UTOPIA Mannheim-Ideologie Und Utopie
UTOPIA Mannheim-Ideologie Und Utopie
UTOPIA Mannheim-Ideologie Und Utopie
info
III
I 9 2. 9
VERLAG VON FRIEDRICH COHEN IN BONN
INHALT
Ideologie und Utopie
(Als Einleitung)
Der innere Zusammenhang der beiden Unter-
suchungen. Die ideologischen und utopischen Elemente
in unserem Denken wurden durchsichtig. Die daraus ent-
stehende Krise. Die Merkmale eines ungebrochen "ideen-
haften" Erlebensund Denkens. Das Auftauchen derAngst
vor dem "falschen Bewußtsein" . . . . . . . . . . . · I- 7
IX
Das Problem des "falschen Bewußtseins". Die reli-
giösen Ursprünge dieses Problems. Der moderne Verdacht
auf ein "falsches Bewußtsein" wird methodisch. Auch das
Kriterium der "Wirklichkeit" ändert sich in der Moderne.
Die ursprüngliche Bedeutung des Wortes Ideologie. Der
Napoleonische Wortgebrauch. Das Auftauchen des Ideo-
logiebegriffes im Marxismu~as Übergehen des Begriffes
in die übrigen Lager . . . . . . . . . . . . . . . . 24-50
X
Das wiederholte Auftauchen des Problems des
falschen Bewußtseins". Die in einer Zeit "wirklichen"
~nd "unwirklichen" Gedanken. Beispiele für falsches Be-
wußtsein: a) im Ethischen; b) im Verstehen seiner selbst;
c) im Gebiete der Weltorientierung . . . . . . . . . . 49- . 54
XI
Gesamtheit der Standorte. Unmöglichkeit einer überhisto-
risch absoluten Synthese. Summative Synthese unbefriedi-
gend . . . ·. . . . . . . . . . . . . . • . . . . . 113-121
XII
sucht den Wert dieses Wissens zu retten, indem man ein
von Willensentscheidungen bereinigtes Feld herauszuprä-
parieren sucht.. J?ie relat~ve Berechti~ung dieser Methode.
Es gibt formalis1ertes W1ssen verschiedensten Grades, das
relativ unabhängig ist vom Standort. ; . Wertung und Sicht
werden in ihrer Zusammengehörigkeit studiert. "Consen-
sus ex post" und der stets erneuerte Versuch·der Zusam-
menschau. Auch diese Lösung enthält eine Entscheidung.
Durch ein Mehr-Wissen wird die Entscheidung nicht
überflüssig gemacht, nur das Blickfeld wird erweitert. Die
Tendenz zur Verringerung des irrationalen Spielraumes.
Oie drei historischen Typen der Ethik: Schicksals-, Ge-
sinnungs-, Verantwortungsethik . . . . . . . . 160-168
xm
II. Die zweite Gestalt des utopischen Bewußt-
seins: Die liberal-humanitäre Idee.
Die Utopie tritt hier in Gestalt der "Idee" auf. Kulturbe-
jahung und Ethisierung. Der historisch-soziale Ort der
idealistischen Philosophie. Das Ewige und Bedingungs-
lose an der Idee. Die doppelte Wurzel der Fortschrittsvor-
stellung. Das historische Zeiterleben im chiliastischen und
im ideenhaften Bewußtsein. Soziale Hintergründe der bei-
den Utopien. Das liberale Unbedingtheitseriebois . . . . 200-212
XIV
V. Die gegenwärtige Konstellation.
Das allmähliche Näherrücken der Utopie an die "Wirk-
lichkeit". Die verschiedenen Formen der Utopie destruieren
. . ' sich gegenseitig. Der typische Gestaltwandel des Denkens,
sobald sein Träger an der gegenwärtigen Wirklichkeit mit-
engagiert wird. Versuch einer Symptomatik einiger Rich-
tungen in- der neuesten deutschen Soziologie. Das Ver-
schwinden der historischen Zeit: Amerikanische Soziolo-
gie, Pareto, Freud. Ausstrahlen der zentralen Geisteshal-
tung in die Kunst. Tendenz zur utopie- und ideologielosen
Spannungslosigkeit. Freiwerden des Ekstatischen. Die
vier Wege der "Geistigen": Die Zukunft ist für das
Wissen undurchdringbar. Die Entdeckung der Unentbehr-
lichkeit des Utopischen . . . . . . . . . . . . ·. . . ZH-z.~o
IDEO .LOGIE UND UTOPIE
.Als Einleitung
D
er Titel dieses Buches verweist auf den etwas tiefer-
liegenden Zusammenhang, der die beiden folgenden,
sonst völlig in sich geschlossenen und unabhängig
voneinander entstandenen Untersuchungen verbindet.
Nicht in architektonischem Sinne ergwen sich die beiden
Aufsätze, baut doch keineswegs der eine durch-unmittelbare
Angliederung auf die Ergebnisse des anderen. Ein und
derselbe Blickstrahl bedient sich aber zweier Problem-
ansätze, um unsere fraglich gewordene Lebenslage neu aus-
zulegen und zu klären. Die beiden Untersuchungen sind
als Problemskizzen gedacht, als erste Versuche, einige uns
als wichtig erscheinende Zusammenhänge im sozialen und
seelischen Raume zu beleuchten. Der wissenssoziologische
Aspekt ist noch zu neu, um ausschließlich bei dem Einzel-
detail verweilen zu können, zu unfertig, um bereits eine
Systematik un.d Architektonik zu ermöglichen. In immer
neuen Ansätzen muß zunächst dieser Aspekt erprobt wer-
den. Einmal gilt es, diesen oder jenen als entscheidend
erlebten Punkt im historischen Geschehen mit philolo-
gischer Genauigkeit darzustellen1 ,zum andern, Etappen des
1 Als auf einen Versuch, der in der oben geschilderten Weise nur
2.
I
Gesamtzusammenhanges zu fixieren, um den immer mehr
sich erweiternden Plan im Vollzuge des Fqrschens selbst zu
entwerfen. Denn es ist auch hier so wie bei einer jeden Neu-
orientierung in der Welt: in der Betrachtung der Dinge
(geleitet von einem latenten, für die Reflexion nicht sicht-
bar werdenden Impuls) wird und gestaltet sich erst der
.Leitfaden, der dann alles zusammenhält. • Jeder Versuch
aber, diese Anfangssituation gewaltsam zu überholen und
von der neuen Basis aus bereits ein System zu gestalten,
verfällt unvermeidlich den Prämissen, Begriffsschemen und
Ordnungstypen der vorangehenden, die neuen Wirklich-
keiten noch nicht enthaltenden und diese deshalb nur ver-
deckenden Sicht.
Die Wissenssoziologie ist noch in jenem glücklichen
Ursprungsstadium, wo sie auch als ~issenschaft nicht in
Gestalt eines starren Ordnungsschemas; nicht als abge-
hobenes Ergebnis, als Niederschlag eiller wenn auch schein-
bar mit ihrer Welt fertiggewordenen Sicht existiert. Bei
ihr ist noch wahrnehmbar, was bei den sogenannten Schul-
disziplirien sich oft unserem Blicke entzieht, daß das
Denken, vom Gesamtzusammenhange aus gesehen, nie
Selbstzweck ist, sondern ein stets sich neugestaltendes, mit
den Wandlungen des historischen Geschehens sich neu-
formendes lebendiges Organon: ein werdendes Gefüge,
in dessen Element auch die neue Menschwerdung sich voll-
zieht. Die folgenden Untersuchungen wollen deshalb nicht
aus jenem lebendigen Fluß herausgehoben werden, in dem
das Problematischwerden der Dinge eigentlich erst ent-
steht, wo das Denken noch mit jenem unmittelbaren An-
trieb verklammert ist, der zum Reflexivwerden des Er-
lebens überhaupt erst führt. ·
Nicht dort wollen wir also ansetzen, wo der syste-
matische Anfang dieser Überlegungen vermutlich liegt,
nicht die Kette der stillschweigenden Voraussetzungen ex-
plizit machen, um dadurch die unmittelbare Seinslage und
"Lebensverlegenheit", aus der die beiden Untersuchungen
aufsteigen, zu distanzieren. Ganz im Gegenteil müssen wir
hier gleich am Anfang gerade auf jenen Punkt hinweisen,
von wo aus alles übrige erst verstehbar und im Nach-
erleben erreichbar wird. Jene Lebensverlegenheit, aus der
alle unsere Fragen aufsteigen, ist zusammenfaßbar in der
einzigen Frage: Wie kann der Mensch in einer Zeit, in der
das Problem der Ideologie und Utopie einmal radikal ge-
stellt und zu Ende gedacht wird, überhaupt noch denken
und leben?
Während die Untersuchung "Ist Politik als Wissen-
schaft möglich?" es sich zur Aufgabe macht, dem Ge-
danken der Ideologiehaftigkeit des Denkens in seiner kon-
s~quentesten Gestalt ·nachzugehen, ersucht die ~ Arbeit
über das utopische Bewußtsein, die Bedeutung des uto-
ischen Elementes für unser Denken und Erleben aufzu-
. klären. In der einen Abhandlung wird das Ideologiepro-
blem in seiner konsequentesten Gestalt an die entscheiden-
den Strömungen des gegenwärtigen Denk~ns herange-
tragen. Es wird auf Grund des Vergleichs des empirischen
Belegmaterials zu zeigen versucht, daß bereits bei dem
einfachsten Problemansatz, schon bei einer so schlichten
Fragestellung, wie etwa die Theorie zur Praxis sich ver-
halte, das Denkergebnis schon deshalb stets verschieden
ausfallen muß, 'Yeil berdts die Begriffsbestimmungen in
der Problemstellung (ganz ungewollt) je nach dem sozial~n
Standort des Betrachters verschieden auszufallen pflegt·n.
In der zweiten Untersuchung wird - zumindest an den
entscheidenden Punkten des geistesgeschichtlichen und .
sozialen Wandels - gleichfalls auf Grund des empirischen
Belegmaterials zu zeigen versucht, :w.:i die Transformation
des utopischen Elements im jeweils sozial und politisch
differenzierten Bewußtsein dessen Strukturwandel weit-
~ehend bedingt, - daß man also Bewußtseinsgeschichte
1m Grunde gar nicht schreiben kann1 bevor man nicht
* 3
über die wichtigsten Etappen der Transformation des
utopischen Elementes im klaren ist.
Es wird also von zwei Seiten, von der Ideologie- und
Utopieproblematik her, versucht, zunächst auf Grund eines
Tatsachenbeweises in schonungsloser Rücksichtslosigkeit
auch uns selbst gegenüber und in äußerster Konsequenz
einen bestehenden Zusammenhang aufzuweisen. Die je-
weilige Utopie- und Ideologiehaftigkeit des Denkens wur~e
bisher zumeist nur parteiisch (d. h. nur im Denken des Geg-
ners) gesehen, wobei jeder stets seinen eigenen Standort ver-
schonte. Hier wird der V ersuch unternommen, alle Stand-
orte im Denken auf das utopische und ideologische Ele-
ment hin zu sichten, um überhaupt einmal zu einer be-
reinigten Fragestellung zu kommen. Nur nachdem diese
für die gegenwärtige Lage unerläßliche Radikalisierung
der uns Schritt für Schritt verfolgenden Fragestellung er-
reicht ist, kann man daran anschließend fragen, wie auf
dieser Stufe des Denkens überhaupt noch erkannt werden
könne, wie auf dieser Stufe des Seins geistige Existenz noch
möglich sei.
Es sei hier betont, daß es uns vor allem auf den ersten
Teil dieser Ausführungen in den beiden Untersuchungen
ankommt, auf jene Feststellungen, die tatsachenmäßig,
aber der Tendenz nach die Totalität intendierend, jene
Krisis in unserem Denken und Sein zu erfassen versuchen,
die man ahnungshaft und oft nur dumpf, bereits ohne Re-
flexion über diesen Gegenstand empfindet. Man steht näm-
lich sonst ganz ungewollt, allein der Nötigung der leben-
digenAuseinandersetzung folgend, vor solchen Problemen,
wenn man ganz plÖtzlich sich selbst oder seinen Partner
nicht mehr versteht oder aber wenn ganz am Rande des
Durchdachten und des Geklärten das völlig ungeklärte
Element, der Abgrund des Begriffes als Marginalwert
scheint. Denn nur wenn man dort, wo noch Klärung
lieh ist, die strikteste Klarheit erstrebt, wird die
4
sichtbar, wie jede Klarheit nur im Elemente des Unklaren
ist. Dieses Randphänomen überhaupt erst zu erreichen und
das Bewußtsein .seiner Präsenz durch klare S~chtung des .
· Mediums, in dem wir denken und sind, immer mehr·
uns einzuprägen, ist das wesentliche Ziel dieser Unter-
suchungen.
Weil dieses Buch sich einer Krisensituation des Denkens
bewußt ist, an den Aussichten der Lösbarkeit aber nicht
zweifelt, bringt es zunächst noch keine vorzeitigen Lö-
-sungen. Es würde ein Eindämmen der Problematik bedeu-
ten, wollte man sich in unserer Lage übereilt auf irgendeine
heute sich als Absolutum anbietende Partialgewißheit ein-
lassen und sich dadurch den Blick gerade vor den allein in
der Gärung sichtbar werdenden Phänomenen versperren.
Zunächst gilt es, die Krise zu vertiefen, sich ausweiten zu
lassen, Wankendes in Frage zu stellen, um der Natur des
Prozesses mit dem Auge des Forschers nachzugehen. Vor
allem ist es daher nötig, den eigenen Gedanken gegenüber
auf der Hut zu sein, denken doch auch in uns verschiedene
Möglichkeiten, deren Widerspruch man sonst sorgsam vor
sich verdeckt. Wir wollen deshalb die aus den verschie-
denen Ansätzen stammenden Widersprüche nicht retu-
schieren, denn jetzt kommt es noch nicht auf ein Recht-
haben an, sondern auf ein entschiedeneres Sichtbarmachen
eines jeden Widerspruchs, damit das Fragliche auf einer
höheren Ebene und in der größten Spannweite von den
zukünftigen Lösungsversuchen erfaßt werden kann.
Für eine solche Absicht und für ein solches Thema wäre
eine klassizistische Architektonik der ungeeigneteste Dar-
stellungs~til, da deren abgewogene Ruhe gerade das stets
Problematische verdeckt. Wir vermeiden deshalb geflis-
sentlich den von außen herangebrachten Bau .ip der Dar-
stellung, um desto eher der inneren Nötigung des Gedan-
kens nachgehen zu können. Deshalb wird an Argumenten
und Tatsachen oft nur so viel herangeholt, wie es die
5
natürliche :problemerweiterung erheischt, umgekehrt aber
wird oft alles in Frage gestellt, was vom Fragenzusammen-
hang aus uberhaupt erreichbar ist.
Denn soviel gilt es vor allem zu sehen, daß im Auf-
tauchen des Problems der Ideologie und Utopie nicht ein-
fach zwei neuartige, aber sonst an und für sich isolierte
Phänomene gesichtet wurden. Die Worte Ideologie und
Utopie zeigen nicht einfach das historische Emporko~en
zweier neuer Tatsachen, sondern das Aktuellwerden eines
grundlegend neuen Themas an. Dle ganze Welt ist eigent-
lich in ihnen in einem·neuen Sinne zum Thema geworden,
weil in ihrem Medium die Sinnbezüge, welche die Welt erst
zur Welt machen, in einer neuen Begegmingsa~ uns ent-
gegentreten.
Worin besteht diese neue Begegnungsait, die grund-
legend unseren Q_rt in der Welt, noch mehr unser Verhält-
nis zu-uns selbst und zu den uns leitenden Ideen bestirnmt?
Auf die einfachste Form gebracht darin, daß, während der
frühere naive, ungebrochene Mensch auf "Ideengehalte"
fixiert lebte, wir diese Ideen der Tendenz nach immer mehr
als Ideologien und Utopien erleben. Für das ungetrübte
ideenhafte Denken ist die Idee selbst die bei~W<!t"teliJar,el
Realität; jeder Zugang zu etwaigen Wirklichkeiten
zieht sich ja in ihretri ·Medium, jedes wirkliche Sein
jedes wirkliche Erkennen kann nur bestehen durch
zipation an diesem Höhereh.
Damit ist selbstverständlich nicht gesagt, daß der .LU'-ll"'-'1
früherer Zeiten ausschließlicher im Sinne der ihn J.\..J.l.'-J.J.'-''-'1
Ideen gelebt hätte, also in irgendeinem S.iruie "besser"
wesen wäre, -:- die Ideenhaftigkeit seines Denkens "'-J.J.J.'-'''1
die Brutalität, Barbarei :.1nd das Böse nicht aus. Aber
weder gelang es ihm, dieses Abgleiten von der Norm
eine wohltemperierte Unbewußtheit vor sich zu ve·:roe~rg,ellj
oder aber er erlebte die Normwidrigkeit irgendwie
Sünde, als Vergehen: der Mensc;:h war ·wandelbar und
6
aber. die leitende Norm- und Sinnschicht war unverrück-
bar dem Sternenhimmel gleich. Hier an diesem Punkt ist
' .
ein grundlegender, historisch-substantieller Wandel. ein-
. nt hat, die Ideenschicht in
~liiiWiiii~~~~~~~~~~~:b#:u~#;:rj..liL!Jlnu;z~une tl1e ,
,1; • hafti ke't
7
1 Näheres über dieses Thema vgl. K. Mannbeitn: Ideologische und
8
das diese "Ideen" ausspricht und auf dessen Seinslage wir
dann diese Ideen funktionalisieren. Der letztere Ausdruck
aber will besagen, daß sie als bestimmte, in Frage stehende
Meinungen, Feststellungen, Objektivationen (im weitesten
Sinne des Wortes genommene "Ideen") nicht aus sich
heraus, sondern aus der Seinslage des Subjektes her erfaßt
werden, indem man sie als Funktionen dieser ·Seinslage
interpretiert. Das bedeutet ferner, daß man irgendwie der
Ansicht ist, daß die konkrete Konstitution, die Sein.slage
des Subjektes, für dessen Meinungen, Feststellungen und
Erkenntnisse von mitkonstituierender Bedeutufig ist.
Beide Ideologiebegriffe funktionalisieren auf diese Weise
also die sog. "Ideen" auf den Träger und dessen konkrete
Lage im sozialen Raum. Liegt darin eine Gemeinsamkeit,
so gibt es auch gewaltige Unterschiede . .No~ ihnen seien
nur die wichtigsten erwähnt.
A. ·· ;n e a 'k de o iebe ·
r Behau tungendes Ge
9
Wenn man etwa sagt, jenes Zeitalter lebt in jener Ideenwelt,
wir in einer anderen, oder jene historisch konkrete Schicht
denkt in anderen Kategorien als wir, so meint man nicht
nur einzelne Gedankengehalte, sondern ein g~ bestimm-
tes Gedankensystem, eine bestimmte Art der Erlebnis- und
Auslegungsform. Es wird eben die noologische :Ebene
funktionalisiert, so oft man mit den Inhalten und Aspekten
auch die Form, letzten Endes die kategoriale Apparatur aUf
· eine Seinslage bezieht. Ddrt.Funktionalisieiung im bloßen
psychologischen Bereich, hier Funktionalisierung der noo-
logischen Ebene 1 • .
II
Ursprünge grundverschieden zu . sein, wenn auch die
beiden Typen sich in der Realität stets immer wieder ver-
mischen. Wir besitzen noch keine Ideengeschichte des Ideo-
logiebegriffs,geschweige denn eine SoziologischeGeschichte
des Bedeutungswandels, den ·dieser Begriff durchgemacht
hat1 • Es könnte, auch wenn wir dazu bereits in der Lage
wären, in diesem Zusammenhange nic.{lt unsere Aufgabe
sein, ~ine Geschichte dieses Bedeutungswandels zu schrei-
ben. Wir wollen .deshalb aus den zerstreuten Materialien und
aus den zumeist bekannten Tatsachen nur jene Momente an-
führen, an denen die erwähnte Differenz am leichtesten zu
demonstrieren ist.und an denen, wenn auch-nur andeutungs-
weise, zu zeigen ist, wie allmählich die moderne, ganz und .
gar auf die Spitze getriebene Sifuation zustande kam.
1 Was die Bibliographie des Problems betrifft, verweise ich zur
Ergänzung des Gesagten zunächst auf folgende eigene Arbeiten:
Mannheim, K.: Das Problem einer Soziologie des Wissens, Archiv für '
Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 192.5, Bd. 54·
Mannheim, K.: Ideologische und soziologische Interpretation der
geistigen Gebilde. Jahrbuch für Soziologie, herausgegeben von
G. Salomon, Karlsruhe 192.6, Bd. II, S. 42.4ff. ·
· Die wichtigsten strukturanalytischen FeststelJungen der oben-
stehenden Ausführungen waren schon in dem darpals der Re-
daktion 'des soeben erwähnten "Jahrbuchs" eingereichten, aber '
nicht zum Abdruck gelangten Kapitel über die verschiedenen'
Bedeutungen des Ideologiebegriffes enthalten (vgl. ebd. S. 42.4,
*Anmerkung). ·
Was die Materialien betrifft, vgl.
Kr11g, W. T.: Allgemeines Handwörterbuch der philosophischen
Wissenschaften nebst ihrer Literatur und Geschichte. 2.. Aufl.
Leipzig I 833.
Ei.rler's Philosophisches Wörterbuch.
Lalande: Vocabulaire de la Philosophie. Paris 192.6.
Ferner: . ..,
Salomon, G.: Historischer Materialismus und Ideologienlehre. Jahr-
buch für Soziologie Bd. II, S. 386ff.
Ziegler, H. 0.: Ideologienlehre. Archiv für Sozialwissenschaft und
Sozialpolitik, Bd. 57, S. 6Hff.
12
Entsprechend der Sinndualität, die uns bedeutungsana-
lytisch den partikularen von dem totalen Ideologie-
begriff unterscheiden ließ, kann man auch ihre Geschichte
in zwei Strömungen verfolgen. ·
Zunächst.was den Ideologiebegriff betrifft, so war hier
der unmittelbare Vorläufer das Erlebnis des Mißtrauens
und des Verdachtes, den der Mensch auf jeder Stufe hi-
storischen Seins vermutlich stets dem Gegner gegenüber
empfindet. Erst in dem Augenblick, wo dieses zunächstall-
gemein menschliche und wohl auf jeder historischen Stufe
mehr oder minder vorhandene Mißtrauen methodisch
wird, kann· von einem Ideologieverdacht ·gesprochen
werden. Diese ·Stufe wird aber zumeist dadurch erreicht,
·.daß man immer mehr nicht vereinzelte Subjekte zum
13
verantwortlichen Träger gegnerischer Verhüllungen setzt
urid aufderen Schlauheit alles Böse reduziert, sondern-werui
auch mehr oder minder bewußt - in irgendeinem sozialen
Faktor die Quelle der Unwahrhaftigkeit des Feindes sieht.
Als Ideologien legt man gegnerische Ansichten erst aus,
wenn man sie nicht einfach als erlogen erlebt, sondern in
der ganzen Haltung eine Unwahrhaftigkeit wittert, die man
als Funktion. einer sozialen Lagerung deutet. Der partiku-
lare Ideologiebegriff meint also ein Phänomen, das zwischen
der schlichten Lüge einerseits und der theoretisch falsch
strukturierten Sicht andererseits liegt. Er meint eine auf
der psychologischen Ebene sich abspielende Täuschungs-
schicht, die aber nicht wie bei der Lüge gewollt ist, son-
- dern sich mit einer bestimmten kausalen Zwangsläufigkeit
vollzieht. -
In diesem Sinne der Auslegung kann man bis zu einem
gewissen Grade in a o.ns Lehren von den Idolen eine
Vorahnung der modernen Ideologiekonzeption sehen. Für
Bacon bedeuten Idole" Götzenbilder", "Vorurteile", und es
_gibt bei ihm (wie bekannt) die: idola tribus, idola specus,
idola foii, idola theatri. Sie sind alle ·· un eile die
einmal v der menschlichen ··berha t das ..an ere
Ma s.on er um rstammen aber auch
Ge llschaft oder der T.t ition zurec enbar smd und
-den ;.q · h ;v:ets -er-r 1 • Sicherlich steht
usdruck der Ideologie in irgendwelcher
1 Eine charakteristische Stelle aus Bacons Novum Organon,
'·
anders denke als in der piazza1 • Hier ist jenes Methodisch-
werden des Verdachtes und des Mißtrauens, von dem wir
vorhin sprachen, bereits in Ansätzen zu beobachten: die
Verschiedenheit des Denkens wird bereits einem soziolo-
gisch charakterisierbaren Faktor zugeschrieben. Und wenn
Macchia velli selbst mit der ihn charakterisierenden rück-
sichtslosen Rationalität es als seine Aufgabe erachtet, die
wechselnden Standpunkte mit den verschiedenen In-
teressen in Verbindung zu bringen, oder wenn er bestrebt
ist, für jeden Interessenten eine "medicina forte", ein
kräftiges Heilmittel zu finden 2, so scheint darin dieselbe
Haltung noch methodischer zu werden, die uns in dem
soeben angeführten Sprichwort auffallen mußte. Von hier
aus führt eine Linie - zumindest was die Gesamthalturig
betrifft - zur rational kalkulierenden Art der Auf-
klärung und zu der aus derselben Einstellung stammenden
lnteressenpsychologie. Bis auf den heutigen Tag wurzelt
der eine - von uns als partikular bezeichnete - Ideologie- ,
begriff in diesen Ansätzen. Was man von Hume's "His-
. tory of England" sagen konnte3 , daß nämlich die Voraus-
setzung der Heuchelei, das "to feign", in ihr methodisch
eine sehr bedeutende, für die rationale Menschenbetrach-
tung jener Z~it charakteristische Rolle spielt, gilt noch
heute für eine bestimmte Art der mit dem partikularen
Ideologiebegriff operierenden Geschichts betrachtung.
Diese Denkweise wird immer wieder bestrebt sein, nach den
Methoden der Interessenpsychologie die Aufrichtigkeit
der gegnerischen Behauptungen zu bezweifeln un~ von
hier aus zu entwerten. Sie wird stets eine positive Be-
deutung haben, solange es sich um die Enthüllung pat-
1 Maccbiavelli: Disc. II, 47· Zit. bei Meinecke, Die Idee der Staats-
16
tikularer Verbrämungen handeln wird. Diese enthüllende -
· Einstellung ist ein Grundzug unserer Zeit1 , und wenn auch
eine verbreitete Strömung in ihr den Ausdruck einer un-
1
vornehtnen Haltung, einer Respektlosigkeit sieht (und, (
sofern die Enthüllung als Selbstzweck sich breitmacht,
wird sie auch mit Recht von dieser Kritik getroffen), so darf
man nicht vergessen, daß eine Epoche der Transformation,
wie die unsrige, die mit so vielen, für uns bereits unerträg-
lich gewordenen Hüllen und Formen bricht, diese Haltung
notgedrungen auf sich nehmen muß.
(
18
Nicht - wie man sie zumeist nur zu erfassen imstande
ist - in ihrer Eigenschaft einer vom Lebenszusammen-
hang abgeschnürten Disziplin, sondern gerade als letzte
und radikalste Ausdeutetin eines Wandels im gesamten
zeitgenössischen Kosmos, der ja selbst nichts anderes ist
als die bis zur höchsten Differenzierung getriebene Aus-
einandersetzungsform der Seele und des Geistes mit den
stets sich anders gestaltenden Kollektivereignissen und
entscheidenden Strukturwandlungen. Auch hier können
wir nur sprunghaft jene Phasen andeuten, in denen dieser
totale, auf der noologischen und ontologischen Ebene sich
verwirklichende Ideologiebegriff möglich wird.
Der erste wichtigste Schritt vollzog sich wohl im Ent-
stehen der Bewußtseinsphilosophie. In dem Gedan-
ken, daß das Bewußtsein eine Einheit sei und daß seine
Elemente kohärent seien, ist eine Problemstellung ent-
halten, die ganz besonders in Deutschland in grandioser
Konsequenz zu Ende gedacht wurde. Hier tritt an Stelle
einer außer uns seienden, immer mehr unübersichtlich
werdenden, in unendliche Mannigfaltigkeit zerfallenden
Welt ein Welterleben, dessen Kohärenz garantiert ist
durch p.ie Einheit des Subjektes, das die Prinzipien zu-
mindest der Weltformung nicht einfach hinnimmt, son-
dern in Spontaneität weitgehend aus sich erzeugt. Nach-
dem die objektiv ontologische Einheit des Weltbildes
zerfallen war, versucht man sie zunächst vom Subjekt
her zu retten. An die Stelle der mittelalterlich-christ-
lichen objektiven Welteinheit tritt die verabsolutierte ..
Subjekteinheit der Aufklärung: das "Bewußtsein über-
haupt".
Die Welt ist also von jetzt an nur auf ein Subjekt be-
zogen als "Welt" da und die Bewüßtseinstätigkeit dieses
Subjektes ist für das Weltbild konstitutiv. Das ist, wenn
man will, bereits der totale Ideologiebegriff, nur noch
• unhistarisch und unsoziologisch gesehen.
19
Weltbild ist hier bereits Struktureinheit und nicht pure
Mannigfaltigkeit. Hier ist eine eindeutige Subjektbezie-
hung vorhanden, nur nicht auf konkrete Subjekte bezogen,
sondern auf ein fingiertes "Bewußtsein überhaupt". Hier
ist - ganz besonders bei Kant - die noologische Ebene
von der bloß psychologischen abgehoben. Hier vollzieht
sich schließlich die erste Auflockerung einem ontolo-
gischen Dogmatismus gegenüber, für den die "Welt" wie
festgenagelt, unabhängig von uns vorhanden ist.
Der zweite Schritt war, daß diese totale (aber noch
überzeitliche) "Ideologiesicht" historisiert wurde. Dies
ist im wesentlichen das Werk der Historischen Schule und
das Hegels. Die Historische Schule, aber noch mehr Hegel,
gehen bereits davon aus, daß das Weltbild eine Einheit und
nur auf das Subjekt bezogen konzipierbar sei. Es wird aber
erst jetzt der für uns entscheidende Gedanke hinzugefügt,
daß diese Einheitlichkeit eine im historischen Werden sich
transformierende Einheitlichkeit sei. Das Subjekt, der
Träger der Bewußtseinseinheit, war auf der Stufe der
Aufklärung eine ganz abstrakte, überzeitliche, übersoziale
Einheit: das "Bewußtsein überhaupt". Hier wird der
"Volksgeist" zum Repräsentanten der historisch sich be-
reits differenzierenden Bewußtseinseinheiten, dessen er-
füllte höhere Einheit dann bei Hegel der "Weltgeist" ist.
Man sieht: das stete Konkreter-Werden der philosophischen
Sicht erfolgt durch die immer reichhaltigere Rezeption des
in der politisch-historischen Auseinandersetzung mit dem
Leben erarbeiteten neuen Gedankenguts, nur aß hier
schließlich etwas zu Ende gedacht und bis zu den impli-
zierten Voraussetzungen verfolgt wird, was zunächst als
Unmittelbarkeit im lebendigen Leben aufgetaucht war. So
hat nicht die Philosophie die Historizität des Geistes (das
sog. historische Bewußtsein) entdeckt, sondern das politi-
sierte Leben jener Zeit. Die gegen das revolutionär un-
historische Denken aufkommende Reaktion verlebendigte
20
das vitale Interesse und den Impuls zum vertieften Erleben
des Historischen. So ist aber auch der Wandel vom allge-
mein menschlich abstrakten Träger des Weltbildes (vom
Bewußtsein überhaupt) zum viel konkreteren Subjekt, zum
national differenzierten ,,Volksgeist" nicht eigentlich und
letzten Endes in der Philosophie und Geistesgeschichte
entstanden, sondern war bereits dort Ausdruck des Wan-
dels im allgemein weltanschaulichen Medium. DerWandel
entspricht nämlich eindeutig dem während und nach den
Napoleonischen Kriegen entstehenden Gefühlswandel, in
dem das Nationalempfinden erst wirklich geboren wurde.
Dlese Feststellung stimmt in dieser Allgemeinheit auch
dann, wenn man für beide Erlebnisse, für das Erleben des
Historischen und für das Erleben des ,,Volksgeistes", wie
stets, Vorläufer aufweisen kann1 •
Genau so entstand aber auch der letzte und wich-
tigste Schritt zur Schaffung des modernen totalen Ideo-
logiebegriffes aus der historisch-sozialen Bewegung. Als
zum Träger des nunmehr historisierten Bewußtseins (des
Geistes) nicht mehr das Volk, die Nation, sondern die
Klasse wurde, rezipierte eigentlich dieselbe theoretische
Tradition, vonderwir bisher sprachen, die in der Zwischen-
zeit gleichfalls aus der sbzialen und politischen Bewe-
gung stammende Einsicht, daß sowohl die Struktur
des Sozialkörpers als der zu ihm gehörende geistige
1 Es sei auch für späterhin bemerkt: Die wissenssoziologische
Analyse setzt siCh nicht wie die ideengeschichtliche Forschung den ...
immer weiter in die Vergangenheit zurückführenden Aufweis der
Vorformen von Gedankenmotiven zum Ziel. In dieser Beziehung
steht sie auf dem Standpunkt, daß man "Vorläufer" immer finden
kann: Nullum est iam dictum, quod non sit dieturn prius. Ihr eigent-
liches Thema ist zu beobachten, wie und in welcher Gestalt zu einem
bestimmten historischen Zeitpunkte die geistig-seelischen Elemente
im Zusammenhang mit den sozialen und politischen Kollektivkräf-
ten vorhanden waren. (Vgl. meine Arbeit über "Das konservative
. Denken", a. a. 0. S. 103, Anm. 57.) 1
21
Zusammenhang in der Richtung der sozialen Spannungen
sich differenziert.
Wie früher an Stelle des "Bewußtseins überhaupt" der
historisch differenziertere V alksgeist trat, so wird jetzt der
noch immer zu umfassende Volksgeist-Begriff durch den
Begriff des Klassenbewußtseins, richtiger der Klassenideo-
logie, ersetzt. Somit vollzieht die Gedankenentwicklung
eine Doppelbewegung: einerseits schafft sie einen synthe-
tisierenden Konzentrationsprozeß, in dem die unendliche
Mannigfaltigkeit der Welt durch den Bewußtseinsbegriff
ein einheitliches Zentrum gewinnt, andererseits arbeitet
dieselbe Gedankenbewegung immer mehr an einer steten
Auflockerung und Elastischergestaltung der in der synthe-
tischen Bewegung allzu konstruktiv angesetzten Einheit.
Das Ergebnis dieser ·Doppelbewegung ist, daß aus der
zunächst fiktiveh Einheit eines überzeitlichen, sich gleich-
bleibenden "Bewußtseins überhaupt" (das als eine solche
statische Einheit niemals aufweisbar war) immer mehr ein
nach historischer Zeit, nach Nationen und sozialen Schich-
ten differenziertes Subjekt tritt. Auch jetzt noch wird an
der Einheit des Bewußtseins festgehalten (die durch die
geschichtliche Forschung zu bewältigenden -Gehalte zer-
bröckeln nicht mehr in eine diskontinuierliche Mannigfal-
tigkeit der Ereignisse), aber die Einheit ist nunmehr eine
dynamische, eine Werdeeinheit. Man lernt auf Grund
dieser Auffassung desBewußtseins die geschichtlicheWirk-
lichkeit zu beobachten, in der sowohl der Einheitlichkeit
und gegenseitigen sinnmäßigen Abhängigkeit (Interdepen-
denz) der Bewußtseinsgehalte , gedacht wird als der Tat-
sache, daß hierbei alles als im Fluß sich befindlich beob-
achtet werden muß, die aufzuweisende Einheit also nur
eine dynamische, sich stets transformierende sein kann.Die
kontinuierliche und kohärente Abwandlung der Sinnele-
mente wird zum Thema, und obschon Hegel vielleicht das
meiste für diese Sicht geleistet hat (wenn auch die Inter-
22
dependenz bei ihm unseres Erachtens noch nicht richtig,
weil spekulativ gesehen wurde), so sind wir erst jetzt auf
jene Stufe der Entwicklung gelangt, wo dieser vom Philo-
sophen entdeckte konstruktive Gedanke in empirische
Forschung umgesetzt wird.
Das für uns Entscheidende aber besteht darin, daß die
beiden gesondert geschilderten, in der Wirklichkeit aber
durch eine historisch gemeinsame Konstellation ermög-
lichten beiden Strömungen auch äußerlich sich immer
mehr_nähern. Der partikulare Ideologiebegriff vereinigt
sich mit dem totalen. Für den schlichten Beobachter wird
dies in folgender Gestalt wahrnehmbar: Früher warf man
dem G~gner als Repräsentanten einer bestimmten sozialen
Position vor, daß er gerade als solcher die bewußte odetun-
bewußte Fälschung von Fall zu Fall begehe. Jetzt wird der
Angriff dadurch vertieft, daß man ihm die Möglichkeit
des richtigen Denkens nimmt, indem man seine Bewußt-
seinsstruktur, und zwar in ihrer Ganzheit, diskreditiert.
Diese einfache Beobachtung bedeutet, auf ihren strukturel-
len Sinn hin analysiert, daß man früher nur auf der psycho-
logischen Ebene enthüllte, indem man dort sozial gebun-
dene Täuschungsquellen aufwies, jetzt aber die Destruk-
tion dadurch radikalisiert, daß man auch die noologisch-
logische Ebene in den .Angriffskreis einbezieht und auch
diese noologische Ebene der gegnerischen Aussagen durch
soziale Funktionalisierung in ihrer Geltung destruiert. Da-
mit aber entsteht eine neue Stufe im bewußtseinsgeschicht-
lichen Prozeß (die entscheidendste vielleicht), die wir aber ..
nicht darstellen können, ohne noch einen Zusammenhang
zumindest anklingen zu lassen, der für all diese Über-
legungen fundierend ist. Der totale Ideologiebegriff ver-
lebendigt ein Problem, das eigentlich uralt ist, aber erst
jetzt auf dieser Stufe der Denkgeschichte einen angemes-
senen Sinn erhält: nämlich das bereits früher angedeutete
Problem der Möglichkeit eines "falschen Bewußtseins".
23
Erst dieser Gedanke der Möglichkeit eines falschen Be-
wußtseins überhaupt verleiht dem totalen Ideologiebegriff
eine besondere Abgründigkeit, aus dieser Komponente
fließt das radikal Beunruhigende unserer geistigen GesatJ!t-
lage, aber auch das letzthin Fruchtbare an ihr.
"Züricher Referat". ·
30
•
bedeutet zunächst das Wort "Ideologie" wieder etwt-
völlig Neues. Es transformieren sich aber auch mit ihn
alle jene Faktoren, die wir im Zusammenhang mit der-
soeben vollzogenen historischen Bedeutungsanalyse be-
handelt haben: Das Problem des falschen Bewußtseins,
das Problem des Wirklichen usw. erhalten einen neuen
Sinn. Verfolgt man diesen Zusammenhang bis in die letzten
Konsequenzen, so zeigt es sich, daß von diesem Zentrum
her sich eigentlich unsere gesamte Axiomatik, unsere
Ontologie und Erkenntnistheorie transformiert. Wir
wollen uns zunächst auf den Aufweis des Bedeutungs-
wandels, den der Ideologiebegriff dadurch erfährt, be-
schränken.
Wir haben schon den Wandel vom partikularen zum to-
talen Ideologiebegriff verfolgt. Diese Transformationsten-
denz wird in der Gegenwart nicht nur beibehalten, sondern
auch immer mehr vertieft. Die Tendenz,.- dem Gegnernicht
nur auf der Ebene des Erlebens Täuschungen nachzuwei-
sen, wird immer häufiger ersetzt durch d.as Streben, seine
Bewußtseins- und Denkstruktur einer soziologischen Kritik
zu unterwerfen1 • Solange man aber bei dieser kritischen
Analyse den eigenen Denkstandort als aproblematisch,
als absolut setzt und diesem gegenüber alles Gegnerische 6
sozial funktionalisiert, ist der entscheidende Schritt zur
nächsten Phase, die uns jetzt beschäftigen muß, nicht ge-
tan. Man arbeitet zwar mit einem totalen Ideologiebe-
griff (da man ja die Bewußtseinsstruktur des Gegners in
ihrer Totalität und nicht nur einzelne seiner Behauptungen
funktionalisiert), da es sich aber nur um eine soziologische
Analyse des Gegners oder der Gegner handelt, bleibt man
bei einer - wie wir sie nennen wollen - speziellen
Fassung dieser Theorie stehen. Im Gegensatz zu dieser
1
Das will nicht besagen, daß im Kampfe des Alltages der par-
tikulare Ideologiebegriff nicht mehr zur Anwendung gelangt.
31
p.>eziellen gelangt man zu einer allgemeinen1 Fassung
ees totalen Ideologiebegriffes, wenn man den Mut hat,
nicht nur die gegnerischen, sondern prinzipiell alle, also
L auch den eigenen Stand.ort, als ideolo ischzu .,..._.~,.~,. . .~J,, 11 1
Diese allgemeine Fässung <Tes totalen Ideologie-
begriffes, wonach das menschliche Denken bei allen
Parteien und in sämtlichen Epochen ideologisch sei, ist
schwer zu umgehen. Es gibt kaum einen Denkstandort,
und hierin bildet auch der Marxsche keine Ausnahme, der
nicht historisch wandelbar gewesen wäre und von dem
man nicht aufweisen könnte, wie auch er sich in der Gegen-
wart sozial differenziert. Der Marxismus hat auch ver-
schiedene Spielarten, deren soziale Gebundenheit zu er-
kennen für einen Marxisten nicht allzu schwer sein wird.
Mit dem Auftauchen der allgemeinen Fassung des totalen
Ideologiebegriffes entsteht aus derbloßen Ideologien-
lehre die Wissenssozioiogie. Es wird hierbei aus der
geistigen Kampfapparatur 2 einer Partei die in ihr mitent-
deckte, aber nur noch partikular gefaßte allgemeine Rich-
tigkeit von der "Seinsge bundenheit" eines jedenleben-
digen Denkens herausgehoben und zum Thema einer
geistesgeschichtlichen Forschung gemacht3 • Diese sozio-
logische Geistesgeschichte wird ohne Rücksicht auf Par-
1 Wir haben also neben dem bisher behandelten Gegensatzpaar
partikular-total noch den Gegensatz speziell-allgemein.
Während bei dem ersten Gegensatzpaar der Gesichtspunkt der Ein-
teilung im wesentlichen die Frage betrifft, ob einzelne Ideen oder das
gal).Ze Bewußtsein als ideologisch bezeichnet wird und ob die psy-
chologische oder die noologische Ebene funktionalisiert ~teilt
bei dem Gegensatz speziell--allgemein das principium divisionis die
Frage, ob das Denken aller Parteien (einschließlich des unsrigen)
oder nur das unserer Gegner sozial gebunden sei.
2 Man denke an den Ausdruck: "Die geistigen Waffen des Pro-
letariats zu schmieden".
3 Durch den Terminus "seinsgebundenes Denken~' versuche
J2
teiung gerade diese an die jeweilige soziale Seinslage bin-
denden Faktoren im Denken überall erforschen müssen.
Diese soziologisch orientierte Geistesgeschichte wird he-
rufen sein, für den heutigen Menschen das gesamte histo-
rische Geschehen in einem neuen Sinne zu revidieren.
Es ist klar, daß der Ideologiebegriff in diesem Zusam-
. menhang einen neuen Sinn bekommt. Hierbei ergeben sich
zwei Möglichkeiten. Die erste Möglichkeit besteht darin,
daß man in der Ideologieforschung von nun an jede "ent-
hüllende" Absicht aufgibt (was einem ja schon dadurch
nahegelegt wird, als man zur Enthüllung des fremden den
eigenen Standort verabsolutieren muß, - ·ein Denkakt,
dessen Vollzug man bei dieser "wertfreien" Forschungs-
richtung solange als möglich zu vermeiden strebt) und sich
darauf beschränkt, überall den Zusammenhang zwischen
sozialer Seinslage und Sicht herauszuarbeiten. Die
zweite Möglichkeit besteht darin, daß man diese "wert-
freie" Haltung nachträglich doch mit einer erkenntnis-
theoretischen Haltung verbindet. Das Eingehen auf die
Wahrheitsproblematik von dieser Stufe aus kann aber
seinerseits wieder zu zwei verschiedenen Lösungen führen:
entweder zu einem Relativismus oder zu einem Rela-
tionismus, die nicht miteinander zu verwechseln sind.
Der Relativismus entsteht hierbei stets, wenn man die
moderne historistisch-soziologische Einsicht in die fak-
tische Standortsgebundenheit jedes historischen Den ens
- mit einer Erkenntmstheorle ~lteren Typus' vetbhrdet, d1e
das Phänomen des seinsverbundenen Denkens eigentlich •
noch .gar nicht kennt, sich mit ihm noch gar nicht ernst-
haft auseinandergesetzt hat und daher, sich an einem
statischen Denkparadigma (etwa am Urbild: 2 X 2 = 4)
orientierend, notgedrungen zum Verwerfen eines jeden
standortsgebundenen Wissens als einem bloß "relativen"
, kommen muß. Der Relativismus entsteht also hier aus
der Diskrepanz, die zwischen der neuen Einsicht in die
4
33
faktische Denkstruktur und einer diese noch nicht bewäl-
tigenden Erkenntnistheorie besteht.
Will man .aus diesem Relativismus herauskommen, so
muß man zunächst mit Hilfe der wissenssoziologischen
Analyse eingesehen haben, daß hier nicht die Erkenntnis-
theorie ihr Urteil über einen Denktypus spricht, sondern
nur ein bestimmter historis'cher Typus der Erkenntnis-
theorie. Die Erkenntnistheorie ist eben genau so in den
- Werdestrom eingebettet, wie unser gesamtes Denken
selbst, und ihr Fortschritt besteht eben darin, daß sie
immer wieder auch jene Komplikationen bewältigt, die das
neue Werden an Denkstrukturen einsichtig macht. Eine
mit dem Tatbestand der Bezüglichkeit eines jeden histo-
-rischen Wissens rechnende moderne Erkenntnistheorie
wird also zunächst davon ausgehen, daß es Denkgebiete
gibt, in denen standortsfreies, unbezügliches Wissen gar
nicht .vorstellbar ist. Auch ein Gott könnte historische
Einsichten nicht im Sinne des- Paradigmas 2 X 2 = 4 for-
mulieren, denn Verstehbares ist nur mit Beziehung auf
Problemstellungen und Begriffssysteme, die dem histori-
schen Strom erwachsen, formulierbar.
Hat man diese Umkehrung einmal vollzogen, indem
man davon ausgeht, daß historisches Wissen wesensmäßig
relational, nur standortsgebunden formulierbar ist, so
- taucht das Problem der Wahrheitsentscheidung zwar wie-
der auf, denn man wird sich doch fragen, welcher Stand-
ort die größten Chancen für ein Optimum an Wahrheit
hat, zumindest wird man aber darüber hinaus sein, diese
Wahrheit in unbezüglicher Formulierung besitzen zu
wollen. Das Problem ist, wenn es so gestellt wir~r
bei weitem noch nicht gelöst, aber der Blick wird frei
für ein unbefangeneres Durchdenken der aktuell werden-
den Probleme. Für das Folgende ist nun entscheidend, daß
wir auf der Stufe des allgemeinen und totalen Ideologie-
begriffes zwei Typen unterscheiden, den wertfreien und
34
den wertend ( erkenntnistheoretisch-metaphy-
sisch) orientierten, wobei es zunächst für uns dahin-
gestellt bleiben mag, ob man im letzteren Falle zu einem
Relativismus oder Relationismus gelangt.
Zunächst einiges über den wertfreien totalen und all-
gemeinen Ideologiebegriff.
Man wird an diesem Ideologiebegriff in erster Reihe bei
historischen Forschungen festhalten, wo man provisorisch,
der Vereinfachung . der Probleme zuliebe, auf die Frage
nach der "Richtigkeit" der zu behandelnden "Ideen" ver-
zichtet und sich vielmehr darauf beschränkt, Beziehungen
zwischen jeweiligen Bewußtseinsstrukturen und Seins-
lagen aufzuweisen. Man wird sich stets fragen müssen, wie
bestimmte sozial strukturierte Seinslagen zu bestimmten
Seinsauslegungs~rten drängen. Ideologiehaftigkeit des
menschlichen Denkens wird also auf dieser Stufe der Über-
legungen nichts mehr mit unwahr, verlogen usw. zu tun
haben, sondern, wie erwähnt, nur die --jeweilige Seins-
gebundenheit des Denkens bedeuten: das menschliche
Denken konstituiert sich nicht freischwebend im sozial
freien Raume, sondern ist im Gegenteil stets an einem .
bestimmten Orte in diesem verwurzelt.
Diese Verwurzdung wird aber keineswegs als eine
Fehlerquelle betrachtet werden dürfen. Genau so wie der
Mensch, der zu gewissen anderen Menschen oder zu deren
Verhältnissen eine vitale Beziehung hat, die Chance be-
sitzt, diese auch wissensmäßig genauer durchdringen zu
können, so wird die soziale Gebundenheit einer Sicht,
einer Kategorialapparatur gerade durch diese vitale Bin-
dung eine größere Chance für die zugreifende Kraft dieser
Det?-kweise in bestimmten Seinsregionen bedeuten. (Wir
sahen, wie in unserem Beispiel der proletarisch-sozialisti-
sche Standort in sich die Chance enthielt, gerade die Ideo-
logiehaftigkeit des Denkens zunächst beim Gegner zu
:!ntdecken.) Sozial-vitale Bindung bedeutet aber nicht nur
35
Chance, sondern auch vitale Schranke. Bestimmte Blick-
erweiterungen sind für bestimmte Standorte von sich .aus
nicht möglich. (Wir sahen, wie der sozialistische Ideologie-
aspekt z. B. von sich aus niemals zur Wissenssoziologie ge-
worden wäre.) Es scheint geradezu zum Sinn des Lebens
zu gehören, daß es in seinem fortschreitenden Prozeß die
Partikularität und Schranke, die es in einem Standort
schafft, durch die übrigen entgegengesetzten Standorte zu
- überwinden bestrebt ist. Die jeweilige Partikularität der
einzelnen Standorte und ihr gegenseitiges Aufeinander-
bezogensein im Zusammenhang mit dem sozialen Gesamt-
geschehen zu erforschen, wird die Aufgabe einer solchen
"wertfreien" Ideologieforschung sein. Es ergibt sich hier-
bei ein unendliches Thema, die Aufgabe, die gesamte Be-
wußtseinsgeschichte von den Denkhaltungen bis zu den
Erlebnisformen auf ihre jeweilige Seinsgebundenheit hin
zu sichten und zu zeigen, wie sich stets· alles im innigsten
Zusammenhange wand~lt. Man wird im Moralischen etwa
untersuchen, wie nicht nur die Menschen stets anders
handelten, sondern wie sie sich stets an anderen Normen
orientierten. Aber noch radikaler wird die -Frage werden,
wenn es sich zeigen lassen wird, daß das Auftreten der
Moral und Ethik selbst an bestimmte Situationen ge-
bunden ist, wie denn auch ihre Grundbegriffe: Pflicht, Ver-
gehen, Sünde nicht immer da waren, sondern Korrelate
bestimmter Lagen sind1 • Unsere gegenwärtig herr-
schende Philosophie wird nicht einmal in jener vorsichtigen
Gestalt mehr haltbar sein, in der sie zwar alle Inhalte als
geschichtlich determinierte freigab, um so mehr aber an der
Wertform und an der Tafel der "formalen wlrte"
festhielt. Bereits das Freigeben der Inhalte bedeutete eine
1 Bei Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der
Sozialökonomik. Abt. III, S. 794 findet man bereits wesentliche Hin-
weise auf die soziologischen Zusammenhänge, in denen sich "Moral"
überhaup~ erst konstituiert.
Konzession dem Historismus gegenüber, der immer mehr
die Absolutsetzung zeitgenössischer Gehalte erschwerte.
Jetzt wird auch die Voraussetzung fallen gelassen werden
müssen, daß gesellschaftliches Leben, Kulturleben nur
möglich sei auf Grund der Voraussetzung bestimmter
Wertsphären (formaler Werte) wie Ethik, Kunst usw., die
von uns aus gesehen eigentlich nichts anderes sind als
Hypostasierungen unserer Kulturstruktur, wie auch das
Paradigma des "geltungshaften" Erlebens der "Kultur-
gebilde" selbst eine kategoriale . Überdeckung der origi-
nären Erlebnisart der "Kultur" ist, die ihr wahrschein-
liches Vorbild am Erleben der Rechtssphäre, aber auch
an dem des ökonomischen Wertes hatte und' von hier aus
verallgemeinert wurde. Man kann doch nicht behaupten,
daß das originäre Sich-Hinwenden zur Kunst irgend
· etwas mit Normerleben zu tun hat oder daß der traditio-
nalistisch orientierte Mensch (der dominierende Menschen-
typus der vorkapitalistischen' Zeit), der einfach aus einem
Habitus heraus handelte, am adäquatesten erfaßt wird,
wenn man ihn sic~als ein Wesen vorstellt, das sich an
Werten orientiert. Die Vorstellung des ganzen Kultur-
lebens als ein Sich-Orientieren an objektivierten Normen
ist ein typisch modern-rationalisierendes Verdecken der
Urstrukturen, in-denen sich der Mensch zu seiner "Welt"
viel ursprünglicher verhält. Daß die "Kultur" sub specie
"Geltung", "Wert" überhaupt gesehen wird, ist nicht das
Zeitlose in unserm Denken, sondern das am ehesten zeit-
. gebundene Moment. Sollten wir aber nur für einen Augen-
blick diese Formulierung gelten lassen, so wäre auch das
Auftreten bestimmter Wertsphären wie ihr jeweils kon-
kreter Aufbau nui: aus der konkreten Situation und dem
Erlebnisstoff verstehbar, für den sie "hingelten", um einen
AusdruckE. Lasks zu gebrauchen1 ; und so ist auch die
1
Lask, E.: Die Logik der Philosophie und die Kategorienlehre.
Tübingen 19II .
37
formale Geltung (die Geltungsform) nicht als zeitlos iden-
tisches Element abhebbar von dem historisch sich wandeln-
den Stoff.
Dieselbe Entdeckung der Unstetheit der Gehalte und
Formen wird das Thema der denkgeschichtlichen For-
schung sein. Heute ist man schon so weit zu sehen, wie
man in bestimmten Geschichtsperioden einserseits, in ver-
schiedenen Kulturkreisen andererseits stets verschieden
· gedacht hat. Die Einsicht wird sich wohl allmählich Bahn
brechen, daß diese Verschiedenheiten nicht nur die in-
haltlichen Stellungnahmen, sondern auch die jeweilige
kategoriale Apparatur betreffen. Daß aber sowohl in der
Vergangenheit, wie in der Gegenwart die herrschenden
Denkformen gerade dann von neuen Kategorien abgelöst
werden,. wenn die soziale Basis der sie tragenden Gruppen
in irgendeinem Sinne fraglich wird und sich transformiert,
ist ein Thema, das erst jetzt in Angriff genommen werden
kann und hoffentlich auf der Höhe der gegenwärtig mög-
lichen methodischen Exaktheit erforscht werden wird.
Die wissenssoziologische Forschung dies~r Art wird eine
hohe Stufe der Exaktheit schon deshalb erreichen, weil
nirgends die durchgängige Interdependenz des Sinnwandels
dermaßen genau fixierbar ist als im Gebiete des Denkens.
Das Denken ist nämlich eine eigentümlich empfindliche
Membran. Es vibrieren in jeder Wortbedeutung und gerade .
in der jeweils aktuellen Vieldeutigkeit eines jeden Begriffe.s
d~e Polaritäten der in diesen Bedeutungsnuancen impliZit
vorausgesetzten und auch hier sich bekämpfenden feind-
lichen, ·aber gleichzeitig vorhandenen Lebenssyst~
1 Gerade deshalb wird in den folgenden Untersuchungen die
39·
zu sein, so versperrt man sich den Weg des Interesses zu
diesen Einsichten, __:_ vielleicht, daß' gerade unser Aufge-
lockertsein uns manchem näherbringt, was apodiktische-
renZeitalterngar nicht zugänglich war. ·
Denn es ist ja klar, daß nur in einer so rapiden und radikal
sozialen und geistigen Transformation Gehalte, auf dieman
sonst verabsolutierend eingestellt gewesen wäre, dermaßen
transparent werden könt1en, daß man alles und jegli~hes als
ideologrehaft zu sehen imstande ist. Bisher hat man be-
stimmte Gehalte bekämpft, dafür aber um so hartnäckiger
die eigenen verabsolutiert; jetzt gibt es zu viel gleichwer-
tige, auch geistig gleichmächtige Positionen, die sich ge-
genseitig relativieren, als daß sich ein einziger Gehalt oder
eine einzige Position dermaßen verfestigen könnte, daß sie
sich absolut nehmen dürfte. Nu.J; diese sozial aufgelockerte
Situation macht die Tatsache sichtbar, die sonst durch die
. allgemein herrschende soziale 5ekurität1 und durch tradi-
tionales Eingelebtsein best:iiruiiter Gehalte verdeckt wird,
daß jeder historische Standort partikular ist. Es mag ja
sein, daß zum Handeln eine bestimmte Selbsthypostasierung
nötig ist und daß auch die Aussageform im DenKen stets
zur Verabsolutierung zwingt. Das ist aber gerade die Funk-
tion historischer Forschung (und bestimmter sozialer Trä-
ger, wie wir sehen werden) in unserer Epoche, daß sie diese
notgedrungenen und für den Augenblicksbedarf unum-
gänglichen Selbsthypostasierungen immer wieder rück-
gängig macht und in einer steten Gegenbewegung die
Selbstvergottung immer wieder relativiert, um auf diesem
Wege ein Offensein zur Ergänzung zu erzwingea..
Es ist geq.dezu Gebot der Stunde, die jetzt gegebene
Zwielichtbeleuchtung, in der alle Dinge und Positionen
1 Unter sozialer Sekurität verstehen wir nicht eine Armut an Er-
43
nichts weiß, wird nur jenen erschrecken, der sich noch
immer an den Vorurteilen der vergangenen positivistischen
Epoche orientiert und meint, völlig wert-, entscheidungs-,
ontologie- und metaphysikfrei denken zu können1 • Je kon-
sequenter man aber im Interesse einer wahren Empirie das
Denken auf seine Voraussetzungen hin durchforscht, desto
klarer wird es, daß gerade Empirie (in den historischen
Wissenschaften zumindest) nur im Elemente metaempiri-
scher, ontologisch-metaphysischer Entscheidungen und
der daraus sich ergebenden Erwartungen und Setzungen
möglich ist. Wer sich für gar nichts entscheidet, hat gar
keine Fragestellung und nicht einmal eine heuristische
· Hypothese, auf die hin man die Geschichte befragen und
durchforschen könnte. Zum Glück hatte der Positivismus
trotz seiner erkenntnistheoretischen Vorurteile und trotz
seines angeblich besseren Wissens ontologisch-metaphysi-
sche Entscheidungen (so e~a den Glauben an den Fort-
schritt, seine spezifische "Realistik", die ja auch ontische
Entscheidungenimpliziert), weshalb auch diese Forschungs-
weise viel Wichtiges und auch in der Zukunft nicht ohne
die in unserem Handeln lebt, auch wenn wir es nicht wollen, ist
nicht etwas, was man nur romantisch ersehnt, zurückwünscht und
womit man sich den Wirklichkeitshorizont verhängt, sondern das
ist unser Horizont, den keine Ideologiedestruktion auflösen kann.
Hier an dieser Stelle scheint sich etwas in der Richtung der Lösung
zu lichten (wenn wir auch sonst in diesem Buche nicht die "Lösung"
geben): die Ideologie- und Utopie-Enthüllung kann nur Gehalte zer-
setzen, mit denen wir nicht identisch sind, und es taucht die Frage
auf, ob nicht unter bestimmten Umständen in der Destsuktion selbst
schon das Konstruktive liegt, ob der neue Wille und der neue Mensch
nicht schon in der Richtung des Fraglichmachefis gegenwärtig sind.
Wie es einst ein Weiser sagte: "Oftmals, wenn einer zu mir kommt,
sich Rats zu erfragen, höre ich, wie er selber die Antwort spricht."
1 Ein etwas kritischer gestimmter Positivismus war bescheidener
45
Einmal kann man den durchgängigen Wandel des Histo-
rischen in seiner Unstetheit bejahen, weil man der An-
sicht ist, daß das Letzthinnige gar nicht im Historischen,
gar nicht in der Objektivation steckt. Man wird das Zeit-
liche, Soziale, alle Mythen und Gehalte und jegliche Sinn-
setzung preisgeben, weil man das Unbezügliche als ge-
schichtstranszendent, als ein Nichts der Fülle, aus der
jede historische Objektivation erst quillt, wird bejahen
wollen. Es wird dies jene ekstatische Fülle sein, die stets
Geschichte schafft, von der aber jegliche Geschichte stets
abfällt. Der Kenner der Geschichte wird merken, daß die-
ser Standpunkt in direkter Kontinuität zu dem der Mystik
steht. .Schon der Mystiker hatte behauptet, daß es im
Leben ein Zeit- und Raumjenseitiges gebe und daß Raum
und Zeit mitsamt den in ihnen vorkommenden Erschei-
nungen dem ekstatischen Erleben gegenüber nur Schein-
wesen seien. Nur konnte der Mystiker das seinerzeit noch
nicht beweisen. Der Alltag war noch zu verfestigt in seiner
damaligen Konkretheit, jedes Zufällige war in seinem
Dasein zu einem gottgewollten, wesenhaften Sosein ge-
steigert. Der Traditionalismus bannte eine an Ereignissen
zwar bewegte, in ihrer Sinnsetzung aber stabilisierte Welt,
auch besaß er dieses Ekstatische noch nicht nackt, sinn-
frei, er interpretierte es noch mit Beziehung auf das Gött·
liehe, erlebte man doch die Ekstase als eine Art der Gott·
begegnung. Die ~llgemeine Bezüglichkeit der Sinnelemente
ist aber in .der ~wischenzeit dermaßen evident geworden,
. daß man sie bald als öffentliche Weisheit wirj ::sprechen
können. Was einst noch esoterisches Wissen · "ger ·
geweihter gewesen war, kann heute methodisch sieht
gemacht ,werden, und der Soziologismus wird unter Um-
ständen genau so wie der Historismus zu einem Mittel der
Mediatisierung des Alltags und der Geschichte in Händen
derer werden, für die das Wirkliche im Außergeschicht·
lieh-Ekstatischen liegt.
Die zweite, soeben angedeutete Motivationsreihe, die
aus der gegebenen Situation zur 5oziologie führen und
einen Impuls zur historischen Forschung verleihen kann,
ergibt sich daraus, daß man in diesem Wandel der Bezüg-
lichkeiten, der Sinnzusammenhänge kein willkürliches Spiel
sieht, sondern sowohl in ihrer Gleic~eitigkeit als in ihrem
Nacheinander eine (wenn auch ihrer Natur nach nicht so
ohne weiteres bestimmbare, aber doch irgendwie erfaß-
bare) Notwendigkeit aufzuweisen unternimmt.
Hat man einmal dieses innere Verhältnis zu dem histo-
rischen Wandel der Sinnelemente gewonnen, für das zwar
kein besonderes Stadium des Geschichtlichen als absolut
genommen wird, das ganze Werden aber dennoch ein auf-
gegebenes Problem enthält, so wird man sich bei jener
ekstatischen Position, für die jede Geschichte "nur Ge-
schichte" ist, nicht mehr beruhigen können. Man wird
zwar zugeben, daß das Menschsein mehr ist als irgendein
besonderes Stadium des geschichtlichen und sozialen
Seins, daß jenes ekstatische Außerhalb irgendwie existiert,
als etwas, was auch dem Geschichtlichen und Sozialen
immer wieder gleichsam den Anstoß gibt, auch daß die
Gtrschichte immer wieder von diesem abfällt, aber man
wird deshalb in der Geschichte selbst nicht nur ein allein
durch seine Negativität Charakterisierbares sehen, sondern
einen Schauplatz, an dem sich auch ein wesentliches Wer-
den abspielt. 'Dieses Werden des Wesens "Mensch" voll-
zieht sich auch und wirderfaßbar im Wandel der Nonnen
der Gestaltungen und der Werke, im Wandel der Insti-
tutionen und Kollektivwollungen, im Wandel der Ansatz-
punkte und Standorte, von denen aus das jeweilige histo-
rische und soziale Subjekt sich selbst und seine Ge-.
schichte sieht. Man wird geneigt sein, in allen diesen
Phänomenen immer mehr etwas Symptomatisches zu.
sehen, - eine kohärente Symptomatik, deren Einheit und.
Sinn es zu lösen gilt. ·Auch wenn man in der ekstatischen
47
Selbstbegegnung das, was wir letztlich sind, in allein an-
gemessener Form haben sollte, auch dann steht jenes Un-
benennbare, aber von den Ekstatikern stets Intendierte doch
noch notwendigerweise in irgendeiner Beziehung zum Hi-
storischen und Sozialen, dessen Schicksale auch irgendwie
seine Schicksale sind. Und wie wäre es, wenn jenes Eksta-
tische, das sich direkt seinem Wesen nach niemals enthüllt
und direkt nicht benennbar und nicht aussprechbar ist,
durch seine Spuren, die es in der Geschichte zurückläßt,
indirekt charakterisierbar wäre?
Aus diesem letzten Endes unzweifelhaft durch·ein be-
sonderes Weltgefühl fundierten Verhältnis zur Geschichte
·und zum Sozialen wird auch die vorangehende Position
in ihren Grenzen durchsichtig. Die Position, die das Ge-
schichtliche von einem ekstatischen Außerhalb betrach-
tete, mußte Gefahr laufen, gerade als Folge dieser Ge-
schichtsverachtung ihr nichts Wesentliches abgewinnen zu
können. Eine eigentliche Beziehung zum Geschichtlichen
kann man ·von einer Bewußtseinshaltung, der es nur dar-
auf ankommt, das Geschichtliche zu mediatisieren, nicht
erwarten. Dabei zeigt jedoch jedes genauere Zusehen, daß
im Elemente des Geschichtlichen - wenn sich auch nichts
endgültig verfestigt - irgend etwas doch geschieht. Schon
die Tatsache, daß in der Geschichte jeder Zeitpunkt und
jedes Sinnelement einen Stellenwert hat (nicht alles stets
und ·immer geschehen könnte, weshalb man sich niemals
in absoluten Situationen befindet) -,daß also weder Ge-
schehen :10ch S~usa~enhänge rev~rsibeNnd, weist
darauf hin, daß die Geschichte nur für Jenen. sfümm und
sinnlos ist, der von ihr in nichts Wesentliches erwartet,
und daß gerade für die Geschichtsbetrachtung ein Stand-
punkt, für den Geschichte "nur Geschichte" ist, am aller-
wenigsten. fruchtbar sein kann.
Man kann und muß Geistesgeschichte (und zu dieser
Art soziologischer Geschichtsbetrachtung haben wir uns
schon durch unsere bisherige Art der Betrachtung bekannt)
in der Weise betreiben, daß man in der Abfolge, aber auch
in der Koexistenz der Elemente mehr als einen Zufall
·sieht und durch die Erforschung der in der Geschichte
· werdenden Totalität immer mehr den Stellenwert und die
Bedeutung der Elemente zu erfassen versucht. Baut man
diese Sicht immer konkreter aus, nicht allein spekulativ,
sondern jeden Schritt am vorliegen~en Material' prüfend,
.durch ihn belegend, so komnit man zu eirier Disziplin, die
man soziologische Zeitdiagnostik nennen könnte.
Um eine solche bemühten sich bereits die bisherigen Aus-
führungen, wenn sie zu zeigen versuchten, wie der Ideolo-
giebegriff selbst bei der Diagnose der gegenwärtigen Denk-
lage verwertet werden kann, und wenn unsere Typologie
nicht einfach Fälle nebeneinander gestellt hat, sondern in
der Abfolge des Bedeutungswandels dieses (allenfalls
äußerst symptomatischen) Begriffes unsere gesamte Seins-
und Denklage im Querschnitt erfaßt werden sollte. Eine
solche Diagnostik, wenn sie auch anfangs versucht, sich
wertfrei zu gebärden, wird auf die Dauer sich in dieser
Position nicht halten können und allmählich in eine wer-
tende Haltung übergleiten. Den. Übergang zur. Wertung
wird auf der ersten Stufe schon die Tatsache erzwingen,
daß man keine Artikulation in die Geschichte hineinzu.:
tragen imstande ist; wenn man nicht Akzente verteilt:
Akzente, Gewichte zu verteilen ist aber bereits der erste
Schritt zur Wertung und zur ontologischen Entscheidung.
49
als absolute hinnehmen - die Einsicht in die Zeit- und
Sozialgebundenheit der Normen und Werte kann nicht
mehr verloren gehen -, der ontische Akzent wird sich
auf eine andere Problematik zurückziehen. Er wird unter
den Normen, Denkweisen, Orientierungsschemen ein
und derselben Zeit wahre und unwahre, echte und un-
echte unterscheiden. Nicht einem absoluten, ewig gleichen
Sein gegenüber versagt hier das "falsche Bewußtsein",
sondern einem in stets neuen seelischen Vollzügen sich
neugestaltenden Sein gegenüber. Es ist bereits daraus
zu verstehen, warum sich die ganze Energie, die durch
die Dialektik des Gedankens gezwungen wird, auf das
Erstreben überzeitlicher Werte zu verzichten, mit um so
größerer Intensität auf die Unterscheidung von in einer
Zeit wirklichen und unwirklichen Gedanken konzen-
triert. Damit kehrt aber das Problem des falschen Be-
wußtseins auf der modernen Problemebene von neuem
wieder. Wir . begegneten dem Problem des falschen Be-
wußtseins bereits in seiner modernsten Fassung, wo es
bereits seine Orientierung an religiös transzendenten Fak-
toren aufgab und in einer an den Pragmatismus erinnern-
den Form das Kriterium der Wirklichkeit in die Praxis,
und zwar in die politische Praxis, verlegte. Was damals
noch zur endgültigen Fassung fehlte, war das historistische
Element. Denken und Sein waren noch als fixe Polaritäten
in einer "absoluten Situation" vorgestellt, die zwischen
ihnen bestehende Spannung war noch als ~e statische
gemeint. Erst jetzt kommt das neue, das htX,oristische
Element hinzu.
Falsch ist demnach im Ethischen ein Bewußtsein, wenn
es sich an Normen orientiert, denen entsprechend es auch
beim besten Willen auf einer gegebenen Seinsstufe nicht
handeln könnte, wenn also das Versagen des Individuums
gar nicht als individuelles Vergehen aufgefaßt werden kann,
sondern das Fehlhandeln durch eine falsch angelegte mo-
50
ralische Axiomatik begründet und erzwungen ist. Falsch
ist in der seelischen Selbstauslegung ein Bewußtsein, wenn
es durch die eingelebten Sinngebungen (Lebensformen,
Erlebnisformen, Auffassung von Welt und Menschtum)
neuartiges seelisches Reagieren und neues Menschwerden
überhaupt verdeckt und verhindert. Falsch ist ein theo-
retisches Bewußtsein, wenn es in der "weltlichen" Lebens-
orientierung in Kategorien denkt, denen entsprechendman
sich auf der gegebenen Seinsstufe konsequent gar nicht
zurechtfinden könnte. Es sind also in erster Linie überholte
und überlebte Normen und Denkformen, aber auch Welt-
auslegungsarten, die in diese "ideologische': Funktion ge-
raten können und vollzogenes Handeln, vorliegendes in-
neres und äußeres Sein nicht klären, sondern vielmehr
verdecken. Es sollen nur noch einige bezeichnende Bei-
spiele für die verschiedenen wichtigsten Typen des so-
eben geschilderten ideologischen Bewgßtseins angeführt
werden.
Man denke etwa für den Fall, daß überholte ethische
Normen zu Ideologien werden, an die Geschichte des
"zinslosen Darlehens"1 • Das zinslose Darlehen ist als
Forderung adäquat nur dort erfüllbar, wo man sich so-
.ziologisch und wirtschaftlich auf der Stufe des Nachbar..,
Schaftsverbandes befindet. In einer solchen Welt ist die
Forderung restlos verwirklichbar. Das zinslose Darlehen
ist eine dieser Welt zurechenbare und in diesem Sinne ihr
adäquate Norm. Aus der Welt des Nachbarschaftsverban-
des entstammend, ging diese Vorschrift in den Normen-
schatz der Kirche über: je mehr sich die "Realunterlagen"
der Umweltinzwischen wandelten, um so mehr rückte diese
Forderung in eine ideologische Position, sie wurde nämlich
auch potentiell unverwirklichbar. Vollends "weltentrückt"
1
In ßezug auf das historische Material des Beispiels vgl. Weber,
Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der Sozialökonomik,
Abtlg. 111, S. Soz f, ·
s*
wurde aber diese Forderung zur Zeit des aufkommenden
Kapitalismus, als sie durch einen Funktionswandel zu
einem Kampfmittel der Kirche gegen die neue Wirtschafts-
macht wurde. Nach dem Durchdringen und dem Sieg des
Kapitalismus wird der ideologische Charakter der Norm
(die Tatsache, daß man sie nur umgehen kann, aber nicht
befolgen), dermaßen durchsichtig, daß sie auch von der
Kirche fallen gelassen wird.
Als Beispiel für ein falsches Bewußtsein auf der Ebene
der Selbstklärung mögen die Fälle dienen, wo der
~ensch ein historisch bereits mögliches, "wahres" Ver-
hältnis zu sich selbst oder zur Welt verdeckt, das Erleben
der elementarischen Gegebenheiten des Menschseins ver-
fälscht, indem er sie entweder "verdinglicht" oder "ideali-
siert", aber auch "romantisiert", - mit einem Wort mit
all.den Techniken der Selbstflucht und Weltflucht falsche
Begegnungsarten heraufbeschwört. ·Falsch ist es deshalb,
die suchende Unruhe durch nicht mehr lebbare Abso-
lutheiten zu verdecken, so etwa "Mythen" zu wollen,
.für "Größe an und für sich" zu schwärmen, "ideali-
stisch" zu sein und faktisch sich selbst Schritt für Schritt
in bereits leicht durchschaubarer "Unbewußtheit" zu um-
gehen.
Ein Beispiel schließlich für den dritten typischen Fall
falschen Bewußtseins liegt vor, wenn es in der Welt-
orientierung erkenntnismäßig versagt. Hierfür ist ein
paradigmatischer Fall, wenn etwa ein Gut~esitzer, des-
s,en Gut bereits ein kapitalistischer Betrieli\ geworden
ist, seine Beziehungen zu den Arbeitern und seine eigene
Funktion noch immer in patriarchalistischen Kategorien
auslegt. ·
Zieht man alle diese Fälle in den Umkreis der Betrach-
tungen, so bekommt das falsche Bewußtsein ein ganz neues
Gesicht. Falsch und ideologisch ist von hier aus gesehen
ein Bewußtsein, das in seiner. Orientierungsart die neue
52
',
Wirklichkeit nicht eingeholt hat und sie deshalb mit über-
holten Kategorien eigentlich verdeckt 1 •
Dieser Ideologiebegr.üf (vom Utopiebegriff soll ja in der
letzten Untersuchung gesondert gesprochen werden2), den
wir den wertenden und dynamischen nennen wollen -
wertend, weil er bezüglich der Wirklichkeit der Gedanken-
gehalte und Bewußtseinsstrukturen Entscheidungen trifft,
dynamisch, weil er diese Entscheidungen an einer stets im
Fluß sich befindlichen Wirklichkeit mißt -, ist selbst-
verständlich nur auf der Stufe des absoluten und totalen
Ideologiebegriffs möglich und ist jener zweite Typus, den
wir dem "wertfreien" gegenübergestellt haben.
So kompliziert auch für den ersten ·Augenblick diese
Art der Begriffsbestimmung zu sein scheint, so glauben
wir doch, daß sie nicht im mindesten forciert ist, denn sie
denkt in der Definition nur Probleme möglichst konse-
quent zu Ende, die der alltägliche Sprachgebrauch der
gegenwärtigen Weltorientierung bereits im Ansatz besitzt
und eigentlich intendiert.
Dieser Ideologie- (und Utopie-) Begriff rechnet eben nur
mit der Einsicht, daß es über bloße Täuschungsquellen
hinaus falsche Bewußtseinsstrukturen gibt; er rechnet mit
der Tatsache, daß die "Wirklichkeit", der gegenüber man
versagt, eine dynamische sein kann, daß es im seihen histo-
risch-sozial~n Raume verschieden gelagerte falsche Be-
wußtseinsstrukturen ·geben kann, solche, die das "zeit-
genössische" Sein im Denken überholen und solche, die es
1
Daß ein Bewußtsein auch falsch, "seins-inadäquat" sein kann,
indem es dieses "Sein" überholt -das ist Thema des letzten Auf-
satzes, wo gerade das "utopische~' Bewußtsein analysiert wird. Für
. uns genügt hier dieses einzige Merkmal, daß es das Sein überholt.
2
In der Untersuchung über das .utopische Bewußtsein wird sich
auch herausstellen, daß das utopische Überholen des jeweils "Gegen-
wärtigen" nicht einfach als eine negative Parallele zur ideologischen
Verdeckung des Seienden durch vergangene Gehalte behandelt
werden kann. Vgl. S. 2.49 f.
53
•
noch nicht erreichen, in beiden Fällen aber verdecken, und
er rechnet schließlich mit einer "Wirklichkeit", die allein in
der Praxis sich enthüllt. Alle diese Ansatzpunkte, die im Ietzt-
erwähnten (dynamischen und wertenden) Ideologiebegr.iff
enthalten sind, beruhen auf Erfahrungen, die man nicht um-
gehen, höchstens systematisch stets anders verarbeiten kann.
54
blem nur ein spekulatives Hirngespinst, so könnte man
leicht die Frage übergehen. Es wird aber Schritt für Schritt
immer klarer erkennbar, daß an der Vielgestaltigkeit ge-
rade dieses Begriffes die Vielgestaltigkeit unseres ganzen
Denkens hängt "?nd daß jede der ontologischen Entschei-
dungen immanent eine viel weiterragende Option enthält.
Es wird gerade an der Vielgestaltigkeit der ontologischen
Entscheidung am klarsten sichtbar, daß wir kaum -mehr
55
in derselben Denkwelt leben, daß es gegeneinander sich
bewegende Denksysteme gibt, die letzten Endes schon im
Wirklichkeitserleben auseinandergehen.
Man kann diese Denkkrisis vor sich verdecken, wie es
die alltägliche Lebenspraxis tut, indem sie sich Dinge und
Zusammenhänge in ihrer Partikularität begegnen läßt 1 • So-
lange man nämlich den Dingen nur in ihrer Partikularität
begegnet und solange die Begriffsapparatur sich in einem
57
aber eine prinzipielle Tugend daraus, daß der Empiriker
über die Einzelbeobachtung, wenn sie auch noch so um-
fangreich sein sollte, nicht hinausgeht, so ist dies bereits
eine innere Abwehr gegen die Fraglichmachung der Grund-
situation.
Auch in einer solchen, auf stete Partikularität sich be-
schränkenden Forschung kann man Wissen sammeln und
die Empirie bereichern~ Es ist vielleicht auch möglich, daß
eine Zeitlang diese Einstellung die richtige war. Aber genau
so wie die Naturwissenschaften ihre Hypothesen und
Grundlagen immer wieder in Frage stellen müssen, sobald
im Bereich der "Tatsachen" eine Diskrepanz sichtbar wird,
und wie dort eine weitere Empirie nur durch eine Revision
der Grundlagen möglich ist, so sind wir heute auch in den
Geisteswissenschaften so -weit, daß die .Grundlagenfrage
uns durch die Empirie aufgezwungen wird.
In einer ·a uf prinzipielle Partikularität eingestellten Em-
pirie ist man eine Zeitlang in derselben Lage wie die All-
tagspraxis: die Fragwürdigkeit und Uneinheitlichkeit der
Denkbasis wird verhüllt, weil man nie die Gesamtlage
zu sehen bekommt. Es ist nichts richtiger als die bekannte
These, daß der .menschliche Geist mit yöllig ungeklärten
Begriffen in wunderlicher Weise ganz kl#e Beobachtungen
zu machen imstande ist und die Krise erst ausbricht, wenn
es zur Reflexion kommt und man die: ~rund begriffe der
Disziplinen zu definieren hätte. Ein Be~~s für die Rich-
ti~keit dieser These is_t,_ daß in_ den E~~issenschaften
d1e Forschung oft empmsch ges1chert we1tergeht, während
um die Grundfragen und Grundbegriffe der heftigste
Kampf tobt.
Aber auch diese Einsicht ist nur partikular, denn sie
formuliert nur in Gestalt eines wissenstheoretischen Apho-
rismus mit Anspruch auf typische Geltung eine Situation,
die nur für den Zustand der Wissenschaft in einer be-
grenzten Periode charakteristisch wa~. Als man diese These
zu Beginn unseres Jahrhunderts aufstellte, erschienen
nur an der Peripherie des Forschens im Gebiete der Prin-
zipienfragen und in dem der Definitionen die Krisensym-
ptome. Heute hat sich die Lage verschoben: die Krise ist
bereits mitten in der Empirie faßbar - die Vielgestaltig-
keit der Fundierungsmöglichkeiten und der Definitionen
und die Konkurrenz der Aspekte bricht bereits bei dem
gedankenmäßigen Erfassen des Einzelzusammenhanges
durch.
Es wird also nicht geleugnet, daß Empirie überhaupt
möglich ist, ferner wird keineswegs behauptet, daß es keine
Tatsachen gibt (nichts scheint uns unrichtiger, als einen
Illusionismus zu. lehren). Auch unsere Nachweise appel:-
lieren auf die Beweiskraft der Tatsachen, nur ist es ein eigen
Ding um diese Tatsachen. Die "Tatsachen" konstit~ieren
sich für die Erkenntnis jeweils in einem Denk- und Le-
benszusammenhang. Ihre jeweilige Erfaßbarkeit und For-
mulierbarkeit impliziert bereits eine Begriffsapparatur. Ist
diese für eine historische Gemeinschaft einheitlich, so
wird die hinter dem einzelnen Begriff liegende Voraus-
setzungsreihe (die vitale und intellektuelle Option) niemals
durchsichtig. Von hier ist jene nachtwandlerische Sicher-
heit ungebrochener Zeiten erklärbar, was das Problem der
Wahrheit überhaupt betrifft. Ist aber der Beobachtungs-
strahl einmal gespalten\ so lockert sich das Festgelegtsein
der Erfahrbarkeit in eine vorgeschriebene einzige Rich-
tung. Zunächst bildet sich ein Gegeneinanderdenken aus,
das (für die denkenden Subjekte unsichtbar) denselben Er-
fahrungsstoff in verschie.dene Denksysteme einreihen und
auch kategorial oft anders verarbeiten läßt.
Hieraus entsteht eine eigentümliche Perspektivität der
Begriffe, die bestimmte Seiten desselben Urstoffes jeweils
anders fixiert. Dadurch wird die "Wirklichkeit" immer
1
Ausführlicheres über die soziologische Ursache dieser Spaltung
bringt mein "Züricher Referat". .
59
·reichhaltiger sichtbar. Was früher nur als eine Art "aura''
des noch unbewältigten irrationalen Restes um den einzel-
. nen Begriff gelagert war, erscheint heute zugleich in einem
Gegenbegriff, der gerade diesen Rest am Objekt erfaßt.
Das Problematischwerden der Einheit der Denkbasis
wird auch in der Empirie selbst allmählich immer klarer
erkennbar. Für den tiefer Denkenden enthüllt sich dies
zunächst in der Partikularität jeder Definition. Diese Par-
tikularität wird z. B. von Max Weber zugegeben, zugleich
aber durch die Partikularität des jeweiligen Erkenntnis-
zweckes legitimiert.
Wie man einen Begriff definiert, hängt von dem Beob-
achtungsstrahl ab, der bereits unsere unbewußt vollzogenen
Denkschritte reguliert. Das Denken, das sich bei dieser
Perspektivität der Begriffe ertappt, verbaut sich zunächst
zur systematisch totalen Fragestellung mit allen Mitteln
den Weg. So war ganz besonders der Positivismus um
die Verdeckung dieser Gefährdung besorgt. Einerseits war
dies nötig, um den ruhigen Gang der Tatsachenforschung
zu sichern, andererseits brachte aber diese Verdeckung
Unklarheiten in Fragen, die das Problem des "Ganzen"
betreffen.
Zwei typische Dogmen waren geeignet, die Grundfrage-
stellung zu verhindern. Zunächst jene Lehre, die Meta-
physik, Philosophie und jede Grenzfrage einfach negierte
und nur der empirischen Partikularerkenntnis Gültigkeit
zuerkannte, - in diesem Zusammenhang auch die Phi-
losophie als Einzelwissenschaft, insbesondere als Logik,
gelten ließ. Den zweiten möglichen Weg zur Verhin-
derung der Totalitätsproblematik betrat jenes Dogma, das
einen Ausgleich zu schaffen versuchte, indem es der Em-
pirie ein von der Philosophie und Weltanschauung be-
reinigtes Feld einräumte und in Partikularfragen dieser
Denkmethode eine apodiktische Sicherheit zuerkannte,
für die Lösung der Totalität~fragen aber die "höhere"
6o
Methode der philosophischen Spekulation in Anspruch
nahm, allerdings mit einem Verzicht auf "allgemeingül-
tige" Evidenz.
Diese Lösung erinnert in ihrer Struktur unheimlich an
die Devise der Theoretiker der konstitutionellen Mon-
archie: Le roi regne mais ne gouverne pas. Alle Ehrenin-
signien wälzt man hier auf die Philosophie ab, die Speku-
lation oder Intuition wird unter Umständen als ein höheres
Organ anerkannt, aber all dies nur, damit sie im realen
Denkvollzug die positive und demokratisch allgemein gel-
tende Empirie nicht stört. Damit ist wieder .die Totalitäts-
problematik verdeckt, die Empirie hat sich ihrer entledigt,
und die Philosophie ist einfach nicht zur Verantwortung
zu ziehen - sie hat nur eine Verantwortung vor Gott -,
ihre Evidenz gilt nur in ihrem spekulativen Bereich oder-je
nach der Art der Fundierung - vor der reinen Intuition.
Das Ergebnis einer solchen Trennung kann nur sein, daß
die Philosophie, die sicher die wesentlichste Funktion der
Selbstklärung in der jeweiligen Gesamtsituation zu leisten
hätte, dies zu tun nicht in der Lage ist, weil sie den Kontakt
zur Gesamtsituation verliert, indem sie in ihrem "höher"
gelagerten Bereich verharrt, der Einzelforscher aber aus
seiner anerzogenen Partikulareinstellung die Umstellung
zur umfassenderen Sicht - die die Lage der Empirie be-
reits erforderlich macht - zu vollziehen nicht imstande
ist. Zur Bewältigung einer jeden historischen Seinslage ge-
hört ein bestimmt geartetes Denken, das sich auf der Höhe
der aktuellen Realproblematik bewegt und die Fähigkeit be-
sitzt, den jeweils vorhandenen Konfliktsstoff zu übersehen.
Auch in diesem Falle handelt es sich darum, daß es einen
weiter zurückgeschobenen, axiomatischen Ausgangspunkt,
den synthetischen Ort für die Bewältigung der Totalität
zu finden gilt. Die Denkkrisis wird nicht behoben, wenn
man nach der Methode der Ängstlichen und Unsicheren
die Lücken und Widersprüche verdeckt oder nach der
61
Methode der extremenRechten und Linken auch diese Krisis
propagandistisch auswertet und zu einer Vergangenheits-
oder Zukunftsverherrlichung benützt (wobei sie über-
sehen, daß auch ihr eigenes Haus brennt). Es würde ferner
nicht viel helfen, dieses Phänomen in diese oder jene Par-
tialaxiomatik als bloße Tatsache, als Beweis der Krise der
"gegnerischen Situation" noch einmal einzubauen. So et-
was gelingt nur, solange man im historischen Raume mit
der neuen Denkmethode alleine steht und solange die
Partikularität des eigenen Aspektes noch nicht sichtbar
·geworden ist.
Nur wenn man die Teilhaftigkeit aller Standorte sieht und
sie immer wieder herausstellt, ist man zumindest auf dem
Wege zur gesuchten Totalität. Die Denkkrisis ist nicht die
Krisis eines Standortes, sondern die Krisis einer Welt,
die eine bestimmte denkerische Höhenstufe erreichte.
Nicht Verarmung ist es, wenn wir eine Seins- und Denk-
verlegenheit immer klarer sehen, sondern eine unendliche
Bereicherung. Nicht ein Bankrott des Denkens ist es, wenn
die Vernunft immer tiefer in ihre eigene Struktur schaut,
nicht Unfähigkeit, wenn eine ungeheure Blickerweite-
rung eine Revision der Grundlagen erheischt. Denken ist
ein von Realkräften getragener, stets sich selbst in Frage
stellender und zur Selbstkorrektur drängender Prozeß.
Das Verhängnisvollste wäre deshalb, das bereits sichtbar
Gewordene aus Ängstlichkeit zu verbauen. Liegt doch das
Fruchtbarste des Augenblicks darin, daß man sich nichts
mehr als Partikularität begegnen lassen will, sondern Par-
tikulareinsichten von einem immer umfassender werden-
den Zusammenhang her verstehen und auslegen lernt.
Ein Ranke konnte noch in seinem "Politischen Ge-
spräch" seinem Wortführer (Friedrich) die Worte in den
Mund legen: "Aus den Extremen aber wirst du nicht
auf die Wahrheit schließen können. Die Wahrheit liegt
überhaupt außer dem Bereiche des Irrtums. Aus allen Ge-
stalten des Irrtums zusammengenommen könntest du sie
nicht abstrahieren: sie will gefunden sein, angeschaut,
an und für sich, in ihrem eigenen Kreise. Aus allen Ketze-
rden der Welt könntest du nicht entnehmen, was da:s
Christentum ist; du mußt das Evangelium lesen, um es
kennen zu lernen 1 ." Uns mutet ein solcher Standpunkt
als Ausspruch eines Bewußtseins an, das sich noch auf der
Stufe der Reinheit und Ahnungslosigkeit bewegt und die
Erschütterung, die das Wissen nach dem Sündenfall be-
sitzt, noch gar nicht kennt. Allzuoft haben wir es aber er-
lebt, daß die in apodiktischer Schauerfaßte Totalität nach-
her sich als die beschränkteste Partikularität enthüllte und
daß sjch ein problemloses Festlegen auf ·einen sich be-
liebig anbietenden Standpunkt am sichersten den Weg
zu einer heute bereits möglichen, immer mehr sich be-
reichernden Übersicht und zum kontinuierlichen Inten-
dieren der Totalität verbaut.
Totalität bedeutet deshalb in unserem Sinne nicht eine
nur einem göttlichen Auge zumutbare, unmittelbare, ein
für allemal gültige Schau, nicht ein relativ in sich geschlos-
senes, auf Ruhe tendierendes Bild. Totalität bedeutet Par-
tikularsichtell in sich aufnehmende, diese immer wieder
sprengende Intention auf das Ganze, die sich schrittweise
im natürlichen Prozeß des Erkennens erweitert und als Ziel
nicht einen, zeitlos geltenden Abschluß, sondern eine für
uns mögliche maximale Erweiterung der Sicht ersehnt.
An einem einfachenFall desLebensdargestellt,lebtinder
Intention einer Totalsicht ein Mensch, der etwa zunächst,
in eine Lebenslage gestellt, konkrete Einzelaufgaben erfüllt,
dann aber erwacht und plötzlich die seinsmäßigen Grund-
lagen seiner sozialen und geistigen Existenz erkennt. Er
mag sich, während er objektiv ausschließlich auf seineAuf-
gaben gerichtet lebte, viel absoluter genommen haben, und
1
Ranke: Das politische Gespräch. Hrsg. Rothacker, Halle a.d.S.
1925, s. 13.
doch war seine Sicht bis zum Wendepunkt partikular und
in diesem Sinne borniert. Die Intention zur Erfassung des
eigenen Tuns im Elemente einer Totalität erwachte im
Augenblick, wo er sich zum ersten Male als Teil einer kon-
kreten Situation empfand. Vielleicht dringt sein Blick hier-
bei nicht weiter, als sein beengter Lebenskreis es ihm er-
laubt, vielleicht ist seine Situationsanalyse zunächst inhalt-
lich nur auf eine kleine Stadt und dort nur auf einen Ge-
sellschaftskreis beschränkt, und doch ist das Sich-Begeg-
nenlassen der Ereigniss~ und Menschen sub speci~ "Si-
tuation", in der man selbst sich befindet, etwas völlig
anderes, als durch Einwirkungen bewegt, durch Impres-
sionen direkt betroffen, einfach zu reagieren.Die Situations-
analyse, als Methode der Weltorientierung einmal erfaßt,
treibt ihn als eine neue, bewegende Intention sicher über
den engen Lebenskreis seines Städtchens hinaus, so daß
er sich verstehen lernt aus der augenblicklichen nationalen
Existenz, und diese wieder aus der globalen Situation. Ge-
nau so vermag er, wenn er die zeitliche Eingliederung er-
fassen w.i,ll, seine augenblickliche Situation aus der Epoche,
in der er lebt, die Epoche selbst aus der ganzen historischen
Zeit als Teil zu erfassen.
Diese Art der Situationsorientierung enthält strukturell
hier im kleinen jenes Phänomen abgebildet, das wir die
immer weitertreibende Intention zur Totalität nennen. Sie
handhabt denselben Stoff, den die Empirie in Gestalt von
Partikularbeobachtungen zur Kenntnis nimmt, nur ist hier
die Intention völlig anders ausgerichtet. Dieses Situations-
sehen ist die natürliche Denktechnik jeder erhobenen Le-
benserfahrung (die meisten Einzelwissenschaften dena-
turieren zumeist diesen Zugriff, weil sie nach spezialisierten
Gesichtspunkten den Gegenstand konstituieren). In der
Wissenssoziologie geschieht eigentlich nichts anderes, als
daß wir uns auch unsere kritisch gewotdene Denklage in
Gestalt eines Situationsberid:~tes uns begegnen lassen und
die Zusammenhänge von einer auf die Totalität ausge-
richteten Intention durchdringen.
Tauchen in einer so komplizierten Lage und in einer
so abgestuften Denkentwicklung wie in der unsrigen neue
Denksituationen auf, so muß der Mensch gewissermaßen
von neuem denken lernen, denn der Mensch ist ein Wesen,
das seiner Geschichte immer wieder von neuem gewachsen
sein muß.
Unserem Denken gegenüber befanden wir uns aber bis-
her (trotz aller Logik) in einer ähnlichen Lage wie der
naive Mensch der Welt gegenüber: er handelt zwar aus
einer Situation heraus,aber die Situation selbst, aus der heraus
er handelt, erkennt er nicht. Genau so abe!, wie es in der
politischen Geschichte einen Augenblick gab, wo die imma-
nenten Schwierigkeiten des Handeins aus einer Situation
ohne Reflexion auf diese Situation nicht mehr direkt zu
bewältigen waren und der Mensch es immer mehr lernen
mußte, zu handeln, indem er die Sitl.!ation zunächst nur
anschaulich, dann aber auch strukturell beherrschte, - so
ist es nur ein natürliches Fortschreiten dieser Intention,
wenn er die Krise seiner Denklage als Situation erfaßt und
im Anschluß daran ihre Struktur Schritt für Schritt
immer .klarer durchschaut.
Nicht durch übereiltes, gereiztes Abtun der neu auf-
tauchenden Probleme kann man eine Krisis lösen, auch
nicht dadurch, daß man sich in vergangeneu Sekuritäten
vergräbt, sondern durch ·ein allmähliches Ausweiten und
Vertiefen der gewonnenen neuen Sicht und durch allmäh-
liche Vorstöße in der Richtung der Bewältigung. Als erste,
. die Situation zunächst abtastende Versuche, neu sichtbar
Werdendes, wo es möglich ist, zu fixieren und in diesem
Zusammenhang auftauchende Probleme in ihrer eigenen
Richtung zu verfolgen, wollen die beiden folgenden Ab-
handlungen aufgenommen werden. Sie sind, wie er-
wähnt, unabhängig voneinander entstanden und eine jede
6
bewegt sich in einem eigenen Zusammenhang auf ein sich
selbst gesetztes Denkziel hin. Um ihre innere Einheit nicht
zu zerstören und um den Wegcharakter der Gedanken zu
wahren, sind manche Ausführungen und Beobachtungen,
die sich stellenweise wiederholen - sofern sie aus der
Gedankenentwicklung heraus aktuell wurden und einen
neuen Stellenwert erhielten -, nicht gestrichen worden.
66
IST POLITIK ALS WISSENSCHAFT
MOGLICH?
(Das Problem der Theorie und Praxis.)
E
in zunächst ungelöstes Strukturgesetz regelt das Auf-
kommen und den Untergang der uns jeweils beschäf-
tigenden Probleme. Auch das Entstehen und das
Absterben ganzer Wissenschaften wird letzten Endes ein-
mal auf bestimmte Faktoren reduziert und von hier aus
erklärt werden können. In der Kunstgeschichte gibt es
bereits Versuche, die Frage zu beantworten, warum und
wann die Plastik, die Reliefkunst usw. entstehen und zur
dominierenden Kunstgattung werden. In ähnlichem Sinne
wird es immer mehr zur Aufgabe gerade der Wissens-
soziologie werden, diesen Strukturbedingungen des Auf-
kommens und Verblassens der Probleme und Disziplinen
nachzugehen. Denn von der Soziologie aus gesehen kann
auf die Dauer das Auftauchen und das Durchdenken eines
Problems nicht allein vom Vorhandensein bestimmter
großer Individuen und Begabungen abhängig gemacht
werden, sondern von der Gestalt und Reife eines Problem-
zusammenhangs, in dem das besondere Problem entsteht.
Dieser Problemzusammenhang wieder muß aber in seinem
ganzheitlichen Charakter und in seinem Vorhandensein
(nicht in allen seinen Einzelheiten) letzten Endes verständ-
lich werden vom totalen besondern Lebenszusammen-
hang der dahinterstehenden Gesellschaft. Der einzelne
Denker mag den Eindruck haben, als kämen ihm die ent-
scheidenden Einfälle unabhängig vom Gesamtzusammen-
hang ; der in enge Lebenskreise gebannte Einzelmensch
kann den Eindruck haben, als wären die Ereignisse, die
ihm zustoßen, isolierte, ihm schicksalhaft begegnende
Fakta: die Aufgabe der Soziologie ist aber nicht, aus dieser
begrenzten Sicht, aus dieser "Froschperspektive" der
s*
Vereinzelung die auftauchenden Sinngehalte, die aktuellen
Probleme und Ereignisse zu erfassen, sondern alle diese
scheinbar isolierten Tatsachen aus dem ursprünglichen,
stets vorhandenen, aber stets anders strukturierten Lebens-
und Erfahrungszusammenhang zu verstehen und ihren
Ort in ihm aufzusuchen. Wird einmal die Wissenssozio-
logie dieser Fragestellung in konsequenter Weise nach-
gehen können, so werden manche Probleme, die bisher,
zumindest was ihr Entstehen betrifft, rätselhaft waren, ge.:.
klärt werden. Es wird sich u. a. zeigen lassen, warum die
Nationalökonomie und die Soziologie selbst erst so spät
entstehen mußten, warum sie sich in einem Lande steigend
durchsetzten und in anderen Ländern großen Hemmungen
begegneten usw. Für eine solche Problemstellung wird es
auch vielleicht lösbar werden, was für uns bisher stets als
rätselhaft erschien: warum gerade Politik noch nicht zur
Wissenschaft geworden ist. Diese Tatsache muß um so
mehr verwundern, als doch gerade unsere Epoche da-
durch charakterisiert ist, daß sie sich die konsequente
Durchrationalisierung der Welt zum Ziele gesetzt hat.
Wir haben beinahe über alles ein Wissen und in jedem
Gebiete des Wissens bestehen Methoden der Mitteilung
und der geistigen Übertragung. Sollte gerade dieses Ge-
biet, von dessen Beherrschung unser aller Schicksal ab-
hängt, so spröde sein, daß es der Forschung sein Geheim-
nis vorenthält? Man kann dem Beunruhigenden und Rät-
selhaften dieses Problems nicht entgehen, und so mancher
wird sich schon einmal gefragt haben: Handelt es sich
hier um ein "noch nicht", um eine historisch zu früh ein-
setzende Fragestellung, oder aber um eine Grenze des
Wißbaren, die ein für allemal unüberschreitbar ist?
Für die erste Vermutung spricht die bereits erwähnte
Tatsache, daß die Wissenschaften von · der Gesellschaft
selbst noch allerjüngsten Ursprunges sind. Man könnte
sich also aus der Unfertigkeit ~er grundlegenden Wissen-
68
schaften das Unfertige dieser "angewandten" Disziplin
erklären. Wir stünden dann nur vor einer durch die
Zeit ohne weiteres überwindbaren Rückständigkeit. Es
bedürfte nur. noch weiterer forschender Arbeit, um die
Gesellschaft zu einem gleich der Natur beherrschbaren Ob-
jekt zu machen.
Für die zweite Annahme spricht das unbestimmte Ge-
fühl in uns, daß es sich in der Politik um einen ganz anders
gearteten Bereich des Daseins handelt, dessen rein ratio-
naler Erforschung andere Schwierigkeiten als sonst imWege
stehen. Dann würde der wissenschaftliche Versuch an der
besonderen Eigenart dieses Daseinsbezirkes scheitern.
Schon eine richtige Fragestellung würde hier vieles
leisten, das Wissen vom Nichtwissen würde eine bestimmte
Beruhigung bedeuten, wüßten wir dann doch zumindest
klar, warum hier keine Wißbarkeit und Mitteilbarkeit mög-
lich ist. So besteht nun die erste Aufgabe darin, die Pro-
blemstellung selbst klar darzustellen. Was meint man,
wenn man sich fragt: Ist Politik als Wissenschaft
möglich?
Es gibt in der Politik Gebiete, die ohne weit:t:res erkenn-
bar und lehrbar sind. Ein geschulter, ausgebildeter Po-
. litiker muß oder sollte doch die Geschichte des Landes
kennen, in dem er wirkt; ebenso auch die Geschichte der
Länder~, mit denen das seine verbunden und in deren Wech-
selspiel die eigene politische Umwelt geworden ist. So sind
zunächst Erkenntnisse der Geschichtsschreibung und der
sie ergänzenden Statistik nützlich für das eigene politische
Handeln. Ferner muß der Politiker die staatlichen Einrich-
tungen der Länder kennen, die für sein Handeln in Be-
tracht kommen. Aber nicht nur juristisch muß und soll
der vollwertige Politiker geschult sein, er muß auch über
die sozialen Verhältnisse orientiert sein, aus denen und
für welche diese Einrichtungen da sind. Andererseits muß
er im Bilde sein über die politischen Ideen, in deren
Tradition er lebt. Auch die Ideenwelt seiner Gegner darf
ihm nicht fremd sein. Dazu kommen noch viel schwerer
erfaßbare Dinge, über die es ein Wissen gibt, das gerade
in unserer Zeit immer mehr ausgebaut wird· die Technik
der Massenbeherrschung, ohne die man in Massendemo-
kratien nicht auskommen kann. Geschichte, Statistik,
Staatslehre, Soziologie, Ideengeschichte, Massenpsycholo-
gie stellen also eine beliebig zu erweiternde Reihe von
Wissensgebieten dar, die für den Politiker bedeutsam sind.
Käme es hier darauf an, etwa einen Lehrplan der Kennt-
nisse aufzustellen, die einem geschulten Politiker dienlich
sein können, dann müßte man so vorgehen. Alle diese
Wissenschaften bieten aber nur Realkenntnisse, dieman
brauchen kann, wenn man Politiker ist. Sie ergebenaber
auch in ihrer Gesamtheit nicht die Politik als Wissenschaft
und könnten höchstens in ihrer Funktion als Hilfswissen-
schaften gewürdigt werden. Verstü.Üde jemand unter Po-
litik nur die Gesamtheit aller jener Realkenntnisse, die für
das politische Handeln nützlich sind, so wäre Politik in
diesem Sinne ohne weiteres Wissenschaft und !ehrbar. Das
pädagogisch-didaktische Problem bestünde dann nur darin,
wie man die günstigste Auswahl aus dem unendlichen
Wissensstoff vom Standpunkte der handelnden Menschen
aus treffen sollte.
Aber schon diese etwas überspitzte Darstellung muß
davon überzeugen können, daß mit der ursprünglichen
Frage: wie ist Politik als Wissenschaft möglich und wie ist
sie lehrbar? nicht die Gesamtheit der erwähnten Realkennt-
nisse gemeint sein kann.
Wo liegt aber dann das Problem? ·
Die eben erwähnten Wissenschaften sind ihrem Aufbau
nach -insofern verwandt, als sie von der Gesellschaft und
vom Staate als von geschichtlich gewordenen Gegen-
ständen handeln. Politisches Handeln dagegen zielt . ab
auf Staat und Gesellschaft, sofern diese noch im Werden
70
begriffen sind. Das politische Handeln geht auf das Schöp-
ferische im Augenblick, um aus den strömenden Kräften
Bleibendes zu gestalten. Die Frage ist also die: Gibt
es ein Wissen vom Fließenden, Werdenden, ein
Wi'ssen von der schöpferischen Tat?
Hiermit ist die erste Stufe der Abhebung des gestellten
Problems erreicht. Was bedeutet dieser Gegensatz von Ge-
wordenem und Werdendem im Gebiete des Gesellschaft-
lichen?
Schäffle 1, ein österreichischer Soziologe und Politiker,
wies darauf hin, daß jedes gesellschaftlich-staatliche Leben
in jedem Augenblick in zwei Seiten zerlegbar ist: einmal
in eine gesellschaftliche Geschehensreihe, die, gleichsam
fest geronnen, immer wieder gleichmäßig sich wiederholt;
und weiter in jene Ereignisse, die im Zustande des Werdens
sind, wo also noch die im Einzelfalle zu treffende Ent-
scheidung Neuformungenlzustande zu bringen fähig ist.
Die erste Seite des gesellschaftlichen Geschehens nennt
Schäffle "laufendes Staatsleben", die zweite "Po-
litik". Vergegenwärtige man sich zunächst an Hand dieser
Unterscheidungen an einigen Beispielen, was hiermit ge-
meint ist.
Erledigt man im gewöhnlichen Amtsleben laufende Ge-
schäfte nach bestehendenRegeln und Vorschriften,
so ist das nach Schäffle keine Politik, sondern Verwaltung.
Verwaltung ist aber vorzüglich das Ge biet, wo das "laufende
Staatsleben" paradigmatischerfaßbar wird. Dort, wo man
also nach im voraus festgesetzten Vorschriften den jeweils
auftauchenden Fall erledigt, handelt es sich nicht umPolitik,
sondern um jenes Gebiet des Festgeronnenen im gesell-
schaftlichen Dasein. Sehr anschaulich verwendet Schäffle
hierbei einen Ausdruck der Amtspraxis. Kommt nämlich
1
Vgl. zum folgenden: Schiijfle, A.: Über den wissenschaftlichen
Begriff der Politik. Zeitschr. für die gesamte Staatswissenschaft Bd. 53,
1897·
einmal ein Fall vor, der nach dem "Schema F", also nach
Präzedemfällen, erledigt werden kann, so spricht man von
"Schimmel", ein Ausdruck, der auf das lateinische Wort
"simile" zurückgeht und besagen will, daß der Fall "ähn-
lich" zu erledigen sei wie die Präzedenzfälle.
Man tritt aber sogleich in das Gebiet der "Politik" ein
etwa bei folgenden Vorgängen: wenn Gesandte fremde
Staaten für bisher noch nicht vorhandene Abmachungen
gewinnen, wenn Abgeordnete im Parlament Steuervor-
schläge durchsetzen, wenn jemand eine Wahlagitation be-
treibt, wenn oppositionelle Gruppen eine Revolte vorbe-
reiten oder Streiks organisieren oder aber auch, wenn diese
niedergeschlagen werden.
Es muß aber nunmehr zugegeben werden, daß die
Gremen, wie bei allen solchen Unterscheidungen, in .der
Wirklichkeit flüssig sind. · So kann auch im laufenden .
Staatsleben durch eine langsame Verschiebung in der Reihe
der konkreten Anwendungen etwas Neues werden. Und
umgekehrt kann eine soziale Bewegung z. B. weitgehend
durchsetzt sein von "stereotypisierten", bureaukratisie-
renden Elementen. Dabei bleibt aber doch der Gegensatz
von "laufendem Staatsleben" und "Politik" eine Polarität,
die als orientierender Ausgangspunkt sehr fruchtbar ist.
Faßt man diesen Gegensatz primipieller, so kann man
zunächst folgendes festlegen:
Jeder gesellschaftliche Prozeß ist zerlegbar in festge-
ronnene Bestandteile, "rationalisierte Gebiete", und in
einen "irrationalen Spielraum", von dem die ersteren um-
schlossen werden 1 •
72.
Wir unterscheidenalso das "rationalisierte Gefüge"
in der Gesellschaft und den "irrationalen Spielraum".
Und hier ergibt sich schon eine weitere Feststellung
von selbst. Unsere Welt ist dadurch charakteri-
siert, daß sie die Tendenz hat, womöglich alles
zu rationalisieren, verwaltungsmäßig gestaltbar
zu machen nnd den irrationalen Spielraum ver-
schwinden zu lassen.
Was hiermit gemeint ist, ist an ganz einfachen Beispielen
darstellbar. Man stelle sich etwa eine Reise vor 150 Jahren
vor, bei der man stets tausend Zufällen ausgesetzt blieb.
Jetzt ist alles fahrplanmäßig geregelt,_der Fahrpreis ist
exakt kalkuliert, eine lange Reihe verwaltungsmäßiger
Handlungen hat das Verkehrswesen zu einem rational
geleiteten gemacht.
Die Feststellung dieses Gegensatzes von rationalisier-
tem Gefüge und irrationalem Spielraum führt nun dazu,
die Möglichkeit zu finden, um den Begriff des Handeins
zu bestimmen.
73
Es ist kein Handeln in unserem Sinne, wenn ein Bu-
reaukrat ein Aktenbündel nach vorgegebenen V orschrif-
ten erledigt. Es liegt auch kein Handeln vor, wenn ein
Richter einen Fall unter einen Paragraphen subsumiert,
wenn ein Fabrikarbeiter eine Schraube nach vorgeschrie-
benen Handgriffen herstellt, aber eigentlich auch dann
nicht, wenn ein Techniker generelle Gesetze des Natur-
ablaufs zu irgendeinem Zwecke kombiniert. Alle diese
Verhaltungsweisen sollen als reproduktive bezeichnet
werden, weil diese Handlungen in einem rationalisierten
Gefüge nach Vorschriften ohne persönliche Ent-
scheidung vollzogen werden.
Handeln beginnt erst dort, wo der noch nicht rationa-
lisierte Spielraum anfängt, wo ni eh t regulierte Situationen
zur Entscheidung zwingen. Hier entsteht nun das Problem
des Verhältnisses von Theorie lind Praxis zueinander.
Darüber läßt sich aber auf Grund der vollzogenen Ana-
lysen schon jetzt einiges aussagen.
Über jenen Teil des gesellschaftlichen Lebens, in dem
alles und das Leben selbst rationalisiert und organisiert
ist, gibt es ohne weiteres ein Wissen. Das Problem der
Spannung von Theorie und Praxis entsteht gar nicht. Denn
Unterordnung unter ein allgemeines Gesetz ist ein Voll-
zug, den man noch nicht mit Praxis bezeichnen kann.
So weitgehend jedoch unser Leben rationalisiert ist,
so sind dennoch alle diese Rationalisierungen nur Teil-
rationalisierungen, denn die allerwichtigsten Gebiete un-
serer Gesellschaftssphäre sind auch im heutigen Stadium
noch irrational fundiert. Unsere Wirtschaft, obzwar tech-
nisch weitgehend durchrationalisiert, in Partialzusammen-
hängen exakt berechenbar, ist dennoch nicht zu einer Plan-
wirtschaft verbunden. Sie beruht trotz aller Tendenzen
zur Vertrustung und Organisierung im entscheidenden
Punkte auf der freien Konkurrenz. Unser gesellschaftliches
-=- Gefüge ist klassenmäßig aufgebaut. Die Machtkompe-
74
tenzen im staatlichen und zwischenstaatlichen Leben sind
im irrationalen Kampfe errungen, wo also die Entschei-
dungen des Schicksals ausschlaggebend sind.
Von diesen beiden irrationalen Zentren der gesellschaft-
lichen Struktur aus gestaltet sich aber jener Spielraum, in
dem das nicht organisierte, nicht rationalisierte Leben
zur Geltung kommt, in dem Handeln und Politik nötig _
werden. Aber noch mehr, von hier aus strahlen und ge-
stalten sich auch alle jene tieferen Irrationalismen, die das
überökonomische Leben, unsere innerste Erlebnissphäre,
erfüllen. Soziologisch gesehen ist hier der Ort, wo ihr kol-
lektiv~s Verdrängt- oder Umgeformtwerden ansetzt und
strukturell zu erfassen ist.
Gibt es über diesen Spielraum und über das darin
mögliche Handeln ein Wissen? So muß jetztdieFrage
gestellt werdent.
Und damit ist das ursprüngliche Problem in seiner höch-
sten Form gestellt, in der eine Klämng erreichbar erscheint.
Erst jetzt, nachdem festgestellt wurde, wo das Gebiet der
Politik eigentlich beginnt, wo ein Handeln seiner Natur
nach überhaupt einsetzen kann, lassen sich die besonderen
Schwierigkeiten bezeichnen, die in der Beziehung zwischen
Theorie und Praxis bestehen.
Die großen Schwierigkeiten, die sich einem Wissen über
diesen Spielraum entgegenstellen, bestehen darin, daß es
sich hier nicht um starre Gegen·ständlichkeiten
handelt, sondern um Tendenzen, um fließende, im Werden
1 Auch diesmal sei bemerkt, daß der hier zur Anwendung ge-
75
begriffene, sich stets umformende Strebungen und Ente-
lechien. Sie bestehen weiter darin, daß sich hier die Kon-
stellation der zusammenwirkenden Kräfte stets ändert.
Wo konstant dieselben Kräfte wirken und auch deren Zu-
sammenspiel geregelt ist, da kann man generelle Gesetz-
mäßigkeiten fixieren. Wo aber das ste_te Neueinsetzen
neuer Tendenzen in immer unberechenbareren Kombi-
nationen möglich ist, ist gesetzmäßiges Forschen erschwert.
Drittens bestehen die Schwierigkeiten darin, daß der den-
kende Theoretiker nicht außerhalb jenes Spielraumes steht,
sondern selbst an jenen sich bekämpfenden Kräften be-
teiligt ist. Diese Beteiligung bindet ihn einseitig in seinen
Wertungen und Willensimpulsen.
Aber noch mehr - und das ist das Wichtigste -, nicht
nur durch Wertungen und Willensimpulse ist der poli-
tische Theoretiker an irgendeine der sich bekämpfenden
politischen Strömungen gebunden: die besondere Art der
Problemstellung, die allgemeinste Art Seiner Denkweise
bis in die kategoriale Apparatur hinein verrät eine Ver-
bundenheit mit dem vital politischen Untergrunde, so
daß man im Gebiete des politisch-historischen Denkens
meines Erachtens von Verschiedenheiten der Denkstile
sprechen muß, deren Differenz bis in das Gebiet der Logik
hineinragt. •
Sicherlich liegt in dieser Tatsache die größte Schwierig-
keit einer Politik als Wissenschaft im üblichen Sinne. Denn
es kann doch ein Wissen vom Handeln, unseren normalen
Erwartungen gemäß, nur dann möglich sein, wenn das
Denken zumindest in seiner grundlegenden Struktur dem
Kräftespiel gegenüber unabhängig ist. Mag das Subjekt,
das denkt, am Kampfe mitengagiert sein: die Denkbasis,
von der aus man sieht, auf der man Differenzen ausficht,
muß dem Kampfe enthoben sein. Da ein Problem aber
nur dann gelöst ist, wenn man die Schwierigkeiten nicht
verwischt, sondern sie im Gegenteil auf die Spitze treibt,
so muß es die nächste Aufgabe sein, diese letzte Behaup-
tung, daß im Gebiete der Politik bereits die Art der Pro-
blemstellung und Denkweise uneinheitlich ist, zu erhärten.
77
Staatswissenschaften in Deutschland ohne weiteres ver-
stehbar sein.
Das Bestreben, das Gebiet der Politik durch das Phäno-
men der Verwaltung zu verdecken, erklärt sich daraus, daß
der Wirkungskreis des Beamten erst a'Qf Grund des zu-
standegekommenen Gesetzes einsetzt. Die Entstehung des
Gesetzes fällt seinem Arbeitsbereich entsprechend nicht in
seinen Kompetenzkreis. Infolge dieser sozial-vitalen, stand-
ortsmäßigen Gebundenheit sieht der Beamte nicht, daß hin-
ter einem jeden zustandegekommenen Gesetz weltanschau-
liche, willensmäßige, interessenmäßig-soziale Kräfte stehen.
Er setzt ohneweiteres die positive Ordnung, die das konkrete
Gesetz vorschreibt, einer Ordnung überhaupt gleich und
sieht aus eigenen Kräften nicht, daß jede rationalisierte Ord-
nung nur eine besondere Ordnung, ein Ausgleich der meta-
rationalen Kräfte ist, die sich im sozialen Raume bekämpfen.
Diese verwaltungsmäßig-juristische Denkweise arbeitet
mit einer spezifischen Ratio: Wenn· diese die noch
ungebundenen Kräfte gelegentlich doch zu Gesicht be-
kommt, etwa in Gestalt eines Ausbruchs von Massen-
kräften in einer Revolution, so kann sie diese eben nur als
einen Störungskoeffizienten erfassen. Es ist deshalb auch
kein Wunder, wenn bei jeder Revolution die Bureaukratie
die Tendenz hat, dem Politischen nicht auf seinem eigenen
Boden zu begegnen, sondern die Abhilfe in Verordnungen
zu suchen. Revolution ist hier Unregelmäßigkeit innerhalb
der geregelten Ordnung, nicht aber Lebensausdruck der
hinter den Ordnungen stehenden gesellschaftlichen Kräfte,
.welche allein Ordnungen schaffen, erhalten oder umformen.
Das juristisch-verwaltungsmäßige Denken baut ..rtur ge-
schlossene statische Systeme und steht stets vor der para-
doxen Aufgabe, die aus den unsystematischen lebendigen
Kräften entstehenden neuen Gesetze in ihr System einzu-
bauen, also so zu tun, als ob ein grundlegen9.es System
weitergebaut worden wäre. ·
Ein typisches Beispiel militärisch-bureaukratischer Men-
talität ist jede Art von Dolchstoßlegende, die den Ausbruch
der sozialen Kräfte immer nur als eine Durchbrechung des
eigenen strategischen Geschehenszusammenhanges zu er-
leben imstande ist. Denn dem militärischen Bureaukraten
schwebt nur die besondere Sphäre der militärischen Ak-
tionen vor, und wenn dort alles glatt verläuft, muß auch
das übrige Leben in Ordnung sein. Diese Mentalität er-
innert in ihrer Ressortweisheit an jenen medizinischen Ulk:
Die Operation ist glänzend gelungen, nur ist der Patient
gestorben.
Jeder Bureaukratie liegt also, dem eigenen standorts-
mäßigen Schwergewicht entsprechend, die Tendenz nahe,
das eigene Ressort zu hypostasieren bzw. nicht zu sehen,
daß das Gebiet der Verwaltung und des geregelten Ab-
laufs nur ein Teil der gesamten politischen Wirklichkeit
ist. Das bureaukratische Denken leugnet also die Möglich-
keit einer wissenschaftlichen Politik nicht, es setzt sie aber
einer Verwaltungslehre gleich. Dabei wird aber nun das
Gebiet des irrationalen Spielraumes übersehen, und sobald
sich dieses dennoch aufdrängt, wird es behandelt wie das
"laufende Staatsleben". Eine klassische Ausprägung dieser
Denkweise enthält der folgende Satz, der aus diesen Krei-
sen stammt: "Wir stellten eine gute Verwaltung über die
beste V erfassung1 ".
Neben dem bureaukratischen Konservatismus, der
Deutschland, insbesondere Preußen, weitgehend regierte,
bildete sich parallel eine zweite Art des Konservatismus
aus, den man den historistischen benennen könnte. So-
zial hatte er seinen Sitz im Adel und in allen jenen bür-
gerlichen Schichten der Intelligenz, die geistig und real
das Land beP.errschten, aber stets in einer bestimmten
Spannung zu den bureaukratischen Konservativen standen.
1 Nekrolog des Pandektisten Bekker über Böhlau. Zeitschr. der
Savigny-Stiftung. Germanist. Abtlg., Bd. 8, S. Vlff.
79
Insbesondere die deutschen Universitäten und hier die.Ge-
schichtsschreibung prägten diese Denkweise aus, die auch
heute noch weitgehend ihre Pflege in deren Bezirken erhält.
Der historistische Konservatismus ist dadurch charak-
terisiert, daß er jenen irrationalen Spielraum im Staats-
leben, der durch Verwaltung nicht ersetzt werden kann,
kennt. Er sieht jenes nicht organisierte, nicht kalkulierbare
Gebiet, bei dem Politik einzusetzen hat. Er richtet gerade-
zu sein Hauptaugenmerk auf die willensmäßigen, irra-
tionalen Bezirke des Lebens, in denen Staat und Gesell-
schaft eigentlich weiterwachsen. Die Kräfte nimmt er je-
doch als völlig übervernünftige an, als solche, in deren
Bezirk menschlicher Verstand nichts auszurichten, nichts
zu leisten vermag. Hier können nur traditional vererbter
Instinkt, "still wirkende" seelische Kräfte, der "Volks-
geist" etwas ausrichten, indem sie, aus dem Unbewußten
schöpfend, das Werdende gestalten.
Diese Ansicht hatte bereits Bur k e, das Vorbild der
meisten deutschen Konservativen, am Ende des 18. Jahr-
hunderts eindrucksvoll in die Worte gefaßt: "Die Wissen-
schaft, einen Staat zu bauen oder wiederherzustellen oder
zu verbessern, kann wie jede andere Erfahrungswissen-
schaft a p ri o ri nicht gelehrt werden, und die Erfahrung,
die uns in dieser bloß praktischen Wissenschaft unter-
richten soll, darf keine kurze Erfahrung seyn1 ."
Die soziologische Wurzel dieses Satzes ist ohne weiteres
erfaßbar. Was hier zum Ausdruck kommt, ist eine Ideo-
logie für die führenden adligen Geschlechter in England
und sollte auch in Deutschland-zur Legitimierung der ad-
ligen Führung im Staate dienen. Jenes "jene sais quoi" in
der Politik, das nur in langer Erfahrung erworben werden
kann, das ·womöglich nur jenen sich offenbart, die schon
lange Generationen hindurch an der politischen Führung
1 Burke, E.: Betrachtungen über die französische Revolution,
übersetzt von Fr. Gentz, zit. nach: Neue Aufl., Berlin 1794, S. 83.
8o
teilhaben, soll zur Legitimierung ~er Standesherrschaft
dienen.
Es erhellt daraus, in welcher Weise auch hier der sozial-
vitale Impuls bestimmten Bezirken sozialen Seins gegen-
über hellsichtig macht. War für den Bureaukraten die
Sphäre des Politischen katexochen durch die V e~altung
verdeckt worden, so lebt der Adlige von vornherein in
eben dieser Sphäre des Politischen. Gerade jenes Gebiet
hat er von Anfang an im Auge, in dem innerstaatliche und
außerstaatliche Machtsphären aufeinanderstoßen, in dem
nichts ausgeklügelt und deduziert wird, also nicht die
individuelle Vernunft entscheidet, sondern jede Lösung,
jedes Ergebnis Ausgleich eines realen Kräfte_spiels ist.
Die Theorie des historistischen Konservatismus, die im
wesentlichen ein Reflexivwerden der altständischen Tra-
ditionen ist1 , hat ihre Untersuchungen über Politik in der
Tat an dieser über die Verwaltung hinausragenden Sphäre
orjentiert. Diese Sphäre wird als eine/ völlig irrationale
betrachtet, die nicht gemacht werden kann, sondern von
selbst wächst. Und so ist auch der Gegensatz zwischen
planmäßigem Machen und Wachsenlassen die ent-
scheidende Alternative, auf die dieses Denken alles bezieht2 •
Es genügt also zum politischen Führer nicht das Wis-
sen des Richtigen, das Beherrschen bestimmter Gesetze
und Normen, sondern es muß jener angeborene und durch
lange Erfahrung geschärfte Instinkt hinzukommen, der
das Richtige findet.
In dieser Irrationalisierungstendenz verbindet sich der
vorkapitalistische traditionalistische Irrationalismus, für
den das Rechtsdenken z. B. auch ein Finden und nicht Er-
rechnen, Erkennen ist, mit dem romantischen Irrationalis-
mus. So wird eine Denkweise geschaffen, die die Geschichte
1
Vgl. meine Untersuchung: Das konservative Denken, a. a. 0 .
s. 89, 105, IBff.
2
Ebd. S. 472., Anm. 12.9.
7 81
selbst als ein Walten solch vorrationaler oder überrationa-
ler Kräfte begreift. Aus dieser geistigen Haltung heraus
hat auch ein Ranke, als der vornehmste Vertreter der
historischen Schule, das Verhältnis von Theorie und Praxis
bestimmt1 • Für ihn ist Politik keine lehrbare, selbständige
Wissenschaft. Der Politiker kann wohl mit Nutzen die Ge-
schichte studieren, aber nicht, um aus ihr Regeln des Han-
deins zu gewinnen, sondern weil sie geeignet ist, den po-
litischen Instinkt zu schärfen. Man kann diese Denkweise
als die Ideologie der traditionell führenden, nicht an der
Bureaukratie beteiligten politischen Gruppen betrachten.
Stellt man die beiden bisher behandelten Lösungen ein-
ander gegenüber, so läßt sich sagen, daß der Bureaukrat
das Gebiet der Politik verdeckt, der Historist aber es um so
schärfer und ausschließlicher als ein irrationales sieht, wenn
er auch einzig und allein die traditionelle Komponente im
Geschehen und im handelnden Subje~te betont. Damit ge-
langt man zu dem großen Gegenspieler dieser ursprünglich
aus dem ständischen Bewußtsein aufsteigenden Theorie,
zu dem liberal-demokratischen Bürgertum 2 und
seinen Lehnm. Das Bürgertum kam mit einem extremen
Intellektualismus auf. Unter Intellektualismus soll dabei
eine Denkweise verstanden werden, die das willens-, in-
teressen- und gefühlsmäßige, weltanschauliche Element
in Leben und Denken entweder gar nicht sieht oder aber
so behandelt, als wäre es dem Intellekt gleich und durch
die Vernunft .ohne weiteres zu bewältigen.
von diesmal nur das Nötigste für den folgenden Zusammenhang hier
vorgehen, so muß man jene Einseitigkeiten, die noch der
ursprünglichen Konzeption anhaften, abstreifen. Es sollen
hierbei für unsere Zwecke vorerst nur zwei Korrekturen
vorgenommen werden.
Es ist zunächst leicht aufweisbar, daß der sozialistisch-
kommunistische Denkende das Ideologische im politischen
Denken nur beim Gegner beobachtet, während sein eigenes
Denken für ihn unbestritten als ein überideologisches gilt.
Der Soziologe hat keine Veranlassung, die durch den Mar-
xismus gewonnene Einsicht nicht auch auf den Marxis-
. mus selbst anzuwenden und auch hier von Fall zu Fall
den ideologischen Charakter zu beleuchten.
Ferner muß klargelegt werden, daß ·hier der Ideologie-
begriff nicht im Sinne der negativ bewerteten, bewußten
politischen Lüge gebraucht wird, sondern daß er den einer
bestimmten historischen und sozialen Seinslage notwen-
digerweise zugehörenden Aspekt, die damit verbundene
Weltanschauung und Denkweise bezeichnen soll. Diese
mehr geistesge.schichtlich relevante Bedeutung ist von der
anderen streng zu trennen. Natürlich bleibt es dabei un-
benommen, in anderen Zusammenhängen auch die ~e-
. wußte politische Lüge enthüllend zu erfassen.
Hiermit bleibt das absolut Positive und für die wissen-
schaftliche Forschung selbst zu Verwertende am Ideologie-
. begriff bestehen. Es wird in ihm die Einsicht angedeutet,
und diese gilt es aus der einseitig politischen Verkapsdung
herauszuheben und konsequent auszubauen, daß jedes po-
litisch-historische Denken notwendigerweise sozial-vital
86
Fragt man heute einen geschulten Kommunisten im
Sinne des Leninismus, wie in Wirklichkeit seine Zukunfts-
1 Marx: Zur Kritik der politischen Ökonomie, 3. Aufl., I 909, S. LV. '-
2 Marx-Engels-Archiv, hrsg. v. D. Rjazanov. Frankfurt-a. M., 1.,
s. 2J2.
gesellschaft aussehen wird, so wird er antworten, das sei
eine undialektische Frage, · t cbe.i sich im
dialektisch er.den.
as ist aber 1ese Realdialektik?
Sie besagt, daß man nicht a priori berechnen kann, wie
etwas sein soll und sein wird. Nur die Richtung des Werdens
liegt in uns. Das stets konkrete Problem kann nur der
nächste S eh ritt sein. Das politische Denken hat hier nicht
die Aufgabe, ein absolutes Rfchtigkeitsbild aufzustellen und
dann unhistorischdieWirklichkeit anzurennen. Die Theorie,
auch die kommunistische Theot;ie, ist Funktion des Wer-
dens. Das dialektische Verhältnis zwischen Theorie und
Praxis besteht darin, daß zunächst die Theorie - aus einem
sozialen Willensimpuls erwachsend - die Situation
klärt. Und indem man in diese so geklärte Situation hinein
handelt, verändert sich bereits die Wirklichkeit; wir bekom-
men.damit eine andere Lage·in ihr, aus der dann eine neue
Theorie entspringt. Die Bewegung is~ also f<;>lgen9.e ;
I. Theorie ist Funktion der Realität, .z. diese Theorie ver-
anlaßt zu bestimmtem Handeln, ; . das Handeln verändert
die Realität oder zwingt beim Nichtgelingen zur Revision
der vorangegangenen Theorie. Die durch Handeln v~r
änderte Realsituation läßt eine neue Theorie entstehen1 •
•
kann, sondern daß das Denken sich lichtet, indem man die
konkrete Situation durchdringt, wobei sich die Situation
ihrerseits klärt, nicht allein durch Handeln und Tun, son-
dern eben auch durch das mitagierende Denken.
So ist die sozialistisch-kommunistische Theo-
rie eine Synthese zwischen Intuitionismus und
extremem Rationalisierungswillen.
Intuitionismus ist vorhanden, weil man die absolute
Vorausberechnung auch der Tendenz nach ablehnt; Ra-
tionalismus, weil in jedem Augenblick das von neuem Er-
schaute rationalisiert werden soll. In keinem Augenblick
darf ohne Theorie gehandelt werden; aber die aus der Lage
entstehende Theorie befindet sich nicht mehr a uf dersel-
ben Ebene als die vorangehende 1 •
Es ist eben dies die Synthese des Menschen, der im irra-
tionalen Spielraum selbst sich befindet, der um diese Irra-
tionalität weiß, aber auf die Rationalisierung dennochnicht
verzichten will.
schafft:
"Die Geschichte überhaupt, die Geschichte von Revolutionen
im besonderen, ist immer inhaltsreicher, vielseitiger, lebensvoller,
,schlauer', als dies die besten Parteien, die bewußtesten Avant-
garden der vorgeschrittensten Klassen annehmen. Das ist auch ganz
verständlich. Denn die besten Avantgarden drücken das Bewußtsein,
den Willen, die Leidenschaft, die Phantasie von Zehntausenden aus;
die Revolution aber verwirklicht in den Augenblicken besonderen
Aufschwungs und der Anspannung aller menschlichen Fähigkeiten
das Bewußtsein, den Willen, die Leidenschaft, die Phantasie von
mehreren zehn Millionen, die vom schärfsten Klassenkampf aufge-
peitscht werden." (Lenin, Der Radikalismus, die Kinderkrankheit
des Kommunismus, Leipzig 192.0, S. 73·)
Interessant ist, daß von diesem Aspekt aus die Revolution nicht
als Steigerung der in den Menschen wohnenden Leidenschaft, als
bloße Irrationalität erscheint, denn diese Leidenschaft ist ja nur wert-
voll, weil sie die in millionenfach sich vollziehenden experimentieren-
den Denkakten aufgespeicherte Rationalität zusammenschießen läßt.
Darin ist das marxistische Denken dem konservativen
verwandt, daß es den irrationalen Spielraum nicht ver-
leugnet und ihn nicht etwa wie das bureaukradsehe Den-
ken verdeckt oder wie das liberal-demokratische rein
intellektualistisch behandelt, als ob er rational wäre. Es
unterscheidet sich aber vom konservativen Denken da-
durch, daß es in dieser relativen Irrationalität durch neu-
artige Rationalisierung erfaßbare Momente sieht1 •
Denn völlig irrational willkürlich und ganz unüberseh-
bar ist auch in diesem Denken der irrationale Spielraum
nicht. Zwar gibt es in diesem noch Werdenden keine
statisch fixierten, bestimmten Gesetzen gehorchenden, sich
immer wiederholenden Verhältnisse, alles überhaupt nur
Mögliche aber kann auch hier nicht entstehen. Und dies
ist doch das Ausschlaggebende. Das Wachsende, Neue
dokumentiert sich nicht in einer Reihe von unerwarteten
Ereignissen, sondern der politische Spielraum ist selbst
von Tendenzen durchsetzt, die sich zwar wandeln können,
./
91
die aber durch ihr jeweiliges Vorhandensein doch weit-
gehend die Arten möglichen Geschehens bestimmen.
Deshalb richtet sich auch dieses Denken in erster Linie
auf die Herausarbeitung und Rationalisierung aller jener
Tendenzen, die denjeweiligen Charakter des Spielraumes be-
einflussen. Die marxistische Theorie hat nun solche struktu-
rellenTendenzenindreifacherRichtungherausgearbeitet.
Sie weist zunächst darauf hin, daß der politische Spiel-
raum selbst getragen wird und immer charakterisierbar ist
durch den jeweiligen Status der hinter ihm stehenden Pro-
duktionsverhältnissse1. Die Produktionsverhältnisse
werden nicht statisch gesehen im Sinne eines stets sich un-
verändert wiederholenden Wirtschaftskreislaufes, sondern
dynamisch im Sinne eines Strukturzusammenhanges, der
selbst im Laufe der Zeit stets anders wird.
Zweitens wird gesehen, daß mit den Anderungen die-
ses ökonomischen Faktors die Umschichtung der Klassen-
verhältnisse am engsten verknüpft ist, was zugleich eine
Umschichtung der Arten der Macht und eine immer neu-
artige Verteilung der Machtkompetenzen bedeutet.
Drittens aber wird erkannt, daß die Ideenwelten, die
die Menschen jeweils beherrschen, in ihrem inneren Auf-
bau durchleuchtbar und erkennbar sind und sich in einer
Weise verändern, die es uns ermöglicht, die Struktur
dieser Veränderung theoretisch zu bestimmen.
Und, was noch viel wichtiger ist, diese dre~ Arten von
Strukturzusammenhängen werden nicht unabhängig von-
einander erkannt. Gerade ihr gegenseitig(;!r Zusammen-
hang wird zu einem einheitlichen Problemkreis. Die ideo-
logische Struktur verändert sich nämlich nicht unabhängig
von der klassenmäßigen, die klassenmäßige nicht unab-
hängig von der ökonomischen. Und gerade in dieser Ver-
---------------------------------------------•
"Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den
1
93
gemeinsam tradierte Gefühlsgehalte zusammengehalten
werden. Die Theoretisierung hat dort nur eine völlig se-
kundäre Funktion. Bei Gruppen dagegen, die primär nicht
durch Lebensgemeinschaft zusammengeschweißt sind,
sondern aus einer verwandten Strukturlage sich konsti-
tuieren, kann nur ein stark theoretisierendes Element den
Zusammenhalt gewährleisten. Dieses extreme Theoreti-
sierungsbedürfnis entspricht also, soziologisch gesehen,
der Klassenstruktur, wo Menschen nicht durch die Nähe,
sondern durch gemeinsame Lagerung im ausgeweiteten
sozialen Raume zusammengehalten werden müsseri. Ge-
fühlsmäßige Bindung strahlt nur in die Nähe, theoretisier-
tes Weltbild wirkt verbindend auch in die Ferne. So istein
rationalisiertes Geschichtsbild ein sozial bindender Faktor
für verstreute Gruppen im Raume und Bindeglied für
Generationsfolgen, die kontinuierlich in verwandte soziale
Lagerungen hineinwachsen. Bei der Klassenbildung sind
verwandte Lagerung im sozialen Raume und Theorie pri-
mär. Nachträglich sich dann herausbildende gefühlsmäßige
Bindungen sind immer irgendwie reflexiv und werden
stets mehr oder minder an der Theorie kontrolliert. Trotz
dieser extrem rationalisierenden Tendenz, die der proletari-
schen Klassenlage einfach innewohnt, findet diese Rationali-
tät dennoch ihre Grenze an der oppositionellen, noch mehr
an der schicksalsmäßig revolutionären Lage dieser Klasse.
Infolge des revolutionären Impulses kann die Rationali-
sierung nicht absolut werden. Wenn auch in moder-
nen Zeiten die Rationalisierung so weit greift, daß sogar
die Revolte, die doch ursprünglich die irrationale Erup-
tion katexochen ist, hier auf dieser Stufe organisiert wird1
"Der bewaffnete Aufstand ist eine besondere Form des politischen
1
Kampfes, die besonderen Gesetzen unterliegt und über die man genau
nachdenken muß. Außerordentlich plastisch hat diesen Gedanken
Kar! Marx ausgedrückt, als er schrieb, daß der ,Aufstand ebenso wie
der Krieg eine Kunst' ist." (Lenin? ebda. S. 448.)
94
und damit einen bureaukradseben Einschlag bekommt,
muß doch im Geschichtsbilde, im Lebenssystem irgendwo
Raum für die nötige Irrationalität, die die Revolution be-
deutet, bleiben.
Revolution heißt ja, daß irgendwo ein Durchbruch des
rationalisierten Gefüges vorgesehen, )>eabsichtigt ist, sie
erfordert also ein Offensein für den günstigen Augenblick,
in dem der Angriff gewagt werden muß. Wü~de man den
ganzen politischen Raum als durchrationalisiert denken, so
gäbe man das Offensein dem günstigen Augenblick gegen-
über auf. Der "Augenblick" aber bedeutet eben nichts
anderes als jenes Irrationale des "hic et nunc", das jede
Theorie durch ihre Tendenz zum Allgemeinen verdeckt.
Da man aber diesen Augenblick des Durchbruchs, so-
lange man Revolution braucht und will, nicht verlieren
darf, entsteht im theoretischen Bilde eine Lücke, die be-
zeichnet, daß das Irrationale in seiner Irrationalität ge-
würdigt werden kann. ·
Dieses ganze dialektische Denken geht davon aus, den-
selben für die historisch konservativen Gruppen als völlig
irrational erscheinenden Spielraum weiter zu rationalisie-
ren, macht aber dort in der Rationalisierung Halt, wo das
Werdende durch seine Rationalisiertheit als völlig erstarrt
erscheinen müßte.
Im Begriffe des "Umschlagens" ist jenes Element der
Irrationalität enthalten. Die den politischen Spielraum be-
herrschenden Tendenzen werden hier nicht so konstruiert,
daß sich die im Spielraum akkumulierenden Kräfte einfach
mathematisch berechnen lassen, sondern so, daß sie,
aus ihrer ursprüilglichen Tendenz herausgeschleudert,
plötzlich "umschlagen" können. Dieses Umschlagen kann
natürlich niemals berechnet werden, sondern bedarf im Ge-
genteil noch immer der revolutionären Tat des Proletariats.
Es wird also der Intellektualismus keineswegs für alle
Seinslagen als legitim erklärt, sondern ganz im Gegenteil
95
nach zwei Richtungen hin die zum Erfassen der Irrationali-
tät nötige Intuition geraqezu erweckt. Damit ist eine zwei-
fache Irrationalität gegeben. Einmal bleibt es stets unbe-
rechenbar und dem politischen Instinkt überlassen, wann
die herrschenden Tendenzen bis zur Reife, bis zum Um-
schlagen gediehen sind. Zweitens ist das historische Kalkül
nie so exakt determinierbar, daß man sich das strukturver-
ändernde Eingreifen ersparen könnte.
So erscheint also das Denken des Marxismus als das ra-
tionale Denken der irrationalen Tat. Für die Riclftigkeit
dieser Analyse spricht die Tatsache, daß, sobald marxi-
stisch-proletarische Schichten hochkommen, sie in dem-
selben Grade das dialektische Element in der Theorie ab-
schütteln und mit der generalisierenden, Gesetze suchenden
Methode des Liberalismus und der Demokratie denken,
während die übrigen, die auf die Revolution ihrer Lage
wegen angewiesen bleiben, am dialektischen Element fest-
halten (Leninismus).
Das dialektische Denken ist eben ein rationalistisches,
das inirrationalismusmündet und stets eine doppelteFrage
zu beantworten bestrebt ist: I. Wo halten wir? 2.. Was be-
sagt der irrational gelebte Augenblick? Man handelt hier-
bei niemals aus dem bloßen Impuls, sondern nur auf Grund
der soziologisch gesehenen Geschichte; man will aber an-
dererseits niemals durch bloßes Kalkül den Spielraum und
den Augenblick restlos in ihm aufgehen lassen. Die Frage
an den Spielraum bleibt immer die Tat und die Antwort
immer das Gelingen bzw. das Scheitern der Aktion. Die
Theorie wird nicht herausgehoben aus ihrer wesensmäßi-
gen Verbundenheit mit der Tat, und die Tat ist das klä-
rende Element, in dem sich die Theorie bildet.
Das Positive an dieser Theorie ist, daß sie aus eigenen
sozial-vitalen Impulsen heraus immer durchsichtiger wer-
den läßt, daß politisches Denken wesensmäßig vom üb-
lichen Theoretisieren verschieden ist. Positiv ist ferner, daß
'diese dialektisch einsetzende Denkweise sowohl die Pro-
blematik des bürgerlichen Rationalismus als die des histo-
ristischen Irrationalismus in sich verarbeitet enthält.
Vom Irrationalismus hat sie die Einsicht, daß der histo-
risch-politische Spielraum nicht von starren Gegenständ-
lichkeiteil erfüllt ist und daß deshalb eine bloß Gesetze
suchende Methode versagen muß. Außerdem sieht sie das
völlig Dynamische der den politischen Raum beherrschen.,
den Tendenzen; sie bemerkt die vitale Verknüpfung des
politischen Denkens und will also Theorie und Praxis nicht
künstlich trennen.
Vom Rationalismus hat sie dagegen den Willen, sich
auch dort noch rationalisierend zu verhalten, wo das bis-
herige Rationalisieren versagt.
Als vierter Gegenspieler soll nun hier noch der gerade in
unserer Epoche auftretende Fa s c i s m u s angeführt werden.
Der Faseismus hat eine besondere Auffassung vom Ver-
hältnis von Theorie und Praxis. Er ist im wesentlichen
aktivistisch ·und irrationalistisch gestimmt. Er verbindet
sich mit Vorliebe mit den irrationalistischen Philosophien
und politischen Theorien der modernsten Entwicklung.
Es sind ganz besonders Bergson, Sorel, Pareto, die in
seine Weltanschauung, selbstverständlich nach einer ent.:
sprechenden Transformierung, verarbeitet sind.
Im Zentrum seiner Lehre und seiner Praxis steht die
Apotheose des unmittelbaren Eingreifens, der Glaube an
die ausschlaggebende Tat, an die Bedeutung der Initia-
tive einer führenden Elite. Das Wesen der Politik ist,
zuzugreifen, das Gebot der Stunde zu erkennen. Nicht
Programme sind wichtig 1, sondern die unbedingte
1
Mussolini: "Unser Programm ist sehr einfach: wir wollen Italien
regieren. Man fragt uns immer nach Programmen. Wir haben deren
schon zu viele. Zur Erlösung Italiens sind keine Programme nötig,
sondern Männer und Willenskraft." Mussolini: Reden, hrsg. v. H.
Meyer, Leipzig 19zs, S. xos. Vgl. auch S:134f.
8
97
Unterwerfung unter den Führer. Geschichte machen weder
die Massen noch die Ideen noch die stillwirkenden Kräfte,
sondern die sich jeweils behauptenden.Eliten1 . Es ist dies
ein völliger Irrationalismus, aber charakteristischerweise
nicht jener Irrationalismus, den die Konservativen kennen,
nicht jenes Irrationale, das zugleich ein Überrationales ist,
nicht der V olksgeist, nicht stillwirkende Kräfte, nicht der
mystische Glaube an die schöpferische Kraft der langen
Zeitdauer, sondern der Irrationalismus der die Geschichte
in allen diesen Bedeutungen negierenden, neu einsetzenden
Tat. "Um jung zu sein, muß man vergessen können. Wir
heutigen Italiener sind zwar stolz auf unsere Geschichte,
aber wir machen sie nicht zum bewußten Leitmotiv un-
seres Handelns, wenn die Geschichte als biologisches Ele-
ment in uns lebt 2."
1 Mussolini (a. a. 0. 103): "Ihr wißt, ich bin kein Verehrer dieser
neuen Gottheit, der Masse ... Jedenfalls haben wir geschichtliche
Beweise dafür, daß tief eindringende Veränderungen in der mensch-
lichen Gesellschaft stets zuerst von den Minderheiten, einer Handvoll
Menschen herbeigeführt worden sind.«
2 Brodrero: Auf der IV. intern. Tagung des Verbandes für kul-
8*
99
tes Zusammenwirken der wichti sten Faktoren aufdeckte.
an suc te en 11111eren UfEau es esc d i 1c en u ver-
stehen, um daraus einen Maßstab für das eigerie Handeln
zu gew11111en.
Hatten die Liberalen und Sozialisten stets daran fest-
gehalten, daß dieser Zusammenhang, diese Stru~tur völlig
rationalisierbar sei, und bestand der Unterschied zwischen
ihnen hauptsächlich darin, daß jene sich eher an einem
geradlinigen Fortschritt, diese an einer dialektischen Be-
wegung orientierten, so suchten die Konservativen den
.. Werdezusammenhang der geschichtlichen Ganzheit an-
schaulich morphologisch zu erkennen. Wie wesentlich ver-
schieden auch diese Betrachtungsweisen methodisch und
inhaltlich gewesen sein mögen, das Gemeinsame war doch,
daß sie alle die politische Tat als eine im historischen
Raume sich vollziehende erlebt haben, zu deren Vollzug
100
es in unserer Zeit gehört, an jenem werdenden Totalzu-
sammenhang sich zu orientieren, in den man hineingestellt
ist. Vor der Irrationalität der fascistischen Tat versinkt
aber diese irgendwie durch den Menschen erforschbare Ge-
schichtlichkeit, wie sie denn schon bei ihrem syndikali-
stischen Vorläufer SoreP bis zu einem gewissen Grade
verschwunden ist, der den Gedanken der Evolution in
verwandtem Sinne geleugnet hat. All das, was die Kon-
servativen, den Liberalismus, den Sozialismus verbindet,
ist die Voraussetzung, daß in der Geschichte ein Zusam-
menhang der Ereignisse und Gestaltungen aufweisbar ist,
wodurch alles mehr oder minder einen Stellenwert in
der Geschicpte hat, weswegen auch nicht alles immer mög-
lich ist. Vom Faseismus aus aber erscheint dann auch jede
Geschiehtsauffassung als pure Konstruktion, Fiktion, die
es zugunsten der die historische Zeitlichkeit durchbrechen-
den Tat abzubauen gilt 2 •
1 Über Mussolinis Verhältnis zu Sore!: S orel hatte Mussolini schon
vor 1914 gekannt und er soll bereits 1912. über Mussolini Folgendes
gesagt haben:
"Notre Mussolini n'est pas un socialiste ordinaire. Croyez-moi :
vous le verrez peut-etre un jour a la tete d'un bataillon sacre saluer
de l'epee la banniere italienne. C'est un italien du XVe siede, un
condottierel On ne le sait pas encore, mais c'est le seul homme
energique capable de redresser les faiblesses du gouvernement."
Zit. nach Gaetan Pirou, Georges Sore! (1847-192.2.), Paris,
Marcel Riviere. 192.7. S. 53· Cf. die Rezens. v. E. Posse im Archiv
für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung,
Bd. 13, s. 431f.
2 Vgl. den Aufsatz von Ziegler, H. 0.: Ideologienlehre, im Archiv
101
Daß es sich hier um eine Theorie der Geschichtslosig-
keit handelt, daran ändert auch gar nichts die Tatsache,
daß in der fascistischen Ideologie insbesondere seit der
Rechtswendung die Ideen des "nationalen Krieges" und
die Ideologie des "Römischen Reiches" sich vorfinden.
Abgesehen davon, daß sie von Anfang an als Mythen,
d. h. als Fiktionen bewußt erlebt werden, bedeutet ge-
schichtliches Denken und Handeln nicht, irgendwelche
vergangenen Gehalte pathetisch zu erleben, sondern sich
selbst in einen geschichtlichen Strom hineingestellt zu
wissen, in einen Strom, der eine bestimmte, artikulierbare
Struktur hat. Diese Artikulierbarkeit macht das eigene Ein-
greifen erst wirklich verständlich.
Von diesem rein intuitionistischen Zugriff aus löst sich
aber auch jedes politische und historische Erkennen, was
den Erkenntniswert betrifft, in ein Nichts auf. Denn es
läßt sich stets nur sein ideologischer, mythologisierender
Charakter aufweisen. Das Denken kann für diesen akti-
vistischen Intuitionismus nur die Funktion haben, in die-
sen vergeblichen Theorien deren illusionistischen Charak-
ter aufzuweisen, sie als Selbsttäuschungen zu enthüllen.
Das Denken wird hier nur als Wegbereiter zur reinen Tat
- · erlebt. Der Überlegene, der Führer weiß, daß all die poli-
\ tischenund historischen Ansichten nur Mythen sind. Er
· ist eigentlich frei von ihnen, aber er schätzt sie - und das
ist die andere Seite dieser Einsicht-, weil sie enthusiastische
Ableitungen sind, die die Gefühle, die irrationalen Resi-
duen im Metischen in Bewegung setzen und allein zu poli-
tischer Tat führen 1 • Hier wird in Praxis umgesetzt, was
ängstigen; was die Zukunft bringen werde; wir warten nicht auf
Verhängnisse und Offenbarungen der Geschichte." Mussolini a. a. 0.
S. 12.9; ferner .: "Wir glauben nicht, daß die Geschichte sich wieder-
holt, daß sie einen vorgeschriebenen Weg geht."
1 Sore/, G.: Reflexions sur la violence. Paris 192.1, chap. IV,
I6Jff.
102
Sorel und Pareto 1 in ihrer Mythenlehre und in der Lehre
von den Eliten und V orstoßttuppen zuerst zu Ende ge-
dacht haben.
Es ist leicht verständlich, wenn von diesem intuitioni-
stischen Zugriff hereine tiefe Skepsis gegenüber derWissen-
schaft, insbesondere der Geisteswissenschaft, vorherrscht.
Hatte der Marxismus der Wissenschaft gegenüber gerade-
zu noch eine gläubige Haltung, eine bis zur Gnosis ge-
steigerte Wissenschaftsgläubigkeit bewahrt, so bleibt schon
bei Pareto als positives Wissen nur eine rein formalistische
Sozialmechanik übrig. Die wissenschaftliche Skepsis dieses
spätbürgerlich isolierten, nüchternen Beobachters wird
hier eingetaucht in die Selbstgläubigkeit einer jungen Be-
wegung. Was an Skepsis gegenüber dem Willbaren dort
vorhanden war, bleibt erhalten, es wird aber ergänzt durch
eine Gläubigkeit an die bloße Aktivität und eigene Vita-
lität2. Wo alles, was der besonderen Geschichtlichkeit an-
gehört, als wissenschaftlich unerfaßbar abgetan wird, dort
kann für die wissenschaftliche Erforschung nur noch jene
generelle Schicht der Gesetzmäßigkeiten erforscht werden,
die in jedem Menschen und zu allen Zeiten sich gleich
bleibt. Außer jener sozialen Mechanik kann nur noch "die
Sozialpsychologie zur Geltung kommen. Ihre Kenntnis
ist für die Führer nur als ein rein technisches Wissen von
Nutzen: sie müssen wissen, wodurch die Massen zu be-
wegen sind. Diese dumpfe Tiefenschicht der Seele ist bei
allen Menschen gleich, sei es, daß man sich dem heutigen
1 In deutscher Sprache zugänglich in der von Bousquet zusammen-
gefaßten Darstellung : Grundriß der Soziologie nach Vilfredo Pareto,
Karlsruhe 1926.
2
Aus einer Rede M11Ssolinis: "Wir haben einenMythusgeschaffen;
der Mythus ist ein Glaube, ein edler Enthusiasmus, er braucht keine
Realität zu sein (I), er ist ein Antrieb und eine Hoffnung, Glaube und
Mut. Unser Mythus ist die Nation, die große Nation, die wir zu einer
konkreten Realität machen wollen." (Zit. bei C. Schmitt, Parlamen-
tarismus, a. a. 0. S. 89.)
103
Menschen beobachtend zuwende oder dem Menschen des
alten Roms. oder dem der Renaissance.
Hier verbindet sich nun plötzlich dieser Intuitionismus
mit dem ausschließlich generelle Gesetze suchenden Stre-
ben des späten Bürgertums, das aus dem Positivismus eines
Comte z. B. allmählich alle geschichtsphilosophischen Ele-
mente zugunsten einer generellen Soziologie ausgemerzt
hatte. Andererseits kann man die Anfänge dieses Ideologie-
begriffes, der in der Lehre von den fruchtbaren Mythen
vorherrscht, weitgehend auf den Marxismus zurückführen.
Doch ergeben sich dann, wenn man genauer betrachtet,
ganz wesentliche Unterschiede.
Für den Marxismus existiert zwar auch der Ideologie-
begriff in der Bedeutung von "Lügengewebe", "Täu-
schungsgebilde", "Fiktion", aber unter diese Kategorie
fällt nicht ein jedes Denken, das sich der Erforschung
der Geschichtsstruktur zuwendet, sondern nur das dies-
bezügliche \Vissen der gegnerischen Klassen und Schich-
ten. Nicht jegliches Denken, nicht jegliche Ratio wird hier
zur Ideologie gestempelt. Nur die einer Verhüllung be-
dürftigen Schichten, die aus ihrer sozialen Seinslage her-
aus die wahren Zusammenhänge nicht erkennen wollen
und können, verfallen der Zwangsläufigkeit der . Täu-
schungserlebnisse. So erscheint zwar jeglicher Gedanke
(auch der wahre) in seiner bloßen Denkbarkeit gebunden
an eine bestimmte sozial-historische Seinslage, das Denken
ist aber durch diese Seinsrelativierung nicht eines mög-
lichen Wahrheitscharakters überhaupt beraubt. Demgegen-
über sind für den intuitionistischen Aktivismus, der in
der fascistischen Theorie, wenn auch mit anderen Tenden-
zen vermischt, immer wieder durchbricht, Erkennbarkeit
und Rationalisierbarkeit etwas Unsicheres, Ideen etwas
völlig Sekundäres 1 • Eine Dünnschicht der \X'ißbarkeit für
1 "Temperamente scheiden Menschen stärker als Ideen." Mus-
.solini a. a. 0. S. .55.
104
den Politiker liefern nur die Kenntbisse jener sozialen
Mechanik oder jener Sozialpsychologie.
Vom Faseismus aus gesehen ist auch der marxistische
Gedanke von der Geschichte als eines durch ökonomische
und soziale Kräfte getragenen Strukturzusammenhanges
letzten Endes nur ein Mythus, undgenauso wie die Struk-
turiertheit des Geschichtsprozesses mit der Zeit zersetzt
wird, so steht man auch der Klassenlehre negierend gegen-
über. Es gibt kein Proletariat, nur Proletariate1 •
Für diese Denk- und Erlebnisweise ist also charakteri-
stisch, daß die Geschichte sich in Momentsituationen auf-
löst, wobei zwei Dinge entscheidend sind: einmal der Elan
des großen Führers und der der vorstoßenden Gruppen
(Eliten), dann die Beherrschung des einzig und allein mög-
lichen Wissens von der Massenseele d die Technik dieser
Beherrschung.
Politik als W'issenschaft ist also in einem bestimmten
Sinne möglich: in der Funktion, die Wege zum Handeln zu
bereinigen.
Dies geschieht in zweifacher Weise·: einerseits, indem sie
alle jene Idole zerstreut, die die Geschichte als einen be-
stimmten Prozeß sehen lassen, andeferseits aber indem sie
die Massenseele insbesondere in ihren Machtinstinkten
und deren Funktionieren beachtet und aufmerksam ver-
folgt. Diese Massenpsyche gehorcht in der Tat nun weit-
gehend zeitlosen Gesetzen, weil sie als solche am ehesten
aus der Geschichte herausgestellt ist, wogegen die Ge-
schichtlichkeit der sozialen Psyche gerade nur dort wahr-
nehmbar ist, wo der sozial-historisch eingegliederte Mensch
erfaßt wird.
Diese Theorie der Politik fußt historisch letzten Endes
auf Macchiavelli, bei dem eigentlich die Grundeinsichten
schon vorhanden sind. Der Elan des großen Führers ist
1 Vgl. von Beckerath, E. : a. a. 0. S. 142. Auch Mussolini a. a. 0.
s. 96.
105
vorweggenommen in dem Begriff der "virtu". Der alle
Idole enthüllende Realismus und das Rekurrieren auf eine
Technik, die die tief verachtete Masse seellsch zu meistern
versucht, finden sich ebenfalls bei ihm, wenn auch in con-
creto in manchem verschieden. Schließlich ist die Tendenz
zur Auflösung des Geschichtsplanes und die Theorie der
direkt eingreifenden Tat bereits dort vorgezeichnet.
Auch das Bürgertum hatte oft in seiner Theorie dieser
Lehre von der politischen Technik einen Raum gewährt
und sie, wie Stahl es richtig sah, unverbunden neben die
naturrechtliehen Ideen, die als Normlehre vorhanden
waren, gestellt1 • ] e mehr die bürgerlichen Ideale und das
dazugehörige Geschichtsbild durch das Arrivieren zum Teil
verwirklicht, zum Teil desillusionistisch zersetzt waren,
um so mehr trat diese nüchterne zeitlose Technik als
alleiniges politisches Wissen hervor.
In der neuesten Entwicklung verbindet sich diese reine
abgelöste Technologie des Politischen immer mehr mit
einem Aktivismus und Intuitionismus, der jedwede histo-
rische konkrete Erkennbarkeit leugnet, und wird zur Ideo-
logie jener Gruppen, die den unmittelbar explosiven An-
prall an die Geschichte einer evolutiv vorbereiteten Um-
änderung vorziehen. Diese Seelenhaltung wandert also in
jeweils verschiedenen Spielarten vom Anarchismus eines
Proudhon, Bakunin zum Syndikalismus Sorels und von
dort zum Faseismus Mussolinis 2•
Soziologisch gesehen ist dies die Gesta~ einer Ideologie
putschistischerGruppen,geführtvon Intellektuellenkreisen,
die der liberal-bürgerlichen und sozialistischen Führer-
schicht gegenüber outsiders sind und die jene Konjunk-
turwellen zum machtmäßigen Vorstoß ausnutzen, die die
Transformationsperiode der modernen Gesellschaft stets
1 Vgl. Stahl, F.J.: Die Philosophie des Rechts, Bd. I, 4· Aufl.,
4· Buch, Abschnitt I: Die neuere Politik.
2 Schmitt, C.: "Parlamentarismus", a. a. 0. Kap._IV.
106
von neuem aus sich herausstellt. Diese Transformations-
periode, mag sie zur sozialistischen Wirtschaft oder sonst-
wie kapitalistisch geregelten Planwirtschaft führen, ist eben
dadurch charakterisiert, daß sie zu intermittierenden put-
schistischen Vorstößen Gelegenheit gibt und im selben
Maße, wie sie gesellschaftlich-wirtschaftlich irrationale
Residua in sich birgt, auch die explosiv irrationalen Ele-
mente im modernen Bewußtsein anzieht.
Diese soziologische Zurechenbarkeit läßt sich in der so-
eben dargestellten Ideologie in erster Linie dadurch auf-
weisen, daß der von hier aus den Geschichtsprozeß er-
lebende Betrachter sich ausschließlich an jenem irratio-
nalen Spielraum orientiert, von dem anfangs dieRede
war. Dadurch, daß er seelisch und sozial an jenem Punkte
des Stromes steht, wo allein _das Unorganisierte und Un-
rationalisierte faßbar wird, verdeckt sich für ihn all das,
was in der Geschichte Struktur, im Gesellschaftsgefüge
schon konsolidierter Aufbau ist.
Man kann geradezu eine soziologische Korrelation auf-
stellen zwischen einem Denken, das sich an organische
oder organisierte Verbände wendet, und einem konstruk- _
tiven Sehen der Geschichte. Andererseits besteht eine
tiefe Affinität zwischen freischwebenden Agglomerierun-
gen und ahistorischem Intiutionismus. Je mehr orga-
nisierte oder organische Verbände einer Auflockerung
ausgesetzt sind, um so mehr lockert sich ihr Sinn für das
Erfassen des konstruktiven Elements in der Geschichte
und verfeinert sich ihre Sensibilität den imponderabilen
und freischwebenden Gehalten gegenüber. Je mehr durch
den Augenblick geschaffene putschistische Gruppen sich
stabilisieren, um so mehr sind sie einer a-la-longue-Sicht
der Geschichte und einer konstruktiven Sicht der Gesell-
schaft gegenüber zugänglich. Als formale Tendenzen und
heuristische Hypothesen muß man dies stets im Auge
behalten, wenn auch jeweils historische Komplikationen
107
hinzutreten mögen. Die Geschichte als Augenblickssituatio-
nen zu erleben, ist eben einer Klasse oder einem organischen
Verbande niemals möglich, sondern nur den in solchen
Augenblickssituationen entstehenden Und ihnen sich hin-
gebenden Massen. Auch der geschichtslose Augenblickdes
Aktivismus, den es zu nützen gilt, ist de facto jener aus den
großen Zusammenhängen herausgerissene Moment, auf
den es putschistische Gruppen abgesehen haben.
Der spezifische Praxis-Begriff dieser Denkweise ist
gleichfalls dem eruptiv vorstoßenden Putsche eigen, wäh-
rend gesellschaftlich zusammengehaltene, wenn auch oppo-
sitionelle Dauerkräfte die Praxis als eine kontinuierliche
Expansion ihrer Intentionen erleben1 •
Der Gegensatz Elan des großen Führers, Eliten auf der
einen und blinde Massen auf der anderen Seite, weist die
Kennzeichen einer Intellektuellenideologie auf, die mehr
zur eigenen, inneren Selbstlegitimierung als zum Werben
nach außen hin dienen soll. Sie ist eine Gegenideologie ge-
gen jene Führerschichten, die sich selbst als Organ der kom-
pakten sozialen Gruppenkräfte fühlen. So haben die kon-
servativen Führerschichten sich als Organe des Volkes 2, die
Liberalen als Träger des Zeitgeistes, die Sozialisten und
Kommunisten als Funktionäre des proletarischen Klassen-
bewußtseins empfunden.
An dieser Verschiedenheit der Selbstlegitimie-
rung ist es ablesbar, daß die mit dem Gegensatz: großer
1 M11ssolini selbst spricht sehr anschaulich über jene Wandlung,
die sich im arrivierten Putschisten vollzieht. "Es ist unglaublich,
wie sich der Freischärler verändert, der zum Beisitzer oder' Bürger-
meister wird. Er hat ein anderes Gesicht. Er versteht, daß man die
Gemeindebilanzen nicht stürmen kann, sondern studieren muß."
(A. a. 0. S. 166.)
2 In diesem ·Sinne hatte für den evolutionären Konservatismus
108
Führer- Masse operierenden Gruppen aufstrebende Eliten
sind, die noch sozial freischweben und ihren sozialen Ort
erst schaffen müssen. Ihnen kommt es nicht primär auf
Umsturz, Umformung oder Erhaltung sozialer Struk-
turen, sondern auf eine Verdrängung der vorhandenen
führenden Eliten durch andere an. Es ist kein Zufall, daß
die einen die Geschichte als einen Kreislauf der Eliten, die
anderen als eine Transformation der geschichtlichen gesell-
schaftlichen Struktur erleben. Jeder bekommt eben prim~
das von der gesellschaftlich-historischen Ganzheit zu sehen,
auf das er willensmäßig gerichtet ist.
Im Prozeß der Transformation der modernen Gesell-
schaft gibt es (wie erwähnt) Perioden, in denen die durch
·das Bürgertum geschaffenen Apparaturen zur Fortführung
des Klassenkampfes (z. B. der Parlamentarismus) nicht aus-
reichen, wo der ·evolutionäre Weg zeitweise versagt, in
denen offene Krisen entstehen, die Klassenschichtung _in
Verwirrung gerät, das Klassenbewußtsein der kämpfenden
Schichten sich verdunkelt, in denen es deshalb leicht zu
momentanen Bildungen kommen kann und die Masse ent-
steht, nachdem der einzelne seine orgallische oder klassen-
mäßige Orientierung verloren hat.
In solchen Augenblicken ist die Möglichkeit der Dikta-
tur gegeben. Dasfascistische Geschichtsbild und seine in-
tuitionistische Theorie als Wegbereiter zur zugreifenden
Tat sind nichts anderes als das zur Gesamtstruktur des
Gesellschaftlichen hypostasierte Bild dieser besonderen
Situation.
Nach der Ausbalancierung der Krisen tritt die Gewalt
und der Druck der realen, kompakten, historischen, sozia-
len Kräfte wieder in Wirkung. Und wenn sich auch vieles
zu stabilisieren vermag, wenn insbesondere die neuen Eli-
ten es verstehen mögen, sich durch richtige Umstellung
in den großen Zusammenhang einzuordnen, so siegt
doch die Dynamik der treibenden Kräfte. Nicht eine
109
Sozialstruktur hat sich dann verändert, sondern nur perso-
nale Umschichtungen haben sich vollzogen im Rahmen des
sich weiterentwickelnden sozialen Geschehens. Schon ein-
mal erlebte die moderne Geschichte (mutatis mutandis) vor-
bildlich eine solche Diktatur, nämlich die Napoleons. Histo-
risch gesehen bedeutete diese nicht mehr als den Aufstieg
bestimmter Eliten, soziologisch siegte die aufkonu:nende
bürgerliche Welt, die es verstand, auch diese Kräfte in ihre
eigenen Bahnen zu lenken.
· Werden also auch diese Aufwallungen und der An-
sturm der noch nicht rationalisierten Bestandteile des
Bewußtseins in den kompakten sozialen Zusammenhang
stets von neuemeingebettet und ist gerade dieser irrationa-
listische Standort am ungeeignetsten, die großen konstruk-
tiven Linien des Geschichtlichen und Sozialen zu erfassen,
so leuchtet in diesen eruptivenAugenblickendoch eine Tie-
fenschicht des noch von der Historie unerfaßten und viel-
leicht auch unerfaßbaren Irrationalen inu:ller wieder auf.
Das nicht Rationalisierte schließt hier ein Bündnis mit dem
nicht Mediatisierten, nicht Historisierten in unserem Be-
wußtsein und Seelenleben. Und von hier aus ergibt sich ein
Blick in jene Sphäre, die zumindest bisher noch völlig
ungeschichtlich ist. Es ist dies einmal die Sphäre der ganz
dumpfen vitalen Instinkte, die in ihrer ewigen Gleichheit
als Untergrund unter jedem historischen Geschehen liegen,
die man innerlich, interpretativ zwar niemals erfassen, aber
äußerlich durch eine Technik meistern kann. Zu dieser
Sphäre des Ungeschichtlichen gehört außer diesem unter~
geschichtlich Vitalen aber auch jenes Übergeschichiliche,
Spirituelle in uns, von dem die Mystiker sprachen, das
auch nicht völlig in der Geschichte aufgeht und als etwas
Unhistarisches und Sinnfremdes dem Verstehen nicht er-
faßbar ist. (Davon ist bei den Fascisten nicht die Rede, aber
dennoch ist dies der andre große Gegenspieler des Ge-
schichtlichen.) .
110
•
Zwischen diesen beiden extremen Polen scheintdas sinn-
haft Gewordene, V erstehbare, Rationalisierte, Organisierte,
Strukturierte, künstlerisch und sonstwie Gestaltete und
deshalb Geschichtliche zu liegen. Wer von hier aus den Zu-
sammenhang sieht, bekommt niemals das Unter- und Über-
geschichtliche zu sehen. Wer nur von jenen irrationalen
Polen aus sich orientiert, für den versinkt völlig das Histo-
risch-Organisierte in seiner Konkretheit.
Was das Problem des Verhältnisses von Theorie und
Praxis betrifft, so besteht die große Verlockung dieses
fascistisch-aktivistischen Erlebnisses darin, daß die ganze
Denksphäre als ein Spiel der Illusionen erscheint. Politi-
sches Denken vermag hier im günstigsten Fälle in Gestalt
von "Mythen" im Menschen die Tat zu entzünden, nicht
aber das Feld der Politik oder die Zukunft wissenschaftlich
zu erfassen. Es erscheint vielmehr als ein Wunder, daß
der Mensch beim grellen Scheine des Irrationalen von Fall
zu Fall dennoch die zur Bewältigung des Alltags nötige
Empirie aufbringt. So hatte schon Sorel bemerkt: "Nous
savons que ces mythes sociaux n'empechent d'ailleurs
nullement l'homme de savoir tirer profi.t de toutes les
observations qu'il fait au cours de sa vie et ne font point
obstacle a ce qu'il remplisse ses occupations normales."
Und in der Anmerkung dazu heißt es: "On a souvent fait
remarquer que les sectaires anglais ou americains, clont
1'exaltationi religieuse etait . entretenue par les mythes
apocalyptiques, n'en etaient pas moins souvent des hom-
mes tres pratiques 1 . "
Der Mensch handelt hier, obschon er denkt.
Es ist öfter betont worden, daß auch der Leninismus
einen fascistischen Einschlag in sich enthält. Aber es wäre
hier verfehlt, über das Gemeinsame hinaus die Diffe-
renzen nicht zu sehen.
1
Sore/, G.: a. a. 0. S. 177.
111
Das Gemeinsame reicht nur so weit, als es sich um den
Aktivismus zugreifender Minderheiten handelt. Nur weil
der Leninismus ursprünglich die Theorie einer absolut
auf die revolutionäreMachtergreifung ausgerichtetenMin-
derheit war, geriet dieLehre von der Bedeutung derführen-
den Gruppen und deren entscheidendem Elan in den Vor-
dergrund. Aber niemals verflüchtigte sich diese Lehre zu
einem völligen Irrationalismus. In demselben Maße, in dem
die bolschewistische Gruppe nur eine aktive Minderheit
innerhalb der immer rationaler werdenden Klassenbewe-
gung des Proletariats war, wurde ihre aktivistische intui-
tionistische Theorie stets unterstützt von der Lehre einer
rationalen Erkennbarkeit des Geschichtsprozesses.
Der Faseismus verdankt z. T. (außer dem erwähnten
Intuitionismus) seine Theorie der Geschichtslosigkeit dem
Weltgefühl des emporgekommenen Bürgertums. Eine
hochgekommene Klasse hat stets die Tendenz, in ihrem
Weltbilde den Geschichtsprozeß in Einzelereignisse auf-
gehen zu lassen. Das geschichtliche Geschehen erscheint
als ein Prozeß nur so lange, als die beobachtende Klasse
von diesem noch etwas zu erwarten hat. Nur aus diesen
Erwartungen entstehen "Utopien" einerseits· und "Pro-
zeß"-Konzeptionen andererseits. Das Emporkommen zer-
schlägt aber das utopische Element und drängt immer mehr
die a-la"-longue-Aspekte in den Hintergrund, um die
geistig-seelischen Kräfte den unmittelbaren Aufgaben der
Verwirklichung zuwenden zu können. Daraus folgt aber,
daß strukturell an Stelle eines Gesamtbildes, das früher an
Tendenzen und Totalstrukturen orientiert war, ein Welt-
bild tritt, das nur Unmittelbarkeiten, eine Reihe von Fak-
tizitäten kennt: die Lehre vom Prozeß, von der strukturel-
len Durchleuchtbarkeit der Geschichte wird nunmehr zum
bloßen "Mythus".
Der Faseismus selbst kann nun getrost die diesen Ge-
schichtsprozeß und jedweden G<?schichtsplan leugnende
112
Tendenz des Bürgert~ms ohne weiteres übernehmen, da er
ja selbst Exponent bürgerlicher Gruppen ist. Er will dem-
entsprechend nicht eine andere Welt und Sozialordnung an
Stelle der vorhandenen setzen, sondern innerhalb der vor-
handenen Klassenordnung eine herrschende Schicht durch
eine andere ersetzen1 •
Seine Chancen wie sein Geschichtsbild beruhen, wie er-
wähnt, in jenen Etappen, in denen Krisen die kapitali-
stisch-bürgerliche Ordnung so weit auflockern, daß die evo-
lutionären Methoden des gesellschaftlichen Kampfes nicht
mehr ausreichen. Hier hat in der Tat derjenige die unmittel-
bare Chance, der den Augenblick mit dem nötigen Elan zu
nützen versteht, indem er aktive Minderheiten zum Vor-
stoß bewegt und auf die~ Weise die Macht ergreift.
9 IIJ
in diesem Gebiet Entscheidungund Sichtwesensmäßig
zusammenhängen, dann könnte man mit einem gewissen
Recht zu der Folgerung gelangen, daß Politik als Wissen-
schaft nicht möglich sei.
Aber gerade hier, wo die Schwierigkeiten auf ihre Spitze
getrieben erscheinen, erfolgt die Umkehr.
Von hier aus lichten sich nämlich von neuem die Mög-
lichkeiten, und es gibt auf dieser Stufe der Problemstellung
zwei Wege, die man einschlagen kann. Einmal nämlich
kann man sagen: Aus der Tatsache, daß es in der Politik
nur ein standortsgebundenes Wissen gibt, daß die Partei-
ungen für die Politik ein strukturell unaufhebbares Moment
sind, folgt, daß Politik nur parteilich gebunden erforscht
und nur in Parteischulen gelehrt werden kann. Ich glaube
in der Tat, daß dies der eine Weg ist, den die nächste Ent-
wicklung einschlagen wird.
Es hat sich aber gezeigt und wird sich noch immer mehr
zeigen, daß bei der gegenwärtigen Kompliziertheit der Zu-
sammenhänge die älteren Formen der Bildung politischen
Nachwuchses, denen weitgehend der gelegentliche Cha-
rakter anhaftet, nicht ausreichen können, um jenes Wissen
zu bieten, das für den gegenwärtigen Politiker unerläßlich
ist. So werden sich die einzelnen Parteien dazu entschließen,
immer konsequenter ihre Parteischulen auszubauen. Es
werden hier nicht nur jene Realkenntnisse geboten werden,
die den werdenden Politiker in die Lage versetzen, über
konkrete Aufgaben ein sachliches Urteil zu bilden, sondern
es werden auch jene Stellungnahmen gelehrt werden, durch
die man vom entsprechenden Standorte aus den Stoff formt
· und politisch durchdringt.
Jede politische Stellungnahme bedeutet aber zugleich
viel mehr als ein bloßes Ja- oder Neinsagen zu eindeutig
erkennbaren Tatbeständen. Sie bedeutet zugleich eine je-
weils in sich gerundete Weltanschauung. Und wie sehr
es dem Politiker auf diese ankof?mt, zeigt das Bestreben
114
aller Parteien, die Massen nicht nur parteilich, sondern auch
weltanschaulich zu einer Denkweise heranzubilden. Poli-
tische Stellungnahme zu übertragen, bedeutet eine be-
stimmte Einstellung zur Welt zu tradieren, mit der dann
sämtliche Teile des Lebens durchdrungen werden sollen.
Politische Willensbildung bedeutet ferner heute, die Ge-
schichte in einer bestimmten Weise zu sehen, von einer
bestimmten Ebene aus Ereignisse zu erfassen, in einer be-
stimmten Weise philosophische Orientierung zu suchen.
Diese Spaltung der Denkweise und des Weltbildes in
mehrere Richtungen, dieses Sich-Differenzieren und -Pola-
risieren auf politische Standorte hin, vollzog-sich seit dem
Anfang des XIX. Jahrhunderts mit immer mehr steigern-
der Intensität. Die Bildung von Parteischulen wird dieses
Phänomen nur noch steigern und einem konsequenten
Ende zuführen.
Aber der Weg über Parteiwissenschaft und Parteischule
ist nur der eine, der sich mit einer bestimmten Notwendig-
keit aus der gegenwärtigen Konstellation ergibt. Ihn
werden jene einschlagen, denen es infolge ihrer extremen
Stellung im sozialen und politischen Raume darauf an-
kommen muß, an den Spaltungen festzuhalten, das
Antagonistische zu verabsolutieren und das Problem der
Ganzheit zu verdrängen.
Aus der gegenwärtigen Situation ergibt sich aber noch
eine andere Möglichkeit. Sie beruht sozusagen auf der Kehr-
seite der bisher geschilderten wesensmäßigen Parteilichkeit
politischer Orientierung und dazugehöriger Weltbilder.
Diese mindestens ebenso wichtige Strukturtatsache besteht
aber in folgendem:
Nicht nur die notwendige Parteilichkeit eines jeden poli-
tischen Wissens ist heute erkennbar, sondern auch seine je-
weilige Partikularität. Diese Partikularität, dieses Teil-
Sein besagt aber, daß gerade heute, wo unwiderlegbar• ·
die parteiliche Gebundenheit politisch-weltanschaulichen
115
Wissens durchsichtig wird, zugleich mit derselben Evidenz
zu erkennen ist, daß in ihm stets ein Ganzes wird und
daß die parteilichen Aspekte jeweils sich ergänzende Teil-
einsichten in dieses Ganze sind.
Gerade weil wir heute in der Lage sind, immer klarer zu
sehen, daß die einander gegenüberstehenden Aspekte und
Theorien ihrer Zahl nach nicht unendlich und deshalb
nicht willkürlich sind, sondern sich vielmehr ergänzen,
wird Politik als Wissenschaft erst wirklich möglich.
Durch die gegenwärtige Struktursituation wird Politik
nicht nur als Parteiwissen, sondern auch als ein Wissen
vom Ganzen möglich. Politische Soziologie als Wis-
sen vom Werden des gesamten politischen Feldes
tritt in das Stadium ihrer Verwirklichung.
Neben der Parteischule erscheint die Forderung nach
einer Anstalt, in der eben dieses Ganze erforscht werden
soll. Bevor auf die Möglichkeit und Struktur einer solchen
Forschung eingegangen wird, muß zunächst die These
von der gegenseitigen Ergänzungsbedürftigkeit der Teil-
aspekte noch erhärtet werden. Man erinnere sich des
Beispiels, an dem hauptsächlich die Parteilichkeit jeder
Problemstellung evident wurde. .
Wir fanden, daß die verschiedenen Parteiungen stets
nur bestimmten Bestandteilen und Gebieten der histo-
risch-politischen Wirklichkeit gegenüber hellsichtig wur-
den. Der Bureaukrat beschränkte seinBlickfeldauf den sta-
bilisierten Teil des Staatslebens, der historische KonserVa-
tismus faßte jene Gebiete ins Auge, in denen stillwirkende
Kräfte des Volksgeistes am Werke sind, in denen wie im
Gebiete der Sitte und der Gebräuche, im religiösen und
kulturellenZusammenleben nicht organisatorische, sondern
organische Kräfte das Wesentliche ausrichten, und er sah
auch, daß eine bestimmte Sphäre des Politischen noch in
·diesem Elemente des Werdens sich abspielt. Bestand auch
seine Einseitigkeit darin, die Bedeutung dieser Bewußt-
II6
seinsschicht und die dieser Schicht entsprechenden sozialen
Kräfte im historischen Geschehen zu übertreiben und zum
alleinigen Faktor zu machen, so wurde doch hier etwas
sichtbar gemacht, was von anderswoher nicht hätte erfaßt
werden können. Dasselbe gilt aber auch von den übrigen
Aspekten. Das bürgerlich-demokratische Denken schuf und
entdeckte zugleich eine Möglichkeit rationalisierter For-
men zur Austragung macht- und willensmäßiger Kämpfe
im sozialen Raume, die ihre Wirklichkeit und Funktion im
modernen Leben bewahren werden, solange evolutionäre
Methoden des Klassenkampfes überhaupt möglich sind.
Die Schaffung dieser Plattform war eine historische und
bleibende Leistung des Bürgertums, und man kann die Be-
deutung dieser Leistung auch ·dann würdigen, wenn die
Einseitigkeiten des damit verbundenen Intellektualismus
rücksie tslos aufgedeckt worden sind. Das bürgerliche Be-
wußtsein hatte ein sozial-vitales Interesse daran, durch die-
sen Intellektualismus vor sich selbst die Grenzen seiner
eigenen Rationalisierung zu verdecken und so zu tun, als
ob durch Diskussion reale Auseinandersetzungen restlos
auszutragen wär~n. Es bemerkte aber nicht, daß in enger
Verknüpfung damit im Gebiete des Politischen ein neu-
artiges Denken auftrat, wo man Theorie von Praxis, Denken
vom Wollen wesensmäßig nicht trennen kann.
Nirgends läßt sich der gegenseitige Ergänzungscharakter
der sozial und politisch gebundenen Partikularerkennt-
nisse klarer aufweisen als hier. Denn hier kommt es wieder
.zum Vorschein, wie das sozialistische Denken gerade da ·
einsetzte, wo das bürgerlich-demokratische seine Grenze
hatte, und wie es von neuem gerade jenen Phänomenen
gegenüber hellsichtig wurde, die das vorangehende Denken
aus einer vitalen Gebundenheit heraus im Dunkeln ließ.
Daß der politische Spielraum nicht in parlamentarischen l
Gebilden und deren Diskussionen erschöpft ist, daß diese
vielmehr in ihrer jeweiligen Konkretheit Epiphänomene
ökonomischen und sozialen Strukturlagen gegenüber
sind, die man weitgehend mit einer neuartigen Denkme-
thode erkennen kann, sind Entdeckungen des Marxismus,
die von einer höheren Warte aus gesehen Erweiterungen
des Gesichtsfeldes und immer klarere Bestimmungen des
eigentlich politischen Spielraumes sind. Mit dieser Einsicht
hängt der Struktur nach die Entdeckung des Ideologie-
phänomens zusammen. Es ist dies der erste Versuch, einer
"t:einen Theorie" gegenüber das Phänomen des "seinsge-
bundenen Denkens" - wenn auch sehr einseitig - .zu
fixieren.
Und schließlich, um auf den zuletzt behandelten Gegen-
spieler zurückzukommen: Hatte der Marxismus allzu scharf
den rein strukturellen Untergrund im politischen und histo-
rischen Gebiet gesehen und überbetont, so wendet sich
der Blickpunkt fascistischen W elterlebens und Denkens auf
das Unstrukturierte im Leben, auf jene noch immer vor-
handenen und bedeutungsvoll werdenden "Augenblicke"
der Krisensituationen, wo die Klassenkräfte gleichsam auf-
gelockert und in Verwirrung geraten sind, wo die Hand-
lungen der Menschen als momentaner Massenwesen be-
deutungsvoll werden und alles auf die den Augenblick
beherrschenden Vorstoßtruppen und deren Führer an-
kommt. Aber auch hier ist es eine Überbetonung und Hy-
postasierung einer Teilphase im Geschichtlichen, wenn
diese (ziemlich häufig aufleuchtenden) Möglichkeiten zum
ausschließlichen Charakter des Geschichtlichen gestempelt
·werden.
Das Auseinandergehen der Theorien im Politischen be-
ruht also hierbei im wesentlichen darauf, daß die einzelnen
im sozialen Strome entstehenden Beobac4tungswarten
(Standorte) von einem jeweils verschiedenen Punkte des
Stromes aus den Strom selbst erkennbar machen. Hiermit
werden jeweils verschiedene sozial-vitale Instinkte zur Gel-
tung gebracht und dementsprech~nd jeweils verschiedene
Sphären im Ganzheitszusammenhange beleuchtet und mit
einer stets charakteristischen Ausschließlichkeit ins Auge
gefaßt.
Alle politischen Aspekte sind nur Teilaspekte, weil die
historische Totalität stets zu umfassend ist, als daß die ein-
zelnen aus ihr entstehenden Beobachtungswarten je den
überblick über das Ganze erschlössen. Aber gerade des-
halb, weil alle diese Beobachtungsaspekte in demselben
Strome des Geschichtlichen und Sozialen aufkommen,
weil also ihre Partikularität im Elemente einer werdenden
Ganzheit sich konstituiert, ist die Möglichkeit ihrer Ge-
genüberstellung gegeben und ihre Zusam~enschau eine
stets von neuem gestellte und zu vollziehende Aufgabe.
Diese stets zu erneuernde Zusammenschau der jeweils
vorhandenen partikularen Einsichten ist um so eher mög-
lich, als die synthetischen Versuche genau so ihre Tradi-
tion haben, wie das rein auf Parteilichkeit fundierte Wis-
sen. Hatte doch bereits Hegel, am Ende einer relativ
geschlossenen Epoche stehend, es -versucht, die sich bis
dahin getrennt entwickelnden Tendenzen in sich zu ver-
arbeiten! Wenn sich auch diese Synthesen stets immer
wieder als standortsgebundene Synthesen erweisen und
im Laufe der Entwicklung wieder auseinanderfallen (um
z. B. einen Links- und Rechtshegelianismus zu erzeugen),
so besagt das nur, daß sie keine absoluten, sondern
relative Synthesen waren und als solche in eine Rich-
tung wiesen, die eigentlich die wesentlichste Verheißung
in sich trägt.
Eine absolute, zeitlose Synthese zu fordern, würde un-
sererseits ein Zurückfallen in das statische Weltbild des
Intellektualismus bedeuten. In einem Gebiet, in dem alles
im Werden begriffen ist, kann auch die adäquate Synthese
nur eine dynamische, nur eine von Zeit zu Zeit neu vor-
zunehmende sein. Aber als solche wird sie stets eine der
wichtigsten Aufgaben, die man sich überhaupt stellen kann,
119
zu leisten haben: die in der Zeit überhaupt erreichbare um-
fassendste Sicht vom Ganzen zu bieten.
Auch werden die synthetischen Versuche nicht ohne Zu-
sammenhang miteinander aufkommen, denn die eine Syn-
these bereitet die andere vor, indem sie stets die Kräfte und
Aspekte ihrer Zeit zusammenfaßt. Ein bestimmtes Fort-
schreiten im Sinne eines utopischen Abschlusses auf eine
absolute Synthese hin wird insofern sich in ihnen vor-
bereiten, als sie stets von einer immer weiteren Denkbasis
aus die Zusammenschau versuchen, wobei die späteren die
früheren irgendwie in sich aufgehoben enthalten.
Zwei Schwierigkeiten ergeben sich allenfalls auchfür die
relative Synthese auf jener Stufe der Überlegungen, die
jetzt erreicht ist.
Zunächst die Schwierigkeit, daß wir uns bereits die Par-
tikularität eines Standpunktes nicht mehr als eine bloß
quantitative vorstellen dürfen. Würde die Gespaltenheit
der politischen, weltanschaulichen Einsichten nur darin
bestehen, daß sie jeweils eine. andere Seite, ein anderes
Stück, andere Inhalte im geschichtlichen Geschehen be-
leuchten, so wäre eine summative Synthese ohne wei-
teres möglich: man müßte eben die Teilwahrheiten addieren
und auf diese \Y/eise zu einer Ganzheit zusammenfügen.
Diese einfache Konzeption einer Synthese ist aber nicht
mehr denkbar, wenn man gesehen hat, daß die Standorts-
gebundenheit parteilicher Einsichten nicht nur auf inhalt-
liche Elemente sich gründet, sondern sich schon in einer
Spaltung der Aspekte, der Problemstellungen bekundet
und nicht zuletzt auf einem Auseinandergehen der Denk-
kategorien und Ordnungsprinzipien beruht. Die Frage ist
die: Können auch Denkstile (darunter ist diese soeben
charakterisierte Verschiedenheit der Denkweisen zu ver-
stehen) sich verbinden, Synthesen eingehen? Auch hier
beweist der geschichtliche Verlauf die Möglichkeit einer
solchen Verbindung. Jede koJ?.krete, soziologisch-stil-
120
geschichtliche Analyse des Denkens zeigt, daß Denkstile sich
ununterbrochen mischen und gegenseitig durchdringen.
Und zwar vollziehen sich Stilsynthesen im Denken nicht
nur bei den par-excellence-Synthetikern, die mehr oder
minder bewußt die ganze Zeit im Gedanken erfassen wol-
len (wie etwa Regel), sondern auch bei den übrigen Stand-
orten, die mindestens die auf ihrer Seite sich herausbilden-
den Spannungen zusammenzufassen bestrebt sind. So hatte
Stahl im Konservatismus versucht, alle bis dahin den Kon-
servatismus formierenden Denktendenzen - so etwa den
Historismus mit den theistischen Grundlagen - zu ver-
knüpfen, oder Marx, das liberal-bürgerliche, generelle Ge-
setze suchende Denken mit dem Historismus Begelseher
Spielart zu verbinden, der selbst konservativen Impulsen
entsprang. Es ist also deutlich, daß nicht nur die Denk-
inhalte, sondern auch die Denkbasis fähig ist, synthetische
Verbindungen einzugehen. Diese Synthese der bislang ge-
trennt sich entwickelnden Denkstile scheint um so nötiger
zu sein, als das Denken stets seine kategorial-formale Fas-
sungskraft zu erweitern bestrebt sein muß, wenn es der
anschwellenden und immer dichter werdenden Problematik
Herr werden will. Bilden also bereits die einzelnen parteilich
eng gebundenen Standorte synthetische Denkmethoden
aus, so tun dies um so mehr jene Standorte, die von An-
fang an den Impuls haben, die jeweilig mögliche Totalität
in sich zu Worte kommen zu lassen.
121
einer dynamisch-relativen Synthese es auf einmal auf eine
überzeitlich-absolute abgesehen hätte, droht hier die Ge-
fahr, daß.man den bisher stets betonten Voluntarismus des
politischen Denkens aus dem Auge verliert und diejeweilige
Synthese einem angeblich übergesellschaftlichen Subjekt
überläßt. Ist das politische Denken einmal durch und
durch standortsgebunden, so muß dieser \Ville zur je-
weiligen Totalsynthese auch von bestimmten sozialen
Kräften getragen sein.
Und in der Tat, sieht man sich in der Geschichte des
politischen Denkens um, so bemerkt man, daß der Wille
zur jeweiligen Synthese stets von sozial eindeutig bestimm-
baren Schichten getragen wird, und zwar von jenen mitt-
leren Klassen, die sich von unten und oben bedroht fühlen
und sozial instinktiv von vornherein eine Vermittlung
zwischen den Extremen suchen. Aber auch diese Vermitt-
lung hat von Anfang an eitle doppelte Gestalt: eine sta-
tische und eine dynamische. Welcher von beiden man zu-
gänglicher sein wird, hängt weitgehend von der sozialen
Lagerung der ihnen zurechenbaren Träger ab.
Die ttatische Form der Vermittlung hatte zuer~t
. das emporgekommene Bürgertum - und zwar zur Zelt
des französischen Bürgerkönigtums - gesucht und diese im
Prinzip als "juste milieu" formuliert. Dieses Schlagwort ist
aber eher die Karikatur einer wahren Synthese als eine
Lösung derselben, die eben nur eine dynamische sein kann.
Eben deshalb läßt sich gerade hier am besten .zeigen, wie
die' Lösung nicht sein darf.
Walire Synthese bedeutet nicht die quantitative Mitte
zwischen den gerade vorhandenen Forderungen im sozialen
Raume. Das wäre eine Lösung, die nur dazu dienen könnte,
einen sozialen Status zugunsten jener zu stabilisieren, die
eben emporgekommen sind, die ihre soziale Beute weder
von "rechts" noch von "links" bedroht wissen wollen.
Es muß dabei im Gegenteil u~ eine ·politische Haltung
122
gehen, die eine progressive Weiterbildung der Geschichte
in der Weise fördert, daß in ihr möglichst viel von den
akkumulierten Kulturgütern und sozialen Energien er-
halten bleibt; zugleich muß sich aber der neue Status
in voller Breite und um so organischer durchsetzen und
seine umbildende Kraft zur Geltung bringen können.
Diese Haltung erfordert ein eigentümliches Wachsein dem
historischenJetzt gegenüber. Das räumliche "hic" und das
zeitliche "nunc" im historischen und sozialen Sinne müssen
stets gegenwärtig sein, und man muß vonFall zu Fall wissen,
was nicht mehr nötig und was noch nicht möglich ist.
· Eine solche stets experimentierende, eine ~oziale Sensi-
bilität in sich entwickelnde, auf die Dynamik und Ganz-
heit ausgerichtete Hai tung wird aber nicht eine in der
Mitte gelagerte Klasse, sondern nur eine relativ klassenlose,
nicht allzu fest gelagerte Schicht im sozialen Raume auf-
bringen. Betrachtet man daraufhin die Geschichte, so wird
. man auch hier eine ziemlich prägnante Einsicht erhalten.
Jene nicht eindeutig festgelegte, relativ klassenlose
· Schicht ist (in Alfred Webers Terminologie gesprochen)
die sozial freischw-ebende Intelligenz. Es ist nun
. unmöglich, in die~em Zusammenhange das schwierige
soziologische Problem der Intelligenz auch nur einiger-
maßen zu umreißen. Ohne aber gewisse Momente zu be-
rühren, die diesem Probleme zugehören, läßt sich die
hier prinzipiell gestellte Problematik nicht darstellen und
lösen. Eine nur an Klassen orientierte Soziologie wird ge-
rade dieses Phänomen niemals ganz adäquat erfassen kön-
nen. Sie wird darnach trachten, die Intelligenz selbst als
Klasse oder mindestens als Anhängsel einer Klasse zu er:..
fassen. Damit wird sie bestimmte Determinanten und
Komponenten dieser schwebenden sozialen Ganzheit rich-
tig charakterisieren, nicht aber diese Ganzheit in ihrer
besonderen Eigenart. Sicher ist unsere Intelligenz zum er-
heblichen Teil Rentnerintelligenz, die vom industriellen
123
Leihkapital lebt. Aber genau so gehören dazu breite Beam-
tenschichten und die Fülle der sogenannten freien Berufe.
Untersucht man diese alle einzeln auf ihre soziale Basis hin,
so ergibt sich bei weitem nicht 'jene Eindeutigkeit der Zu-
rechnung, wie dies bei den am ökonomischen Prozeß un-
mittelbar beteiligten Schichten der Fall ist.
Bereichert man diese nur an einem bestimmten Zeit-
punkte orientierte soziologische Analyse aber noch um eine
historische, so wird das dadurch gewonnene Strukturbild
nur noch uneinheitlicher: Verschiebungen im historischen
und sozialen Raume berühren diese Gruppen günstig, jene
ungünstig, so daß man von einem klassenmäßig homogenen
Determiniertsein nicht sprechen kann. Vom Klassenstand-
punkt aus viel zu mehrdeutig, um als Einheit aufgefaßt wer-
den zu können, gibt es doch ein vereinheitlichendes sozio-
logisches Band zwischen den Intellektuellengruppen: eben
die Bildung, die sieaufeiner ganzneuartigenWeise verbindet.
Das Teilhaben am gemeinsamen Bildungsgut unterdrückt
der Tendenz nach immer mehr die geburtsmäßig-ständi-
schen, beruflichen, besitzmäßigen Differenzen und verbindet
die einzelnen Gebildeten gerade im Zeichen dieser Bildung.
Völlig aufgehoben werden die ständischen und klassen-
mäßigen Bindungen des einzelnen dadurch nicht, aber ge-
rade das ist das Eigenartige dieser neuen Basis, daß sie die
Vielstimmigkeit der Determinanten in ihrer Polyphonie be-
wahrt, indem sie ein homogenes Medium schafft, in dem
sich diese widerstreitenden Kräfte messen können. So ist
·die moderne Bildung von Anfang an lebendiger Wider-
streit, verkleinertes Abbild der im sozialen Raum sich be-
kämpfenden Wollungen und Tendenzen. Dementsprechend
ist der Gebildete, was seinen geistigen Horizont betrifft,
mehrfach determiniert. Das erworbene Bildungsgut führt
ihm polare Tendenzen der sozialen Wirklichkeit entgegen,
während der nicht durch die Vermittlung der Bildung mit
dem Ganzen verbundene, sondern unmittelbar am sozialen
124
Produktionsprozeß Beteiligte tendenziell nur die W eltan-
schauung bestimmter Lebenskreise in sich aufnimmt und
ausschließlich aus der Determination seiner bestimmten
Lagerung heraus handelt.
Man kann es eben als eine der eindrücklichsten Tat-
sachen des modernen Lebens festhalten, daß in ihm das
Geistige nicht (wie in den meisten vorangehenden Kul-
turen) von einem sozial streng gebundenen Stande (von
der Priesterkaste etwa) getragen wird, sondern von einer
sozial weitgehend freischwebenden Schicht, die der Ten-
denz nach sich aus einer stets sich erweiternden sozialen
Basis erneuert. Diese soziologische Tatsache -bestimmt im
wesentlichen die EigenartmodernerGeistigkeit, die
hierdurch nicht hieratisch gebunden, abgenmdet und ge-
formt, sondern dynamisch, elastisch, stets in Umwälzung
begriffen Q.nd mit Problemen belastet ist.
Schon der Humanismus wurdeweitgehend von einer sol-
chen sozial sich mehr oder minder emanzipierenden Schicht
getragen. Und wo der Adel Kulturträger wurde, durchbrach
er in vielem die Gebundenheit ständischer Mentalität. Eine
sozial sich ganz und gar abhebende Bildungsebene konstitu-
ierte sich aber erst zur Zeit des aufkommenden Bürgertums.
Das moderne Bürgertum.hatte von Anfang an eine zwei-
fache soziale Wurzel: es bildete sich einerseits aus den
Trägern des Kapitals und andererseits aus Individuen, de-
ren einziges Kapital ihre Bildung war. Man sprach daher
von der Klasse des Besitzes und der Bildung, wobei sich die
Bildungsschicht nicht ohne weiteres mit dem Besitz ideo-
logisch in Deckung befand 1 •
1
Vgl. die Studie: Briiggemann, Fr.: Der Kampf um die bürgerliche
Welt- und Lebensanschauung in der deutschen Literatur des I8.Jahr-
hunderts. Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und
Geistesgeschichte. Halle 1925. 3· Jahrg. S. 94ff. Hier ist diese stets
immer wieder aufflackernde "überbürgerliche" Komponente in der
bürgerlichen Literatenschicht gut herausgearbeitet.
Es entsteht also mitten in der immer intensiver klassen-
mäßig sich spaltenden Welt eine Schicht, die durch eine
bloß an Klassen orientierte Soziologie sehr schwer bzw.
gar nicht zu erfassen ist, die aber dennoch in ihrer spezifi-
schen sozialen Lagerung sehr wohl charakterisiert werden
kann. Sie bildet eine Mitte, aber keine klassenmäßige
Mitte. Nicht als ob sie gleichsam im luftleeren Raume
über diesen Klassen schweben würde, ganz im Gegenteil
vereinigt sie in sich alle jene Impulse, die den sozialen
Raum durchdringen. Aus je mehr Klassen und Schichten
sich die einzelnen Gruppen der Intelligenzschicht rekru-
tieren, um so vielgestaltiger und polarer wird in ihren Ten-
denzen die Bildungsebene, die sie verbindet. Der einzelne
nimmt dann mehr oder minder an der Gesamtheit der sich
bekämpfenden Tendenzen teil.
Während der am Produktionsprozeß direkt Beteiligte,
der an Klassen oder an eine besondere Lebensweise ge-
bunden ist, unmittelbar und ~ein von der spezifischen
sozialen Seinslage aus determiniert wird, wird der Intel-
lektuelle stets außer seiner spezifischen Klassenaffinität
auch durch dieses alle Poladtäten in sich enthaltende geistige
Medium bestimmt sein.
Aus dieser gesellschaftlichen Situation strahlte stets eine
potentielle Energie, die die bedeutenderen Repräsentanten
dieser Schicht immer wieder in die Lage versetzte, jene
soziale Sensibilität aufzubringen, die allein dazu befähigt,
sich in die dynamisch sich bekämpfenden Kräfte einzu-
fühlen; alles wurde hierbei immer wieder auf die neue Welt-
lage hin in Frage gestellt. Aber auch gerade durch das kul-
turelle Band erfolgte eine solcheVerflechtung mit der Ganz-
heit, sodaß die Tendenz zur dynamischen Synthese, trotz
aller zeitweiligenVerhüllungen, vondenennoch zu sprechen
sein wird, stets von neuem durchbrach.
Man hatte bisher meistens nur die negative Seite dieses
Freischwebens der Intellektuellen, das Wankende ihrer
126
sozialen Basis und das vorwiegend Deliberative der Menta-
lität, mit Vorliebe hervorgehoben und überbetont. Es waren
besonders die politischen Extreme, denen es hauptsächlich
auf scharf konturierte Entscheidungen ankam, die diese
Haltung dann "charakterlos" nannten. Es bleibt aber zu
fragen, ob denn in der politischen Sphäre die Entscheidung
für die dynamische Vermittlung nichtgenauso eine Ent-
scheidung ist wie das rücksichtslose Vertreten der Prin-
zipien von gestern oder die einseitige Betonung des kom-
menden Tages.
Zunächst ergeben sich aus dieser Mittellage zweiW ege,
die diesefreischwebende Intelligenz in der Tat~ingeschlagen
hat: einmal der weitgehend aus freier Wahl erfolgende
Anschluß an die verschiedensten sich jeweils be-
kämpfenden Klassen, und ferner das Sich-Besinnen
auf die eigenen Wurzeln, das Suchen der eigenen Mission,
prädestinierter Anwalt der geistigen Interessen des Ganzen
zu sein.
Was den ersten Weg betrifft, so findet man in der Tat
im Laufe der Geschichte die Vertreter dieser relativ frei-
schwebenden Schicht beinahe in allen Lagern. Sie lieferte
stets die Theoretiker für die konservativen Gruppen, die
infolge ihrer Bodenständigkeit nur sehr schwer zur reflexiv-
theoretischen Haltung zu bringen waren. Sie lieferte aber
auch Theoretiker für das Proletariat, das infolge seiner so-
zialen Lage die Vorbedingungen für das Erreichen der im
modernen politischen Kampfe nötigen Bildung nicht be-
saß. Von dem Zusammengehen mit dem liberalen Bürger-
tum ist bereits gesprochen worden.
Dieses Sichanschließen-Können an klassenmäßig ihnen
fremde Gruppen war möglich, weil sie sich in alle Posi-
, tionen einfühlen konnten und weil für sie, und nur für sie,
die Wahlmöglichkeit bestand, während klassenmäßig ein-
deutig bestimmte Individuen nur in Ausnahmefällen über
ihre soziale Bindung hinaus zu handeln imstande sind. Diese
127
aus eigener Wahl entstehende Entscheidung verband sie
zwar im politischen Kampfe mit der gewählten Klasse,
ließ si"e aber stets von seiten der verwurzelten Individuen
derselben Klasse auf ein bestimmtes Mißtrauen stoßen. '
Dieses Mißtrauen ist aber nur ein Symptom für den sozio-
logischen Tatbestand, daß das Aufgehenwollen der In-
tellektuellen in einer ihnen fremden Klasse seine Grenze
findet an ihrer geistigen und ständischen Bedingtheit. Diese
ist soziologisch so gewaltig, daß sie sogar dem Proletarier,
sofern er sich zum Intellektuellen emporarbeitet, einen
ständischen Einschlag beibringt. Es kann nicht unsere Auf-
gabe sein, die volle Kasuistik der Wege der intellektuellen
Seele, die diese einschlägt, wenn sie dem erwähnten Miß-
trauen begegnet, hier zu beschreiben. Es sei nur darauf
hingewiesen, daß der Fanatismus der radikal werdenden
Intellektuellen von hier aus zu verstehen ist. Es dokumen-
tiert sich in ihm eine geistige Kompensation des Mangels
sozial-vitaler Bindung und die Notwendigkeit, das eigene
und das fremde Mißtrauen zu überwinden.
Man mag diesen Weg der einzelnen Intellektuellen und
ihr stetes Schwanken verurteilen, für uns gilt es aber, diese
Haltung aus der soziologischen Eigenart ihrer Struktur-
lage zu verstehen. Soziales Vergehen und soziale Sünde
sindnichts anderes als negative Auswertung einer Lagerung.
Statt den Punkt zu erspähen, der die eigene Mission be-
gründet, gibt man sich ohne weiteres der Verführung hin,
die diese Lagerung enthält. Es wäre nichts unrichtiger, als
den Wert einer sozialen Lagerung nur auf Grund qes er-
folgten Abfalles zu beurteilen und nicht zu sehen, daß die
häufig erfahrbare "Gesinnungslosigkeit" der Intelligenz
· nur die Kehrseite .der Tatsache ist, daß nur sie wirklich
Gesinnung haben könnte. Historisch gesehen experimen-
tiert eben auch in den Verfehlungen die Geschichte, die den
Geist in unserer Gesellschaft zu einer Heimatlosigkeit ver-
urteilt hat. Diese 'stets sich wiederholenden Anschluß-
128
bestrebungen, aber auch das stete Abgestoßenwerden muß I
letzten Endes dazu führen, Sinn und Wert des eigenen Stand-
ortes im sozialen Raume immer durchsichtiger zu machen.
Schon dieser erste Weg des direkten Anschlusses an
Klassen und Parteien vollzog sich, wenn auch unbewußt,
im Zeichen einer dynamis-chen Synthese. Schlug man sich
doch stets auf jene Seite, die der geistigen Förderung be-
durfte. Es waren zumeist die Intellektuellen, die den bloßen
Interessenkampf spiritualisierten. Auch dieses Spirituali-
sieren hat zwei Gesichte: einmal das leere Glorifizieren der
nackten Interessen in den Lügengeweben der bloßenRecht-
fertigungsdenker, andererseits aber die positive Note der
Einfügung bestimmter geistiger Forderungen in die aktive
Politik. Schon wenn sie kein anderes Verdienst hätten, als
daß sie als Preis ihres jeweiligen Anschlusses den Parteien
und Klassen diese Prägung auferlegten, so hätten sie mehr
als nur Wichtiges geleistet. Dieses Tun, dessen Devise
lauten könnte: Eindringen in die Reihen der sich be-
kämpfenden Parteien, um auf dieseWeise ihnen die eigenen
Forderungen aufzuzwingen, hat historisch gesehen zur
Genüge gezeigt, worin die soziologische Eigenart und die
Mission dieser freischwebenden Schicht besteht.
Und der zweite \Veg besteht in nichts anderem, als in
derkonkreten Bewußtmachung der eigenen sozia-
len Position und der daraus entstehenden Mission. Es
sollte von nun an Anschluß bzw. Opposition auf Grund
einer bewußten Orientierung im sozialen Raume nach den
Bedürfnissen des geistigen Elementes erfolgen.
Besteht eine der Grundtendenzen der gegenwärtigen
Welt darin, daß das Klassenbewußtsein allmählich in allen
Klassen erwacht, so wird es nicht ausbleiben können, daß
auch diese soziale Schicht, wenn auch nicht zu einem
Klassen bewußtsein, so doch zum klarenBewußt-
sein ihrer Lagerung und der daraus entstehen-
den Aufgaben und Möglichkeiten gelangt. Dieses
10
129
Bestreben, das soziologische Phänomen der Intelligenz zu
erfassen und von hier aus zur Politik Stellung zu nehmen,
hat genau so seine Traditionen wie das zuerst erwähnte, das
die Intelligenz den Weg des Sichverschmelzens suchen ließ.
Es gilt hier nicht, die Möglichkeiten einer eigenen In-
tellektuellenpolitik näher zu untersuchen. Eine solche
Untersuchung würde voraussichtlich zeigen, daß sie in der
gegenwärtigen Phase als eigenständige nicht möglich ist.
In einer geschichtlichen Etappe, in der die interessen-
mäßigen Standorte immer klarer sich herauskristallisieren
und aus den Massenaktionen ihre Stoßkraft und Rich-
tungsbestimmtheit schöpfen, wird eine anders geartete
Orientierung im politischen Handeln wohl kaum möglich
sein. Es ist aber damit keineswegs gesagt, daß diese spe-
zifische Strukturlage der Intelligenz sie nicht zu Leistungen
befähigt, die für den Gesamtprozeß von unersetzbarer Be-
deutung sind. Diese bestehen aber in erster Reihe darin,
jeweils den Punkt zu finden, von wo aus Gesamtorien-
tierung im Geschehen möglich ist, Wächter zu sein in einer
sonst allzu finsteren Nacht. Gerade weil der Intellektuelle
zur Politik anders gelangt a]s all die übrigen Schichten, ist
es fraglich, ob es so wünschenswert ist, alle jene Chancen,
die in dieser spezifischen Lagerung liegen, ohne weiteres
zu verschütten.
Während den durch eine mehr oder minder eindeutige
Klassenlage bestimmten Schichten die politische Entschei-
dung bereits vorgegeben ist, besteht hier ein viel breiterer
Spielraum der Wahl und dementsprechend ein Bedürfnis
der Gesamtorientierung und Zusammenschau.
Diese aus der Lagerung entspringende Prädisposition
ist auch dann da, wenn diese Lagerung niemals zu einer
einheitliehen Parteibildung treiben könnte, und es ist eine
entsprechende Totalorientierung potentiell auch
dann lebendig, wenn der Intellektuelle sich einer
Partei angeschlossen hat. Sollte diese Fähigkeit zur
IJO
erweiterten Umschau nur als ein Manko ausgedeutet werden
können, liegt nicht darin vielmehr eine Mission? Nur jener,
der wirklich die Wahl hat, hat ein Interesse daran, das
" Ganze des sozialen und politischen Gefüges von allen Seiten
behandelt zu sehen. Nur in jener Zeitspanne und Beobach..:
tungsphase, die der Deliberation gewidmet ist, ist der sozio-
logisch-logische Ort des Entstehens einer synthetischen
Forschung zu suchen. Und nur eine Freiheit, die durch
Wahlmöglichkeit fundiert ist und die als solche auch nach
dem Entschluß konstitutiv gegenwärtig ist, macht wahre
Entscheidung möglich. Nur dem Vorhandensein einer
solchen relativ freischwebenden Mitte, der .immer wieder
Individuen sozial verschiedenster Herkunft mit ihren ver-
, schieden gearteten hergebrachten Denkweisen zuströmen,
ist ein reales gegenseitiges Durchdringen der vorhandenen
Tendenzen zu danken und nur von hier aus kann die früher
angedeutete, immer von neuem vorzunehmende Synthese
entstehen.
Was aber die Forderung der dynamischen Vermittlung
anlangt, so hatte schon die Romantik, als Folge ihrer so-
zialen Lagerung, sie zum Prograriunpunkte gemacht, und
es gehört zur Struktur dieser Forderung die Tatsache, daß
sie damals zu einer konservativen Entscheidung führte. ·
Hatte doch die nächste Generation die revolutionäre Ent-
scheidung für die zeitgemäße gehalten.
Das Wesentliche für diesen Zusammenhang ist, daß
allein in dieser Entwicklungslinie das Streben bestehen
bleibt, "lebendig zu vermitteln", politische Entscheidung
mit vorangehender Gesamtorientierung zu verbinden. Vom
Vorhandensein einer solchen dynamischen Mitte ist es heute
eher als je zu erwarten, daß sie den Drang hat, außerhalb
der Parteischulen ein Forum zu schaffen, auf dem der Blick
und das Interesse für das jeweilige Ganze bewahrt bleiben.
Und gerade diesen latenten Impulsen ist es zu verdanken,
wenn heute, wo auf der einen Seite die unvermeidliche
Io*
IJI
Parteilichkeit jedes politischen Wollensund Wissens sicht-
bar wird, zugleich auch deren Partikularität ins
Blickfeld rückt. Gerade heute, wo wir so weit sind, daß
wir durch ein Wachsein nach aUen Richtungen hin die
Möglichkeit haben, das Gesamtwerden der politischen
Wollungen und Weltanschauungen aus dem soziologisch
erfaßbaren Totalprozeß heraus zu verstehen, ist erst die
höhere Möglichkeit einer Politik als Wissenschaft gegeben.
Werden also, der Gesamttendenz der Zeit entsprechend,
immer mehr Parteischulen entstehen, so ist es um so mehr
wünschenswert, daß auch äußerlich eine Plattform ge-
schaffen wird, sei es auf Universitäten oder auf eigenen
Hochschulen, die der Pflege dieser höheren Form einer
politischen Wissenschaft zu dienen vermag. Wenden
sich Parteischulen ausschließlich an gebundene Willens-
kräfte, so wird diese Art der Forschung den vor der Wahl
oder Entscheidung Stehenden als Hörer voraussetzen. Es
ist nichts wünschenswerter,-als daß sogar die aus strikten
Interessenbindungen aufsteigenden Intellektuellen gerade
in ihrer Jugend diese Phase der Umschau und den Gesichts-
punkt der Ganzheit in sich aufnehmen.
Auch in einer solchen Hochschule sollten nicht "Partei-
lose" zu Worte kommen, auch hier gilt es nicht, die poli-
I
I
tische Entscheidung auszuschalten. Aber ·es ist doch ein
I
' gewaltiger Unterschied, ob ein Lehrer, der die Phase der
Deliberation hinter sich hat, zu deliberierenden Hörern von
seinem errungenen Zentrum aus spricht und auf diese
Weise ein Bild vom Totalzusammenhange entwirft, oder
ob es beim Forschen und Lehren nur auf die Züchtung
eines vorgegebenen Parteiwillens ausschließlich ankommt.
Eine so geartete politische Soziologie, die nicht pri-
mär Entscheidungen diktiert, sondern den Weg ,
zur Entscheidung bereiten will, wird Zusammen-
hänge im politischen Felde beleuchten können, die bisher
kaum gesehen wurden. Sie wird insbesondere Strukturen
132
des sozial gebundenen Willens aufzuhellen imstande sein.
Sie wird die Determinationsfaktoren der klassenmäßig ge-
bundenen Entscheidungen, also die Wege gebund~ner
kollektiver Willenskräfte, mit denen jeder zu rechnen hat,
wenn er Politik treibt, aufdecken. Es werden etwa Zu-
sammenhänge folgender Art aufgeheUt werden: Wenn je-
mand dies und jenes will, so wird er in einem bestimmten
Zeitpunkte des Geschehens so und so denken, dann sieht
er so und so den Gesamtprozeß. Daß er aber dies und
jenes will, das hängt mit diesen und jenen Traditionen zu-
sammen, welche ihrerseits wieder auf diese und jene Struk-
turbestimmtheiten des sozialen Raumes zurückgehen. Nur
wer die Frage so zu stellen imstande ist, kann einem jeden
eine Sicht über das Strukturbild des politischen Feldes
vermitteln und die relativ vollständigste Erfassung der To-
talität ermöglichen. Diese Forschungsrichtung wird immer
mehr eine klare Einsicht in die Eigenart des historisch-
politischen Denkens vermitteln und immer klarer · auf-
weisen können, wie das jeweilige Sehen der Geschichte mit
' der politischen Entscheidung zusammenhängt. Sie wird
aber zugleich viel zu politisch sein, um zu meinen, daß
auch die Entscheidungen lehrbar oder gar in einem für uns
gegebenen Zeitpunkt aufhebbar seien.
Was du zu wollen hast, hast du als politischer Mensch zu
,. wollen, wenn du aber dies und jenes willst, mußt du dies
und jenes tun, und dies ist dein Ort im Gesamtprozeß 1 •
1 Ungefähr in diesem Sinne (wenn auch von ganz anderen Prä-
missen ausgehend) hat schon Max Weber die Aufgaben einer poli-
tischen Soziologie formuliert. In ihm bricht der Wille zur Schaffung
einer vermittelnden Plattform im politischen Forschungsfelde aus
alten demokratischen Traditionen heraus von neuem durch. Wenn
seine Lösung noch allzusehr auf der Voraussetzung der grundsätz-
lichen Trennbarkeit von Theorie und Entscheidung durchdrungen
ist, so bleibt seine Forderung, eine gemeinsame Plattform für die
Erforschung des politischen Feldes zu schaffen, ein immer wieder zu
erstrebendes Ziel.
1 33
Die Willensentscheidung wifd als nicht lehrbar betrach-
tet, aber den Strukturzusammenhang zwischen Entschei-
dung und Sicht, zwischen Sozialprozeß und Willensprozeß
zum Thema der Mitteilung und Forschung zu machen, ist
doch eine der Forschung zugängliche Aufgabe. Wer aber
auch hier von der Politik als Wissensch-aft verlangt, sie solle
auch die Willensentscheidung lehren, der überlege, daß dies
die Forderung bedeuten WÜrde, sie möge die Politik als
Wirklichkeit aus der Welt schaffen. Von der Politik als
Wissenschaft kann man nur verlangen, sie möge die Wirk-
lichkeit mit dem Auge des handelnden Menschen sehen und
und sie möge zugleich den handelnden Menschen lehren,
auch den gegen ihn Handelnden aus dessen unmittelbarstem
Aktivitätszentrum und dessen Lagerung im historisch-so-
zialen Raume zu verstehen. Politische Soziologie in diesem
Sinne hat sich ihrer Bedeutung als optimale Zusammenschau
der itn historischen Raume vorhandenen Tendenzen be- ~
wußt zu sein, sie hat zu lehien, was lehrbar ist: die Struk-
turzusammenhänge, nicht aber die Entscheidungen, die _
man nicht lehren, sondern in adäquater Weise nur bewußt
machen und läutern kann.
134
ausgelegt werden, sondern er muß vielmehr als Ansporn
dazu dienen, unsere gesamte Wissenschaftsauffassung zu
" revidieren. Denn auch ein nur flüchtiger Blick auf unsere
Wissenschaftskonzeption und auf den Wissenschaftsbetrieb
zeigt, daß man in keinem Gebiet gerade mit jenen Wissen-
schaften in der Theorie fertig geworden ist, die irgendwie
" auf die Praxis ausgerichtet sind. Es gibt genau so wenig
eine Pädagogik in adäquater Weise, wie es eine wirkliche
wissenschaftliche Politik gibt. Denn damit ist sicher nichts
gewonnen, daß man, nachdem man mit den wesentlichsten
Problemen dieser Wissenszweige nicht fertig werden kann,
das eigentlich Pädagogische und Politische als "Kunst",
• als "intuitive Fertigkeit" abtut und damit -aus dem ver-
pflichtenden Problemkreise entfernt.
Das lebendige Leben zeigt eben, daß sowohl der Päd-
agoge als auch der Politiker gerade im spezifischen Ge-
biete des Handeins sich in steigendem Maße ein Wissen zu
erwerben und unter adäquaten Bedingungen auch weiter-
zugeben imstande ist. Daraus folgt, daß unser Wissen-
schaftsbegriff viel enger als der Bereich der tatsächlich
vorhandenen Wissensarten ist und daß das mögliche und
mitteilbare Wissen keineswegs dort aufhört, wo das Feld
·unserer heutigen Wissenschaften abschließt.
Ist es aber so, daß das Leben noch Wissensmöglich-
keiten und Typen des Erkennens da aufweist, wo die
Wissenschaft selbst aufhört aktiv mitzutun, dann kann die
Lösung nicht darin bestehen, daß man diese Wissenstypen
als "vorwissenschaftliche" abtut und der "Intuition" über-
läßt, nur um das eigene Gehäuse nicht sprengen zu müssen.
Im Gegenteilist es unsere Pflicht, gerade die Eigenart dieser
noch nicht ergründeten Wissensarten von innen heraus zu
erfassen und sich zu fragen, ob denn nicht der . Horizont
und die Konzeption der Wissenschaften so weit erweitert
werden könnten, daß sie auch diese angeblich Vorwissen-
schaftlichen Wissensgebiete zu umschließen vermöchten.
135
Was man als wissenschaftlich und was man als vor-
wissenschaftlich bezeichnet, hängt sehr eng damit zusam-
men, wie man imVorangehenden stillschweigend die Gren-
zen des Wissenschaftlichen fixiert hat. Daß man aber hier-
bei zu engherzig war und nur bestimmte Wissensarten
(aus geschi<;:htlichen Gründen) als Paradigmata gelten
ließ, ,dürfte durchsichtig geworden sein. Es ist z. B. be-
kannt, in welcher Weise in der modernen geistigen Ent-
wicklung gerade die Mathematik diese beherrschende Rolle
gespielt hat. Streng genommen dürfte von ihr aus gesehen
nur das als Wissen gelten, was quantifizierbar ist. Das uto-
pische Vorbild war in dieser Epoche das more mathema~
tico et geometrico beweisbare Wissen, wobei alles Qua-
litative nur irgendwie abgeleitet in Betracht kommen
konnte. In der Tat hält der moderne Positivismus (der
irgendwie stets seine Affinität zum bürgerlich-liberalen
Bewußtsein bewahrte und sich in dieser Richtung ent-
wickelte) an diesem Wissenschaftsbilde und Wahrheits-
vorbilde fest. Höchstens fügte er noch die Erforschung
genereller Gesetze als würdigenswerten Erkenntnistypus
hinzu. Um diesem vorherrschenden WTissenschaftsbild zu
entsprechen, setzte nun im modernen Bewußtsein ein Quan-
tifizieren,Formalisieren und SystematisierenaufGrund fest-
bestimmter Axiome ein, wodurch es gelang, überall eine
bestimmte Wirklichkeitsschicht erkenntnismäßig zu er-
obern. Das ist eben jene Schicht, die in der Wirklichkeit
einer solchen Formalisierung, Quantifizierung und Syste-
matisierung zugänglich oder aber mindestens selbst ge-
wissen gesetzmäßigen Regelmäßigkeiten unterworfen ist.
Bei der Zu-Ende-Führung dieser einen Möglichkeit der
Forschungsrichtung mußte aber auffallen, daß das so aus-
gebaute Wissen zwar eine homogene Ebene der Gegen-
ständlichkeiten wissenschaftlich zu erfassen imstande war,
daß aber die Fülle der Wirklichkeit dadurch bei weitem
nicht bewältigt wurde. Diese Einseitigkeit zeigte sich auf-
IJ6
fällig gerade in den Geisteswissenschaften, bei denen es
dem Wesen der Sache nach nicht auf jene formalisierbare
und in Gesetze destillierbare Dünnschicht primär an-
kommt, sondern auf die Fülle einmaliger Gestalten und
Strukturen, die der im Leben stehende Mensch wohl be-
herrscht, an die aber gerade der positivistisch eingestellte
Forscher mit seiner Axiomatik nicht herankann. Die Folge
dieses Tatbestandes war aber, daß der im Leben stehende
und mit der dazugehörigen Erkenntnisapparatur instink-
tiv richtig umgehende "ganze Mensch" immer gescheiter
war als der Theoretiker, der nur das beachtete, was seine
mitgebrachten Voraussetzungen gelten ließen. Es mußte
also immer sichtbarer werden, daß auch der "ganze Mensch"
dort ein Wissen hat, wo der theoretische- scil. der modern
intellektualistisch-theoretische Mensch - aufhört zu wis-
sen. Daraus folgt, daß das Paradigma modern mathematisch-
naturwissenschaftlichen Wissens eigentlich ein mit Un-
recht hypostasiertes Paradigma des Wissens überhaupt ist.
Das erste, was von diesem modern rationalistischen, in
enger soziologischer Verknüpfung mit dem kapitalistischen
Bürgertum aufkommenden Denkstil verdrängt wurde, war
das Qualitative. Da aber auch die Grundtendenz dieses
modernen \'V'issens auf die Analy•se ging und man etwas
nur dann als wissenschaftlich erfaßt gelten lassen wollte,
wenn es in Elemente zerlegt war, verschwand in dieser
Linie der Blick für das originäre, unmittelbare Erfassen
der Totalitäten. Es ist kein Zufall, daß gerade jene Denk-
tendenzen, die von neuem den spezifischen Erkenntnis-
wert betonten, der im Qualitativen und Ganzheitlichen des
Erfassens liegt, zuerst von der Romantik aufgegriffen wur-
den, also ·von jener modernen Gegenströmung, die in
Deutschland auch im Politischen den Gegenstoß gegen das
bürgerlich-rationalisierende Weltwollen bedeutete. Ferner
ist es auch kein Zufall, daß heute Gestaltwahrnehmung,.
Morphologie, Charakterologie usw. in ihrem wissenschafts-
IJ7
methodischen Gegenstoß gegen die positivistische Me-
thodenlehre gerade in einer Atmosphäre auftreten, die von
der Neuromantik ihre weltanschauliche und politische Prä-
gung erhält.
Es kann jetzt nicht die Aufgabe sein, ausführlich nachzu-
weis.en, in welch inniger Verflechtung weltanschaulich-
politische Tendenzen mit wissenschaftsmethodelogischen
Strömungen aufkommen. Soviel kann aber auf Grund der
bisherigen Andeutungen klar werden, daß jenes intellek-
tualistische Wissenschaftsbild, das dem Positivis-
mus zugrunde liegt, selbst in einer Weltanschauung wur-
zelt und mit bestimmten politischen Wallungen eng ver-
knüpft sich durchgesetzt hat.
Will man die wissenssoziologische Eigenart dieses Denk-
stils bestimmen, so ist mit dem Aufweis der analytischen,
quantifizierenden Tendenz noch nicht alles aufgedeckt.
Man muß auf jenes politisch-~eltanschauliche Wollen
zurückgreifen, dessen methodelogischer Exponent jene
Wissensforderungen sind. Diese Wurzel ist aber nur zu er-
fassen, wenn man auf das noologische Grundkriterium
dieses Denkstils eingeht. Dieses bestand nun darin, daß
man als "wahr", "erkennbar" nur das ansah, was als allge-
meingültig und .notwenClig dargestellt werden konnte, wo-
bei ohne weiteres eine Gleichsetzung der beiden Prädiy te
erfolgte. Man nahm eben an, ohne dies weiter zu analy-
sieren, daß nur das notwendig sei, was allgemeingültig,
d. h. jedem mitteilbar sei.
Diese Gleichsetzung war aber nun keineswegs selbst not-
wendig, denn es ist sehr leicht möglich, daß es Wahrheiten,
richtige Einsichten gibt, die nur einer persönlichen
Disposition oder aber einer bestimmten Art von
Gemeinschaft oder bestimmt gerichteten Willens-
im pulsen zugänglich sind. Gerade diese Art der Wahr-
heiten und Einsichten galt es für das demokratisch-welt-
bürgerlich eingestellte aufkommende Bürgertum auszu-
schalten, in ihrer Existenzberechtigung zu negieren: Damit
enthüllte sich aber eine rein soziologische Komponente
jenes Wahrheitskriteriums, nämlich das demokratische
Element der Forderung der Allgemeingültigkeit.
Diese Forderung der Allgemeingül~igkeit hatte jedoch
sehr wesentliche Konsequenzen für die dazugehörige Er-
kenntnistheorie. Es durften nämlich nur jene Erkenntnis-
arten als legitim anerkannt werden, die das Allgemein-
Menschliche in uns affizieren und in Anspruch nehmen.
Die Herausarbeitung des "Bewußtseins überhaupt" in
uns ist nichts anderes als die Herausdestillierung aller
jener Schichten im konkret menschlichen Bewußtsein, von
denen voraussetzbar ist, daß sie in jedem Menschen (sei er
ein Neger oder Europäer, ein Mensch des Mittelalters oder
der Neuzeit) vorhanden sind. Als primäres gemeinsames
Fundament ergab sich hierbei zunächst die Zeit- und
Raumanschauung und in enger Verknüpfung damit das
rein formale Gebiet des Mathemadschen. Hier hatte man
das Gefühl, eine Plattform gefunden zu haben, an der jeder
Mensch als Mensch teil hat, und man trachtete genau so
danach, einen zeit- und rasselosen homo oeconomicus,
einen homo politicus etc. auf Grund einiger axiomatischer
Eigenschaften zu konstruieren. Nur was unter Zugrunde-
legtJ.ng dieser Axiome aus der Wirklichke~t erfaßbar war,
sollte als erkennbar gelten. Alles andere war die schlechte
Mannigfaltigkeit des Wirklichen, um die sich die "reine"
Theorie nicht zu bekümmern hat. Die zentrale Sorge die-
ses Denkstils war also, eine gereinigte Plattform des all-
gemeingültig- erkennbaren und mitteilbaren Wissens zu
schaffen.
Jede Erkenntnis, die an die gesamte Rezeptivität des
Menschen gebunden ist oder den historisch-sozial ge-
formten Menschen in seiner Konkretheit affiziert, war ver,.
dächtig und wurde ausgeschaltet. So war in erster Reihe
die Erfahrung verdächtig, die nur durch "Sinnlichkeit"
1 39
zugänglich ist: die erwähnte Ausschaltung des quali-
tativen Erkennens geht auf diese Wurzeln zurück. Da die
Sinnlichkeit in ihrer konkreten Eigenart dermaßen das rein
anthropologische Subjekt in uns affiziert und da sie ferner
schwer mitteilbar ist, verzichtete man lieber auf ihre spezi-
fischen Evidenzen.
Genauso war aber auch jede Erkenntnis verdächtig, die
nur spezifischen, historisch-sozialen Gemeinschaften zu-
gänglich ist. Man wollte doch ein Wissen, das von allen
weltanschaulichen Prämissen frei war. Man merkte aber
nicht, daß diese Welt des rein Quantifizierbaren und Ana-
lysierbaren selbst auch nur auf Grund einer bestimmt ge-
arteten Weltanschauung entdeckbar war, daß aber Welt-
anschauung nicht unbedingt eine Fehlerquelle, sondern
umgekehrt geradezu eine Chance ist, zu bestimmten Wis-
sensgebieten den Zugang zu gewinnen. ·
Das Wichtigste jedoch, das man auszuschalten suchte,
war der konkret wertende und wollende Mensch in uns.
Es ist schon bei der Charakteristik des modern bürger-
lichen Intellektualismus beschrieben worden, wie dieser
den wollenden Menschen auch im Politischen auszuschalten
bestrebt ist und die politische Diskussion genau so auf ein
"naturrechtlich" bestimmtes Bewußtsein überhaupt in uns
reduzieren will. •
Damit zerreißt man nun willkürlich jenen organischen
Zusammenhang, der zwischen dem historisch und sozial
eingebetteten Subjekt und dessen Denken besteht. Hier-
in liegt aber gerade jene besondere Fehlerquelle, auf die es
in diesem Zusammenhange in erster Linie ankommen muß.
Es mag für das formal-mathematische Wissen sprechen,
daß es ein Wissen ist, das sich prinzipiell einem jeden zu-
gänglich machen läßt, und daß für dessen Gehalt das in-
dividuelle und auch das dahinterstehende historisch-kol-
lektive Subjekt indifferent ist. Es ist aber sicher, daß es
einen ganz weiten Bereich der Gehalte gibt, der entweder
nur bestimmten individuellen Subjekten oder nur be-
stimmten historischen Etappen zugänglich ist oder aber
nur bestimmten sozialen Wallungen in ihnen sich öffnet.
Für das erstere ist ein Beispiel, daß nur der Liebende oder
Hassende an demgeliebten bzw. gehaßten Menschen~igen
schaften zu sehen bekommt, die von den übrigen Menschen,
die nur Zuschauer sind, nicht bemerkt werden. Oder aber
eine rein seinsmäßige Voraussetzung eines Erkennens (das
niemals von einem rein kontemplativen Bewußtsein über-
haupt zu konstruieren sein wird) ist die Tatsache, daß man
bestimmte "Eigenschaften" der Mitmenschen nur im Mit-
leben und Mitvollzuge erfassen kann, nicht-nur weil zum
Beobachten des anderen Zeit gehört, sondern weil der
andere Mensch gar keine abtrennbaren "Eigenschaften"
hat, die - wie man fälschlich zu sagen pflegt - "zum
Vorschein kommen". Es spielt sich hier beim Menschen
ein dynamischer Prozeß ab, die Eigenschaften werden
erst im Handeln und im Sich-Auseinandersetzen mit der
Welt. Auch unsere Selbsterkenntnis klärt sich nicht in
einer kontemplativen Selbstbetrachtung, sondern erst in
der Auseinandersetzung mit der Welt, also in einem Pro-
zeß, in dem wir auch für uns selbst erst werden.
Hier sind Selbsterkenntnis und Erkenntnis des anderen
unzertrennbar verflochten mit Handeln und Wollen, mit
der Prozessualität des Miteinanders. Und wer hier Ergeb-
nisse vom Prozeß, vom Mitvollzug abtrennen will, ver-
fälscht das Allerwesentlichste am Tatbestand. Das aber ist
die wesentlichste Tendenz dieses an toter Natur orien-
tierten Denkens, daß es die Subjektgebundenheit, Willens-
gebundenheit, Prozeßgebundenheit aktiven Wissens um
jeden Preis streichen möchte, um zu reinen, auf einer homo-
genen Ebene aufrembaren Ergebnissen zu kommen.
Das soeben behandelte Beispiel faßte einen Fall ins
Auge, bei dem die Seinsgebundenheit einer Wissensart im
Gebundensein an bestimmte Persönlichkeiten zur Geltung
kam. Genauso gibt es aber Wissensgehalte, deren Erfahrbar-
keit nicht an bestimmte Individuen, sondern an bestimmte
historische und soziale Vorbedingungen gebunden ist.
Gewisse Dinge in der Geschichte und auch aus dem
menschlichen Seelenleben werden nur bestimmten ge-
schichtlichen Epochen sichtbar, die sich durch eine Reihe
von Kollektiverlebnissen und eine in diesen sich ausgestal-
. tende "Weltanschauung" den Weg zu bestimmten Einsich-
ten freigemacht haben. Ferner gibt es Gehalte (um damit
auf das hier gestellte Thema zurückzukommen), deren
Sichtbarwerden vom Vorhandensein bestimmter kollek-
tiver Wollungen abhängt, deren originäre Träger gerade
bestimmte Schichten im sozialen Raume sind.
Nun scheint es so zu sein, daß eine eindeutige, ohne
weiteres objektivierbare Erkenntnis möglich ist, soweit es
sich um das Erfassen jener Elemente in der sozialen Wirk-
lichkeit handelt, die eingangs als festgeronnene Bestand-
teile des gesellschaftlichen Lebens charakterisiert wurden.
Auch die Erforschung von Gesetzmäßigkeiten scheint in
diesem Gebiete auf keinen Widerstand zu stoßen, da ja das
Objekt selbst einem stets sich wiederholenden Rhythmus
der gesetzmäßigen Abfolge gehorcht.
Dort aber, wo das Gebiet der Politik beginnt, wo alles
im Werden begriffen ist, wo das erkennende Kollektiv-
subjekt in uns dieses Werden selbst gestaltet, wo das Den-
ken nicht Betrachtung, sondern aktives Mitschwingen,
Umgestaltung ist, dort scheint eine ganz andere Erkenntnis
einzusetzen, eben jene, für die Entscheidung und Sicht
unzertrennbar miteinander zusammenhängen. In diesen
Gebieten gibt es kein rein theoretisches Subjektverhalten.
Gerade der Willensimpuls macht hellsichtig, wenn er auch
nur partiell und funktional jenen Querschnitt der Total-
wirklichkeit scharf zu beleuchten imstande ist, in dem das
Subjekt selbst verankert ist, auf den es aus sozial-vitalen
Impulsen heraus gerichtet ist.
Hier muß man Willensimpuls, Wertung und Weltan-
schauung nicht vom Denkergebnis loslösen, sonderndieses
in seiner ursprünglichen Verflochtenheit belassen oder,
wenn es sich von hier schon abgelöst hat, diese Rückver-
ankerung von neuem vollziehen. Dies tut aber die Sozio-
logie als Wissen vom politischen Felde. Sie nimmt keine
theoretische Behauptung als eine schlechthin geltende hin,
sondern rekonstruiert die ursprünglichen Standorte, von
denen aus die Welt sich so und so gegeben hat, und versucht
die Gesamtheit der perspektivischen Ansichten aus der
Totalität des Prozesses zu verstehen.
Die Politik als Wissenschaft, in Gestalt einer politischen
Soziologie, ist niemals ein abgeschlossener, abhebbarer
und gerundeter Objektbereich, sondern sie ist im Werden
begriffen, mitverankert im Strome. Sie wird geschaffen in
der dynamisc4en Entfaltung der gegeneinander wirkenden
Kräfte. Sie ist also auch nur entweder ganz einseitig per-
spektivistisch konstruierbar, so, wie die Zusammenhänge
für eine bestimmte Parteiung sich geben, oder aber - und
dies ist ihre höchste Form - als ein jeweils neu vorzu-
nehmender Versuch der Synthese der jeweils vorhandenen
Aspekte 'von einem synthetischen Impuls aus, der die dy-
namische Vermittlung erstrebt.
Unser Intellektualismus mag immer wieder die Sehn-
sucht nach einem überhistorischen, zeitlosen Subjekt in
uns wachrufen, nach einem "Bewußtsein überhaupt", dem
Wissensgehalte entspringen, die unperspektivisch formu-
liert werden und die in Gestalt von zeitlos geltenden Regel-
haftigkeiten fixiert werden können. Ohne Vergewaltigung
des Objektes wird dies aber nicht gelingen können.
Will man auch vom Werdenden, von der Praxis und
für die Praxis ein \Vissen haben, so kann dieses Wissen nur
in einer neuartigen Gestalt seine adäquate' Form finden.
143 .
Das politische Leben selbst hat so auf seiner modernsten
Stufe, aus seinen ursprünglichsten Impulsen heraus die Ideo-
logieforschung geschaffen. Nicht eine Wissenschaft hat
sie ausgeklügelt (ausgeklügelte Fragestellungen haben wir
genug, es wäre schädlich, ihre Zahl noch um eine zu ver-
mehren), sondern der Forscher führt hier nur einen Zugriff
zu seinem konsequenten Ende, den das handelnde Bewußt-
sein selbst, zu seiner Selbstorientierung im sozialen Raume,
aus sich herausgestellt hat. Es ist dies eben hier der ge-
waltige Versuch, sich selbst und die Gegner aus dem Pro-
zeß heraus verstehen zu wollen.
Es bedarf nunmehr nur noch einiger Überlegungen über
die äußere Gestalt einer solchen \Vissenschaft und über
ihre Mitteilbarkeit, über die adäquate Gestaltung der geisti-
gen Nachfolge.
Was die äußere Gestalt dieser Wissenschaft betrifft,
so ergibt sich aus dem bisher Gesagten von selbst, daß
jener Teil politischen Wissens, der die Realkenntnisse ver-
mittelt, der hier hervorgehobenen Problematik nicht
unterworfen ist.
Das eigentlich Problematische an der Politik als Wissen-
schaft und die eigentliche Politik beginnt erst dort, wo
jener Spielraum anhebt; in dem Wille und Sicht eng mit-
einander verflochten sind und aus dem rückstrahlend der
bereits zurückgelegte Weg immer wieder ein neues Ge-
sicht bekommt.
Es ist beschrieben worden, daß es auch hier Zusammen-
hänge gibt, die der Erforschung zugänglich sind, die nun
aber, gerade weil sie im Flusse sind, nur gelehrt werden
können, wenn man bei jedem mitzuteilenden Aspekt auch
die Basis in Betracht zieht, von wo ·aus sich die Zusammen-
hänge so und nicht anders gestalten. Die "soziale Glei-
chung" muß bei jeder Einsicht mitgeteilt und womöglich
auch erforscht werden, warum von einem Standort aus sich
die Zusammenhänge gei:ade so geben. Hierbei darf niemals
außer acht gelassen werden - was nicht genügend betont
werden kann_-, daß die soziale Gleichung nicht stets eine
Fehlerquelle bedeutet, sondern zumeist bestimmte Zu-
sammenhänge erst wirklich ins Blickfeld zu rücken im-
stande ist. Wo aber die Einseitigkeiten eines sozialen Stand-
ortes liegen, klärt sich immer am leichtesten, wenn man
diesen Standort den übrigen gegenüberstellt. Das politische
Leben, das von polaren Aspekten aus denkt, korrigiert sich
auch gleichsam gerade in seinem eigenen Werden, indem
es das, was hier zu scharf herausgestellt wurde, von der
andern Seite aus abblendet. Schon deshalb ist es unver-
meidlich, bei jedem Tatbestand womöglich die totale
geistige Umkreisung in Betracht zu ziehen.
Die größte Gefahr inadäquater Darstellung gerade der
für das eigentlich politische Gebiet in Betracht kommen-
den Zusammenhänge besteht aber in einer falschen
K o n t e m p 1a t ionder forschenden Einstellung, die die Ten-
denz hat, gerade jenen Realzusammenhang zu zerstören;
der als solcher den Politiker interessiert. Es muß stets
im Auge behalten werden, daß hinter wissenschaftlichem
Forschen (so unpersönlich es sich auch geben mag) immer
Geistestypen stehen, die die konkrete Gestalt der Wissen-
schaft weitgehend beeinflussen. Sieht man sich etwa - um
ein naheliegendes Gebiet, das ein nicht-theoretisches Sub-
strat theoretisch behandelt, heranzuziehen - die Kunst-
geschichte an, so ist sie in ihrer Grundhaltung zusammen-
gesetzt aus der Einstellung des Kunstkenners, Sammlers,
des Philologen und Geistesgeschichtlers. Es könnte eine
ganz andere Kunstgeschichte geschrieben werden, wenn sie
einmal von Künstlern für Künstler oder vom rein genießen-:
den Subjekt aus geschrieben würde. Die letztere Haltung
setzt sich zumeist nur in der aktuellen Kunstkritik durch.
Genau ~o besteht die Verführung des theoretisierenden
Subjektes bei der Darstellung politischer Zusammenhänge
darin, daß es durch seine eigene kontemplative Haltung
II
145
die politisch aktive Haltung verdrängt und dadurch die
Ursprungszusammenhänge verdeckt, statt sie hervorzu-
heben und konsequenter auszubauen. Ganz besonders be-
deutet jedoch die Pflege der Wissenschaften an Akademien
eine Gefahr in der Richtung, daß die zu einem Lebensge-
biet gehörende adäquate Einstellung durch eine bestimmte
Art der Kontemplation verdunkelt wird. Wissenschaft
beginnt heute für uns schon ganz selbstverständlich damit,
daß sie die Ursprungseinstellung zerstört und durch eine
andere ersetzt. Hierin liegt aber die wichtigste Ursache
dafür, daß die Praxis mit dieser Art Theorie nichts an-
fangen kann - eine Spannung, die durch den modernen
Intellektualismus immer mehr gesteigert wird. \lV'ill man
den Hauptunterschied zwischen dieser kontemplativ in-
tellektualistischen und der in der Praxis beheimateten, ge-
nuinen Einstellung auf eine Formel bringen, so könnte
man sagen: die hauptsächliche Unterscheidung besteht
darin, daß der Wissenschaftler überall eine schematisch
ordnende Tendenz an die Dinge heranbringt, der Prak-
tiker - in unserem Falle der Politiker - aber von einem
aktiv orientierenden Bestreben geleitet wird. Denn es
es ist etwas völlig anderes, ob man in einer Mannigfaltig-
keit der Ereignisse Übersicht oder konkrete Orien-
tierung sucht. Konkreter Orientierungswille sieht die
Dinge nur auf konkrete Lebenssituationen hin an. Über-
sicht reißt den lebendigen Zusammenhang einer jeweils
gut benutzbaren, künstlich gestifteten Ordnung zuliebe
auseinander. J
Es soll dieser zentrale Unterschied zwischen schema-
tisch ordnender und aktiv orientierender Verhal·
tungsweise noch an einem Beispiel erhärtet werden. Hat
man etwa die Aufgabe, die modernen politischen Theorien
darzustellen, so gibt es dafür drei Möglichkeiten. Entweder
man stellt sie dar in einer aus der historischen Zeit und
konkreten Umwelt herausgehobenen Typologie. Man zählt
etwa in einem indifferenten Nebeneinander die verschie-
denen Typen politischer Theorien auf und sucht im besten
Falle, ein rein theoretisches Differenzierungsprinzip in ihnen
aufzuweisen. Diese Art von Typologien (die heute sehr
in Mode sind) kann man "flächenhafte" Typologien
nennen, denn es wird auf einer künstlich homogen ge-
machten Ebene die Mannigfaltigkeit des Lebens geordnet.
Der latente Sinn solcher Ordnungen könnte nur sein, daß
es eben verschiedene Wege des Lebens gibt, von denen
man den einen oder anderen einschlagen kann. Dadurch
wird wohl eine Übersicht geschaffen, aber eine rein sche-
matische. Man kann die Theorien benennen~ etikettieren,
aber ihr realer Zusammenhang wird vernichtet, da sie
ja ursprünglich nicht Wege des Lebens überhaupt sind,
sondern Verzweigungen ganz konkreter Situationen. Eine
etwas differenziertere Art der flächenhaften Typologie stellt
- wie schon angedeutet - jene dar, die irgendein Prin-
zip, womöglich ein philosophisches, in der aufgewiesenen
Differenzierung zu entdecken versucht. So hat z. B. schon
Stahl, der erste Theoretiker und Systematiker des deut-
schen Parteiwesens, die verschiedenen politischen Rich-
tungen seiner Zeit als Abwandlungen zweier theoreti-
scher Prinzipien - des Prinzips der Legitimität und des
Prinzips der Revolution - dargestellt 1 • Eine solche Ein-
teilung gibt aber nicht nur wie im ersteren Falle eine Über-
sicht, sondern auch eine Einsicht in das Vorhandene, zu-
gleich täuscht sie einrein theoretisches, rein philosophisches
Entfaltungsprinzip vor, das zwar auch vorhanden, aber
nicht das Entscheidende ist. Dadurch entsteht der Ein-
druck, als sei politisches Denken Explikation rein theo-
retischer Möglichkeiten.
Stand hinter der ersten Darstellung schon der Sammler-
typus, so zeigt sich hier der philosophische Systematiker.
1
Stahl: Die gegenwärtigen Parteien in Staat und Kirche. Berlin
1863.
n*
147
Die Erlebnisformen kontemplativer Menschentypen wer-
den in beiden Fällen willkürlich in die politische Wirklich-
keit zurückprojiziert.
Eine weitere Art möglicher Da.rstellung politischer Theo-
rien ist die rein historische. Diese reißt zwar die Theo-
rien aus der unmittelbar historischen Zeit, in der sie ge-
worden sind, nicht heraus, um sie auf einer abstrakten
Ebene einander gegenüberzustellen, sie verfällt aber dem
entgegengesetzten Fehler, .zu unmittelbar am Historischen
zu haften. Den idealtypischen Historiker interessiert in
diesem Falle die unmittelbare Verursachung und einmalige
Kausalverflechtung, in der' politische Theorien entstehen.
Um diese zu erfassen, zieht er alle ideengeschichtlichen
Vorläufer und Vorformen heran und verknüpft Theorien
mit der besonderen Persönlichkeit der schöpferischen In~
dividuen. Er bleibt dadurch so unmittelbar an der kon-
kreten historischen Einmaligkeit der Ereignisse hängen,
daß ein Lernen aus der Geschichte auf diese Weise un-
möglich wird. In der Tat vertreten auch die Historiker mit
Vorliebe die These, daß man aus der Geschichte nichts
lernen könne. War es der Fehler der oben erwähnten
Einstellungen, daß sie sich so weit vom konkreten Ge-
schehen entfernten, daß man von den Generalisationen,
Typen, Systemen den Weg zurück in die Geschichte nicht
mehr finden konnte, so bleibt der Historiker dermaßen an
die historische Unmittelbarkeit gebunden, daß seine Fest-
stellungen nur für jene gewesenen konkreten Situationen
gelten.
Diesen beiden Extremen gegenüber gibt es nun einen
dritten Weg, der gleichsam die Mitte zwischen zeitloser
Schematik und historischer Unmittelbarkeit wählt, und
gerade in dieser Ebene lebt und denkt ein jeder umsichtige
Politiker, wenn er sich auch dessen nicht stets bewußt zu
sein braucht. Dieser dritte Weg besteht darin, daß man .die
aufkommenden Theorien und ihren Wandel in engster
Verknüpfung mit den Kollektivgruppen und :typischen
· . Gesamtsituationen und deren dynamischem Wandel (des-
sen Exponent sie waren) zu erfassen versucht. Denken
und Sein müssen hier in ihrer innigen Verflochtenheit
wiederhergestellt werden. Nicht ein Bewußtsein über-
haupt schlägt hier mögliche Wege nach Willkür ein, auch
stellt das einzelne Individuum keine Theorie ad hoc für
eine bestimmte einmalige Lage aus sich heraus, sondern be-
stimmt strukturierte Kollektivkräfte schufen für bestimmte
strukturellerfaßbare Lagen ihrenWollungen entsprechende
Theorien und fanden die für jene Lagerung sich ergeben-
den Denkaspekte und Orientierungsmöglichkeiten. Nur
weil diese strukturell bedingten Kollektivkräfte über die
einmalige historische Situation heraus weiter bestanden, .
bewährten sich jene Theorien und Orientierungsmöglich-
keiten auch weiterhin. Erst als die Strukturlagerungen
sich veränderten, sich allmählich verschoben, entstand das
Bedürfnis nach neuen Theorien, nach neuer Orientierung.
Nur derjenige, der hinter einer historischen Situation,
hinter einem historischen Ereignis die diese erst ermög-
lichende Strukturlage zu erfassen imstande ist, wird den
Wandel des Geschehens sinnvoll weiterverfolgen können,
nicht aber derjenige, der stets nur am historischen Ablauf
haften bleibt, auch nicht derjenige, der sich abstrakt der-
maßen in die Allgemeinheit verrennt, daß er von dort aus
den Rückweg in die Praxis nicht mehr findet. .
Jeder der heutigen Stufe der BeWußtheit entsprechend
zugreifende Politiker denkt potentiell - wenn auch nicht
explizit - in Struktursituationen; das allein macht sein
Handeln auf weite Sicht konkret (Augenblicksentschei-
dungen können hierbei Augenblicksorientierungen über-
lassen werden). Es bewahrt ihn vor abstrakt schematisieren-
den Leerheiten und macht ihn andererseits genügend el~
stisch, um nicht an vergangenen Einzelereignissen als an
unzureichenden Vorbildern kleben zu bleiben.
1 49
Ein wirklich aktiver Mensch wird nie fragen, wie hat
irgendein Vorbild damals in irgendeiner früher gegebenen
Situation gehandelt, sondern in welcher Weise würde es in
der jetzt gegebenen Strukturlage sich neu einstellen. Die-
ses sich stets Neu-Einstellen auf immer wieder neu sich
gestaltende Konstellationen ist die grundlegend prak-
tische Fähigkeit des stets aktive Orientierung suchenden
Bewußtseins. Diese Fähigkeit zu erwecken, wach zu halten
und an jeglichem Stoff sich bewähren zu lassen, ist die
spezifische Aufgabe politischer Bildung.
Die Darstellungsart politischer Zusammenhänge darf
also das ursprüngliche Bedürfnis des politischen Menschen
nach aktiver Orientierung nicht durch rein kontemplative
• Verhaltungsweisen verdrängen. In Anbetracht der Tat-
sache aber, daß unser Lehrbetrieb primär an dem kontem-
plativen Verhalten orientiert ist und die Übertragung von
Wissensstoffen hauptsächlich im Zeichen der Übersicht
und nicht der konkreten Lebensorientierung geschieht,
ist es unerläßlich, daß in diesem Zusammenhange zu-
mindest der Ausgangspunkt jener Problematik festgestellt
wird, die gerade die Frage der Bildung eines Nach-
wuchses im Gebiete des Aktiyen, des Politischen betrifft.
Die ganze Fülle der Problematik kann hier nicht aufgerollt
werden. Wir begnügen uns mit einem strukturellen Grund-
prinzip der hierwesentlichen Zusammenhänge. Die Formen
und Arten der Übertragung des Geistig-Seelische:n varüeren
je nach der Eigenart der zu übertragenden Grundlage1•
1 Daß es mehrere Wissensformen gibt, hatte gegenüber
Ip
die romantische Tendenz erkennen, auf ältere, "ursprüng-
lichere" Formen der Bildung des geistigen Nachwuchses
zurückzugreifen. ·
Was damit gemeint ist, sei wieder an einem Beispiel
veranschaulicht. Der dem rein ordnenden Wissen am
meisten angepaßte Typus geistiger Übertragung ist der
Vortrag. Will man systematisierten, typisierten oder anders-
wie geordneten Wissensstoff vermitteln, so ist die adäqua-
teste Form jene besondere Art der Unterordnung, die
beim Anhören eines Vortrages zur Geltung kommt. Hier
wird der Stoff in der Rede entwickelt und vom "Hörer"
eben als bloßem Hörer einfach "zur Kenntnis genommen".
Dabei besteht die Voraussetzung - und diese wird bei
der Übertragung wachgehalten -, daß die willensmäßigen
personalen Bezüge ausgeschaltet sind. So wirkt Intellekt
auf Intellekt in einem der konkreten Situation enthobenen
imaginären Raume. Da es sich aber nicht um hieratisch-
magisch gebundene Texte handelt, sondern um in freier
Forschung erfaßbare, nachkontrollierbare Stoffe, so ist
nach Aufrollen des Lehrgehaltes Diskussion möglich, und
daraus folgt die Berechtigung des sogenannten Seminar-
betriebs. Aber auch hier ist das Wesentliche, daß jene
willensmäßigen Impulse und persönlichen Bezüge so weit,
wie überhaupt möglich ist, zurückgestellt werden, um auf
der sachlichen Basis abstrakte Möglichkeiten einander
gegenüberzustellen.
Sachlich scheint diese Form des Miteinanders und der
Übertragung' berechtigt zu sein bei jenen Wissenschaften,
die Alfred W e ber1 als zivilisatorisches Wissen bezeichnet
hat, bei jenen Wissensarten also, bei denen weltanschau-
liche Elemente und willensmäßige Impulse in das Wissen
nicht hereinragen. Problematisch wird diese Art der Mit-
telung bereits in den Geisteswissenschaften, aber nochmehr
1 Weber, Alfred: Prinzipielles zur Kultursoziologie. Archiv für
153
der Technik die Idee, der Stil mit übertragen, nicht in
prinzipieller Erörterung, sondern in gestaltender, mit~
tueoder Klärung der verbindenden Absicht. Es wird also
der ganze Mensch affiziert, das menschliche Miteinander
ist ganz anders als bei der bloßen Kenntnisnahme des leh~
renden Betriebs. Nicht Übersicht wird vermittelt, sondern
stets konkrete Orientierung (im Falle des künstlerischen
Prozesses werden Formwollungen übertragen), wobei ana~
Ioge Situationen sich zwar wiederholen, aber immer wieder
von dem neuzuformenden Werk und dessen Einheit aus
erfaßt werden.
Nun hat man~ wie gesagt- diesen Vorzug des werk~
stattartigen Miteinanders aus romantischen Impulsen
heraus instinktiv erfaßt. Man betonte, welchen Schaden
die Akademien bei den bildenden Künsten verursacht
haben oder wie zumindest die wirklich schöpferische
Kunsttrotz der Akademien vorhanden war. Man sah mit
Angst einer jeden Bewegung entgegen, die in verwandter
Weise das politische oder journalistische Metier lehrhaft
gestalten wollte. Der Intellektualismus findet also auch
hier seinen ihn kompensierenden Gegenspieler in den ro~
mantischen Strömungen. Der Vorstoß dieser romantischen
Strömung hat in der Tat auf einigen Gebieten praktische
Erfolge gezeitigt, so z. B. im Kunstgewerbe oder - um
ein ganz anders geartetes Gebiet heranzuziehen - in der
Kleinkinderschule. Sie gelangte also in allen jenen Sphären
des Lebens zum Durchbruch, in denen der Intellektualis~
mus nicht als sachliche Notwendigkeit, sondern einem
bloßen formalen Expansionsdrang folgend die urwüchsi~
geren Formen des ·"werkstattartigen" Miteinanders ver~
schüttet hatte. Aber diese romantische Strömung fand
ihre Grenze dort, wo das moderne Leben selbst das syste~
matische \Vissen zu einer unerläßlichen Voraussetzung
hat. So wird die Sache problematischer, um je höhere
Stufen der Schulung und um je komplexere Formen des
154
Kunstgewerblichen es sich handelt, wenn auch auf diesen
höheren Stufen so manche Übertreibungen einer unnützen
Überrationalisierung zuzuschreiben sein werden. (Hier
gibt es nämlich ganz handgreifliche strukturelle Ana-
logien zu dem Phänomen der Überrationalisierung und
überbürokratisierung des kapitalistischen Betriebs.) Man
kann also die Grenze jeweils ganz genau feststellen, wo die
Berechtigung der romantischen Gegenströmung bereits
ihr natürliches Ende findet. Das Akademischwerden des
Unterrichts beim Architekten z. R beruht nicht ausschließ-
lich auf einem übertriebenen Intellektualismus unserer
Zeit, sondern auf sachlichen Bedingtheiten -der Kompli-
ziertheit des nötigen, zu beherrschenden technischen Wis-
sensstoffes. Aber noch mehr - was man unbedingt vor
allem einzusehn hat - : das Vorhandensein und die Herr-
schaft unseres Intellektualismus ist selbst kein intellek-
tualistisches, ausgeklügeltes Phänomen, sondern der In-
tellektualismus ist selbst aus organischen Bedingungen des
Gesamtprozesses entstanden. Es kann also nicht unsere
Aufgabe sein, den Intellektualismus auch von dort zu ver-
drängen, wo gerade er die in der neuesten Zeit entstan-
denen Bedürfnisse organisch befriedigt, sondern nur aus
jenen Gebieten, in denen er aus der eigenen formalen Ex-
pansionstendenz heraus auch dort intellektualistische Me-
thoden anwendet, wo selbst heute noch lebendig-unmittel-
bare Kräfte sich auswirken können. Man kann also das
rein technische Wissen des Ingenieurs nicht mehr in
·der Form eines werkstattartigen Miteinanders mitteilen,
man kann aber sehr wohl, wo es auf im Wachsen begriffene
Formwallungen ankommt, jene lebendigeren, "auf Er-
weckung" und Fortpflanzung ausgerichteten Gemein-
schaftsformen zur Geltung bringen.
Es kann also die Lösung nicht mehr in einem Entweder-
Oder bestehen, sondern auch hier nur in einer lebendigen
Vermittlung zwischen den die Zeit formierenden Kräften,
155
wobei man stets in jedem konkreten Falle genau heraus-
finden muß, wie weit dem besonderen Substrat entspre-
chend das systematisierende Element und das organisch
Unmittelbare in der Übermittlungsform zur Geltung kom-
men soll 1 •
Was hier von der Übermittlung künstlerischer Sub-
stanzen gesagt wurde, gilt mutatis mutandis weitgehend
für das politische Element. Die Politik wurde als "Kunst"
bisher nur gelehrt und übermittelt "bei Gelegenheit von".
Politisches Wissen und Können hatte sich bisher in
Gestalt gelegentlicher Übertragung vererbt. "Bei Gelegen-
heit von" tradierte sich das spezifisch Politische. Was für
die Kunst das Atelier, für das Handwerk die Werkstätte
bedeutete, bedeutete insbesondere für die liberal-bürger-
liche Politik -die soziale Form des Klubs. Der Klub ist
ein spezifisches Miteinander von Menschen, der sowohl
zur sozialen und parteilichen Auslese - als Plattform des
politischen Aufstieges - als auch zur Züchtung der kol-
lektiven Willensimpulse als geeignetes Medium "von
selbst" zustande kam. An seiner eigentümlichen soziolo-
gischen Beschaffenheit könnte man die I;.igenart der we-
sentlichsten Formen unmittelbarer Übertragung willens-
gebundenen politischen Wissens ablesen. Aber auch hier,
genau so wie beim Künstlerischen, zeigt es sich, daß die
ursprünglicheren, rein auf Gelegenheit fundierten Arten
des Lernens und Bildens nicht ausreichen. Die gegen-
wärtige Welt ist viel zu kompliziert, zu jeder Entscheidung,
wenn sie nur einigermaßen auf der Höhe der gegenwärti-
gen \Vissens- und Bildungsstufe erfolgen soll, gehört viel
1 Wir möchten den Leser nur darauf hinweisen, daß hier ein Fall
vorliegt, wo n:Ut Hilfe der konkreten Situationsanalyse das Prinzip
des "Richtigen" gefunden werden kann. Wenn uns das in der Logik
gelingen würde, dann wäre das Ziel erreicht. Eine richtige Situ-
ationsanalyse eines Denkstils müßte das Maß seiner Geltung bestim-
men können. ·
~u viel Fachwissen und Gesamtorientierung, als daß das
bloß in Form der Gelegentlichkeit erworbene Wissen und
Können auf die Dauer ausreichen könnte. Dieses Bedürf-
nis nach systematischer Schulung treibt bereits je~t dazu
und wird noch mehr dazu drängen, dem werdenden Po-
litiker, dem Journalisten eine Fachschulung mitzugeben.
Von hier aus droht aber die Gefahr, daß diese Fachschu-
lung, wenn sie rein intellektualistisch organisiert wird, ge-
rade das politische Element verdrängt. Ohne pädago-
gische Zugespi~theit auf das Handeln - rein emyklopä-
disch - kann hier Wissen nicht viel nü~en. Ebenso wird
die Frage entstehen - und sie entsteht bereits für den, der
die Gesamtsituation überblickt - : Soll diese Fachschulung
des Politikers ohne weiteres den Parteischulen überlassen
werden? ·
Nun haben es Parteischulen in dieser Beziehung sicher
leichter. Die Willenszüchtung in einer bestimmten Rich-
tung ergibt sich dort von selbst, durchdringt die Stoffe
auf jeder Stufe der Darstellung. Das "klubistische", an
den Willen sich richtende Element wird in die Forschungs-
und Lehrarbeit ohne weiteres .hineingetragen. Es ist nur
die Frage, ob diese Art und Weise der Willenserweckung
und -bildung als die alleinige Form wünschenswert ist.
Denn sieht man näher zu, so ist diese politische Willens-
übertragung nur Züchtung einer vorgegebenen Willens-
richtung, die durch den partiellen Standort der betreffenden
sozialen und politischen Schicht diktiert ist.
Soll es und kann es ~her nicht eine Form politischer
Willenserweckung geben, die sich an jenen relativ freien
Willen wendet, der das Fundament moderner Intellige~
ist und immer mehr werden soll? Geben wir nicht ein
bedeutendes Gut europäischer Geschichte ohne weiteres
auf, wenn wir nicht beim Herannahen drohender Partei-
maschinerie im kritischen Augenblick noch den Versuch
machen, gerade jene Tendemen zu stärken, die auf
157
Grund einer vorangehenden Gesamtorientierung Entschei-
dungen treffen wollen? Ist Willenserweckung nur in Ge-
stalt von Züchtung möglich, ist denn nicht ein die Kritik
in sich verarbeitender Wille auch ein Wille und sogar eine
höhere Art von Willen, auf den man nicht ohne weiteres
verzichten darf?
Man darf sich nicht in den Bannkreis, in die Termino-
logie und das Lebensgefühl der rein extremen politischen
Gruppen hineinziehen lassen. Man muß nicht an-
nehmen, daß nur gezüchteter \Ville ein Wille und
nur die revolutionäre oder gegenrevolutionäre
Tat eine Tat ist. Hier wollen uns die beiden extremen
Flügel in der politischen Bewegung ihren einseitigen Pra-
xis-Begriff aufoktroyieren und dadurch die Problematik
verdecken. Oder ist etwa nur das Vorbereiten eines Auf-
standes Politik? Ist die kontinuierliche Transformation
der Verhältnisse und der Menschen nicht auch Tat? Vom
.Aspekt der Ganzheit kann man die Bedeutung revolutio-
när-aufständischer Phasen verstehen, aber auch dann sind
sie nur eine Partialfunktion im Gesamtprozeß. Und ge-
rade jener Wille, der das dynamische Gleichgewicht
sucht, das das Ganze im Auge hat, sollte keine ihm an-
gepaßte Tradition und Bildungsform besitzen? Ist es
nicht ein wahres Interesse der Gesamtheit, daß mehr
politische Willenszentren geschaffen werden, die die Leben-
digkeit des kritischen Gewissens haben?
Es muß also eine Plattform geben, wo der zu einer sol-
chen kritischen Orientierung nötige historische, juristische,
ökonomische Stoff, die objektive Technik der Massenbe-
herrschung, die Bildung und Leitung der öffentlichen
Meinung, aber auch jener Spielraum, in dem \Villens-
entscheidung und Sicht in einer unvermeidlichen Weise
verknüpft sind, gelehrt werden können, und zwar in einer
Weise, die dabei die noch suchenden, vor der Entscheidung
stehenden Menschen voraussetzt. Und hier wird es sich
von selbst ergeben, wo die alten Formen des mitteilenden
Unterrichtes und wo jene lebendigeren, auf Tat ausge-
richteten Arten des politischen Miteinanders zur Geltung
kommen müssen.
So scheint es ganz sicher zu sein, daß die Zusammen-
hänge im spezifisch politischen Spielraume nur in wirk-
licher Realdiskussion erfaßt werden können. Daß z. B.
hier der Lehrbetrieb um unmittelbar aktuelle miterlebbare
Ereignisse konzentriert sein muß, um die Fähigkeit zur
aktiven Orientierung unmittelbar zu wecken, ist zweifellos.
Denn es gibt keine günstigere Möglichkeit, die eigentliche
Struktur des politischen Spielraumes kennenzulernen, als
die lebendige Auseinandersetzung mit den Gegnern über
das Allergegenwärtigste, da bei einer solchen Gelegenheit
stets die in einem Zeitpunkte sich bekämpfenden Kräfte
und Aspekte zu \V orte kommen.
Eine solche stets auf aktive Orientierung eingestellte
Beobachtungsgabe wird sich auch die Geschichte anders
aneignen, als dies zumeist heute der Fall ist. Sie wird Ge-
schichte nicht nur vom Standpunkte des Archivars oder
des Ethikers aus betrachten. Die Geschichtsschreibung
hat schon so viele Wandlungen ihrer Gestalt durchge-
macht, von der schlichten Chronik, Legende, Erbauung
über Rhetorik, Kunstwerk, lebendiges Bilderbuch bis
zur sehnsuchtsvollen Rückversenkung in die Vergangen-
heit, daß sie auch jetzt sich wird transformieren können.
Es waren diese Formen auch nichts anderes als der da-
maligen Zentralorientierung entsprechende Erfassungen
der Vorwelt. Wenn einmal die jetzt im politischen Leben
entstehende neue Art der aktiven Lebensorientierung, die
die soziologischen Strukturverhältnisse primär sehen will,
zum Forscher zurückströmt, so wird auch die·entsprechende
neue Form der Geschichtsschreibung gefunden werden.
Nicht als ob damit die Quellenforschung und archivalische
Leistung auch nur irgendwie zurückgesetzt werde, nicht
1 59
als ob die Geschichtsschreibung in den übrigen Formen
aufhören müßte weiterzuexistieren. Es gibt auch heute noch
Bedürfnisse, die etwa in einer rein "politischen Geschichte",
andere, die in der "morphologischen Darstellung" ihre Er-
füllung finden. Aber gerade jene Impulse, die aus der
gegenwärtigen Art der Lebensorientierung Vergangenes
in dem Elemente der Wandlungen der sozialen Struktur-
verhältnisse sehen wollen, gibt es nur in ihren Anfängen.
Unsere gegenwärtige Lebensorientierung kann jedoch nicht
vollständig sein, wenn ihre Fäden nicht in die Vergangen-
heit zurückgeführt werden. Und hat einmal diese aktiv
orientierende Betrachtungsweise sich im Leben durchge-
setzt, so wird sie auch rückstrahlend die Vergangenheit
von hier aus zu erfassen imstande sein.
160
fahren haben, wie sogar die Reflexionen des politisch-
historischen Denkens über sich selbst jeweils verschieden
sich gestalten, je nachdem von welchen Erlebnissen, Tra-
ditionen, Standorten aus das Problem gestellt wird. Des-
halb jenes lange Verweilen bei der historisch-soziolo-
gischen Analyse der Problemstellung, die zeigen sollte,
daß bereits das Grundproblem, wie Theorie zur Praxis sich
verhalte, stets anders ausfällt, je nachdem ob es von büro-
kratischer, historistischer, liberaler, sozialistisch-kommu-
nistischer oder fascistischer Seite gesehen wird.
Man muß ferner die Inadäquatheit der Darstellungsform
gegenüber der spezifischen Eigenart aktiven Orientierungs-
wissens und de~ Gegensatz zwischen aktiver Orientierung
und kontemplativem Schema erfaßt haben, wenn man
auch von dieser Seite her die Eigenart politischen Denkens
herauszuheben bestrebt ist. Schließlich mußte diese Ver-
schiedenheit und Eigenart in den spezifischen übertra-
gungsformen an der spezifischen Art der geistigen Über-
tragung, die hier heimisch ist, aufgewiesen werden. Daher
das Verweilen in unserer Darstellung bei der Analyse der
Darstellung und Übertragungsformen.
Nur wenn man diese Differenzen scharf ins Auge ge-
faßt hat und die daraus entstehende Belastung in die end-
gültige Problemstellung mitnimmt, kann die Lösung der
Frage, ob Politik als Wissenschaft möglich sei, eine adäquate
sein. Eine solche Analyse aber, die die Seinsgebundenheit
jedes politischen Wissens stets im Auge hat, die die Dar-
stellungsform von der sozial-aktivistischen Einstellung her
zu erfassen bestrebt ist, eine solche ist eben die wissens-
soziologische Analyse. Ohne wissenssoziologische Frage-
stellung ist politisches Wissen in seiner innersten Eigenart
nicht verstehbar. Diese wissenssoziologische Analyse läßt
aber noch immerdreiWeg e offen. Man wirderstens nach
dieser Einsicht, daß politisch-historisches Wissen stets
seinsgebunden, standortsgebunden sich entfaltet, eben
infolge dieser Seinsgebundenheit den Wahrheits- und Er-
kenntnischarakter dieser Wissensart völlig leugnen. Diesen
Weg werden jene gehen, die das Paradigma wahrer Er-
kenntnis an den Erkenntnistypen anderer Gebiete orien-
tieren und sich die Möglichkeit nicht vergegenwärtigen,
daß evtl. jedes Wirklichkeitsgebiet seine eigenartige Er-
kenntnisform haben könnte und nichts gefährlicher ist, als
eine solche einseitige und beschränkte Orientierung bei der
Erkenntnisproblematik.
Wird man diese Überlegung hinter sich haben, so ent-
steht die zweite Möglichkeit der Stellungnahme, das
Streben, der wissenssoziologischen Analyse die Aufgabe
zuzuschreiben, bei jeder historisch-politiscl).en Einsichtdie
"soziale Gleichung" herauszuarbeiten. Das will besagen:
die wissenssoziologische Analyse hat die Aufgabe, das
wert-, standorts-, willensmäßig gebundene Moment aus
jeder konkret vorliegenden "Erkenntnis" herauszuschälen,
es als Fehlerquelle zu beseitigen und so auch hier zu einem
"wertfreien", "übersozialen", "überhistorischen" Gebiet
der "objektiv" geltenden Gehalte zu kommen.
Sicher hat diese Tendenz auch ihre Berechtigung, denn
es gibt zweifellos Gebiete im politisch-historischen Wis-
sen, die eine autonome Regelhaftigkeit enthalten, deren
Formulierbarkeit sehr weitgehend vom Weltanschaulichen
und Politischen ablösbar ist. So sahen wir, daß es eine
Sphäre im Seelenleben gibt, die weitgehend sinnfremd
durch eine Massenpsychologie erfaßbar ist, auch gibt es
eine in allgemeinen Strukturregeln erfaßbare Schicht des So-
zialen: die allgemeinsten Strukturformen des menschlichen
Zusammenlebens ("formale Soziologie"). Es war gerade
Max Webers Bestreben, diese Schicht der rei.il "sachlich"
erfaßbaren Beziehungen in seinem Werke "Wirtschaft und
Gesellschaft" herauszuarbeiten, um ein solches wertfrei-ob-
jektives Gebiet für die Soziologie zu gewinnen. Auch das
Bestreben, eine Sphäre der reinen Theorie im Gebiete
der Nationalökonomie aus demIGeflecht des Sozialen-und
Weltanschaulichen herauszudestillieren, steht im Zeichen
einer solchen, "Wertungen" und "Sachgehalte" radikal
scheidenden Forschungsintention.
Es ist noch gar nicht abzusehen, wie weit diese Ablös-
barkeit wirklich gelingt. Es ist nicht ausgeschlossen, eher
wahrscheinlich, daß es auch solche Sphären gibt; ihr "wert-
freier", "überhistorischer" und "übersozialer" Charakter
wird aber erst dann radikal gewährleistet sein, wenn wir
auch die Axiomatik, den Kategorienapparat, mit dem wir
hierbei arbeiten, auf dieses weltanschauliche Verankertsein
hin analysieren. Denn wir haben allzusehr die Tendenz, als
"objektive" Momente kategoriale Strukturen und letzte
Setzungen hinzunehmen, die wir selbst unbewußt in die
Erfahrung hineingetragen haben und die sich für den
wissenssoziologischen Forscher nachträglich als eine par-
tiale, historisch-standortsgebundene Axiomatik einer be-
sonderen Strömung enthüllen. Es ist ja nichts selbstver-
ständlicher, als daß gerade jene Denkformen, in denen wir
selbst denken, für uns am allerwenigsten sich in ihrer
Partikularität enthüllen und daß nur der sich weitereut-
faltende historisch-soziale Strom die Distanz schafft, aus
der heraus die etwaige Partikularität sichtbar wird. Des-
halb muß es auch für jene Tendenz, die eine ·solche ablös-
bare wertfreie Sphäre der Wißbarkeit erstrebt, stets wichtig
sein, zumindest als Korrektur in Gestalt einer Wissens-
soziologie die "sozialen Gleichungen" der Denkformen
.zu erforschen.
Man kann hier dem Ergebnis nicht vorgreifen und nur
so viel feststellen, daß, wenn sich auch nach einer solchen
radikalen Ablösung des politisch-sozialen Standortsge-
bundenen eine Sphäre der Wertfreiheit (nicht nur im Sinne
der Freiheit von politischer Stellungnahme, sondern im
Sinne der Eindeutigkeit und Wertfreiheit der kategorialen
und axiomatischen Apparatur) herausstellen sollte, diese sich
1.2*
nur erarbeiten läßt, wenn man die für uns überhaupt erfaß-
baren "sozialen Gleichungen" des Denkens in Betracht zieht.
Damit kommen wir zu dem dritten Weg, der eigentlich
der unsrige ist. Man ist der Ansicht, daß dort, wo das
eigentlich PoHtische beginnt, das Wertende nicht ohne
weiteres oder zumindest nicht im selben Maße ablösbar
sei, wie bei demformal-soziologischenDenken und den son-
stigen Arten des rein formalisierenden Erkennens. Dieser
Standort wird auf die konstitutive Bedeutung des volun-
taristischen Elements für die Erkennbarkeit im Felde des
eigentlich Politisch-Historischen bestehen, wenn auch in
diesen Gebieten im Laufe der Geschichte eine allmähliche
Selektion von Kategorien beobachtbar ist, die immer mehr
für alle Parteien gelten. Nichtsdestoweniger wird man sich
durch eine solche allmählich sich durchsetzende Schicht
des für alle Parteien geltenden Wissens, durch dieses Vor-
handensein eines "Consensus ex-post" 1 nicht dazu ver-
leiten lassen, zu übersehen, wie zu einem jeden gegebenen
historischen Zeitpunkt ein ganz wesentlicher Bestand an
Wissensmaterialien nur in der Gestalt perspektivischer,
standortsgebundener Formen vorhanden ist. Da wir aber
nicht im Stadium der Erlösung und Außergeschichtlichkeit
leben, ist unser Problem nicht, wie man mit einem Wissen,
das im Elemente einer "Wahrheit an sich" konstituiert
ist, umzugehen hat, sondern wie der Mensch in seinem
zeitlich standortsgebundenen Wissen mit den Erkenntnis-
aufgaben fertig wird. Wenn wir hier für eine Zusammen-
schau des zunächst in einem System noch nicht Zusam-
menfaßbaren plädieren, so geschieht dies deshalb, weil wir
darin das relative Optimum sehen und weil wir darin (wie
auch bisher in der Geschichte) den nötigen vorbereitenden
Schritt zur nächsten Synthese zu gehen vermeinen. Es soll
1Vgl. auch hierüber Ausführlicheres in meinem Züricher Referat,
wo von einem Konsensuswissen ex-post die Rede ist, und dessen
Genesis aufzuzeigen versucht wird.
.zu dieser Lösung des Problems sofort hln.zugefügt werden,
daß sogar in dieser Neigung .zur jeweiligen Zusammenschau
und Synthese vom jeweils möglichen umfassendsten und
vorwärtstreibenden Standort aus bereits auch eine Ent-
scheidung liegt, eben die Entscheidung .zur dynamischen
Mitte. Es kann gerade uns nichts ferner liegen, als diesen
Entscheidungscharakter .zu leugnen. Ist es doch gerade
unsere Hauptthese, daß politische Erkenntnis, solange
Politik Politik im anfangs beschriebenen Sinne ist, ohne
Entscheidung nicht möglich ist, und daß diese Entschei-
dung irgendwo im Gesamtgefüge, auch bei vermittelnden
Vorschlägen, gerade in dem Sich-Entscheiden für die
dynamische Vermittlung liegt. Es ist aber ein wesent-
licher Unterschied, ob diese Entscheidung unbewußt und
naiv die Sicht bestimmt (was jede prinzipielle Blick-
erweiterung verhindert) oder ob sie nur auftritt, nachdem
alles, was für uns reflexiv gemacht werden kann, alles, was
für uns bereits willbar ist, in die Problemstellung und
Deliberation einbezogen ist.
Denn darin scheint doch dasAllereigentümlichste politi-
schen Wissens zu liegen, daß durch ein Mehr-Wissen die
Entscheidung nicht aufgehoben wird, sondern sich nur
immer weiter zurückschiebt, was aber in diesem Rückzug
erobert wird, als Erweiterung des Blickfeldes, als erobertes
Wissen bestehen bleibt. So ist es denn vom Vordringen
soziologischer Ideologieforschung immer mehr zu er-
warten, daß die bisher nur teilweise erforschten Zusammen-
hänge zwischen sozialer Lage, Willensimpuls und Sicht
immer durchsichtiger werden, daß wir also - wie er-
wähnt - den kollektivgebundenen Willen und das dazu-
gehörige Denken weitgehend genau berechnen und das
ideologische Reagieren der sozialen Schichten etwa vor-
aussagen können.
Durch eine solche wissenssoziologische Fundierung
wird aber unsere eigene Entscheidung bei weitem nicht
aufgehoben, nur das Blickfeld, von dem· aus man zu ent-
scheiden hat, wird erweitert. Und auch jene, die von einer
Erweiterung der Kenntnis der determinierenden Faktoren
die Lähmung der Entscheidung, die Bedrohung der "Frei-
heit" befürchten, können beruhigt sein. In Wahrheit deter-
miniert ist nur derjenige, der die wesentlichsten determinie-
renden Faktoren nicht kennt, sondern unmittelbar unter
dem Druck ihm unbekannter Determinanten handelt. Jede
Reflexivmachung der bislang uns beherrschenden De-
terminanten setzt diese herab aus der Sphäre der un-
bewußten Motivationen in das Gebiet des Beherrsch-
baren, Kalkulierbaren, des Objektivierten. Wahl und Ent-
scheidung werden dadurch nicht aufgehoben, ganz im Ge-
genteil, Motive, durch die wir bislang beherrscht wurden,
werden nunmehr durch uns beherrscht, wir werden immer
mehr zurückgedrängt auf unser wahres Selbst, und wo wir
bisher Zwangsläufigkeiten dienten, dort steht es in unserer
Macht, mit jenen Kräften bewußt uns zu verbinden, mit
denen wir uns von Grund aus zu identifizieren imstande sind.
Das stete Reflexivwerden früherer unbeherrschter Fak-
toren und das immer mehr nach rückwärts Verschieben
der Entscheidung scheint die grundlegende Bewegungs-
form im Werden politischen Wissens zu sein. Sie ent-
spricht der eingangs erwähnten Tatsache, daß das Ge-
biet des Rationalisierbaren und des rational Beherrschbaren
(auch in unserer persönlichsten Sphäre) immer mehr
wächst und der irrationale Spielraum sich dementsprechend
immer mehr einengt. Ob am Ende einer solchen Entwick-
lung eine völlig rationalisierte Welt steht, wo Irrationales
und Entscheidung überhaupt nicht mehr bestehen können,
oder ob damit nur die soziale Determination aufhört, kann
hier nicht erörtert werden, denn -diese Möglichkeit ist zu-
nächst eine mehr als utopische, noch sehr fern liegende
und einer wissenschaftlichen Erörterung deshalb unzu-
gänglich.
166
So viel scheint aber feststellbar zu sein, daß Politik als
Politik nur so lange überhaupt möglich ist, wie dieser Spiel-
raum vorhanden ist (wo er verschwindet, tritt an seine
Stelle "Verwaltung"); ferner, daß die Besonderheit po-
litischen Wissens den "exakten" Wissensarten gegenüber
darin besteht, daß hierWissenunabtrennbar mit demWollen,
das rationale Element wesensmäßig mit jenem irrationalen
Spielraum verwachsen ist; und schließlich, daß die Tendenz
besteht, das Irrationale im Sozialen zu beseitigen, und daß
im engsten Zusammenhang damit eine gesteigerte Re-
flexivmachung der uns bisher unbewußt herrschenden
Faktoren erfolgt.
Im Geschichtlichen spiegelt sich dies darin wider, daß
der Mensch anfangs das Sozial-Weltliche genau so als
Schicksal, d. h. als unbeherrschbar erlebt, wie wir wohl
immer die naturhaften Grenztatsachen (das Faktum des
Geborenwerdens und des Todes) erleben werden. Zu dieser
Art des Weiterlebens gehört eine Ethik, die man
"Schicksalsethik" nennen könnte. Sie besteht im wesent-
lichen in dem Gebot, höheren, undurchschaubaren Mäch-
ten zu gehorchen. Der Durchbruch dieser an Schicksal
orientierten Ethik vollzieht sich zuerst in der Gesin-
nungsethik, wo der Mensch zumindest sein Selbst dem
Schicksalhaften im gesellschaftlichen Ablauf gegenüber-
stellt. Er reserviert sich seine Freiheit einmal im Sinne der
Möglichkeit,. durch die Tat neue Kausalreihen in die Welt
zu setzen (wenn er auch auf die Beherrschbarkeit der Kon-
sequenzen verzichtet), und zweitens durch den Glauben
an die Undeterminiertheit seiner Entscheidungen.
Eine dritte Stufe in dieser Entwicklung scheint unsere
Gegenwart zu bedeuten: Der Sozialzusammenhang als
"Welt" ist nicht mehr völlig undurchsichtig, schicksalhaft,
sondern manche Zusammenhänge sind potentiell voraus-
sehbar. Auf dieser Stufe taucht die Verantwortungs-
ethik auf. Sie enthält einmal die Forderung, nicht nur der
Gesinnung entsprechend zu handeln, sondern auch die
möglichen, jeweils berechenbaren Konsequenzen in die
Deliberation einzubeziehen, und zweitens - dies möchten
wir auf Grund des V orangebenden hinzufügen -, die
Gesinnung selbst einer bereinigenden Selbstprüfung zu
unterwerfen, um die blind und nur zwangsläufig wirkenden
Determinanten auszuschalten.
Max Weber hat dieser bestimmten Art von Politik
die·erste durchschlagende Formulierung gegeben. In sei-
nem Wissen und Forschen spiegelt sich dieses Stadium der
Politik und Ethik wider, wo das blind Schicksalhafte am
Sozialprozeß zumindest partial im Verschwinden be-
griffen ist und das Wissen des W'ißbaren für den Han-
delnden zur Verpflichtung wird.
Wenn irgendwann, so kann Politik eben in diesem Sta-
dium ZurWissenschaft werden, wo einerseits das geschicht-
liche Feld, das es zu beherrschen gilt, sich so weit lichtet,
daß- es in seinem Aufbau durchleuchtbar wird, und wo
andererseits aus der Ethik ein Wille aufsteigt, für den Wis-
sen nicht müßige Kontemplation, sondern Selbstklärung
und in diesem Sinne Wegbereitung zur politischen Tat
bedeutet.
168
DAS UTOPISCHE BEWUSSTSEIN
Alfred Weber zum 6o. Geburtstag gewidmet
170
Was aber historisch und soziologisch jeweils als "witk.lich"
a.QZusprechen ist, ist ziemlich eindeutig bestimmbar. ·
Da der Mensch ein primär in der Geschichte und in Ge-
sellschaft lebendes Wesen ist, so ist dieses ihn umgebende
"Sein" nie ein "Sein überhaupt", sondern stets eine kon-
J krete historische Geg alt des gesellschaftlichen Seins.
"Sein" ist vom Soziologen aus gesehen stets nur erfaßbar
als eine "konkret geltende", das will hier besagen - als
eine sich auswirkende und in diesem..Sinne_als :wirklich
, bestimmbare Lebensordnung.
Jede ko:filkrete "sich auswirkende Lebensordnung" ist /
zunächst am klarsten erfaßbar und charakterisierbar durch "
die ihr zugrunde liegende besondere Art des wirtschaftlich-
machtmäßigen Gefüges; sie umfaßt aber auch alle jene
Formen d.es menschlichen Miteinanders (spezifische For-
men der Liebe, der Gesellung, des Kampfes etc. ), die durch
diese Strukturformen möglich oder erforderlich werden;
schließlich alle jene Arten und Weisen des Erlebensund
Denk~ns, die dieser Lebensordnung entsprechen und in
diesem Sinne sich mit ihr in Deckung befinden. (Für unsere
Problemstellung genügt zunächst diese Klärung. Daß es
auf einer weiteren Stufe der Betr~chtung hier noch man-
ches zu klären gibt, sei nicht verhehlt. Die K.lärungsstuf~
eines Begriffes kann nie eine absolute sein; sie hält stets
Schritt mit dem expansiven und intensiven Wachstum .der
Durchleuchtung des gesamten Gefüges.) Eine jede" wirk-
lich geltende" Lebensordnung ist aber auch zugleich um-
woben von Vorstellungen, die ·als "seinstranszendent",
"unwirklich" deshalb zu bezeichnen sind, weil sie in der
betreffenden Lebensordnung gemäß der in ihnen vorge-
stellten Gehalte niemals zur Auswirkung gelangen können
und weil man ihnen entsprechend in dieser Lebensordnung
wirklich nicht leben und handeln könnte.
"Seinstranszendent", unwirklich sind mit einem Wort
alle jene Vorstellungen, die mit dieser sich auswirkenden
. _..; .
Lebensordnung nicht zusammenfallen. Vorstellungen, die
der konkret daseienden, sich de facto auswirkenden je-
weiligen Seinsordnung entsprechen, nennen wir "ad-
äquate", seinskongruente Vorstellungen. Sie sind relativ
selten, und nur· soziologi~ch völlig geklärtes Bewußtsein
wirkt durch seinskongruente Vorstellungen und Motive
bestimmt. Den seinskongruent ad~quaten Vorstellungen
gegenüber gibt es die beiden großen Gruppen seinstrans-
zendenter Vorstellungen: die der Ideologien und die der .
Utopien.
Ideologien nennen wir jene seinstranszendenten Vor-
stellungen, die de facto ·niemals zur Verwirklichung des in
ihnen vorgestellten Gehaltes gelangen1 Werden sie auch
oft gutgläubig zu Motiven des subjektiven Handeins der
einzelnen, so werden sie doch meist ihrem S.inngehalte
nach im Handlungsvollzug umgebogen.
. Die Vorstellung der christlichen Menschenliebe etwa
bleibt in einer auf Leibeigenschaft fundierten Gesellschaft
stets eine seinstranszendente, unverwirklichbare und in
diesem Sinne "ideologische" Vorstellung, auch dann,
wenn sie dem gemeinten Sinne nach gutgläubig zum Motiv
des Einzelhandeins wird. Konsequent im Sinne dieser
christlichen Menschenliebe in einer Gesellschaft zu leben,
die nicht auf demselben Prinzip aufgebaut ist, ist un-
möglich und der einzelne ist in seinem Handeln gezwungen
- sofern er nicht gesonnen ist, diese Gesellschaftsstruk-
tur zu sprengen -, stets von seinen edleren Motiven
abzufallen. , ·
Dieses "Abfallen" des ideologiebestimmten Handeins
vom vorgestellten Gehalte kann mehrere Formen haben,
und dem entspricht eine ganze Skala möglicher Typen
1 Damit ist also ausgesprochen, daß auch Ideologien als Motive
173
sen"' ~s in concreto itu ge-
~..,~~'"t-n:l~ :un IItoW, an.zu_.sp!S!chen sei,
un laublich j;}l ieri . Es handelt sich hierbei nämlich
stets um eine wertende und messende Vorstellung, bei
deren Vollzug man unvermeidlich an den Wollungen
und an dem Lebensgefühl der um die Beherrschung der
historischen Wirklichkeit ringenden Parteien partizi-
pieren muß.
a · g gß~Jl® alle als Utopie und was als Ideo-
ie zu gelten hat das hängt ja im wesentlichen auch da-
on ab welcher Sfufe der Seinswirklichkeit man
den Maß ta an e t, und es ist klar, daß die die bestehende
sozialgeistige Seinsordnung vertretenden Schichten die von
ihnen getragenen Zusammenhänge als wirklich erleben
werden, -daß dagegen die in Opposition getriebenen Schich-
ten sich bereits an den tendenziellen Keimen der von ihnen
gewollten und durch sie werdenden Lebensordnung orien-
tieren werden. Als Utopie bezeichnen die Vertreter einer
bestimmten Seinswirklichkeit alle jene Vorstellungen, die
von ihnen aus _gesehen prinzipiell niemals verwirklicht
werden können.
ie em SRrach ehrauch bekommt auch das Utopische
~,_-~eute do · · renden Nebensinn einer Vorstellung,
die dnzipiell un erwirkliehbar ist. (Diese Bedeutung
haben wir aus der engeren Definition bewußt ausgemerzt.)
Nun gibt es sicher unter den seinstranszendenten V orstel-
lungen solche, die prinzipiell und niemals verwirklichtwer-
den können. Die für eine bestimmte Seinsordnung denken-
den und im Banne des dazu gehörenden Lebensgefühls ste-
henden Menschen werden aber stets die Tendenz haben,
alle jene seinstranszendenten Vorstellungen als absolut
utopisch zu bezeichnen, die sich nur in ihrer Lebens-
ordnung als unverwirk.lichbar erweisen. Wir wollen im
fol enden, sooft wir schlechtweg von Utopie reden, stets
d1e bloß relatil[e, d ...h. nUJ:. die.. von einer bestimmten he-
174
1 An der Bestimmung der Bedeutung des Begriffes Utopie könnte
man allein schon zeigen, wie sehr eine jede Definition im historischen
Denken bereits perspektivisch ist, d. h. das ganze Gedankensystem
des Standortes des jeweiligen D.enkers, ganz besonder&. aber die hinter
diesem Gedankensystem stehende politische Entscheidung irgendwie
schon in sich enthält. Allein die Tatsache, wie man einen Begt;iff de-
finiert und in welcher Bedeutungsnuance man ihn verwertet, enthält
bereits bis zu einem bestimmten Grade eine Vorentscheidung über
den Ausgang des auf ihn aufgebauten Gedankenganges.
Daß ein für die bestehende, geltende Sozialordnung bewußt oder
unbewußt optierender Betrachter einen dem Umfang nach so um-
fassenden, unbestimmten und undifferepzierten Begriff des Utopischen
hat, in dem der Unterschied des absolut und nur relativ Unverwirk-
lichbaren verwischt wird, ist kein Zufall. Von ' diesem Standort will
man einfach nicht über den gegebenen Seinsstatus hinauskommen.
Dieses Nichtwollen trachtet das allein in der gegebenen Seinsordnung
D.ll' erw · bare.als etw o.l'f~ ·r CE:bares anzusehen,
um du "es V...erschü de Differenzen das nur e ti.v: t -
,pisch als Eorde ·eh uf ommen..zu lassen. Indem man ohne
Unterschied alles utopisch nennt, was über das Gegebene hinausragt,
vernichte man die Beunruhigung die aus de · andere Sein -
or unge yerwlrklichbaren "relativ Uto ische " entstehen könnte
Gerade umgekehrt ist für den Anarchisten G. Landauer (Die Re-
volution a. a. .0. S. 7ff.), der jeden Wert in die Revolution und
Utopie verlegt und in jeder Topie ( = Seinsordnung) das Böse selbst
sieht, eben diese Seinsordnung ein völlig undifferenziertes Element.
Wie vorher in den Augen des Vertreters der jeweiligen Seinsordnung
dies Utopische sich weiter nicht differenzierte (man also bei ihm von
einer Utopieblindheit reden könnte), so könnte man bei dem Anar-
chisten von einer Seinsblindheit sprechen. Es bricht nämlich bei
Landauer die bei allen Anarchisten dominierende, alle Teildifferenzen
verschüttende, alles vereinfachende Antithese des "Autoritärs" und
"Kämpfers für die Freiheit" durch - ein Gegensatz, bei dem
vom Polizeistaat über die demokratisch- republikanische bis zur
sozialistischen Staatsorganisation alles in gleicher Weise als "autoritär"
1 75
und nur der Anarchismus als freiheitlich erscheint. Dieselbe Ten-
denz zur Simplifizierung wirkt sich auch im Geschichtsbild aus.
Genau wie ·die sicher vorhandenen qualitativen Differenzen der ein-
zelnen Staatsformen durch die zu ~chroffe Alternative verdeckt
wurden, wird durch das Verlegen des wesentlichen Wertakzentes
auf die Utopie und die Revolution die Möglichkeit des Sichtbar-
werdens irgendwelcher evolutiver Momente im Gebiete des Histo-
risch-Institutionellen verbaut. Für dieses Weltgefühl ist dann das
historische Geschehen nichts anderes als ein immer wieder sich er-
neuerndes Abgelöstwerden einer jeden Topie (Ordnung) durch eine
aus ihr aufsteigende Utopie. Nur in der Utopie und in der Revolution
steckt wahres Leben, die instit~Jtionelle Seinsordnung ist stets nur der
üble Rest, der aus der abgeebbten Utopie und Revolution übrig-
bleibt. So führt der Weg der Geschichte von einer Topie über die
Utopie zur nächsten Topie usf.
Die Einseitigkeit dieser Weltsicht und Begriffsbildung ist zu
handgreiflich, als daß sie hier noch ausführlicher analysiert zu werden
brauchte. Ihr Verdienst besteht aber darin, daß sie im Gegensatz zu
der die jeweils bestehende Seinsordnung vertretenden ("konserva-
tiven") Denkweise die Verabsolutierung der jeweiligen Seinsor~nung
verhindert, indem sie diese nur als eine der möglichen "Topien"
betrachtet, die aus sich sofort jene utopischen Elemente heraus-
sondern wird, die diese dann ·zu sprengen berufen sind. Man sieht:
will man den "richtigen" (oder bescheidener ausgedrückt, den auf
unserer Denkstufe möglichen adäquatesten) Utopiebegriff finden, so
muß man zunächst durch eine wissenssoziologische Analyse die
Einseitigkeiten der einzelnen Standorte gegeneinander ausspielen.
Hierbei wird völlig durchsichtig werden, worin die Partikularität
der bisherigen Begriffsbedeutungen besteht. Erst nach dieser Klä-
rung kann man auf Grund eigener Entscheidung eine umsichtigere
Lösung finden, die die bisher durchsichtig gewordenen Einseitig-
keiten überwindet. Der oben im Text von uns verwertete Utopie-
begriff scheint uns in diesem Sinne der umfassendste zu sein. Er
trachtet zu1,1ächst danach, dem dynamischen Charakter der
Wirklichkeit Rechnung zu tragen, indem er nicht von einem Sein
•
vollzieht sich die primäre "Enthüllung" der Ideologien
als seinsinkongruenter Täuschungsvorstellungen stets von
den Vertretern einer erst noch werdenden Seinswirklich-
keit her. en Be riff..._des Uto ischen bestimmt stets die
he.ttschen e, mit emer l::ieste enden Seinsordnung sich in
überhaupt, sondern von einem konkret historisch-sozial be- ·-
stimmteQ und sich stets abwandelnden Sein ausgeht. (Vgl. S. 53,
85 Anm. 2.) Er trachtet ferner, einen qualitativ historisch und
sozial abg!!stuften Utopiebegriff zu finden, schließlich das
"relativ-" und das "absolut-Utopische" auseinanderzuhalten.
All dies geschieht letzten Endes nur, weil wir nicht rein abstrakt
ein beliebiges Verhältnis von Sein und Utopie theoretisch fixieren,
sondern womöglich dem konkreten Reichtum des historischen und
sozialen Gestaltwandels der Utopie in einer Zeitperiode gerecht
werden wollen, ferner, weil wir diesen Gestaltwandel nicht nur
morphologisch kontemplativ betrachten und beschreiben, sondern
auch jenes lebendige Prinzip herausstellen wollen, das das Werden
der Utopie mit dem des "Seins" verknüpft. In diesem Sinne wird dann
das Verhältnis von Sein und Utopie als ein "dialektisches" bestimmt.
Das Wort bedeutet auf dieser Stufe das einfache Verhältnis, das darin
besteht, daß eine jede Seinsstufe aus sich heraus alle jene "Gedanken-
und Seelengehalte" (bei bestimmt gelagerten sozialen Trägern) em-
porschießen läßt, die das "Negative", das n"och Unverwirklichte,
die Not einer jeden Seinsstufe kondensiert in sich enthalten. Diese
geistigen Elemente werden dann zum Sprengstoff, der dieses Sein
über sich hinaustreipt. Das Sein gebiert Utopien, diese sprengen das
Sein in der Richtutlg auf ein nächstes Sein. Auf einer formalen Stufe
und etwas intelle~tualistisch hatte dieses "dialektische Verhältnis"
schon der H~gelianer Droysen gut formuliert. Seine Begriffs-
bestimmungen mögen zur vorläufigen Erörterung des dialektischen
Elementes dienen. Er sagt in seinem "Grundriß der Historik" (ed.
Rothacker, Halle a. d. Saale 1925) folgendes:
§ 77·
"Alle Bewegung in der geschichtlichen Welt vollzieht sich, indem
aus den Zuständlichkeiten sich das ideale Gegenbild, der Ge-
danke, wie sie sein sollten, entwickelt ... "
§ 78.
"Die Gedanken sind die Kritik dessen, was ist, und nicht ist,
wie es sein sollte. Indem sie verwirklicht sich zu neuen Zuständen
177
ausbreiten und zu Gewohnheit, Trägheit, Starrheit verdicken, wird
von Neuern die Kritik herausgefordert, und so fort und fort ... "
§ 79·
"Daß aus Zuständen neue Gedanken, aus den Gedanken neue
Zustände werden, ist die Arbeit der Menschen." (S. 33 f.)
Diese Bestimmung des dialektischen Vorwärtstreibens, des Seins
und des im "Gedanklichen" erfaßbaren Widerspruchs darf nur als
formales Schema dienen, die wesentliche Aufgabe besteht darin, die
Seinsdifferenzierung und die dazugehörige Utopiedifferenzierung je
konkreter in ihrem Wechselleben zu verfolgen, so daß der systema-
tisch je reichhaltiger werdende Frageansatz dementsprechend desto
mehr historische Fülle gewinnt. Denn darin scheint uns die nächste
Aufgabe der Forschung zu bestehen, System und Empirie immer
mehr einander anzunähern.
Im allgemeinen wird man hierbei die Beobachtung machen, daß
der Tendenz nach für systematische Untersuchungen die Begriffs-
apparatur der progressiven Parteien geeigneter ist - denn sie haben
die existentielle Chance, systematisch zu denken (vgl. die Ur-
sachen hierzu in meiner Untersuchung: Das konservative Denken,
a. a. 0. S. 83 ff.).
·Historische Begrifle im Sinne der Einmaligkeit werden dagegen
meistens von Standorten aus gebildet, die in eine konservative Posi-
tion rücken. Zumindest gilt diese Zurechnung in undiskutabler
Eindeutigkeit für die Zeit, wo die Idee der historischen Einmaligkeit
im Gegensatz zur generalisierenden Betrachtung aufkam.
Von hier aus kann man auch dem gegen die oben gegebene De-
finition des Utopischen sicher zu erwartenden Einwand des Histori-
kers begegnen, unsere Begriffsbestimmung "utopisch" sei zu kon·
struktiv, weil sie einerseits sich nicht in erster Reihe an Schriften halte,
die zu jener Schriftgattung gehören, die durch die Utopia des Thomas
Morus diesen Namen bekamen, andererseits weil sie sehr vieles um·
fasse, was mit diesem historischen Ausgangspunkt nichts zu tun hat.
Dieser Einwand beruht auf der Voraussetzung des Historikers,
daß a) Geschichtsschreibung nur die Aufgabe haben kann, die Ge·
schichte in ihrer konkreten Einmaligkeit und Anschaulichkeit darzu-
stellen; b) der Geschichtsschreiber deshalb nur mit anschaulichen
Begriffen arbeiten darf, clas will besagen, mit systematisch so unscharf
gehaltenen Begriffen, daß sie dem Flußcharakter der Erscheinungen
gerecht werden. Nicht die nach einem Prinzip ähnlich zu klassifi-
zierenden Erscheinungen gehören zusammen, sondern die in einer
einmaligen historischen Situation vorhandenen, auf Grund anschau-
licher Merkmale, verwandten Erscheinungen. Nun ist es klar, daß
derjenige, der mit solchen Voraussetzungen an die Erforschung der
historischen Wirklichkeit herangeht, sich hier mit einer solchen
Begriffsapparatur den Weg zur systematischen Forschung a priori
versperrt. Denn gesetzt den Fall, daß Geschichte nicht nur pure
Anschaulichkeit und Einmaligkeit wäre, sondern daß sie auch Struktur
und Aufbau besäße und noch in manchen Schichten ihres Seins
Gesetzmäßigkeiten gehorchte (was man doch als Möglichkeit zu-
nächst offen lasse.p. müßte), wie wollte man dann diese Faktoren ent-
decken, wenn man an sie nur "unkonstruktive", an der "historischen
Einmaligkeit" haftende Begriffe heranbringen dürfte ? So ist z. B. der
Begriff der "Utopie" - sofern er im engeren historischen Gebrauch
nur Gebilde umfaßt, die der Utopie des Thomas Morus in concreto ähn-
lich sind, oder aber in etwas erweitertem Sinne "Staatsromane" be-
zeichnet-ein solch historisch unkonstruktiver Begriff. Wir wollen die
Berechtigung des am Anschaulichen und Einmaligen haftenden be-
schreibend-historischen Begriffes nicht bezweifeln, solange das Er-
kenntnisziel der Geschichte gegenüber nur dies Erfassen der Anschau-
lichkeit und Einmaligkeit ist. Wir bezweifeln aber die Berechtigung der
Behauptung, daß man der Geschichte gegenüber nur diese Erkenntnis-
haltung einnehmen dürfe. Demgegenüber ist es kein Argument,
wenn der Historiker sich darauf beruft, daß die Geschichte selbst
ari und f~r sich die Kette purer Einmaligkeiten sei. Wenn man sich
schon in der Fragestellung und Begriffsbildung die Möglichkeit
einer andersartigen Antwort versperrt, wie soll einen dann die Ge-
schichte eines Besseren belehren können ? Wenn man Begriffe
ohne strukturelle Problemstellung an die Geschichte heranträgt,
wie soll sie dann ihre Strukturen zeigen? Wenn der Begriff eine
179
ten sind oft weitgehend mit ideologischen Elementen
durchsetzt.
!ie Uto ie des aufstrebende Bütg s ar etwa die
dee der ,Ereiheit". Sie war zum Teil eine wirkliche Uto-
. h. sie enthielt Elemente, die in der Richtung einer
Erwartungsintention theoretischer Art nicht enthält, wie soll dann
eine Erfüllung in dieser Richtung erfolgen? (Hier wiederholt sich
dasselbe Verfahren auf einem höheren Niveau, das wir beim Kon-
servativen und Anarchisten zu beobachten Gelegenheit hatten:
die nicht erwünschte Erfahrung verbaut man sich schon in der
Fragestellung und im Aufbau der zur Anwendung gelangenden
Begriffe.)
Da unsere an die Geschichte herangetragene Frage dem Wesen
nach das Problem beantworten möchte, ob es nicht unverwirklichte
Gehalte als Vorstellungen gibt, die eine gegebene Wirklichkeit
sprengen, können wir diese Phänomengruppe als eine Frageeinheit
in Gestalt eines.Begriffes fixieren; hierbei dürfte man höchstens die
Frage stellen, ob es geeignet ist, diesen Begriff an die Bedeutung
"Utopie" anzuknüpfen. Hierauf wäre ein Doppeltes zu antworten:
Sofern wir definieren: "Utopie soll heißen ... ", dann kann uns nie-
mand etwas anhaben, denn wir geben damit zu, daß die Definition
für bestimmte Erkenntniszwecke so heißt. (Max Weber hat das be-
reits in vorbildlicher Weise klar gesehen.) Wenn wir aber noch außer-
dem diese so aufgebaute Definition . mit einer historisch belegten
Wortbedeutung verbmden, so geschieht dies in der Absicht, darauf
hinzuweisen, daß bereits in den bloß in historischem Sinne aufge-
faßten "Utopien" die in unserer Konstruktion hervorgehobenen
Elemente als wesentliche Momente vorhanden sind. Deshalb sind
wir auch der Ansicht, daß unsere konstruktiv definierten Begriffe
nicht bloße Gedankenexperimente verkörpern, sondern die Ansätze
zur Konstruktion aus der Empirie schöpfen, daß es sich also bei
diesen Begriffen um Konstruktionen cum fundamento in re handelt.
In der Tat sind diese konstruktiven Begriffe nicht zum spekulativen
Gebrauch da, sondern sie wollen uns nur dazu verhelfen, die in der
Wirklichkeit selbst vorhandenen struktiven Momente - die nur
nicht immer augenfällig sind - zu rekonstruieren. Konstruk-
tion istnämlich nicht Spekulation, wo der Begriff und die Überlegung
nur bei sich bleibt, sondern Konstruktion ist Vorbedingung der
Empirie, die, wenn sie die im Begriff angelegten Erwartungsinten-
tionen erfüllt, einfacher, wenn sie "Belege" für die ,Richtigkeit der
neuen Seinsordnung das vorangehende Wirklichkeitsge-
füge sprengten und die sich nach der Durchsetzung dieser
Idee auch zum Teil in Wirklichkeit umsetzten. Die Freiheit
im Sinne der Sprengung der zünftigen und ständischen
Gebundenheit, die Freiheit im Sinne der Denk- und Mei-
nungsfreiheit, die Freiheit im Sinne der politischen Freiheit,
die Freiheit im Sinne des Auslebens des Persönlichkeits-
bewußtseins wurde weitgehend, zumindest weitgehender
·als in der vorangehenden ständisch-feudalen _Gesellschafts-
ordnung,·zur verwirklichbaren Möglichkeit. Und dennoch
Konstruktion liefert, - dieser die Dignität einer Rekonstruktion
verleiht.
Überhaupt ist der Gegensatz historisch und systematisch
(Konstruktion) nur mit Vorsicht zu verwerten. Solange man ihn auf
einer vorbereitenden Stufe der Gedankenentwicklung verwertet, mag
er einige Klärungen zutage fördern. So war etwa in der historischen
Entwicklung dieses Gegensatzes auf der Stufe der Rankeschen Ge-
dankengänge ein vorläufig manche Differenzen klärender Sinn in die-
ser Gegenüberstellung erhalten; es gelang z. B. Ranke selbst, da-
durch seinen Gegensatz zu Hege! zu klären. Hypostasiert man aber
diese bloß als erste Phase in einer Gedankenentwicklung berechtigte
Gegenüberstellung (über die sowohl die geschichtliche Entwicklung
wie die immanente Struktur der Phänomene hinaustreibt) zu einer
endgültigen Antithese und zu einem absoluten Gegensatz, so wird
auch hier - wie.._so oft - ein partikulares Stadium in der Gedanken-
entfaltung zu einer Absolutheit gemacht. Und auch hier dient diese
Absolutheit dazu, sich den Weg zur Synthese von systematischer und
historischer · Fragestellung, den Weg zur Totalitätsforschung zu
versperren. (Über die praktischen Gefahren der historischen Be-
griffsbildung vgl. C. Schmitts Kritik an Meinecke. Carl SGhmitt:
Zu Friedrich Meineckes Idee der Staatsraison. Archiv für Sozial-
wissenschaft und Sozialpolitik 19.26, Bd. 56, S. n6ff. Es ist schade,
daß die Problematik, die in dem Gegensatz zweier so markanter
Vertreter enthalten ist, in der Literatur nicht weiterausgebaut wurde.)
Über-das Problem Geschichte und System vgl. neuerdings: .
Sombart, W.: Economic Theory and Economic History (Economic
History Review, Vol. II, No. 1, Jan. 19.29).
]eGht, H.: Wirtschaftsgeschichte und Wirtschaftstheorie. Tübingen
19.28. .
heute wo diese Uto ien zur Wirklichkeit
:wie ern ereits die damalige Freiheits-
'dee c u uto 1sc e, son ern aucli lcleologische:
lemente enthielt. 1
Uberall dort, wo diese Freiheitsidee bei der dazu gehöri-·
gen Gleichheitsvorstellung Halt machen mußte, spielte
sie mit Möglichkeiten, die in der von ihr geforderten und
später durchgeset~ten Lebensordnung prinzipiell unver-·
wirklichbar waren. Es mußte eine aufstrebende nächste
soziale Schicht kommen, die die ideologischen Elemente
von den zu einer späteren, Wirksamkeit fähigen, d. h. wirk-
lich utopischen Elementen in der vorangehenden "bür-
gerlichen" Bewußtseinshaltung ~onderte.
All diese soeben gesichteten Schwierigkeiten bei der
konkreten Bestimmung des jeweilig Ideologischen und Uto-
pischen im Bewußtsein belasten nur die Problemstellung,
machen sie aber nicht zu einem unerforschbaren Aufgaben-
kreis. u.t..be · ·t e emvJ.rti en,., sich ~ekämpfenden Vor-
stellun e 'st e ··~ s Ghwierig festzustellen, was als
wanre d. in Zukunft auch verwirklichbare) Utopie
aUfstrebender Klassen und was als bloße Ideologie herr-
schender aber auch aufstrebender) Klassen anzusprechen
ist. Wenn wir in die Vergangenheit zurückblicken, gibt
es ein ziemlich zuverlässiges Kriterium dafür, was als Ideo-
logie und was als Utopie anzusehen sei. iterium
· für Ideolo ie und Uto ie ist die Y..e wirldich.un.g. Ideen,
.von denen es sich nachträglich herausstellte, daß sie über
1 einer gewesenen oder aufstrebenden Lebensordnung nur
als verdeckende Vorstellungen schwebten, waren Ideo-
1 logien; was von ihnen in der nächsten gewordenen Lebens-
; ordnungadäquat verwirklichbar wurde, war relative Uto-
pie. Die gewordenen Wirklichkeiten der Vergangenheit
1 entZiehen weitgehend dem Kampfe der bloßen Meinungen
die Beurteilung dessen, was von den frü,heren seinstrans-
zendenten Vorstellungen als wirklichkeitssprengende rela-
tive Utopie und was ttis wirklichkeitsverdeckende Ideo-
logie zu gelten hat. In d~I Me,rw:irkl-ichung iegt ein nach-
.,."'l..~~~·u-·::.:un rückwirkender Maßstab zu der Beurteilung
r ...".,,,,-,=-Sachverhalte , d1e, solange sie gegenwärtig sind, weit-
188
der Utopie wird zum unmittelbar schaubaten Bild oder
zumindest zu einem geistig direkt intendierbaren Gehalt,
was in der spontanen Betrachtung des Geschehens als
Forni der Gliederung der Ereignisse, als unbewußt ein-
gefühlte Rhythmik in die fließende Zeit vom Subjekt aus
emaniert1 •
M kann die innersie Struktur eines Bewußtseins nir-
gends so klar e~ssen, als wenn man sein Zeitbild von
seinen Hoffnungen, Sehnsüchten .und Sinnzielen her ver- /
teht. Denn von diesen Sinnzielen und Erwartungen aus
gliedert es nicht nur sein zukünftiges Geschehen, sondern
auch die vergangene Zeit. Das in bloß chronologischer
Kumulation sich zunächst bietende Geschehen gestaltet
sich von hier aus erst zum Schicksal; Fakta distanzieren
sich und die Sinngewichte werden von der grundlegenden
Strebensrichtung der Seele her auf die Einzelereignisse
verschieden verteilt. In nichts anderem aber als in dieser
sinnmäßigen Gliederung besteht das über die chrono-
logische Ordnung weit hinausragende Aufbauprinzip der
historischen Zeit. Man muß jedoch noch einen Schritt weiter
gehen. Diese Sinngliederung ist eigentlich das Allerpri-
märste in dem Erfassen und in der Auslegung des Ge-
schehens. Genau wie die moderne Psychologie uns zeigt,
daß wir die Gestalt früher haben als die Elemente und wir
die Elemente eigentlich erst von der Gestalt her erfassen,
so ist es auch im historischen Verstehen. Auch hier haben
wir das historische Zeiterleben als eine das Geschehen
gliedernde Sinntotalität ,,früher" als die Elemente, aus ihr
heraus verstehen wir eigentlich erst den Gesamtablauf
und unseren Ort in ihm.
1
Daß in diesem Zusammenhang das historische Zeiterleben
transzendental-subjektiv formuliert ist, will nicht besagen, daß ihni
objektiv-ontisch nichts entspricht. Nur besteht in unserem Zusam-
menhang keine Gelegenheit, die Frage in objektiv-ontologischem
Sinne zu stellen.
Gerade wegen dieser zentralen Bedeutung des histori-
schen Zeiterlebens werden wir die Zusammenhänge zwi-
schen jedesmaliger Utopie und historischer Zeitsicht be-
1
sonders hervorheben.
Sprechen wir hier von bestimmten Formen und Stufen
des utopischen Bewußtseins, so denken wir an konkret
auffindbare Bewußtseinsstrukturen, wie sie in den ein-
zelnen Menschen "lebendig" gewesen sind. Wir meinen
. nicht etwa eine rein konstruierte Einheit (wie das "Be-
wußtsein überhaupt" von Kant) oder eine metaphysische
Entität, die gleichsam über dem konkreten Bewußtsein
der einzelnen anzusetzen ist (wie der "Geist" bei Hegel),
sondern konkret auffindbare Bewußtseinsstrukturen, wie
sie in den einzelnen Menschen aufweisbar waren. Es
wird hierbei stets an das konkrete Denken, Handeln,
Fühlen und deren inneren Zusammenhang bei konkreten
Menschentypen gedacht. Konstruktiv ·sind die reinen
Typen und Stufen des utopischen Bewußtseins nur inso-
fern, als sie als Idealtypen gemeint sind. Kein einzelner
Mensch war je reine Verwirklichung irgendeines der auf-
zuzählenden historisch-sozialen Bewußtseinstypen, viel-
mehr wirkten in jedem einzelnen konkreten Menschen -
oft mit anderen Typen vermischt - bestimmte Elemente
einer bestimmten Art von Bewußtseinsstruktur.
Als methodisch und nicht als erkenntnistheoretisch
oder metaphysisch gemeinte Konstruktionen sind die hier
aufzuzeichnenden, im historisch-sozialen Stufenbau dar-
gestellten dealty; en utop,i hen-Bewußtseins zu verstehen.
Nie entsprach das konkrete Bewußtsein eines einzelnen
Menschen in voller Reinheit den zu schildernden Einzel-
typen und deren strukturellen Zusammenhängen, aber
stets tendierte in seiner Konkretheit jeweils gewesenes
individuelles Bewußtsein (trotz aller vorhandenen "Mi-
schungen") in der Richtung des strukturellen Aufbaus
eines dieser historisch wandelbaren Typen.
Die Konstruktionen dienen im Sinne des Max Weber-
sehen Idealtypus allein zur Bewältigung gewesener und vor-
handener Mannigfaltigkeit und beabsichtigen in unserem
Falle noch außerdem, nicht nur psychologische Tatsäch-
lichkeiten, sondern in ihnen historisch sich entfaltendeund
auswirkende "Strukturen" in ihrer "Reinheit" zu erfassen.
. ·,
Joachim von Fiore bereits wieder aufflackernde, aber dort
noch nicht revolutionierend gedachte Lehre schlug zunächst
bei den u "t n, dann bei homas Mütuer1 und den Wle.-
dertäufern in einen sqzial lokalisierbaren Aktivismus um.
. f:tei schwebend oder auf e· Jen ·ts konzen-
trierte Hoffnungen :wurden plötzlich diesseitig, als hier
d ·etzt realisierbar .erle t und erfüllten mit einer be-
.son eten Wucht das soziale Handeln.
Wenn auch die mit dieser Wendung beginnende "Ver-
"geistigung der Politik" alle Richtungen mehr oder weniger
ergriff, - ihren Spannungsfaktor im sozialen Raume erhielt
sie doch yon der utopischen Bewußtseinsstruktur unter-
drückter Schichten. Hier beginnt erst Politik in neuzeit-
lichem Sinne, wenn man nämlich darunter ein mehr oder
minder bewußtes Mitwirken aller mitlebenden Schichten
an der diesseitigen Weltgestaltung versteht und dies einem
schicksalhaften Hinnehmen des Geschehens oder einem
· Regiertwerden von "oben" gegenüberstellt2• .
1 Aus der Literatur über Münzersei hier nur erwähnt K. Hol/: Luther
schieden definie.ren. Auch hier gilt das, was wir schon früher gesagt
haben: Die Definition wird stets vom Erkenntniszweck \md damit
zusammenhängend vom Standort des Betrachters abhängen. Unser
Erkenntniszweck ist, den Zusammenhang zwischen kollektiver Be-
wußtseinsformung und politischer Geschichte zu verfolgen, folglich
muß unsere die Tatsachen seligierende Definition auf diese Frage-
stellung abgestellt sein.
Nur ganz allmählich erhielte in der nachmittelaltef-
ichen..Entwic ung di .nie i r . chichte im G t-
prozeß diese treibende Funktion und erst nach und nach ge-
langten sie zu einem Selbstbewußtsein ihrer sozialen ung
politischen.Bedeut g. Weilll auch dieser Zeitpunkt- wie
erwähnt - noch ganz und gar fern liegt von einer Stufe
"proletarischen Selbstbewußtseins", so beginnt doch hier J
jener Prozeß, der allmählich zu einem solchen führt, denn
von hier ab vertreten der Tendenz nach die unterdrückten
Schichten immer klarer verfolgbar eine bestimmte Rolle
im dynamischen Werden des Gesamtprozesses, und es
setzt sich auch von hier ab eine sozi.a~e Differenzierung der
Wallungen und der Richtungen .seelischer Hinge~pannt
heit immer eindeutiger sichtbar durch.
Keineswegs hat diese extremste Gestalt utopischep. Be-
wußtseins seither allein Geschichte gemacht, aber ihre
Präsenz im sozialen Raume wirkte sich stets auch bei den
Gegenspielern aus: selbst die Gegner orientierten sich,
wenn auch oft ungewollt und unbewußt, an ihr. Das uto-
pische Bild erweckte das Gegenbild, der chiliastische Op-
timismus der Revolutionäre gebar letzten Endes das kon-
servative Resignationserlebnis und verlieh dem politischen
Realismus später endgültige Gestalt.
Aber nicht nur für das Politische war dieser Augenblick
entscheidend, sondern auch für jene Seelenregungen,
die hier mit dem Handeln ein Bündnis schlossen und auf •
ihre freisch~ende Art verzichteten. Orgiastische Ener-
gien, Ekstasen erfahren hier eine weltliche Gebundenheit,
die aus der Welt hinaustendierenden Spannungen werden
zum Sprengstoff in der Welt, das Unmögliche gebiert
Mögliches\ das Unbedingte das wirkliche Geschehen. Aus
einer ganz besonderen Substanz, aus einem ganz beson-
•J deren Stoff war diese grundlegende, radikalste Form der
Schon Miinzer spricht bewußt von dem "Mut und der Kraft
1
14 1 93
1 Münzer spricht von einem · "Abgrund des Geistes", der nur
erscheint, wenn die Kräfte der Seele entblößt sind. Belegstelle Holl,
S. 428, Anm. 6.
194
liehe Betrachtung dem Phänomen des chiliastischen Be-:-
wußtseins gegenüber völlig unzulänglich; sie läuft stets
Gefahr, vom Thema abzugleiten: Mit ideengeschicht-
licher Methode arbeitend verfolgt man allzu leicht an Stelle
der Geschichte der chiliastischen Substanz die Geschichte
ihrer leer geword'enen Gehäuse, die Geschichte der bloß
chiliastischen Ideen1 • Auch die Verfolgung der Schicksale
der Träger chiliastischer Eruptionen unterliegt derselben
Gefahr, denn es ist eine der wesentlichsten Eigenschaften
des chiliastischen Erlebnisses, abzuebben oder unver-
sehens sich in demselben Träger zu transformieren.
Man muß also, will man beim wirklichen Thema bleiben, ·
eine lebendige, mitvergegenwärtigende Form des For-
schens versuchen und sich stets fragen, ob in diesen Denk-
und Erlebnisformen chiliastisches Bewußtsein im gege-
benen Falle wirklich präsent ist.
Denn das wirkliche, vielleicht einzig direkte Merkmal
des chiliastischen Erlebnisses ist das absolute Gegenwärtig-
sein'~-die absolute Präsenz.
Irgendwo hier und jetzt im räumlichen und historischen
Gefügesind wir ja immer, aber vom chiliastischen Erleben
aus gesehen stets nur uneigentlich. Für das absolute Er-
leben des Chiliasten wird das Gegenwärtige zur Ein-
bruchstelle, wo das, was früher innerlich war, nach außen
schlägt und die Außenwelt plötzlich mit einem Schlage
verändernd ergreift.
Der Mystiker lebt in Erinnerung oder in Sehnsucht nach
der Ekstase. Seine Gleichnisse beschreiben diese als einen
im Räumlichen und Zeitlichen unerfaßbaren Seelenort,
1 Im Kampfe Münzers gegen Luther ist bereits die oben angedeu-
kennen, als Zeit und Raum." (Meister Eckcharts Schriften und Predig-
ten, hrsg. Büttner, Jena I9ZI, I, I37.) "Soll die Seele Gottes inne
werden, so muß sie oberhalb von Zeit und Raum stehen I" (Ebd. I; 8.)
"Wenn so die Seele noch im Begriffe steht, den Schwung über sich
selbst hinaus zu vollziehen und einzugehen in ein Nichts ihrer selbst
und ihres Eigenwirkens, dann ist sie durch Gnade ... " (1, zoi).
Zum Unterschied zwischen mittelalterlicher Mystik und Münzer-
scher Religiosität vgl. auch eine treffende Bemerkung Holls: Während
die Mystiker des Mittelalters durch eine künstliche Vorbereitung,
durch Askese auf den Gottesempfang eingestellt sind, also die Ver-
einigung mit Gott zu erzwingen versuchen, ist es für Münzer "Gott
-selbst, der die Sense nimmt, um das Unkraut im Menschen wegzu-
mähen". (Vgl. Holl, S. 48;.) ·
2 Ähnlich im folgenden Satz:
197
ihn ist, daß es hier sei und jetzt sei und aus dem Irdischen
entstehe als ein hier sich vollziehender Umschwung in ein
andersartiges Sein; nicht als Aufschub gebraucht er deshalb
die Zukunftsverheißung, sondern nur, um einen geschehens-
jenseitigen Punkt zu haben, von wo aus man lauernd im
gegebenen Augenblick den Sprung unternimmt. ·
Die feudal-mittelalterliche Welt kennt ihrer Struktur-
bedingtheit gemäß nicht die Revolution im modernen
Sinne1 , und bereits seit dem ersten Auftreten dieser neu-
artigen Form politischer Weltgestaltung begleitet das
Chiliastische die revolutionären Ausbrüche und verleiht
ihnen die Seele. Wenn es abebbt und sie verläßt, bleiben
in der Welt nackte Massenwut und entgeistertes Toben
schuler sein, von Ime selber und durch seinen geist gelert und ver-
göttet werden, und ganz und gar in Inen verwandelt, das sich das
irdische Leben schwengke ii:J. den himel." (Belegstelle Holl, S. 43 1,
Anm. z.)
Zur Soziologie der Verinnerlichung und im allgemeinen zur
Lehre vom Zusammenhang der Erlebnisformen mit den Formen der
politischen öffentlichen Aktivität ist es wichtig zu beachten, daß
Karlstadt und die süddeutschen Täufer in dem Maße, als sie von
Münzer abfielen, aus dem chiliastischen Unmittelbarkeitserieben immer
mehr in die Erlebnisform der optimistischen Zukunftshoffnung und
des Verheißungserlebnisses übergingen. (Vgl. Holl, S. 458.)
1 Eines dieser Merkmale der modernen Revolution, auf das schon
1 99
Deduktion das uto ische Vakuum erfüllt. In einem be-
stlmmten Sinne garantieren jaderrational-axiomatischeAn-
fang, die geschlossene Deduktion, das immanent ausbalan-
cierte Gleichgewicht der in die Axiomatik aufgenommenen
Motive jene innere Geschlossenheit, jene Weltferne genau
so gut, wie dies die Wunschträume vermochten1 •
Ja noch mehr, die Raum- und Zeitenthobenheit des bloß
rational Richtigen urid Geltenden ist in einem bestimmten
Sinne noch geeigneter, zu jenem "Außerhalb", zu jenem
ereignisjenseitigen Punkte zu werden, wie dies die durch
diesseitig-sinnliche Fülle geladenen Wunschträume zu
bieten vermochten.
Nichts ist so geschehensjenseitig wie das rational ge-
chlossene Syste!ll, nidits birg! unter Umständen mehr
irrationale Wucht als das ··llig in seine eigene Welt ge-
annte Gedankengebilde. Allenfalls steckt in jeder Ratio
die Gefahr, daß das chiliastisch Ekstatische hinter der ge-
danklichen Kulisse abebbt, weshalb nicht jede rationale
Utopie ein Äquivalent chiliastischeil Harrens ist und in
diesem Sinne die Funktion weltentrückterEnthobenheit ver-
tritt. Das Unsinnliche, Übersinnliche der rationalen Utopie
widerspricht der triebhaften Fülle des sinnlich wachen
chiliastischen Harrens auf völlige Präsenz. So kann unver-
sehens das rational utopische Bewußtsein zum ersten Ge-
ens ieler des chiliastischen..Bewußtseins werden, wie denn
die liberal-humanitäre Uto ie sich tendenziell immer
gegen das Chiliastische wendet.
Die zweite Gestalt des utopischen Bewußtseins:
l
ieJiber. - nitäre Idee
~~~dieliberal-humanitäre Utopie kam im Kampf
das Bestehende auf. I.ti ihrer adäquaten Form
1 Vgl. Freyer, H.: Das Problem der Utopie. Deutsche Rundschau
1920, Bd. 183, S. 321/345; ferner das später noch genauer zu zi-
tierende Buch von Gir.rberger.
200
1 Über den französischen Ideebegriff lesen wir im Grimm' sehen
Deutschen Wörterbuch: " ... früher hat namentlich der französische
Sprachgebrauch des 17. Jahrhunderts ·das W~rt zu der Bedeutung
einer gedanklichen Vorstellung, eines Gedankens, eines Begriffes
von etwas verflüchtigt (Littre z, 5c), in diesem Sinne treffen wir dann
Idee auch bei deutschen Schriftstellern der x. Hälfte des 18. Jahr-
hunderts entschieden unter französischem Einflusse, es wird sogar
bisweilen mit französischem Accent versehen ... "
201
aer Kritik und nicht in der zeugenden "'Destruktion in
seinem Elemente; er hat nicht alle Brücken zum Hier-
und Jetzt-Werdenden abgebrochen, über dem jeweiligen
Werden schwebt jenes Reich spiritueller Ziele, begeistern-
der Ideen.
Für den Chiliasten ist Geist jener Geist, der über uns
kommt und aus uns spricht, für den humanitären Libera-
lismus jenes über uns schwebende "zweite Reich" 1, das
.in unsere Gesinnung aufgenommen uns begeistert.
Im Zeichen dieser ungeheuren Begeisterung (nicht des
aus uns sprechenden Geistes) stand auch jene Epoche, die
unmittelbar vor und nach der französischen Revolution
im Namen dieser Ideen die Welt neu zu.schaffen ans Werk
ging/ Vom Politischen ausstrahlend erfüllte diese neuzeit-
lich humanitäre Idee alle Sphären des kulturellen Seins,
um in der , idealistischen" Philosophie kulminierend um
eine letzte erreichbare Selbsterkenntnis zu ring~n. Die
Blütezeit der modernen Philosophie fällt mit der Geburt
und Expansion dieser neuzeitlichen Idee zusammen, und
mit ihrem Zurückströmen in engere Bahnen verfällt auch
zumindest die dieser Bewußtseinsstruktur adäquate Ge-
stalt der Philosophie.
Zu eng ist das Schicksal der idealistischen Philosophie
mit den sie fördernden Trägern verbunden gewesen,
um nicht in diesem Zusammenhang zumindest der wich-
tigsten Etappe dieser Verknüpfung zu gedenken InJhrer
ozialen Funktion gesehen, kam die moderne Philosophie
auf um das ~irchlich-theologische Weltbild zu stürzen.
unäc st nanmen sich ihrer die neu aufstrebenden Mächte,
bsolutes Königtum und Bürgertum, an. Später erst wurde
sie alleinige Waffe in der Hand des Bürgertums, sie war hier
untrennbar Geist, Kultur und Politik. Reaktionär gewor-
202
den, flüchtete das Königtum zu theokratischen Ideen, und
auch das Proletariat emanzipierte sich von dem ideenhaften,
mit dem Bürgertum gemeinsamen Gehäuse der idealisti-
schen Philosophie in demselben Maße, als es von seinem
Mitkämpfer zu seinem bewußten Gegner wurde.
Aus einem eigentümlichen Stoff war und ist diese neu-
zeitlich liberale Idee, gegen zwei Fronten kämpfend, völlig
sublim und imaginär. Der visionären Realistik chiliasti-
scher Gottbeschwörung aus dem Wege gehend, wich
das idealistische Bewußtsein gleichzeitig dem boden- und
zeitständigen Weltsinn konservativer, oft bornierter Ding-
und Menschenbeherrschung aus. Sozial wurde das ideen-
hafte Bewußtsein getragen von einer mittleren Schicht,
vom Bürgertum und von der Intelligenz. Dieser Struktur-
lage entsprechend hielt es die strebend dynamische Mitte
zwischen der sinnlichen Vitalität, Ekstase, Rachelust
unterdrückter Schichten und der unvermittelten Kon-
kretheit einer in unproblematischer Koinzidenz mit der
damaligen Wirklichkeit sich befindenden feudal herrschen-
den Schicht.
iel zu normativ gerichtet war dieses Bewußtsein, um
s Sem, wie es eben ist, einzugehen. Es aute sichde -
~~d;;;;;;a_,
us dem Sollen eine eigene idealische Welt auf. Er-
hoben, enthooen, - aber auch erhaben er o es je n
Sinn fü Kör.e_erlichkeit" zugleich auch jede wirkliche Be-
ziehung zur Natur. Natur edeutete ja in den damaligen
Sinnzusalp1Ilenhängen zumeist V ernunftgemäßheit, ein
auf ewige Richtigkeitsnormen bezogenes Sein~ Das Ewige,
das Bedingungslose, eine Welt ohne Tiefraum und Indivi-
duation spiegelt sich auch in der Kunst der damals füh-
renden Generation wider. Ihre Plastik ist in Wahrheit Re-
liefkunst und ihre Kartonkunst mutet an wie eine toten-
blaß gewordene Malerei1 •
1 Vgl. Pinder: Das Problem der Generation in der Kunstgeschichte
206
angetragen, allmähliche Besserung erwirkt. Wer Einzel-
heiten kritisiert, ist gerade durch diese Kritik gefangen-
genommen; das Engagiertsein an der hier und jetzt wer-
denden Kultur, der stürmische Glaube an den Institutiona-
lismus und an die weltgestaltende Kraft der Politik und
Ökonomie zeigen den Erben an, der bereits ernten will und
nicht nur säen.
Zwar schwebt noch die Politik dieser aufstrebenden
Schicht verhängnisvoll stets oberhalb der Sozialproble-
matik, und in den Epochen der liberalen Staatsfeindlich-
keit ist noch jenes in seiner historischen Beaeutsamkeit
nicht erfaßt, was die herrschenden Schichten verabsolu-
tieren: die Bedeutung der Macht und der nackten Gewalt.
So abstrakt nun dieses auf Kultur, Philosophie und in
der Praxis auf Ökonomie und Politik sich stützende Be-
wußtsein vom Konservativen aus gesehen sein mag, so
ist es dennoch, was das Eingehen auf die geschichtliche
Diesseitigkeit betrifft, bedeutend "konkreter" als das chi-
liastische Bewußtsein in seiner historischen Exterritoriali-
tät. Diese größere Nähe zum Geschichtlichen verrät sich
schon dadurch, daß die historische Zeitkonzeption
- das stets sichere Symptom einer Bewußtseinsstruktur -
bestimmter ist als im chiliastischen Bewußtsein. Das chili-
astische Bewußtsein hat, wie wir sahen, kein Organ für das
Werden, es kennt nur den abrupten Augenblick, das sinn-
erfüllte Jetzt. Das auf der chiliastischen Stufe verharrende
Bewußtsein kennt und anerkennt auch später - wo die
Gegenspieler sich bereits völlig darauf einstellten - ·
weder den Begriff des Weges noch den der Entwicklung:
es kennt nur ein Anschwellen und Abebben der Zeit. Im
radikalen Anarchismus z. B., in dem sich am reinsten diese
genuine Form des chiliastischen Bewußtseins erhalten hat,
ist unsere Zeit seit dem Verfall des Mittelalters eine einzige
Revolution. "Es liegt in der Tatsächlichkeit und so- im
Begriff der Revolution, daß sie wie ·ein Gesundfieber
207
zwischen zwei Siechtümern ist; ginge nicht die Mattig-
keit voraus und folgte nicht die Ermattung, so wäre sie
gar nicht1 ." Wenn auch dieses Bewußtsein viel von den
Gegenspielern lernt und bald konservative, bald sozialisti-
sche Einschläge enthält, bricht an entscheidenden Stellen
auch jetzt noch dieser Ahistorismus durch.
Nur eines leistet das chiliastisch-absolute.Jetzt-Erleben,
das eine jede Möglichkeit des Entwicklungserlebnisses
verdrängt: eine qualitative Differenzierung der Zeit.
Es gibt hier sinnerfüllte und sinnentleerte Zeiten; hierin
liegt ein wichtiger Ansatz zur geschichtsphilosophischen
Differenzierung des historischen Geschehens. , Die Bedeu-
tung dieses Ansatzes vermag man nur einzuschätzen, wenn
man sich klargemacht hat, daß au<:_h eine empirische Ge-
schichts betrachtungnicht möglich ist ohne eine - oft latent
gewordene und deshalb unsichtbar wirkende - geschichts-
philosophische Differenzierung der historischen Zeit.
Und mag es auf den ersten Augenblick auch als unwahr- 1
1 Landauer: a. a. 0. S. 91.
208
!i 'be.i:ale Idee ist adä uat nur Yerstehbar als Geg~-
lcl rin s oft hinter rationalistischen Konstruktionen
sich verbergende chiliastischen Durchbruchserlebnisses,
das stets potientiell histor1sc und sozial den Lil:ieralismus
rücklings zu überfallen droht, zugleich aberauch als Kampf-
ruf geg·en eirie sich auf das Herkommen und das Gewordene
stützende Schicht~ die das "hic et nimc" zunächst instinktiv,
dann aber auch in der Reflexion zu beherrschen vermag.
Auch drückt sich hier klarer als irgendwo in der Differenz
der Utopien und in der von ihnen getragenen und ge-
formten . Bewußtseinsstruktur die Verschiedenheit zweier
historischer W elteri und zweier grundverschiedener sozialer
Träger aus. · ' .
ie :We de Chiliasmus :w..at die de sich auflösenden
fit elalters, · f)J grandiose . Z.etse~g.. Alles
kämpfte gegen aU~s: Es war die Welt der sich bekämpfen-
den Fürsten, l'atrizier, Bürger; Handwerksgesellen, Vaga-
bunden, Söldner usw. Es war eine Welt des Aufgewühlt-
seins und der Erregtheit, wo die Seele die Tiefenschichten
nach außen kehrt. In diesem Kampfe kristallisierten sich
noch nicht ganz klar die Ideologien, man kanri es ihnen
zunächst nicht eindeutig ansehen, wohin sie sozial ge-
hören. Erst der Aufstand der Bauern erwirkte im·Refor-
mationsgewirr ·- das hat Engels 1 klar gesehen - eine
soziale Reduktion der seelischep. Gehalte. Es wird offen-
bar, daß das chiliastische Erlebeil den niedrigsteil Schich-
ten zurechenbar ist, es ist eine Sedenstruktur, in ·der
unterdrückte Bauern, Handwerksgesellen, Anfänge eines
Lumpenproletariats, Schwärmerprediger usw. sich treffen~.
Bis ·zum Aufkommen der nächsten Gestalt der Uto ie war
1 Engels, Fr.: Der deutsche Bauernkrieg, hrsg. ' von Mehring,
.110
. nd Linkskt-iti erst all-
ihnen aus kam nichts grundlegend Neues hinzu. Sie schöpften mehr
aus Büchern, Schriften der deutschen Mystiker, insbesondere aus der
"Theologia deutsch", aber auch aus Augustin, als aus der eigenen un-
mittelbaren inneren Erfahrung. Sie brachten nicht die mindeste Be-
reichert19g der Sprache. Sie verunstalteten die eigenartige Mystik am
entscheidenden Punkte, sie verquickten in harmloser Weise Lehren
der mittelalterlichen Mystiker und Münzers Kreuzeslehre. (All dies
für
sind direkte Belege unsere oben angedeutete soziologische Lehre
von der Bestimmbarkeit des geistigen "Brechungswinkels", der vor-
handen ist, wenn "Ideen" einer Schicht von einer anderen übernom-
men werden.)
· Ferner erzählt uns Hol/ selbst, wie die Intelligenz u. a. in ihren
oben erwähnten Vertretern mit dem Fortschreiten der Bewegung, je
radikaler diese wird, immer mehr sich zurückzieht, wie u. a. Franck
in seiner Chronika noch schärfer über den Bauernkrieg urteilt als
Luther selbst, wie nach dieser Abwendung von Münzer ein radikaler
Weltanschauungswandel sich bei ihm aufweisen läßt, wie in der Ab-
wendung von Münzer diese Gebildeten-Weltanschauung immermehr
Züge der Menschenverachtung annimmt, wie sie die "sozialen Züge"
verliert und wie an die Stelle der chiliastischen Apodeixis die tole-
rantere, beinahe synkretistische Idee der "unsichtbaren Kirche" tritt.
(Ebda. S. 459f.)
Auch hierin steckt also sehr viel soziologisch Erfaßbares, wenn
~n nur im Besitze der angemessenen Fragestellung und der aus
ihr entstehenden Begriffsapparatur ist.
15* 2II
noch auf reifer später Stufe diesen Ideen.ihre Stoßkraft er-
halten; waren sie es ·doch, in deren Zeichen die jetzige
Welt entstand. · -
Die tiefste treibende Kraft der liberalen ·Aufklärungs-
ideen lag aber außer dieser die Phantasie erregenden, stets
auf den unendlichen Horizont gerichtetenVerheißung noch
darin, daß sie sich stets an den freien Willen wandten und
ein Unbedingtheitseriebois wach hielten.
Nun besteht aber das Eigentümliche des konservati-
ven Bewußtseins darin, daß es gerade diesem Erlebnis
die Spitze nahm und, will man seine zentrale.Entdeckung
auf eine Formel bringen, gerade im bewußten Gegensatz
zum liberalen ·dem Bedingtheitsbewußtsein einen
pathetischen Akzent verlieh.
212
·seinem Sinne sich stabilisiert hatte) als seinstranszendenter
Gehalt präsent ist, wirkt nunmehr nur ideologisch, als
Glaube, Religion, Mythos in eine Geschichtsjenseitigkeit
verbannt. Das Denken au dieser Stufe hat - wie gesagt -
eher die Ten enz, seine .esamte Umgebung in seiner zu-
aJ.li en Konkretheit als Weltor ung hinzunehmen und
.als etwa ~rohlematisches zu empfin en. ur die Gegen-
ewegung oppositioneller Schichten und ihre Sprengungs-
tendenz des Bestehenden acht leichsam yon außen her für
das konse.t..vative BewUßtsein die eigene Seinsbeherrschung
roblematisch und erzwingt geschichtsphilosophische Re-
tlexione si~h selbst und eine zur Selbstorientierung
und . :wehr..zu leich geschaffene Gegenutopie.
Hätten aufstrebende Schichten diese Problematikrealiter
nicht geschaffen und in ihren entsprechenden Angriffs-
ideologien nicht ausgesprochen, so würden die konser-
vativen Bewußtseinsimpulse latent auf der Ebene des
bloßen Auslebens, des unbewußten Vollzuges geblieben
sein. So aber bewirkt der ideologische Angriff einer auf- -
strebenden Welt ein Reflexivwerden dieser nur im Leben, im
Vollzug zur Geltung kommenden Einstellungen und Ge-
halte. An estachelt und geregt durch die om~ositio el-
e Theorien entdeckt das konservative Bewußtsein erst
achträgl1c seme Idee1• Es ist eben kein Zufall, daß,
während ~e P1o ressiv:e die Idee als den Ereignissen vor-
fll.lSeilen erleben, für ~n k0nservativen Hegel die Idee
1
In diesem Zusammenhang muß man auch der Ideologie des
Absolutismus gedenken, die diesmal nicht ausführlich heran-
gezogen werden kann. Auch diese zeigt, daß . p.tiingllch auf
Beherrschung_ der Seinssituation Ausgerichtete die Tendenz-hat,-ganz
üchterne Überleg gen ü er die Technik_dieser Seinsbeherrschung
· Sinne des sogenannten Macchiavellismus anzustellcm . .Erst später
(zumeist wohl durch die Gegenspieler erzwungen) stellt sich das Be-
dürfnis der ideenhaften Rechtfertigung der Herrschaft ein. Wir
möchten zur Bestätigung dieser allgemeineren Behauptung nur einen
Satz Meinecke.r, in dem dieser Prozeß beobachtet wird, heranziehen:
.2IJ
e rischen Wk.klichkei erst achträglich, wenn die
Welt bereits innerlich fertig geworden ist zur Sichtbarkeit
gelangt. "Um noch über das Belehren, wie die Welt sein
soll, ein Wort zu sagen, so kommt dazu ohnehin die Phi-
losophie immer zu spät. Als der Gedanke der Welt er-
scheint sie erst in der Zeit, nachdem die Wirklichkeit ihren
Bildungsprozeß vollendet und sich fertig gemacht hat.
Dies, was der Begriff lehrt, zeigt notwendig ebenso die
Geschichte, daß erst in der Reife der Wirklichkeit das
Ideale dem Realen gegenüber erscheint, und jenes sich
dieselbe Welt, in ihrer Substanz erfaßt, in Gestalt eines
intellektuellen Reichs erbaut. Wenn die Philosophie ihr
Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt
geworden, und mit Grau in Grau läßt sie sich nicht ver-
jüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva be-
ginnt erst mit dereinbrechendenDämmerung ihrenFlug"1 •
Die Eule der Minerva beginnt beim konservativen
Bewußtsein in der Tat rtur bei der einbrechenden Däm-
merung den Flug.
In seiner ursprünglichen Gestalt bewegt sich das kon-
servative Bewußtsein - wie erwähnt - nicht auf der
Ebene der Ideen. Es ·st d . Gegn , Ekt · so-
zusa en die ~ E ea ~ ämpfens aufoktroyiert. Darin
scheint eben die Eigentümlichkeit der geistigen Entwick-
lung zu bestehen, daß der neu auftretende jüngste Gegen-
spieler das Tempo und die Form des Kampfes diktiert.
"Das Ideal des modernen Staates, der nicht nur Machtstaat, son-
dern auch Kufturstaat sein will, stieg damit auf, und die dürftige
Beschränkung der Staatsräson auf die bloßen Aufgaben der unmittel-
baren Sicherung der Macht, in der sich die Theoretiker des 17. Jahr-
hunderts noch vielfach bewegt hatten, wurde überwunden." Es
handelt sich um die Zeit Friedrichs des Großen. Meinecke, Fr.: Die
Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte. München, Berlin
19 2 5, s. 353·
1 Die bekannten Schlußworte der Vorrede der Hegel'schen Rechts-
philosophie, ed. Lassen, Philosophische Bibliothek, Bd. 1 2.4, S. 17· .
.214
Es ist zwar nicht so, wie es das "fortschrittliche Denken"
1
darstellen will, daß nur das Neue allein die Aussicht hat
zu bestehen und alles andere allmählich abstirbt, wohl aber
so, daß das Ältere, vom Neuen getrieben, sich stets trans-
formieren und auf die Ebene des neuesten Gegners be-
geben muß. So erzwingt in der Gegenwart die soziologi-
sche Argumentation bei den früheren Stufen des Denkens
ein Eingehen auf das soziologische Argument. In dem-
selben Sinne erzwang am Anfang des 19. Jahrhunderts das
"berale ideenhaft e.t1K.en auch beim Konservativen die
Seihstinte retati n auf der Stufe der Idee.
Nun ist es interessant zu beobachten, wie diese ideen-
hafte Selbstauslegung den ursprünglichen, eher boden-
ständigen Schichten (Möser, v. d. Marwitz) nicht gelingt
und die Entdeckung der konservativen Idee J\.ufgabe der
sich den Konservativen anschließenden Ideologen wird.
Was die konservativen Romantiker und insbesondere
Hegel in dieser Beziehung leisten, ist, daß sie den Sinn
konservativen Seins auf der Ebene des Ideenhaften aus-
legen und von hier aus eine Einstellung zur Welt, die in
Gestalt des unreflektierten Vollzugs schon da ist, im Ele-
mente der Idee interpretieren.
Das, was bei den Konservativen der Idee entspricht, ist
deshalb auch seiner Substanz nach etwas anderes als
die liberale. Idee. Und He els Ta war es eben, der libe-
ralen Idee einen konservativen Gegenspieler zu stellen,
nicht indem er eine Einstellung und eine Verhaltungsweise
fingierte, ondern indem..er eine vorhandene Art des Seins
und Erlebens auf die ideenhafte Ebene erhob und diese
dem liberalenWelterleben gegenüber in seiner besonderen
Eigenart bestimmte.
Die liberal aufklärerische Idee hatte für den Konser-
vativen etwas Windiges, Unkonkretes an sich. Sie wurde
auch von dieser Seite her in diesem Sinne angegriffen und
depraviert. Für Hegel·war sie ein bloßes "Meinen", eine
215
bloße Vorstellung, .war sie nichts anderes als die pure Mög-
lichkeit, hinter der sich der einzelne versteckt, sich reser-
vieit und der Forderung des Tages entgeht.
. Diesem bloßen -,,Meinen", dieser bloßen . subjektiven
Vorstellung wird die in die reale Wirklichkeit des "hic
et nuilc" versenkte, in ihr sich konkret auswirkende
Idee entgegengesetzt. Sinnziel und Wirklichkeit, Sollen
und-Sein fallen hier nicht auseinander, denn das Utopische;
die ,,konkret gewordene Idee'', ist ganz Ieibhaft in dieser
Welt präsent. Im geltenden Gesetze des Staates bekommt
das dort nur formale Sollen konkreten Gehalt. In den
Kulturobjektivationen, in Kunst und Wissenschaft ent-
faltet sich ·die Geistigkeit, wirkt sich die Idee in ihrer
ganzen handgreiflichen Fülle aus. .
Wir haben bei derJiberale tapi~ bei der humanitären
dee · ergleic zur chiliastischen Ekstase bereits in
elatives Nähe ·· ke ~ das "hic et nunc" beobachten
öiln n. ie eim Konservativen ist dieser Prozeß des
äherriicken bereits :vollendet, die Utopie ist in das
Se·il · eits Y:O ornherein versenkt.
Dem entspricht selbstverständlich die Tatsache, daß das
Sein, das "hic et nunc", nicht mehr als "schlechte Wirklich-
keit" erlebt wird, sondern als Träger der Sinnfülle.
Ist zwar hier die Utopie, die Idee, an das konkrete Sein
völlig herangerückt, völlig in dasselbe eingegangen, so
führt dieses Erleben - zumindest auf den Höhepunkten
der Schaffenslust dieser Strömung - dennoch nicht zu
einer Spannungslosigkeit und zu einem trägen Hinnehmen
des Seins. Eine bestimmte Spannung zwischen Idee und
Sein entsteht daraus, daß nicht jedes Atom dieses Seins
sinnerfüllt ist, daß man zwischen wesenhaft und unwesent-
lich stets zu unterscheiden hat und daß die Gegenwart
stets neue Aufgaben, noch undurchdrungenen Stoff uns
entgegenstellt. Um hierzu einen Orientierungsmaßstab zu
gew.4men, :darfman .sich aber nicht auf subjektive Wollq.n-
216
gen verlassen, sondern muß jene in uns .und unserer Ver.,.
gangenheit objektivierten Kräfte und Ideen heraufbe.,.
schwören, den Geist, der auch bisher durch uns jeneunsere
Werke schuf. Diese Idee, ·dieser Geist wird aber nicht: ra-
tional erdacht, als beste freischwebende Möglichkeit pro-
jektiert, sondern entweder in uns als "still wirkende Kraft"
(Savigny) innerlich erfaßt.oder in den kollektiven-Schöp-
fungen der konkreten Gemeinschaft des Volkes, der Nat~on,
des Staates als zur Entfaltung gelangte Entelechie, als in-
nere Form, zumeist morphologisch erschaut. Die morpho-
logische Schau, auf Sprache, Kunst und Staat ausgerichtet,
nimmt von hier aus iqren Weg. Ungefähr zur selben Zeit,
als die nach vo.r\värts .ge1;ichtete .und alles Daseiende in
Bewegung setzende Utopie, die Idee, ihre: systematische
Vollendung erreicht, setzt bei Goethe die anschaulich-
morphologische Forschung ein. Ihre wissenschaftlichen
·Arten findet sie dann in den Werken der historischen
Schule, die diese in das Sein eingesenkten, in ihm sich ent-
faltenden "Ideen" nicht spekulativ, sondern anschf-ulich
in der Betrachtung der Sprache, der Sitte, des Rechts usw.
aufzuweisen versucht.
Auch hier wirkt also die im politischen Erleben zentral
sich gestaltende Idee (die diesem Standort entsprechende
Gestalt der Utopie) auf den dazugehörigen Strom im ge-
samten Geistesleben formgebend ein. In '. allen diesen
Arten des Suchens nach .der "inneren Form" lebt aber
dasselbe mit positiv emphatischem Akzent versehene ·kon-
servative Bedingtheitse.debnis, das nacQ. außen projiziert
auch im Betonen der hjstorischen Bedingtheit zuni Aus-
druck gelangt. Der Mensch ist für diese Ansicht, für dieses
Weltgefühl bei weitem nicht absolut frei, nicht alleS und
jedes überhaupt ist in jedem Augenblick und in jeder
historischen Gemeinschaft möglich. Die jeweilige innere
Form der historischen Individualität, sei es die einer Ein-
zelpersönlichkeit oder .die eines V olksgeis~es, ,1.1,nd :die
217
äußeren Umstände samt der dahinter stehenden Vergan-
genheit bestimmen tendenziell die Gestalt des Werdenden.
Eben deshalb kann die jeweilige historische Gestalt nicht
gemacht werden, sondern sie wächst gleich der Pflanze
aus einem inneren Zentrum1 •
uch diese konservative Gestalt der lltoBie de e-
danke de in die Wirklichkeit einge enkten Idee ist nur
endgültig :verstehbtt aus ihrem Kampfe 't den oexi-
stterenden übrigen Gestalten äer Utopie. unmittelbarer
Ge ner ist die ·liberale, ins Rationalistische übersetzte
Id€e. urde 'er das Sollen emP.hatisch e.tlebt, so ver-
chieb sich beim Konservativen aie Emphase zugunsten
es . eins. Nur weil etwas ist, ist es schon höherwertig,
sei es, wie bei Hegel, der in ihm versenkten höheren Ratio-
nalität zuliebe, sei es, wie bei Stahl, wegen der faszinieren-
den Wirkung gerade seiner Irrationalität: >>Es ist eine
wunderbare Empfindung in dem "Es ist" I - "Dieser ist
dein Vater, dein Freund, durch diese bist du in diese Lage
gekommen." "Warum gerade diese?" "Ja warum bist du
selbst gerade nun dieser, der du bist?" Und diese Uner-
faßlichkeit besteht darin, daß das Seyn sich nicht im Den-
ken auflösen läßt, daß es nicht logisch notwendig, sondern
sein Grund in einer höheren freien Macht ist.« (Stahl 2.)
Hier droht bereits jene fruchtbare Spannung zwischen
der in die Wirklichkeit versenkten Idee und dem bloß
Dasdenden (aus der guten Zeit des Konservatismus) um-
1 "Staatsverfassungen lassen sich nicht erfinden; die klügste Be-
rechnung ist hier s<Y ohnmächtig als die völlige Unwissenheit: für
das Gemüth eines Volkes, und die Kraft und die Ordnung, die dar-
aus entspringt, gibt es kein Surrogat, auch nicht in den intelligen-
testen Köpfen, auch nicht in den größten Virtuosen." (Miiller,Adam:
Über König Friedrich II. und die Natur, Würde und Bestimmungder
preußischen Monarchie. Berlin x8xo, S. 49.)
Hier, aus der Romantik kommend, wird dieser Gedanke ein
durchgehendes Motiv der ganzen konservativen Tradition.
2 Stahl, Fr.].: Die Philosophie des Rechts, Bd. 14 , S. 2.72..
218
zuschlagen in eine völlige Spannungslosigkeit, und d r
konse.t:v:ative Quietismus hat die endenz, durch den Irra-
tionalismus es üoerhaupt Daseiende zu rechtfertigen.
Vollends im Gegensatz zum Liberalismus steht bei dieser
Erlebnis- und Denkweise die Art der Zeitbewertung.
War dem Liberale die Zukunft alles, die Vergangenheit
nicnts, so fiiiaet das onsefv:ative Zeiterle.OOn die wich-
tigste Bestätigun des Bedingtheitserlebnisses in der Ent-
deckun der Bedeutung der Vergangenheit in der Ent-
deckung der Werte-zeugen&: Zeit. War für das chiliastische
Erleben die Dauer überhaupt nicht vorhanden!, für den
Liberalen nur, soweit sie von jet~t ab den Fortschritt
gebiert, so ist ür de Konsemati.ven alles Bestehen e,_
nur weil es langsam und allmählich geworden, 't f-rucht-
bare Positiv:ität geladen._Nicht nur in die Vergangenheit
erst erstreckt sich dadurch der Blick und entreißt sie der
Vergessenheit, sondern das Gegenwärtigsein alles Ver-
gangeneo wird hier zum Erlebnis. Nicht nur Zeitstrecke
ist nunmehr die historische Zeit, nicht etwa wird zu dem
Gegenwart- Zukunftsabschnittauch derandere Vergangen-
heit-Jetztabschnitt einfach hinzugefügt, sondern das vir-
tuelle Präsentsein der Vergangenheit verleiht dem
Zeiterleben eine imaginäre Dreidimensionalität.
"Das Leben des gegenwärtigen Geistes ist ein Kreislauf
von Stufen, die einerseits noch nebeneinander bestehen
und nur andererseits als vergangen erscheinen. Die Mo-
mente, die der Geist hinter sich zu haben scheint, hat er
auch in seiner gegenwärtigen Tiefe." (Hegel 2.)
1
Miinzer sagt noch : die Schriftgelehrten wissen nicht, »warumb
die heylige schrifft anzunehmen oder zu verwerfen sei, denn alleine,
das sie vom alten herkumen ... eine solche affenschmalzische weiß
hat auch der Jud, Türkund alle volker jren glauben zu bestätigen. <
Holl. 432, Anm. 2.
11 Hege/: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Leip-
219
\
Das chiliastische.Erleben stand außerhalb der Zeit, durch
einen..'eweiligen Durchbruch heiligte es gleichsam den zu-
älligen Augenblick. Das liberale Erleben stift-ete eine Ver-
indungzwischen Sein und Utopie, indem es die Idee als
innzieLin aieZuk:Unft vets<;:hGb vnd durch den Fortschritt
diese Verheißung zumindest in einer Richtung in unserer
Mitte allmählich werd~n ließ. Das konservative Erleben
versenkte jenen Geist, der einst nur über uns kam und aus
·uns sprach, in das Gewordene selbst und ließ es objektiv
werden, expandieren_nach allen Dimensionen und verlieh
dadurchjedem Geschehen eine immanente S~lbstwertigkeit.
Das konservative Erleben hatte auß~r mit der liberalen
Idee noch einen eigenen. besonderen Kampf auszufechten
mit dem chiliastischen Bewußtsein, dem es von jeher auch
als einem inneren Feinde gegenüberstand. Dasselbe chilia-
stische Erlebnis, das zu der Zdt der Wiedertäufer aktiv
in die Welt eingriff, hatte noch andere Schicksale wie die
bisher erwähnten.
Wir sahen bisher bereits eine dreifache Tendenz des
chiliastischen Erlebens: ·Entweder bleibt es . unverändert
habe, die Formen des "historischen Zeiterlebens" aus der jeweiligen
Struktur des politischen Bewußtseins zu erfassen. Ferner vergleiche
man folgende Stellen:
Stahl sucht das Zeit- und Lebensgefühl Schellings, Goethes und
Savignys mit folgenden Worten zu charakterisieren:
"Es ist uns wie im Leben in jeder ~tufe und Nuance, als hätte sie
von jeher so bestanden, wir sehen aber zurück, daß sie geworden,
und finden doch . keinen Übergang wo? und wie? Mit demselben
unsichtbaren Wachstum(!)·bilden, verändern sich die Zustände, die
Verhältnisse um sie her. Das Gefühl ewigen und nothwendigen Be-
stehens und doch zugleich ihres zeitlichen Entstehens und Verwan-
deins begleitet uns wie in unsern eignen Lagen und Schicksalen.
Dieses, nie stillestehende Wachstum, dieses lebendige Werden
beherrscht auch die Anschauung Schellings, und sein System ist ein
unaufhaltsames Ringen es darzustellen. Derselbe Zug ist eine Eigen-
thümlichkeit Savignys in seiner Sphaere." (Die Philosophie des Rechts
Bd. 14, S. 394f.)
220
und lebt in ursprünglicher eruptiver Gestalt, oft mit grund-
verschiedenen Ideologien verbunden, weiter- wie etwa im
radikalen Anarchismus:..._, oder es e b bt ab und verschwin-
. det oder es "sublimiert" sich zur Idee. Einen weiteren,
von den erwähnten abweichenden Weg .schlägt es ein,
wenn es durch 'Verinnerlichung seine außerhalb der
Zeit stehende ekstatische Tendenz bewahrt, den Durch-
bruch in die Welt aber nicht mehr wagt und den Kontakt
mit dem weltlichen Geschehen verliert. Dw:ch äußere
chicksale dazu.gedrängt, ging das chiliastisch-ekstatische
rieben in Deutschlau :w.eitgehend diesen Weg der \'er-
irulerli hung. Die in deutschen Landen auf weiten Strecken
verfolgbare pietistische Unterströmung ist·als eine solche
Verinnerlichung des einst chiliastischEkstatischen erfaßbar.
Auch in dieser verinnerlichten · Gestalt bedeutet das
ekstatische Erleben für die bestehende Ordnung eine Ge-
fahr; denn das ekstatische Erleben ist stets in Versuchung
nach außen zu schlagen, und nur lange Zucht und Ver-
drängung bringt es dazu, sich in Quietismus zu transfor-
mieren. Pie Orthodoxie bekämpfte deshalb stets den Pie-
tismus; ein offenes Bündnis ging sie nur dann mit ihm
ein, wo der revolutionäre Ansturm dazu nötigte, alle zur
Beseelung der herrschenden Gewalten erforderlichen Kräfte
ins Lager zu rufen.
Das durch äußere Umstände und durch soziologisch er-
faßbare Strukturlagen verinnerlichte chiliastische Erleben
erleidet natürlich gerade durch diese Verinnerlichung einen
Substanzwandel, und hier wie sonst ist das ·konstitutive
Ineinandergreifen der sozial-"äußerlichen" und der "inne-
ren" Faktoren mit Genauigkeit verfolgbar. Hatte das chi-
liastische Erleben ursprünglich eine derbe sinnliche Wucht,
so wird dieses verdrängte Erleben süßlich, schwärmerisch,
es verdünnt sichzum bloßen Enthusiasmus, und das Eksta-
tische flackert nur noch im pic::tistischen "Erweckungs-
erlebnis" in einer beschwichtigten Gestalt immerwieder auf.
221
Was aber das Allerwesentlichste für unsere Zusammen-
hänge ist: urch denY:erlust des Kontaktesmitderwerden-
~~;::.~.clt - und dieser Konta t ist vom Gesamtzusam-
menhange aus gesehen das Politische und nicht das Private
- -ekomm die . Haltung e · e · ere Unsicherheit. An
teile d~ c · -" as ·sehen prophetischen Apodeixis tritt das
unsichere Schwanken die pietistisch.e..Anschlußlo-
i eit zur :rat. Die "historische Schule" in Deutschland
mit ihrem Quietismus und ihrer Maßstablosigkeit ist ad-
äquat nur verstehbar aus dieser in dem Pietismus wurzeln-
den Kontinuität. All das, was beim tätigen Menschen spon-
tan sich auswirkende, unbeobachtete Phase ist, wird hier
abgehoben und zum Problem. Die "Entscheidung" wird
als selbständige und mit Problemen überlastete Phase im
Handeln erlebt, und diese reflexive Abhebung steigert nur
noch die Unsicherheit, anstatt sie zu beheben. Die innere
Erleuchtung weiß auf die meisten Fragen des Alltags keine
Antwort zu geben, und gilt es plötzlich historisch zu han-
deln, so wird die Geschichte zu einem die Lösung ver-
heißenden Problem. Von hier aus setzt ein Strom religiöser
Geschichtsdeutl.Ulgen ein1, die die innerlich vorhandene
Unentschiedenheit beim politischen Handeln aufzuheben
bestrebt ~d. Anstatt aber die Lösung für das richtige
Handeln, den Fingerzeig Gottes in der Geschichte zu fin-
den, wird die innere Unsicherheit erst in die Welt hin-
einprojiziert.
Für. den aktivistisch-konservativen Pol des Erlebens
gilt es, auch diese Gestalt der Utopie zu beschwich-
tigen, die hier latent lebenden Energien in die eigene Rich-
tung einzuspannen. Der zu bezwingende Begriff ist hier
jene "innere Freiheit", die stets in Anarchie (vorher schon
in Kirchenlosigkeit) umzuschlagen droht. Auch hier leistet
1 Klar sind einige in diese Richtung weisende Zusammenhänge
in einer noch ungedruckten Arbeit eines meiner Hörer, Reqt~~~dt,
über den Historiker Johannes von Müller herausgearbeitet.
222
die konservative, in die Wirklichkeit eingesenkte Idee eine
Beschwichtigung der vom inneren Gegner getragene~
Utopie. Die"innereEreiheit" hat sichnämlich nach det.herr-
sehend eorie des Konser.vatismus in ihrer :weltlichen
Richtun slosigkei der objektivierten Sittlichkeit unter-
uordnen. An Stelle der "inneren Freiheit" tritt die ,,ob-
jektive Freiheit", in die sich jene einzufügen hat. Meta-
physisch wird das ausgedeutet als eine prästabilierte Har-
monie zwischen innerer subjektivierter und äußerer objek-
tivierter Freiheit. Daß dieser verinnerlichende, durch eine
pietistische Lebenshaltung charakterisierbare Flügel sich
meist dieser Auslegung fügt, liegt an seiner fatalen Rat-
losigkeit weltlichen Dingen gegenüber. Deshalb überläßt
er gerne die Zügel der Herrschaft der realistisch konserva-
tiven Gruppe, indem er ihr sich entweder ergibt oder sich
bestenfalls in den Schmollwinkel zurückzieht. Auch heute
gibt es noch altkonservative Strömungen, die von der
machtpolitischen Wendung der Bismarckschen Epoche
nichts wissen wollen und die wertvollen Keime der Tra-
dition in der gegen Bismarck opponierenden innerlichen
Richtung des Konservatismus sehen1 •
V: Die vierte Gestalt des utopischen Bewußtseins:
Die sozialistisch-kommunistische Utopie
Auch das sozialistisch-kommunistische Denken und Er-
leben, das wir auf der Stufe seiner Ursprungssituation als
eine .Einheit betrachten könne~, ist in seiner utopischen
Struktur am ehesten verstehbar durch eine Konfrontierung
mit seinen Gegenspielern, aus jener dreifach flankierten
Situation; in der sich diese Richtung historis.ch-sozial
durchzusetzen hat.
1
Vgl. z. B. den letzten Abschnitt des Aufsatzes von v. Martin:
Weltanschauliche Motive im altkonservativen Denken. Deutscher
Staat und deutsche Parteien. Festschrift, Fr. Meinecke zum 6o. Ge-
burtstag dargebracht. München, Berlin 19zz.
223
1 Diese Behauptung gilt aber erst vom Sozialismus des 19. Jahr·
hunderts. Der utopische Aufklärungssozialismus des 18. Jahrhun-
derts hat zu einem Zeitpunkt, wo der Physiokratismus im Zeichen
des Fortschrittgedankens die Geschichte konstruiert, noch eine Ver-
gangt;nheitsutopie, entsprechend der kleinbürgerlich reaktionären
Mentalität seiner Träger. Soziologisch ist diese Flucht in die Ver·
gangenheit z. T. auch fundiert durch das Noch-Vorhandensein eines
224
Diese Solidarität it de liberalen dee als einer auf die
Zukunft ausgerichteten Ztelstre igkeit ist erklärlich aus
ihrer erneinsamen OpP.osition ge en die unmittelbare
Seinsbejahung des Konservatismus. ie :weit ehende un:..
bestimmtheit und Spiritualitä des fernen Zieles aber ent-
s_Erich zugleich der Ablehnung det GlüHastischen Erregt-
heit und einer durch Kulturideale zu vollziehenden Sub-
limierung latenter ekstatischer Energien.
Nicht in dieser spirituell sublimierten Gestalt erlebt das
sozialistische Bewußtsein die Idee, sofern es sich um
deren gegenwärtiges Hineinragen in den Prozeß, um deren
allmähliches Werden handelt. Die Idee tritt uns hier in
Gestalt einer neuartigen Substanz entgegen, beinahe wie
ein Lebewesen, das bestimmte Existenzbedingungen hat,
die zu erkennen zum Thema wissenschaftlicher Forschung
werden kann. Ideen sind hier nicht aus einer Absolutheits-
sphäre herabsteigende Wunschträume und Forderungen,
imaginäre Sollungen, sie haben vielmehr ein konkretesLe-
ben und eine bestimmte Funktion im Gesamtprozeß: Sie
sterben ab, wenn sie überholt sind, sie können sich ver-
wirklichen, wenn der gesellschaftliche Prozeß eine be-
stimmte Strukturlage erreicht - ohne eine solche reale
Deckung aber werden sie zu verhüllenden "Ideologien".
Gegen den Liberalen sich wendend entdeckt man hier
noch von einer ganz anderen Seite her als der Konservative
das rein formal Abstrakte an dessen Idee. Das bloße
"Meinen", die bloße Vorstellung bei der bloß in der Ge-
sinnung sich verwirklichenden Idee wird auch hier als
Teils der alten Allmenden, die bis zu einem gewissen Grade die Er-
innerung an "kommunistische" Institutionen in der Vergangenheit
wach hielten. Über diese Zusammenhänge berichtet ausführlich das
Buch von Gir.rberger, H.: Der utopische Sozialismus des 18. Jahr-
hunderts in Frankreich und seine philosophischen und materiellen
Grundlagen. Zürcher Volkswirtschaftliche Forschungen, Heft I,
Vgl. insbesondere S. 94ff.
16 225
unzulänglich erkannt und noch von einer anderen Seite
her als im konservativen Angriff flankiert.
genü ·cht die abstrakte te Gesinnun zu
und in unkontrollierbarer Ferne ein verwirklichtes
Reich der Freiheit zu postulieren, es gil auch die realen
·e die ökonomisc . -sozialen Bedin_gungen zu erkennen,
unte denen ein..,solcher Wunschtraum überhaupt erst zur ·
usY~irkung z gelangen vermag. Aber auch den Weg,
der von uns zu diesem Ziele führt, gilt es daraufhin zu
sichten, jene Kräfte im gegenwärtigen Prozeß zu er.:
spähen, deren immanente Dynamik, von uns beherrscht,
Schritt für Schritt der verwirklichten Idee entgegenführt.
Hatte der Konservatismus die liberale Idee als bloßes
Meinen bereits depraviert, so .arbeitet der Sozialismus in
9er Ideologieforschung eine konsequente Methode der
Kritik aus, eineseinsbezogene Destruktion der geg-
nerischen Utopie.
Von hier ab setzt ein entsetzlicher Kampf ein: die vitale
Destruktion des gegnerischen Glaubens. Eine jede der bis-
her behandelten Gestalten des utopischen Bewußtseins
wendet sich gegen·die übrigen, für jeden Glauben wird die
reale Deckung gefordert und stets wird ein anders gear-
tetes Sein als "Realität" dem Gegner gegenüber ausge-
spielt. ut ;v-erabsolutierten Realität des Sozialisten wird
di ökonomisch-soziale Struktur der Gesellsch ft. Diese
wird hier zur Trägerin jener geistigen Totalität, die schon
die Konservativen als Einheit erfaßt hatten. War doch ihr
Volksgeist-Begriff ·der erste bedeutende Versuch, die zu-
nächst isolierten Tatsachen des geistig-seelischen Lebens
als Emanationen eines einheitlichen schöpferischen Zen-
trums zu schauen.
War aber sowohl für den Liberalen als für den Konser-
vativen der dynamische Kern etwas Spirituelles, so bricht
hier aus einer uralten Affinität unterdrückter Schichten
zum materiell-~etaphysischen Substrat eineVerherrlichung
des einst nur als negativ und hemmend erlebten materiellen
Prinzips hervor.
Auch in der ontologischen Bewertung der in der
Welt vorfindbaren Faktoren (in dieser für die jeweilige
Bewußtseinsstruktur tief charakteristischen Schicht) dringt
allmählich eine umgekehrte Hierarchie durch. Was früher
nur als schlechter Widerstand erlebt wurde - die "ma-
teriellen" Bedingungen -,wird hier im Sinne eines zum
Materialismus uminterpretierten Ökonomismus zum be-
wegenden Prinzip im Weltgeschehen hypostasiert.
Die an das diesseitige historisch-soziale Leben sich an-
n·ähernde Utopie verkündet ihr Näherrücken nicht nur
durch ein immer Historischer-Werden des Zieles, sondern
durch eine Erhebung, Vergeistigung des aus der Nähe
greifbaren gesellschaftlich-wirtschaftlichen Gefüges .
.was hier geschieht - um es auf das Zentrale zu redu-
zieren -,ist ein eigentümliches Einverleiben des konser-
vativen Bedingtheitsbewußtseins in die progressive,
die Welt verändern wollende Utopie. Während aber der
Konservative durch das Bedingtheitsbewußtsein allein die
Vergangenheit trotz oder gerade wegen ihrer determinie-
renden Funktion verklärt, zugleich aber auch ein für alle
Mal ihre Bedeutung für das historische Geschehen der
Richtung nach adäquat intendiert, wird beim Sozialisten
die soziale StruktUr zur bedingende Gew-alt des ·stori-
schen Augenblicks, und deren formende räfte werden in
verklärter Gestalt als das Gesamtwerden tragende Deter-
minanten erlebt.
Das Neue, das uns hier entgegentritt, diesesBedingtheits-
bewußtsein, -verträgt sich aber mit einer Zukunftsutopie.
Während das konservative Bewußtsein das Bedingtheits-
eriebois zwangsläufig mit einer Gegenwartsbejahung ver-
knüpfte, verbindet sich hier eine nach vorwärts strebende
soziale Kraft mit einer selbsttätigen Bremsung der revo-
lutionären Tat ...
x6* 227
•
Diese beiden Kräfte, zunächst unvermittelt verbunden,
spannen sich im Laufe der Zeit zu einer innerhalb der
sozialistisch-kommunistischen Bewegung auseinandertrei-
benden, aber dennoch stets aufeinander bezogenen Polari-
tät. Neu arrivierende Schichten, die durch Mitwirkung und
Mitverantwortung mit dem jeweiligen Jetzt sich verbinden,
werden in immer weiterem Ausmaß zu Trägern der brem-
senden Evolution; die am bereits Gewordenennoch uninter-
essierten Schichteil werden demgegenüber zu Trägern der
kommunistischen, aber auch syndikalistischen Lehre vom
Übergewicht der Bedeutung der revolutionären Tat.
Vor dieser Spaltung aber, die einer späteren Stufe ent-
spricht, hatte sich dieses progressive Bewußtsein zunächst
gegen andere ·Gegner durchzusetzen: gegen das Unbe-
dingtheitserlebnis des chiliastischen Prinzips, das im radi-
kalen Anarchismus eine moderne Gestalt gewann, und
gegen das Unbedingtheitserlebnis des Liberalen und dessen
"Idee".
In der Geschichte des modernen chiliastischen Erlebens
war der Kampf zwischen Marx und Bakunin entscheidend1,
wo der chiliastische Utopismus seine Verabschiedung er-
fuhr. Eine Haltung, die sektenhaft eruptiv im jeweiligen
unbestimmten Nu, im Sturme die Bastionen der Geschichte
nehmen wollte, konnte einer auf die Daseinsbeherrschung
sich vorbereitenden Schicht, je mehr sie zu einer Partei
werden sollte, auf die Dauer nicht behagen. Auch hier war
das Verschwinden einer Seelenhaltung - zumindest in der
von uns besprochenen Gestalt - eng an die Auflösung der
1 Über Bakunin vgl. die Schriften von Nett/au, Ricarda Huch und
Fr. Brupbacher,· des letzteren Werk "Marx und Bakunin", Berlin·
Wilmersdorf 192.2, gibt eine konzentrierte Darstellung so manch
wichtiger Probleme. Die gesammelten Werke Bakunins in deutscher
Sprache sind bei dem Verlag "Der Syndikalist" erschienen. V gl. ferner
die neuerdings im Geheimschrank des Chefs der III. Abteilung der
Kanzlei des früheren Zaren entdeckte Beichte Bakunins an den
Zaren Nikolaus I., übers. K. Kersten, Berlin 192.6.
hinter ihr stehenden ökonomisch-sozialen Wirklichkeit ge-
bunden (wie dies Brupbacher1 aufwies). Die Vorstoß-
truppe Bakunins, der Anarchismus der ] urassienne, ver-
schwand, als die heimarbeitlieh betriebene Uhrenindustrie,
die die sektenhafte Haltung der Anarchisten ermöglichte,
durch die Fabrikarbeit ersetzt wurde: an Stelle des or-
ganisationslosen, oszillierend-ekstatischen Erlebens der
Utopie trat die an Organisiertheit sich orientierende, den
Zeitverlauf als ·einen strategischen Plan erlebende marxi-
stische Tat.
Erschütternd abrupt und brutal war diese Verabschie-
dung, aber mit einer fatalen Notwendigkeit durch den Ge-
schichtsprozeß selbst diktiert. - Eine Seelenhaltung von
dämonischer Tiefe verschwindet aus dem Vordergrund
des politischen Plans, und das Bedingtheits bewußtsein
erweitert sein Feld.
Auch das liberale Denken hatte - darin dem Anarchis-
mus verwandt - ein Unbedingtheitsbewußtsein, wenn
sich in ihm auch (wie wir sahen) durch den Fortschritts-
gedanken bereits eine relative Annäherung an den Ge-
schichtsprozeß vollzog. et-1-ibe..tale hatte ein Unbedingt-
heitsbe.wußtsein durch. den Glauben an eine urumtteibare
Beziehung zu eine absolute eich des Sollens, zu der
Idee. Dieses Reich des SolJens war in seiner Geltung der
Geschichte enthoben und die ldee hatte fü.r ihn bereits
eine · sie ein S?§enkte bewegende Kraft. Nicht der Prozeß
erzeugt die Ideen, samlern allein ihre Entdeckung, ihre
Sichtbarmachung und ,_,Aufklärung" hat geschichtsgestal-
tende Kraft. ine unerhörte Umkehrung, eine unheim-
liche kopernikanische Tat lag darin, nicht nur sich selbst,
·nicht nur den Menschen, sondern auch das Sein, Gelten
und Wirken dieser. Ideen als bedingt zu erleben und das
Werden der Ideen als seinsverbunden, als hineinversenkt
1
Brupbacher a. a. 0. S..6off., zo4ff.
/
1
de rozeß eh~n. Aber zunächst galt es für den
·Sozialismus, dieses Absolutheitsbewußtsein nicht beim
Gegner zu bekämpfen, sondern in den eigenen Reihen die
neue Haltung gegen die noch vorherrschende idealistische
durchzusetzen. ( Schon früh begann deshalb die durch
Engels noch immer am besten beschriebene Verabschie-
dung der "großbürgerlichen Utopie".
t. Simo , out-i€-.t, Owen hatten nochJm Stile des
ideenhaften Denkens Utapien, ber bereits mit sozialisti-
schem Inhalt, erträumt. Ihre soziale Grenzsituation drückte
sicli zunächst in Entdeckungen aus, die die soziale, öko-
nomische Sicht" erweiterten; der Methode nach aber blieben
sie auf der Stufe des Unbedingtheitsbewußtseins der Auf-
klärung stehen. ,,Der Sozialis.,mus ist ihnen allen der Aus-
druck der absoluten Wahrheit, Vernunft und Gerechtig-
keit und braucht.Jlur entdeckt zu werden, um durch eigene
aft....di Welt...zu erobe.rn"1 • Auch hier mUßte etwas
niedergerungen werden, das Bedingtheitsbewußtsein ver-
drängte auch hier die andere, konkurrierende Gestalt der
Utopie. oziali tisGh _ Wl!ßtsein handel sich um
eine die "berale Idee weit überholende prinzipielle Herab-
senkun der Utopie in die Wirklichkeit. Hier wird nur
noch am Ende des Prozesses die Idee in ihrer verheißenden
Unbedingtheit und Unbestimmtheit belassen, aber der das
Sein zur Sinnerfüllung führende Weg ist bereits historisch
und s ial differenziert. _
Auchhierdurch differenziert sich das historische Zeit-
erleben: Was beim Liberalen nur pfeilgeradeZielstrebig-
keit war, die zukünftige Zeit, distanziert sich, man unter-
scheidet (wofür es bei Condorcet bereits Ansätze gab) so-
wohl vital als . im Denken und Handeln Nah und Fern.
Eine solche Differenzierung hatte der Konservative be-
reits für die Vergangenheit; da aber seine Utopie mit dem
1
Engels, Fr.: Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie
zur Wissenschaft, 4· Aufl., Berlin 1894.
230
erreichten Sein immer mehr in spannungslos werdende
Deckung geriet, war für ihn der Zukunftshorizont völlig
undifferenziert. Nur durch diese Verschmelzung von Be-
dingtheitsbewußtsein und dennoch lebendiger Zukunfts-
vision gelang es, ein mehrdimensional geschichtliches Zeit-
erleben zu schaffen. Doch ist diese Mehrdimensionalität,
die für die Vergangenheit bereits der Konservative er-
reichte, hier völlig anders strukturiert.
Nicht nur durch das virtuelle Präsentsein eines jeden
vergangenen Geschehens allein enthält ein jedes Gegen.,.
wartsereignis eine in die Vergangenheit zurückweisende
dritte Dimension, auch die Zukunft bereitet sich in ihm
vor; 'eh ur die Yerg_angenheit, auch die Zukunft ist
virtuell präsent. Ein Abwägen der einzelnen in der Ge-
genwart vorhandenen Faktoren, ein Erspähen der in den
realen einzelnen Kräften lagernden Tendenz gelingt nur
dadurch, daß man hier bereits die Gegenwart aus ihrer
immer konkreter werdenden Zukunftsergänzung versteht1 •
War das Zukunftsdenken des Liberalen völlig formal,
so setzt auch hier allmählich eine Konkretisierung ein.
Zwar ist diese Zukunftsergänzung zunächst allein durch
den Willen und durch ein Wunschbild diktiert, 'dennoch
wirkt im Forschen und Handeln diese Zielstrebigkeit
1 Beinahe wie eine exakte mathematische Bestätigung unserer Theo-
rie über das sozial und politisch differenzierte Erleben der historischen
Zeit und als Beleg für die oben gegebene Analyse sei hier eine Stelle
aus einer Schrift des Kommunisten Revai, ]. angeführt: "Eigentlich
existiert ja Gegenwart nur dadurch, daß Vergangenheit und Zukunft
existiert, Gegenwart ist die Form der unnotwendigen Vergangenheit
und der unwirklichen Zukunft. Taktik ist die als Gegenwart auf-
tretende Zukunft." (Das Problem der Taktik, ersch. im "Kommu-
nismus", Zeitschr. d. Kommunistischen Internationale. Jahrg. 19z.o,
Bd. II, S. 1676. Hier ist das virtuelle Präsentsein der Zukunft in der
Gegenwart klar ausgesprochen. Ein genaues Gegenstück zu unserem
S. 2.19 angeführten Hegel-Zitat.) Man vergleiche auch die übrigen, an
verschiedenen Stellen gegebenen Belege für die soziale Di1fere~
zierung des historischen Zeiterlebens. (S. z.o7f., 2.19f., 2.40.)
231
heuristisch selektiv. Im Gegenwärtigen experimentiert
von nun an stets ·die Zukunft, und im gegenwärtigen
Weiterleben korrigiert sich und konkretisiert sich auch
immer mehr die zunächst nur vage Verheißung: die Idee.
Nicht als eia bl6ß formales und transzendentes Regulativ
für das Geschehen, sondern als eine an dieser Wirklichkeit
sich stets selbst korrigierende "Tendenz" führt sie ein
Wechselleben mit dem "wirklichen" Geschehen. Das
konkrete Erforschen der nunmehr vom Wirtschaftlichen
bis zum Seelisch-Geistigen hinaufragenden Interdependenz
verknüpft Einzelbeobachtungen zu einer Funktional-
betrachtung im Elemente einer werdenden Totalität.
Dadurch erhält das Geschichtsbild ein immer mehr.sich
konkret differenzierendes, aber dennoch elastisches Struk-
turgerüst. Ein jedes Ereignis ist daraufhin befragbar, was
es bedeutet, wo es im Werdezusammenhange steht.
Allerdings wird dadurch der Spielraum der freien Ent-
scheidup.g immer enger, immer mehr Determinanten wer-
den entdeckt, denn nunmehr ist nicht nur die Vergangen-
heit bestimmend, auch die wirtschaftlich soziale Lage be-
dingt das mögliche Geschehen. üe treibend Absicht
besteh jetzt aicht da~Jn, aus freiseiLwebenden Impulsen
beim beliebjgen-Hier und etzt zuzugreifen, vielmehr den
für das Handeln günstigen Eunk im strukturellen Gefüge
zu xieLen. Dem..Politiker ist es aufgegeben, jene Kräfte
bewußt stärken, dere D;ynamik in der eigenen Rich-
tun sich bewegt, all6-centgeg:enstrebenden Kräfte dagegen
in die eigene Richtung umzubiegen oder zumindest zu
P.aralr-sieren. Das Geschiehtserieben wird dadurch zu einem
wahren strate i_schen Plan. Alles in der Geschichte wird
nunmehr erlebt als eine intellektuell und willensmäßig
beherrschbare Position.
Auch hier strahlt diese im politisch~n Zentrum primär
sich gestaltende Sicht in das gesamte Geistesleben ein:
Aus der Erforschung der gesellschaftlichen Geschichts-
2J2
bedingtheit wird Soziologie, diese wieder' wird immer
mehr zur Zentralw.issenschaft, deren Aspekt auch die auf
entsprechender Stufe sich befindenden historischen Einzel-
disziplinen durchdringt. Die durch ein Be~ingtheitsbe
wußtsein gebändigte Zuversicht bringt s<;hepferische
Skepsis und einen gebändigten Elan zugleich. Ein spezifi-
scher "Realismus" durchdringt die Kunst. Der Idealismus
des Biedermeier ist verflogen, und man sucht nunmehr die in
das "wirkliche Sein" eingesenkte Transzendenz im Nahen-
Unmittelbaren, solange die fruchtbare Spannung besteht.
V. Die gegenwärtige Konstellation
Der gegenwärtige Augenblick steht im Zeichen einer
eigenartigen Konstellation. Der Geschichtsprozeß selbst
zeigte uns ein allmähliches Herabsteigen, Näherrücken der
zunächst völlig geschichtstranszendenten Utopie. Nicht
nur funktionell, auch substantiell wandelte sich hierbei die
Gestalt dieser dem Geschichtlichen immer näherrückenden
Gewalt.
Was sich ursprünglich in absoluter Spannung zum Ge-
schichtlichen befand, bewegt sich in der Richtung der im
Konservatismus vorgebildeten Spannungslosigkeit. Zwar
stirbt keine der Formen dieser im historischen Nachein-
ander auftretenden, uns bewegenden Mächte ab, kein Zeit-
punkt ist durch eine einzige Dominante charakterisiert.
Die Koexistenz dieser Kräfte, ihre gegenseitige Spannung,
aber auch die stets vorhandene Durchdringung zeitigen
Formen, deren Gesamtheit erst die historische Fülle ergibt.
Aus dieser Fülle wurde diesmal absichtlich (um das Ent-
. scheidende durch .das Detail nicht zu verdecken) nur das
tendenziell Wichtige hervorgehoben und idealtypisch über-
betont. Stirbt' in dieser Fülle nichts ab, so läßt sich doch
eine soziale Repartierung der im Geschich~sraum wir-
kenden Kräfte immer klarer aufweisen. Gehalte Denk-
formen eelische Energien erhalten, un<( transformieren
233
sich im Bündnis mit sozialen Kräften und treten niemals
a.Ilig an tl.mmten Orten im sozialen eschehen auf.
In dieser Beziehung zeigt sich aber eine eigentümliche
Strukturbedingtheit, die es zumindest andeutungsweise
auszusprechen gilt: Je breitere Schichten in die konkrete
Seinsbeherrschung hineinwachsen und je größer die Chance
für einen in Evolution erringbaren Sieg ist, um so mehr
gehen diese Schichten den vom Konservatismus vorge-
zeichneten ·Weg. Das bedingt aber eine in mehreren Rich-
tungen sich auswirkende Aufsaugung der Utopie.
Einmal zeigte sie sich am handgreiflichsten in der be-
reits erwähnten Tatsache, daß · relativ ·reinste Form
odernen chiliastischen Bewußtseins, die im radikalen
Anarchismus verkörpert war, vom politischen Plan bei-
nahe völl1g verschwindet, :wodurch fü die übrigen Ge-
stalten.der.politische Utopie ein Spannungsfaktor erlischt.
Zwar transformieren und flüchten sich viele Elemente
dieser seelischen Haltung in den Syndikalismus und in den
Bolschewismus und werden in deren Aktion aufgesogen
und einverleibt; sie geben aber dort notgedrungen ihre
Absolutheit auf, sie wirken allein in polarer Spannung zu
einem auch ihrer sich bemächtigenden evolutionären Be-
<lingtheitsbewußtsein. Sie haben hier ganz besonders im
Bolschewismus eher die Funktion der Beschleunigung und
Betonung, als die einer Verabsolutierung der revolutio-
nären Tat.
_ Noch in einer zweiten wichtigen Richtung sahen wir die
allmähliche Senkung der utopischen Intensität: eine jede
auf späterer Stufe sich neu konstituierende Utopie verrät
ein Näherrücken an den historisch-sozialen Prozeß. Slt)d
oc die lib~rale~ die ozialistische, die- konservative Idee
..._._,erschiedene Stufen zugleich auch Gegenformen in
.....L....
234
I ,
All diese Gegenformen der chiliastischen Utopie ent-
wickeln sich in enger Verknüpfung mit den Schicksalen
der sie ursprünglich tragenden Schichten. Sie sind, wie wir
sahen, in ihrer primären Gestalt ereits esch.wichtigtere
Formen de Seinstra.nszendenz, sie streifen aber im Laufe
der weiteren Entwicklung auch noch diese letzten uto-
pisch~n Reste ab und nähern sich unversehens immer mehr
einer formal-konservativen Haltung. Es scheint ein all-
gemeiner geltendes Strukturgesetz geistesgeschichtlicher
Entwicklung zu sein, daß, wenn neue Gruppen in eine
bereits vorgebildete Lagerung einrücken, sie nicht ohne
weiteres die für diese Lagerung bereits ausgebildeten Ideo-
logien übernehmen, sondern vielmehr die aus ihrer eigenen
Tradition mitgebrachten Gehalte der neuen Lagerung an""
passen. Es ist dies das Gesetz des Nachwirkens der Ur- .1
sprungsideologie. So nahmen Liberalismus und Sozialis-
mus, als sie in eine immer konservativer werdende Lage-
rung einrückten, zwar ab und zu die vom Konservatismus
vorgebildeten Ideen in ihr Bewußtsein auf, man transfor-
mierte aber lieber der neuen Lagerung entsprechend die
mitgebrachte Ursprungsideologie. Das sozial-existentielle
Nachrücken in dieselbe Lagerung brachte aber im Lebens-
gefühl und im Denken dieser Schichten in vielen Dingen
dem Konservatismus verwandte Strukturen ganz spon-
tan hervor. Der erstmalige Blick der Konservativen in die
historische Bedingtheitsstruktur, die Betonung, womöglich
Überbetot:tung der still wirkenden Kräfte, das stetige Ein-
versenken des utopischen Elements in das Sein erschien
auch in ihrem Denken bald in der Gestalt einer spontanen
Neuproduktion, bald aber auch in der einer Neuinter-
pretation.
Eine relative Verabschiedung der Utopie setzt also, '
durch den sozialen Prozeß bedingt, an mehreren Punkten 1
und in verschiedenen Formen ein. Dieser bereits durch die
Dynamik zur Ge"nüge bewirkte Prozeß wird in semem
235
1 Im Elemente dieses allgemeineren Prozesses spielt sich jener
2 37
daß in diesem Konkurrenzkampfe um die richtige soziale
Sicht alle sich bekämpfenden Aspekte und Gesichts-
punkte sich keineswegs "blamieren", d. h. sich keines-
wegs als nichtig und falsch erweisen, sondern es zeigt sich
vielmehr immer deutlicher, daß man von jedem Standorte
aus mit dem Grade nach verschiedener, aber dennoch stets
vorhandener Fruchtbarkeit denken kann. Jeder dieser
Standorte macht nämlich in einem jeweils anderen Quer-
schnitt Zusammenhänge im Gesamtge·schehen sichtbar,
und die Vermutung wird immer wahrscheinlicher, daß der
Geschichtsprozeß stets etwas Umfassenderes ist als alle
vorhandenen Standorte und daß die Denkbasis in ihrer
aufweisbaren Zersplitterung der gegenwärtigen Erfahrbar-
keit nicht gewachsen ist. Der Horizont des Sichtbaren ist
größer als die zur heutigen Stufe gehörende systematisie-
rende und konstruktive Intensität.
Damit fällt aber auch ein neues Licht auf die Notwendig-
keit einer steten Bereitschaft zur Synthese in einer einen
ihrer Höhepunkte erreichenden Welt. Was vorangehend
oft wild gewachsen war und aus den partikularen Er-
kenntnisbedürfnissen enger Lebenskreise und sozialer
Schichten usw. entstand, wird plötzlich zusammenschau-
bar, und die Vielheit ergibt zunächst ein wirres Bild.
Nicht aus Schwäche gibt sich ein Reife- und Höhepunkt
sozialer und historischer Entwicklung den verschiedenen
Möglichkeiten der Weltsicht hin und sucht für diese ein
sie alle umfassendes Konstruktionszentrum, sondern aus
der Erleuchtung, daß eine jede bisherige ausschließliche
Apodeixis auf der Verabsolutierung von Partialsichten be-
ruhte, deren seinsmäßige Konturen sich in der gegen-
wärtigen Lage ·ohne weiteres enthüllen.
In diesem Stadium einer Spätstufe und z~gleich eines
Höhepunktes in einer Entwicklung erschwindet pro-:
po io um ;'\ferschwinden der Utopie.,auch die Total-
sicht. u der link und der rechte Flügel glauben in
der Gesamtentwicklung on tis eh an eine Totalität. Aufder
einen Seite der Neomarxismus eines Lukacs mit seinem
grundlegenden Werk, auf der anderen Seite der Univer-
salismus eines Spann. Es erübrigt sich diesmal an der
Differenz der beiden Totalitätsbegriffe dieser beiden Ex-
treme die soziologische Differenz zu demonstrieren, es
kommt in diesem Zusammenhang ja nicht auf Vollstän-
digkeit, sondern allein auf die erste Fixierung der sym-
ptomatischen Erscheinungen an. ·
Nicht als ontisch-metaphysische Einheit - wie die
soeben Erwähnten -, sondern als eine Forschungshypo..:
these handhabt Troeltsch die Totalität. In experimen-
tierender Weise bringter sie als einen ordnenden Gesichts-
punkt an die Stoffmassen heran, auf mehrere Anläufe
verteilt sucht er dem jeweils Verbindenden nachzutasten.
Alfred Weber sucht im Elemente des Anschaubaren und
im entschiedenen Gegensatz zu der an die Deduktion ge-.
mahnenden Apodiktizität des Rationalismus die Totalität
im gewesenen historischen Geschehen eher als Gestalt-
einheit zu rekonstruieren. Ihrer r e 1a ti v mittleren La-
gerung entsprechend vermeidet der eine die ontische
Hypostase, der andere die rationalistisch kalkulierende
Apodeixis bei dem Suchen der Totalität.
Im Gegensatz zu ihnen, die durch den Totalitätsaspekt
mit dem Marxismus oder der konservativ-historischen
Tradition verbunden sind, trachtet der andere Flügel
der Mitte das Problem der Totalität völlig abzustreifen,
um auf Grund dieses Verzichtes sich der Fülle der Einzel-
zusammenhänge um so mehr hingeben zu können. Diese
Homogenisierung des Geschehens, bei der jede Tatsache
ihren besonderen Zeitindex und ihr Lokalkolorit ver..,
liert, gelingt erst dadurch, daß man alle in der Utopie
wurzelnden ·Elemente des Denkens und Sehens als Ideo-
logien skeptisch relativiert. Für diese aus der gegenseitigen
Relativierung der Utopien entstandene fruchtbare Skepsis
2 39
verschwindet von neuem die Sichtbarkeit der konstitu-
tiven Bedeutung der Zeit: das jeweilige Geschehen wird
in ewiggleiche Gesetzmäßigkeiten bzw. Typen, Formen
eingefangen, die sich nur jeweils anders kombinieren.
Die geschichtsphilosophisch-soziale Gliederung des hi-
storischen Zeitgeschehens, an der - von' der utopischen
Sicht getrieben - unsere letzten Jahrhunderte arbeiteten,
versinkt hier von neuem: die qualitativ differenzierte Zeit
wird zu einem homogenen Raum, wo immer (wenn auch
in verschiedenen Kreuzungen) ein für allemal feststellbare
Typenstrukturen zum Durchbruch gelangen (Max Weber).
Entspricht diese fruchtbar-skeptische Sicht primär dem
Standorte des arrivierten Bürgertums, dessen Zukunft all-
mählich Gegenwart geworden ist, so haben die übrigen
Schichten die gleiche Tendenz im Maße ihres Arrivierens;
doch wird die konkrete Ausgestaltung ihres gegenwärtigen
Denkens soziologisch mitbestimmt durch ihre historische
Anfangssituation. Auch aus der marxistisch-soziologischen
Methode kann man die dynamische Zeitsicht streichen,
wodurch man zu einer generalisierenden ·Ideologienlehre
gelangt, in der man (den historischen Differenzierungen
gegenüber blind) Ideen ausschließlich auf soziale Lagerun-
gen hin relativiert.
Die Gestalt dieser aller geschichtlichen Zeitsicht gegen-
über indifferenten Soziologie hatte schon das amerikani-
sche Bewußtsein vorbereitet, ein Bewußtsein, das mit
der kapitalistischen Wirklichkeit viel schneller als unser
Denken in -völlige Deckung geriet. Hier wurde relativ
früh das geschichtsphilosophische Gerüst der Soziologie
· abgestreift und die gesamte Weltsicht und das Weltwerden
am Paradigma des Zentralerlebnisses, an der organisato·
risch-technischen Wirklichkeitsbeherrschung orientiert.
Hatte der europäische soziologische "Realismus" sein
Zentralerlebnis an den hier überaus gewaltigen Klassen·
spannungen, so mußte jene an ökonomischem Spielraum
freiere Welt, für die die Lösung technisch-orgarusatori-
. scher Probleme brennender war, sich stets an diesen Be-
reichen des Wirklichen orientieren. Soziologie bedeutet für
das europäische Denken in den oppositionellen Strömun-
gen: Lösung des Klassenproblems, in allgemeinerer Sicht:
wissenschaftliche Zeitdiagnose; für den Amerikaner da-
gegen Lösung unmittelbarer technischer Aufgaben des ge-
sellschaftlichen Geschehens. Von hier aus erklärt sich
die in europäischen Fragestellungen stets mitklingende
bange Frage nach dem weiteren Schicksal und damit zu-
sammenhängend eine Tendenz zur Totalsicht, von hier
aus in der amerikanischen Frage der Denktypus: Wie
mache ich das? Wie löse ich diese konkrete Einzelauf-
gabe? Und dabei der optimistische Unterton: Für das
Ganze habe ich nicht zu sorgen, das Ganze macht sich
schon von selbst.
In Buropa vollzog sich aber der völlige Abbau der ge-
samten Seinstranszendenz - der utopischen wie der ideo-
logischen - ntcht nur durch die Relativierung all dieser
Gehalte auf die sozialökonomische Ebene hin; der völlige
Abbau wirkte sich auch noch in anderen Formen aus. Der
ontische Beziehungspunkt, der im Ökonomisch-Sozialen
ruhte (und auf den letzten Endes der Marxismus alles
relativierte), war immer noch geistig-historisch artikulier-
bar, in ihm ruhte noch (aus der Hegel-M~rxschen Tradi-
tion stammend) ein Stück historische Sicht. Der historische
Materialismus hieß nur Materialismus, die ökonomische
Sphäre wartrotz de.r gelegentlichen Leugnung dieses Tat-
bestandes ein Strukturzusammenhang geistiger Observanz.
Das jeweilige Wirtschaftssystem war eben ein "System",
etwas also, was sich in der Sphäre des Geistes (des objek-
tiven Geistes) konstituiert. Die absolute Destruktion hatte
hier noch einen Spielraum, um weiter zu dringen, und
sie gelangte durch diesen Vorstoß zur Hypostasierung
des vom Historisch-Spirituellen völlig befreiten, ewig
menschlichen Trieb substrates. Von hier aus war auch eine
generalisierendeLehre möglich, eine Relativierung des Seins-
transzendenten auf ewige Wirkformen der Triebstruktur
(Pareto, Freud usw.). Eine Vorstufe dieser generalisierenden
Trieblehre war schon in der englischen Sozialphilosophie
und Sozialpsychologie des 17. und 18. Jahrhunderts ge-
geben. So, wenn etwa H um ein seiner "Enquiry concerning
human understanding" sagt: "Es ist gemeinhin anerkannt,
daß unter den Handlungen der Menschen in allen Nationen
und Zeitaltern eine große Gleichförmigkeit herrscht und
daß die menschliche Natur in ihren Prinzipien und Be-
tätigungen immer die nämliche bleibt. Dieselben Beweg-
gründe erzeugen allemal dieselben Handlungen: dieselben
Ereignisse folgen aus denselben Ursachen. Ehrgeiz, Hab-
sucht, Selbstliebe, Eitelkeit, Freundschaft, Edelsinn, Ge-
meingeist: diese Gemütsbewegungen - in verschiedenen
Graden gemischt und über die Gesellschaft verteilt -
sind seit Beginn der Welt und auch heute noch die Quelle
aller Handlungen und Unternehmungen, die jemals bei
den Menschen beobachtet worden sind."
Dieser Prozeß der völligen Destruktion aller spirituellen
Elemente, des Utopischen und des Ideologischen zugleich,
findet seine Parallele in unseren neusten Lebensformen und
in den diesen entsprechenden Richtungen der Kunst.
uß de das lC r ch;winden des Humanitären aus der
unst, die in E otik und Baukunst durchbrechende "Sach-
ichkei " das He1::v0torechen der Triebstrukturen im Sport
nicht als ein y:mptom gewertet werden für den immer
weiteren Rückzug des Utopischen und Ideologischen
·aus dem Bewußtsein der in die Gegenwart hineinwachsen-
den Schichten? Muß nicht die- der Tendenz nach zumin-
dest erstrebte - allmähliche Reduktion des Politischen auf
~~, Ökonomie das bewußte Verneinen der Vergangenheit
un oer lüstorischen Zeit, das bewußte Beiseiteschieben
eines "eden" u turideals" als ein Verschwinden des Uto-
Jsche · jedweder Gestalt auch aus dem politischen Ak-
tionszentrum gedeutet werden?
Es drängt hier eine Bezußtseinshaltung zur Weltgestal-
tung, für die sich alle Id~n bldmiert, alle Utopien zersetzt
haben. Weitgehend ist diese sich ankündigende "Trocken-
heit" zu bejahen als einziges Mittel, die Gegenwart zu beherr-
schen, weitgehend zu bejahen als eine Transformation der
Utopie zur Wissenschaft, als eine Destruktion der ver-
logenen und mit unserer Seinswirklichkeit sich nicht in
Deckung befindenden Ideologien.
Es gehört vielleicht eine von unserer Generation kaum
mehr vo1lziehbare Herbheit oder die ahnungslose Naivität
einer in diese Welt neu hineingeborenen Generation dazu, '
mit der so gewordenen Wirklichkeit in diesem Sinne in ab-
soluter Deckung zu leben, ohne jedwede Seinstranszendenz, I
sei es in Gestalt der Utopie, sei es in Gestalt der Ideologie. ;
Vielleicht ist für eine fertig gewordene Welt (auf unserer
Stufe der Selbstbewußtheit) dies die einzige Form des
wahrhaften Bestehens. Vielleicht ist das Beste, was wir im
Ethischen haben, ein auf "Echtheit" abgestelltes Sein? Ist
doch die Echtheitskategorie nichts anderes als das in das
Seelische übertragene Prinzip der Seinskongruenz - das
in das Ethisch~ projizierte Prinzip der Sachlichkeit. Viel-
leicht kann eine fertig gewordene Welt sich dies leisten.
Sinti wir aber irklich dermaßen am Ziele, daß eine
Spannungs osig · chJli -· ic vereinigen ·· t? Wer '
sieht nicht, daß an dieser immer größer werdenden Span- I
nungslosigkeit die politische Aktivität, die wissenschaft-
1
liche Intensität, der bisher überwertige Gehalt des Lebens
immer mehr erlöschen? ·
Will man sich also bei -dieser Sachlichkeit nicht ohne
weiteres beruhigen, so muß man weiter fragen und suchen:
Gibt es nicht außer diesen die Spannungslosigkeit fördern-
den sozialen Trägern noch andere Kräfte im Raum? Auf
die so gestellte Frage muß aber die An~ort lauten:
17* 243
Die gegenwärtige Spannungslosigkeit wird zunächst
noch immer von zwei Seiten,her flankiert. Auf der einen
Seite stehen die im Sozisli mus !und Kommunismus noch
nicht arrivierten Schichten. Für. iese ist das ungetrennte
Bündnis zwischen Utopie, Sicht und Aktion so lange un-
problematisch, als sie Outsider in der gewordenen Welt
sind. Ihre Präsenz im sozialen Raull].e bedeutet das unge-
brochene Vorhandensein zumindest einer Gestalt der
Utopie, und die wird bis zu einem gewissen Grade immer
wieder auch die Gegenutopien erzwirlgen, entzünden und
aufflackern lassen, so oft zumindest, als dieser extremste
linke Pol in Aktion tritt. Ob dies geschieht, hängt weit-
gehend von der Strukturform des vor uns stehenden
Werdens ab. Gelingt es durch friedliche Evolution eine
spätere, in sich vollkommenere Form des Industrialismus
zu erreichen, die genügend elastisch ist, und gelingt es,
die niedrigsten Schichten in einen relativen Wohlstand
zu setzen, so setzt auch bei ihnen die bei den bisher
arrivierten Schichten aufgewiesene Transformation ein.
(Hierbei ist es von diesem Gesichtspunkt aus
gleichgültig, ob diese vollkommenere Form der sozialen
Organisation des Industrialismus sich durch ein Hinein-
arrivieren der restlichen Schichten in einen zu dem Zwecke
ihres relativen Wohlergehens genügend elastisch werden-
den Kapitalismus bildet, oder ob ·der Kapitalismus sich
vorher in einen Kommunismus transformiert.) Gelingt es,
die spätere Stufe des Industrialismus nur durch die Revo-
lution zu erreichen, so flackern auf allen Polen die uto-
pischen und ideologischen Elemente von neuem auf. Wie
·dem auch sei, im sozialen Schwergewicht dieses Flügels
der gesellschaftlichen Opposition liegt eine Komponente
des Schicksals der Seinstranszendenz.
Aber nicht allein von den Schicksalen dieses Pols hängt
die zukünftige Gestaltung des Utopischen und Geistigen
ab. Es gibt außer·diesem soziologischen Faktor noch einen
Faktor, mit dem man bei diesem Zusammenhang zu rech-
nen hat, nämlich eine ei . ümliche sozialgeistige Mitte
im historischen ·Gesche · zum Geistigen eine be-
stimmte Beziehung hat, · e ·cht, von der sich unsere
bisherige Analyse keine Re rischaft gab.
Von jeher gab es bei allen Schichten außer den sie
repräsentierenden Interessenträgern eine mehr auf das Spi-
rituelle eingestellte Schicht. Man könnte sie soziol0gisch
die Intellektuellen nennen, äber hier in diesem Zusammen-
hange muß die Einengung noch weiter gehen. Nicht die
Träger des Bildungspatentes sind hier gemeint, sondern die
wenigen Geistigen in ihren Reihen, denen es bewußt oder
unbewußt stets auclLauf etwas anderes ankam, als auf das
Hineinanivieren in die nächste Stufe des sozialen Seins.
Man kann die Dinge noch so nüchtern betrachten, diese
Dünnschicht gab es bisher immer. Ihre Situation war
aproblematisch, solange ihre Spiritualität sich mit der.
Spiritualität einer bestimmten aufstrebenden Schicht jeweils
in Deckung befand. Sie lebten, sahen, erkannten die ·Weit
aus derselben Utopie heraus, die sie willensmäßig mit den
Gruppen und sozialen Schichten verband. Dies gilt gena.u
so für einen Thomas Münzer wie für die bürgerlichen
Kämpfer der französischen Revolution, für Hege! genau
so wie für Marx.
Problematisch wird ihre Lage stets dann, wenn die hinter
ihnen stehende Schicht in die Gegenwartsbeherrschung
hineinarriviert, wenn der Prozeß die an die Politik ge-
bundene Utopie und damit zugleich die durch dieses Band
gefesselte geistige Schicht freigibt.
Dieses Freigeben der "Geistigen" wird sich auch ein-
stellen, sobald die unterdrückteste Schic in die Mitbe-
herrschung der sozialen Seinslage hineinwächst. Nur daß
bis dahin sich immer mehr jene bereits jetzt klar siChtbaJ,:e
Tendenz erfüllt: daß die freischwebende Geistigkeit noch
mehr als jetzt sich allmählich aus allen so · len Schichten
245
und nicht nur aus den privilegierten rekrutiert. Diese
iminer mehr auf sich selbst rückgeworfene Geistigkeit
flankiert von der andere her die soeben charak-
terisierte, auf eine Spann igkeit hin tendierte Ge-
samtsituation. Aber auch sie chtet sie zu sprengen, denn
sie lebt bei weitem nicht mit dem Gewordenen in aproble-
matischer Seinskongruenz.
Für diese vom Prozeß freigegebene Geistigkeit eröffnen
sich die vier folgenden Möglichkeiten: Die erste Gruppe
der Geistigen zählt eigentlich gar nicht hierher, denn diese
Gruppe wird von jenen gebildet, die noch im Bündnis mit
dem radikalen Flügel des sozialistisch-kommunistischen
Proletariats stehen. Sie leben noch - zumindest in dieser
Hinsicht - in einer aproblematischen Situation. Für sie
besteht noch keine Spaltung zwischen geistiger und sozia-
ler Bindung.
Die zweite Gruppe, die der Prozeß allmählich mit der
Utopie gleichzeitig freigab, wird skeptisch und vollzieht
in der Wissenschaft im Namen der Echtheit die soeben
charakterisierte Ideologiedestruktion. (M. Weber, Pareto.)
Die dritte Gruppe flüchtet in die Vergangenheit und
sucht dort jenen Ort, wo das Seinstranszendente in einer
gewesenen Gestalt die Welt beherrschte, und sie versucht
durch dessen romantische Rettung die Spiritualisierung
der Gegenwartssituation. Neubelebungsversuche der Reli-
giosität, des Idealismus, der Symbole und Mythen erfüllen
von diesem Gesichtspunkte aus dieselbe Funktion.
Die vierte Gruppe vereinsamt und gibt bewußt den
historischen Prozeß auf, sie verbindet sich unvermittelt
·mit der ursprünglichsten radikalsten Form des vom Pro-
zeß freigegebea:n utopischen Kerns, ohne nunmehr sich
mit der politischen Radikalität in Beziehung zu setzen.
Alles, was der historisch-soziale Prozeß an konkreten
Gehalten destruierte, jede Glaubens- und Mythenform
wird hier im j egensatz zur romantischen Haltung
246
destrUiert;' nur jenes ahistorische Etwas, jener ekstatische
Punkt, der einst den Mystiker und Chiliasten gleichzeitig
und nur in verschiedener Form beherrschte, wird in abso-
luter Nacktheit indieMitte desErlebens gestellt. Auchhier-
für gibt es Symptome. Ein eigentümliches Wetterleuchten
in der modernen (oft expressionistischen) Kunst und in der
modernen, nicht schulmäßigen Philosophie weist dieses
freischwebende Flackern des Ekstatischen auf. (Der erste
Ansatzpunkt lag hierzu bei Kierkegaard.) Durch einen
solchen Exodus des chiliastischen Elementes aus der mo-
dernen Lebensmitte, aus dem Gebiet des Politischen mag
wohl der rein ekstatische Kern gerettet werden, aber alle
bisher doch als zentral erlebten Gebiete des Seins, alle
Aktions- und Objektivationsgebiete der Kulturwerden da-
durch völlig mediatisiert. Auch für das Chiliastisch-Eksta-
tische muß dieser Rückzug verhängnisvoll werden, sahen
wir doch, wie , s, auf sich selbst beschränkt, ohne Auseinan-
dersetzung mit der Welt, die Tendenz hat, abzuebben, süß-
lich zu werden oder sich in pure Erbaulichkeit zu verlieren.
Es ist unvermeidlich, daß man sich nach einer solchen
Konstellationsanalyse fragt, was nunmehr in der Zukunft
geschieht. An der Unbeantwortbarkeit dieser Frage ent-
hüllt sich aber am klarsten die Struktur der historischen
Sicht. Etwas vorauszusagen, wäre Prophetie. Jede Pro-
phetie verwandelt aber Geschichte zwangsläufig in reine
Determination und beraubt uns dadurch der Möglichkeit
zur Wahl und zur Entscheidung, und es erstirbt daran der
abwägend suchende Instinkt im Hinblick auf die ·stets
sich neugestaltende Möglichkejt. . ~ '
Denn die Form, in der die Zukunft allein ~ gibt, ist
die der Möglichkeit, das Soll abtr ist die adäquate Zu-
wendung zu ihr. Für die Erkenntnis ist die Zukunft -
was das nicht rein Organisierte und Rationalisierte betrifft
-ein undurchdringbares Medium, eine harte Wan<i, von
der zurückgestoßen sie die Notwendigkeit des Wollens
247'
•
•
•
und im Zusammenhange dainit die Erforderlichkeit des
Sollens (des Utopischen) erst entdeckt. Vori diesem Soll
her kann man erst nach gegenwärtigen Möglichkeiten
fragen und von hier aus fällt erst ein Blick in die Geschichte.
Hier wird zugleich auch letztlich verstehbar, warum jeg-
liches historisches Wissen konstitutiv im Elemente des
Willensmäßigen existiert. Ob in ·unserer Situation, in der
die verschiedenen Tendenzen zur Utopie mit der Tendenz
zur Sparuiungslosigkeit im Kampfe·stehen, diese oder jene
Tendenz · siegen wird, ist nicht erkennbar, denn das ist
noch keine abgelaufene Wirklichkeit, es steht noch aus.
Was die Zukunft betr~t, so hängt potentiell alles (weil
wir Menschen und nicht Dinge sind1 ), der Wahrschein-
lichkeit nach vieles von unserem Wollen ab. Wofür man
hierbei optiert, liegt letzten Endes be.i: jedem einzelnen.
Das bisher Dargestellte kann ihm nur dazu verhelfen, die
Bedeutung seiner Option zu sehen.
Für unseren engeren Zusanimenhang aber, der eigentlich
im Zeichen einer soziologischen Bewußtseinsgeschichte
1 Auch hier an solch letzten, entscheidenden Punkten leuchtet
•
"
steht, wurde es sichtbar, daß in der dargestellten Epoche
die wesentlichsten Wandlungen der geistigen Struktur
von der Transformation des Utopischen her erfaßbar sind.
Für die Zukunft ergibt ·sich daraus, daß eine absolute
Ideologie- und Utopielosigkeit prinzipiell zwar möglich ist
in einer Welt, die gleichsam mit sich fertig geworden ist
und sich stets nur reproduziert, daß aber die völlige De-
struktion der Seinstranszendenz in unserer Welt zu einer
Sac~ichkeit führt, an der der menschliche Wille zugrunde
geht. Hierbei zeigt sich auch der wesentlichste Unterschied
zwischen den beiden Arten der Seinstranszendenz: Wäh-
rend der Untergang des Ideologischen nur fÜr bestimmte
Schichten eine Krise darstellt und die durch Ideologie.:.
enthüllung entstehende Sachlichkeit für die
Gesamtheit
immer eine Selbstklärung bedeutet, würde das völlige
Verschwinden des Utopischen die Gestalt der gesamten
Menschwerdung transformieren. ·Das Verschwinden der
Utopie bringt eine statische Sachlichkeit zustande, in der
der Mensch.selbst zur Sache wird. Es entstünde die größte
249
Paradoxie, die denk ar ist; ·eli .ßer Mensch der
rationalsten Sachbeherrschung zum Menschen der Triebe
wird, daß der Mensch, der nach einer'so langen opfervollen
und heroischen Entwicklung die höchste Stufe der Be-
wußtheit erreicht hat - in der bereits Geschichte nicht
blindes .Schicksal, sondern eigene Schöpfung wird -, t
I
de geben de schiedeneu Gestalten der Utopie
e Willen zu Geschichte und damit den Blick in die Ge-
schichte verliert.