Auf dem Ge-
sicht des Kindes schien wieder die Sonne.
Eine Antwort haben sowohl Eva als auch Karla erhalten, als sie erfuhren, dass der
von ihnen lauthals demonstrierte Durchsetzungswille nicht die erwünschten Fol-
gen hatte. Beide Kinder vermochten es nicht, den Eltern ihren Willen aufzuzwin-
gen. Hans erklärte in einem anschließenden Gespräch, dass er dem Kind einen
„Klaps“ gegeben hätte, weil es doch nicht sein dürfe, dass ein Kind seinem Vater
vorschreibe, was er tun oder lassen solle oder gar, dass es selbst machen könne,
was es wolle. „Das wird ja total verzogen, wenn man es nicht frühzeitig spüren
lässt, dass es so nicht geht. Und außerdem, setzte er hinzu, wäre es ja noch schö-
ner, wenn das Kind dem Vater seinen Willen aufzwänge.
Und genau mit dieser Bemerkung zeigt der Vater sein wahres Gesicht. Es ging un-
serem Vater Hans nicht allein um die Sorge, dass sein Kind verzogen werden
könnte. Ihm ging es auch um die „Machtfrage“. Ohne dass er es in dem Moment so
gedacht hatte, wollte er seinem Kind seinen Willen aufzwingen. Es ging ihm dabei
gar nicht allein, vielleicht nicht einmal in erster Linie, um sein Kind, sondern um
seine Rolle als Vater und Hausherr. Der hat zu bestimmen, wo es lang geht - allein
darum, weil er zu bestimmen hat und allein weiß, was gut und richtig ist.
Das Kind wollte erfahren, was es darf und was nicht. Wenn die Antwort aber heißt,
du darfst keinen eigenen Willen haben – nur ich entscheide, weil ich dein Vater /
deine Mutter bin! Und wenn du dich nicht fügst, dann werde ich dich zwingen!“ -
dann wird die kleine Karla sich am Ende fügen, weil und solange sie tatsächlich
kleiner und schwächer ist. Sie wird aber nicht verstehen und schon gar nicht ein-
sehen können, dass es um sie selbst und darum geht, ihr zu helfen, frühzeitig zu
lernen, dass man nicht mit dem Kopf durch die Wand kann. Und ein Gefühl der
Niederlage, der Ohnmacht wird sich in das Kind einschleichen. Wenn die Eltern
sich stets in dieser Art und Weise durchsetzen, wird es sich anpassen - weil es
Angst hat vor Strafe, Gewalt und Liebesentzug - sich aber als Persönlichkeit abge-
lehnt fühlen. Und immer wieder aufs Neue wird das Kind eine derartige Situation,
in der es um Sieg oder Niederlage geht, heraufbeschwören und die Liebe seiner
Eltern auf die Probe stellen. Im schlimmsten Falle kommt am Ende ein Duckmäu-
ser oder ein Gewalttäter dabei heraus.
So wie dem Vater in unserem Beispiel ging es, folgen wir Dreikurs, auch der klei-
nen Karla um ihren Einfluss, ihre Macht. Wenn sich aber Mütter und Väter auf
diesen Machtkampf einlassen, müssen sie nicht immer - um den Preis der Gefahr
einer Fehlentwicklung des Kindes - einen Sieg erringen. Wenn ein Kind erlebt hat,
dass es mit Hilfe seines Trotzes oder anderer, die elterliche Aufmerksamkeit her-
ausfordernder Verhaltensweisen Beachtung und Zuwendung erfährt, wird es diese
seine „Macht“ über die Eltern, immer wieder einsetzen.
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Es geht aber dem Kind nicht darum, sich seine Eltern zum Feinde zu machen. „El-
tern und Kinder - Freunde oder Feinde?“ fragen Rudolf Dreikurs und Erik Blu-
menthal im Titel eines Buches (Stuttgart 1973) ; denn es ist keineswegs selbstver-
ständlich, dass Kinder ihre Eltern lieb behalten. Wenn Eltern den eigenen Willen
ihres Kindes brechen wollen, dann dürfen sie sich nicht wundern, wenn sich Ag-
gressivität und Gewalt ihrer Kinder am Ende gegen sie selber richtet. Das aber will
das Kind gerade nicht! Es will - und hat einen Anspruch darauf, so hieß es bereits
oben, von seinen Eltern eine Antwort zu erhalten auf die Fragen:
Wieweit darf/kann ich gehen?
Was darf/kann ich den anderen zumuten?
Wo sind meine Grenzen?
Es kommt also darauf an, unserem Kind in einer derartig kritischen Situation in
der richtigen Art und Weise zu antworten. Was aber ist richtig?
Schieben wir vor die Antwort auf diese Frage noch einige Informationen: Wenn
wir das von uns als trotzig empfundene Verhalten unseres Kindes gleichsam als
„Auskunftsverhalten“ auffassen müssen, dann ist damit bereits geklärt, dass uns
unser Kind nicht ärgern will. Es verweigert sich also nicht oder versucht seinen
Willen durchzusetzen, damit wir dann zornig werden. Auf diesen Gedanken
kommt unser Kind zunächst gar nicht!
Natürlich - und dieser Impuls ist unserem Kind ebenso wenig bewusst, wie jener,
den wir als „Wunsch nach einer klärenden Antwort“ kennen gelernt haben - ist
dem Kind in dieser Phase zeitweilig sehr unbequem, sich den Wünschen und Vor-
stellungen der Erwachsenen oder der älteren Geschwister fügen zu müssen. Es hat
ja begonnen, sich von der Mutter zu lösen. Also möchte es sich auch gern aus jeder
„Fremdbestimmung“ lösen. Wenn wir das, was in dem Kind vorgeht, in unsere
Erwachsenensprache übersetzen, dann müssten wir sagen: das Kind lehnt sich auf
gegen jeden fremden Willen; es möchte selbst über sich bestimmen. Insofern lebt
es also in einem Widerspruch: Einerseits braucht es Gewissheiten darüber, was es
in unserer Kultur tun und lassen soll. Andererseits strebt es nach völliger Unab-
hängigkeit aus fremder Bevormundung.
Und schließlich möchte sich das Kind Einfluss sichern und beachtet werden. Wie
jeder von uns möchte es „jemand“ sein und in seiner Gruppe etwas gelten.
Dies aber kann es noch nicht denken. Wir Erwachsenen können das und tun das
auch. Leiden wir zum Beispiel nicht darunter, dass uns bestimmte Vorgesetzte
herumkommandieren? Möchten nicht auch wir lieber selbst an unserem Arbeits-
platz entscheiden, was gut und richtig ist und reagieren wir nicht mit Abwehr und
Trotz, wenn andauernd jemand kommt, der über uns bestimmen will?
Leiden nicht auch wir darunter, wenn wir das Gefühl haben, dass unser Wort, un-
sere Meinungen und Erfahrungen in unserer Gruppe, sei es in Familie, Verein oder
am Arbeitsplatz, nichts gelten und wir den Eindruck haben, nicht so beachtet zu
werden, wie wir meinen, dass wir es wert sind?
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Während wir in derartigen Situationen genau wissen, woher unsere „schlechte
Laune“ kommt, kann sich unser Kind noch keine Rechenschaft darüber ablegen,
warum es jetzt trotzig wird. Und damit zugleich die zweite wichtige Information,
die eigentlich überflüssig ist, aber dennoch erwähnt werden soll: unser Kind denkt
noch nicht rückblickend oder vorausschauend in den Ursache-Wirkungs-
Zusammenhängen wie wir. Es plant also sein Verhalten nicht und überlegt sich
nicht zum Beispiel: heute fahren wir in die Stadt; dort werde ich meine Eltern
tüchtig plagen und ihnen meinen Willen aufzwingen. Mal sehen, wer hier der Stär-
kere ist .
So etwas können wir Erwachsenen uns vorstellen und vornehmen. Keineswegs
aber ein dreijähriges Kind. „So ein Unsinn“, werden Sie sagen, liebe Leserin, lieber
Leser, „das versteht sich doch von selbst. Ein Kind handelt vielfach spontan aus
einer plötzlichen Eingebung, einer Laune, einem Gefühl heraus“. Richtig!
Wir Eltern aber tun in derartigen Situationen so, als richte sich das Verhalten des
Kindes gegen uns und nicht als Frage an uns.
Und an noch etwas ebenso Selbstverständliches sollten wir uns erinnern: Unser
dreijähriges Kind hat noch keine Ausdauer. So rasch, wie ein Gedanke, ein Wunsch
aufleuchtet, so rasch erlischt er wieder. Wir gehen mit dem Kind zum Einkaufen,
weil wir daheim gesehen haben, dass das Brot zur Neige geht. Unser Kind wird im
Regelfalle aber erst dann etwas haben wollen, wenn es das sieht. Werbepsycholo-
gen haben darum auch das Süßigkeiten Angebot an die Kasse und auf Augen- und
Greifhöhe von Kindern stellen lassen. Vor einhundert Jahren schon stand genau
aus diesem Grund das Glas mit den Bonbons auf der Theke des Lebensmittella-
dens. Und es lässt sich hinzufügen „aus den Augen, aus dem Sinn“. Denn wenn es
uns gelingt, unser Kind an dieser Verführung vorbeizulotsen und es abzulenken,
wird es bald aufhören zu quengeln und uns zu drängen, das zu kaufen, was wir
nicht kaufen wollten. Oder denken wir an eine andere Erfahrung mit unserem
kleinen Kind: Soeben noch weint es zum Gotterbarmen, weil es hingefallen ist.
Doch rasch lässt es sich trösten und kann bald wieder lächeln, auch wenn der
Schmerz noch nicht vorüber ist. An uns Eltern und Erzieher richtet sich in den Le-
bensphasen eines Kindes ab drei Jahren geradezu die Aufforderung, unser Kind
allmählich zu Ausdauer und Konzentration zu führen, weil es beide Eigenschaften
erst erwerben muss. Folglich wird es sich auch schnell aus seiner Verstrickung
lösen, in die es durch den plötzlichen Trotz hineingetrieben worden ist, wenn wir
Eltern es nicht noch tiefer hineintreiben. Auch hierzu ein Beispiel:
Frau Richter erzählt von ihrem David, der sie in dieser Entwicklungsphase in
einer Bäckerei in Verlegenheit gebracht hatte. Weil er nicht bekam, was er
wollte: „Mama, ich will diesen Kuchen!“, verließ er den Laden nicht, sondern
setzte sich unmittelbar hinter die Eingangstür mitten auf den Fußboden. Da
die Tür mit einer automatischen Öffnung versehen war, ging sie nicht mehr zu.
In dieser offenen Tür hockte das Kind und schrie aus Leibeskräften. Je nach
der persönlichen Einstellung zu Kindern und Kindererziehung lachten oder
murrten die Kunden, die ein- und ausgingen. „Ganz gleich, was ich gemacht
hätte, die anderen hätten was auszusetzen gehabt“, meinte Frau Richter. „Hät-
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te ich David mit Gewalt von der Türe weggeholt oder gar geschlagen, hätten
sich die einen empört. Wenn ich ihm seinen Wunsch erfüllt hätte, hätte ich mir
auch kritische Bemerkungen anhören müssen. Also machte ich gar nichts. Ich
stand draußen vor dem Schaufenster und wartete. Es dauerte keine fünf Minu-
ten und mein David hörte auf zu schreien, stand auf und kam zu mir. Wir gin-
gen weiter und David zeigte mir einen Traktor, der dahinten um die Ecke
fuhr.“
Unser Kind will also weder trotzig noch „böse“ sein. Jedes Kind muss einfach seine
Einflussmöglichkeiten ausloten, erproben, was es wie erreichen kann. Denn es ge-
hört zur natürlichen Entwicklung von Menschenkindern nun einmal immer und
überall dazu, dass sie in dieser Phase ihr Ich durchzusetzen suchen, dass sie etwas
gelten wollen, dass sie etwas haben und besitzen wollen, als mein Eigentum, das
nur mir gehört, dass ihr Bedürfnis nach Macht und Einfluss geboren wird. Das
sind wichtige innerseelische Antriebe in dieser Zeit und keine bewusst eingesetzten
Strategien, um etwas zu erreichen oder gar um uns zu tyrannisieren.
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es viele verschiedene geben. Sie lassen sich nicht voraussehen und planen. Wir
können aber nichts verderben, wenn es uns gelingt,
Eva Madelung schildert in ihrem Buch über den Trotz (München 1989) etliche Si-
tuationen, die uns sehr anschaulich die Folgen unseres Verhaltens den Kindern
gegenüber vor Augen führen. Wir sollten im Grunde immer das Kind seine selbst
verursachte Misere spüren lassen aus der es dann ganz schnell wieder heraus-
kommen will. Und zwar allein:
„Wenn Du nicht weitergehen willst, weil Du Dir das Schaufenster noch anschauen
möchtest, erklären in diesem Büchlein Eltern ihrem trotzigen Kind, dann bleibe
hier. Wir müssen weitergehen und holen Dich später wieder ab...“
Natürlich bleibt das Kind nicht stehen. Wenn es den Eltern wirklich ernst ist und
sie tatsächlich weitergehen, wie die Eltern von Eva in unserem ersten Beispiel,
dann erkennt das Kind von alleine, das es zu weit gegangen ist. Und weil Eltern,
die konsequent genug sind, wissen, dass sich ihr Kind aus dieser Erfahrung einen
„Witz gekauft“ hat, brauchen sie hinterher gar nicht mehr darüber zu reden. Das
Kind wird sich, wenn der Trotz abgeklungen ist, wieder an uns schmiegen - und
alles ist wieder gut. Bis zum nächsten Mal.
Bei einigen Kindern aber gibt es gar kein nächstes Mal. Da reicht eine Erfahrung
aus und sie trotzen nicht mehr. Bei anderen dauert es noch lange und gelegentlich
haben wir dann den Eindruck, dass der Eigensinn unseres Kindes unendlich groß
ist. Tatsächlich erleben wir das gleiche in verschärfter Form in der zweiten Lö-
sungsphase, in der Pubertät, wieder. Sie beginnt bei Mädchen um das zehnte, bei
Jungen um das zwölfte Lebensjahr. Nur in dieser Phase können unsere Mädchen
und Jungen denken; da ist ihnen - zumindest nach einem trotzigen Willensimpuls
- sehr klar, um was es geht. Nun geht es nicht mehr allein um die elterlichen Reak-
tionen allein. Nun geht es auch um überzeugende Begründungen. Jetzt sind nicht
überwiegend die Gefühle im Spiel. Nun kommt auch der Kopf hinzu: Wissen und
Denken, Planen und vorausschauendes Handeln. Hier sind wir Eltern in besonde-
rer Weise gefordert. Uns fallen aber die erzieherischen Aufgaben in dieser Ent-
wicklungsphase leichter und die zu erwartenden Konflikte werden keine so tiefen
Wunden in die Beziehungen zwischen uns und unsere Kinder schlagen, wenn sie in
der ersten Lösungsphase erfahren haben, dass es uns nicht um Macht und Herr-
schaft über unser Kind geht und dass wir die Persönlichkeit unseres Kindes stets
respektiert und geachtet haben auch dann - und gerade dann - wenn es uns am
meisten nervte.
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4
Über die Ängste von Kindern
Einführung
Angst gehört zum Wesen des Menschen und begleitet unser ganzes Leben. Von den
vielen Ängsten, die uns mal mehr mal weniger zu schaffen machen, sind die, die mit
der kindlichen Entwicklung verbunden sind, die prägendsten. Die analytische Psy-
chologie, denken wir an Siegmund Freud, C. G. Jung oder Alfred Adler, hat sich mit
dieser Erscheinung ebenso befasst wie andere Richtungen in den Humanwissen-
schaften. Darum wissen wir auch, dass Angst eigentlich etwas ganz Normales ist. Sie
dient uns mit ihren körperlichen Erscheinungen wie Herzklopfen, feuchte Hände,
weiche Knie, Zittern oder Magenbeschwerden und warnt uns vor Gefahren. Sofern
wir in entsprechenden Situationen nicht vor Angst „wie gelähmt sind“, tragen Angs-
terregungen dazu bei, uns vor Gefährdungen zu schützen, realen Gefahren zu begeg-
nen. Bei einer Wanderung in den Bergen zum Beispiel kann es uns durchaus passie-
ren, dass wir, weil der Weg an einem Abgrund vorbeiführt, nicht mehr weitergehen
können. Wir müssen dann selbst wissen, ob und wie wir in dieser Situation die Angst
überwinden und sicher weitergehen können oder aber umkehren müssen.
Im Leben haben wir uns immer wieder derartigen angstauslösenden Situationen zu
stellen. Denkbare Beispiele können weiter sein: uns bellt ein fremder Hund an, wir
befinden uns in einer fremden Stadt oder in einer Tiefgarage20.
Es gibt aber auch Ängste, die sich nicht auf derartige konkrete Objekte oder Situatio-
nen beziehen, sondern eher grundsätzlicher Natur sind. Sie haben ihre Ursachen in
der Bedrohung von Grundlagen unserer Existenz wie Krankheit und Tod oder Krieg
und Zerstörung unserer Lebensgrundlagen.
Endlich kennen wir eine Gruppe von Ängsten, die nicht weniger elementar sind und
sich eher auf das Zusammenleben mit unseren Mitmenschen beziehen beziehungs-
weise auf die sozialen Dimensionen unserer Existenz. Zu denken ist an Verlassen-
heits- und Trennungsängste, Ängste, von den anderen Menschen abgelehnt zu wer-
den, sich nicht behaupten zu können oder zu versagen. Wenn wir diese Angstformen
prüfen, dann erkennen wir den Zusammenhang mit den Bedürfnissen, die wir im
ersten Kapitel erwähnten: Je mehr wir das Gefühl haben, dass Grundbedürfnisse
nicht befriedigt werden, umso größer die jeweiligen Ängste.
Die Verlassenheitsangst
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lung lässt sich die Angst vor dem Verlassen werden erkennen. Allein aus der Tatsa-
che, dass ein Kind, um sich dereinst lösen und selbständig werden zu können, sich
in der ersten Lebensmonaten an seine Mutter oder eine andere Bezugsperson
„binden“ können muss, ist diese Urangst erklärlich.
Ein Kind, das in der Sicherheit und Verlässlichkeit elterlicher Zuwendung heran-
wächst, wird sich unbefangen und wenig ängstlich seine Umwelt aneignen. Hierzu
ist geforscht worden. Sie können das folgende harmlose Experiment daheim aus-
probieren. Wenn sie ihrem sieben oder acht Monate alten Kind Gesellschaft leis-
ten, während es unbekümmert - vielleicht im Wohnzimmer auf einer Decke sit-
zend - spielt, dann dürfen sie sich mit etwas anderem beschäftigen ohne dass sich
das Kind in seinem Spiel stören lässt. Vielleicht will es gelegentlich der Mutter et-
was zeigen und macht auf sich aufmerksam. Wenn die Mutter aber den Raum ver-
lässt, wird es nicht lange dauern und das Kind spielt nicht mehr weiter. Wenn die
Mutter nicht wiederkommt, wird es über kurz oder lang anfangen zu weinen. Dann
ist es höchste Zeit, wieder zum Kind zurückzugehen. Ein Kind ist in dieser Lebens-
phase also nur in dem Ausmaß frei und aktiv, in dem es sich beschützt und gebor-
gen weiß. Wird es in solchen Situationen und in diesem Alter allein gelassen, wird
es vor Angst "wie gelähmt" sein und sein Spiel- und Erkundungsverhalten einstel-
len. Einige solcher Erfahrungen genügen und das Kind geht der Mutter nicht mehr
vom Rockzipfel. Je mehr wir es dann wegschieben wollen: nun spiel endlich mal
allein! umso mehr wird in ihm die Vorstellung genährt, wir wollten es nicht mehr
haben. Darum nehmen wir diese Ängste ernst und tun sie nicht als „kindisch“ bei-
seite.
Ob das Weinen des kleinen Kindes, das noch nicht laufen kann und in seinem Bett-
chen liegt ein Zeichen dafür ist, dass es Hunger und Durst hat, oder eine Unmutsäu-
ßerung darüber, dass die Mutter nicht mehr da ist oder Verlassenheitsangst, das hört
die Mutter an der Art des Weinens.
Besonders wichtig ist dieses Signal nachts oder abends. Oft fragen wir uns "Soll/darf
man ein Kind allein lassen?". Die Antwort lautet: "Ja, aber nur wenn wir dann auch
wieder da sind, wenn das Kind uns braucht". Da wir aber bei einem Säugling zum
Beispiel vorher nicht genau wissen können, wann wir gebraucht werden, bleiben wir
besser daheim, wenn niemand zur Verfügung steht, den das Kind kennt und dem es
ebenfalls vertraut. Wie es sonst nachts gehalten wird, ob Eltern ihr Kind zu sich ins
Zimmer nehmen oder später, wenn es laufen kann, zu sich ins Bett kommen lassen,
das müssen Eltern für sich selbst entscheiden. Wenn immer aber ein Kind in der
Nacht Angst bekommt und nach uns ruft, dann darf es nicht sich selbst und seinen
Ängsten überlassen bleiben. Dies ist die Zuwendung, die unser Kind braucht, um sich
geborgen und sicher zu fühlen.
Die Ängste von Kindern sind andere Ängste als unsere. Wir Erwachsenen können
uns selbst Angst machen, wenn wir uns zum Beispiel ausmalen: „was wäre, wenn ...“.
Die Ursachen der Ängste von Kindern sind uns vielfach verborgen und auch die Kin-
der selbst können sie kaum benennen. Verlieren können sie die Ängste aber nur mit
unserer Hilfe. Wir lassen darum ein Kind erst dann bei Tag und Nacht und nur so
lange allein, wenn und wie lange es das Alleinsein von seiner Entwicklung her auch
wirklich gut verkraftet.
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Von der Angst, nicht beachtet zu werden
Eng verwandt mit der Angst, verlassen zu werden, ist die Angst, übersehen zu wer-
den. Unsere Phantasie reicht sicher aus, uns vorzustellen, wie groß unsere Panik
wäre, wenn uns kein Mensch in unserer Umgebung mehr wahrnähme. Nichtbe-
achtung widerspricht dem natürlichen Streben nach Geltung, also danach; aner-
kannt, gemocht oder gar geliebt zu werden. Das Geltungsstreben, so sieht es Alfred
Adler (Frankfurt/M 1981, S. 170) ist die Kraft in uns, die in ständigem Kampf mit
unserem Minderwertigkeitsgefühl liegt. In dem Ausmaß, in dem das Minderwer-
tigkeitsgefühl die Oberhand gewinnt, nimmt unsere Ängstlichkeit zu. Darum auch
birgt zum Beispiel die Strategie, einen anderen Menschen oder gar ein Kind mit
Nichtbeachtung (nicht mehr mit ihm sprechen, wegschauen u. ä.) bestrafen zu
wollen, die Gefahr seelischer Beschädigung des Betreffenden, die umso größer ist,
je geringer sein Selbstwertgefühl ist. Und weil sich bei unseren Kindern das
Selbstwertgefühl erst allmählich entwickelt, will es durch uns gehegt und gepflegt
werden. Nichtbeachtung oder die Haltung, du bist ja nur ein Kind werde erst mal
erwachsen, dann kannst du mitreden, beschädigt die Herausbildung eines gesun-
den Selbstwertgefühls. Eine derartige Nichtbeachtung oder Missachtung führt zu
Minderwertigkeitsgefühlen und den sie begleitenden Unterlegenheitsängsten.
Das was hier angesprochen ist, erleben wir zum Beispiel auch im Verhältnis von Ge-
schwistern zu ihren Eltern. Hinter den Aggressionen oder Machtkämpfen, die zum
Beispiel ältere Kinder nach der Geburt eines Geschwisterchens früher oder später
mit der Mutter beginnen können, verbirgt sich die Angst, für die Mutter nichts mehr,
oder weniger als vorher, zu bedeuten beziehungsweise zu gelten. Im Extremfall lässt
das Kind auch mal die Äußerung fallen: „Du hast mich nicht mehr lieb“ und lüftet
damit ein Stück den Mantel hinter dem sich seine Ängste verbergen. Mit der Bemer-
kung, dass das Kind Unsinn daher schwätzt oder mit der Beteuerung, dass man alle
seine Kinder gleich lieb habe, ist das Problem nicht vom Tisch. Wir sollten die Ängste
unseres Kindes ernst nehmen und nach Ausgleich suchen und alles vermeiden, was
die Rivalität der Kinder untereinander verstärken könnte (vgl. dazu auch oben die
Ausführungen über den Streit unter Geschwistern!). Die Ängste aber werden sich
erst verlieren, wir sagen: wenn sein Selbstwertgefühl entwickelt ist. Wenn das Kind
aus sich heraus und für sich selbst seinen „Wert“ erkennt. Der Weg dahin ist mit viele
Provokationen gepflastert, die unsere Liebesfähigkeit, unsere Geduld und unsere
Nerven auf die Probe stellen.
Am Beispiel unserer Ängste lässt sich recht gut erkennen, wie alle Elemente unserer
Existenz miteinander verwoben sind und einander beeinflussen. Ein Kind, in dem
große Verlassenheitsängste lebendig sind, wird Probleme mit seinem Selbstwertge-
fühl haben und damit wiederum gekoppelt kann die Angst sein, den Anforderungen,
die von außen kommen, nicht gewachsen zu sein. Oder wie wir zu sagen pflegen: Die
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Angst zu versagen. Es kränkt uns zutiefst - und ist von unserem Nächsten auch so
gemeint - wenn sie/er zu uns sagt: „Du bist ein Versager.“
Eine derartige Feststellung löst bei uns Erwachsenen Angst und - je nach Tempera-
ment oder Charakter - Depressionen oder Aggressionen aus. Bei unseren Kindern
wirken sich Versagenserlebnisse ähnlich aus.
Knüpfen wir zum Beispiel an die Empfehlung an, sich für die Arbeitsergebnisse unse-
rer Kinder zu interessieren, wie es im Kapitel über die Bedürfnisse erläutert wurde.
Kinder, die nicht erleben, dass Ihre „Leistungen“ - und dazu gehört zuerst und vor
allem das Bemühen! - auf Interesse stoßen oder gar anerkannt werden, strengen sich
nicht mehr an. Mit der Zeit verlieren sie die Lust, sich zu bemühen. Und wenn dann
etwas nicht gleich klappt, heißt es rasch: „Das kann ich nicht“. Die Anerkennung und
das Interesse an kindlichem Leistungsstreben durch jene Personen, die für ein Kind
wichtig sind, sind eine bedeutsame Quelle der Leistungsmotivation, die in Schule
und Beruf gebraucht wird.
Mäkeln wir aber ständig an dem herum, was unser Kind als Ergebnis seiner Anstren-
gungen vorweist oder schimpfen und strafen sogar, wird es am Ende resignieren und
in seinem Verhalten zeigen, dass ja „alles keinen Zweck“ hat. Angst und Resignation
sind Geschwister und wer sich über Leistungen die Anerkennung und Geltung nicht
verschaffen kann, die doch zum Leben gehören, sucht nach Ausgleich. Verweigerun-
gen, Aggressionen gegen andere Menschen oder Sachen und am Ende Aggressionen
gegen sich selbst vom Einstieg in die Sucht bis zum Selbstmord können dann die
Folgen sein.
Auch Strafen, also Reaktionen von Erzieherinnen und Erziehern, Eltern oder
Lehrerinnen und Lehrern, die als Strafe beabsichtigt waren und auch so vom
betreffenden Kind erlebt wurden, erreichen nur selten den beabsichtigten Effekt.
Vielleicht entlasten sie für einen Moment die Situation. Doch eine andauernde
Verhaltensänderung, die obendrein noch auf einer Einsicht des Kindes beruht: „das
war jetzt falsch, das darf ich so nicht machen“, ist kaum zu erwarten.
Vor allem angstauslösende Erlebnisse im Zusammenhang mit Leistungserwar-
tungen, die an uns herangetragen werden, können zu ausweichenden
Verhaltensweisen führen.
Friedhelm besucht die Vorschule. Obwohl er das einzige Kind seiner sehr um ihn
besorgten Eltern ist, war er zum Zeitpunkt der Einschulung noch nicht schulreif.
Ihm mangelte es an der Fähigkeit, sich in einer Gruppe sozial angemessen zu
verhalten. Im Kindergarten befand er sich stets in Rivalitätskonflikten, die er mit
Gewalt zu lösen suchte. Nun sollte er in der Vorschule noch etwas Zeit erhalten.
Vielleicht verlieren sich die Aggressionen, hofften Eltern und Lehrer.
Auf dem täglichen Weg zur Vorschule hin aber begegneten Friedhelm andere
Schulkinder. Einige von diesen, die nun schon in der ersten Klasse waren,
hänselten ihn. Da diese Kinder stärker und außerdem in der Überzahl waren,
vermied Friedhelm es, ihnen zu begegnen. Er machte einen Umweg. Dort auch
traf ihn seine Mutter eines Tages und fand heraus, warum er diesen, von ihr
verbotenen Weg entlang einer verkehrsreichen Straße bevorzugte. Nun hatte sie
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auch eine Erklärung dafür, dass seine aggressiven Ausbrüche daheim und in der
Vorschule eher zu- als abgenommen hatten. Denn die Angst und Wut
auslösenden Begegnungen mit den anderen Kindern musste Friedhelm
irgendwie verarbeiten. Ihm stand zur Verarbeitung nur seine ihm vertraute
Strategie, selbst gewalttätig zu sein, zur Verfügung. Damit wiederum löste er
strafende Erzieherreaktionen aus. Es vergrößerten sich Frust und Angst und
verbanden sich in der Seele des Kindes eng mit den Erwartungen der
Erwachsenen an ihn, Leistung zu zeigen und sich angepasst zu verhalten...
Diesen Teufelskreis können allein die Erwachsenen durchbrechen. Ein Kind findet
schon darum nicht heraus, weil ihm Ursache und Wirkung nicht bewusst werden.
Nicht einmal die Tatsache, dass Friedhelm selbst die Hänselei seiner ehemaligen
Kindergartengefährten durch sein aggressives Verhalten verursacht hatte, die sich
nun, Monate später, dafür „rächen“, könnte er erkennen. Und Bemerkungen von
Seiten der Eltern wie, „siehst du nun, was du davon hast“ oder „bist selbst schuld“
würden die Ängste des Jungen nur vergrößern. Stattdessen wäre Verständnis,
guter Zuspruch und viel Zuwendung, Zärtlichkeit und Zeit eher geeignet,
Friedhelm aus seinen Verstrickungen herauszuhelfen. Das erfordert von den
Eltern viel Kraft und Geduld. Insofern, und das war in unserem Beispiel auch der
Fall, brauchten die Eltern und die Lehrerin Hilfen für sich, um dieser Aufgabe,
Friedhelm aus seinen Ängsten herauszuhelfen, über einen längeren Zeitraum
hinweg gewachsen zu sein.
Die Angst auch künftig zu versagen, die Angst die Zuneigung der Eltern zu verlieren
und die reale Angst vor anderen Kindern, kamen in unserem Beispiel zusammen.
Dass Leistungsschwächen weniger ein Zeichen mangelnder Fähigkeiten als vielmehr
die Folgen von Entmutigungen und Ängsten sind, ist vielfach belegt worden.
Jeder, der schon einmal vor einer Prüfung gestanden hat, wird nun entgegenhalten,
dass Angst nicht immer zu Versagen führt. Prüfungs- und Leistungsängste begleiten
unser Leben zwangsläufig ebenso, wie alle anderen Formen der Angst. Doch nur im
Ausnahmefalle sind Prüfungskandidaten in entsprechenden Situationen „vor Angst
wie gelähmt“ und bringen kein Wort heraus. In den meisten Fällen „vergessen“ die
Prüflinge ihre Angst sehr rasch, die Erregung klingt ab und sie sind wieder voll
handlungsfähig. Wer freilich unter diesen Prüfungsängsten besonders gelitten hat
und sich für seine Ängste sozusagen „vor sich selber schämt“ oder gar Angst kriegt
vor der Angst, wird derartige Situationen zu vermeiden suchen und Prüfungen, wann
immer es geht, aus dem Wege gehen. Die Ängste aber bleiben. Stärke und
Auswirkungen derartiger Prüfungsängste sind nicht zuletzt abhängig von den
bisherigen Lebenserfahrungen. Auch hierzu ein Beispiel:
Ernst war in der Schule ein guter Schüler. Er blieb auch in seiner
Berufsausbildung vor allem in den theoretischen Fächern ein Musterschüler.
Seine Abschlussprüfungen bestand er mit sehr gutem Erfolg. Vor den Prüfungen
hatte er zwar „Lampenfieber“, aber keine Angst zu versagen.
Im gleichen Lebensabschnitt, in den die Berufsabschlussprüfungen fielen,
besuchte er eine Fahrschule. Ernst aber war daheim überbehütet
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herangewachsen. Seine Mutter hatte ihm zum Beispiel nicht erlaubt, mit anderen
Kindern ins Schwimmbad zu gehen; er konnte also nicht schwimmen. Wenn
immer er Fahrrad fahren wollte, waren es die Eltern, die Panik machten und
ihm einredeten, dass er zu unsicher sei und im Verkehr gefährdet. „Der Junge ist
ja so unpraktisch“ erzählten sie jedem und redeten das auch ihrem Sohn ein. Als
er sich bei der Fahrschule anmeldete, rieten ihm die Eltern ab: „das schaffst du
sowieso nicht“.
Je näher der Prüfungstag heranrückte, umso höher stieg die Angst in Ernst hoch.
Am Vorabend der Prüfung bekam er Fieber. Die Prüfung wurde ausgesetzt. Beim
nächsten Termin erging es ihm nicht viel besser. Immerhin trat er an, schaffte
die theoretische Prüfung locker und fiel in der praktischen Prüfung durch. Auch
die Wiederholungsprüfung verpatzte er. Da gab er auf. Erst zehn Jahre später,
längst stand er auf eigenen Füßen und kannte sich und seine Möglichkeiten und
Grenzen besser und konnte vor allem mit seinen Ängsten umgehen, versuchte er
es noch einmal. Da bestand er die Führerscheinprüfung sofort und nach relativ
wenigen Fahrstunden.
Gerade weil Urängste wie die Verlassenheitsangst, die Angst nichts zu gelten oder zu
versagen, so stark sein können, sollten wir Erwachsenen unseren Kindern nicht noch
wie im Falle von Ernst künstlich Ängste vermitteln.
Mit Sprüchen wie "sei doch kein Angsthase", "nun stell dich nicht so an", "du bist
doch kein Baby mehr" oder gar "Feigling" bringt man kein Kind ins Wasser, das am
Ufer steht und schreit, weil seine Mutter ihm davon schwimmt. Ängste lassen sich
durch derartige Bemerkungen nicht beeinflussen. Im Gegenteil: versuche ich ein
Kind zu zwingen seine Angst zu überwinden indem ich seine Abwehr mit Gewalt zu
brechen suche, kann ich es dauerhaft schädigen. Auch Drohungen können Angst ma-
chen: "Wenn du nicht aufisst, dann ist Mama traurig", "wenn du nicht lieb bist, wer-
de ich krank", sind Äußerungen, die Schuldängste entwickeln können, die wiederum
in extreme Scheu vor sozialen Kontakten, aber auch in hemmungslose Aggressivität
einmünden können.
Angst kann aber auch eine lustvolle Komponente haben. Denken wir an das Spiel:
"Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?" "Niemand“ antworten alle Kinder. Und
dann kommt er/sie herangestürmt und versucht ein Kind zu fangen. Alle kreischen
vor Vergnügen laut auf und rennen davon. Bei dieser Art von Spielen gruselt es ei-
97
nem so schön. Nicht selten sind unsere Entdeckungsreisen in unbekannte Bereiche
wie der Keller eines Hauses im Rohbau oder der Straßenzug nebenan von einer Mi-
schung zwischen Angst und Spannung und Erregung verknüpft. So befähigt diese
Lust an der Angst, die wir aber auch gern als „sich gruseln“ bezeichnen, Kinder, sich
die Welt anzueignen, und Selbstvertrauen, Selbstsicherheit und Selbstständigkeit zu
gewinnen. Auch beim Lesen kann ein Kind gut mit- und nacherleben, wie Ängste
verarbeitet werden und sich auflösen. Gelegentlich kommt man ihnen mit Humor
und einem befreienden Lachen gut bei. Hier erinnern wir uns unwillkürlich an das
Märchen bei den Gebrüdern Grimm: „Von einem, der auszog, das Fürchten zu ler-
nen“. Dieses Märchen verrät uns zugleich, dass sich auch unsere Vorfahren immer
wieder mit ihren Ängsten herumschlugen und nach Wegen suchten, mit ihnen um-
zugehen.
Aber diese Prozesse spielen in fremder Umgebung oder das Lesen gruseliger Ge-
schichten werden vom Kind selbst in Gang gesetzt. Es steuert sich selbst und muss
sich in kritischen Situationen selbst überwinden oder es später noch einmal probie-
ren oder aufgeben.
Doch wehe, einem Kind wird mit dem schwarzen Mann gedroht, der in der Nacht um
die Häuser schleicht und die unartigen Kinder holt. Gerade wenn Kinder sich im
Vorschulalter, also in der „magischen Phase“ befinden, in denen Märchen und
Wirklichkeit ineinander fließen, können Eltern und Großeltern mit derartigen
Drohungen Ängste entfachen, die ein Leben lang erhalten bleiben und nicht selten
seelische Störungen begründen. Prüfe sich jeder von uns selbst sorgsam daraufhin,
ob nicht ihre/seine Ängste und Unsicherheiten auf derartige reale Erlebnisse aus der
Kindheit zurückgeführt werden müssen. Die Ursachen zu erkennen ist der erste
Schritt zur Überwindung. Gewiss gibt es noch andere denkbare Auslöser von
Ängsten. Nicht immer stehen Drohungen oder Bestrafungen am Anfang. Doch sind
Diskriminierungserfahrungen, also solche, bei denen ein Kind sich in seiner
menschlichen Würde verletzt fühlt, häufig beteiligt.
Ängste lassen sich beeinflussen beziehungsweise entwicklungsfördernd verarbeiten,
wenn wir sie im Spiel erfahren oder über das Märchen miterleben. Gerade in den
Grimm’schen Märchen werden Ängste gestaltet, von denen das Kind ohnehin - oft
unbewusst - umgetrieben wird. Die Ängste werden überwunden, aufgelöst, besiegt,
die Geschichte zu einem guten Ende geführt. In der Geborgenheit der vertrauten
Umgebung, eng an die Mutter/den Vater gedrückt, können Angst und Spannung
verarbeitet und mit Hänsel und Gretel getanzt und gesungen werden. Allein dieses
Beispiel weist aber auf die Gefahren, die von Medienangeboten wie Fernsehen oder
Video-Filmen ausgehen können, die Eltern nicht ausgewählt haben und die sie nicht
begleiten.
„...das Gefühl der Angst ist eigentlich die Erscheinung der gesamten Ich-
Entwicklung“ schreibt Michaela Glöckler (1992, S. 147). Die Ängste beginnen mit
Formen der Trennungsangst bis hin zur Angst vor Krankheit und Tod. Insofern ge-
98
hören Ängste zur menschlichen Existenz. Können diese Ängste überwunden werden?
Die Antwort auf diese Frage muss jeder für sich selber finden. Michaela Glöckler
weist in ihrem Buch auf die christliche Botschaft: „In der Welt habt Ihr Angst, aber
seid getrost, Ich aber habe die Welt überwunden“ (Evangelium des Johannes).
In unserer Eigenschaft als Erziehende sind zunächst wir es, an die sich unsere ängst-
lichen Kinder, Trost und Hilfe suchend, anlehnen. Sind wir selbst so genannte
„ängstliche Naturen“ wird unser Kind möglicherweise wenig Hilfe erwarten dürfen
oder gar erst von uns einige Ängste erlernen. Unser Vorbild wirkt auch hier. Das
kann im Einzelfall heißen, dass erst einmal Mutter und Vater die eigenen Ängste „in
den Griff“ bekommen müssen, um ihren Kindern bei der Angstbewältigung zur Seite
stehen zu können. Die existentiellen Ängste aber werden wir ihnen auf die Dauer
nicht nehmen können. Wir können ihnen jedoch die Fähigkeit mitgeben, so mit ihren
Ängsten zu leben, dass sie von ihnen nicht zerstört werden. Diese Fähigkeit erwerben
sie am ehesten, wenn wir unsererseits die Ängste unserer Kinder nicht vergrößern
oder gar mit Angstmachen erziehen.
Eva Leupold gibt Eltern und Erzieherinnen/Erziehern in der Zeitschrift „kindergar-
ten heute“ (Dezember 1994, S. 12) folgende Hinweise, die die bisherigen Ausführun-
gen in einigen Punkten zusammenfassen:
„Angst hat, wie wir sahen, oft etwas mit neuen und unbekannten Situationen zu
tun. Derartige Ängste klingen von allein ab, wenn sich ein Kind an diese bisher
unbekannten Situationen gewöhnt hat.
Wenn nicht auch die Eltern zu viel Angst haben oder Ängste zeigen, dann wird
auch ein Kind weniger ängstlich sein. Das Vorbild von den für ein Kind wichtigen
Bezugspersonen, das können natürlich auch andere Kinder sein, spielt eine wich-
tige Rolle. Darum dürfen wir unser Verhalten nicht unterschätzen. An unserem
Beispiel erlebt unser Kind, wie wir mit angstauslösenden Situationen umgehen.
Lernen durch Beobachtung und Nachahmung ist ein wichtiger Motor der kindli-
chen Entwicklung. Das haben wir bei allen Themen bestätigt gefunden.
Wenn wir Ängste bei unseren Kindern oder uns in bestimmten Situationen
feststellen, dann sollten wir uns ihr auch stellen. Wenn wir angstauslösende Si-
tuationen meiden, dann haben wir vielleicht eine augenblickliche Erleichte-
rung, die Angst kann aber langfristig größer werden. Haben wir also den Mut
und stellen uns der Situation immer wieder, dann werden unsere Ängste ab-
nehmen und mit der Zeit verschwinden.“
99
5. Sexualität und Erziehung
Einführung
„Nur dadurch, dass jeder von frühester Kindheit an auf jede seiner Fragen über
diesen Gegenstand ehrliche, dem betreffenden Stadium seiner Entwicklung
angepasste Antworten erhält und so volle Klarheit über seine eigene Art als
Geschlechtswesen empfängt, sowie ein tiefes Verantwortlichkeitsgefühl in
Beziehung auf seine zukünftige Aufgabe als solches , eine Gewöhnung an ernstes
Denken und ernstes Sprechen über diesen Gegenstand, nur dadurch kann ein
vornehmeres Geschlecht mit höherer Sittlichkeit hervortreten.“
Es sollte aber noch mehr als eine Generation darüber hinweggehen, bis nach 1970
auch in der Pädagogik – nun unter der Überschrift „Sexualerziehung“ – diese
Thematik in der Familienbildung und in den Ausbildungsstätten für Erzieherinnen
und Erzieher und Lehrerinnen und Lehrer einen angemessenen Platz erhielt.
In drei Schritten wollen wir uns in gebotener Kürze mit diesem Problem befassen.
Zunächst werden einige Informationen über die sexuelle Entwicklung gegeben. Dann
werden drei Positionen zur Geschlechtserziehung vorgestellt, aus der die praktischen
Konsequenzen zu ziehen sind.
100
Sexualität ist natürlich
Sexualität ist ebenso natürlich, wie die anderen existentiell notwendigen Bedürfnisse.
Denken wir zum Beispiel an Essen, Trinken, Schlafen, oder Bewegung. Der
Geschlechtstrieb freilich dient nicht in erster Linie beziehungsweise ausschließlich
der Befriedigung eines subjektiven Bedürfnisses. Von der Natur her hat er den
Zweck, für die Fortpflanzung zu sorgen. Und dazu gehört jeweils ein
andersgeschlechtlicher Partner. Insofern ist Sexualität sozusagen von Natur aus ein
Element sozialer Beziehungen und hier wieder in erster Linie zwischen Frau und
Mann. In der Lebenspraxis freilich, so der Wissenschaftsjournalist Jörg Zittlau,
nimmt Sexualität keine herausragende Stellung ein. Es wollten zum Beispiel siebzig21
Prozent aller Jugendlichen, die dazu befragt wurden, lieber ihr Smartphone als ihre
Partnerin oder den Partner.
Die Phase zwischengeschlechtlicher Sexualität, die mit der Zeugungs- und
Gebärfähigkeit beginnt, bezeichnen wir als Pubertät oder Geschlechtsreife. Weil wir
über Generationen hinweg so taten, als wäre mit Beginn dieser Phase Sexualität
überhaupt erst ein Thema in unserer Persönlichkeitsentwicklung, ist für unser
pädagogisches Anliegen die Erkenntnis wichtig, dass sie unser ganzes Leben begleitet
von der Geburt bis zum Tod. Niemand käme zum Beispiel auf die Idee zu behaupten,
dass mit der Zeugungs- und Gebärfähigkeit die Sexualität erlischt.
Mehr als alle anderen natürlichen Erscheinungen ist dieses Element unserer Existenz
kulturell überformt. Allein der Gedanke an die Schöpfungsgeschichte deutet an, was
gemeint ist. Und schauen wir in unseren Alltag oder in den unserer Vorfahren, so
ließe sich etwas schablonenhaft darauf verweisen, dass alles seine Zeit hatte:
Schlafen, Mahlzeiten, Arbeit und Erholung - aber auch die Sexualität. Und selbst in
Zeiten großer Freizügigkeiten, wie wir sie jetzt erleben, kommt der sexuellen
Beziehung zwischen Frau und Mann und ihrer ethischen Dimension eine besondere
Bedeutung zu.
Die Scheidungszahlen steigen. Zu den häufigen Gründen gehört die Untreue. Und in
noch mehr Fällen, als es die Scheidungsstatistik verrät, bildet der Ehebruch den
Grund für schwere Beziehungsstörungen zwischen Frau und Mann. Das war in
vergangenen Generationen so und blieb es bis heute. Es ist gerade diese Erkenntnis,
die auf die Notwendigkeit verweist, Sexualerziehung als einen wichtigen Teil der
Sozialerziehung zu verstehen, also der Erziehung auf den richtigen zwischen-
menschlichen Umgang hin. Wie sollte das praktisch geschehen?
Menschliche Sexualität ist nicht nur triebgesteuert. Der Mensch kann sich, und
darin unterscheidet er sich vom Tier, von seinen Trieben distanzieren, sie bewusst
wahrnehmen und steuern. Menschliche Sexualität ist weiter soziokulturell bedingt.
Das heißt zum Beispiel, dass menschliches Sexualverhalten davon abhängt, in wel-
cher Zeit und Kultur welche ethischen Normen gelten und als Angehöriger wel-
101
chen Volkes ein Mensch heranwächst. Für die Pädagogik ist hierbei die Erkenntnis
bedeutsam, dass das Sexualverhalten vor allem von der sozialen Umwelt anerzo-
gen wird.
Als Sexualverhalten sind hier alle der Sexualität dienenden beziehungsweise be-
wusst auf sie hinsteuernden verbalen und nonverbalen Verhaltensweisen der ein-
zelnen Person in der Begegnung mit anderen gemeint. Sexualverhalten ist also Teil
des sozialen Verhaltens, Sexualerziehung ein Teil der Sozialerziehung.
Martin Buber unterscheidet in der zwischenmenschlichen Begegnung zwei Grund-
haltungen:
Die eine ist dadurch gekennzeichnet, dass eine Person eine andere vorwiegend
als "Es", als Objekt betrachtet. Im Alltag heißt das zum Beispiel, dass bei einer
solchen Einstellung ein anderer Mensch an seinem Nutzen gemessen wird, et-
wa an der Frage: was bringt es mir, wenn ich mich dem anderen zuwende?
Für das Sexualverhalten eines Menschen mit dieser Haltung würde das heißen,
dass sein Sexualpartner ein Objekt seiner Triebbefriedigung wäre.
Die andere Grundhaltung ist die, nach der eine Person die andere als "Du" an-
erkennt, nicht also als Objekt, sondern als ein personal-agierendes Subjekt. Im
beruflichen und außerberuflichen Alltag heißt das nichts anderes, als dass ei-
ner den anderen in seiner Persönlichkeit wahrnimmt und akzeptiert und dass
die Beziehungen zwischen den Menschen auf gegenseitiger Achtung und auf
Anerkennung der Menschenwürde beruhen. Auf das Sexualverhalten übertra-
gen kann eine "Du-orientierte" Haltung als die Fähigkeit beschrieben werden,
die emotionale, soziale und motivationale Situation des Partners wahrnehmen,
akzeptieren und sich entsprechend verhalten zu können.
Beide der hier angedeuteten Grundhaltungen können in ein und derselben Person
zeitweilig oder dauerhaft vorhanden sein. Jede dieser Grundhaltungen kann sich
aber auch zu einer überwiegenden Eigenschaft verfestigen, das heißt, jede dieser
Haltungen hat die Möglichkeit sich in einer Person als die bestimmende durchzu-
setzen. Ob ein Mensch eher ein triebhaft-objektorientiertes oder eher ein kulturell
überformtes subjektorientiertes Sexualverhalten realisiert, liegt in der Verantwor-
tung der ihn erziehenden und bildenden Kräfte: also seiner Eltern, seiner Erzieher
und Lehrer, den Freundeskreisen oder Kameraden innerhalb und außerhalb von
Vereinen, aber auch den "geheimen Miterziehern", wie zum Beispiel den Massen-
medien.
102
Sexualität und Entwicklung
Ulrich Diekmeyer spricht in seinem dritten Elternbuch (1992, S. 113) von der "ersten
kritischen Phase", wenn unser Kind im dritten Lebensjahr deutlich wahrnehmbare
sexuelle Neugierde zeigt. Kritisch ist diese Phase unsertwegen: Es kommt darauf an,
wie wir auf kindliche Interessen oder Äußerungen reagieren. Wir brauchen uns also
nicht zu wundern, dass ein Kind im dritten Lebensjahr eines Tages entdeckt, dass
Menschen verschieden sind. Lebte unsere Tochter/unser Sohn während der ersten
beiden Lebensjahre noch ohne Bewusstsein der eigenen spezifischen
Geschlechtlichkeit, so bemerkt unser Kind, dass das andersgeschlechtliche
Geschwisterkind oder Elternteil im Genitalbereich anders aussieht. Und prompt
können sich entsprechende Fragen einstellen: "Mama, bekomme ich auch ein Glied?"
wird das kleine Mädchen fragen. Vorausgesetzt natürlich, es sind zuvor von den
Eltern die begrifflich zutreffenden und völlig neutralen naturkundlichen
Bezeichnungen verwendet worden. Mädchen haben eine Scheide, Buben ein Glied.
Diese Benennung ist korrekt und sollte stets und ohne Scheu und Untertöne so
verwendet werden. Es gibt keine Legitimation, außer unserer eigenen
Unzulänglichkeit im Umgang mit Sexualität, Körperteilen und Körperfunktionen
andere Bezeichnungen oder Gehalte zuzuordnen als eben die natürlichen. Was
natürlich ist und selbstverständlich, wird auch nicht mit Geheimnissen umgeben.
Wir können davon ausgehen, dass überall dort, wo auf die Kinderfragen und
kindliche Verhaltensweisen im hier vorgetragenen Sinne reagiert wird, sexueller
Missbrauch erschwert ist. Kinder - zumindest die, die älter sind als drei Jahre und
über die entsprechende Ausdrucksfähigkeit verfügen, können sich leichter mitteilen,
wenn ihnen die Benennungen vertraut sind und sie wissen, dass sie darüber
sprechen können ohne dass ihre Umgebung abweisend reagiert. Unser Kind beginnt
ab dem dritten Lebensjahr sich für seine Geschlechtsorgane zu interessieren. Wir
sprechen von einer "Schau- und Zeigelust". Wir können beobachten, wie unsere
Kinder feststellen, dass sich Bube und Mädchen beim Urinieren anders verhalten
und entdecken zum Beispiel bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal bewusst den
kleinen Unterschied. Das löst wiederum Fragen aus "Mami, kriege ich auch noch so
ein Glied?" fragt die Schwester. Aber auch Vater und Mutter werden nun mit etwas
anderen Augen angeschaut. Sogar die ersten Doktorspiele mit den Untersuchungen
am anderen Kind, dem gegenseitigen Betasten und Betrachten nehmen in dieser
Phase ihren Anfang.
Alle diese Verhaltensweisen gehören zur normalen Entwicklung unserer Kinder. Und
je selbstverständlicher wir Erwachsenen damit umgehen und je weniger wir eine
Staatsaktion aus unseren Beobachtungen machen, umso eher geht unser Kind zur
Tagesordnung über.
103
Sexualität und Erziehung
Von herausragender Bedeutung in der Erziehung zu einem guten Umgang mit der
eigenen Geschlechtlichkeit und in Bezug auf die Vorbereitung zur zwischenmensch-
lichen Sexualität als Teil sozialer Kontakte ist wiederum das Vorbild der Älteren
beziehungsweise der Eltern. Je mehr die Eltern die eigene Sexualität in all ihren
Erscheinungen positiv leben oder erlebt haben, umso eher sind sie in der Lage, jene
natürliche Haltung ihren Kindern gegenüber zu wahren, von der hier die Rede ist.
Wer in dieser Beziehung mit sich selbst nicht zurechtkommt, Hemmungen hat oder
eine Scheu, sich diesen Themen offen und unbefangen zu stellen, dem wird es
schwerer fallen oder gar unmöglich sein, den Kindern gegenüber jene akzeptierende
Haltung einzunehmen, die für die kindliche Entwicklung förderlich wäre.
104
Es ist bereits darauf hingewiesen worden, dass Sexualerziehung zugleich Sozial-
erziehung ist. In unserer Kultur ist Sexualität ein Teil der Partnerschaft und in
unserer Vorstellung Ausdruck der Liebe zwischen zwei Menschen. Diese Liebe
sollten unsere Kinder miterleben. Am Beispiel der alltäglich gelebten liebevollen
Beziehung zwischen Mutter und Vater beziehungsweise zwischen Frau und Mann,
verinnerlichen unsere Kinder jene Haltung und Verhaltensweisen, die ihnen später
in der eigenen Partnerbeziehung Orientierung geben. "Liebe" in einem
humanistischen Verständnis drückt sich aus in der Achtung mit der wir unserem
Partner begegnen, in der Beachtung seiner Würde und eigenen Bedürfnisse. Zu
einem liebevollen Umgang gehören auch Zärtlichkeit und Zeit, wie im
Zusammenhang mit dem Grundbedürfnis nach Liebe bereits ausgeführt (vgl. oben,
S. 19 f.). Eltern zeigen ihren Kindern, dass sie sich mögen, wenn sie sich küssen, bei
den Händen halten oder sich gelegentlich gegenseitig eine Freude bereiten.
Zu einer geglückten beziehungsweise beglückenden und das Leben erfüllenden
Partnerschaft und Sexualität gehören sowohl die Abwehr negativer Einflüsse wie das
Vorleben guter, auf Achtung, Akzeptanz und Zuneigung beruhender Beziehungen
zwischen Mutter und Vater.
Eine Frau oder ein Mann sind nicht "Objekte" unserer eigenen Wünsche, Bedürfnisse
oder Begierden, sondern Persönlichkeiten, mit denen wir in besonderer Weise
verbunden fühlen. Um das Gemeinte deutlicher zu machen: Eine Vergewaltigung,
also Sexualität gegen den Willen eines Partners, oder andere Formen unwürdigen
Verhaltens (flegelhaftes Verhalten, Schlagen oder Beschimpfen) sind nicht Ausdruck
zwischenmenschlicher Liebe, sondern Ausdruck von Gewalt, Brutalität oder
Missachtung menschlicher Würde. Wir Erwachsenen können nicht so tun, als hätten
die menschlichen Grundrechte innerhalb unserer vier Wände keine Gültigkeit. Wer
seinen Partner schon nicht lieben kann, der sollte wenigstens seine Persönlichkeit
achten. Das Verfassungsgebot „die Würde des Menschen ist unantastbar..." füllen wir
mit Leben, wenn wir die Würde unserer Nächsten nicht verletzen.
Für Kinder, die Zeugen der Verletzung der Menschenwürde in der eigenen Familie
werden, sind die Folgen katastrophal. Zu den schwierigsten, verstörtesten und
aggressivsten Kindern, mit denen Sozialarbeiter und Therapeuten zu tun haben,
gehören jene, die eine Vergewaltigung ihrer Mutter durch deren Partner miterlebten.
Sei es, dass sie Augenzeugen oder Ohrenzeugen (draußen vor der verschlossenen
Schlafzimmertür) waren. Und ein Mann, der seine Frau missbraucht, schlägt und
beschimpft sie auch.
In den meisten Kulturen vollzieht sich der Zeugungsakt von alters her in einer von
Dritten abgetrennten Sphäre, die wir heute zur Intimsphäre von Ehepaaren
beziehungsweise Liebespaaren zählen. Im Gegensatz hierzu kennen wir die
Pornographie, die inzwischen über Internet, Video- und Fernsehfilme auch in
Wohnungen - also in die Intimsphäre von Familien Einzug gehalten hat. In der
Sprache unserer Kinder, vor allem jener, die selbst derartige Filme sahen, hören wir
Worte, wie sie bisher überwiegend in Kneipen, an Arbeitsplätzen, beim Militär oder
im Zuhälter-Milieu als Zeichen von Männlichkeit oder als subkultureller Sprachcode
105
gebraucht wurden. Auch während der Pubertät ist der Gebrauch ebenso anrüchiger
wie kräftiger Begriffe und Flüche durchaus nichts Ungewöhnliches. Wir sagen darum
auch gelegentlich, dass ein Erwachsener, der sich gern dieser Sprache bedient, „nicht
aus der Pubertät herausgekommen ist“.
Noch einmal sei daran erinnert, dass dies nicht erst eine heute auftretende
Zeiterscheinung ist! Neu - und darum bemerkenswert bis störend - kommt uns der
Gebrauch durch Kindermund vor. Und Eltern wie Erzieherinnen und Lehrerinnen
und Lehrer und Lehrer klagen über diese Erscheinung und fragen danach, wie sie zu
verändern wäre.
Überall dort, wo sich Eltern und Erzieher Sorgen über diese Entwicklung machen,
wäre zunächst eine Verständigung darüber zu erreichen, welche Sprache wir als
Umgangssprache zwischen Menschen akzeptieren wollen und welche nicht. Am
Anfang stünde also eine Wertentscheidung. Haben wir uns entschieden, dass wir
keine Wörter aus der „Gossensprache“ akzeptieren wollen, dann haben wir die
Konsequenzen zu leben. Das heißt, wie in anderen pädagogischen Feldern auch, mit
gutem Beispiel voranzugehen.
Erst dann ist es sinnvoll, sich darüber Gedanken zu machen, mit welchen Strategien
wir den sprachlichen Entgleisungen unserer Kinder begegnen. Im Grunde gelten hier
die gleichen Verhaltensempfehlungen wie sie unter den Stichworten „Grenzen
setzen“, „Drohung und Strafe“ oder „Aggression und Gewalt“ in dieser Schrift zu
finden sind.
6.
Kinder werden selbständig
Einführung
Vom Tage der Geburt an, „wachsen die Kinder von uns weg“. So waren Elternsemi-
nare überschrieben, in denen es um die Phasen der Verselbständigung unserer Kin-
der ging und darum, wie wir sie auf diesem Wege begleiten können.
"Hilf mir, es selbst zu tun!" Diese Bitte legte einst Maria Montessori den Kindern in
den Mund und forderte alle Eltern und Erzieher auf, die Kinder in ihrem Bestreben
nach Selbsttätigkeit und im Streben nach Eigenständigkeit zu unterstützen. Im Kin-
dergarten bereits lässt sich beobachten, welches Kind längst daran gewöhnt ist, sich
selbst an- und auszuziehen und welches auf die Hilfe Erwachsener oder anderer Kin-
der wartet. Nicht immer sind es Entwicklungsunterschiede, die Kinder mehr oder
weniger selbständig handeln lassen. Unschwer finden sich Beispiele dafür, dass El-
tern ihren Kindern nicht viel zutrauen oder gar Angst haben, dass ihr Kind sie gar
nicht braucht. Wenn unsere Kinder von uns wegstreben, sich nichts mehr sagen las-
sen wollen, es überall schöner finden, nur nicht bei uns, dann werden wir unsicher.
Andere Kinder oder andere Erwachsene scheinen dann mehr Bedeutung für unser
Kind zu haben als wir. Und eines Tages sind die Kinder groß und gehen von uns weg.
106
"Früh übt sich, wer ein Meister werden will". Was aber sollte wie früh geübt wer-
den?
Eigentlich alles, so ließe sich pauschal antworten, was einem Kind in der jeweiligen
Entwicklungsphase zugemutet werden kann. Dabei berücksichtigen wir Eltern
selbstverständlich die alte Erfahrung, dass sich Kinder unterschiedlich entwickeln
und zum Beispiel nicht alle Kinder einer Familie exakt im gleichen Lebensab-
schnitt gleiche Formen selbständigen Verhaltens praktizieren.
Wie werden wir Eltern mit der wachsenden Selbständigkeit und Autonomie unserer
Kinder fertig? Sind wir bereit, diesen Prozess zu akzeptieren? Haben wir den Kindern
die Wege geebnet? Können wir darauf verzichten, sie zu bevormunden? Finden wir
eine neue Form der Beziehung?
Diesen und anderen Fragen kommt umso mehr Bedeutung zu, als sie nicht nur in
Bezug auf unsere Kinder beantwortet werden müssen. Auch in anderen zwischen-
menschlichen Beziehungen haben sie ihre Berechtigung.
Und noch eine weitere verallgemeinerbare Erfahrung ist zu berücksichtigen: Beim
ersten Kind sind Eltern gelegentlich noch unsicher in Bezug auf Entscheidungen
darüber, was sie dem Kind zumuten dürfen und was nicht. Mit der Anzahl der
Kinder wird die Sicherheit größer und Eltern lassen eher Selbständigkeit zu.
Obwohl es sich von selbst versteht, soll noch einmal ausdrücklich darauf aufmerksam
gemacht werden, dass die mit einer erfolgreichen und entwicklungsangemessenen
Selbständigkeit, die Eltern ermöglichen beziehungsweise zu der Eltern ermuntern,
jene Voraussetzungen gehören, die zu Beginn als „Bedürfnisse“ unserer Kinder
betrachtet worden sind. Bei einem Kind beispielsweise, das in jungen Jahren hat
mehrfach Trennungserfahrungen machen müssen, ist eher damit zu rechnen, dass es
sich von seiner Mutter oder von seinem Vater nicht lösen will und ihm darum alle
Verhaltensweisen schwerer fallen, die in die Selbständigkeit führen. Es wird sich
länger „bemuttern“ lassen wollen als jenes, das sich der fürsorglichen Zuwendung
seiner Eltern jederzeit sicher war. Es ließen sich auch alle anderen Bedürfnisse
gleichsam als Prüfsteine verwenden, wenn wir uns bei dem einen oder anderen Kind
fragen, warum es ihm so schwer fällt, für sich selbst und seine Handlungen die
Verantwortung zu übernehmen.
107
Jungen zutrifft: sie gehören alle den kulturellen, den sozialen, den politischen und
wirtschaftlichen Situationen beziehungsweise Strömungen ihrer Zeit an. Elemente
dieser Strömungen tragen sie in unsere Familie mit hinein und konfrontieren uns
mit ihnen auch und gerade dann, wenn wir Älteren nicht gerade davon begeistert
sind.
Die Frühadoleszenz, sie tritt vor allem bei Mädchen in unserer Zeit (seit etwa dem
Beginn des 21. Jahrhunderts) immer häufiger früher ein, ist eine Zeit der Trauer, in
der sich das Verhältnis zu Körper, Sexualität, zu sich selbst, den Gleichaltrigen und
den Eltern zu wandeln beginnt. Verwirrt und orientierungslos will der Heranwach-
sende die Eltern behalten und sich doch von ihnen lösen. Einerseits gibt er sich er-
wachsen, stark und klotzig, andererseits trennt er sich noch nicht von seinem
Schmusetier. Gedanken an Selbstvernichtung können auftreten, wenn der junge
Mensch keinen Sinn an diesen Widersprüchen erkennt und sich von allen verlassen
fühlt. Darum ist es in dieser Phase besonders wichtig, in Gruppen Gleichaltriger ein-
gebunden zu sein und sich dort gebraucht zu wissen. Bereits im vorangegangenen
Abschnitt wurde darüber berichtet, dass sich gerade Heranwachsende in dieser Pha-
se durch ein betontes Engagement auszeichnen – wenn sie auch noch nicht auf die
Anleitung und Unterstützung durch Erwachsene verzichten können. Zu denken ist da
zum Beispiel an die Trainer in Sportgruppen, die Jugendleiter in Jugend- und Kin-
dergruppen, die Dirigenten von Kinderchören u. a.
In der mittleren Adoleszenz fühlt sich ein junger Mensch zeitweilig total überfordert.
Dieses Gefühl hat gute Gründe, wenn wir daran denken, dass er ja nicht nur mit sei-
nem Körper und seiner erwachten Sexualität zurechtkommen muss. Es ist die gleiche
Zeit, in der Weichen für die Zukunft gestellt werden, wenn es um Berufswahlent-
scheidungen, Schulabschlüsse und Praktika geht, in denen sie/er sich bewähren sol-
108
len. Viele eigene Wünsche und eigene Vorstellungen bauen sich auf, die von den Er-
wachsenen nicht geteilt oder verstanden werden, da sie nicht selten keine Realisie-
rungsmöglichkeit haben. Der Drang, frei zu sein, keine Einschränkungen (er-)dulden
zu müssen, kann übermächtig werden. Konflikte, die sich zu richtigen Machtkämpfen
ausweiten, können an der Tagesordnung sein. Marianne Arlt beschreibt die entspre-
chenden Erfahrungen mit ihrem Sohn recht anschaulich (Freiburg 1992). Die Her-
anwachsenden ziehen sich in sich selbst zurück. Wunschgebilde, Träume und Phan-
tasien bestimmen die Innenwelt. Die Flucht aus der Wirklichkeit führt gelegentlich
zu Drogen wie Alkohol, Zigaretten oder gar „harte Drogen“. Begleitet wird diese Pha-
se von Bemühungen um Abgrenzung einerseits und Anpassung andererseits. „Zu
sein wie kein anderer - zu sein wie alle anderen“, so bezeichnet Erikson die Suche
nach Identität als Aufgabe der Pubertät. Wie kein anderer - das heißt vor allem, nicht
so sein, wie die als spießig erlebten Eltern oder Erwachsenen überhaupt. Zu sein, wie
alle anderen, das heißt vor allem „cool“ sein und „trendy“. Da werden Sänger und
Musiker, Sportler oder andere in der jeweiligen Szene gültigen Vorbilder für die Her-
anwachsenden wichtig. Sie wollen dazu gehören und sich dadurch von der Erwach-
senenwelt unterscheiden.
Je problematischer im Erleben des Heranwachsenden und seiner Eltern diese Pha-
se verläuft, umso größer die Gefahr der Regression: Schule schwänzen, weglaufen,
aber auch dissoziale Verhaltensweisen als Probierverhalten und/oder Protest, sind
Anzeichen krisenhaft verlaufender Lösungsprozesse. Neben Unfällen und bösarti-
gen Tumoren sind Selbstmorde die häufigste Todesursache in dieser Altersgruppe.
Nicht selten verlassen sie die Schulen oder Ausbildungsstätten, Jugendgruppen
oder Vereine, in denen sie sich bisher engagierten und suchen nach neuen Orien-
tierungen in anderen, vor allem eher informellen Gruppen. Von den vielen biogra-
fischen Zeugnissen, die uns über diese kritische Phase vorliegen und die uns zei-
gen, dass es auch in früheren Generationen nicht anders war als heute, sei das von
Hermann Hesse ausgewählt. Ohnehin ein Junge, der seinen Eltern und Erziehern
viel zu schaffen machte, erreichten die Konflikte mit den Eltern 1892 einen Höhe-
punkt, als der damals fünfzehnjährige Hermann an seinen Vater schrieb und ihn
bezeichnender Weise sogar mir „Sie“ ansprach:
„Sehr geehrter Herr! Da Sie sich so auffällig opferwillig zeigen, darf ich Sie viel-
leicht um 7 M oder gleich um den Revolver bitten. Nachdem Sie mich zur Ver-
zweiflung gebracht, sind Sie doch wohl bereit, mich dieser und sich meiner rasch
zu entledigen. Eigentlich hätte ich ja schon im Juni krepieren sollen...“
(Nina Hesse, Frankfurt a. M. 1966, S. 268)
Späte Adoleszenz
Nach und nach treten im Regelfalle die als krisenhaft erlebten Erscheinungen zurück
und öffnen einen Weg in ruhigere Gefilde. Die Kämpfe zwischen den Generationen
lassen an Heftigkeit nach, die Eltern werden wieder mehr und mehr geduldet und
zunehmend wieder geachtet. Statt Resignation kommt Aufbruchsstimmung auf, die
Zuversicht in die eigenen Möglichkeiten und Fähigkeiten wächst und Lebenspläne
nehmen eine realistischere Gestalt an.
109
Hilfreich sind in dieser Phase Kontakte mit Gruppen junger Menschen, die einen
eigenen Stil, eine eigene Kultur entwickeln und in der sich unsere Heranwachsenden
angenommen und geborgen fühlen können. Was zunächst bleibt, ist der Wider-
spruch zwischen innerer Unabhängigkeit und äußerer wirtschaftlicher Abhängigkeit
von den Eltern. In einer Zeit, in der immer mehr junge Menschen immer später in
das Erwerbsleben treten, ist das ein Thema. Bedauerlicher Weise treten auch immer
mehr junge Menschen in gar kein Erwerbsleben ein, das ihnen ein angemessene
wirtschaftliche Selbständigkeit durch eigene Leistung ermöglicht. Die Folgen einer
derartigen Entwicklung sind noch nicht abzusehen. Sie deuten sich aber an in zu-
nehmender Gewaltbereitschaft und Kriminalität.
Ob die jungen Menschen noch mehr oder weniger von den Einkünften der Eltern
abhängen oder nicht: nach Abschluss der Adoleszenz, gehören sie „entlassen“. Eltern,
so meinen wir das, halten sie nicht fest, wenn die jungen Frauen und Männer auszie-
hen bzw. an einem anderen Ort ihre Ausbildung abschließen wollen.
110
nehmen und all ihr Tun und Lassen in die eigenen Hände nehmen. Unsere Aufga-
be ist es, unsere Mädchen und Jungen zu der hier angedeuteten Selbständigkeit
und Verantwortungsbereitschaft zu befähigen.
Als Anita in den Kindergarten kam, wusste sie schon ganz genau, welches
Kleidungsstück sie an diesem Tag tragen wollte und welches nicht. Darf denn
aber ein dreijähriges Kind schon selbständig darüber bestimmen, was es an-
ziehen will?
Die Eltern von Karl (9 Jahre alt) halfen ihm nur dann bei den Schulaufgaben,
wenn dieser um Hilfe bat, weil er etwas nicht verstanden hatte. Im Übrigen
aber vertraten die Eltern des Jungen die Auffassung, dass die schulischen Ar-
beiten eine Angelegenheit Karls seien. Er sei selbst verantwortlich für seine
schulischen Erfolge oder sein Versagen.
Dieses Beispiel aus dem Familienalltag weisen darauf hin, dass die Erziehung zur
Selbständigkeit eine Aufgabe ist, die uns unsere Kinder ständig abverlangen. Mut
brauchen wir und vor allem Vertrauen in die Fähigkeiten unserer Kinder, dass sie
das, was wir ihnen zutrauen, auch schaffen, dass sie „Verantwortung“ überneh-
men können. Aber was dürfen wir und in welchem Alter von unseren Kindern er-
warten? Welche Gefahren sind möglicher Weise mit einer verfrühten, welche mit
einer völlig ungenügenden Bereitschaft von Eltern verbunden, Eigenständigkeit
zuzulassen? Wie können wir unserem Kind denn in einer verantwortbaren Weise
helfen, alles das selbst zu tun, was es kann oder was es lernen soll? Das können
Fragen sein, die unsere Überlegungen bei dem Gedanken an die Erziehung zur
Selbständigkeit und Eigenverantwortung begleiten.
Wenn ein Kind erkennt, dass sich Mutter und/oder Vater um seine alltäglichen
Angelegenheiten gar nicht kümmern kann, dann zeigt es gleichsam „automatisch“,
dass es bereit und in der Lage ist, ein Stück weit für sich selbst zu sorgen (vgl. auch
dazu oben, S. 26). Und „ein Stück weit“ heißt eben: soweit es das von seiner kör-
perlichen, geistigen und seelischen Entwicklung her kann. Eltern können von ei-
nem Dreijährigen zwar nicht erwarten, dass er Kartoffeln schält und sie zubereitet.
Wohl aber wird er sich an- und ausziehen und seine Schuhe binden, allein auf die
Toilette gehen oder sich allein waschen können.
Kinder können und werden überall dort mithelfen, den Alltag zu bewältigen, wo
die Eltern berufstätig sind oder wo Erkrankungen unseren vollen Einsatz in Haus-
halt und Erziehung erschweren. Jede/r von uns, die/der vorübergehend wegen
Krankheit oder aus anderen für Kinder gut einsehbaren Gründen ausfiel, wird die
Erfahrung gemacht haben, dass sich die Kinder in erstaunlichem Ausmaß darum
bemühen, die entstandene Lücke zu füllen und zum Beispiel die Wohnung pflegen
oder einkaufen gehen.
111
Oder denken wir an eine weitere Bedingung selbständigen Handelns, die wir
Eltern selbst ständig zu schaffen haben, wenn unser Kind lernen soll, eigenständig
und eigenverantwortlich zu handeln: an unsere Bereitschaft, Selbständigkeit
zuzulassen!
Auch hierfür ein Beispiel:
Die neunjährige Elisabeth hat ein neues Fahrrad bekommen. Anlässe gab es
zwei: das Kind hatte Geburtstag und gerade in der Schule ihren
„Fahrradführerschein“ erworben und damit bewiesen, dass sie die
Verkehrsregeln kennt und sich im öffentlichen Straßenverkehr zurechtfindet.
Am Samstag der gleichen Woche erklärte sich Elisabeth bereit, Brötchen und
Brot zum Frühstück zu holen und bat darum, mit dem neuen Fahrrad fahren
zu dürfen. Die Eltern hatten das Kind bis dahin noch nie allein mit dem
Fahrrad ins Städtchen gelassen, da verkehrsreiche Straßen auf dem Wege
lagen. Mutter und Vater standen vor einer schweren Entscheidung. Sollten sie
das Risiko eingehen und Elisabeth fahren lassen? Wird das Kind
zurechtkommen?
Beide verständigten sich, wie stets in derartigen kniffligen Situationen, mit den
Blicken. Hier war es der Vater, der seiner Frau beruhigend zublinzelte. Die
Mutter sagte dann: „Ist gut. Du wirst schon zurechtkommen. Hast ja jetzt den
Fahrradführerschein.“
Glückstrahlend und stolz holte Elisabeth ihr Fahrrad und kam - während die
Eltern nicht ohne Bangen gewartet hatten - heil wieder nach Hause.
Eltern stehen häufig vor derartigen und ähnlichen Situationen. Dann geht es
darum, die eigenen Befürchtungen zu überwinden und sie sich nicht anmerken zu
lassen und zugleich dem Kind zu signalisieren, dass man ihm zutraut, die gestellte
Aufgabe zu lösen. Kaum hat ein Kind laufen gelernt, will es klettern und kennt
doch die Gefahren nicht. Hier haben wir in jeder einzelnen Situation abzuwägen:
- Lassen wir Eltern zu, dass ein Kind selbst Erfahrungen sammelt - auch wenn
einmal etwas schief gehen kann?
- Verbieten oder verhindern wir ein Verhalten, bei dem wir Risiken sehen?
- Geht es uns dann in erster Linie um das Kind? Oder geht es uns darum, den
„Stress zu vermeiden, der zu den zu erwartenden Tränen eines von sich
selbst enttäuschten Kindes gehört?
Und wie ist das mit dem Risiko? Haben wir als Eltern nicht die Verantwortung und
die Pflicht dafür zu sorgen, dass unsere Kinder nicht in Gefahr geraten? Hier
besteht in der Tat ein Spannungsfeld, dem wir uns nun zuwenden.
112
Selbständigkeitsstreben und Elternverantwortung
"Pflege und Erziehung sind das natürliche Recht der Eltern ...... und die zuvörderst
ihnen obliegende Pflicht", so steht es in unserer Verfassung. Legen wir die Betonung
auf die Worte "ihnen" und "Pflicht", dann wird ganz deutlich, dass die Mütter und
Väter des Grundgesetzes von der ganz natürlich erscheinenden Selbstverständ-
lichkeit ausgingen, dass es in erster Linie die Eltern sind, die für ihr Kind
Verantwortung tragen.
"Verantwortung" das heißt hier sowohl Rechte zu haben als auch Pflichten. Folgen
wir dem Wortlaut des Verfassungsartikels und halten uns vor Augen, was mit den
"Rechten" zu Pflege und Erziehung von Kindern gemeint ist. Wir gehen dabei von
einer Erfahrung aus, die alle Eltern kennen, deren Kinder bereits die Grundschule
verlassen haben.
Gegen Ende des vierten Grundschuljahres wurden einst von den Klassenlehrerinnen
und Klassenlehrern in den staatlichen Schulen die "Grundschulempfehlungen"
ausgesprochen. Die Eltern und ihre Kinder erfuhren auf diese Weise, für welche
weiterführende Schule die Lehrer ein Kind für geeignet halten: für die Hauptschule,
die Realschule oder das Gymnasium. Kein Elternteil aber musste sich an diese
Empfehlung halten. Nicht selten gehen bedeutend weniger Kinder zum Beispiel auf
ein Gymnasium, als empfohlen worden sind. In einer vierten Klasse waren es nur
zwei Buben, obwohl vier Buben und fünf Mädchen von den insgesamt
achtundzwanzig Kindern hätten gehen können. Alle Eltern der betroffenen Mädchen,
hatten sich also gegen das Gymnasium entschieden. Es ist das "natürliche Recht" der
Eltern, derartige Entscheidungen zu treffen und sie brauchen über ihre Gründe
niemanden darüber Rechenschaft abzulegen. Die Eltern haben also das Recht,
darüber zu entscheiden, welche Schule ihr Kind besuchen soll. Wenn allerdings
Eltern der Auffassung sind, ihr Kind müsse aufs Gymnasium, obwohl es keine
entsprechende Empfehlung erhalten hat, dann wird es schwierig. Dann zeigt sich
nämlich, dass noch andere Träger von Erziehung und Bildung - hier die Schule -
etwas zu sagen haben.
Eltern bestimmen also vom Tag der Geburt an über ihre Kinder. Rein formalrechtlich
bleibt dieses Elternrecht erhalten bis zur Volljährigkeit eines Kindes. Wann sind un-
sere Kinder erwachsen? Nun, volljährig sind sie mit der Vollendung des achtzehnten
Lebensjahres. Bis dahin galten sie als Jugendliche und bis zur Vollendung des vier-
zehnten Lebensjahres als Kinder. Als Kinder sind sie überhaupt nicht und als Ju-
gendliche sind sie beschränkt strafmündig. Mit achtzehn Jahren dürfen sie z.B. wäh-
len, den Führerschein erwerben, ohne Zustimmung der Vormünder heiraten u. v. a.
m. Lediglich strafrechtlich genießen sie noch einen gewissen Schutz bis zum 21. Ge-
burtstag. Solange gelten sie als „Heranwachsende“. Je nach Reife in der geistigen und
seelischen Entwicklung werden sie in der Regel noch nicht nach dem Erwachsenen-
strafrecht beurteilt.
Außer diesen rechtlichen Gesichtspunkten gibt es kaum klare Abgrenzungen zwi-
schen Heranwachsenden und dem Erwachsenenalter. Allein unser gelegentlicher
Eindruck, dass wir uns genau so verhalten, wie Pubertierende, zeigt uns, dass wir alle
diese Zeiten in uns tragen und bei uns selbst die entsprechenden Einstellungen ab
113
und zu herausschauen. Dann sagte man früher über eine Frau zum Beispiel, dass sie
sich wie ein „Backfisch“ verhalte oder über einem Mann, dass er noch immer ein
„Lausbub“ sei.
Wenn wir das Erwachsenenalter und damit das Ende der Jugend bestimmen als den
Beginn der Lebenszeit, in der wir uns aus dem Elternhaus gelöst haben und in jeder
Beziehung relativ selbständig leben, dann sind unsere Kinder gelegentlich zwar noch
jung, aber eben, weil sie Verantwortung für sich und eventuell eine eigene Familie
übernommen haben, erwachsen. Und schauen wir auf die Zahl der Lebensjahre, so
kann die/der eine schon mit achtzehn Jahren so weit sein, ein/e andere/r zehn Jahre
später noch immer nicht. Bei diesen Betrachtungen denken wir an körperlich, see-
lisch und geistig gesunde Menschen, die nicht auf Hilfe angewiesen sind.
Was die nach Alter gestaffelte Mündigkeit für Auswirkungen haben kann, zeigt uns
ein Beispiel: Eine Sechzehnjährige möchte ausgehen. Die Eltern sagen: "Aber um
zehn Uhr bist Du wieder daheim". "Ich geh doch aber nur zu Katharina zum
Geburtstag und nicht in die Disco." "Ist uns egal. Um zehn bist du zuhause und damit
basta." Die Tochter muss um zehn Uhr abends daheim sein. Die Eltern haben dies zu
bestimmen. Ob sie ihr Gebot auch durchsetzen können und wie sie das tun, das steht
auf einem anderen Blatt.
Oder nehmen wir an, das gleiche Mädchen möchte am Samstagabend in die
Diskothek zum Tanzen. Die Eltern haben nichts dagegen. Was aber die Ausgangs-
dauer angeht, haben nun nicht mehr allein die Eltern zu entscheiden. Das
Jugendschutzgesetz verbietet Minderjährigen unter 14 Jahren den Aufenthalt in
öffentlichen Lokalen generell. Wenn sie älter sind aber noch nicht volljährig, mit
Einschränkungen. Diese Bestimmungen zum Schutze der Jugend haben ihre guten
Gründe. Und jetzt erweist sich die Bedeutung des anderen Teils des Grundrechts: es
ist zuvörderst die Pflicht der Eltern dafür zu sorgen, dass Gesetze, die auch zum
Schutzes ihres Kindes verkündet worden sind, einzuhalten. Es ist also nicht in erster
Linie Aufgabe des Veranstalters oder der Polizei darüber zu wachen, ob die
Jugendschutzbestimmungen eingehalten werden. Vielmehr ist es die "zuvörderst"
den Eltern obliegende Pflicht dafür zu sorgen, dass ihren Kindern nichts passiert.
Natürlich kann ein Gastwirt zur Verantwortung gezogen werden, der an
Minderjährige Alkohol ausschenkt. Dass aber die Eltern eigentlich die
Verantwortung dafür tragen, dass ihre minderjährigen Kinder vor Schaden, zum
Beispiel vor dem Weg in die Alkoholsucht, bewahrt werden, ist ebenso einsichtig wie
logisch. Eltern stehen in Bezug auf das Tun und Lassen ihrer Kinder in der
Verantwortung. Natürlich wird auch die Selbstverantwortung der Heranwachsenden
zu berücksichtigen sein. Die ist umso größer, je älter sie sind. Und sie wird in vielen
Fällen umso geringer sein können, je jünger ein Kind ist.
Nicht selten gibt es wegen dieses Grundsatzes der eingeschränkten Selbständigkeit
und Selbstbestimmung Konflikte zwischen den Kindern und ihren Eltern. Nur die
wenigsten Töchter und Söhne werden widerspruchslos die Einschränkungen
hinnehmen, die wir ihnen auferlegen, wenn wir auf die Jugendschutzbestimmungen
oder unsere Einsichten verweisen. Wir untersagen ihnen zum Beispiel, später als
Mitternacht daheim zu sein oder, um auf eine Gefährdung vor allem kleinerer Kinder
114
hinzuweisen, wir erlauben nicht, dass sie auf dem Beifahrersitz im Auto mitfahren.
Dass dies Kindern unter zwölf Jahren laut Straßenverkehrsordnung verboten ist, das
hat seine guten Gründe; sind doch Beifahrer bei Unfällen am ehesten gefährdet.
Es ist darum sehr wichtig, dass Kindern - sobald sie es verstehen können - stets
vermittelt wird, dass Einschränkungen ihrer Wünsche um ihrer selbst willen erfolgen
und nicht aus Lust oder Laune der Erwachsenen. Der noch heute übliche Satz:
"solange Du Deine Füße unter meinen Tisch setzt, hast Du zu tun, was ich sage" ist
freilich denkbar ungeeignet, Heranwachsende zum Verständnis unserer Sorgen um
sie zu bringen. Hier muss auch deutlich unterschieden werden: Einem Elternteil, der
dieses Argument bringt, dem geht es nicht um sein Kind sondern um seine Macht
über das Kind. Er will bestimmen, Macht ausüben, allein das Sagen haben.
Ein Elternteil, dem es in erster Linie um das Kind und dessen Wohlergehen geht, der
wird einen derartigen Konflikt anders lösen. Bestehen zwischen Eltern und Kindern
gute Beziehungen und werden ihnen zum Beispiel frühzeitig all jene
Selbständigkeiten eingeräumt, die sie bewältigen können, dann warten unsere
Mädchen und Jungen auch bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie endlich mündig sind.
Wir sehen also, dass es in derartigen Situationen immer auch um die Frage geht:
Geht es mir
um meine Macht, meine Autorität, mein Selbstbild, meine Eitelkeit, meine
Interessen,
oder geht es mir um mein Kind?
Natürlich können wir unsere Kinder nicht überall und zu jeder Zeit vor Gefahren
schützen oder vor Schaden bewahren. Auch wir Erwachsenen können - trotz aller
Vorsicht - im Garten von der Leiter fallen oder in der Wohnung über den Teppich
stolpern und uns dabei jeweils den Arm brechen. Mit dem Hinweis darauf, dass wir
im Leben stets von ungezählten Risiken und Unwägbarkeiten umgeben sind, können
wir uns aber nicht davonstehlen, wenn es darum geht, durch uns beeinflussbare
Gefährdungen zu vermeiden. Der Alltag ist voll von Geboten und Versagungen
unseren Kindern gegenüber, die in erster Linie mit unserer Sorge um die körperliche
und seelische Gesundheit unserer Kinder begründet werden können. Und derartige
Begründungen kann ein Kind sehr gut verstehen. Auch wenn es zunächst mault und
voller Zorn die Tür zuknallt. Wenn wir ihm aber etwas verwehren, was es selbst tun
könnte, weil wir es ihm nicht zutrauen oder weil uns das zu erwartende Ergebnis
seiner Bemühungen nicht gut genug wäre, dann hätte es recht mit seinem Zorn.
Der zwölfjährige Anton war bereit, dem Vater im Garten zu helfen und wollte
den Rasen mähen. „Lass besser die Finger davon“, versuchte der Vater den Ei-
fer des Sohnes zu bremsen. „Lerne stattdessen Deine Vokabeln, damit Du nicht
wieder eine fünf schreibst!“ Doch Anton bettelte und versprach, hinterher zu
lernen. „Also gut“ willigte der Vater ohne Überzeugung ein. „Aber achte da-
rauf, dass ...“ und es folgten eine Reihe von Ermahnungen.
115
Als Anton fertig war, stellte er den Rasenmäher in den Schuppen und ging ins
Haus. Der Vater schaute nach und stellte fest, dass da und dort das Gras noch
hoch stand und auch der Rasenmäher war nicht gesäubert worden. Er holte
seinen Sohn und hielt ihm eine Strafpredigt: „Ich habe es ja gleich gewusst ... nie
machst Du eine Aufgabe ordentlich ... es ist besser, wenn ich alles selbst mache ...
so habe ich nur noch mehr Arbeit ... es ist ja kein Wunder, dass es auch in der
Schule nicht läuft...“
Beide waren nun verärgert. Anton zog sich zornig in sein Zimmer zurück und
dachte vielleicht: nichts kann man dem Alten recht machen, und statt zu lernen -
pah, wenn dem sowieso nichts recht ist - stellte er den Fernseher an.
Was hätte der Vater tun können? Am Abend zum Beispiel sagen: „Der Rasenmäher
muss noch gesäubert werden. Das Gras wird jetzt trocken sein und sich leichter
entfernen lassen“. Mit dem ersten Satz sagt der Vater dem Sohn, was noch zu tun ist.
Mit dem zweiten öffnet er dem Sohn mit dem Hinweis auf das getrocknete Gras eine
Möglichkeit „sein Gesicht zu wahren“.
Und bei der nächsten Gelegenheit wird der Vater nicht zögern und zaudern und wird
auf alle Ermahnungen verzichten, sondern stattdessen klare Bedingungen
aushandeln: Rasen mähen - selbstverständlich. Und vergiss nicht, heute Abend das
Gerät zu reinigen!
Wenn es dann wieder nicht klappt, dann kann das nur heißen, dass Anton erst im
nächsten Jahr wieder nachfragen darf. Vielleicht ist er dann reifer und eher in der
Lage, Verantwortung zu übernehmen.
Diese Geschichte weist uns auf eine sehr wichtige Bestrebung hin, von der in anderen
Zusammenhängen (vgl. S. 24f) schon die Rede war: Kinder wollen aus eigenem
Antrieb heraus die Welt erkunden! Sie sind von Natur aus neugierig, probieren gern
etwas aus und möchten gern alles selber machen. Gelegentlich ärgern wir Eltern uns
darüber, dass unsere Kinder nur schwer dazu zu bringen sind, uns etwas zu helfen.
Das Beispiel mit dem Rasenmäher deutet an, woran die Unlust oder der Unwillen der
Kinder liegen kann. Je öfter wir Kinder daran hindern, etwas zu tun, wofür wir sie
noch für zu klein, zu ungeschickt, zu dumm oder zu unzuverlässig halten, und ihnen
das auch noch sagen (!), umso weniger werden sie bereit sein uns zu helfen, wenn wir
das wünschen. Selbst wenn ein Kind das so nicht sagen kann, dann reagiert es nach
dem Denkmuster: „Damals, als ich selbst tun wollte, habt ihr gesagt, dass ich die
Finger davon lassen soll. Heute will ich nicht mehr!“
An viele Beispiele können wir in diesem Zusammenhang denken. Irgendwann wollte
ein Kind zum ersten Mal den Staubsauger benutzen, selbst abwaschen, den Tisch
decken oder einkaufen gehen. Wir aber haben zu viel Bedenken oder Einwände
gehabt, und unser Kind gebremst. Dabei wollte es doch nur das Gleiche tun, wie wir
und den Vorbildern Mutter oder Vater nacheifern.
Verantwortung soll man nicht lehren sondern geben. Zeigt sich ein Kind der
zugelassenen oder ihm übertragenen Verantwortung noch nicht gewachsen, dann
versuchen wir es erneut.
116
Ein Kind sollte selber sagen oder am eigenen Leibe erfahren, was es leisten kann
und was noch nicht. Das Bewusstsein eigener Verantwortung macht ein Kind eif-
rig, stolz und zufrieden. Wir Eltern erkennen sein Bemühen an - selbst wenn das
Ergebnis nicht unseren Maßstäben entspricht. Es ist von unschätzbarem Wert für die
Herausbildung eines echten Interesses, also: selbständig etwas leisten zu wollen,
wenn unser Kind erfährt, dass wir seine Bemühungen anerkennen.
Selbständigkeit wird gefördert
- wenn Eltern und Erzieher das „Selber-machen-wollen“ nicht blockieren,
- wenn Eltern und Erzieher Selbsttätigkeit anregen,
- wenn Eltern und Erzieher Kindern Gelegenheit geben, selbst die eigenen
Möglichkeiten und Grenzen herauszufinden,
- wenn Eltern und Erzieher ein Kind ermutigen, wenn es nicht gleich alles so gut
kann, wie es sich selbst das wünscht,
- wenn Eltern und Erzieher ihrem Kind und seinen Fähigkeiten vertrauen und
damit den Grundbedürfnissen zu ihrem Recht verhelfen.
Je älter ein Kind wird, umso mehr trauen wir ihm zu. Dass Kinder, vor allem in der
Vorpubertät, also im Alter etwa zwischen zehn und vierzehn, gern und zuverlässig
Aufgaben übernehmen wollen und können, das beweisen uns unsere Kinder, wie
oben dargestellt, wenn wir Eltern abwesend sind. Sie kümmern sich mit großem
Eifer um den Haushalt, versorgen kleiner Geschwister, die Pflanzen und die Katze
oder den Hund. Aber auch bei Ferienunternehmen, zum Beispiel auf einer Radtour,
oder mit Booten auf einem Fluss: stets können die Erwachsenen auf die Kinder
zählen. Und je mehr Eigenständigkeit ihnen überlassen bleibt, mit umso größerem
Engagement tun sie mit. In unseren Jugendverbänden und den Kinderfreizeiten, die
die örtliche Jugendpflege veranstaltet oder bei Schullandheimaufenthalten sind die
Erfahrungen mit Kindern in Bezug auf deren Einsatzbereitschaft, und Zuverlässigkeit
ebenso positiv wie in Sportgruppen oder in den Musikvereinen. Einen zusätzlichen
Beleg dafür, dass Kinder zu bemerkenswerten Leistungen fähig sind, wenn die
Erwachsenen ihnen diese Möglichkeiten geben, zeigt uns ein Bericht aus den ersten
Nachkriegsjahren über Erfahrungen mit der Kinderorganisation der FDJ, den
Jungen Pionieren. Ein ehemaliger Pionierleiter berichtet über seine Erfahrungen aus
den Jahren 1949/50 an der Schule einer thüringischen Kleinstadt:
117
und anderen gegenüber, sowie den Mut, sich entsprechend zu äußern. Im Ein-
zelnen beteiligten sich die Mädchen und Jungen der Klassen fünf bis acht an
der Organisation von Lernaktiven, um allen Kindern gute Schulleistungen
zu ermöglichen; Kinder halfen also anderen Kindern beim Lernen,
der Vorbereitung von Festen und Feiern,
der Leitung von Spiel- und Tanzgruppen,
der Vertretung der Schülerinnen und Schüler einer Klasse oder der ganzen
Schule und hierbei waren die gewählten Führungskräfte - heute heißen sie
„Klassensprecher“ oder „Schulsprecher“ - verantwortlich für eine gute Zu-
sammenarbeit mit den Lehrerinnen und Lehrer und Lehrern und der Schul-
leitung. Besonders diese Aufgabe wurde sehr ernst und mit großem Selbst-
vertrauen wahr genommen...“
Es ist nur ein scheinbarer Widerspruch in dieser Überschrift. Die große Bedeutung,
die einer positiven Entwicklung eines Kindes in den ersten Lebensjahren zukommt,
ist seit den Forschungsergebnissen von Selma und Bernhard Hassenstein (27/1978)
erwiesen. Eine wichtige Funktion dieser ersten Lebensphasen haben jene Bezie-
hungselemente, die als die „Bindung“ eines Säuglings und kleinen Kindes an die Be-
zugspersonen bezeichnet werden. Und nur wenn ein Kind die Chance gehabt hat,
sich zu binden, dann kann es sich auch lösen. Schutz, Bindungsmöglichkeit, Verläss-
lichkeit, diese Begriffe begegneten uns bereits bei den Grundbedürfnissen von Kin-
dern. Nun geht es um das Selbständigkeitsstreben, um das Streben eines Kindes weg
von Mutter und Vater. Zum Weiterdenken dazu folgende Ausführungen:
Es ist für ein Kind, das sich bis dahin nur über die anderen wahrnahm, nicht leicht,
sich „ausgesetzt“ zu fühlen und zu merken, dass es ja gar kein integrierter Bestandteil
der Anderen ist. Solange ein Kleinkind seiner sich selbst nicht in dieser distanzierten
Weise bewusst war, konnte es von sich selbst nur in der dritten Person sprechen.
Doch nun hat es ein „Ich“ und kann „ich“ sagen!
Darauf ist es stolz und erprobt diese neue Lebensqualität sofort und laut und deut-
lich vor allem, wenn es um Verweigerungen geht. Nun heißt es nicht mehr „Heinz
will nicht“, sondern „ich will nicht“. Allerdings zeigt sich die von der Entwick-
lungspsychologie unterstellte Not eines Kindes an der Schwelle zum vierten Le-
bensjahr auch als Herausforderung an die Eltern. Es will sich mit diesem seinem
Verhalten einmal dessen vergewissern wollen, ob Mutter und/oder Vater es noch
lieb haben. Es fragt sogar immer wieder: „hast du mich noch lieb...?“ Andererseits
aber wächst nun rasch seine Selbstständigkeit und es wird mehr und mehr fähig,
sich auf andere Kinder einzulassen, sich in andere hin einzufühlen, kurz: soziale
Verhaltensweisen entwickeln sich von nun an kräftig weiter. Darum auch kann es
jetzt in den Kindergarten gehen und dort die vielen Kinder gut verkraften.
118
Eine ganz entscheidender Gesichtspunkt ist - zunächst in den Kindheits- und Ju-
gendphasen - er bleibt aber auch später, wenn auch nicht so prägend erhalten - wie
uns unsere soziale Umwelt, also Eltern, Erzieherinnen, Lehrerinnen und Lehrer,
wahrnehmen. Der Mensch wird durch das „Du“ zum „Ich“ sagt Martin Buber. Unser
Selbstbild, unser Selbstbewusstsein sind zunächst maßgeblich durch andere Men-
schen beeinflusst worden. Und wenn nun die nächste, die schwierige zweite Lö-
sungsphase beginnt, die wir die Pubertät nennen, dann wird dieser Gesichtspunkt
mit darüber entscheiden, ob und wieweit dieser Lösungsprozess schmerzlich ist.
Ganz vereinfacht ließe sich sagen: Je positiver ein Heranwachsender sich sehen
gelernt hat, umso stärker sind die Fundamente, auf die er seine Persönlichkeit nun
beginnen kann selbst auszuformen. Und umso „schmerzfreier“ verlaufen für ihn
und seine soziale Umwelt die Lösungsprozesse.
Freilich wird und kann kein pubertierender Heranwachsender auf seine „Trotzre-
aktionen“, seine Herausforderungen verzichten. Er braucht sie, um sich der Zunei-
gung seiner Eltern zu vergewissern, die trotz aller Lösung für ihn wichtig bleibt. Er
braucht widerständiges Verhalten aber auch, um im vertrauten Kreis seinen Frust
loszuwerden, dessen Gründe draußen, in Schule oder Freundeskreis zu suchen
sind oder aber, um seine Grenzen zu erproben.
Welche Bedingungen sollten geschaffen sein, die wir für die Heranwachsenden in
diesen schwierigen Jahren als förderlich erlebten. Hierzu einige Erfahrungen, die
Eltern mit folgenden Stichworten benannten:
Wir müssen gute Vorbilder sein; Idole brauchen unsere Kinder und verlässliche
Menschen.
Liebe, Zuneigung und Vorleben sind wichtig.
Freude zulassen; Vertrauen geben; in den Umgangsformen höflich bleiben, so
mit den Kindern umgehen, wie wir das uns gegenüber erwarten; wir sollten den
Mut haben, gegenüber unseren Mädchen und Jungen Fehler einzugestehen und
uns entschuldigen; sie ernst nehmen.
Wir selbst müssen uns an Regeln halten und Grenzen beachten.
Zuhören können, sich Zeit nehmen; das Gefühl vermitteln, zu verstehen, Verste-
hen zu wollen; gute Beziehungen zu den Großeltern; gute Kontakte zu Freunden
und den Freunden der Eltern fördern, auch zu Lehrerinnen und Lehrer und Leh-
rern.
Gemeinsame Aktivitäten mit Eltern; Freundschaften zulassen; gute Beziehungen
zu Erziehern und Lehrern pflegen; Tiere als Freunde zulassen; offene Türen für
Freunde sollten wir schaffen.
Der Familienzusammenhalt bietet eine feste Stütze an.
Es sind hier die Erfahrungen wiedergegeben, die von Eltern in Elternseminaren je-
weils am häufigsten genannt wurde. Eine sehr große Rolle spielen Verhaltensweisen
119
von Eltern ihren Heranwachsenden gegenüber. Und wenn „Zärtlichkeit, Zuwendung
und Zeit“ im Kapitel über die Grundbedürfnisse als die drei „Z“ elterlicher Liebe be-
nannt wurden, so fügen wir nun drei „V“ dazu:
verlässliche zwischenmenschliche Beziehungen,
vorbildhaftes Verhalten und
väterliches Mittun.
Besonders dem Vater kommt, sofern er in der Familie mit lebt, in dieser Zeit ein ho-
her Stellenwert zu. Ein erwachsener Mann, der ohne Vater aufwuchs, erklärte ein-
mal, dass es sein Großvater war, der ihm in diesen Jahren besonders wichtig wurde.
Ohne dass aus dieser Einzelerfahrung eine notwendige Bedingung abgeleitet werden
muss, so zeigt sie doch, dass man auf männliche Bezugspersonen bei Heranwachsen-
den nicht ohne Not verzichten sollte. Vor allem dort, wo es Väter gibt, sollten sie sich
nicht ausklinken! Sie sind auch für die Töchter wichtig, deren Vaterbild einen erheb-
lichen Einfluss auf die eigene Lebensgestaltung mit Partnern haben wird.
Weitere günstige Rahmenbedingungen für die Phasen der Pubertät, wie Eltern sie
selbst erfahren haben, sollen ergänzend genannt werden:
In den Gesprächen mit den Heranwachsenden erfahren wir immer wieder, dass
ungefragter Rat nicht willkommen ist. Über Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und
Weltanschauung sprechen wir darum, wenn wir nicht ausdrücklich gefragt wer-
den, nur beiläufig. Uns gegenüber unseren Mädchen und Jungen mit missionari-
schem Eifer aufzuspielen und unsere Weisheiten oder Überzeugungen zu verkün-
den, erregt in ihren Augen, wenn sie nichts davon hören wollen, günstigenfalls
nachsichtiges Kopfnicken oder Kopfschütteln. Gerade bei derartigen sehr sensib-
len Themen bewähren sich das Prinzip vom „Vor-Leben“ und der Verzicht auf Ein-
reden. Wir sollten die anderen Einstellungen, Neigungen und Vorlieben unserer
Mädchen und Jungen auch dann akzeptieren, wenn sie nicht mit unseren eigenen
übereinstimmen. Hier liegen nicht selten die Ursachen für erhebliche Differenzen
zwischen jungen Menschen und ihren Eltern. Unsere Heranwachsenden fühlen
sich ihrer Zeit verbunden und nicht selten auch mit jenen Jugendgruppen, in de-
nen sie Anerkennung und Gemeinschaft finden. Wenn für derartige Gruppen Idea-
le oder Idole, gemeinsame Vorlieben und Bestrebungen kennzeichnend sind, dann
120
können diese, die jeweilige Gruppe kennzeichnenden Besonderheiten unseren wi-
dersprechen. Ein Vater erzählte hierzu folgende Geschichte aus seinem Leben:
„Als ich siebzehn Jahre alt war, kam ich durch Klassenkameraden in eine
Gruppe, die sich zur deutschen Linken rechnete. Die damals, zu Beginn der
siebziger Jahre, vertretenen Emanzipationsbestrebungen in dieser Gruppe,
kamen meinem eigenen Streben nach Freiheit von Bevormundung durch meine
Eltern entgegen. Meine Eltern waren aber in ihrer Kirchengemeinde einge-
bunden und vertraten eine religiöse Richtung, die ich nicht mehr gut heißen
konnte. Es kam daheim zu sehr heftigen Auseinandersetzungen. Ich war knapp
achtzehn Jahre alt, da versuchte der Vater sogar, mich zu schlagen. Ich war
aber stärker und konnte ihn abwehren. Ich musste dann ausziehen und sehen,
wo ich bleibe. Bei Freunden kam ich dann unter, beendete meine Ausbildung
und blieb, auch wirtschaftlich, unabhängig.
Mit meinen Eltern kam es zur Annäherung, als ich heiratete und selber Vater
wurde. Meine Frau und ich wollen einen derartigen Konflikt später vermeiden
und uns nicht mit Verboten und Geboten in das Leben unserer Kinder, wenn
sie dann so weit sind, einmischen...“
121
7
Der Umgang mit Geld
Einführung
Vom Geld ist eigentlich in der Pädagogik selten die Rede. Davon spricht man nicht.
Geld verdienen, Einkünfte haben, finanziell gesichert zu sein oder wie ein Mensch
mit Geld umgehen können sollte, ohne sich zu übernehmen: alles das sind keine
offiziellen Zielvorstellungen von Erziehung und Bildung. Was später in Beruf und
Privatleben selbstverständlich ist, fällt in der pädagogischen Literatur und Ausbil-
dung unter den Tisch. Dabei spielt das Geld in unseren, auf Geldwirtschaft beru-
henden gesellschaftlichen Systemen, im Leben des Einzelnen, wie für die Gemein-
schaft eine ganz zentrale, in nicht wenigen Fällen: die zentrale Rolle. Übrigens
auch in jenen sozialen Feldern, in denen das Heil des Menschen nicht in materiel-
len Gütern, sondern in seiner Seele gesehen wird. Zu denken ist da zum Beispiel an
die Religionsgemeinschaften, die von alters her das Ausmaß der Verbindung ihrer
Glieder zur Kirche am Spendenaufkommen maßen. Kürzlich sagte unser Bürger-
meister in der Gemeindeversammlung, dass vom Kirchensteueraufkommen auch
unser Kindergarten mitfinanziert wird. Bei vielen Gelegenheiten wird also an Geld
gedacht und es ist ein allgemein anerkannter Wert, Geld zu verdienen, Geld zu ha-
ben oder gar vermögend zu sein. Reichtum (und Schönheit) sind gültige Ideale in
unserer Zeit und in unserer Gesellschaft. Diese Ideale sind so absolut, dass es in
der Regel gleichgültig ist, auf welche Weise jemand zu seinem Reichtum kam,
wenn er dabei nur nicht allzu offensichtlich geltendes Recht verletzte.
In unserem Alltag verbringen wir viele Stunden damit, Geld zu verdienen und an-
dere Stunden, um Geld auszugeben.
Auf diese gesellschaftliche Wirklichkeit bereiten wir unsere Kinder selbstverständ-
lich vor: sie erleben tagtäglich, welchen Wert Geld hat. Ohne Geld kann man nicht
leben. Die hierfür notwendigen Voraussetzungen schaffen wir uns, in dem wir
einmal Geld herbeizuschaffen suchen und es so verwalten, dass wir keine Not lei-
den müssen. Kindern geht es in Bezug auf die Einkommensquelle ihrer Eltern so-
wie den Erwachsenen in Bezug auf die Reichen in der Gesellschaft: sie fragen nicht
danach, auf welche Weise das Geld erworben wurde. Wohl aber interessiert es un-
sere Kinder bereits, wie viel Geld vorhanden ist. Bevor sie erfahren, auf welche
Weise Mutter oder Vater Geld verdienen, erleben sie, dass man nicht beliebig viel
Geld zur Verfügung hat, dass man haushalten oder gar sparen muss. Und es ist an
dieser Stelle hinzuzufügen: hoffentlich erfahren das alle Kinder und so früh wie
möglich. Denn die Aufgabe der Erziehung in diesem Punkt kann sich nicht mit der
Vermittlung von Informationen darüber begnügen, dass jedermann Geld gegen
Leistung erhält.
122
In den Familien ist Geld immer ein Thema
Wir müssen unsere Kinder dazu anhalten, mit Geld wirtschaften zu lernen, also
mit einem bestimmten Betrag über eine bestimmte Zeit auszukommen. Wer den
Umgang mit Geld nicht gelernt hat, wer also nicht "wirtschaften" kann, dem helfen
keine Bildungsabschlüsse, nicht die Höhe seiner Einkünfte oder gar ererbte Ver-
mögen auf Dauer aus den Schwierigkeiten heraus, die er sich einbrockt.
Was heißt denn nun "wirtschaften lernen"? Das heißt, wie eben festgestellt,
Diese drei Elemente der Haushaltführung vermitteln wir Kindern dann, wenn sie
auf die gleiche Weise lernen, ihr Taschengeld zu verwalten. Sobald unser Kind in
der Lage ist, eine Woche zu überblicken, gleichsam sieben Tage planen zu können -
und das ist im allgemeinen so im achten Lebensjahr der Fall - erhält es ein eigenes,
das heißt frei verfügbares Budget. Wie viel Geld aber können wir den Kindern ge-
ben? In der Taschengeldhöhe können wir uns nach den Taschengeldsätzen richten,
wie sie für Kinder in öffentlicher Erziehung gezahlt werden. Die Höhe ist wie Löh-
ne und Gehälter auch, verschieden. Sie beträgt zum Beispiel monatlich23:
123
Dieses Taschengeld erhalten in genau dieser Höhe alle Kinder regelmäßig. Auf die-
se Weise erhalten die Kinder die Möglichkeit, ihrerseits das Geld einzuteilen.
Wenn sie älter werden, können wir ihnen ihr Geld auch monatlich zahlen bezie-
hungsweise überweisen. Es hat sich im Rahmen der „Gelderziehung“ als durchaus
zweckmäßig erwiesen, Kindern ein eigenes Girokonto einzurichten. So gewöhnen
sie sich früh an den Umgang mit Banken oder Sparkassen und zum Beispiel daran,
Kontoauszüge lesen zu können. Natürlich entscheiden die Kinder selbst, was sie
mit ihrem Geld machen. Dies ist auch im Bürgerlichen Gesetzbuch so verankert:
Bei Beträgen, die sich im Taschengeldrahmen bewegen, sind Minderjährige ge-
schäftsfähig (vgl. § 110 BGB).
Zur eigenen Verantwortung gehört aber auch, Konsequenzen aus seiner Haus-
haltsführung zu tragen. Das heißt unter anderem: wenn das Geld ausgegeben ist,
dann hat ein Kind nichts mehr. Wir Eltern dürfen ohne Not keinen Zuschuss oder
einen Vorschuss gewähren. Hier wird sich wieder einmal bewähren, wenn wir uns
daran gewöhnt haben, konsequent Grenzen zu setzen.
Als Druckmittel setzen wir Geld nicht ein. Das heißt, wir verzichten darauf, das
Taschengeld zu sperren oder gar Geldstrafen zu verhängen. Dagegen kann es im
Ausnahmefalle richtig sein, ein Kind dazu anzuhalten, sein Taschengeld oder Teile
davon zur Wiedergutmachung einzusetzen. Wenn es zum Beispiel einem anderen
Kind absichtlich oder leichtfertig einen Vermögensschaden zugefügt hat, sollte es
sich angemessen an der Wiedergutmachung beteiligen. Auch hierfür ein Beispiel:
Unser Kind leiht sich ein Fahrrad beim Nachbarkind aus, obwohl es von uns
immer wieder hörte, dass man nichts leihen oder verleihen sollte. Mit die-
sem Fahrrad stürzt es. Unser Kind hat sich dabei verletzt, was wir, trotz al-
lem Schreck als hilfreiche Konsequenz ansehen dürfen. Das Fahrrad aber
war ebenfalls beschädigt und musste repariert werden. Wir Eltern oder un-
sere Versicherung haben die Kosten zu übernehmen. Unser Kind aber wird
daran beteiligt. Der zu entrichtende Betrag wird vom Alter und der Vermö-
genslage unseres Kindes abhängen. Einen Erstklässler werden wir vielleicht
mit einer oder zwei Euro beteiligen. Einen Achtklässler entsprechend höher.
Es hat sich für die Wirkung dieser Wiedergutmachung als wertvoll erwie-
sen, wenn unser Kind seinen Anteil persönlich überreicht. Es ist diesem
Wiedergutmachungsprozess jede Anonymität zu nehmen!
Nicht in allen Familien reicht das Einkommen aus, um den Kindern regelmäßig
ein angemessenes Taschengeld zu bezahlen. Generell gilt, was schon in unseren
Kindertagen üblich war: wir Eltern sollten unseren Kindern oder Jugendlichen bei
der Suche nach kleinen Jobs behilflich sein. Gerade wenn Kinder wissen, dass die
finanzielle Not im Elternhause groß ist, könnten sie ein schlechtes Gewissen be-
kommen, wenn sie von ihren Eltern Geld bekommen. Vielleicht fühlen sie sich
dann auch nicht frei genug, ihr Geld auch für sich auszugeben. Wenn sie aber ihr
Geld durch Hilfen beim Nachbarn oder in Ferienjobs verdienten, dann sind sie
zufrieden, weil sie ihre Eltern in Bezug auf das Taschengeld entlasten können. Die-
124
se Überlegung aber darf nicht falsch gedeutet werden, wie am folgenden Beispiel
erläutert werden soll:
Ernst freute sich auf seinen sechzehnten Geburtstag. Er wollte diesen Tag mit
seinen beiden Eltern und mit der älteren Schwester verbringen, die ebenfalls,
wie er, in einem Heim lebte und dort eine Ausbildung machte. Mutter und Va-
ter, beide getrennt voneinander lebend und beide Sozialhilfeempfänger, kamen
auch in die nahe gelegene Kreisstadt, um dort, für drei Stunden vereint mit ih-
ren beiden Kindern, Ernsts Geburtstag zu begehen. Am Abend im Heim zurück,
erzählte er, wie es war. Mutter und Vater führten die Kinder in eine Gaststätte.
Als es ans Bezahlen ging, hatte, außer der neunzehnjährigen Tochter, niemand
Geld dabei. Sie musste nun die Zeche von ihrem Taschengeld bezahlen, was sie
auch gern und klaglos tat. Sie hatte auf Grund ihrer Erfahrungen mit Mutter
und Vater schon damit gerechnet. Und den Eltern war das nicht ein bisschen
peinlich.
Dieses Geburtstagsereignis war im Frühling 2012, also keineswegs in längst ver-
gangenen Zeiten. Möglicher Weise bedienen sich in unserer Gesellschaft auch an-
dere Eltern und durchaus nicht um ihnen eine Freude zu machen, aus dem Ver-
mögen ihrer Kinder. Dort wo das so ist, fällt es Kindern schwer, richtig mit Geld
umgehen zu lernen.
In vielen Familien besteht unter Umständen die Gefahr, dass Kinder zu viel Geld
zu ihrer freien Verfügung haben. Das kann eine Gefährdung für die Entwicklung
von Kindern bedeuten, wenn wir Eltern uns zuvor nicht erst davon überzeugt ha-
ben, dass unsere Kinder mit Geld umgehen können und es ohne Schaden zu neh-
men, verwenden. Natürlich sind die Maßstäbe verschieden. Während ein Eltern-
paar nichts dabei findet, wenn sich ein Achtjähriger einen Schokoriegel kauft,
möchten andere Eltern lieber, dass er sein Geld für eine Banane ausgibt. Doch
hierzu gibt es keine Regeln aus der Pädagogik, sondern allein das Gebot, dass Kin-
der selbst entscheiden können sollten, wofür sie ihr Geld ausgeben! Es muss in
allen Fällen in diesem so wichtigen und für die Zukunft der Kinder so bedeutungs-
vollem Gebiet, das Prinzip der Eigenverantwortung konsequent angewendet wer-
den, wenn sie lernen sollen, mit Geld angemessen umzugehen.
Die Rahmenbedingungen sind auch in diesem Bereich unseres Familienlebens
wichtig. Hierzu sind einige günstige Verhaltensweisen zu rechnen, die nachfolgend
genannt und erläutert werden:
1. Selbstverständlichkeit:
Alle hier erwähnten Einstellungen und Verhaltensweisen werden selbstverständ-
lich im Alltag umgesetzt. Das heißt, dass sie nicht besonders betont werden oder
sonst wie aus dem üblichen Rahmen herausfallen. Wir geben ihnen den Charakter
der Selbstverständlichkeit über das sich gesondert zu reden nur dann lohnt, wenn
125
wirklich gravierende Ereignisse dazu auffordern: Solche Ereignisse können sein:
eine besonders große Ausgabe, das erste Taschengeld, das erste selbstverdiente
Geld.
2. Offenheit:
Was Mutter und Vater verdienen ist zwischen ihnen kein Geheimnis. Wenn Kinder
sich dafür interessieren, wenn sie also von sich aus nachfragen (ernst zu nehmen
ist ein entsprechendes Interesse etwa ab der Pubertät), sollte offen darüber ge-
sprochen werden. Jüngere Kinder geben sich zufrieden, wenn ihnen gesagt wird,
dass sie sich keine Sorgen zu machen brauchen, da es immer genug zu essen geben
wird und man über die Einkommenshöhe nicht sprechen möchte. Die Finanzsitua-
tion einer Familie gehört zu deren Intimsphäre; es müsste also sichergestellt sein,
dass entsprechende Kenntnisse in der Familie bleiben und von den Mädchen und
Jungen nicht nach außen getragen werden. Unsere Heranwachsenden haben,
wenn sie sich überhaupt dafür interessieren, hierfür auch Verständnis.
3. Gemeinsamkeit:
Gerade was Budgetverwaltung und Rücklagen für bestimmte Ausgaben (Miete,
Ferien, neues Auto, oder eine andere größere Anschaffung) betrifft, stellen wir in
Familien dann eine beiläufige Gemeinsamkeit her, wenn Vater und Mutter derarti-
ge Probleme und Entscheidungen in Gegenwart ihrer Kinder besprechen. Der bei-
läufige, selbstverständliche Charakter wird gewahrt, wenn solche Gespräche bei
Tisch oder während gemeinsamer Autofahrten stattfinden, die Kinder also Zeugen
dieser Gespräche werden, ohne daran teilnehmen zu müssen. Kinder können bei
derartigen Gelegenheiten sich in der Art und Weise an Gesprächen beteiligen, die
ihrem Reife- und Interessensstand entsprechen. Gesonderte Familienkonferenzen
zu diesen Fragen sind nicht nötig. Sie gäben den entsprechenden Vorgängen und
Entscheidungen eine Bedeutung, die sie normalerweise im kindlichen Erleben
nicht haben. Wenn Eltern freilich daran denken, ein Haus oder eine Wohnung zu
kaufen, sind sie gut beraten, ihre Kinder in diese Vorbereitungen einzubeziehen
und es lässt sich als Faustregel festhalten: je größer (einschneidender oder bedeu-
tungsvoller) die Folgen von Ausgabenanlässen voraussichtlich für die Kinder sein
werden, umso eher sollten die Kinder in Informations- und Entscheidungsprozesse
mit einbezogen werden.
4. Konfliktfreiheit:
Überall dort, wo um das Geld herum im Lebensbereich der Kinder gestritten wird,
ist die Gefahr groß, dass Kinder bei dem Gedanken an Geld Ängste entwickeln. Der
Umgang mit Geld wird dann nicht von der hierfür notwendigen Gelassenheit be-
stimmt, sondern von anderen Gefühlen begleitet. Es sind nicht zuletzt tief verwur-
zelte, weil in der Kindheit aus der Umgebung aufgesogene Ängste und Sorgen, die
bei dem Einen später zu Raffgier bei einem anderen zu Geiz, bei wieder anderen
Personen zum Streben nach Sicherheit um jeden Preis führen können. Sorgen um
"das liebe Geld" kennen wir alle. Es wird wenige Lebensgeschichten geben, in de-
nen in dieser Beziehung immer alles glatt gegangen ist. Mancher von uns kennt
126
das bedrückende, in der Nähe panischer Angst angesiedelte Gefühl, das dann auf-
tritt, wenn man plötzlich ohne Geld dasteht, wenn man, im Regelfalle selbstver-
schuldet, "pleite" ist. Doch wenn Erwachsene Probleme im Umgang mit Geld ha-
ben, ist das ihre Sache. Sobald Kinder davon betroffen sind, ändert sich das. Nir-
gendwo tritt die Elternverantwortung deutlicher zu Tage, als in diesem Bereich.
Das heißt, wenn Kinder zu versorgen sind, muss mit Geld so umgegangen werden,
dass es keine gravierenden Mangelsituationen und dass es deswegen keine Kon-
flikte gibt. Wer hier Probleme hat, tut gut daran, sich schleunigst nach Hilfe umzu-
tun. Alles ist erlernbar: auch eine richtige Haushaltführung.
6. Geldschwierigkeiten:
In verschuldeten oder unverschuldeten Notsituationen - zum Beispiel hervorgeru-
fen durch Überschuldung und/oder Arbeitslosigkeit - ist es dringend nötig, eben-
falls mit den Kindern offen die Verhältnisse darzulegen und sie nicht zu verschlei-
ern. Kinder verstehen unsere Sparsamkeit besser, wenn sie deren Gründe kennen.
Wenn sie nicht Bescheid wissen, kommen sie vielleicht auf die Idee, wir würden
ihnen ein neues Fahrrad darum nicht kaufen, weil wir sie nicht mögen oder weil
uns etwas anderes wichtiger ist, als sie es sind.
Das andere Extrem ist natürlich genauso schädlich: Wenn jemand nur wenig Geld
hat und eigentlich kaum über die Runden kommt und dennoch ein besonders teu-
res Fahrrad kauft und dabei Schulden machen muss, der handelt schlichtweg
falsch. Vielleicht meinen diese Eltern „aber mein Kind darf das nicht merken/soll
darunter nicht leiden“ und was es dieser Sprüche noch mehr geben mag. Unter
Umständen geht es überhaupt nicht um das Kind sondern vielmehr um das Anse-
hen bei den Nachbarn: „die sollen nicht denken, dass wir uns das nicht leisten
könnten!“
Wer sich um derartiger Äußerlichkeiten wegen in Schulden und damit nicht selten
in große Not stürzt, der tut seinen Kindern keinen Gefallen. Kinder lieb haben, das
heißt nicht Kinder „kaufen“ sondern ihnen gegenüber offen sein, ihnen vertrauen
und mit ihnen Leid und Freud teilen. Natürlich können Kinder traurig sein oder
gar zornig, wenn wir ihnen erklären, dass wir ihnen ihre Wünsche nicht erfüllen.
Sind sie sich aber unserer Liebe gewiss, dann wird das unsere Beziehungen nicht
trüben.
127
Geldgeschäfte kennen keine Moral sondern allein rechtliche Rahmenbedin-
gungen. Die Pädagogik aber ist ohne Moral, ohne Werte und Normen, un-
denkbar. Immer geht es in der Erziehung auch um Zielfragen.
Und wohin wollen wir unser Kind in Bezug auf den Umgang mit Geld führen? Zu
einem Schuldenberg? Leichtfertig übernehmen nicht wenige Eltern die Maßstäbe,
die von Bildschirmen und in aufwendigen Verkaufs- und Werbekatalogen in die
Wohnstuben hereinkommen. Von einem bekannten Kreditinstitut war zu lesen,
dass ihm es immer wieder gelingt, Menschen dazu zu verführen, viele Tausend Eu-
ro Schulden zu machen. Nicht selten mit dem Versprechen: Sie können sich heute
alle Wünsche erfüllen - wir helfen Ihnen dabei. Die Schuldnerberatungsstellen
landauf landab wissen ein Lied vom Leid all jener Frauen und Männer zu singen,
die nicht haben warten wollen, bis sie genügend Geld erspart hatten.
Schulden kann nur jemand machen, der einen Gegenwert besitzt. Zum Beispiel ein
sicheres Einkommen oder - im Falle einer Hypothek - ein Haus. Und die Höhe der
monatlichen Verpflichtungen darf das tägliche Brot und alles, was dazu gehört, wie
das Taschengeld der Kinder, nicht gefährden.
Wir sollten im Alltag vorleben, dass man ruhiger schläft und ausgeglichener sein
kann, wenn man nicht mehr ausgibt, als man einnimmt.
7 Diebstahl:
Was tun, wenn wir entdecken, dass unser Kind heimlich Geld an sich genommen
hat? Zunächst einmal ist zu diesem Problem daran zu erinnern, dass es auch in
unserem Leben Phasen gegeben haben mag, in denen wir lange Finger hatten oder
mit dem Gedanken spielten, uns auf diese wenig akzeptierte Weise etwas anzueig-
nen.
Keine Sorge, liebe Eltern! Wenn Diebstahl nicht zu unserer Alltagsnorm gehört,
dann übernehmen unsere Kinder genauso selbstverständlich unsere Vorstellungen
von "Mein und Dein", wie sie die meisten unserer Wertvorstellungen bewahren.
Abweichungen oder Krisen auf diesem Wege gehören zu unserem Leben. Wie wir
damit umgehen können zeigt Ihnen das folgende Beispiel:
Beim Bettenmachen entdeckt die Mutter bei ihrer achtjährigen Tochter einen
Fünfzigeuroschein. Da das Kind über eine derartige Summe auf legale Weise
nicht verfügen konnte, musste der Geldschein aus einem der Elterngeldbeutel,
die stets offen in der Holzschale auf der Kommode liegen, stammen. Die Fami-
lie gehört zu jenen, in denen man nicht unbedingt den Verlust eines Fünfzig-
euroscheins gleich bemerken muss, da einmal genügend Geld vorhanden ist
und zum anderen Vater und Mutter je nach Bedarf und ohne vorherige Ab-
sprachen über das Haushaltsgeld verfügen. Wohl aber war den Eltern aufge-
fallen, dass das Mädchen in den letzten Tagen stiller und schlechter gelaunt
war, als sonst üblich. Was tun? Zunächst ließ die Mutter den Geldschein im
Versteck und die Eltern berieten miteinander über ihr weiteres Verhalten. Nur
kein Drama daraus machen! Das war die erste Devise und die zweite: wir
müssen dem Kind helfen, aus seiner schwierigen Situation wieder herauszu-
128
kommen. Denn dass das Mädchen sich nicht wohlfühlt, zweifellos von Schuld-
gefühlen geplagt wird, ist wegen der schlechten Laune ja offensichtlich. Da die
direkte Ansprache: „hör mal, ich habe da was bei Dir gefunden ..." wohl auch
nicht der richtige Weg war, verständigten sich die Eltern darauf, dem Kind
voll Vertrauen zu wollen.
Das heißt, darauf zu vertrauen, dass es selbst den Weg aus dem selbstver-
schuldeten Dilemma findet.
Die einzige konkrete Hilfe hierzu ist der bewusst hergestellte persönliche Kon-
takt. Da seit den frühen Kindertagen die Tochter gern vor dem Schlafengehen
der Mutter ihre kleinen und großen Sorgen anvertraut oder ihre Tageserleb-
nisse berichtet hatte, blieb die Mutter am Abend etwas länger als sonst üblich
zum Gute-Nacht-sagen in der Nähe des Bettes. Vier Tage mussten die Eltern
warten. Noch immer lag der Geldschein in seinem Versteck. Am fünften war es
dann soweit: die Tochter zog den Schein heraus, gab ihn der Mutter und er-
zählte ihr alles.
Die Mutter hörte die übliche Geschichte, die wir bei Kindern dieses Alters im-
mer wieder erleben können. Das Mädchen wollte für das Geld Süßigkeiten und
andere begehrenswerte Dinge kaufen und sie einem Nachbarskind schenken,
das entsprechende Zuwendungen mehr oder weniger direkt zur Bedingung des
Fortbestandes ihrer Freundschaft gemacht hatte. Etwa nach dem Motto: wenn
du mir keine Schoko gibst, spiele ich nicht mehr mit dir. Und für die Wünsche
der Spielgefährtin war das Taschengeld für die Tochter natürlich nicht be-
rechnet.
Die Mutter nahm ihr Kind in den Arm und tröstete es. Und damit war die An-
gelegenheit erledigt und wurde nie wieder erwähnt. Das Mädchen wuchs her-
an; im Umgang mit Geld war sie stets zuverlässig, ehrlich und sorgsam.
8. Soziale Einflüsse:
Es war im Zusammenhang mit den Bedürfnissen unserer Kinder die Rede vom
„Vertrauen“ und davon, dass wir ihnen etwas zutrauen müssten, wenn sie selb-
ständig und souverän ihre Angelegenheiten meistern lernen sollen. Besonders in
diesem Bereich - im Umgang mit dem Geld - haben diese Verhaltensregeln hohe
Bedeutung. Sogar sparen lernen unsere Kinder, wenn wir nur das Vertrauen in sie
setzen, dass sie verstehen, wenn wir nicht so viel Geld für sie ausgeben können,
wie wir es gerne täten.
Auf einem Elternabend klagte ein Großvater darüber, dass sein Enkelkind Schwie-
rigkeiten in der Schule bei seinen Klassenkameraden habe, weil er nicht ebenfalls
einen Schulranzen der Marke XY besäße. Die Ranzen der Marke XY seien aber er-
heblich teurer als andere und es sei nicht einzusehen, dass das soziale Umfeld ein
derartiges „Diktat“ ausübe.
Der Großvater hat Recht: es ist tatsächlich nicht einzusehen, dass irgendwer ir-
gendeinen Druck auf mein Kind ausübt, nur weil ich nicht mehr Geld ausgeben
will, als ich für richtig halte. Und dem Druck beziehungsweise der Diktatur von
Marken und Trends beugen sich unsere Kinder umso eher, je mehr sie den Ein-
druck gewinnen, nur auf diese Weise anerkannt zu sein. Die Eltern in der betroffe-
129
nen Klasse beschlossen, sich gemeinsam mit ihren Kindern und den Lehrern ein-
mal zusammenzusetzen und sich darüber zu unterhalten. Wenn sich auf diese
Weise auch nicht alle Eltern überzeugen lassen, sich weiterhin dem Druck von
Werbung und der Begehrlichkeit ihrer Kinder nachgeben, so kommt doch ein Dia-
log darüber zu Stande. Wenn in Baden-Württemberg im Frühling 2001 darüber
nachgedacht wird, ob man Kindern nicht eine Schuluniform verpassen solle, um
dies leidige „Marken-Thema“ in den Griff zu bekommen, so träfe eine solche Rege-
lung nicht den Kern. Bei den Familien und den Schülerinnen und Schülern selbst
wäre anzusetzen. Der Wirtschaftsmacht „Werbung“ können wir nicht ausweichen.
Sogar Schauspieler, Sportler oder Politiker reiten auf diesem Goldesel mit. Der
einzelne Bürger kann sich dem allen nur dann entziehen, wenn er genug Selbstbe-
wusstsein und Autonomie besitzt und außerdem die Kraft und den Mut hat, sich
mit anderen, die ebenfalls diesem Einfluss widerstehen wollen, solidarisiert. Unse-
re Kinder aber sind dem hilflos ausgeliefert und meinen tatsächlich, dass ein Pro-
dukt Kinder froh macht oder dass eine bestimmte Jeans-Marke oder der Schulran-
zen aus dem Hause XY ihnen Ansehen geben.
Sobald wir uns mit diesem Problem, das viele angeht, konfrontiert sehen, wird uns
die Bedeutung ökologischen Denkens vor Augen geführt, wie wir es im Kapitel
über die Übereinstimmung in der Erziehung kennen gelernt hatten.
Gerade wenn es um Themen geht, die Eltern und Kindern gleichermaßen großen
Kummer bereiten und Auslöser vieler Familienkonflikte sind, wäre eine angemes-
sene Öffentlichkeit in den Exosystemen „alle Eltern und Kinder einer Klasse oder
Schule“ und darüber hinaus „alle Bürgerinnen und Bürger eines Gemeinwesens“
herzustellen.
Hier sollten wir ansetzen und nicht bei Regierungen, Parlamenten oder Ver-
waltungsbehörden. Diese Exosysteme haben vielmehr die Verantwortung da-
für, derartige Bestrebungen vor Ort anzuregen und zu unterstützen.
Bei Erzieherinnen und Erziehern oder Lehrerinnen und Lehrern laufen Eltern mit
derartigen Anliegen offene Türen ein. Wir dürfen nicht zulassen, dass unsere Kin-
der wegen Normen, die nicht von uns akzeptiert werden, in Not geraten. Oft aber
steht eine einzelne Familie all diesen sozialen Zwängen hilflos gegenüber. Und aus
Sorge, dass ihr Kind zum Außenseiter werden könnte, geben sie dem Drängen ih-
res Kindes nach. Diesmal aber geht es nicht um die Frage: können wir uns das leis-
ten oder nicht? Es geht immer auch darum, ob wir diese Geldausgaben wollen o-
der nicht wollen. Als Maßstab dienen uns die Bedürfnisse unserer Kinder. Darum
130
hilft in diesen Situationen, vor allem wenn sie sich zu Gefährdungen für unsere
Kinder auswachsen können (z.B. weil sie die Maßstäbe verlieren ...) nur gemein-
sames Handeln. Überall, wo es zweckmäßig erscheint, endlich etwas zu verändern,
sind die folgenden Schritte zu gehen:
8.
Kinder spielen und lernen
Erfahrungen und Empfehlungen zum schulischen und außerschulischem
Lernen
Einführung
In diesem Kapitel geht es in der Hauptsache um das Lernen. In einer Zeit, in der das
lebenslange Lernen als Voraussetzung für ein berufliches Überleben in unseren
westlichen Industrienationen gilt, kommt dieser Thematik eine besondere
Bedeutung zu. Gewiss meinen Unternehmer, Bildungspolitiker, Lehrer oder wir
Eltern, wenn sie im Zusammenhang mit der Zukunft und dem beruflichen Erfolg
unserer Kinder vom „Lernen“ sprechen, eher das gezielte, geplante und von Experten
begleitete Lernen, wie es im Kindergarten beginnt und über Schule und
Berufsausbildung bis hin zu Fort- und Weiterbildung immer wieder gefordert oder
angeboten wird. Doch nicht dieses gleichsam instrumentalisierte Lernen steht im
Vordergrund unserer Ausführungen. In den folgenden Abschnitten geht es vielmehr
131
um eine Besinnung auf jene Voraussetzungen, die ein optimales Lernen in allen
denkbaren Bereichen unseres Lebens ermöglichen. Selbstverständlich stehen unsere
Kinder im Mittelpunkt. Dennoch lassen sich eine ganze Reihe der hier
vorzutragenden Erfahrungen und Erkenntnisse auf alle unsere Lebensphasen
übertragen. „Man lernt nie aus“ sagen wir gern, wenn wir wieder etwas Neues
entdecken. Das sagten Eltern häufig, die an Veranstaltungen teilnehmen, in denen
das Lernen, vor allem das Lernen für die Schule thematisiert wird. Doch wir können
davon überzeugt sein, dass die meisten von uns, die diese Abschnitte lesen, meinen,
dass sie das selbst gesagt haben könnten, weil wir unsere eigenen Erfahrungen
wieder finden! Denn die Ansichten und Erfahrungen jener Eltern, die an diesen
Texten durch ihre Beiträge mitgewirkt haben, entsprechen unseren allen
Erfahrungen. Es gilt aber, daraus Schlussfolgerungen für den Alltag zu ziehen und
alles das umzusetzen, was im Interesse optimaler Lernbedingungen für unsere
Kinder von uns für wichtig erkannt worden ist. Die folgenden Abschnitte werden
dabei helfen.
Zunächst wird das Lernen an sich dargestellt und danach gefragt, wie Kinder
lernen.
Dann steht das Spiel als der natürliche Einstieg in lernende Verhaltensweisen
im Mittelpunkt.
Im dritten Abschnitt werden einige Erfahrungen und Schlussfolgerungen für
schulisches Lernen vorgetragen.
Am Anfang allen Lernens steht ein uns Menschen angeborener und lebens-
notwendiger Trieb: Wir wollen und müssen alles erkunden, was uns neu
beziehungsweise fremd ist. Auf diese Weise erschließt sich uns unsere nähere und
weitere Umgebung. Bei nicht wenigen von uns ist es dieser Trieb, wir sagen in Bezug
auf uns Erwachsene auch gern: es ist unser Bestreben, möglichst viel von der Welt
kennen zu lernen. Und zwar selbst und nicht allein durch Dritte - also nicht über
Texte, Bilder, Erzählungen oder Filme. Die Reise- und Wanderlust hat in diesem
Bestreben eine ihrer Ursachen. Ohne sie hätte Kolumbus nicht versucht, den Seeweg
nach Indien zu finden und Amerika wäre damals unentdeckt geblieben. Die
Ferienreiseagenturen unserer Tage gäbe es überhaupt nicht, wenn wir kein
„Fernweh“ hätten.
Aber auch daheim können wir unsere Wissbegierde manchmal nicht bremsen.
Ausgesprochen interessiert schauen wir aus dem Fenster (vielleicht auch nur durch
einen Spalt im Vorhang), wenn der Möbelwagen am Haus gegenüber vorfährt und
ein neuer Nachbar einzieht. Selbst wenn wir nicht die Absicht haben dort gleich
Kontakte zu knüpfen, möchten wir doch zu gerne wissen, wer denn da nun einzieht.
Diese Neugierde ist also eine wichtige Triebfeder unseres Verhaltens.
132
Die Neugier, oder, wie wir besser sagen können, die Wissbegierde bzw. das
Erkundungsverhalten des Menschen, ist geradezu der zentrale Motor, der die
Motivation antreibt. Der Reiz des Neuen ist sozusagen der Treibstoff unseres Motors.
„Kinder erspielen sich die Welt“ hieß es in einem Rundfunkbeitrag über den Sinn des
Spielens24. Hierzu die folgenden, den meisten von uns wohlbekannten Erfahrungen:
Entdeckungsfreude können wir bei unserem Kind bereits im Kinderwagen
beobachten, wenn der Säugling vor Vergnügen strampelt, wenn wir ihm etwa ein
kleines Püppchen vor die Augen halten. Noch kann unser Kind nicht gezielt
zugreifen. Doch die Finger gehen auf und zu und wenn wir das Püppchen hinein-
legen, wird es festgehalten.
In den Wohnräumen wird unser Kind versuchen an alles heranzukommen, was sein
Interesse weckt. Vor allem vertrauten Gegenständen nähert es sich ohne Scheu. Zum
Beispiel dem Küchenschrank. Die Küchenunterschränke kennt es gut, wenn die
Mutter das Kind auf einem Teppich auf dem Küchenfußboden hat spielen lassen, als
es noch nicht krabbeln konnte. Der sieben Monate alte Heinz rollte sich über die
linke oder die rechte Seite, um an einen begehrten Gegenstand heranzukommen.
Noch scheiterten seine Bemühungen, vorwärts zu krabbeln. Er richtete sich zwar auf,
fiel aber beim Versuch vorwärts zu kommen, stets auf sein Kinn. Eines Tages aber
kann es sich auf allen Vieren fortbewegen und zu seinen ersten Zielen gehörten die
Türen der Schränke. Sind die erst einmal geöffnet, dann muss auch nachgeschaut
werden, was sich im Schrank befindet. Und so treffen wir unser Kind inmitten von
Tüten und anderen Behältern an, deren Inhalte es genau untersucht. Wie schon
vorher wird es seinen Mund als Prüflabor verwenden und auf diese Weise lernen,
was schmeckt oder was nicht genießbar, was rund oder eckig, was weich oder hart,
was heiß oder kalt ist. Wenn es sich aufrichten kann, wird es nach allem greifen, was
in Reichweite ist und sogar in Schubladen steigen, um etwas höher hinauf gelangen
zu können.
Alle diese Verhaltensweisen sind ganz normal, ja ausgesprochen wichtig für eine
gesunde - vor allem geistige und motivationale Entwicklung. Eltern, die ihrem Kind
bei derartigen Gelegenheiten auf die Finger schlagen und ständig "ba" oder „pfui“
rufen: "das fasst man nicht an", „das darf man nicht“, „nicht in den Mund nehmen“,
werden zwar erreichen, dass die infrage kommenden Gegenstände nicht mehr
berührt werden. Da ein so kleines Kind aber noch nicht unterscheiden und die
Gründe der Eltern durchschauen kann, wird es bald meinen, dass es nicht gut sei,
überhaupt noch etwas zu erkunden - und wird es einschränken oder gar die Finger
von allem lassen, was es nicht kennt. Damit aber hätten wir die natürliche
Entwicklung der Motivation gebremst oder gar abgebrochen und unserem Kind
unnötig Angst gemacht und eingeschüchtert.
Eine besorgte Mutter mag einwenden:
„Aber wenn ich erlaube, dass mein Kind alles in die Hand oder in den Mund nehmen
darf, dann kommt es doch leicht zu Schaden!“ Gewiss - wenn wir schädliche Dinge in
seiner Reichweite lassen. Das heißt also, dass wir alles das für ein Kind unerreichbar
aufbewahren, was ihm schaden könnte. Nur dort, wo das nicht geht (zum Beispiel
Bügeleisen oder Herdplatten und heiße Töpfe), da bringen wir dem Kind frühzeitig
bei, dass hier Gefahr droht. Im Grunde aber lernen die wenigsten Kinder
133
"theoretisch". Um zu erfahren, was "heiß" bedeutet, mussten wir uns wohl alle in
unserem Leben erst "den Mund verbrennen". Ganz ohne Risiko wachsen unsere
Kinder also nicht heran. Wir Eltern aber vermeiden Risiken und schränken sie ein,
wenn wir das Tun und Lassen unseres Kindes im Auge haben und wenn wir das aus
der Wohnung verbannen, was unserem neugierigen Kind schaden könnte.
"Messer, Gabel, Schere, Licht - dürfen kleine Kinder nicht" - das war der Spruch, den
unsere Großeltern stets im Munde führten. Dort, wo diese Regel heute noch gelebt
wird und Kinder nicht frühzeitig an den Umgang auch mit gefährdenden
Gegenständen gewöhnt werden, entwickeln sich Hemmungen, werden Lernchancen
verpasst und Unselbständigkeit gefördert.
Ein hochbedeutsames Neugier Verhalten richtet sich auf andere Kinder. Bereits die
Kleinsten krabbeln aufeinander zu, betasten sich, greifen zu, ziehen sich an den
Haaren und Kleidungsstücken und werfen dabei stets einen Blick hinauf zur Mutter.
Aus ihrer Nähe wächst ihnen gleichsam der Mut zu diesem „Kontaktsuchverhalten“
zu.
Für Kinder sind andere Kinder so wichtig, dass sie sich auch zu den
Grundbedürfnissen zählen ließen (vgl. dazu auch S. 34) Soziales Verhalten lernt zum
Beispiel ein Kind am besten in einer Gruppe mit Kindern, die zunächst altersmäßig
nicht gar so weit auseinander sind. Natürlich müssen sie nicht gleichaltrig sein, so
wie das in den Klassen öffentlicher Schulen meistens der Fall ist. Worauf kommt es
denn an? Kinder sollen erleben können, dass der Umgang mit ungefähr gleich alten,
gleich starken und gleich schwachen, gleich geschickten und ungeschickten Kindern
anders ist, als der mit den Eltern und Großeltern oder mit dem älteren oder jüngeren
Geschwisterchen. Darum ist es für die soziale Entwicklung von Kindern so wertvoll,
dass sie mit anderen Kindern spielen können, sei es drinnen in der Wohnung, wo
einsichtige Eltern hierfür Raum geben und Kinder aus der Nachbarschaft zulassen.
Draußen, in Garten und Hof oder im Kindergarten, auf dem Spielplatz oder auf
Spielstraßen begegnen unsere Kinder ebenfalls anderen Kindern.. Dort sammeln sie
Erfahrungen - das heißt also: sie „lernen“ - die wir ihnen so gar nicht vermitteln
können, wie zum Beispiel
Wettbewerb
wer ist am schnellsten, am mutigsten...
Eigentum
meine Puppe, deine Puppe...
Teilen
darf ich mal abbeißen? gibst du mir ein Stück ab?
Zuneigung (und deren Wechselhaftigkeit)
Peter/Petra mag ich am liebsten...
Streit
ich spiele nicht mehr mit dir, weil...
134
Kampf
ich bin genauso stark wie du!
Hilfe
machst du mir bitte hinten den Knopf zu?
Noch einmal sei betont: Es ist etwas ganz anderes, wenn ein Kind diese Erfahrun-
gen im Umgang mit anderen Kindern seiner Entwicklungsstufe als im Umgang
mit den von ihm als übermächtig erlebten Erwachsenen oder Jugendlichen macht.
Wir Erwachsene können ein Kindergartenkind auch gegen seinen Willen hochhe-
ben und woanders hintragen, wenn wir das aus irgendeinem Grunde so wollen.
Umgekehrt geht das nicht. Und steht unserem Kind ein anderes Kind im Weg,
dann muss es sich mit ihm irgendwie verständigen, wenn es vorbei will: wegtragen
kann es das andere Kind nicht.
Dass all unsere Denkvorgänge und hier vor allem die Aneignung neuer Erfahrun-
gen eine materielle biologische Basis haben, ist jedermann geläufig. Über unsere
Sinnesorgane, über die Ohren, die Augen, den Tastsinn nehmen wir Eindrücke
wahr und in unserem Gehirn werden sie verarbeitet. Obwohl wir alle über die glei-
chen Eingangskanäle verfügen, über die wir unsere Umwelt wahrnehmen und
neue Eindrücke aufnehmen, begreifen wir zum Beispiel einen Lerninhalt nicht alle
gleichermaßen auf die gleiche Weise. Der eine versteht einen neuen Lerninhalt,
wenn ihm der Gegenstand im Gespräch vermittelt wird (auditiv); ein anderer er-
fasst diesen Lerninhalt am ehesten durch Beobachtung und Experiment (visuell),
einem dritten prägt sich dieser Lerninhalt am besten ein, wenn er ihn betasten o-
der fühlen kann (haptisch) ein vierter endlich erfasst den Lerngegenstand rein
durch den Intellekt abstrakt-verbal.
Diese, ebenfalls recht abstrakte und grobe Einteilung nach "Lerntypen", finden wir
in Wirklichkeit nicht in absoluter Einseitigkeit wieder. Es ist vielmehr so, dass wir
umso eher etwas verstehen und behalten, je mehr Kanäle bei der Aufnahme in
Anspruch genommen werden. Ausgehend von dieser Erkenntnis müsste jeder
neue Lerninhalt in unseren Schulen mit Hilfe verschiedener beziehungsweise mul-
timedialer Methoden vermittelt werden. Das hätte einmal den Vorteil, dass alle
Lerntypen, die in einer Schulklasse vertreten sind, angesprochen werden können.
135
Das hätte zum anderen aber den unschätzbaren Effekt, dass bedeutend mehr
Schüler als bisher üblich, den Wissensstoff begreifen und im Gedächtnis behalten.
Hier soll zur Illustration auf den Anfangsunterricht in der Grundschule verwiesen
werden. Wenn eine Lehrerin / ein Lehrer diese Erkenntnisse ernst nehmen, dann
vermitteln sie die Schriftsprache (also Lesen und Schreiben) nicht allein über das
Ohr und die Augen. Da werden im Unterricht Buchstaben gemalt und geknetet,
aus Teig geformt, gebacken und dann gegessen. Silben werden zu Takt und
Rhythmus, um Worte und Begriffe entstehen Geschichten und Spiele. Wenn in
dieser Beziehung im Unterricht auch schon viel getan wird und es Lehrer gibt, die
diese lernbiologischen Erkenntnisse umsetzen, so werden doch, vor allem in den
weiteren Schuljahren mehr und mehr, alle Lerninhalte überwiegend akustisch und
zunehmend abstrakt vermittelt und sprechen darum im wahrsten Wortsinne ledig-
lich eine Minderheit der Schülerinnen und Schüler an.
Nicht wenige reagieren auf abstrakt-verbale Vermittlungen mit völligem Unver-
ständnis oder, wie wir umgangssprachlich zu sagen pflegen: „sie begreifen schwer
oder überhaupt nicht, was der Lehrer erzählt“. Das Bruchrechnen zum Beispiel hat
ein Kind erst als Jugendlicher in der Berufsausbildung begriffen, als ein Berufs-
schullehrer die Grundregeln dieser Rechenart über einfachste, vom Schüler selbst
zu bastelnde Hilfsmittel vermittelte. Hier könnten jede Mutter und jeder Vater aus
eigener Erfahrung einige Beispiele hinzufügen. Wichtig bleibt in diesem Zusam-
menhang die Erkenntnis, dass ja auch unser eigenes Kind eigene Fähigkeiten des
Lernens besitzt, die herauszufinden und zu berücksichtigen mit Hilfe einer/s kun-
digen Pädagogin / Pädagogen nicht allzu schwierig sein dürfte.
Wann wissen wir denn, ob ein Kind etwas „gelernt“ hat? Nun, die Antwort auf die-
se Frage können wir wieder am eigenen Beispiel geben. Wir haben etwas gelernt,
wenn wir das Neue wissen und wiedergeben und anwenden können. Autofahren
zum Beispiel haben wir in der Fahrschule gelernt, unser Wissen und (Anfangs-)
Können in der Fahrprüfung nachgewiesen und mit zunehmender Fahrpraxis gin-
gen uns Theorie (Verkehrsregeln z.B.) und Praxis (Beachten der Verkehrsregeln)
„in Fleisch und Blut“ über. Ein fünfzehnjähriger Junge, der vier Jahre Englisch
gehabt hat, zeigt uns, dass er etwas gelernt hat (im Sinne von Wissen), wenn er mit
einer guten Klassenarbeit nach Hause kommt. Sein Können aber zeigt er erst dann,
wenn er seine Sprachkenntnisse auch anwendet; beim Schüleraustausch zum Bei-
spiel.
Und wie sieht es mit Lernprozessen durch Fernsehen aus? Darüber gibt es einige
Informationen im Kapitel über den Umgang mit elektronischen Medien.
136
Was das Lernen fördert oder behindert
Dass ein Kind ein von den Angehörigen vermitteltes negatives Selbstbild in Bezug
auf seine Lernfähigkeiten durchaus überwinden kann, zeigt uns folgendes Schick-
sal:
Ein achtjähriges Mädchen wurde von seinen Eltern dem Leiter eines Kinder-
heimes mit den Worten übergeben: „Hier isch unser Dubele“ (hier ist unser
Dummerle).
Das „Dubele“, ein stilles, verschüchtert wirkendes Mädchen, hatte sich tatsäch-
lich in den Monaten vor der Aufnahme in diesem Kinderheim in einer Einrich-
tung für geistig- und mehrfach behinderte Kinder und Erwachsene befunden.
Dort war es zur Beobachtung hingebracht worden, weil alle Tests auf eine
Schulunfähigkeit des Kindes deuteten und dennoch der „allgemeine Entwick-
lungsstand“ altersentsprechend war. In der Behinderteneinrichtung stellten
die Fachleute rasch fest, dass die von den Eltern vermutete geistige Behinde-
rung in Wirklichkeit gar nicht bestand. Sorgsame Recherchen ergaben endlich,
dass dieses Mädchen von seinen Eltern und den sechs Geschwistern vom
Kleinkindalter an für geistig behindert (dubelig) gehalten und entsprechend
137
behandelt worden war. Nicht einmal einen Kindergartenbesuch wollte man
dem „Dubele“ zumuten.
Wie das alles begonnen hatte, ließ sich nicht mehr feststellen. Warum alle Be-
teiligten nichts dabei fanden und niemand auf die Idee kam, die Richtigkeit der
Unterstellung (wir haben ein geistig behindertes Kind) von Sachverständigen
(zum Beispiel einem Kinderarzt oder Psychologen) überprüfen zu lassen, ist ei-
ne Geschichte für sich.
Die Sonderschule für Lernbehinderte, die das Mädchen vom Heim aus zu-
nächst besuchte, stellte bald eine normale Begabung fest. Diese normale Bega-
bung war während der Jahre im Elternhaus dem Kind sozusagen ausgeredet
worden. Niemand hatte ihr zugetraut, dass sie etwas würde lernen und leisten
können.
Als die Achtjährige in die erste Klasse einer Grundschule umgeschult wurde
und sich die Anforderungen an sie innerhalb relativ kurzer Zeit normalisierte,
unterschied sie - außer der Körpergröße - bald nichts mehr von den anderen
Kindern. Stets im oberen Leistungsdrittel ihrer Klassen und ohne Schwierig-
keiten durchlief sie die Schulzeit, erwarb einen mittleren Bildungsabschluss,
erlernte einen Beruf und hatte auch als Erwachsene, gemessen an Maßstäben
unserer Leistungs- und Konsumgesellschaft, Erfolg im Leben.
Gewiss ist das ein extremes Beispiel und wird eine Ausnahmeerscheinung sein.
Aus Pflegestellen und Heimen aber wissen wir, dass sich ein Wechsel der sozialen
Umgebung auf die Entwicklung von Kindern dann günstig auswirken kann, wenn
das alte Umfeld die Bedürfnisse von Kindern nach Förderung und Ermutigung
sowie nach einem positiven Selbstbild grob vernachlässigte.
Diese Geschichte belegt aber noch eine andere Bedingung von Lernprozessen: An-
regung heißt zugleich auch Anforderung. Die Motivationspsychologie hat den Zu-
sammenhang zwischen herausfordernden Anreizen aus der Umwelt und dem Inte-
resse eines Menschen, diese Herausforderungen zu meistern, nachgewiesen (Heinz
Heckhausen, Weinheim 1972 oder Josef Keller, München 1981). Denken wir an ein
Kind, das sich darum bemüht Fahrrad fahren oder Schwimmen zu lernen. Stellen
wir Eltern nicht gelegentlich erstaunt fest, wie „zäh und verbissen“ unser Kind übt,
bis es endlich auf dem Fahrrad sein Gleichgewicht halten kann oder im Wasser
nicht mehr untergeht sondern sogar vorwärts kommt. Manchmal beobachten wir,
dass es auch ganz für sich allein um eine Fertigkeit ringt, etwas bastelt oder baut
und dabei eine uns erstaunende Ausdauer und Geschicklichkeit entwickelt. Es sind
also Gegenstände und Spielsituationen, die ein Kind herausfordern, etwas zu leis-
ten und es sind wir Eltern, Erzieherinnen und Lehrerinnen und Lehrer und Lehrer,
die dem Kind etwas abverlangen beziehungsweise ihm Anforderungen stellen. Es
ist nicht einfach, hier ein für jedes Kind angemessenes Maß an Anforderung zu
finden. „Ach, das ist ja babyleicht“ mögen wir Erwachsenen dann gar nicht gerne
hören, wenn sich tatsächlich eine Unterforderung hinter der gestellten Aufgabe
verbirgt. Manchmal freilich macht sich ein Kind mit diesem „Spruch“ nur Mut.
Andererseits wissen wir auch, dass eine Überforderung, also eine Aufgabe, die ein
bestimmtes Kind einfach noch nicht bewältigen kann, Resignation und Lernunlust
138
fördern. In der Schulpraxis gibt es darum „Tests“ mit Hilfe derer eine Lehrerin
oder ein Lehrer Wissen und Können eines jeden Kindes in einem bestimmten Fach
mit ziemlicher Genauigkeit feststellen kann. Ob eine Information von unserem
Gehirn so gespeichert wird, dass sie sich als Erinnerung fest verankert und in neu-
en (neu erlernten) Einstellungen und Verhaltensweisen niederschlägt, hängt, wie
hier dargestellt, ganz wesentlich von den Begleitumständen und von allen während
des Aufnahmevorgangs ablaufenden bewussten und unbewussten Wahrnehmun-
gen, den sogenannten "Sekundärinformationen" ab. Sind uns zum Beispiel diese
Begleitumstände rein gefühlsmäßig unangenehm (Beispiel: die Lehrerin/der Leh-
rer ist einem zuwider, weil sie/er uns abfällig behandelt), wird unser Aufnahme-
vermögen blockiert: Biochemische Prozesse verhindern die Weiterleitung der In-
formation an das Langzeitgedächtnis. Es gibt noch weitere „Pförtner“, die darüber
entscheiden, ob eine Information in unser Langzeitgedächtnis weitergeleitet oder
abgewiesen wird. Genannt werden sollen:
der Grad der Aufmerksamkeit, die wiederum abhängt vom Ausmaß positiver
Assoziationen;
bereits vorhandenes Wissen zu diesem Gegenstand, mit dem sich die neue In-
formation nun leichter verbindet, als wenn noch gar keine Verknüpfung mög-
lich wäre;
die Erfolgszuversicht, die wir aufgrund unserer Erfahrungen mit diesem Ge-
genstand verbinden.
In der Familie und in der Schule kommt es also darauf an, alles zu vermeiden, was
eine "negative Hormonlage" auslöst und damit den Zugang zum Langzeitgedächt-
nis versperrt. In besonders dramatischer Weise erleben wir die Folgen der Miss-
achtung dieser biologisch begründeten und damit naturgesetzlich verankerten
Einsicht bei den Kindern, die zwar eine gute Intelligenz besitzen, durch ungünstige
äußere Umstände aber daran gehindert werden, diese Intelligenz in Lernerfolge
umzumünzen.
Auch zu dieser Aussage ein Beleg. Alexander erzählt seine Geschichte selbst.
„Ich bin 1966 geboren, lebte zuerst bei meiner Mutter und deren Partner und
ab meinem vierten Lebensjahr im Heim. Als ich schulpflichtig wurde, war ich
gerade in einem Heim mit einer Sonderschule für Lernbehinderte. Also kam ich
in diese Sonderschule. Als das Heim 1978 schloss, wurde ich von dem Sozialar-
beiter Herrn D., der auch mein Vormund war, in ein anderes Heim gebracht.
Von dort aus besuchte ich die Sonderschule in der Kreisstadt. Ich wurde der
beste Schüler in der Klasse. Als ich die neunte Klasse der Sonderschule abge-
schlossen hatte, empfahlen mir der Heimleiter und mein Klassenlehrer, die
neunte Klasse an einer Hauptschule zu wiederholen und dort die Hauptschul-
abschlussprüfung zu machen. Die Frau vom Heimleiter, die Englischlehrerin
ist, gab mir Nachhilfeunterricht in dieser Sprache, weil ich an der Sonderschu-
le kein Englisch gehabt hatte. Die Hauptschulabschlussprüfung bestand ich
und bekam sogar einen Preis für den besten Aufsatz. Ich wollte gern einen
139
technischen Beruf lernen. Also ging ich zur Zweijährigen Berufsfachschule Me-
tall und erwarb dort mit achtzehn Jahren die Mittlere Reife. Anschließend er-
lernte ich den Beruf eines Maschinenschlossers. In dieser Zeit verließ ich das
Heim und nahm ein eigenes Zimmer, das mir mein Lehrmeister vermietete,
der zugleich Fußballtrainer in meinem Verein war. Nach der Lehrzeit leistete
ich den Wehrdienst bei der Bundeswehr und lernte dort Auto fahren.
Nach der Bundeswehrzeit ging ich zunächst in den Ausbildungsbetrieb zurück.
Wenig später zog ich nach S. und erwarb dort an einer Fachhochschule die
Hochschulzugangsberechtigung. Ich studierte ein Jahr auf einen Ingenieurbe-
ruf hin, wechselte dann aber an eine Fachhochschule für Sozialwesen. Heute
bin ich Diplomsozialpädagoge und habe in diesem Berufsfeld eine anspruchs-
volle Aufgabe gefunden. Vor sieben Jahren heirateten meine Freundin, eine
Diplomsoziologin, und ich. Wir haben zwei prächtige Kinder...“
Schaffen wir also eine der kindlichen Entwicklung förderliche Umgebung und las-
sen uns nicht von anderen Personen und Institutionen ins Boxhorn jagen: Zwar
wird nur im Ausnahmefalle ein zunächst als lernbehindert geltendes Kind später
die Hochschulreife erwerben. Behinderungen in den ersten Schuljahren können
aber durchaus auf eine Fehleinschätzung - und entsprechender Fehlplatzierung
zurückzuführen sein.
Es gibt noch andere Einflüsse, wie die sozialen, also über zwischenmenschliche
Kontakte laufende Anregungen und die materialen, die natürlichen und gegen-
ständlichen Umwelteinflüsse. Beide sind von erheblicher Bedeutung für alle Be-
reich der Entwicklung. Und zwar von dem Moment an, in dem das Kind "das Licht
der Welt erblickt". Vor dreißig Jahren hörten wir von Eltern noch die Redewen-
dung vom "dummen viertel Jahr". Gemeint war etwa der Zeitraum, in dem das
neugeborene Vater oder Mutter noch nicht erkennbar deutlich anlächelt oder sonst
einen Kontakt mit ihm aufzunehmen scheint. Diese Zeit aber ist, wie die Gehirn-
forschung unserer Tage nachgewiesen hat, für die Endphase der im Mutterleib be-
gonnen Herausbildung grundlegender Hirnfunktionen von ganz entscheidender
Bedeutung. Die verschiedenen Anregungsbedingungen der Umwelt sind für die
ebenso verschiedenen "Anlagen" unserer geistigen Entwicklung verantwortlich zu
machen. Die Fähigkeiten zum Sehen, Hören, Riechen, Sprechen, zum Denken er-
halten in den ersten Lebenswochen eine elementare Grundlage, die nach dem drit-
ten Lebensmonat ihre endgültige und nicht mehr beeinflussbare Gestalt ange-
nommen hat. Zudem bringt jedes Kind seine eigenen, unverwechselbaren indivi-
duellen Anlagen mit. Sie beeinflussen zum Beispiel das jeweils unterschiedliche
Erkundungsverhalten was darf/soll ich – was darf/soll ich nicht? Wie weit
darf/kann ich gehen?
Auf diese "Hardware" baut alle weitere Entwicklung auf. Diese Entwicklung ist
nach wie vor in qualitativer wie in quantitativer Hinsicht von der sozialen und der
dinglichen Umwelt abhängig.
Machen wir uns den Wert positiver sozialer Kontakte am Beispiel der Sprachent-
wicklung deutlich
140
Ein Kleinkind wurde gebadet und liegt nun auf einer Decke im warmen Bad; Mut-
ter oder Vater beugen sich über ihn und freuen sich an dem munteren zufriedenen
Kind, dessen Augen alle Gegenstände abzutasten scheinen und das dabei laut und
fröhlich vor sich hin lallt. Plötzlich formt es zum ersten Mal die beiden Silben, die
ihm die Eltern so oft vorgesagt haben: "Mama". Die Reaktion der Eltern ist ganz
natürlich: sie freuen sich und wiederholen ihrerseits das Wort. Das Kind weiß zu
dieser Stunde noch nicht, was dieses Wort bedeutet. Aber es spürt mit allen seinen
Sinnen das positive Echo, das es auslöst. Der Fachmann sagt dazu: das Kind wurde
"sozial verstärkt". Je deutlicher und zuverlässiger das Kind im weiteren Verlauf
seiner Sprachentwicklung derartige gute Erfahrungen macht: es sagt etwas - El-
tern, Geschwister, Großeltern (kurz: die soziale Umwelt) freuen sich und wieder-
holen bekräftigend das Gesagte, umso lieber und selbstverständlicher wird das
Kind sprechen. Damit es von Anfang an richtig sprechen lernt, wiederholt die sozi-
ale Umwelt nicht etwa den vom Kind oft mühsam genug gesprochenen Begriff, so
wie das Kind es vermag, sondern in seiner sprachlich korrekten Form. Also nicht
"Lala", wenn das Kind "Schokolade" meint, aber das schwierige Wort noch nicht zu
sprechen vermag, sondern wir sagen dann zum Beispiel: „Hier bekommst du die
Schokolade“. Wir brauchen keine Sorge zu haben, dass wir das Kind damit über-
fordern. Wir erwarten ja nicht, dass es den Begriff richtig ausspricht, denn das
wird es eines Tages von alleine tun. Wir korrigieren nur und das gleichsam neben-
bei und wie selbstverständlich und ohne jeden Vorwurf in der Stimme. Würden wir
die kindliche Sprache dagegen nachahmen, in der falschen Annahme, dass das
Kind uns sonst nicht versteht, verzögerten oder verhinderten wir, dass unser Kind
seine Muttersprache korrekt sprechen lernt. Hüllen wir also unsere Kinder in
Sprache und zwar von Anfang an in die, die wir selber sprechen.
An diesem Beispiel wird zugleich deutlich, welche Rolle das Vorbild spielt. Erzie-
hung realisiert sich, wenn die „Menschen in der Umgebung des Kindes das vorma-
chen, was es nachahmen soll“ (Rudolf Steiner 1983, S. 17). Ein Vorbild ist für ein
Kind vor allen anderen jede Person, die für das Kind aus irgendeinem Grund eine
besondere positive Bedeutung hat: Die Menschen, die das Kind lieb hat und von
denen es sich geliebt weiß, stehen an erster Stelle. In der weiteren Entwicklung
kommen Menschen hinzu, die es mag oder verehrt aus welchen Gründen auch
immer. Kindergärtnerinnen, aber auch Lehrerinnen und Lehrer und Lehrer, ältere
Mädchen und Buben aus der Nachbarschaft, später sind es vielleicht Idole aus
Film oder Musik und viele andere mehr. Von entscheidender Bedeutung, weil in
den ersten Lebensjahren prägend, aber sind die Vorbilder in der unmittelbaren
sozialen Umwelt des Heranwachsenden. Wie stark sich derartige Prägungen auf
die Leistungsbereitschaft von Kindern auswirken, soll die folgende Geschichte ver-
anschaulichen, die ein Lehrer erzählte:
„Als ich vor vielen Jahren Schulanfänger unterrichtete, fiel mir in einer Klasse
der Peter dadurch auf, dass nichts von dem, was ich vermittelte hängen blieb.
Er kam weder in Deutsch noch in Rechnen richtig voran und gehörte bald zu
den Schlusslichtern der Klasse. In jenen Jahren war es noch üblich gewesen,
die Kinder vor der Einschulung auf ihre Schulreife hin zu untersuchen. Den
141
Testunterlagen zufolge aber war das Kind normal entwickelt und voll schul-
reif. Bevor ich mich mit den Eltern über diese mir, bei diesem ansonsten leb-
haften und aufgeschlossenen Jungen unverständliche Entwicklung Klarheit
verschaffen konnte, lieferte Peter in einer Unterrichtsstunde selbst eine Erklä-
rung. Bei einer passenden Gelegenheit meldete er sich zu Wort und verkündete
laut und unbekümmert in seiner Muttersprache: "Mei Papa sagt immer: wer
schafft isch e Dubel" (ins Hochdeutsche übersetzt: wer arbeitet ist dumm). Als
ich dieser Äußerung nachging und mit der gebotenen Vorsicht in der Familie
recherchierte, bestätigte es sich: der Papa hatte zwar ein Handwerk gelernt,
hielt aber nichts von regelmäßiger Arbeit, stattdessen mehr von Wirtshausbe-
suchen. Da er seine Lebensweise in der Familie und außerhalb als alleinselig-
machende Tugend verkündete, blieb dem Jungen gar nichts anderes übrig, als
seinem Vorbild zu folgen. Denn Vater und Sohn liebten sich; die Mutter hatte
in dieser Familie nicht viel zu sagen.“
Doch auch in abgeschwächter Form können sich Vorbilder nachteilig auf das Inte-
resse von Kindern an schulischer Arbeit auswirken. Da ist nur daran zu denken,
dass alle Vorbilder in der Umgebung des Kindes, die unzufrieden sind mit ihrer
Arbeit oder gar an ihr leiden, keineswegs das Interesse ihrer Kinder an Arbeit oder
die für die Hausaufgaben notwendige Arbeitshaltung fördern. Im alltäglichen Zu-
sammenleben fügen sich viele unbedachte Kleinigkeiten zu Grundhaltungen der
Unlust und Verdrossenheit zusammen. Beispiele gibt es so viele, wie es alltäglich
notwendige Tätigkeiten gibt. Die Kinder registrieren sehr genau, wer in der Fami-
lie mit welcher Haltung welche Arbeiten macht. Betten beziehen und sauber ma-
chen, abwaschen, aufräumen, Briefe schreiben, Rechnungen bezahlen, einkaufen
gehen und vieles andere mehr begleitet unser Leben und wir können sagen: das ist
unsere Privatsphäre; es geht niemanden etwas an, wie wir sie gestalten. Jeder fühlt
sich auf seine Weise wohl. Und das ist sein gutes Recht. Doch niemand sollte ver-
gessen, dass die Kinder von uns, von Eltern, älteren Geschwistern, Großeltern und
den Erzieherinnen und Lehrerinnen und Lehrer und Lehrern lernen, ob sich die
Mühen des Lernens lohnen.
142
Über das Spiel und seine Bedeutung
Alles wird dem gesunden Kind zum Spiel. Das Spiel ist die Existenzweise unserer
Kinder, das „eigentliche Feld kindlicher Tätigkeit ... im Spiel vollziehen sich we-
sentliche Teile kindlichen Lernens und kindlicher Lebenserfahrung“ (Andreas
Flitner, München 1972, S. 76), Kinder sind Meister des Konjunktivs“ schreibt
Klaus A. Daigl (Freiburg 1988, S. 9) und bestätigt unsere eigenen Erfahrungen:
„ich wäre jetzt die Mutter, du wärst das Kind, das wäre unser Haus, das wäre ein
Teller...“. So verteilen unsere Kinder ihre Rollen untereinander, sie verwandeln
Menschen und Gegenstände und ihre Vorstellungskraft erlaubt ihnen, alle mögli-
chen Lebenssituationen zu erproben. „Du tätst mich besuchen, du tätst mit dem
Auto kommen, du tätst Kaffee machen ...“
Zeitdimensionen haben für Kinder ebenso eine andere Wirklichkeit, wie Räume
und Zustände. Kinder spielen Blinde und Kranke, versetzen sich in Tag und Nacht,
ihr Spielzimmer oder die Puppenecke im Kindergarten werden zu Straßenbahnen,
Autos, Schulen oder Krankenhäusern. Jeder von uns hat an diese Periode seiner
Kindheit eigene Erinnerungen. Da ist zu denken an die Schilderung eines Großva-
ters, der noch gern an das Gefühl der Geborgenheit und eigener Allmacht (Zauber-
kraft, Stärke) zurückdachte, wenn er zwischen den vier Beinen eines umgedrehten
Tisches sitzend, manches Abenteuer erlebte. Dieser Zwischenraum wurde ihm zum
Flugzeug, war Kinderzimmer (das er in den beengten Wohnverhältnissen nicht
hatte), zum Auto, in dem auch seine Spielgefährten Platz fanden vor allem aber zu
einem Rückzugsraum, wenn er - nach Ärger oder Enttäuschungen - seine Ruhe
haben und allein sein wollte.
Diese Kraft und Fähigkeit, Phantasie mit Erfahrungen zu mischen und daraus in
einem in erster Linie gedanklich schöpferischen Akt etwas ganz Neues zu schaffen,
fördert die Entwicklung von Kindern in hohem Maße.
Erwachsenen muss diese Fähigkeit zur Phantasie nicht verloren gehen. Wir sagen
dann gern: „Wir träumen“; zum Beispiel davon, was wir mit dem vielen Geld täten,
wenn wir es denn gewinnen würden. Allerdings brauchen bereits viele von uns Hil-
fen, sozusagen Krücken, die uns beim Träumen Inhalte vorgeben. Früher sprach
man sogar von Traumfabriken, und meinte damit die Filmstudios von Hollywood
oder Babelsberg bei Berlin. Heute kommen die Traummuster über den Bildschirm
in die Wohnungen. Und mehr und mehr auch nutzen Heranwachsende mit Hilfe
von Programmen in I-pads, sich aus der jeweiligen Realität – wenigstens ein Stück
weit – auszuklinken.
Gelegentlich bringen sie auch Anregungen und den Kindern neue Spielfiguren,
zusätzlich zum Teddybären, zum Stoffhund oder anderen Tieren. Und dies ist eine
weitere typische Normalität im Kindesalter: die Vorliebe für Puppen und Stofftie-
re, die dann, wieder durch die Kraft kindlicher Vorstellung und Zuschreibung, zum
Spielgefährten oder Tröster werden.
Die Bedeutung des kindlichen Spiels kann nicht hoch genug angesetzt werden.
Hans Zulliger (Frankfurt 1970) konnte nachweisen, dass im Spiel heilende Kräfte
wirken, die das Seelenleben von Kindern günstig zu beeinflussen vermögen. Kin-
der können das, was ihnen auf der Seele lastet, herunterspielen. Und das, was sie
143
im Alltag ständig tun, ermöglicht seelisch kranken Kindern ein Therapeut und hilft
ihnen dabei, sich selbst zu heilen. Also gehört zu den Hauptaufgaben einer Erzie-
hung im Elternhaus, den Kindern spielen zu ermöglichen, Spiele anzuregen und -
nicht zuletzt - mit Kindern zu spielen.
Gesellschaftsspiele zum Beispiel, die wir mit unseren Kindern spielen, schaffen
Bindungen, lassen unsere Kinder sich in der Familie wohlfühlen, rücken die El-
tern, vor allem den hier und da als übermächtig erlebten Vater, näher an die Kin-
der heran und beeinflussen und trainieren nicht zuletzt wichtige Eigenschaften,
wie zum Beispiel Neugierde, etwas durchhalten und zu Ende spielen, zusammen-
halten aber auch Reaktionsvermögen oder Merk- und Unterscheidungsfähigkeit.
Eltern von Kindergartenkindern oder von Kindern in der Grundschuleingangsstu-
fe, äußern gelegentlich die Sorge, dass ihre Kinder nicht genug „lernen“ und „zu
viel spielen“. Spielen aber ist keine Spielerei! Alles, was ein Kind an seiner natürli-
chen Existenz- und Lernweise hindert und ihm die Möglichkeiten nimmt oder ein-
schränkt, sich die Welt spielerisch anzueignen, schadet seiner Entwicklung. Das
Spiel, so können wir ohne jede Übertreibung festhalten, ist der Schlüssel zu einem
aktiven Leben und eine elementare Voraussetzung allen Lernens.
Das, was hierunter zu verstehen ist, lässt sich recht einfach beschreiben. Jedes
Kind braucht Platz zum Spielen. Auch unter recht beengten Wohnverhältnissen,
werden Kinder ein Eckchen für sich finden. Einsichtige Eltern helfen ihnen dabei
und bieten Gestaltungsräume für die Kinder an. Urgroßmutter nahm die Tischde-
cken vom Wohnzimmertisch und das gelbe Wachstuch kam zum Vorschein. Da-
rauf konnten die Kinder malen oder mit Holzbausteinen Häuser oder Burgen er-
richten. Oder der gleiche Tisch wird, wie oben Großvater erzählte, umgedreht.
Zwischen den Tischbeinen entstand die eigentliche Kinderwelt.
Wenn auch heute Hof und Straße Kindern nicht mehr überall zur Verfügung ste-
hen, wie in früheren Generationen, so sind doch an deren Stelle Kinderspielplätze
oder unbebaute Grundstücke getreten. In den großen Parkanlagen oder anderer,
hierfür ausdrücklich ausgewiesener Grünflächen Münchens, Frankfurts, Düssel-
dorfs oder anderer Großstädte, können sich viele Kinder tummeln. In unseren Ta-
gen reichen die zur Verfügung stehenden Kinderspielflächen aus, kommen meis-
tens in ihrer Gestaltung den Bedürfnissen unserer Kinder entgegen und bieten
ihnen Anregungen und neue Erfahrungen an. Nehmen wir noch hinzu, dass heute
mehr als achtzig Prozent aller Haushalte über gesonderte Kinderzimmer verfügen,
die, wenn auch nicht selten im Vergleich zu den anderen Räumen recht klein, den
Kindern ungestörtes Spielen ermöglichen, dann sind die Rahmenbedingungen für
viele Kinder in unserem Lande nicht schlecht. Auch die Ausstattung mit Spielzeug
ist enorm. Selbst ein flüchtiger Blick in die Kindergärten und Kinderzimmer kann
uns schwindlig werden lassen: so groß ist das Angebot an vielfältigen Spielzeugen.
Schwierig ist es zu entscheiden, was gutes Spielzeug ist und was nichts taugt. Zur
Illustration ein Erfahrungsbericht:
144
Heinz bekam zum achten Geburtstag von seiner Tante einen großen Karton.
Freudig erregt, machte er sich ans Auspacken. Die Familie schaute zu und
auch die Tante saß strahlend dabei. Ihre Mimik verriet allen, dass sie stolz war
auf ihre Auswahl und dessen sicher, mit ihrem Geschenk den Vogel abgeschos-
sen zu haben.
Bald stand das Geschenk vor aller Augen: Ein bunt bemaltes Blechungeheuer -
eine Art „Außerirdischer“ stand im Raum. Groß wie ein Fußball mit vier Füßen
und mehreren Greifarmen von denen einer eine menschliche Gestalt hielt. Die-
se Gestalt konnte Heinz aus der Greifhand lösen und in eine andere hineintun.
Und noch etwas konnte Heinz mit dem Blechungeheuer machen: es mit Hilfe
eines kleinen Schlüssels aufziehen. Dann lief drinnen ein Uhrwerk ab, dabei
entstand natürlich ein blechernes Getöse und die Arme und Beine bewegten
sich hin und her. Der Blechball drehte sich dabei ein wenig auf der Stelle.
Heinz war ein sehr höflicher Junge. Er gab seiner Tante den erwarteten Kuss
zum Dank, griff sich seine Blechmaschine und verschwand Richtung Kinder-
zimmer, wo seine Gäste warteten. Nun durfte jeder mal aufziehen und sich das
Geräusch anhören und das Blechmännchen umstecken. Am Abend prüfte
Heinz, was er denn noch mit diesem Spielzeug anfangen könnte. Und weil er
ebenso geschickt wie erfinderisch war, zerlegte er den Blechmantel und baute
den Aufziehmechanismus aus. Die Blechhülle verschwand im Müll und der Mo-
tor wurde auf ein Brettchen montiert, von wo aus er über die Antriebswelle ir-
gendwelche Lego- Konstruktionen bewegte.
Nur gut, dass dies die Tante nicht mehr sah!
Wir können diesem Beispiel entnehmen, dass für die meisten Kinder ein Spielzeug
dann gut ist, wenn mit ihm etwas angefangen werden kann und zwar im Sinne von
Kreativität, Aktivität und Konstruktivität. Fehlen diese Elemente und nimmt die
Gestalt oder Gestaltung des Spielgeräts auch noch die Möglichkeit, die eigene
Phantasie spielen zu lassen, wird es für ein Kind rasch langweilig, es wird beisei-
tegelegt oder, wie in unserem Beispiel, zerstört bzw. „umgebaut“.
Sogenanntes „wertloses Material“ wie zum Beispiel Papprollen, Kartons, Holzstü-
cke, alte Kisten oder bunte Stoffreste können gelegentlich mehr Freude bereiten,
als perfekte technische Spielzeuge. Gewiss träumen viele Mädchen und Jungen
von Puppenhäusern oder Eisenbahnen. Es reicht aber den Kindern nicht, wenn sie
das Puppenhaus nur anschauen und Püppchen nur hierhin oder dorthin setzen
oder das Geschirr aus- und einräumen können. Es genügt bei der Eisen- oder Au-
tobahn auch nicht, wenn nur der Trafo bedient werden kann. Der Spaß, einen Zug
im Kreis herumfahren zu lassen, muss durch Variationsmöglichkeiten ergänzt
werden. Und wenn ein Kind nur den Zug entgleisen lassen darf!
Die Ausdauer unserer Kinder ist altersbedingt verschieden. Insofern hat auch eine
Eisenbahn, mit der, ist sie einmal aufgebaut oder gar fest auf einem Untergrund
montiert, ein Kind eigentlich nicht mehr konstruktiv umgehen kann, nur einen
zeitlich begrenzten Reiz. Dann wird sich ein Kind anderen interessanten Spielen
zuwenden.
145
Und wie sieht es mit den Kinderwünschen aus? „Was wünschst du dir denn zu
Weihnachten?“ wird ein Kind gefragt. Hier sind die Augen sehr groß und die Wün-
sche können in’s Unermessliche steigen. Gewöhnen wir unsere Kinder frühzeitig
daran, dass sie nicht alles Spielzeug haben können. Lassen wir uns mit unseren
Kindern Zeit, in den Spielwarenabteilungen herumzulaufen und sich all die Herr-
lichkeiten zu betrachten. Dort haben wir die Gelegenheit ihnen nahezubringend,
dass man nicht alles haben kann, sondern auswählen und sich entscheiden muss.
Was dann auf den Gabentisch kommt, das freilich entscheiden wir. Wir auch kön-
nen beurteilen, welches Spielzeug einem Kind in seiner Entwicklung schadet oder
nützt. Und in unseren Entscheidungen lassen wir Eltern uns nicht von sozialem
Druck oder gar Prestigevorstellungen leiten. Nicht weil es „andere auch“ haben,
schaffen wir Spielzeug an, sondern, weil wir von dessen Wert für unser Kind über-
zeugt sind.
Übrigens ein Tipp aus der elterlicher Trickkiste: wenn unser Kind sich mal gar zu
sehr etwas wünscht, was wir Eltern für ebenso überflüssig wie kitschig halten (im
Grunde aber die Entwicklung unseres Kindes nicht beeinträchtigt), dann können
wir den Kinderwunsch an Oma und Opa herantragen. Wir bleiben zwar bei unse-
rem „Nein“ und unseren Prioritäten; unser Kind aber wird seine Freude haben,
ohne dass wir unser Gesicht verlieren.
Einen besonderen Anstoß zum Spielen braucht kein Kind. Alles wird ihm zum
Spiel. Eltern und Erzieher haben darum eigentlich mehr darauf zu achten, dass sie
das Spiel des Kindes nicht unnötig einschränken. Eine unnötige Einschränkung
wäre zum Beispiel die Behinderung des Kinderspiels in Wohnzimmer oder Küche,
wenn kein Kinderzimmer zur Verfügung steht und Kinder nicht draußen spielen
können. Die Älteren unter uns werden sich noch daran erinnern, dass es in der
ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts hier und da noch eine „gute Stube“
gab. Das war ein Raum, der nur bei besonderen Gelegenheiten geöffnet wurde.
Selbst wenn Kinder keinen Raum für sich hatten: dort durften sie nicht hinein. Die
gute Stube (der Salon) musste aufgeräumt und sauber bleiben. Die Zeiten haben
sich geändert. Und trotzdem gibt es Wohnungen, in denen Kinder nicht ungeniert
spielen können. Mal sind die Möbel zu teuer gewesen und könnten beschädigt
werden, mal sind sie für Kinder gefährlich, wie Möbel aus Glas oder Metall. Oder
es ist einfach nicht genügend Platz da. Und wenn Mutter und Vater abends nach
Hause kommen, dann soll Ruhe sein. Der Fernseher wird dann zum Kompromiss.
Er schafft die Ruhe, die die Eltern brauchen und „stellt die Kinder ab“. Auch in
Wohnquartieren, die an verkehrsreichen Straßen liegen, weichen die Eltern auf
den Fernseher aus. Dort ist es für Kinder viel zu gefährlich, draußen zu spielen.
Kinder aus Wohngebieten mit starkem Autoverkehr verbringen darum deutlich
mehr Zeit vor dem Bildschirm, als Kinder aus verkehrsberuhigten (vgl. die Studie
von Mario Hüttenmoser, Zürich 1995).
146
Spielen wir gern mit unseren Kindern?
So verschieden wie wir Menschen sind, so unterschiedlich sind die Gründe, die wir
haben, nicht zu spielen. Sobald wir, wie zum Beispiel in einer Gruppe oder beim
Kindergeburtstag, sozusagen „gezwungen“ sind, zu spielen, macht es ja auch Spaß.
Es lässt sich immer wieder feststellen, dass viele von uns Erwachsenen bestimmte
Spiele eigentlich recht gern spielen. Dennoch schaffen wir es oft nicht, aus dem
Alltagstrott herauszukommen und mit den Kindern oder mit allen Familienmit-
gliedern zu spielen. Das Fernsehen frisst freilich viel Zeit überall dort, wo die Gerä-
te nicht ausgeschaltet werden. Der Zusammenhang zwischen schädlichen Auswir-
kungen eines passiven Medienkonsums und der seelischen, geistigen und sozialen
Entwicklung unserer Heranwachsenden ist uns allen, auch ohne genaues Detail-
wissen, klar. Abschalten ohne attraktive Alternativen ist aber vielfach nicht mehr
möglich. Zu den besonders attraktiven Alternativen gehört für unsere Kinder, vor
allem für die jüngeren Kinder, das Spiel mit den Eltern.
Nun gibt es Familienmitglieder, die spielen bestimmte Spiele nicht, weil sie ungern
verlieren. Häufig gehören unsere Kinder dazu. Es gibt aber Spiele oder es lassen
sich Spielregeln erfinden, bei denen es keine Verlierer gibt.
Es gibt auch Familienangehörige, die nie Zeit haben oder lieber etwas anderes ma-
chen. Denken wir an Vereine, an Sport oder das Lesen. Hier sorgt dann der Eltern-
teil, der diese Hobbies nicht pflegt oder der die größere Einsicht hat, für den Aus-
gleich und spielt mit den Kindern. Gelegentlich erschweren zu große Altersunter-
schieden zwischen den Kindern das gemeinsame Spiel.
Eine Lösung bietet sich an, für alle, die die Notwendigkeit gemeinsamen Spielens
einsehen, aber denen die Spielideen ausgehen: sie können sich darüber informie-
ren, welche Spiele es gibt! So, wie es Spiele gibt ohne Verlierer, gibt es Spiele, die
sich für verschieden Altersstufen eignen und Spiele, die Bildungseffekte haben,
also Wissen vermitteln. Es lässt sich sagen, dass es im Land der Spiele für jeden
etwas gibt. Eine wertvolle Hilfe sind Spiele-Bücher, die, je anschaulicher in ihren
Darstellungen, umso bereichernder in Ihren Anregungen sind. Sie sind nicht ein-
mal sehr teuer und in Kaufhäusern ebenso zu finden, wie in Buchhandlungen oder
bei Buchclubs. In jedem Falle aber empfiehlt es sich dringend, erst einmal hinein-
zuschauen und zu prüfen, ob man sich leicht und rasch in Bild und Wort orientie-
ren kann.
Zu den Hindernissen, in der Familie miteinander zu spielen, gehören aber auch
Stimmungen oder unterschiedliche Arbeitszeiten. Manchmal mag es auch aufrei-
bend gewesen sein, bis sich alle auf ein Spiel geeinigt hatten. Und weil dieser Ent-
scheidungsprozess dann so „nervig“ ist, mag man es gar nicht mehr probieren.
Auch hierzu eine Empfehlung: Wenn jemand in der Familie oder aus der Kinder-
gruppe mit der Frage beginnt. „Was wollen wir (was wollt ihr) spielen?“, dann dür-
fen wir uns nicht wundern, wenn es oft keine Einigung gibt und am Ende möglich-
erweise alle im Streit auseinander gehen. Zwei können sich eher einigen. Dann
beginnt zum Beispiel der Vater mit einem Kind oder mit der Mutter ein Würfel-
spiel. Und dann kommt das eine oder andere Familienmitglied und möchte auch
mitspielen. Wer nicht will, muss ja nicht mitspielen. Das Spiel verliert seinen Cha-
147
rakter und seinen Wert, wenn es zur Pflicht wird. Auch in der Kindergruppe - beim
Kindergeburtstag zum Beispiel - werden von bestimmten Kindern oder von den
teilnehmenden Erwachsenen einfach Spiele begonnen. Wer mitmachen will ist
willkommen. Kinder, die dann beiseite stehen – „so ein Babykram, da mache ich
nicht mit“ - sperren sich selber aus. Ruhig weiterspielen und neue Ideen umsetzen
- also nicht vorschlagen, sondern praktisch zu spielen beginnen, - ist der zweck-
mäßigste Weg, Kinder zum Mitspielen zu gewinnen.
Eine ebenso gefährliche wie schlichtweg dumme Argumentation ist die, darum
nicht zu spielen, weil das Spiel als nicht nützlich, als „Nichtstun“ oder als Zeitver-
schwendung betrachtet wird. Wir treffen Bürgerinnen und Bürger an, die darum
die Arbeit von Erzieherinnen in Kindergärten nicht zu würdigen wissen, weil die ja
„nur“ spielen. Die „Spieltanten“, so werden Erzieherinnen gelegentlich von
Stammtischpolitikern abfällig bezeichnet, leisten nichts. Gerade in ihrer berufli-
chen Fähigkeit, Spiele entwicklungsfördernd auswählen und einsetzen zu können,
liegt die besondere Kompetenz dieser Berufsgruppe. Erzieherinnen in Kinderta-
gesstätten sind die „Expertinnen“ für das Kinderspiel in unserer Gesellschaft. Wir
Eltern sollten ihr Expertenwissen nutzen und uns von ihnen bei Gelegenheit bera-
ten lassen, wenn wir uns über den Wert eines Spiels nicht im Klaren sind.
Wenn wir es mit Menschen zu tun haben, die vom Spiel nichts wissen wollen, dann
offenbaren sich mit derartigen Argumenten sehr unglückliche Naturen. Ihnen wird
das Lachen, vor allem das Lachen über sich selbst, das wir als Humor und damit
als ein Kennzeichen menschlicher Reife einzuordnen haben, schwer fallen. In die-
sem Zusammenhang ist an die Bemerkung vom „Nicht-verlieren-können“ zu den-
ken. Vielleicht ist ein Merkmal dafür, dass sich die betreffenden Persönlichkeiten
für besonders wichtig nehmen? Heranwachsende erlangen frühestens mit der Pu-
bertät jene Fähigkeit der Selbstdistanzierung, die sie erkennen lässt, dass sie nicht
der Nabel der Welt sind25. Kindern freilich ist das noch nicht möglich und darum
verstehen wir auch, dass sie so schlecht verlieren können und jedes Mal unseren
Trost brauchen.
Es ist sehr schwer, etwas gegen das Argument einzuwenden: „nach Feierabend
sind wir einfach zu müde; dann haben wir keine Lust mehr, mit unseren Kindern
zu spielen; wir wollen nur noch unsere Ruhe haben“. Eltern, die an einem Seminar
über das Spiel teilnahmen, haben zu diesem Problem ein Gedicht verfasst, das
wiedergegeben wird, weil es genau das trifft, was hierzu gesagt werden kann:
148
Formen des Spiels
Die Aufteilung der schier unerschöpflichen Fülle von Spielen ist nicht leicht. Es
lassen sich zum Beispiel Brettspiele, Bewegungsspiele, Kartenspiele oder Kon-
struktionsspiele voneinander unterscheiden. Bei den Bewegungsspielen wiederum
gibt es viele, die wir früher spielten und die unseren Kindern heute noch vertraut
sind: da gibt es Kreisspiele, Hüpfspiele, Versteckspiele oder eine ganze Reihe von
Ballspielen. Man kann die Spielformen auch nach der Anzahl der möglichen Spiel-
teilnehmerinnen und Spielteilnehmer unterscheiden. Diese Systematik ist den tat-
sächlichen Spielsituationen bei Kindern und Erwachsenen nachempfunden und
hat sich in Veranstaltungen mit Eltern, in denen es um die Spielpraxis ging, be-
währt.
Es können hier beileibe nicht alle Spielformen erwähnt werden, die sich in Spiel-
karteien und anderen Spiele-Sammlungen befinden. In Kinder- und Familienfrei-
zeiten kann man Spiele einführen, die man zu zweit spielen kann und für die es
keinerlei besonderer Vorbereitung braucht und nur geringfügiges Spielmaterial
vorhanden sein muss: kariertes Papier und einen Bleistift. Wo zwei beieinander
sind, ist das „Schiffe versenken“ ein spannendes und faszinierendes Spiel in dem
sich ein bisschen Glück und viel Kombinationsgabe miteinander verbinden. Eltern,
die an einem Spielseminar teilnahmen, meinten zu diesem Spiel:
„Dieses Spiel schafft Ruhe, es lässt sich in jeder Situation verwenden, die Spielre-
geln lassen sich variieren und außerdem fördert es die Kontakte zwischen den
Spielern. Dieses Spiel ist überall spielbar; sogar in der Schule „unter der Bank“.
Ein weiteres Spiel, bei dem wir überhaupt keine Materialien brauchen, ist das
Knobeln. Jenes Spiel mit den Händen, in dem die beiden Partner symbolisch Pa-
pier, Schere, Stein und Brunnen darstellen und das ebenfalls überall gespielt wer-
den kann. Da in der Regel auf diese Weise etwas ausgeknobelt wird, hat dieses
Spiel von diesem Ziel her seinen Sinn.
Darüber hinaus gibt es ein reiches Angebot an Spielen, die ohne großen Aufwand
daheim in der Familie, an Kindergeburtstagen oder anderen Anlässen unter Kin-
dern, Kindern gemeinsam mit Erwachsenen und unter Erwachsenen gespielt wer-
den können. Da wird man bald nach Spielen Ausschau halten, an der auch mehre-
re Spielerinnen und Spieler teilnehmen können. Stadt - Land - Fluss oder Mikado
sind ebenfalls ebenso einfach wie lehrreich.
Unter den Tischspielen an denen zwei oder mehrere Spielerinnen und Spieler teil-
nehmen können, gibt es sehr viele, die von großen Spieleherstellern angeboten
werden und weite Verbreitung gefunden haben. „Sagaland“, „Monopoly“, „Scot-
land Yard“, „Hase und Igel“, „Deutschland-Reise“ gehören dazu. In vielen Familien
wird vor allem mit jüngeren Kindern gern ein Bilder-Lotto und Memory gespielt.
Ständig kommen neue Spiele auf den Markt. Wichtig ist, dass wenigstens eine(r)
die Spielregeln bereits gut kennt und rasch vermitteln kann. Irgendwann nehmen
wir alle ein Spiel zum ersten Mal in die Hand. Und darum ist eine gute, verständ-
lich geschriebene Anleitung unverzichtbar.
149
Spielleidenschaft
Obwohl es manche Erwachsene gibt, die mit ihren Kindern nicht spielen wollen,
haben sie aber selbst Freude an Spielen sowohl in passiver Weise, wie in aktiver.
Zu den passiven Spielfreunden gehören zum Beispiel alle Zuschauer. Gäbe es sie
nicht, wären Fußball und Tennis kein so gutes Geschäft für alle, die beteiligt sind.
Damit lässt sich zugleich eine Wertung verbinden: wer nur zuschaut und wenig
oder überhaupt nicht selbst spielt, befindet sich im Grunde in der gleichen Situati-
on, wie ein Fernsehgucker. Er ist ein passiver Empfänger und kein aktiver Erkun-
der. Was dabei herauskommen kann, wenn sich beim Zuschauen nur die Gefühle
beteiligen dürfen, die gelegentlich mit Alkohol noch etwas aufgewärmt werden, das
zeigen uns die leidigen Fußballkrawalle im In- und Ausland.
Neben dieser passiven Spiel(er)-Leidenschaft, die der eigenen Persönlichkeitsent-
wicklung umso mehr schadet, je weniger sie in eigenem aktiven Tun (Spiel) außer-
halb der Zuschauerrolle ihre Ergänzung findet, gibt es aktive Formen bei Jugendli-
chen und Erwachsenen, die zur Leidenschaft werden und sogar in eine Sucht ein-
münden können. Schädlich - zumindest in ihren Auswirkungen auf das soziale
Umfeld, wie Freunde, Eltern und Partner - sind alle Suchterscheinungen, die uns
unfähig werden lassen, den „normalen“ Anforderungen unseres Lebens gerecht zu
werden. Wir alle kennen Menschen, die sich und ihrer Umwelt wegen ihrer Süchte
(Putzsucht, Fresssucht, Trunksucht, Videosucht, Internetsucht...) zur Last fallen.
Aus dem Bereich des Spielens ein Beispiel:
150
Ob an Spielautomaten oder in Spielclubs und Spielcasinos: die dem Glücksspiel
verfallenen Menschen sind seelisch krank und bedürfen der Hilfe. Die Ursachen
lassen sich in den meisten Fällen - genauso wie bei allen anderen Suchterkrankun-
gen - in Defiziten aus jenen Bereichen ausmachen, die wir als Grundbedürfnisse
im ersten Kapitel kennen gelernt haben.
Spielleidenschaft und Spielsucht auf der einen Seite und das Spiel um meiner Lust
und Freude, zu meiner Entspannung und Erholung auf der anderen Seite, haben
für gefährdete Menschen eine Brücke zueinander. Unser Beispiel wies darauf hin:
Mit dem Spiel an Fußball- und Billardtischen sowie an einigen Automaten und in
der Gesellschaft guter Freunde fängt es an. Doch bald stand Andreas einsam und
allein gegen die Automaten spielend tagaus tagein in den Spielsalons. Mit diesen
zerstörerischen Formen verwandt sind viele Spiele, die mit dem Gameboy oder am
Computer gespielt werden können. Da sie aber in den eigenen vier Wänden, sozu-
sagen in der Privatsphäre, ihren Platz haben, sind für deren Verbreitung und Ge-
brauch allein die zuständig, die die erzieherische Verantwortung tragen.
Lassen wir dieses Kapitel aber nicht düster ausklingen und knüpfen an die Ausfüh-
rungen vom Anfang an: Das Spiel ist eine Tätigkeit, auf die der Mensch nicht ver-
zichten kann. Wenn wir zum Beispiel nach Frankreich in die Ferien fahren, dann
sehen wir in jedem Dorf Männer an der Boule-Bahn stehen und gemächlich ihre
Kugeln reiben und werfen. Oder denken wir an die vielen Minigolfanlagen, die sich
bei uns zu Lande, meistens in der Nähe von Schwimmbädern oder Freizeitparks
befinden und stets gut besucht sind. Und - wenn wir wieder an unsere Kinder den-
ken: sind nicht die Spielplätze stets bevölkert? Wenn Familie M. mit ihren drei
Kindern am Samstagnachmittag in die Stadt fuhren, dann legten die drei Kinder
im Alter von elf, sieben und vier Jahren gleichermaßen großen Wert darauf, die
Spielplätze im Stadtpark oder am Museum zu besuchen. Die Kinder interessierten
die Einkaufswünsche von Mutter und Vater kaum! Allein der Besuch der Spielplät-
ze, wo andere Spielgeräte als daheim, andere Kinder und unbekannte Abenteuer
auf sie warteten, war ihnen wichtig.. Bieten wir sie ihnen an und besuchen Spiel-
plätze, wo sie der Abgeschlossenheit unserer Wohnungen und Einfamilienhäuser
entrinnen können. Außerdem - nicht entweder - oder! - erlauben wir unseren Kin-
dern, dass sie ihre Spielgefährtinnen mitbringen und schauen dabei nicht auf Her-
kunft oder Verdienst der Eltern. Kinder müssen ihre Erfahrungen für das Leben
selber machen. Das können sie nur dann tun, wenn wir ihnen das ermöglichen;
und zwar mit Hilfe des Spielens und mit Spielgefährten. „Vielleicht bräuchten Kin-
der auch weniger Bewegungs- und Sprachtherapeuten, wenn sie mehr Raum und
Zeit zum Spielen hätt… Beim Spielen lernen wir, eigene Möglichkeiten und Gren-
zen einzuschätzen, mit Anstand zu verlieren und zu gewinnen, starre Gewohnhei-
ten zu durchbrechen und unseren Geist fit zu halten. Bis ins hohe Alter“26.
151
9
Lernen und Schule
Einführung
Was wird von Familien und Schule in unserer Gesellschaft erwartet? Es sind tat-
sächlich nicht in erster Linie irgendwelche Abschlüsse und Prädikate, sondern
vielmehr Eigenschaften und Verhaltensweisen, die mögliche Schul- und Ausbil-
dungsabschlüsse maßgeblich zu begleiten haben. Wir finden diese Erwartungen an
Frauen und Männer dann, wenn wir die Stellenanzeigen durchsehen. Die folgen-
den Erwartungen waren die am meisten genannten in den Stellenangeboten einer
einzigen Wochenendausgabe einer großen Wochenzeitung. Woche für Woche kön-
nen wir uns alle überzeugen, dass diese Erwartungen nach wie vor gelten. Wer sich
der Mühe unterziehen würde, über einen längeren Zeitraum hinweg die Stellenan-
gebote auf derartige Erwartungen hin zu analysieren, würde vielleicht die eine oder
andere Akzentverschiebung feststellen, nicht aber auffallend Neues. Auf der
Grundlage von in Stellenanzeigen geäußerten Erwartungen können wir festhalten,
dass sie in dieser Gesellschaft gelten. Hier sind sie genannt:
Wer also im Berufsleben unserer Tage bestehen will, der braucht, neben einer ab-
geschlossenen Berufsausbildung, vor allem:
Eine gute Motivation - zum Beispiel eine über die Berufsabschlüsse hinaus
andauernde Lernbereitschaft (Stichwort: lebenslanges Lernen);
Positive individuelle und soziale Eigenschaften - zum Beispiel Selbständig-
keit und Einfühlungsvermögen oder Teamfähigkeit;
Kognitive Fähigkeiten - zum Beispiel rasche Anpassung an neue Aufgaben
und kreatives Denken27.
In kaum einem anderen Bereich lässt sich die Erziehung zur eigenverantwortlichen
Persönlichkeit, wie sie als Ziel dem Menschenbild unserer Verfassung vorschwebt,
so gut in die Tat umsetzen, wie im Bereich der Arbeiten für die Schule. In keinem
anderen Bereich aber gibt es in unserem Lebensalltag größere Konfliktanlässe als
in diesem. Dabei wäre gerade hier alles so einfach...
152
Die Schule als Herausforderung
Nun, die Schwierigkeiten sollen nicht geleugnet werden. Unter den 355
schulpflichtigen Kindern, die im Verlaufe von fünfzig Jahren in ein Kinderheim
aufgenommen wurden, war kein einziges, dass nicht wegen der Schule Ärger
gehabt hatte; in den meisten Fällen entsprachen die Mädchen und Jungen nicht
den Ansprüchen der Lehrer und in vielen Fällen erwarteten die Eltern von ihren
Kindern mehr, als diese zu leisten in der Lage und bereit waren. Hier ein Beispiel:
"Mein Kind ist ein Versager." Das erklärte der Vater eines Zweitklässlers eines
Abends seinen Freunden. Was war geschehen? Anlässlich der Einschulung des
Kindes hatte er im gleichen Kreis verkündet, dass sein Sohn auch mal Zahnarzt
werden solle, wie ein Verwandter von ihm. Um Medizin zu studieren aber
muss man das Abitur haben. Also hatte der Vater die Schullaufbahn seines ein-
zigen Kindes für sich selbst schon geplant. Als sich während des ersten Schul-
jahres herausstellte, dass der Junge Mühe hatte, die schulischen Anforderun-
gen zu bewältigen, war der Vater zutiefst enttäuscht. Er verlor das Interesse
am schulischen Lernen seines Kindes und überließ alles seiner Frau. Nicht zu-
letzt deren starker Persönlichkeit und vor allem ihrem liebevollen Verständnis
war zu verdanken, dass der Junge die Hauptschule mit Erfolg beendete und
eine Lehre begann. Mit fünfundzwanzig Jahren war er ein gesuchter Compu-
ter-Experte.
Elterliche Erwartungen belasten heute die Erziehung und Bildung von Kindern mehr
als in früheren Zeiten. Dabei lernen alle Kinder, wie im vorangegangenen Kapitel
geschildert, von Natur aus gerne - wenn wir Erwachsenen ihnen nur nicht die Freu-
de an Lernen und Leisten vermiesen würden. Falsche Erwartungen oder andere
Formen seelischen Drucks können Kinder in Familie und Schule lähmen (Heinrich
Kratzmeier München 1982, S. 133 ff). Unser Beispiel zeigt, dass sich unter bestimm-
ten Umständen im weiteren Verlauf des Lebens das natürliche Streben nach Lernen
und Leistung durchsetzt. Andererseits gibt es eine Fülle an Möglichkeiten und guten
Erfahrungen, wie Kinder dazu geführt werden können, auch unbequeme Pflichten im
Zusammenhang mit schulischem Lernen auf sich zu nehmen und hier Eigenverant-
wortung zu lernen. Die Arbeit daheim für die Schule wie vor allem die Erledigung der
Hausaufgaben gehört dazu.
Sie sollen dazu dienen den in der Schule vermittelten Lehrinhalt zu vertiefen
und selbständig zu erweitern. Auf diese Weise sollen Konzentration, Ausdauer
und Durchhaltevermögen ebenso gestärkt werden, wie die Bereitschaft, Pflich-
ten zu erfüllen, gerade auch dann, wenn sie unbequem sind und Anstrengung
erfordern. Nicht zuletzt sollte neben der Selbständigkeit die Eigenverantwor-
tung gefördert werden.
Nur dann und in dem Ausmaß erfüllen Hausaufgaben - also arbeiten an Lern-
inhalten außerhalb des Unterrichts - ihren Zweck, wenn und soweit sie den
153
hier genannten didaktischen Funktionen dienen und vor allem die auf die Per-
sönlichkeitsförderung gerichteten Absichten in einer überprüfbaren Weise
auch erreichen.
Die Befragungen des Professors Anton Bucher von der Universität Salzburg, die
am 15. November 2007 auf einer Fachtagung in Mainz vorgestellt wurden, gaben
Auskunft darüber, was Kinder glücklich beziehungsweise unglücklich macht
(Weinheim 2001) ergaben, dass Hausaufgaben "Glücksdämpfer" seien. Gerade,
wenn sie als "zu viel" empfunden werden, tragen Hausaufgaben dazu bei, das
Wohlbefinden von Kindern empfindlich zu stören. Hierbei sind es keineswegs die
zeitlichen Belastungen allein, die die befragten Kinder störten. Vielmehr sind es
die im Zusammenhang mit der Erledigung der Hausaufgaben entstehenden Kon-
flikte mit den Eltern, die das Glücksempfinden von Kindern beeinträchtigen. Es
gibt zweifellos eine große Anzahl unter unseren Schülerinnen und Schülern, die in
der Schule und daheim mit Interesse und Engagement arbeiten. Alle Berufspäda-
gogen wissen - und können das voll akzeptieren - dass es auch kaum eine/n unter
ihnen gibt, die in allen Fächern oder bei allen Lehrerinnen und Lehrer und Leh-
rern gleichermaßen arbeiten können, da die Interessen ebenso verschieden sind
wie die zwischen menschlichen Beziehungen. Auch wir haben, als wir noch Kinder
waren, in der Schule bei jenen am meisten gelernt, zu denen wir eine gute Bezie-
hung hatten, sei es, weil wir ihre persönliche Autorität, ihre Fachkompetenz oder
die Art und Weise des Umgangs mit uns schätzten. Dies galt vor allem für jene Pä-
dagogen, die uns als Persönlichkeit wahrnahmen und achteten.
154
und gelenkten Schule dem Lehrer Eigenverantwortlichkeit im Rahmen seiner Fach-
lichkeit geltende Prinzip ist mit dem Begriff von der "Pädagogischen Freiheit" (vgl.
dazu § 38 SchGes. BW) angedeutet. Doch die Verwirklichung dieser Freiheit in Ver-
antwortung vor dem Kind einerseits und der Gesellschaft andererseits, setzt be-
stimmte Kompetenzen voraus, über die die Schulpädagogen verfügen sollten. Zwei
besonders bedeutsame seien genannt:
Fachliches Wissen und Können, das sich sowohl auf die Sachkenntnis als auf die
Didaktik eines Unterrichtsfaches bezieht,
erzieherische Fähigkeiten in Verbindung mit den Eigenschaften, die sich als Cha-
rakteristika einer "reifen Persönlichkeit" bezeichnen lassen.
155
Elternhaus und Schule müssen zusammenwirken
An den Anfang dieses Kapitels gehört der Verweis auf die Aussagen im Abschnitt
über das Zusammenwirken in der Erziehung von Kindern (oben, S.53 ff). Am Bei-
spiel des Verhältnisses von Schule und Elternhaus wird dessen Bedeutung für den
Schulerfolg eines Kindes hier noch einmal unterstrichen und konkretisiert.
Gelegentlich haben Eltern Streit mit den Lehrerinnen und Lehrer und Lehrern und
umgekehrt deutet die Schule auf die Familie, wenn es um die „richtige“ Erziehung
und Bildung geht. Wenn ein Kind zur Schule geht, dann ist die Verantwortung für
Erziehung und Bildung geteilt. Die Verfassung räumt der Schule neben den Eltern -
zumindest für alles, was Leben und Lernen in der Schule und für die Schule betrifft -
gleiche Rechte und Pflichten ein. Diese Situation kann im Einzelfalle zu Differenzen
führen. "Ich lehne es ab, mich um die Schulaufgaben zu kümmern. Das ist schließlich
Sache der Schule". Diese Haltung wäre ebenso unverantwortlich wie die eines Leh-
rers, der sagen würde: "Die Eltern haben dafür zu sorgen, dass die Hausaufgaben so
sind, wie ich das will. Sonst sollen sie zusehen, wo sie mit dem Kind bleiben".
Die gemeinsame Verantwortung für das gleiche Kind, zwingt beide, Eltern
und Lehrer, zu übereinstimmenden Handeln.
156
diesen Sand entfernen, wenn sie Problemsituationen mit Aussicht auf Erfolg bear-
beiten wollen.
Je weniger die an der Erziehung und Bildung eines Kindes Beteiligten über-
einstimmend handeln, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass das
Kind in seiner Entwicklung beeinträchtigt wird.
Diese Erkenntnis gibt uns das Ziel einer Zusammenarbeit vor: Wir müssen im In-
teresse unserer Kinder positive Beziehungen zwischen Eltern und den anderen an
der Erziehung Beteiligten erreichen. Das vertrauensvolle Zusammenwirken von
Eltern und Berufspädagogen ist eine Grundbedingung dafür, dass ein Kind gern
lernt (Steiner, 1980 S. 68). Der langjährige Präsident des Deutschen Lehrerver-
bandes Josef Kraus erklärte in einem Rundfunkvortrag, dass siebzig bis achtzig
Prozent unserer Eltern bodenständig, unkompliziert, kooperativ, verantwortungs-
bewusst (sind)“ (SWR Aula vom 24.08.2014). Eltern fällt es jedoch schwer, eine
Beziehung positiv zu gestalten, wenn sie den Eindruck haben, nur in ihrer Familie
müsste sich alles ändern. Hier ist nicht an Verständnisfragen oder eine helfende
Kritik zu denken - die sollten von Seiten des Kindergartens oder der Schule immer
willkommen sein. Vielmehr geht es um jene Berufserzieher, die ein anderes und
ihrer Meinung nach besseres Erziehungskonzept vertreten und durchsetzen möch-
ten. Aber auch Eltern neigen dazu, bei Problemen, die unsere Kinder mit anderen
Kindern, mit dem Lernen oder mit sich selbst haben, mit dem Finger auf andere zu
zeigen. Es zeigt sich hier eine bemerkenswerte und weit verbreitete menschliche
Eigenschaft, nach der wir dazu neigen, die Schuld für irgendein Problem immer
zuerst bei anderen Menschen oder Einrichtungen zu suchen. Unsere Kinder ma-
chen uns das ganz schnell nach. Dabei kann es zu ganz absurden Begründungen
kommen, wie uns das folgende Beispiel zeigt:
Ernst hat seine Hausaufgaben unvollständig, weil ihn ein Fernsehfilm ges-
tern Nachmittag mehr fesselte, als die lästige Pflicht. In der Schule entschul-
digt er sich mit der Ausrede: „meine kleine Schwester hat mir das Aufga-
benblatt zerrissen...“
In derartigen Situationen ist es ganz gut, wenn Eltern und Berufserzieher ein gutes
Gedächtnis haben und an sich selbst denken würden: „Wenn Du nicht so viel gere-
det hättest, sagt ein Mann zu seiner Frau (oder umgekehrt) im Auto, dann wäre
mir das (zum Beispiel ein Fahrfehler mit Blechschaden) nicht passiert!“ Achten wir
also auf uns selbst und geben kein schlechtes Beispiel!
157
Ein weiterer Erfahrungsbericht soll noch einmal auf den Punkt bringen, welche
Gefahren der Entwicklung eines Kindes bei fehlender Übereinstimmung drohen
können:
Erichs Vater ist Lehrer für Mathematik an einem Gymnasium. Der Vater hält
von der Arbeit seiner Kolleginnen und Kollegen in der Grundschule nichts.
Misstrauisch prüft er jede Klassenarbeit nach, die Erich aus seiner vierten
Klasse mit nach Hause bringt. Immerhin geht es in diesem Schuljahr um den
Übergang in weiterführende Schulen. Eines Tages weicht seine Sichtweise bei
der Beurteilung des Lösungsweges einer Rechenaufgabe von der des Grund-
schullehrers ab. Nun setzt er sich keineswegs mit dem Lehrer zusammen. Nein,
er nimmt seinen Rotstift und korrigiert die Arbeit noch einmal durch und stellt
in einem abschließenden Kommentar den Lehrer als Dummkopf hin. Von die-
sem Tag an zog sich der arme Erich, dem das ungeheuer peinlich war, immer
mehr in sich zurück und getraute sich kaum noch, seinen Lehrer anzuschauen.
Der ließ diesen Zwischenfall dem Jungen keineswegs entgelten. Doch nun be-
kam das Kind seine Klassenarbeiten immer einen Tag später als die anderen
Kinder der Klasse ausgehändigt. Da der Vater des Jungen für die Grundschule
nicht erreichbar (nicht ansprechbar) war, legte der Grundschullehrer vorsorg-
lich die Arbeit dieses Kindes jeweils dem Schulleiter vor und ließ seine Bewer-
tung gleichsam „absegnen“. Dagegen ist aus der Sicht der Schule nichts einzu-
wenden, denn gegen Eltern, die in dieser Weise die Schule als Erziehungs- und
Bildungsinstitution infrage stellen, müssen sich Lehrerinnen und Lehrer und
Lehrer schützen. Doch dem Kind ist damit aus seiner Not, der vom Vater un-
gewollt geförderten sozialen Isolation, nicht geholfen!
Darum bleibt es ein wichtiges Gebot: Übereinstimmend handeln das setzt voraus,
dass alle Erziehenden untereinander ein möglichst hohes Maß gegenseitiger In-
formation und Offenheit ermöglichen und alles fördern, was Vertrauen schafft.
Dann lassen sich Schuldzuweisungen vermeiden, Vorurteile und Misstrauen ver-
ringern und zum Wohle eines Kindes und nicht gegen seine Bedürfnisse nach
Harmonie zwischen den für ihn wichtigen Bezugspersonen, handeln.
Wenn Schulkinder verschiedenen Alters danach gefragt werden, was sie mit Schule
assoziieren, überraschen die Ergebnisse zunächst. Mädchen und Jungen bearbeite-
ten an Familienwochenenden29 zum Thema „Schule“ die Frage:
"Was fällt mir ein, wenn ich an meine Schule denke? Sicher gibt es dabei Gutes
und nicht so Gutes. Unter diesen beiden Gesichtspunkten schreibt jede/jeder für
sich selbst auf, was ihr/ihm dazu einfällt. Anschließend tauschen wir aus und re-
den darüber."
158
Was die Mädchen und Jungen an der Schule gut fanden sind:
1. die Pausen
2. die Ferien
3. die Ausfallzeiten, Freistunden
4. lustige, nette Lehrer
5. wenig Hausaufgaben
6. Wintersporttagen
Was die Mädchen und Jungen an der Schule nicht so gut fanden sind:
1. die Hausaufgaben
2. die Unterrichtsfächer:
In der Skala der negativen Äußerungen über die Schule tauchen alle Unter-
richtsfächer auf. Jedes Kind hatte an zumindest einem Unterrichtsfach keine
Freude. Und immer wieder sind es die Lehrer, die das Fach vermiesen. Die
Schülerinnen und Schüler begründeten ihre Abneigung gegen ein Fach stets
mit Personen und schrieben: "Musiklehrer, Sportlehrer, Bio-Lehrer" usf. Was
in der Häufigkeit folgte, überraschte: Viele Kinder erleben
3. die Schulatmosphäre als unangenehm: "Unsere Schule sieht viel zu schwarz
aus" schrieb ein Kind. Ein anderes fand das Klassenzimmer "öd" und andere
verknüpften den Gedanken an ihr Schulhaus mit "langweilig" und "es riecht
nicht so gut".
4. die (anderen) Kinder
5. Die Schulnoten, Schulstrafen und die Länge des Unterrichts empfanden je etwa
gleich viele Kinder als Ärgernis.
In den sich anschließenden ausführlichen Gesprächen mit den Mädchen und Jungen,
an denen sie sich stets lebhaft beteiligten, stellte es sich heraus, dass es besonders die
die Schülerinnen und Schüler als Personen diskriminierenden Vorfälle sind, die
ihnen sehr zu schaffen machen:
Da hört zum Beispiel der Lehrer gar nicht zu, wenn "wir etwas fragen"; andere Lehre-
rinnen und Lehrer und Lehrer "brüllen" oder "schreien einem an"; sie beschimpfen
Kinder: "Motzkuh", "blöde Kuh" oder „Ochse“, sie ziehen an den Haaren, an den Oh-
ren oder werfen mit Kreide und - immer wieder - sie geben Strafarbeiten auf. Zum
Beispiel muss die Schulordnung abgeschrieben werden.
Diese belastenden Erfahrungen finden sich auch in den schriftlichen Auskünften
wieder, wenn ein Kind schreibt, dass "Lehrer (bringen) ein Kind in peinliche Situati-
onen", dass Lehrer "andere hänseln und fertig machen" oder dass "ein Lehrer uns
Kinderchen nennt". In den Auswertungsgesprächen wurden die Beispiele erläutert
und ergänzt. Alle Kinder hatten derartige Erfahrungen gemacht und alle darunter
gelitten.
159
Nun sind diese Erfahrungen weder repräsentativ noch wollten die Schülerinnen
und Schüler zum Ausdruck bringen, dass "die" Lehrer sich so verhalten. Doch hat-
ten alle in ihren jeweiligen Schulen entsprechende Erfahrungen gemacht.
Auch in Bezug auf sich selbst, also auf die Schülerrolle wird "nicht so Gutes" erlebt.
An vierter Stelle rangierten andere Kinder als nicht so gute Erfahrungen. Es wurden
besonders aggressive Schüler erwähnt, vor denen man Angst habe; wie sich über-
haupt die an den Gesprächen teilnehmenden Kinder ausnahmslos gegen Gewalt und
Aggression unter den Schülern aussprachen. Wer in der Schule zum Opfer wird, zieht
sich gekränkt zurück und wird dadurch erst recht zur Zielscheibe aggressiver Kin-
der30.
Milderten die Auskünfte über das, was an der Schule gut ist, die negativen Erfahrun-
gen? Bezogen auf den Umgang zwischen Lehrern und Schülern keineswegs. Wäh-
rend betont wurde, dass man froh ist, Eltern zu haben, die bei Hausaufgaben "helfen"
und "antworten, wenn ich etwas frage", fehlten entsprechende Äußerungen über
Lehrer. Niemand wollte zum Beispiel auf Nachfragen bestätigen, dass Lehrer Ver-
ständnis für sie als Kinder oder als Schüler hätten. Dass die Kinder an der Schule
alles gut finden, was eigentlich "Nicht-Schule" ist, bestätigte sich auch im Gespräch.
Schulspezifische Vorteile erkannten Kinder, wenn sie erwähnten, dass der "Sport
mein Hobby fördert", dass sie in der Schule "Spielmöglichkeiten" hätten, die sie so
daheim nicht haben oder dass es Spaß bei "Schulstreichen" gäbe und die "Ausflüge
mit den anderen Kindern" und die Schullandheimaufenthalte gut seien.
Wie Eltern die Schule und die damit verbundenen Probleme erlebten, wurde eben-
falls zusammengetragen. Hier wird zunächst berichtet, was Eltern am meisten plagt,
wenn sie an die Schule unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen
denken:
In Übereinstimmung mit den Erfahrungen der Kinder, spielt auch im Elternbewusst-
sein die Diskriminierung von Kindern eine große Rolle. Da wurden Ängste angespro-
chen die Kinder (und Eltern) umtreiben,
- weil "Erstklässler vor der ganzen Klasse bloßgestellt" wurden,
1 weil "Druck und Leistungszwang" zugenommen haben,
2 weil Kinder "Ängste vor einzelnen Lehrern" und "Fächern" haben
3 weil "Lehrer, vor allem die an Gymnasien, als ungenügend pädagogisch „aus-
gebildet" erlebt werden.
Eltern berichteten von dem für die Lernmotivation und das Verhalten von Schülern
nachteiligem Wechsel von "starken und schwachen Lehrern". Die Schüler reagieren
auf wechselnde Unterrichts- (pädagogische) Stile mit besonderer Lebhaftigkeit: war
in der vorangegangenen Stunde ein besonders autoritärer Lehrertyp in der Klasse,
kann sich ein weniger autoritärer Lehrer kaum noch Gehör verschaffen, da die Kin-
der ihren unterdrückten Bewegungs- und Mitteilungsdrang loswerden oder gar sich
an dem als schwächer erlebten Lehrer für die Unbill der vergangenen Stunde rächen
wollen.
160
Die Erwartungen aller Eltern an die Schulen waren eindeutig: im Vordergrund steht
die Hoffnung, dass Lehrer Kinder zum Lernen motivieren können sollten. Aber auch,
dass die Schule kindgerecht gestaltet werden sollte, ist ein wichtiges Anliegen und
begegnete sich, wie die Aussprachen zeigten, mit den Aussagen der Kinder über die
Schulatmosphäre. Soziales Verhalten sollte die Schule vermitteln und nicht nur Wis-
sen. Und statt Duckmäuser und Egoisten zu erziehen, sollte die Schule zur Heraus-
bildung eines gesunden Selbstbewusstseins beitragen31.
dass ein Schulleiter bzw. die Lehrerschaft einer Schule über ihre Konzeption Aus-
kunft geben kann und die eigene pädagogische Konzeption auch im Schulalltag
verwirklicht.
Eine Schulordnung zum Beispiel, kann nur aus einer bestehenden pädagogischen
Konzeption einer Schule abgeleitet werden. Die Eltern aber hatten den Eindruck,
dass es in den Schulen, die ihre Kinder besuchen, nur eine Hausordnung, nicht aber
ein, die Arbeit aller Pädagogen an dieser Schule verbindendes pädagogisches Kon-
zept gibt. Prinzipien wir Kooperation und übereinstimmendes Handeln innerhalb
eines Kollegiums sind keine theoretischen Orientierungen sondern gleichsam ein-
klagbare schulpädagogische Vorgaben (vgl. z. B. dazu u.a. §§ 6, 7 u. 8 sowie 44 Sch-
Ges. BW).
Vermisst wird in der Schulerziehung eine stärkere Betonung von Werten. Überein-
stimmend wurden die inoffiziell geltenden Realnormen wie Kleidermarken und an-
dere konsumorientierte Werthaltungen verurteilt. Hier sollte die Lehrerschaft die
Eltern stärker unterstützen und der Vorstellung offensiver entgegentreten, als hänge
der Wert eines Menschen von den Kleidern ab, die er trägt, der Ausstattung an Pho-
no- und Videogeräten, die er besitzt oder der Automarke, die er fährt. Es wäre gut,
wenn man in dieser Beziehung wieder mehr bewährte Werthaltungen, wie Solidarität
mit Armen und Schwachen, Achtung vor der Würde anderer Menschen, vermittle
und darauf aufmerksam machte, dass materieller Besitz und Konsum nichts, aber
auch gar nichts mit jenen Grundwerten zu tun hat, von denen im Grundgesetz die
Rede ist und die unsere Politiker auf allen Ebenen vollmundig verkünden. In der pä-
dagogischen Praxis wird offenbar unterschätzt, dass im Erleben der Betroffenen Kin-
dertagesstätte und Schule die beiden zentralen Instanzen der Wertevermittlung und
damit der Gewissensbildung sind.
161
Was Eltern im Zusammenhang mit der Schule innerhalb der Familie erleben, runde-
te die Erfahrungsberichte ab. Hier einige Aussagen:
- für Nebenfächer wird nichts getan;
- bei der Unterstützung für die Hausaufgaben fühlen wir uns überfordert;
- Hausaufgaben sind eine ständige Quelle von Konflikten und Krisen;
- Kinder verschließen sich, beginnen zu lügen;
- Ängste und schlechte Noten verführen zu Unterschriftsfälschungen;
- es gibt Spannungen unter den Geschwistern;
- Streit zwischen den Eheleuten wegen der Schule;
- Mütter tragen die Hauptlast.
Soweit einige Mitteilungen aus Veranstaltungen mit Eltern und Schulkindern. Sie
zeigen uns ausschnitthaft, was Eltern und Kinder im Zusammenhang mit der Arbeit
für die Schule bewegt. Die Kinder und ihre Familien selbst kommen ganz aus dem
Blickfeld. Statt dessen schieben sich die Schule und die hinter ihr stehende Gesell-
schaft, vertreten durch den Staat und seine Kultusbehörden als Institutionen in das
Bewusstsein von Eltern und Kindern, die Leistungsergebnisse verlangen, ohne päda-
gogisch verantwortbare Rahmenbedingungen schaffen zu können oder zu wollen.
Fassen wir die Erfahrungen dieser Kinder und Eltern zusammen, dann steht die
Schule mit ihren Lehrern, gemessen an ihrem offiziellen Selbstverständnis, sehr
schlecht da. Aus Gesprächen mit Lehrern wissen wir aber, dass diese den hohen Er-
wartungsdruck in Bezug auf Leistungen und Disziplin, auf "Durchgreifen" und "An-
forderungen stellen", den Eltern anlasten. Hier ist dringend eine ebenso offene wie
innerhalb einer jeden Gemeinde beziehungsweise des Einzugsgebiets einer Schule
öffentliche permanente Aussprache gefordert. Ausgehend von den Voraussetzungen
unter denen Kinder gedeihen können, hätten Eltern, Lehrer und die "Abnehmer" der
Schülerinnen und Schüler, die weiterführenden Schulen oder Ausbildungsstätten,
ihre gegenseitigen Erwartungen abzuklären. Die Kooperationsgebote in Erziehung
und Bildung beziehen sich nicht allein auf Elternhaus und Schule, sondern ebenso
auf alle anderen gesellschaftlichen Gruppen. Und allen kulturpolitisch Interessierten,
die an die Lehrerinnen und Lehrer und Lehrer ihre Erwartungen herantragen, sollten
zuerst Kooperationen leben und dann reden (J. Rumpf 2009). Das gilt auch für uns
Eltern.
Wir dürfen uns aber in Bezug auf die Lehrerinnen und Lehrer und Lehrer nichts
vormachen, denn alles das, was wir Eltern uns von der Schule wünschen, erwarten
die meisten Lehrerinnen und Lehrer und Lehrer auch: von sich selbst und von den
Eltern. Wenn wir über einige Lehrer enttäuscht sind, dann haben wir möglicher Wei-
se nicht ausführlich genug miteinander gesprochen. Es gibt kaum einen Schulpäda-
gogen, der Kindern schaden will. Im Gegenteil: die Lehrerschaft vertritt vielfach die
Interessen von Kindern und Eltern – nur erfahren die nichts davon. Diese Aussage
kann zum Beispiel unschwer nachgewiesen werden, wenn man die Publikationen von
Lehrerverbänden in die Hand nimmt. Die guten Absichten sind also auf beiden Sei-
ten vorhanden. Es fehlt, das wurde allen Beteiligten in unseren Elterngesprächen
deutlich, an einer kooperativen Praxis, die diesen Namen verdient.
162
Pädagogische Einrichtungen sind Teil eines Gemeinwesens
Träger der Schulen sind die Städte und Gemeinden. Dort auch, also vor Ort, finden
die schulischen und außerschulischen Erziehungs- und Bildungsprozesse statt. Da-
rum auch sollte sich ein Gemeinwesen, vertreten durch gewählte Bürgerinnen und
Bürger in den Gemeinde- und Kreisparlamenten, mitverantwortlich wissen und mit-
wirken.
Denken wir zum Beispiel nur an die Kindertagesstätten und Schulen in unseren
Gemeinden. Ein Erntedankumzug oder der Rosenmontagsumzug wäre ohne die
Teilnahme der Kinder und Erzieherinnen und Lehrerinnen und Lehrer nicht
denkbar. Seit Jahrzehnten bringen sie, gemeinsam mit den Eltern, Farbe und
Fröhlichkeit in die Veranstaltungen, an denen die Bevölkerung eines Quartiers
lebhaft Anteil nimmt. Die Kinder und Erzieherinnen aus Einrichtungen in kirchli-
cher Trägerschaft gestalten kirchliche Festtage und Gottesdienste mit. Überall
dort, wo das so geschieht, erfreut sich die Institution als ganze des Wohlwollens
und der Unterstützung der jeweiligen Träger – also der politischen oder der kirch-
lichen Gemeinde. Sich auszuschließen oder abzugrenzen und auf Mitwirkung und
Mitgestaltung von Festen, Feiern und anderen wichtigen, alle Bürgerinnen und
Bürger betreffenden Angelegenheiten zu verzichten, schadet dem Ansehen der pä-
dagogischen Einrichtung.
Nun beteiligt oder enthält sich nicht „die Einrichtung“. Konkret sind das stets die
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die sich so oder so verhalten. Auf sie wird im
Wohnquartier geschaut. Sie repräsentieren mit ihrem Verhalten, mit ihrer Absti-
nenz oder ihrem Engagement den jeweiligen Kindergarten oder die Schule. Eine
Erzieherin oder eine Lehrerin, die sich in einem Verein engagieren, verbinden auf
diese Weise die jeweiligen Lebensbereiche Verein und Kindergarten oder Schule.
Teams in denen erlebt wurde, dass Leistungen in der Gemeinde und für sie gefor-
dert werden, ist zu empfehlen, sorgfältig das Für und Wider unter dem Gesichts-
punkt einmal des Charakters der Beziehungen zwischen sich (dem Team) und Trä-
ger und Eltern und zum anderen unter dem der Förderung der Arbeit mit den
Kindern zu prüfen und so in das pädagogische Konzept einzubauen, dass den Inte-
ressen aller Betroffenen genüge getan ist. Wie immer sich ein Team oder die ein-
zelne Erzieherin entscheiden, ob und in welchem Umfang sie den Erwartungen
ihrer Träger und anderer sozialen Gruppen entsprechen wollen:
163
oder an ihre persönliche Lebensführung im Einzugsbereich der Tagesstätte, in ei-
ner anderen Gemeinde zu wohnen oder in der Anonymität einer großen Stadt „un-
tertauchen“ möchten, ist dringend zu raten, die entsprechenden Entscheidungen
offen zu legen und zu vertreten. Einsichtige Träger und Eltern werden dies respek-
tieren. Hier noch einige Einsichten:
2. Elternhaus und Schule – von der Grundschule bis in die letzte Klasse eines
Gymnasiums! - tragen Verantwortung für die Erziehung und Bildung von
Kindern. Hierbei unterstützen sie sich gegenseitig und „pflegen ihre Erzie-
hungsgemeinschaft“, wie oben ausführlich begründet wurde.
3. Unerlässlich ist es, dass sich die Lehrerinnen und Lehrer und Lehrer ge-
rade im Hinblick auf zunehmende Schwierigkeiten in ihrer Arbeit nicht als
pädagogische Solisten betrachten, sondern immer auch die Gesamtverant-
wortung der Schule für die Erziehung und Bildung der Schülerinnen und
Schüler im Auge behalten und deshalb alle Möglichkeiten der kollegialen
Zusammenarbeit, der gegenseitigen Unterstützung und des Erfahrungsaus-
tausches nutzen. Gerade wenn es um Hilfen für bestimmte Schüler und/oder
unterrichtliche Problemsituationen geht, sind kooperative Strategien und
solidarische Haltungen wichtig.
164
lien, aber auch im Interesse guter Entwicklungsbedingungen für alle Kinder
sollten Erziehungsfragen nicht vom Gemeindeleben abgekoppelt werden.
8. Um diese Anliegen mit Leben zu füllen, bewähren sich alle Formen der
gegenseitigen Information. Vor allem Druckerzeugnisse (Gemeindeblätter,
regelmäßige Informationen aus Tagesstätten und Schulen) sind geeignet,
die für eine Unterstützung und Förderung der Bestrebungen von Erziehung
und Bildung vor Ort notwendigen Verständnisse und Verständigungen zu
erreichen. Heute bietet das Internet zusätzliche Möglichkeiten der Öffnung
und des Dialogs.
9. Was sonst noch im Einzelnen dazu beigetragen werden kann, vor allem
die Entscheidungsprozesse in den pädagogischen Einrichtungen darüber,
wer was wie und wann tun sollte, das können nur die Beteiligten vor Ort
miteinander verabreden. Ein Anfang wäre getan, wenn sich Gemeinde-
bzw. Stadträte, Vereinsvorstände, Kindertagesstätten- und Schulleitung mit
den Elternbeiräten und den Trägervertretern an einen Tisch setzten und
über diese Anregungen nachdächten. Natürlich muss ein derartiges Ge-
spräch, wenn es konstruktiv verlaufen soll, am besten mit Hilfe konkreter
Vorschläge, in denen Ziele und Zwecke eindeutig erkennbar sind, von den
Pädagogengruppen gut vorbereitet werden.
10. Das beste Vorhaben kann sich im Sande verlaufen, wenn nicht von An-
fang an vereinbart wird, dass die Ergebnisse der verabredeten, schriftlich
festgehaltenen Konzepte und auf welche Weise überprüft und veröffentlicht
werden. Auch diese Ergebnisse müssen diskutiert werden, um mögliche
Schwachstellen in den Kooperationsprozessen rechtzeitig erkennen und ihre
Ursachen bearbeiten zu können.
165
Lernmotivation und Schule
Sobald wir Kinder haben und die Kinder in den Kindergarten kommen und zur
Schule gehen, gelten noch andere soziale (und ungeschriebene) Gesetze als in un-
seren Familien. Wir müssen sagen: je weiter die individuellen Lebenseinstellungen
und -Gewohnheiten in einer Familie von den Erwartungen und Bedingungen ab-
weichen, wie sie die sozialen Gebilde in unserer Gesellschaft (Kindergarten, Schu-
le, Ausbildungsstätten) von unseren Kindern erwarten, umso schwerer wird ihnen
fallen, sich in dieser Gesellschaft zurechtzufinden; umso größer ist die Wahr-
scheinlichkeit des Scheiterns. Die Probleme, die im Zusammenhang mit der In-
tegration einiger Einwanderungsgruppen entstehen, führen uns deutlich vor Au-
gen, was gemeint ist.
Eltern und Erziehern fällt es nicht leicht, sich aus den Angelegenheiten von Kin-
dern herauszuhalten, für die diese selbst verantwortlich gemacht werden sollten.
Dies gilt ganz besonders dann, wenn es um die Schule geht, in der, wie wir am ei-
genen Leibe erfahren haben, so manche Weichen gestellt werden. Das Gebot der
Zurückhaltung meint keineswegs, dass wir uns überhaupt nicht um die schuli-
schen Belange kümmern sollten. Denn wenn unsere Kinder den Eindruck erhiel-
ten, uns wäre die Schule gleichgültig, dann wäre sie ihnen auch bald gleichgültig:
denken wir nur an die Bedeutung vorbildlichen Verhaltens. Nein, wir sind sehr
interessiert an dem, was die Kinder tun. Unter den Stichworten „Anerkennung“
und „Förderung“ fanden wir bereits einige Informationen hierzu. Schon wenn un-
ser Kind vom Kindergarten nach Hause kommt, dann würdigen wir die mitge-
brachte Zeichnung und hängen sie deutlich sichtbar auf. In der Küche einer Fami-
lie waren über der Küchentheke mehrere DIN A 4 Blätter hintereinander auf die
Kacheln geklebt. Darauf war der lange Zug zu sehen, den der Sohn im Kindergar-
ten gemalt hatte. Frühzeitig erkennen wir also die Leistungen unserer Kinder an;
und zwar vorbehaltlos! Die anderen Kinder und die Geschwister werden schon ge-
nug daran herummäkeln. Selbstvertrauen gewinnt ein Mensch über die Anerken-
nung durch die Personen, an deren Anerkennung ihm etwas liegt. Also freuen wir
uns über die Leitungsbemühungen unseres Kindes so, wie wir uns einst über sein
erstes gesprochenes Wort freuten. Für die schulischen Arbeiten gilt dasselbe. Kin-
der freuen sich im Allgemeinen auf die Schule und sind sehr daran interessiert,
Lesen, Schreiben und Rechnen zu lernen. Wenn uns Eltern die ersten Schreib- und
Rechenbemühungen unserer Kinder unzureichend erscheinen, dann meckern wir
nicht daran herum. Alles braucht seine Zeit und wenn wir Geduld, Vertrauen und
stets aufmunternde Worte und Gesten haben, dann wird das Kind früher oder spä-
ter alles lernen, was es in der Schule braucht, um versetzt zu werden. Ebenso
selbstverständlich stehen wir bereit, wenn das Kind Hilfe braucht. Rechnen,
Schreiben und Lesen können wir ja auch, also sind wir in der Lage das eine oder
andere zu erklären. Erst in späteren Schuljahren wenn der Schulstoff über unseren
Wissensstand hinausgeht, erklären wir unseren Kindern freimütig, dass wir das
nicht können und sie sich anderweitig informieren müssen. Da gibt es Nachschla-
166
gewerke und - vor allem - Klassenkameraden. Kinder, die frühzeitig gelernt haben,
für ihre Arbeit selbst die Verantwortung zu übernehmen, haben zwar nicht bessere
Noten als andere, denn Noten hängen nicht allein von Fleiß oder Begabung ab,
wohl aber sind sie unabhängiger und selbstbewusster. In den betreffenden Fami-
lien ist die Schule nur selten ein Konfliktstoff.
In diesen Zusammenhang gehört auch das Thema „Nachhilfeunterricht“. Diese
Unterstützungsleistungen, die in der Regel von älteren Schülerinnen und Schülern,
gelegentlich auch von Lehrerinnen und Lehrer und Lehrern selbst, aber inzwi-
schen auch von gewinnorientierten Unternehmen angebotenen werden, sind so-
wohl sinnvoll als auch unsinnig.
1 wenn durch längere oder kürzere Schulausfälle, zum Beispiel durch Krank-
heit, Stoff nachzuholen ist,
2 wenn sich nach einem Schulwechsel, zum Beispiel aus Anlass des Umzuges
an einen neuen Wohnort, herausstellt, dass man im Unterrichtsstoff allge-
mein oder in bestimmten Fächern an der neuen Schule weiter vorange-
kommen ist, als an der alten Schule. So etwas kann vor allem beim Wechsel
von einem Bundesland in ein anderes leicht vorkommen.
3 Bei vorübergehenden Problemen in Bezug auf das Verstehen bestimmter
Lerninhalte. Zu denken ist da zum Beispiel daran, dass einem Kind der Zu-
gang zu typischen Strukturen eines Wissensbereichs schwer fällt. Es kann
vorkommen, dass ein in sprachlichen Bereichen begabtes Kind - es liest
gern und gut - in mathematischen Verständnisschwierigkeiten hat oder um-
gekehrt. Ist in derartigen Fällen durch eine hierfür kompetente schulpäda-
gogische Instanz wie Beratungslehrer/innen oder eine Bildungsberatungs-
stelle, festgestellt worden, dass eine Förderung über einen begrenzten Zeit-
raum hinweg hilfreich sein wird, dann hat eine für dieses Kind und auf sein
spezielles Verständnisproblem hin abgestimmte Fördermaßnahme ihren
Sinn.
Unsinnig bis unverantwortlich sind alle Bemühungen von Seiten der Eltern, ihr
Kind mit Hilfe von Nachhilfeunterricht zu schulischen Leistungen zu führen oder
ihr Kind in bestimmten Schulen zu halten, die das Kind von seiner geistigen Ent-
wicklung und/oder seinen Interessen und/oder seiner Begabung her nicht oder
nur sehr mühsam erbringt. Auch sogenannte Hausaufgabenkreise dienen eigent-
lich nur jenen Eltern, die sich selbst um die schulischen Angelegenheiten ihrer
Kinder nicht in dem oben vorgetragenen Verständnis kümmern können oder wol-
len. Gelegentlich bieten aber außerschulische Förder- oder Nachhilfeeinrichtun-
gen, meist von privaten Unternehmen betrieben, mehr als die staatliche Schule.
Das gilt besonders in all jenen Institutionen, in denen sowohl die technische Aus-
stattung als auch die fachliche und persönliche Kompetenz der Lehrpersonen de-
nen an öffentlichen Schulen überlegen ist. Dann könnte ein Besuch derartiger Bil-
dungseinrichtungen zu einer ernstzunehmenden Konkurrenz für das staatliche
167
Schulwesen heranwachsen. Auf das einzelne Kind gesehen, muss das kein Schaden
sein, wenn es dadurch Erfolge erlebt, die es sonst in der Schule nicht hatte. Es
muss aber auf Grund der vorliegenden Erkenntnisse aus der Leistungsmotivati-
onsforschung davon ausgegangen werden, dass keine Hilfe sinnvoll und nützlich
ist, die nicht zu einem intrinsischen, also von innen heraus kommenden, Interesse
des Kindes am Lernen führt32. Kindern Eltern und älteren Kindern geht es mögli-
cher Weise nur darum, das Klassen- oder Schulziel zu erreichen, ganz egal, ob ein
Kind dabei etwas begriffen hat von dem was es gepaukt hat oder nicht. Eltern und
Lehrer bedauern dann gelegentlich, dass Kinder um der Zensuren willen lernen
und eigentlich wenig an den Unterrichtsinhalten interessiert sind. Sie lernen zwar
ein Gedicht - doch die Botschaft der Verse erreicht sie nicht. Was diese Kinder zum
Auswendiglernen motiviert, ist die Zeugnisnote bis hin zum Notendurchschnitt im
Abschlusszeugnis. Das heißt also: nicht für das Leben, sondern für die Noten wird
gelernt. Günstigenfalls werden nur die Unterrichtsinhalte behalten, die in Nei-
gungsfächern vermittelt werden. Dass das so ist, können wir unseren Kindern
nicht anlasten. Sowohl unser Schulsystem als auch unser Berechtigungswesen wie
die Zugänge zu Ausbildung und Studium nötigen uns und unsere Kinder zu einem
derartigen Verhalten.
„Ist das eine gute Schule?“ fragte mich 2011 eine Mutter aus Berlin und übersandte
mir einen Prospekt dieser Schule. Hier ein Auszug aus meiner Stellungnahme:
„…Die Grundkonzeption dieser Schule, die nach eigener Darstellung von den
Ideen Peter Petersens, Paolo Freires oder Maria Montessoris ausgeht, ist
recht sympathisch.
Die konzeptionellen Vorstellungen der Initiatoren einer Schule müssen aber
nicht immer auch mit der Praxis übereinstimmen. Der pädagogische Alltag
wird bestimmt
- von den Lehrerinnen und Lehrer und Lehrern und deren jeweiligen Per-
sönlichkeitseigenschaften, ihren fachlichen Kompetenzen - zu denen nicht
zuletzt ihr Interesse an der Arbeit mit Kindern gehört –
- von den Eltern und deren Menschenbildern und Erwartungen an die eige-
nen Kinder und an die Schule und
- natürlich von den Kindern, von deren Eigenheiten und Motiven.
Befindet sich unter den Kindern einer Schule ein besonders hoher Auslän-
deranteil und unter diesem Kinder aus Familien, die es ablehnen, sich mit
unserer Sprache und Kultur anzufreunden, wie es zum Beispiel in bestimm-
ten Schulen im Berliner Stadtbezirk Kreuzberg der Fall ist, dann dürfen in
einer Klasse höchstens zwölf Kinder sein oder es müssen zwei pädagogische
Fachkräfte die betreffende Klassengruppe betreuen.
168
Um einen Eindruck darüber zu gewinnen, wie die Realität des Schullebens
an dieser Schule aussieht, würde ich Kontakt mit Eltern aufnehmen, die ihre
Kinder bereits in dieser Schule haben und mich mit ihnen unterhalten. Vor
allem würde ich herauszufinden suchen, ob ihr Kind gerne hingeht, sich auf
die Lehrer, den Unterricht, die Freizeitgestaltung, das Essen freut und gern
mit den anderen Kindern Kontakt hält.
Der Austausch mit den anderen Kindern (zum Beispiel Geburtstagseinla-
dungen, gegenseitige Besuche) und mit jenen Eltern, mit denen man sich gut
versteht wird auch später, wenn Ihr Kind zur Schule geht, wichtig.
Nicht verzichten sollten Sie darauf, einen Blick in die sanitären Einrichtun-
gen zu werfen und zugleich ihren Geruchssinn zu aktivieren. Auch dort sollte
sich Ihr Kind wohlfühlen dürfen und nicht, wie mein siebenjähriger Neffe,
die Schultoilette meiden, weil es dort so stinkt und unsauber ist.
Gewiss, das sind dann alles subjektive, eher atmosphärische Eindrücke oder
Bewertungen. Wenn aber dadurch erreicht werden kann, dass Sie als Eltern
eine gefühlsmäßig positive Einstellung zu der von Ihnen gewählten Schule
bekommt, dann überträgt sich dies auf Klaus und kann seine Freude auf die
Schule verstärken und später erhalten…“
Die Beteiligung der Eltern am Schulleben ist hochbedeutsam. Insofern wird also
zum wiederholten Male auf die Grundbedingung eines optimalen Zusammenwir-
kens aller an der Erziehung und Bildung eines Kindes Beteiligten hingewiesen.
Während an staatlichen Schulen Eltern sich in der Regel nur als gewählte Eltern-
beiräte ins Spiel bringen können, bieten Schulen in privater Trägerschaft, in unse-
rem Raum sind das in der Regel die Waldorfschulen, den Eltern an, mitzuwirken.
An diesen Schulen sind Eltern sogar verpflichtet sich einige Stunden im Monat
einzubringen. Wenn sich Elternbeteiligung nicht darauf beschränkt, das Frühstück
zuzubereiten oder die Schulräume zu putzen, sondern Eltern ermöglicht:
dann wäre das ein großer Schritt in die Richtung einer Schulgemeinde.
Allerdings kostet ein derartiges Elternengagement Zeit und Kraft. Und wenn man
sich vor Augen hält, dass ja der Besuch einer privaten Schule recht teuer sein kann,
dann muss die Schule schon die Gewähr dafür bieten, dass ein Kind sich darin
wohl fühlt. Und genau darauf kommt es an:
Ein Kind muss sich wirklich wohl fühlen. Das heißt, dass die Lehrer es gern haben,
annehmen, akzeptieren und als eigene Persönlichkeit achten.
169
Das Kind sollte nicht das Gefühl (oder gar das Wissen) haben, dass es dem schuli-
schen Ehrgeiz der Eltern oder gar deren Wunschvorstellungen (mein Kind soll
einmal… werden) dient.
Jedes Kind, so ist bereits ausgeführt worden, ist begierig zu lernen: neue Erfah-
rungen zu machen, alles auszuprobieren, sich eigenständig und kreativ mit den
vielen Angeboten auseinanderzusetzen, die der Alltag vom Morgen bis zum Abend
anbietet. Und genau an diesen natürlichen Drang knüpfen Pädagogen ja auch an.
Und wir Eltern erfüllen diesen Wunsch, wenn wir unserem Kind genau dies er-
möglichen und ihm die Rahmenbedingungen zur Verfügung stellen, auf seine ei-
gene Weise, die Welt zu erkunden, Gestalten, Lesen, Rechnen zu lernen oder auch
fremde Sprachen.
Ich möchte abschließend noch einmal darauf hinweisen, dass der Besuch einer
öffentlichen Schule unter den genannten Voraussetzungen genauso erfolgreich
sein kann, wie der einer privaten Schule. Stimmen die Rahmenbedingungen nicht
oder nicht optimal, dann kann ein Kind das in der Regel gut kompensieren.
Zwei Beispiele:
Ich habe da einen Vater vor Augen, dem die Lehrer nie etwas recht machen
konnten. Er schimpfte lauthals daheim und in der Öffentlichkeit über die
Unfähigkeit der Lehrer und ließ kein gutes Haar an den Schulen, die seine
vier Söhne besuchten. Diese vier haben inzwischen öffentliche Grundschule
und Gymnasien mit Erfolg abgeschlossen, studieren längst an verschiede-
nen Universitäten an ebenso verschiedenen Fakultäten mit der gleichen
Bravour, mit der sie durch die Schulen gingen, von denen ihr Vater nichts
hielt.
Die von mir angedeuteten „Kompensationsleistungen“ erbrachten die Mut-
ter und die Söhne selbst - je älter sie wurden, umso mehr.
Zwei Kinder lernte ich in den vergangenen Jahren kennen, denen die jewei-
ligen Fachkräfte bei der Einschulung eine nur beschränkte Bildungsfähig-
keit testierten. Beide, ein Mädchen und ein Junge, kamen auf Sonderschu-
len. Das Mädchen war neun, der Junge vierzehn Jahre alt, als die Sonder-
schullehrer feststellten, dass sie doch begabter waren, als es bei der Einschu-
lung festgestellt worden war. Beide schlossen die Hauptschule ebenso mit
Erfolg ab, wie die darauf aufbauenden praktischen und theoretischen Aus-
bildungsgänge. Beide besitzen inzwischen Hochschulabschlüsse und sind er-
folgreich in ihren Berufen. Der Junge ist mittlerweile selbst stolzer Vater
zweier Kinder, die mit der Schule keine Probleme haben.
Und ein letztes Beispiel, das zeigt, dass es umgekehrt ebenfalls gut gehen kann:
Es war ein zähes und langwieriges Ringen mit den Eltern, sie davon zu
überzeugen, dass ihre Tochter, die inzwischen bis in die dritte Klasse ge-
kommen war, besser in einer Sonderschule aufgehoben sei. Die Eltern hat-
170
ten gegenüber der Klassenlehrerin der staatlichen Grundschule uneinsichtig
gezeigt und sich bereits gegen Ende des zweiten Schuljahres (Ende der
Grundschuleingangsstufe) gegen ein Sonderschulverfahren gestemmt. End-
lich hatte es die Lehrerin geschafft und in zahlreichen Gesprächen die Eltern
zu einer Zustimmung bewogen.
Seither sind zwanzig Jahre ins Land gegangen. Befreit vom Druck der
„normalen„ Schule und ihren Leistungszwängen und Notendruck, konnte
das Mädchen in der kleinen Gruppe der Sonderschule und bei individuelle-
rer Zuwendung durch die Lehrer, ihr Potenzial entfalten. Sie beendete den
Besuch der Sonderschule mit einem Hauptschulabschluss, machte eine
kaufmännische Lehre und blieb bis zur Gründung einer eigenen Familie er-
folgreich im Beruf. Und die Mutter? Sie erklärte der inzwischen pensionier-
ten ehemaligen Klassenlehrerin des Mädchens: „Es war doch gut, das mit
der Sonderschule… sie hat einfach mehr Zeit gebraucht“.
Diese Beispiele nehme ich als einen Beleg dafür, dass auch dann, wenn nicht alle
Rahmenbedingungen für eine optimale Entwicklung eines Kindes stimmen, kei-
neswegs die Flinte ins Korn geworfen werden muss. Die guten Kräfte in einem
Kind – so möchte ich das einmal aus meiner Erfahrung heraus sagen – setzen sich
durch, wenn seine Grundbedürfnisse, vor allem im frühen Kindesalter, befriedigt
wurden. Vor allen anderen aber sind wir Eltern aufgerufen, auf unser Kind voll
Optimismus zu schauen und Vertrauen in seine Fähigkeiten haben, sein Leben
selbst zu meistern. Die Schule ist hierbei zwar ein unverzichtbarer, aber ein nicht
zu überschätzender Zwischenschritt.
Einige Haltungen und Strategien, die sich in Familie, Kindertagesstätte und Schule
bewährt haben, sollen dieses Kapitel über das Lernen abschließen. Die Abschnitts-
überschriften sind uns bereits vertraut, da sie auf das deuten, was wir als Bedürfnisse
von Kindern im ersten Kapitel und als Lernbedingungen in den vergangenen Ab-
schnitten kennen lernten. Nun werden wir diese Aussagen mit dem Blick auf die
Förderung des Lernens und der Leistungsbereitschaft ergänzen und vertiefen.
Je mehr Eltern und andere an der Erziehung von Kindern Beteiligten mit sich
selbst, gemeint ist mit ihrer materiellen Situation oder ihrer seelischen oder kör-
171
perlichen Verfassung .u. a. m. zu tun haben, umso größer wird die Gefahr, dass die
Energien, die für Pflege, Fürsorge, Erziehung und Bildung eines Kindes gebraucht
werden, nicht ausreichen, und umso wahrscheinlicher werden die Schwierigkeiten
in der Entwicklung von Kindern zunehmen.
In derartigen Fällen brauchen in erster Linie die Erziehenden (die Eltern oder die
Lehrer) Hilfe. Darum richtet sich der Blick zuerst auf uns selbst, wenn unsere
Kinder Probleme mit der Schule haben.
172
Aber auch vielfältige andere Unternehmungen und Aktivitäten weiten den Erfah-
rungshorizont unserer Kinder: Reisen und Wanderungen mit den Eltern, sportliche
Aktivitäten, ein Instrument spielen, selber Einkaufen dürfen, und spielen, spielen,
spielen.
173
Weise der Erledigung der Hausaufgaben orientiert sich der Lehrer bei seinem Bild
über die Interesse des Kindes und die Haltung und Einstellung der Eltern der Schule
gegenüber. Wir setzen darum unsere Grenzen beziehungsweise verwirklichen unse-
ren Anspruch auf Eigenverantwortung im Konfliktfalle sinnvoller Weise in einer ver-
trauensvollen Abstimmung mit dem Lehrer. Ganz besonders gilt in derartigen Situa-
tionen, dass wir unser Kind daran beteiligen und nicht über seinen Kopf hinweg oder
hinter seinem Rücken mit dem Lehrer kungeln. Zornes- und Wutausbrüche von Sei-
ten der Eltern sind ungeeignet, ein Kind zum Arbeiten zu bewegen.
5. Wir helfen
Hilfe und Zuspruch gewähren wir unseren Kindern, wenn wir mit ihnen traurig dar-
über sind, wenn mal eine Arbeit nicht so gut ausfiel, wenn sie selbst enttäuscht dar-
über sind, weil sie meinen, versagt zu haben. Da jedes Kind in dieser Situation genug
an sich selbst zweifelt und leidet, setzen wir nicht noch durch unsere Vorwürfe oder
gar Strafen eins drauf. Wir vertrauen unserem Kind, dass es das nächste Mal sicher
besser wird. Und wenn es sein muss, wird es noch manch "nächste Male" geben, auf
die wir unser Kind vertrösten. Wie bereits erwähnt, reden wir am besten selbst mit
ihm darüber, wie wir ihm am besten helfen können und fragen bei der Gelegenheit,
ob es ihm recht wäre, wenn wir auch mal den Lehrer um Rat fragen. Je älter ein Kind
ist, umso weniger wird es Verständnis dafür haben, wenn wir hinter seinem Rücken
Kontakt mit der Schule aufnehmen. Die beste Hilfe wäre in dieser Beziehung, wenn
wir uns vom ersten Schultag an um eine vertrauensvolle, offene und gleichsam
selbstverständliche Beziehung zur Schule bzw. zu den Lehrern bemühen. Ohne Scheu
und Misstrauen sollten wir über die gegenseitigen Erwartungen sprechen. Dann ent-
steht bei unseren Kindern gar nicht erst der Eindruck, dass wir Eltern uns nur dann
in der Schule blicken lassen, wenn es klemmt. Es gibt immer etwas, worüber wir mit
Lehrern reden können: Zum Beispiel darüber, was wir in der Familien über die
Hausaufgaben festgestellt haben.
174
7. Wir erkennen an
Was sollten wir an Leistungen und wie anerkennen? Schenken wir unserem Kind ein
neues Fahrrad für ein gutes Zeugnis oder zahlen wir für eine gute Note einen be-
stimmten Betrag? Sicher freut sich unser Kind auch über gemeinsame Unterneh-
mungen und andere Formen der Zuwendung. Bei außergewöhnlichen Ergebnissen
als Folgen intensiver und anstrengender Arbeit können für das Kind attraktive Be-
lohnungen zu weiterem Fleiß anspornen. Dass diese Formen des Lobes, der Aner-
kennung und der Ermutigung schon lange bekannt – leider aber viel zu wenig in der
Praxis angewandt wurden – das zeigt uns das Werk des Tschechen Johann Amos
Comenius. Er empfahl bereits in seiner 1657 erschienenen „Großen Didaktik“ den
Eltern, sie sollten „...ihren Kindern ... schöne Bücher, Kleider oder sonst etwas Hüb-
sches versprechen, wenn sie sie zum Fleiß ermahnen...“ (1985, S. 99). Da brauchen
wir heute nur noch zu ergänzen und feststellen, dass wir dann die Lernmotivation
unterstützen,
wenn wir in erster Linie des Kindes Bemühungen anerkennen und nicht allein die
Ergebnisse - also die Schulnoten!
Wie können wir das tun?
Von früh an, also bereits im Kindergartenalter, ihre Hervorbringungen, also das, was
sie selbst geschaffen haben, anerkennen und zwar ohne heuchlerische Übertreibun-
gen; ein anerkennendes Kopfnicken reicht oft aus. Auf diese Weise erleben die Kin-
der ohne viel Gerede, dass sie uns etwas wert sind, dass wir sie als Person anerken-
nen und ernst nehmen. Das gilt besonders dann, wenn es um das Vertrauen in ihre
guten Fähigkeiten und Eigenschaften geht.
Dieses Vertrauen und Zutrauen bewährt sich gerade dann, wenn wir um Hilfe gebe-
ten werden. Der vierzehnjährige Walter bat gelegentlich seine Mutter, ihm bei den
Mathehausaufgaben zu helfen. Doch unwirsch reagierte er, wenn sie sich anschickte,
ihn auf Lösungswege aufmerksam zu machen. Er wollte Lösungen gesagt haben,
nicht selber rechnen. Gerade in dieser Situation, wenn Walter verärgert seiner Mut-
ter den Rücken zukehrt und sich über sein Heft beugt, wäre es im Sinne von Ermuti-
gung und Anerkennung sicher zweckmäßiger, Mut zuzusprechen und nicht, sich
selbst nun verärgert abzuwenden und den Jungen sich selbst zu überlassen.
175
erster Linie auf die Bedürfnisse der Erwachsenen zugeschnitten und für Kinder kaum
Platz ist. Schulkinder aber brauchen "ihren" Arbeitsplatz in der Schule genauso wie
zuhause. Bei gutem Willen, lässt sich auch unter beengten räumlichen Verhältnissen
ein "Kinderbereich" schaffen.
Je älter Kinder werden, umso wichtiger werden derartige Arbeits-Inseln. Sie sind
Rückzugsräume, die der Konzentration aber auch dem Wunsch nach ungestörtem
Arbeiten (aber auch: Träumen, Spielen, Basteln u.a.m.) dienen. Manchen Kindern
hilft es, wenn sie Musik hören beim Rechnen. Reden wir ihnen nicht hinein, solange
es keine ernsthaften Probleme gibt. Wenn Schulschwierigkeiten auftauchen, werden
auch diese Rahmenbedingungen in unsere Gespräche mit dem Kind einbezogen und
geprüft.
Auf diese Weise können wir Grundlagen schaffen, sozusagen das Fundament errich-
ten helfen, auf das unser Kind sein Leben zunehmend eigenständiger aufbaut. Staat
und Gesellschaft, und das sei an dieser Stelle besonders betont, haben den verfas-
sungsmäßigen Auftrag, uns Eltern zu unterstützen und zu helfen. Finanzielle Unter-
stützungsleistungen können nur ein Teil sein. Ebenso bedeutsam, wenn nicht sogar
wertvoller, sind Anerkennung elterlicher Erziehungsleistungen und die Hilfe hierfür
durch Aufklärung und Information. Die Einrichtungen der Jugendhilfe und die
Schulen mit ihrem pädagogischen Fachpersonal sind gerade im Zusammenhang mit
dieser Aufgabe die Partner der Eltern. Wir sollten im Interesse unserer Kinder diese
Partnerschaft sehr ernst nehmen und verantwortlich ausgestalten und sie in einer
guten, auf gegenseitigem Verständnis und gegenseitiger Achtung beruhenden Bezie-
hung verwirklichen. Eine gute Zusammenarbeit mit den Lehrerinnen und Lehrer
und Lehrern und den anderen pädagogischen Fachkräften ist eine günstige Voraus-
setzung für eine erfolgversprechende Schullaufbahn und eine verantwortungsvolle
Pflicht - für die Partner in Erziehung und Bildung.
10
Unsere Kinder und die elektronischen Medien
Einführung
176
halten wurde,. Dennoch können Kinder viele Stunden vor dem Bildschirm hocken
und sich anschauen, was es da zu sehen gibt, selbst wenn sie das, was sie sehen,
von ihrem Alter her noch nicht einmal verstehen können. Wer seine Kinder vor
dem Bildschirm anbindet, so hieß es bereits vor dreißig Jahren, schadet ihrer Ent-
wicklung. Allein der mit diesen Gewohnheiten verbundene Bewegungsmangel, der
für die körperliche, geistige und seelische Entwicklung so notwendig ist, führt ge-
genwärtig bei Kindern zunehmend zu chronischen Krankheiten und psychischen
Störungen (Horst Hackauf und Heike Ohlbrecht 2013, S. 6).
Für alle, die derartige Schäden vermeiden möchten, hat Manfred Spitzer, der viel
darüber schrieb, eine radikale Empfehlung: Fernsehgeräte wegstellen und den Zu-
gang zu elektronischem "Spielzeug" unmöglich machen. So radikal sich das aus-
nimmt, so richtig ist die Empfehlung. Richtig ist sie, wenn wir uns vor Augen hal-
ten, dass ein Kind nur im sozialen Verband einer Familie gedeihen kann, denn es
braucht die ständigen Austausch mit seinen erwachsenen Bezugspersonen, mit
seinen Geschwistern und mit anderen Kindern so, wie die Nahrung, die Luft oder
die Bewegung. Dieser ständige Austausch ist die Voraussetzung und der ständiger
Begleiter aller Lernprozesse. Der angeborene "Trieb" zur Nachahmung ist, wie be-
reits ausgeführt, ein entscheidender Motor der Entwicklung.
Aus dieser Erkenntnis heraus sagt also Manfred Spitzer zu Recht, wenn ein Kind in
einer Umgebung heranwächst, in der es die elektronischen Geräte gar nicht gibt
oder in seiner Gegenwart nicht benutzt werden, käme es gar nicht auf die Idee, sie
selbst benutzen zu wollen. Diese Erkenntnis ist so alt, wie Eltern über Erziehung
nachdenken:
Wer will, dass sein Kind etwas tut oder lässt, geht mit gutem Beispiel voran.
Und wer nicht will, dass Kinder im Familienalltag durch Fernsehen in ihrer
Entwicklung behindert werden, schaltet diese Geräte gar nicht erst ein.
Wie immer, wenn sich in der Kulturgeschichte der Menschheit, neue Medien her-
ausbildeten, gab es nicht wenige maßgebliche Kreise in Kultur und Politik, die Ge-
fahren heraufbeschworen und sogar das Ende der Kultur voraussahen (Bruno Bet-
telheim 1998, S. 4-5). Über die erwarteten Gefährdungen schrieb Joseph Weizen-
baum zum Beispiel, dass die größte Gefahr für den Menschen darin bestehe, sich
selbst als Maschine zu verstehen oder gar den Computer personifizieren und zu
177
ihm eine emotionale Beziehung herstellen. Unversehens schleichen sich auch in
der Umgangssprache Begriffe aus der Computerwelt ein, wie "abspeichern" oder
"falsch oder richtig programmiert sein". Dass eine Kind zu seinem Smartphone
ähnliche Beziehungen heranbilden, wie einst zu seiner Puppe oder seinem Teddy-
bär, das berichtete die US-amerikanische Wissenschaftssoziologin Sherry Turkle
(Bd. Ztg. 05.08.2013, S. 19): „Mit ihm fühle ich mich gut, ich nehme es mit ins
Bett, es fühlt sich fast an, wie ein Teil des Körpers, es macht mich quasi zu einem
Maschinenmenschen“.
Noch lässt sich diese Erfahrung nicht verallgemeinern. Die bereits von Weizen-
baum befürchteten Folgen sind bisher ausgeblieben. Kinder ab der Grundschul-
eingangsstufe benutzen Computer – und mit diesem vertrauten Begriff sind hier
zugleich auch i-Phones, Tabletts u. ä. angesprochen - als Werkzeug, also ein Ding,
mit dem sie viel machen können. Man kann damit schreiben, malen, gestalten,
rechnen oder spielen. Ein Computer ist also für Kinder ein interaktives Spielzeug,
vor dessen Bildschirm man nicht nur mehr oder weniger passiv schauend sitzt
(Daniela Braun, Freiburg 2000). Unbefangen gehen sie an die Geräte heran und
finden sich, sich selbst überlassen, bald zurecht. Natürlich schauen wir Erwachse-
nen ihnen mit Interesse und Verantwortung über die Schulter. Ein von Eltern, Er-
zieherinnen und Erziehern oder Lehrerinnen und Lehrer und Lehrern begleiteter
Einsatz dieses Mediums verringert zum Beispiel Gefahren, die im Umgang mit
Computern für die Persönlichkeitsentwicklung bisher vermutet wurden. Stattdes-
sen können unsere Kinder erfahren, dass Computer auch sinnvolle Betätigungen
anbieten. Hierbei ist vor allem an den Einsatz von Lernprogrammen oder solche
Spielprogramme oder Filme zu denken, die sowohl unterhaltsam als auch lehr-
reich sind.
Schauen wir noch einmal auf die Einflüsse, die auf ein Kind aus den sozialen
Gruppen, in denen es heranwächst, einwirken.
Es ist leichter, ein Kind an die Musik heranzuführen oder gar an ein Musikinstru-
ment, wenn die für das Kind wichtigen Bezugspersonen selbst musizieren. Glei-
ches gilt für alle anderen Tätigkeiten oder Unterlassungen in der sozialen Umwelt.
Und je kleiner Kinder sind, umso "prägender" können die frühen Erfahrungen
sein. Kürzlich schenkte zum Beispiel ein Vater seiner vierjährigen Tochter sein I-
Phone, weil er sich ein aktuelleres, leistungsfähigeres Gerät angeschafft hatte. Die-
ses Mädchen war keineswegs erstaunt, sondern fuhr mit seinen Fingern über den
kleinen Bildschirm hin und her und holte sich die Bilder, die es für sehenswert
hielt. Insofern ahmte sie lediglich das Verhalten ihrer Eltern nach, denn auch die
Mutter hatte stets so ein Gerät bei sich und kommunizierte unter anderem ständig
mit ihrem Mann mit Hilfe dieses Minicomputers oder fotografierte ihre Kinder u.
v. a. m.
Dass unsere Kinder andere "alternative" Wege gehen, sie ausprobieren und sich
möglicher Weise ganz anders entscheiden, als wir Eltern es vorleben, das lernen
wir spätestens in der Pubertät unserer Heranwachsenden kennen. Und Manfred
Spitzer meint dazu auch, dass es später, also in Entwicklungsphasen, in denen ein
Kind rationeller mit der kritischen Kraft seines Verstandes mit elektronischen Me-
178
dien umgeht, weniger Schaden nehmen wird. Ob sich diese Meinung bestätigen
wird und auf welche Weise, das müsste die Zukunft erweisen.
Ich neige dazu, die jüngste Entwicklung in diesem Bereich unseres beruflichen und
privaten Alltags als eine „Revolution“ zu betrachten. Und in dieser Phase einer
schier unendlicher Fülle neuer Kommunikationsmöglichkeiten in Schule, Beruf
und Freizeit brauchen unsere Heranwachsende Orientierung. Die Vermittlung ei-
nes verantwortbaren Umgangs mit Medien und die für unser Leben förderlichen
Möglichkeiten elektronischer Mediennutzung müssen Kinder ebenso lernen, wie
die anderen Kulturtechniken.
Während wir Erwachsene, die diese Entwicklung in unserer Generation mit vollzo-
gen und mit zu verantworten haben, uns allmählich an die neue Technik gewöhnen
konnten (denken wir nur an das Fernsehen und den Computer), finden unsere
Kinder diese unsere Medienwelt als gegeben vor. Und genau so, wie sie im ständi-
gen Austausch mit uns Erwachsenen leben lernen, so sollten sie auch in einer ver-
antwortbaren und das heißt vor allem: in einer ihrer Entwicklung förderlichen
Weise, mit elektronischen Medien umgehen lernen. Und das können sie nur dort
und dann, wo und wann jemand sie entsprechend unterweist.
So ist beim Adolf-Grimme-Institut eine Initiative „Eltern und Medien“ eingerichtet
worden, die in vielfältiger Weise Veranstaltungen zur Vermittlung von Medien-
kompetenz unterstützt. Auch auf die Informationen und Tipps der „aktion jugend-
schutz“ möchte ich aufmerksam machen. Von dort aus finden sich Links auf weite-
re Internetseiten mit medienpädagogischen Inhalten. Eltern mit Heranwachsen-
den ab zwölf Jahren möchte ich auf die hochinteressanten Veröffentlichungen der
Landesanstalt für Kommunikation Baden- Württemberg hinweisen! Auch Fern-
sehanstalten selbst haben in enger Zusammenarbeit mit dem Familienministerium
in Berlin eine - recht umfangreiche und differenzierte - Ratgeberhomepage einge-
richtet. "So lernen Kinder richtig fernsehen" wurde in einer Tageszeitung ein Bei-
trag überschrieben und auf die wertvollen Tipps, die Eltern und Erziehern unter
anderen für Vorschulkinder bei „Schau hin“ (http://www.schau-hin.info/) gege-
ben werden.
Es darf aber nicht übersehen werden, dass die Umsetzung aller medienpädagogi-
schen Einsichten nur in ökologischen Zusammenhängen gedacht werden können,
dass wir also die auf jeden von uns einwirkenden und jeden von uns beeinflussen-
den Umweltbedingungen berücksichtigen müssen. Von diesen ökologischen Ein-
flüssen, oder, wie ich sie nenne: "Wirklichkeiten", möchte ich Einige nennen:
Die Wirklichkeit in unserer Welt ist beeinflusst durch den unverfrorenen Zy-
nismus aller jener für die Werbung verantwortlichen Personen, die den Kauf
elektronischer Geräte und Programme für Erwachsene und Kinder anpreisen,
ohne auf mögliche entwicklungsschädigende Auswirkungen durch einen pä-
dagogisch ungefilterten Gebrauch hinzuweisen.
179
Die Wirklichkeit in unserer Industriegesellschaft ist heute unter anderem
durch die alles beherrschende Rolle der Wirtschaft gekennzeichnet. Die
"Ökonomisierung" aller Lebensbereiche erfasst, um auf bisher weniger be-
wusste Einflussbereiche zu deuten, nicht nur die Bildung vom Kindergarten
bis zur Universität, sondern auch den Familienalltag. Dahinter wird sogar ei-
ne bewusste Steuerung von Seiten der Medien-Industrie- und Kulturpolitik
vermutet. Wer sich vor Fernseher und Computer "anbindet" und seinen All-
tag von dorther und / oder sogar von Laptops, Tablets oder Smartphones be-
einflussen lässt, leidet weniger an einer unbefriedigenden Lebenssituation
wie Schulversagen, Arbeitslosigkeit und der damit verbundenen Lebensleere
und Langeweile. Zu diesem Thema gab es schon 2005 eine aufschlussreiche
Sendung im Zweiten Programm des Südwestfunks in der Reihe "Wissen"34, in
der von "Tittytainment" die Rede war.
Ich dachte dabei unwillkürlich an das Schlagwort „Brot und Spiele“ aus der Zeit
des "Alten Rom". Im Rom des Altertums sorgten die Herrschenden dafür, dass die
unbeschäftigten römischen Bürger vom Staat unterstützt wurden (damals: Brot -
heute: Arbeitslosenhilfe) aber auch zur Unterhaltung und Ablenkung etwas "gebo-
ten" bekamen (damals: Spiele im Zirkus - heute: Fußball und Familienserien im
Fernsehen und Spiele für die Computer). Und wenn sogar in Deutschland bereits
ein Institut eingerichtet wurde, in denen schreibgewandte Frauen und Männer
darin geübt werden, Familienserien (Telenovelas und Seifenopern) gleichsam am
Fließband herzustellen, um den Unterhaltungsbedarf eines anspruchslosen Publi-
kums ("kundenorientiert") zu befriedigen und dieses Niveau gleichsam "festzuna-
geln", dann dient dies - neben dem Profit für die Verantwortlichen - der zynischen
Weltsicht von Politikern wie dem o. g. Brzezinski. "Die Daily Soap als Familiener-
satz", heißt es in dem Bericht von Antje Hildebrandt über den "Grundy-UFA-
Konzern" in Potsdam-Babelsberg (Badische Zeitung v. 17. Januar 2006).
Dass in unseren Tagen die Spiele im alten Rom abgelöst werden vom "Caming",
das zeigt der Computer-Spieltrieb allein der Deutschen. Zwei Milliarden Euro wer-
den im Jahr für Spiele, darunter Konsolen- und PC-Titel ausgegeben. Sogar eine
Computerspielemesse "Gamescom" gibt es. Wenn man sich weiter vergegenwär-
tigt, dass in Deutschland im Durchschnitt fünf Stunden und fünfzig Minuten jede
Person über fünfzig Jahren vor dem Fernseher sitzt und schaut (Quelle: Dick, Ale-
180
xander in der Badischen Zeitung vom 09.08.2011, S. 1), dann ist unschwer zu ver-
muten, dass unter diesen viele Eltern und Großeltern sind, die auf diese Weise ih-
ren Kindern und Enkeln vermitteln, wie man den Tag ausfüllen kann.
Zu dieser Wirklichkeit gehört weiter, dass immer mehr Eltern ihre Verant-
wortung für das Wohl ihres Kindes, wie in den Ausführungen über die
Grundbedürfnisse dargestellt, nicht in erforderlichem Umfang wahrnehmen.
Das jedenfalls ist so lange zu unterstellen, solange es Kinder gibt, deren so-
ziale, geistige, emotionale und körperliche Entwicklung nachweislich durch
Fernsehkonsum und Computerspiele Schaden genommen haben35. Nachfra-
gen der „aktion jugendschutz“ führten zu der Erkenntnis, dass Schulversagen
mit einem unverantwortlichen Medienkonsum korrespondiert36.
Trotz der hier - bewusst zugespitzt - dargestellten Situation in Familien und Ge-
sellschaft, kann nicht gesagt werden, dass alle Kinder, die Fernseh- und Videofilme
schauen, gefährdet sind. Auch nicht diejenigen, die gelegentlich Gewaltdarstellun-
gen sehen. Nach dem gegenwärtigen Stand der Medienwirkungsforschung zu Ag-
gressions- und Gewalt fördernden Auswirkungen des Medienkonsums ist festzu-
halten:
Insofern kann bilanzierend festgehalten werden: Ein Medium für sich genommen
wird weder einem Kind zu Höchstleistungen in der Schule verhelfen, noch es für
ein Leben in unserer Gesellschaft untauglich machen. Maßgeblich für Nutzen oder
Schaden sind die Lebensbedingungen beziehungsweise die Situationen in deren
Zusammenhängen Medien Anwendung finden (Sichtermann, München 1997,S. 14
ff) sowie die diesen Ausgangslagen entsprechenden Funktionen, die die Medien für
den Anwender haben.
Es soll zunächst einmal festgehalten werden: In der Zeit, die ein Kind vor dem
Bildschirm sitzt, spielt es nicht. Dies gilt insbesondere dann, wenn sich Fernseh-
Video- und Computernutzung auf bloßes Konsumieren beschränkt.
Diese Aussage ist insofern zu differenzieren, als die entsprechenden, die Entwick-
lung beeinträchtigenden Auswirkungen je nach Alter und den sonstigen persona-
len und sozialen Rahmenbedingungen unterschiedlich sind.
Kindern, die noch keine vier Jahre alt sind, ist es schwer möglich, Filme, die sie auf
dem Bildschirm wahrnehmen, zu verarbeiten. Für diese Altersgruppe gelten Fern-
sehfilme, wenn diese nicht speziell für diese Altersgruppe bearbeitet wurden, als
sinnlos. Bis zum Ende des dritten Lebensjahres sollte eigentlich überhaupt nicht
181
ferngesehen werden. Dennoch schauen auch die kleineren Kinder gerne mit, wenn
die Eltern oder älteren Geschwister gucken. Es wird vermutet, dass sie Freude an
sich bewegenden bunten Bildern haben, auch wenn sie die Bildinhalte noch nicht
mit ihren Erfahrungen verknüpfen und die Abläufe nicht verstehen können. Sofern
Eltern oder ältere Geschwister fernsehen, findet das Bestreben der jüngeren Kin-
der seine Erklärung allein schon aus dem Nachahmungsstreben: „Ich will auch...“.
Machen wir uns also nichts vor: Kinder, vor allem die kleineren Kinder, würden
weder etwas vermissen noch ginge ihnen etwas verloren, wenn sie noch keine
Fernsehfilme anschauen könnten. Sie brauchen und wollen für ihre Entwicklung
Aktivitäten. In der Praxis setzten sich Bewegungsdrang und Kommunikationsbe-
dürfnisse auch vor dem Fernseher durch. Da schauen zum Beispiel jüngere Kinder
die Teletubbies an. Die Kinder bleiben nicht still sitzen: sie fragen die mit schau-
enden Erwachsenen, erklären, kommentieren, singen und sprechen parallel zur
Sendung, antworten auf Aufforderungen der Off-Stimme, tanzen und bewegen sich
nach der Musik u. a. m.37
Eine Bemerkung zur zeitlichen Dimension: Es gibt von Medienpädagogen und
Kinderpsychologen empfohlene Richtwerte, in denen die Obergrenze des wöchent-
lichen Fernseh- bzw. Videokonsums angegeben werden. Danach gelten für Sechs-
jährige eine, für Sieben bis Achtjährige zwei, für neun und Zehnjährige drei, für
Elfjährige vier, für zwölfjährige fünf, für Dreizehnjährige sechs und für Vierzehn-
jährige sieben Stunden (Jörg Sommer in Südkurier v. 01.09.99). Diese Empfeh-
lungen spiegeln keineswegs die Realität wieder. In die negative Richtung hin wur-
de beobachtet, dass schon 3 – 5- jährige Kinder durchschnittlich 80 Minuten täg-
lich vor dem Fernseher sitzen – in die positive Richtung hin verkürzt sich, nach
Aussagen von Eltern, der Fernsehkonsum auf wenige, regelmäßig geschaute Sen-
dungen wie Pippi Langstrumpf oder Pumuckel, weil ihre Kinder viel zu viel ande-
res zu tun haben und ständig in Bewegung sein wollen. Bei nur zwei Stunden Fern-
sehen am Tag, hätte ein Kind bis es zwölf Jahre alt wird, ein ganzes Lebensjahr
seiner geistigen, seelischen und körperlichen Entwicklung verloren, so sehen es
Wolfgang Goebel und Michaela Glöckler. Die Konsequenz aus einer derartigen
Perspektive wäre die, ganz aufs Fernsehen zu verzichten.
Kinder, die im Übermaß schauen - und das heißt im Grunde: ebenso viel oder gar
mehr Zeit für das Fernsehen aufwenden, wie sie allein oder mit anderen Kindern
und Erwachsenen spielen - lernen nicht die Welt kennen, wie sie ist, sondern so,
wie sie die Filme darstellen. Ein Horterzieher erzählt die folgende Geschichte:
Ein Achtjähriger weigerte sich, als wir mit der Kindergruppe in den Zoo fah-
ren wollten, in den Zug zu steigen: „Ich habe Angst. Da sind lauter Leichen
drin“. Niemand von uns Erziehern wunderte sich darüber. War der Junge
doch bis zur Einschulung in einer Umgebung herangewachsen, in der vom
Aufwachen bis zum Einschlafen ununterbrochen der Fernseher eingeschaltet
blieb, der den Lebensmittelpunkt für die Familie in der kleinen Wohnung bilde-
te. Es kostete uns und seinen Lehrerinnen und Lehrer und Lehrern viel Mühe
und Geduld, diesen im Grunde normal begabten Jungen zum Hauptschulab-
schluss zu führen.
182
Einige von den Vielsehern erreichen zum Beispiel nicht oder nur zum Teil die Fä-
higkeit zu - unter anderem - abstraktem und vorausschauendem Denken, also jene
Stufe der Intelligenzentwicklung, die Jean Piaget als die Stufe der "formalen Ope-
rationen" bezeichnet und die sich mit etwa elf Jahren zu entwickeln beginnt.
Kinder, denen statt elterlicher Zuwendung und Ermunterung zu eigenem und ge-
meinsamem Spiel der Bildschirm angeboten wird, haben schlechte Chancen in der
Schule. Misserfolge in der Schule aber behindern die Herausbildung von Vertrau-
en in die eigenen Fähigkeiten und damit Eigenschaften wie umfassendes Interesse
und Lernbereitschaft. Die können nur gedeihen, wenn ein Kind Anerkennung und
Erfolg erlebt. Misserfolgserlebnisse führen zur Flucht vor der Realität. Die Kinder
zieht es dann vermehrt vor den Bildschirm. Da haben sie keinen Frust. Sie verset-
zen sich in die Rollen ihrer Bildschirmhelden und begnügen sich damit. Der Teu-
felskreis schließt sich.
Es sagen weder der Besitz derartiger Geräte noch die durchschnittliche Nutzungs-
dauer von Kindern etwas darüber aus, ob geeignete Programme ausgewählt und
ob diese Kinder von ihren Eltern verantwortungsvoll begleitet wurden oder ob
irgendwelche entwicklungsschädigenden Auswirkungen festgestellt wurden. Die
Untersuchung aber zeigt, dass die technischen Voraussetzungen für einen exzessi-
ven und damit die Entwicklung von Kindern gefährdenden Medienkonsum inzwi-
schen in allen Haushalten geschaffen worden sind. Je größer das Angebot an Vi-
deo- und Fernsehgeräten oder Computerprogrammen, umso mehr werden sie
auch genutzt. Es ist zum Beispiel nachgewiesen worden, dass der audiovisuelle
Medienkonsum bei Vorhandensein eines Recorders pro Woche um acht Stunden
höher ist, als ohne Recorder. Und aus eigener Erfahrung als Lehrer und Erzieher
möchte ich hinzufügen: gerade die Elf- bis Vierzehnjährigen sind besonders ver-
führbar. Wenn sich in diesem Alter die Eltern nicht um die Jugendlichen bemü-
hen, dann werden die Filme auf dem Bildschirm den Forderungen der rauen Wirk-
lichkeit vorgezogen. Im Ergebnis kann der Rückzug auf die Bildschirmmedien da-
zu beitragen, dass nicht Erfolgszuversicht und Leistungswille wachsen, sondern
183
persönliches Versagen und Leistungsverweigerung. Statt Kooperationsfähigkeit
entwickelt sich Aggressivität, statt konstruktivem Engagement in Schule, Beruf
und Freizeit Passivität und Konsumhaltung und in extremen Fällen eine Ausstei-
germentalität gepaart mit Missgunst und Hass gegen alle, die als erfolgreicher er-
lebt werden. Sogar eine schwere seelische Erkrankung kann die Folge sein, wie es
das traurige Beispiel eines Sechzehnjährigen zeigt, der sich solange mit seinem
virtuellen Helden beschäftigt hatte, dass er sich schließlich selbst für einen Stra-
ßenkämpfer hielt und in eine psychiatrische Klinik eingewiesen werden musste.
Eine seit der zweiten Hälfte der neunziger Jahre von Psychologen aus Beratungs-
stellen beobachtete Auswirkung des zunehmenden Medienkonsums ist der Rück-
gang der Sprachkompetenz bei Kindern mit verheerenden Folgen auf die Schul-
laufbahn. Wir hatten bereits darauf verwiesen, dass ein Kind aktiv, also handelnd
lernt und nicht allein durch hören, zuhören oder zusehen. Ein Kind lernt gehen,
indem es geht, Rad fahren, wenn es mit dem Rad versucht zu fahren, Erwachsene
lernen Auto fahren, wenn sie fahren (und nicht, wenn sie anderen dabei zuschau-
en). Ein Mensch lernt sprechen, wenn er mit anderen spricht. Diese Erfahrung ist
so simpel, dass ich mich fast geniere, sie hinzuschreiben. Genau diese schlichte
Erkenntnis wird in mehr und mehr Familien übersehen. Eine Studie von Psycho-
logen an der Freiburger Universität kommen zu gleichen dramatischen Schlussfol-
gerungen: “Fernsehen bedeutet Vernachlässigung der Kinder“. (In: Badische Zei-
tung vom 27.09.2000 und vom 02. 06. 2001), und „belastet seelisch deutlich
mehr als die Schule“. Zwischen die Gespräche von Eltern mit ihren Kindern, Kin-
dern mit ihren Eltern oder Kinder mit ihren Geschwistern tritt das „Schauen“.
Günstigenfalls schauen Eltern und Kinder gemeinsam einen Film an. Wird aber
während eines Films oder hinterher nicht darüber miteinander gesprochen, was
einen bewegt, was man gesehen und vielleicht nicht richtig verstanden hat, dann
diente das Schauen nur der Unterhaltung der Eltern. Sprachliche Kompetenz kön-
nen Kinder so nicht erwerben.
An dieser Stelle ist von an einem sieben Jahre alten Jungen zu berichten, der
als „lernbehindert“ vom Schulbesuch zurückgestellt werden musste. Eine ge-
nauere Nachprüfung ergab, dass dieses geistig normale Kind darum nicht ein-
geschult werden konnte, weil bei ihm die Sprachentwicklung um zwei Jahre
verzögert war. Die Ursache war bald entdeckt: Die Oma, die ihren Enkel zur
Pflege hatte, schickte ihn nicht einmal in den Kindergarten, um sich von ihm
nicht trennen zu müssen. Stattdessen stellte sie ihm ein Fernsehgerät und einen
Videorecorder in das Zimmer. „Der Junge guckt doch so gern“ begründete sie
ihr Vorgehen. Man könnte hinzufügen: wenn er guckt, vergisst er die Welt da
draußen und ich habe ihn für mich.
Zu den Folgen dieses Erzieherverhaltens gehörte, dass der eigentlich recht in-
telligente kleine Kerl, außerstande war, sich sprachlich verständlich zu machen
oder gar mit anderen zu unterhalten. Seine Oma verstand ihn. Und das reichte
ihr.
Nachdem er aus diesem Umfeld herausgekommen war, hat er sprachlich rasch
aufgeholt und die Schule mit gutem Erfolg besucht.
184
Dieses Beispiel deutet aber auf die dramatischen Folgen unzureichender sprachli-
cher Kommunikation in Familien. Schon immer waren die Kinder benachteiligt, in
deren Familien ein „restringierter Code“, also eine einfache, begrifflich wenig dif-
ferenzierende Umgangssprache, gesprochen wurde. Der Kindergarten hatte die
ergänzenden und ausgleichenden Leistungen zu erbringen, um die Chancen von
Kindern aus derartigen Sprachumwelten zu verbessern. Nicht zuletzt deswegen
wurde der Kindergarten in den letzten vierzig Jahren flächendeckend ausgebaut.
Inzwischen sind Kindergarten und Schule geradezu als fernsehfreie „Gegenwelten“
zu einem, von Fernsehen und Videos beeinflussten Familienalltag zu betrachten.
Dort droht eine Spracharmut allen Kindern, wenn in Familien weniger miteinan-
der gesprochen als Fernsehen/Video geschaut wird. Denn Eltern, die selbst schau-
en, können sich mit ihren Kindern nicht unterhalten.
Eine Mutter erzählt: Ich habe drei Fernseher zu Hause: einen in der Küche, ei-
nen im Wohnzimmer und einen im Schlafzimmer. In allen läuft das gleiche
Programm, denn wenn ich putze, will ich doch trotzdem sehen, wies weiter-
geht.“
Wann und was bespricht diese Mutter mit ihrem fünfjährigen Mädchen?
Nichts. „Mach das, lass´ das, sei ruhig, geh spielen...“ auf derartige Anweisun-
gen beschränkt sich die Kommunikation mit dem Kind. Auch dieses Mädchen
musste vom Schulbesuch zurückgestellt und einer Sprachförderung zugeführt
werden.
Dass auch Aggression und Unruhe wachsen und die Fähigkeit, sich zu konzentrie-
ren, durch die passiven Fernsehkonsumgewohnheiten bei Kindern abnehmen, ist
auf einem Psychologenkongress im Januar 1999 in Saarbrücken bestätigt worden.
Die Gründe für die steigende Zahl hyperaktiver und konzentrationsschwacher
Schülerinnen und Schüler ist nicht zuletzt auf den Mangel an konstruktiver Bewe-
gung und eigener Aktivität zurückzuführen. Wer sich selbst vor den Bildschirm
„anbindet“, dem fehlen Bewegung und aktive Betätigungen mit Dingen und ande-
ren Menschen.
Bei einigen Betreibern stehen nicht Information und Unterhaltung an erster Stelle,
sondern die Einschaltquoten und die Gewinn sichernden Werbeeinnahmen. Und
hierfür sind alle Mittel recht - auch wenn in Bezug auf Filmauswahl und Gestal-
tung wenig auf u.a. positive ethische Orientierung Wert gelegt wird. Es sind er-
wachsene mündige Bürger, die auch an der Produktion und dem Vertrieb jener
Programme einschließlich der Computerspiele ihr Geld verdienen, die die seelische
Entwicklung von Heranwachsenden beschädigen. Was kulturpolitisch, wirtschaft-
lich und rechtlich nicht verhindert werden will oder kann, muss aber gleichwohl
unter pädagogisch-ethischem Gesichtspunkt als verwerflich bezeichnet werden.
Alle an diesen Prozessen beteiligten Personen und Institutionen handeln verant-
wortungslos38. Dass es Eltern gibt, die Medienangeboten, die ihren Kindern scha-
den, keinen Widerstand entgegensetzen können, ist zu bedauern. Resignierend
stellte eine Achtzehnjährige in einem Beitrag für eine unserer Tageszeitungen fest:
185
„Heute besteht für viele Kinder ein schöner Nachmittag darin, vor dem PC
zu hocken und das neueste Hau-drauf- und weg- Spiel auszuprobieren oder
eines der unendlich vielen, stumpfsinnigen Horrorvideos zu schauen ... Wie
soll man Kinder dazu bringen, mehr Phantasie zu entwickeln oder sich mehr
mit natürlichen Dingen zu beschäftigen, wenn zuhause ... nichts Besseres
vorgelebt wird“ (Sina Plettenberg in der Badischen Zeitung v. 07.07.2000).
Wir Erwachsenen tragen die Verantwortung dafür, was und wie viel in einer Fami-
lie –auch von den Kindern - gesehen und gehört wird und was nicht. Ich betrachte
den Hinweis von Eltern darauf, dass ja „alle“ vor Bildschirmen sitzen oder ihre
Minicomputer benutzen, als Ausdruck der angesprochenen Hilflosigkeit oder sogar
der eigenen Bequemlichkeit. Gerade Erwachsene, die für sich selbst Fernseh- und
Videofilme nutzen, um die eigene innere Leere und die Unfähigkeit zu kreativem
Tun mit „irgendetwas“ anzufüllen, zeigen sich außer Stande, ihren Kindern zu hel-
fen, aus dem Fernseh- und Computerspielkonsum auszusteigen. Für Eltern als
Abnehmer gilt:
Nicht alles was gerade auf dem Markt (oder „in“) ist, muss gekauft oder kon-
sumiert werden.
Niemand zwingt uns dazu, dem Medienangebot gleichsam „bewusstlos“ zu
folgen und die Anbieter durch hohe Einschaltquoten in ihren Bestrebungen
nach Medienmacht und Gewinn zu unterstützen. Das ist allein unsere freie
Entscheidung.
186
Der Computer als Freund und Helfer ?
Wenn danach gefragt wird, wann bzw. in welchem Alter Kindern Computer in der
Familie ohne Beschädigung der kindlichen Entwicklung zur Verfügung gestellt
werden könnte, so ist es nicht leicht, darauf eine verbindliche Antwort zu geben.
Bekanntlich gibt es inzwischen schon Programme, die sich an Dreijährige wenden.
Bisher ist keine Studie bekannt, die über die Auswirkungen eines derartig frühen
Computereinsatzes oder über die Eignung entsprechender Programme Auskunft
gibt. Das Argument, man kann nicht früh genug damit anfangen, Kinder an diese
Technik heranzuführen, damit sie später (wann?) keine Probleme damit haben, ist
als Begründung unzureichend. Es sind nicht die Erfahrungen im Umgang mit
Computern, die maßgeblich den Lebens- und Berufserfolg eines Menschen be-
stimmen, sondern die individuellen Persönlichkeitseigenschaften
Auch beim Einsatz von Computern in einem Kindergarten oder in der Grundschu-
le müssen Erzieherinnen und Erzieher, Eltern und Lehrerinnen und Lehrer und
Lehrer sehr sorgsam prüfen, was die Arbeit mit ihm bewirken soll und was sie tat-
sächlich bewirkt. Auf dem Bundesgrundschulkongress 1999 wurde zwar eine „viel-
seitige Nutzung der modernen Medien“ im Unterricht gefordert, zugleich aber da-
rauf verwiesen, dass Sinn und Zweck von PC und Programmen verantwortlich ge-
prüft werden müssten (aus: Grundschulverband aktuell, Heft Nr. 68 Nov. 99, S. 10
und 17)39.
Der Computer hat in Familien mit Kindern eine derartige Verbreitung gefunden,
dass diejenigen, die noch keinen besitzen, Ausnahmen sind. Gelegentlich müssen
Eltern einen Computer anschaffen, weil es zum Beispiel Lehrer in weiterführenden
Schulen gibt (besonders in den Gymnasien), die bereits heute Hausaufgaben auf-
geben, die nur dann erfolgreich bearbeitet werden können, wenn die Schülerinnen
und Schüler Zugang zu einem Computer und Internetanschluss haben. Es sind
bereits in allen weiterführenden Schulen selbstverständlich Computer vorhanden.
Es gibt hier und da „Computer-Räume“, in denen Schülerinnen und Schüler Auf-
gaben bearbeiten bzw. den Umgang mit diesem Werkzeug üben können. Vor allem
in den Sonderschulen setzen kundige Lehrerinnen und Lehrer und Lehrer den
Computer im Unterricht ein. An einer Schule für Lernbehinderte in Bad Säckingen
zum Beispiel, stand den Schülerinnen und Schülern bereits Ende der achtziger
Jahre ein Gerät in wenigstens einer Klasse zur Verfügung. Damals gab es noch gar
keine Lernprogramme. Der Klassenlehrer musste stattdessen alle Programme
selbst entwickeln. Bereits in jenen Jahren bewährte sich der Computereinsatz in
der Förderschule, da die Mädchen und Jungen hochmotiviert waren und der Lern-
effekt entsprechend groß. Gerade im Zusammenhang mit schulischem Lernen, sei
es in der Schule selbst oder bei der Bearbeitung von Hausaufgaben kann ein Com-
puter, ausgestattet mit geeigneten Programmen, die Lernprozesse fördern. In einer
Werkrealschule war es mit Hilfe eines eigenen, vom Schulleiter initiierten compu-
terunterstützten Lernnetzwerkes möglich, jeden Schüler nach seinen Fähigkeiten
arbeiten zu lassen.
Drohen von Computerspielen Gefährdungen für unsere Kinder? Diese Frage stel-
len sich alle verantwortungsbewussten Eltern zurzeit immer wieder. Die Meldun-
187
gen über Kinder, die Mitschüler und Lehrer in Schulen in den USA und in Europa
bedrohen oder sogar töten, beunruhigen in dieser Zeit uns alle. Und immer wieder
wird in Zeitungen, Illustrierten oder in Fernsehsendungen auf den Zusammen-
hang zwischen der Zunahme gewalttätigen Verhaltens Minderjähriger und den
entsprechenden Trainingsmöglichkeiten in bestimmten Computerspielen und in
Spielhallen verwiesen.
Was passieren kann, wenn dieses "Spiel" - Verhalten in der Freundesgruppe oder
unter den Schülern einer Klasse zur Norm wird, das erzählt dem Redakteur des
"Hochrheinanzeigers", einige Lehrer:
"Mir ist eine ganze Klasse abgestürzt. Die Sucht erfasste binnen Monaten
fast alle Jungen dieser Klasse. Die Schulnoten brachen in den Keller und
Sitzen-bleiben stand ins Haus".
"Die interessieren sich für nichts mehr. Das einzige Thema ist der Compu-
ter." Dabei berichten Informatiklehrer, dass der Computer als Ganzes die-
se Schüler häufig gar nicht interessiert. Sobald es um ernsthafte Anwen-
dung geht, steigen sie geistig aus dem Unterricht aus"
"Die können sich kaum noch etwas merken. Der Unterricht geht einfach
an ihnen vorbei". (Soweit aus dem "Hochrhein-Anzeiger" vom 16.11.2005).
Mir erzählte der Klassenlehrer eines vierten Schuljahres aus einer Schule im Hot-
zenwald im Juli 2007, dass immer mehr seiner Schüler nur noch Computerspiele
im Kopf und als Thema haben. Und wenn er mit den Eltern darüber spricht, zu-
cken die nur mit den Achseln. Aber wenn es um die weiterführenden Schulen geht,
dann nehmen sie uns persönlich übel, wenn wir diese Kinder ihrer miserablen
Leistungen wegen nicht empfehlen können. "Wenn man diesen Kindern helfen
wollte, dürften sie tagsüber nicht mehr nach Hause. Denen täte die Ganztages-
schule sicher gut."
188
Wann aber ist ein Kind oder Jugendlicher "Computerspielsüchtig"? Über Symp-
tome und über den Umgang mit dieser Erscheinung informiert ausführlich das
Buch von Sabine M. Grüsser und Ralf Tahlemann, das unter diesem Titel: "Com-
puterspielsüchtig. Rat und Hilfe" im Huber- Verlag erschienen ist. Dieser Verlag
stellt Arbeitsblätter zur Verfügung, die helfen können, Suchtverhalten im Umgang
mit Computerspielen zu erkennen41.
In der dritten Januarwoche 2007 sprach mich der Vater zweier Kinder an
und bat um Rat: sein achtjähriger Sohn sei "total heiß" auf bestimmte Com-
puterspiele und er fürchtet, dass der Junge Schaden nimmt.
In dieser Familie, die Mutter ist eine vierzigjährige Sozialpädagogin, die
Tochter ist zehn Jahre alt, gibt es keinen Fernsehapparat. Die Eltern sind
hoch motiviert und engagiert, wenn es um die Erziehung und Bildung ihrer
Kinder geht. Der Junge hatte sich das Spielgerät zu Weihnachten gewünscht
und von seinen Großeltern erhalten. Da er daheim bisher nicht am Compu-
ter spielen konnte, war er häufig bei Schulkameraden zu Gast, wo Compu-
terspiele in der Freizeit selbstverständlich waren. Nun konnte auch er da-
heim spielen. Um hier steuern und mitreden zu können, war der Vater be-
reit, nach erledigten Hausaufgaben mit seinem Sohn eine halbe Stunde mit-
zuspielen. Diese Zeit war, wie er mir berichtete, auf der CD-Hülle vom Her-
steller auch empfohlen. Vor einer längeren Spieldauer wurde ausdrücklich
gewarnt. "Was soll ich Ihnen sagen", so der Vater, "ich hatte selbst Mühe,
mich nach der halben Stunde loszureißen. Die Spielentwickler hatten den
Spielverlauf so spannend programmiert, dass man total in die Spielsequen-
zen hineingezogen wird. Ich verstehe, dass mein Sohn davon ganz angefres-
sen ist. Aber das ist doch nicht gut für ihn! Wenn sogar der Hersteller selbst
auf die Gefahren, die drohen können, aufmerksam macht... Was wird nur
aus den Kindern, wenn man da nicht aufpasst?"
189
den anderen sanfte Spiele bevorzugen lässt. Mit einer so einfachen Erklärung wür-
den wir die Verantwortung leugnen, die das soziale Umfeld, wie die Familie oder
eine Gesellschaft hat, die ein entsprechendes Angebot überhaupt zulässt. In Stich-
worten sollen die sich nachweislich schädlich auswirkenden und im Zusammen-
hang mit dem Fernsehen bereits benannten Einflussfaktoren noch einmal bekräf-
tigt werden:
1 das Familienklima: in einer Familie, in der Gewalt gelebt wird, verstärken ge-
walttätige Computerspiele die Bereitschaft, selbst gewalttätig zu sein. Vorbilder in
der Familie und / oder die Überzeugung, dort nicht geliebt (nicht wichtig) zu sein
sind nicht selten die Ursache für eine ungünstige Persönlichkeitsentwicklung zu
der - als ein Beispiel - die Flucht in die Gewalt (z.B. gewaltverherrlichenden Filme
und Spiele) gehört.
3 die Lebensperspektive: wenn ein junger Mensch seine Existenz als sinnlos er-
lebt und (bzw. weil er) keine positive Zukunft für sich sieht, weil er z.B. Berufsziele
oder andere Wünsche und Träume als für sich selbst überhaupt nicht realisierbar
empfindet.
190
Es ist zu verstehen, dass dieser Zwang, sich vor den Computer zu fesseln und selbst
elementare Bedürfnisse zu vernachlässigen, Erschöpfungszustände zur Folge hat,
die sich nachteilig auf Schule und Berufsausbildung auswirken. Nicht selten wach-
sen Aggression und Gewaltbereitschaft und werden mit hinaus genommen in die
Schule oder auf die Straße. Noch einmal ist an dieser Stelle darauf hinzuweisen,
dass allein schon das Angebot bzw. der Zugang zu Kriegs-, Tötungs- oder porno-
grafische Video- und Computerspiele aus ethischer und pädagogischer Sicht als
unverantwortlich zu betrachten ist. In unserer Gesellschaft besteht ein erhebliches
Spannungsfeld zwischen der Freiheit auf der einen und der Verantwortung auf der
anderen Seite. Bundes- und Landesbehörden bemühen sich gemeinsam mit Medi-
enkonzernen in entsprechenden Arbeitsgruppen und Kontrollorganen darum, das
jugendgefährdende Spiel- und Filmangebot zu beeinflussen. Doch angesichts der
Möglichkeiten, die inzwischen das Internet bietet, sind diese Bemühungen frag-
mentarisch. Damit bleibt die Verantwortung bei den Familien. Dort aber helfen im
Familienalltag Verbote kaum. Die betreffenden Heranwachsenden brauchen Al-
ternativen, die ihnen jene Abenteuer, soziale Anerkennung und Erfolge ermögli-
chen, die sie in ihrem Alltag vermissen. Sie brauchen aber auch Lebensbereiche,
innerhalb derer sie lernen können, den Computer und seine Möglichkeiten zum
Vorteil ihrer Entwicklung zu nutzen. Unter diesem Gesichtspunkt sind Computer
in Schule und Familie zweckmäßig.
Eltern denken beim Kauf von Programmen sowohl an die Wünsche ihrer Kinder
als auch an die Auswirkungen, die die Programme auf sie haben können. Also
müssten wir wissen, welche Programme was fördern und welche wie schaden. Was
tun, angesichts der großen schier unübersehbaren Angebots und dem Drängen
unserer Kinder, dies oder jenes Programm unbedingt zu kaufen? Obwohl es ausge-
schlossen ist, dass der Idealfall je erreicht wird und gleichsam jedes Kind ein für
seine spezifischen Möglichkeiten und Bedürfnisse zugeschnittenes Programm er-
hält, haben wir die Programme, die bereits entwickelt worden sind, unter dem
Blickwinkel ihrer speziellen Funktionen im Zusammenhang mit der Förderung
ebenso spezieller Fähigkeiten zu prüfen.
191
Unsere Entscheidungen für ein bestimmtes Programm, z.B. ein Spielprogramm,
Rechnen, Sprachförderung, Sachkundefächer o. dgl., können sich stützen auf die
Anforderungen der Erzieherinnen und Erzieher oder auf die Empfehlungen der
Schule, die das betreffende Programm in dieser Klasse (bei diesem Kind) bereits
verwenden.
Es kann aber genauso gut ein Programm - also auch ein Computerspiel - von uns
ausgewählt werden, wenn wir es für den vorgesehenen Zweck für geeignet halten
und darum angeschafft oder selbst geschrieben haben. Soweit es Unterrichtsinhal-
te berührt, ist der o. g. Kooperationsgesichtspunkt besonders zu beachten. Jede
pädagogische Institution kann bei der Bundeszentrale für politische Bildung (Pf.
2325 in 53013 Bonn) die sehr informativen Blätter „Computerspiele auf dem Prüf-
stand“ bestellen oder abonnieren. Zweimal im Jahr kommt eine neue Sendung, die
kostenlos abgegeben wird. Bei der Auswahl von „Lernprogrammen“ wird es
zweckmäßig sein, dass das Übungsprogramm für ein Kind, zum Beispiel: das große
Einmaleins, auch für die anderen Kinder in einer Familie verwendbar ist. Um El-
tern und Fachkräften raten und helfen zu können, gibt es in jeder Region inzwi-
schen Informationsstützpunkte. An Kreisbildstellen und an den Schulen, in Baden-
Württemberg sind das die „Multimediaberater“, halten sachkundige Personen In-
formationen über Programme bereit. Nirgendwo muss also beim gegenwärtigen
Verbreitungsstand von Computern bei null angefangen werden. Es fehlt lediglich
noch an Interaktionsprozessen unter den Computeranwendern und an Schnittstel-
len, die allen Interessierten ermöglichen würde, vorhandene Erfahrungen zu nut-
zen und effektiv auszubauen. Allein schon der Einsatz von Programmen, die in so-
zialpädagogischen Einrichtungen schulfächerbezogene Lernprozesse unterstützen
sollen, brauchte eigentlich die Zusammenarbeit mit den Lehrern.
Wenn sozialpädagogische Fachkräfte oder Eltern Lernprogramme kaufen
wollen, dann sollten sie die Lehrer (z.B. Multimediaberater) in den Schulen
fragen!
192
Mit den Fingern auf dem Smartphone
Ob sie stehen, gehen oder sitzen: viele unserer Kinder und Jugendlichen haben
nicht nur einen Stöpsel im Ohr, verbunden mit einem Empfangsgerät in der Ta-
sche, sie halten in ihren Händen auch ein Smartphone. „Jedes vierte Kind zwi-
schen sechs und dreizehn Jahren besitzt ein eigenes Smartphone“ ergab eine Um-
frage des Verlags „Egmont Ehapa Media“ im Jahre 201442. Ständig fahren sie mit
ihren Fingern darauf herum. Die vierzehnjährige Else verschickt und empfängt
über die mobile Nachrichtenplattform „Whatsapp“ ständig Kurzmitteilungen. „Hi,
wie geht‘s“ tippt sie an eine ihrer Freundinnen ein, und die antwortet: „gut, ich
bin grad bei ALDI. Kommst Du nachher an der Schule vorbei?“ „O.k. bis dann“.
Nein, etwas wirklich Wichtiges oder gar inhaltsreiche Texte werden nur selten un-
tereinander ausgetauscht. Kinder und Jugendliche erleben diese Technik als Berei-
cherung, fühlen sich ohne diese Kommunikationsmöglichkeit abgeschnitten, als
nicht mehr erreichbar. Außerdem können sie ihre Lieblingsmusik hören. Sogar
wecken können sie sich lassen, und nicht selten ist es, dass sie dann erst einmal
checken, ob und welche Nachrichten sie inzwischen erhalten haben.
Selbst wenn sie sich in Gruppen zusammenfinden oder zu Hause vor dem Fernse-
her sitzen, werden Kurzmitteilungen empfangen oder gesendet. Zum Beispiel dar-
über, was man gerade tut und wie man das Gesehene oder Gehörte bewertet und
auch die Situation, in der man sich befindet, erlebt.
Ein Kommunikationswissenschaftler hat über die jungen Menschen und diese ak-
tuelle Form der Kontaktpflege geforscht. Er fand heraus, dass die meisten Jugend-
lichen keine pathologischen Smartphone-Nutzer seien. Es werden vielmehr statt
der Briefe, die einander von der Elterngeneration noch geschrieben wurden, Kurz-
botschaften ausgetauscht. Allerdings ermöglicht die neue Technik, sehr viel kürze-
re und sprachlich recht schlichte Rückkopplungsprozesse. Diese Vereinfachung ist
den Jugendlichen gerade recht. Weder auf Rechtschreibung noch auf einen
sprachlich guten Stil muss geachtet werden. „Schreib wie du sprichst“ haben frü-
her Eltern ihren Kinder gesagt, wenn sie nicht wussten, was und wie sie den Brief
an die Großeltern verfassen sollten. Und diese Empfehlung wird heute tatsächlich
im wahrsten Wortsinne realisiert.
Kritisch ist zu sehen, dass diese Form, mit Hilfe von Smartphone miteinander zu
kommunizieren die direkten zwischenmenschlichen Kontakte reduziert und sozia-
le Situationen schrumpfen lässt43. Denn die Top-Apps der Nutzer sind die sozialen
Netzwerke wie Whats-App und Face-book. Sie können die persönliche Begegnung,
die Beziehungen, die sich durch die gegenseitige Berührung, das Erleben von Mi-
mik und Gestik oder den stimmlichen Ausdruck des Gesprächspartners zueinan-
der entwickeln, nicht ersetzen. Insofern birgt die Beschränkung auf diese Form der
Kommunikation die Gefahr der Verarmung in der Kontaktpflege und der Qualität
der zwischenmenschlichen Beziehungen (vgl. dazu auch die Forschungen von Prof.
Dr. Christian Montag. Hier: http://www3.uni-bonn.de/Pressemitteilungen/009-
vom 15.01.2014).
193
Den Umgang mit Handys, so ist Eltern dringend zu empfehlen, sollte nicht unge-
regelt und ohne Begleitung sein. Ein Handy, gleichsam ein Telefonersatz, ist nütz-
lich, wenn ein Kind seine Eltern mal schnell erreichen will oder muss. Da können
wir heute froh darüber sein, dass es diese unkomplizierte und rasche Kontaktmög-
lichkeit gibt. Zu denken ist zum Beispiel, dass sich ein Kind auf einem Ausflug, ei-
ner Schulwanderung zu Fuß oder mit dem Fahrrad befindet oder für die Mutter
einkaufen geht und bei dieser Gelegenheit eine Rückfrage hat. Also geben wir El-
tern, unserem Kind ein Handy mit.
Anders sieht es mit dem Kleincomputer, also einem Smartphone aus, der viele zu-
sätzliche Nutzungsmöglichkeiten anbietet. Denken wir nur an die Möglichkeit,
dass ein Kind von sich selbst Bilder ins Internet stellt oder persönliche Informati-
onen über sich und seine Familie, Freunde, aktuelle Situationen und Vorhaben auf
diesem Wege veröffentlicht. Sogar kostenpflichtige Kontakte kann ein Kind mehr
oder weniger wissentlich realisieren und die Eltern stehen plötzlich vor hohen
Rechnungen.
Eine gleichsam unbegrenzte, von Regeln freie Verwendung dieses Mediums durch
unsere Kinder ist nicht zu empfehlen. Es könnten statt dessen Eltern festlegen
1. Kinder, die ein Smartphone von ihren Eltern erhalten, bezahlen die damit
verbundenen Kosten von ihrem Taschengeld.
2. Die Eltern, verhindern je nach Alter und Reife bestimmte Nutzungsmöglich-
keiten, wie zum Beispiel den Zugang zum Internet mit Hilfe hierfür zu er-
werbender Programme.
3. Eltern stellen Regeln auf und beachten deren Einhaltung, wann und wo ein
Smartphone benutzt werden darf. Da ist zum Beispiel zu denken daran,
dass ein Smartphone im Bett oder während des Essens bzw. der gemeinsa-
men Mahlzeiten nichts zu suchen hat.
In der Schule ist es Sache der Schule bzw. der Lehrerschaft ob und wie die Nutzung
von Smartphones geregelt wird. Vorbilder sind jene Schulen bzw. Schulverwaltun-
gen, die die Nutzung von Smartphones im Bereich von Schule und Unterricht re-
geln und auf deren Einhaltung achten.
Jedes Kind braucht auch für die Nutzung von Smartphones einer sorgfältigen Ein-
führung durch seine Eltern, es muss also den Umgang damit lernen. Diese Einfüh-
rung durch und das Training mit den Eltern ist als Voraussetzung dafür zu be-
trachten, dass einem Kind ein Smartphone zur zeitweiligen Verfügung anvertraut
wird. Hierfür müssten Eltern allerdings in der Lage sein. Eltern, die sich selbst
nicht auskennen, werden weder als Vorbilder wirken können noch ihrer elterlichen
Verantwortung gerecht werden.
Die Skepsis, die Manfred Spitzer mit der Nutzung von Smartphones bzw. Klein-
computern durch Kinder verbindet, und die Gefahr einer „Digitale(n) Demenz“ (so
der Titel seines neuen Buches, München 2012) befürchtet, sollte differenziert be-
trachtet werden. Ich möchte hierzu erzählen, was ich kürzlich beobachtete:
194
Zum Geburtstagskaffee eines Sechsjährigen trafen auch Freunde von ihm ein.
Der Älteste war zwölf und die Jüngste seiner Gäste war sieben Jahre alt.
Während die Erwachsenen am Kaffeetisch mit einander redeten und schier
kein Ende fanden, saßen und lagen die Kinder im benachbarten Wohnraum
und waren, jedes für sich mit ihren elektronischen Spielgeräten beschäftigt.
Der Älteste zum Beispiel, hatte zwei Fußballmannschaften geladen, deren
Spiel er mit seinen Fingern tippend, steuern konnte. Und wie Spitzer in sei-
nem Buch richtig schildert, kamen die Kinder in dieser Zeit nicht miteinander
ins Gespräch. Nach etwa einer halben Stunde aber beendeten alle Kinder ihre
Computerspiele und gingen in die Kinderzimmer, um dort miteinander zu
spielen. Ich schaute mal nach, was sie trieben. Sie saßen auf dem Fußboden
und an Tischen, hatten zwischen sich Brettspiele aufgebaut, dort auch Vater
und Großeltern dabei („komm jetzt endlich, Opa“ hatte eines den Großvater
aus dem Kreis der Erwachsenen geholt und „spielst Du mit uns, Papa“ ein
anders Kind). Drei Mädchen widmeten sich ihren Puppen…
Ich schloss daraus, dass Kinder es zwar eine Weile interessiert, die Spielprogram-
me auf ihren Smartphones zu bedienen, es sie aber nach einer gewissen Zeit lang-
weilt und sie dann – und viel länger – lieber mit anderen Kindern und/oder mit
den Erwachsenen spielen. Und zwar ohne Aufforderung bzw. Anregung durch die
Erwachsenen.
Und wenn Spitzer im Untertitel zu seinem Buch den Titel erläutert: „Wie wir uns
und unsere Kinder um den Verstand bringen“, wird der Eindruck erweckt, als
würde das neue Spielzeug gleichsam generell zur Verdummung führen. Mein Bei-
spiel deutet an, dass Kinder im Alltagsleben andere Prioritäten setzen können und
das auch tun, wenn wir Erwachsenen sie nicht daran hindern. Und so wird ein
Schuh draus: Kinder brauchen zu ihrem Gedeihen uns: die Eltern, die Großeltern,
die Berufserzieher bzw. Lehrerinnen und Lehrer, so wie im Abschnitt über die
Grundbedürfnisse beschrieben. Stehen sie den Kindern zur Seite, dann sind unse-
re Kinder nicht gefährdet.
Hier haben wir es mit einer zusätzlichen Dimension unseres Lebens zu tun, die
mehr ist, als die Nutzung von Computerprogrammen bzw. dem Smartphone. Al-
lein an der täglichen Nutzungsdauer der Onlineverbindungen von Mädchen und
Jungen lässt sich ablesen, welche Bedeutung diese Kommunikationsmöglichkeit in
den letzten Jahren erfuhr. Betrug die tägliche Onlinenutzung von Montag bis Frei-
tag nach Selbsteinschätzung in Minuten 2006 noch 99, so waren es 2013 bereits
179 (JIM-Studie 2013, S. 29).
Es nutzen fast ebenso viele Mädchen wie Buben das Internet. Internet ist Topthe-
ma auf den Schulhöfen. Am beliebtesten sind Webseiten von bekannten Kinder-
marken und Kinderkanälen. Zwei Drittel der Kinder gehen einmal die Woche ans
Netz. Nicht wenige von ihnen sind Mitglied in einem sozialen Netzwerk wie z. B.
195
Facebook. Sich mit der Internet-Nutzung – bezogen allein auf den Freizeitbereich
oder auf den Schulunterricht – auseinanderzusetzen, dazu braucht jeder von uns
viel Informationen aus den entsprechenden Forschungsbereichen und sehr viel
persönliche Erfahrung. Soweit aber sind wir noch längst nicht alle und für viele
von uns ist das Internet noch fremd.
Über die Internetnutzung im Zusammenhang mit Erziehung und Bildung ist bis-
her noch wenig geschrieben und kaum geforscht worden. Die Forschungen des
Instituts IconKids & Youth in München, von dem einige der hier genannten Zahlen
stammen (vgl. Bad. Ztg. Freiburg v. 22.02.2011), arbeitet als Marktforschungsun-
ternehmen in erster Linie für Anbieter im Internet und nicht für die Nutzer und
schon gar nicht für die Familienerziehung – es sei denn von dort käme das Geld44.
Es nutzten fast ebenso viele Mädchen wie Buben das Internet. Internet ist Topt-
hema auf den Schulhöfen. Am beliebtesten sind Webseiten von bekannten Kin-
dermarken und Kinderkanälen. Zwei Drittel der Kinder gehen einmal die Woche
ans Netz. Nicht wenige von ihnen sind Mitglied in einem sozialen Netzwerk wie z.
B. Facebook. Im Durchschnitt sind sie eine Stunde online.
Bezogen auf unsere Kinder und Jugendlichen hier einige Stichworte, die zugleich
darauf deuten, womit wir uns gegenwärtig vertraut machen sollten:
„Kindersuchmaschinen, z. B. „blindekuh“, „Kinderseiten von Fernsehsendern“,
z.B. „kindernetz“ vom SWF, „Chatten“, z.B. „kindersache“ von der Infostelle Kin-
derpolitik, Berlin, Kinderseiten und kommerz, z..B. „coole-schule“ von Kraft Ja-
cobs Suchard. (Christina Feil, 2000, S. 15 ff)
Unsere schulpflichtigen Kinder haben längst die Möglichkeiten des Internet ent-
deckt, die sich für die schulische Arbeit anbieten und holen sich dort Hilfe für ihre
Chemieaufgaben, ihre Geschichtsarbeit, den Aufsatz oder zur Lösung mathemati-
scher Aufgaben. Kostenlos und kompetent, interessant und informativ sind die
entsprechenden Internetseiten. Die verschiedenen Hausaufgabendienste und an-
dere Anbieter lassen keine Fragen unbeantwortet und keine Wünsche offen. Inso-
fern hinken wir Eltern gewaltig hinter her, wenn wir uns noch nicht mit dem An-
gebot vertraut gemacht haben. Uns Erwachsenen bleibt nur noch wenig Zeit, wenn
wir unseren Kindern zur Seite stehen und die Internetnutzung verantwortungsvoll
begleiten wollen. Für Berufspädagogen sind Voraussetzung und Ziel allen Um-
gangs mit Computerprogrammen und dem Internet das, was in der medienpäda-
gogischen Literatur als „Kompetenz“ bezeichnet wird (jugendschutz.net, Mainz).
Bezogen auf das Internet als Informations- und Kommunikationsmedium heißt
das für ihre Nutzer:
1. Sie erwerben bzw. besitzen die Fähigkeiten das Internet als Werkzeug zu er-
kennen, es selbst gestalterisch zu nutzen, als ein Instrument zur Optimierung
ihrer Informationsbedürfnisse und interaktiven bzw. kommunikativen Mög-
lichkeiten – sowohl als Einzelperson, als auch als Gruppe zu verwenden und
ständig zu erweitern.
196
2. Sie erwerben bzw. besitzen die Fähigkeiten, Informationen zu sichten und zu
bewerten, z. B. unter den Kriterien der individuellen Zwecke und gezielt aus-
zuwählen.
3. Sie erwerben bzw. besitzen die Fähigkeiten, die Möglichkeiten des Internet ent-
sprechend kritisch wahrzunehmen und, wenn sie ihre Zwecke erreicht haben,
das Internet zu verlassen. Dieser Hinweis ist darum ernst zu nehmen, weil im
Zusammenhang mit der Internetnutzung Suchtgefährdungen, seelische Er-
krankungen bzw. Verstärkung seelischer Störungen und erhebliche finanzielle
Belastungen beobachtet wurden.
Wir sollten also die Kinder, die in unseren Familien heranwachsen und die wir in
Schulen und Tagesstätten betreuen, lehren, die Möglichkeiten des Internet zu be-
herrschen und zu nutzen, ohne umgekehrt vom Internet beherrscht zu werden und
in die Rolle von „Medien-Analphabeten“ oder „chronischer Konsumenten“ abzu-
gleiten.
Programme auswählen bzw. auswählen helfen. Das heißt, dass Eltern wissen,
welche Filme ihre Kinder warum anschauen möchten. Fernsehgeräte werden nur
zu diesem Zweck eingeschaltet und wieder abgeschaltet, wenn der Film zu Ende
ist.
Gemeinsam schauen, das heißt, Eltern sehen sich den ausgewählten Film mit
ihren Kindern gemeinsam an. Dann können die Kinder mit den Eltern gleich über
Unverstandenes sprechen. Vergleichbares gilt für die Wahl anderer Apps.
Auch mögliche Ängste, die allein durch bestimmte Geräusche hervorgerufen wer-
den können, lassen sich mindern, wenn die elterliche Nähe gespürt wird.
Über das Gesehene sprechen: das heißt, auch wenn die Eltern nicht mitschauen
können, sollten die Kinder Gelegenheit haben, mit ihnen darüber zu sprechen. Je
mehr die Kinder erzählen und durch das erzählen „los werden“, umso geringer
wird die Gefahr, dass Filmszenen Kinder „umtreiben“. Gerade, wenn eine Sequenz
für ein Kind angstauslösend war, und was das ist, kann allein das Kind erleben,
will es darüber sprechen. Die Rolle der Gesprächspartner können natürlich auch
ältere Geschwister oder Verwandte übernehmen.
Die beste Alternative für alle Kinder und Jugendlichen sind nicht passives Schau-
en, sondern Aktivitäten, die sie in besonderer Weise herausfordern, ihnen Gele-
genheit zum Erfolg durch eigene Leistung geben und die möglichst gemein-
sam mit Eltern und/oder in Kinder- und Jugendgruppen erbracht werden. Musi-
kalische Früherziehung, Sportgruppen, Radfahren, Wandern und Schwimmen so-
wie viel Spielen, Erkunden und Entdecken im Freien, besondere Angebote für Ju-
gendliche auch außerhalb der Vereine wie Kanu- und Kletterkurse - alles dies sind
197
seit Generationen die besten „Miterzieher“. Überall dort, wo diese aktiven Betäti-
gungen im Vordergrund stehen, wo ein Kind etwas schaffen kann, worauf es hin-
terher mit Stolz und Genugtuung weist, treten die Gefährdungen durch Fernsehen
und Video zurück. Wenn Eltern bei der Filmauswahl darauf achten, dass die jewei-
ligen Freizeitaktivitäten eine mediale Unterstützung erhalten, lassen sich Fernse-
her und Videogerät sogar in den Dienst einer das Kind fördernden Entwicklung
stellen45.
Einige Bemerkungen zur Fernsehwerbung: Sie kann in Familien dann als Problem
erlebt werden, wenn Kinder sich von der Werbung dazu verführen lassen, ihre El-
tern mit entsprechenden Kaufwünschen zu nerven. Dass es auch uns Erwachsenen
nicht leicht fällt, sich von Werbesprüchen nicht für dumm verkaufen zu lassen,
beweist die Werbung selbst: wenn sich niemand daran orientierte, gäbe es sie bald
nicht mehr. Schon vor fünfzig Jahren hieß das Thema eines Schulaufsatzes: „Re-
klame siegt auch dann, wenn man den Braten roch: Man denkt man glaubt es
nicht, und glaubt es schließlich doch.“ Wieweit Kinder sich durch Werbung in
Fernsehen oder Druckerzeugnissen beeinflussen lassen, hängt von unserem Ver-
halten ab. Tun wir nicht selbst Werbung als das ab, was es in erster Linie sein soll:
Verleitung zum Kauf, dann können wir nicht erwarten, dass sie erkennen, um was
es Werbestrategen geht. Ganz lassen sich freilich Ärger und Verdruss nicht ver-
meiden, weil gerade jüngere Kinder den elterlichen Argumenten nicht folgen kön-
nen. Die Beachtung folgender Tipps kann sich aber entlastend auswirken:
Nehmen wir jeder Werbung den „Ernstcharakter“. Wir achten auf Widersprüche,
Albernheiten, Lächerlichkeiten oder baren Unsinn und machen uns gemeinsam
lustig über alles dies. Damit wird der unvermeidliche Werbebeitrag zu unverbind-
licher Unterhaltung. Diesen Prozess unterstützen wir durch unser Kaufverhalten.
Wir verzichten zum Beispiel ganz allgemein darauf, das zu kaufen, was angeprie-
sen wird. Wenn wir etwas kaufen, dann hat das seine guten Gründe, die wir auch
nennen können. Und wenn einmal eine Kaufentscheidung mit einer Werbung
198
übereinstimmt, was zum Beispiel beim Kauf eines Autos unvermeidlich ist, dann
können wir unseren Kindern gegenüber nachweisen, dass dieser Kauf nicht von
einem Werbespot angeregt worden ist. Nur wenn Kinder bei den Eltern erleben,
dass deren Kaufverhalten von Werbung unabhängig ist, lernen sie selbst, unab-
hängig zu werden. Inzwischen sind das Internet und dessen Nutzungsmöglichkei-
ten so verbreitet, dass es unter anderen fast hundert Prozent aller 10 bis 13-
jährigen anwenden. Ob mit diesem Verhalten und welche entwicklungsfördernde
Prozesse verbunden sind, ist noch nicht erforscht. Einerseits werden Interakti-
onsprozesse bzw. zwischenmenschliche Kontakte gefördert oder erleichtert, da auf
diesem Wege auch sprachlich nur wenig differenzierte Kontakte gepflegt werden
können. Ich denke da zum Beispiel an die Internetplattformen. Andererseits
könnte die persönliche Begegnung und die damit verbundene ganzheitliche Wahr-
nehmung des Gesprächspartners zurückgedrängt werden.
Zusammenfassung:
3. Alle Personen und Institutionen, die für die Erziehung und Bildung in einem
Gemeinwesen Verantwortung tragen oder sich mitverantwortlich fühlen, soll-
ten gegen jene Erscheinungen eintreten, die als Ursachen für den Missbrauch
von Medien erkannt worden sind und im Interesse der heranwachsenden Ge-
nerationen, unserer Kultur und Gesellschaft alles tun, was eine positive Ent-
wicklung jedes Kindes mit Hilfe von Medien und orientiert an den gültigen Er-
ziehungs- und Bildungszielen fördert. Auf diese gemeinsame, gleichsam „ver-
netzte“ Verantwortung deutet das Team „jugendschutz.net“ (in der Zeitschrift
„Diskurs“ Nr. 1/2000, S. 55). Vor allem aber, und das soll abschließend noch
einmal betont werden, brauchen unsere Kinder uns, ihre erwachsenen Bezugs-
personen als Ansprechpartner, verständnisvolle Begleiter und als Vorbilder.
199
11
Schlussbemerkungen
Wie sehr uns Eltern die Elternschaft belasten kann, wird für die Älteren unter uns,
die schon erwachsene Kinder haben, im Rückblick deutlich. Viele von uns wissen
genau, und haben das auch als wichtiges Erziehungsziel verinnerlicht, dass ihre
Kinder dahin geführt werden sollen, ihr Leben in die eigenen Hände nehmen zu
können. Die „eigenen Hände“ das bedeutet aber zugleich in eigene Verantwortung
mit allen Risiken und Chancen. Diese Eigenständigkeit aber ist es, die uns zu
schaffen machte. Es fällt uns Eltern nicht leicht, einigen von uns ist es sogar un-
möglich, die eigenen Vorstellungen über das, was gut ist für unser Kind und das,
was ihm nach unserer Überzeugung schadet, beiseite zu stellen. Wir sind ja so viel
älter, meinen es so gut und wollen unserem Kind alles das ersparen, was wir einst
erlitten hatten.
Diese guten Absichten verwirklichen wir am besten dann, wenn wir – anders als
vielleicht unsere Eltern - unseren heranwachsenden Töchtern und Söhnen unsere
Bevormundung ersparen und ihnen ermöglichen, ihre eigenen guten und schlech-
ten Erfahrungen zu sammeln. Und lassen wir uns von der Erkenntnis des Huma-
nisten und Schriftstellers Leonhard Frank (1991) leiten, dass der Mensch von Na-
tur aus gut ist!
Unsere Ängste freilich kann uns niemand nehmen, wenn wir an die Gefährdungen
unserer Heranwachsenden denken. Haben wir aber bisher die Bedürfnisse unserer
Kinder beachtet, leben wir genug Selbstvertrauen, dann sollte der Lösungsprozess
gelingen. Dieser Prozess sieht bei jedem unserer Kinder jeweils anders aus und
sein Gelingen muss sich keineswegs daran messen lassen, ob ein Kind auszieht
und seinen Wohnsitz an einem anderen Ort nimmt. Selbst wenn unsere herange-
wachsenen Mädchen und Jungen sich aus eigenem Willen und in völliger Freiheit
dazu entschieden haben, lieber noch daheim wohnen bleiben zu wollen, auch wenn
sie längst wirtschaftlich auf eigenen Füßen stehen, darf uns das nicht beunruhigen.
Die Lösung, von der hier die ganze Zeit die Rede war, vollzieht sich in der ganzen
Persönlichkeit und zeigt sich uns in recht verschiedener Gestalt. Allgemein aber
gilt, dass unser Kind dann selbständig geworden ist, wenn es uns für ein eigen-
ständiges Leben nicht mehr braucht.
Wenn dann unsere Kinder zu uns kommen, weil sie unseren Rat oder unsere Hilfe
wünschen oder uns von ihren Erfahrungen oder Plänen berichten, dann hat sich
die Eltern – Kind - Beziehung gewandelt. Die Alters- und häufig auch die Erfah-
rungsunterschiede sind freilich geblieben. Doch nun sitzen sich gleichberechtigte
und gleich selbständige Persönlichkeiten am Tisch gegenüber. Nun werden unsere
Überlegungen und Erfahrungsberichte mit Interesse aufgenommen. Und nun sind
die Begegnungen mit unseren herangewachsenen Kindern von stiller Freude und
Genugtuung über diese neue Art und Weise der Beziehungen angefüllt.
200
Anmerkungen
1
Gemeint sind Erwachsene, die in positiver Weise all jene Werte und Normen mit den Kindern
leben, die diese optimal auf das Leben vorbereiten, ihnen Orientierung und Halt anbieten, wie „Au-
tonomie, Selbstbewusstsein, Wissen um den eigenen Wert und den Wert für die Gesellschaft.
Common sense. Rücksichtnahme. Menschlichkeit.“ (Prof. Peter Paul Schnierer von der Universität
Heidelberg in der Sendung „Wissen“ am 16.10.2014: „Jugendgewalt im Roman. Von „Herr der Flie-
gen“ bis zu „Nichts“ – Manuskript, S. 12)
2
Vgl. hierzu die Ergebnisse der Studie „Kinderwertemonitor“ vom Kinderhilfswerk Unicef und die
Zeitschrift Geolina im Jahre 2014. Im Internet unter http://www.unicef.de/presse/2014/kinder-
legen-wert-auf-werte/56986
3
Uta Meier-Gräwe, Professorin für Familienwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität in Gies-
sen, in der Sendung „Aula“ des SWR II am 6. August 2006; vgl. auch Katja Bauer in ihrem Beitrag:
Wo stöckeln nur die Mädchen hin?...über die Gefahren der Pinkifizierung“ in: Badische Zeitung am
23. 12. 2013, S. 31.
4
Vgl. dazu: John Bowlby: „Frühe Bindung und kindliche Entwicklung“ , München 4/2001).
5
Hilfe bei der Sinnfrage. Philosophie als Lebenskunst. Vortragsmanuskript der Sendung SWR2
Aula vom 01.01.2007, S. 4,).
6
„Sozial und resonanzfähig – Warum der Mensch auf Kooperation geeicht ist“. Vortrag in der Sen-
dung "Wissen" des SWR 2 am 21. Januar 2007
8
Dieses Beispiel deutet darauf, dass die Wurzeln noch heute gültiger und von unterschiedlichen
Wissenschaftsdisziplinen bestätigter Bedingungen pädagogischen Handelns sehr weit zurück rei-
chen. Berufserzieher vor allem sollten sich unserer Denktraditionen bewusst sein und sie achten.
9
Hier ist zum Beispiel zu denken an die Schrift „Haben oder sein“ von Erich Fromm.
10
SWF 2 - Sendung vom 27.09.2004; 10,05 Uhr. Vgl. auch den Bericht von Anita Rüffer über die
Fachtagung in Freiburg über Interventionen gegen häusliche Gewalt: Badische Zeitung Freiburg v.
20.11.2006, S. 24
11
der Schiedsrichter-Obmann Matthias Scheibengruber am 14. Januar 2013 in der Badischen Zei-
tung, S. 15
12
Mechthild Müser, SWR2; Sendung v. 16.04.2008; Manuskript, S. 4.
13Es waren 234 Erzieherinnen und Erzieher aus Kindergärten und 115 Eltern in einer Großstadt
beteiligt.
14 vgl. dazu auch den Abschnitt über „Werte und Normen in der Erziehung“ oder das Buch von Hans
Janssen: Kinder wollen Klarheit. Regeln finden - Grenzen setzen. Zürich 1994.
15 So lautet der Titel eines lesenswerten Buches von Günter Pernhaupt und Hans Czermak in dem
die sorgfältig recherchierten Folgen einer schlagfertigen Strafpraxis von Eltern und Erziehern dar-
gestellt werden. Wien 1980
201
16Reiner Funk, Hrsg.: Erich Fromm Gesamtausgabe Band VII. Aggressionstheorie, S. 194.
Erich Fromm hat sich sehr gründlich in seinen Schriften mit der menschlichen Aggression befasst
und darüber geforscht. Kritisch setzt er sich aus analytischer Sicht mit anderen Aggressionstheo-
rien auseinander. Fromm weist nach, dass die zerstörerischen Formen zwischenmenschlicher Ag-
gressionen bis hin zu Krieg und Zerstörung in den politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen
eine Ursache haben.
17Zu jenen Biologen und Ethologen gehören zum Beispiel Konrad Lorenz (Das sogenannte Böse.
Wien 1963) Bernhard Hassenstein (Verhaltensbiologie des Kindes. München 1976), Felix v. Cube
u.a. (Fordern statt verwöhnen. München 8/1995 - Neubearbeitung) und Irinäus Eibl-Eibesfeld: Die
Biologie des menschlichen Verhaltens. Weyarn 3/1997 erweitert und neu bearbeitet. Die anderen
hier genannten Ansätze aus Psychologie und Soziologie finden wir sowohl bei Eibl-Eibesfeld als
auch in den Arbeiten von Thomas Elbert von der Universität Konstanz, der davon überzeugt ist,
dass Menschen von Natur aus darauf angelegt sind, Gewalt auszuüben und sogar zu töten. (vgl. z.
B. ein Interview in der NZZ am Sonntag vom 07.09.2014, S. 20-21)
18
Busemann, Andreas: Beiträge zur pädagogischen Milieukunde. o.O. 1970.
Luitgart Brem-Gräser: Familie in Tieren. München 1975, S. 81. Vgl. zu diesem Thema auch Bettina
Mähler: Geschwister. Hamburg 1995. Forer, Lucille K. und Still, Henry: Großer Bruder – kleine
Schwester. Die Geschwisterreihe und ihre Bedeutung. Köln 1979. Walter Tomann: Familienkonstel-
lation – ihr Einfluss auf den Menschen und sein soziales Verhalten. München 1980
19
Aus der Fülle der Schriften über Geschwister und einem wirkungsvollen Umgang mit diesen
Problemen hier noch zwei Titel: Endres, Wolfgang: Geschwister … sie haben sich zum Streiten
gern. Weinheim 5/1994, Hier: S. 39. Heinz Lothar Worm: 5 Fragen an den Elternberater. 8. Band
der Reihe „Kinder sind Kinder“. München 1984
20William Stern sprach in diesen Zusammenhängen von „Furcht“ (Psychologie der frühen Kindheit.
Darmstadt 1993, S. 444). Umgangssprachlich meinen wir mit Befürchtungen gleichsam „geringere“
Ängste.
21Zittau, Jörg: Wer braucht denn noch Sex? Güterloh 2014. Vgl. auch: SWR 2 Sendung Wissen
/immer weniger Sex vom 27.05.2014
22
Sokrates, wirkte im vierten Jahrhundert v. Chr. in Athen
23
Vgl. dazu: http://eltern.t-online.de/taschengeld-2013-taschengeldempfehlungen-fuer-jedes-
alter-/id_16514274/index
24
In: SWR 2 Wissen am 19. Januar 2013; Manuskript S. 4. Autorin: Ulrike Lückermann
25 Dass diese Überlegung kritisch gesehen werden muss, zeigt uns der Charakter Voltaires, des
französischen Philosophen und Dichters aus dem achtzehnten Jahrhundert Einerseits war er sehr
wohl in der Lage zu sich selbst auf Distanz zu gehen und sich über sich selbst kritisch zu äußern.
Andererseits ist überliefert, dass er gern Schach spielte aber sehr ungern verlor. Kluge Freunde -
wie kluge Eltern in unseren Tagen bei ihren Kindern- halfen darum etwas nach, um ihn gewinnen
zu lassen. Voltaire freute sich dann jedes Mal sehr (wie unsere Kinder auch). Und ist es nicht schön,
anderen eine Freude zu machen?
26
Lückemann, SWR2 Sendung Wissen am 19.01.2013; Manuskript, S. 13.
28Die Literatur zum Thema Lehrer und Schule ist sehr reichhaltig. Hier sei stellvertretend für alle,
auf Veröffentlichungen der „Aktion humane Schule“ verwiesen, in denen sich Analysen und Emp-
202
fehlungen für eine kindgerechte Schule in großer Zahl befinden. Vgl. dazu: „Humane Schule“. Mit-
teilungsblätter ..., die seit 1974 erscheinen.
29Von mir ausgewertet wurde das Material von zehn Familienwochenenden mit insgesamt 253
erwachsenen Teilnehmern und 186 Schulkindern.
30Matthias Pöhm hat über dergleichen Situationen gearbeitet und einen Ratgeber verfasst, wie
Kinder aus einer Opferrolle herauskommen können: „Schlagfertig auf dem Schulhof“ 2008
http://www.rhetorik-seminar-online.com/pohm-letter-archive/poehmletter91#1
31 Sowohl die Schulgesetze der Bundesländer erteilen den Lehrerinnen und Lehrer und Lehrer
gleichlautende Aufträge als auch die Mehrheit Eltern in der Bundesrepublik haben vergleichbare
Erwartungen an die Schule. Vgl. dazu Falko Rheinberg, Rainer Bromme und Bernd Weidenmann,
Weinheim 4/2001
32
Vgl. dazu auch das Manuskript der Sendung „Kindheit im Leistungswahn. Wenn Förderung zum
Zwang wird“ von Christina Bergengruen.SWR 2: Wissen vom 29.11.2013
33
Einen guten Überblick bieten die „Jugendmedienstudien“ an. So zum Beispiel die JIM Stuttgart
2012, die KIM Stuttgart 2013 und die miniKIM Stuttgart 2013 – Die Studienkonzeptionen und die
Ergebnisse der Untersuchungen stehen als PDF-Dateien zum Download zur Verfügung.
http://www.mpfs.de/?id=527
Auf eine mögliche Gefährdung der Geistigen und körperlichen Entwicklung von Kindern durch den
ständigen Umgang mit Handy, Smartphone u. ä. macht Manfred Spitzer in seiner Schrift über „Di-
gitale Demenz: Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen“ (Droemer, München
2014) aufmerksam.
Im Freizeitmonitor für 2014 wird nachgewiesen, dass Fernsehen das Freizeitverhalten der Deut-
schen dominiert. http://www.stiftung fuerzukunftsfragen.de
34
Kurz, Robert: Bildungsproletariat und Elitenbildung. Anmerkungen zur Ökonomie des kulturel-
len Notstands. Manuskript, S. 3
35Vgl. dazu die Ergebnisse der Studie des Kriminologisches Forschungsinstituts von Niedersachsen
(KFN) unter der Leitung von Professor Christian Pfeiffer (SWR 2 / Aula vom 11. 02. 2007 und die
Veröffentlichung dieser Studien am 15. 02. 2008: Die Pisa-Verlierer - Opfer ihres Medienkonsums)
36"Strukturellen Jugendschutz ausbauen". In: bildung und wissenschaft Nr. 7-8/2007, S. 30-31.
Vgl. dazu auch den entsprechenden Abschnitt im Kapitel über den Umgang mit dem Computer!
37
Vgl. dazu die Beobachtungsergebnisse von Maya Götz referiert von Sabine Riemann in: Die Te-
letubbies. In: Grundschule Nr. 7-8/2000 S. 23
38 Über den „Ethikbedarf der Medien“ finden sich im Septemberheft der Fachzeitschrift der Aktion
Jugendschutz (III / 2000) einige Beiträge. Die sich eher an das Kommunikationssystem von Wis-
senschaftlern richtenden Aufsätze von Stefan Aufenanger und Andreas Greis bieten dem einzelnen
Pädagogen allerdings keine Werthorizonte an, auf die er seine medienpädagogischen Strategien
beziehen könnte. Dagegen deutet der Verweis auf das bundesweite Medienprojekt „Spitze Feder“ in
dem Beitrag von Heike Mensing-Schauer auf Bemühungen, wenigstens in Bezug auf das Fernsehen
einen kritischen, wertorientierten Dialog zwischen „Fernsehmachern und –konsumenten“ in Gang
zu bringen.(S. 16 – 18 dieser Ausgabe).
39 Vgl. dazu auch die Mitteilungen der Landesbildstellen Baden-Württemberg „Analog und Digi-
tal“. In der Ausgabe Nr. 2/1999 werden z. B. eine Reihe von Projekten vorgestellt, die in Schulen
durchgeführt werden und über die Funktionen eines Computer unterstützten Unterrichts nachge-
dacht.
40
www.isfb.org/Forschung/Forschungsergebnisse; vgl. auch
http://www.urbia.de/magazin/schulkind/freizeit-und-medien/kein-eigener-computer-u...
203
41
http://www.unimedizin-mainz.de/fileadmin/kliniken/verhalten/Dokumente/Ambulanz_Flyer.pdf
42
2014http://www.t-online.de/eltern/familie/id_70603878/kids-verbraucheranalyse-2014-jedes-
vierte-kind-hat-ein-smartphone.html
43
Drösser, Christoph veröffentlichte in der „ZEIT“einen Beitrag:
„Macht mal Pause!“ Die Soziologin Sherry Turkle über Kommunikation per SMS und Facebook,
Entfremdung und Verbindlichkeit in Beziehungen.
http://www.zeit.de/2011/09/Interview-Sherry-Turkle
44
Vgl. die jeweils aktuellen Informationen bei:
http://www.iconkids.com/deutsch/04publikationen/04_1/studien.html
45
Vgl. hierzu die Fachbeiträge von u.a. Sigrid Weber in: http://www.kindergarten-heute.de: „Wie was und
warum Kinder fernsehen. Oktober 1999 ff http://www.kindergarten-
heute.de/artikel/themenpakete/heft_inhalt.html?k_beitrag=3521070
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