Sozialfigur
Als Sozialfigur wird in Soziologie, Sozialgeschichte und Kulturgeschichte der Idealtyp einer zeitgebundenen historischen Gestalt bezeichnet, anhand derer ein spezifischer Blick auf die jeweilige Gesellschaft geworfen werden kann.[1]
Definition und Abgrenzung
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Eine Sozialfigur ist, laut Stephan Moebius und Markus Schroer, nicht identisch mit dem, was in der Soziologie der Fachbegriff Soziale Rolle meint. Soziale Rollen werden vom Einzelnen häufig gewechselt und teilweise gleichzeitig übernommen. Sie lassen sich jeweils einer Sphäre des Sozialen zuordnen. Sozialfiguren sind dagegen sphärenübergreifend. Für Sozialfiguren ist typisch, „dass sie zwar aus verschiedenen Feldern stammen, ihrer Tätigkeiten sich aber mehr und mehr verselbstständigen: Beraten, managen, spekulieren – das sind Tätigkeiten, die zu Praktiken geworden sind, die ihr angestammtes Feld längst verlassen haben, um durch die gesamte Gesellschaft zu vagabundieren.“[2]
Roland Girtler mag dieser eindeutigen Abgrenzung zur sozialen Rolle nicht folgen und bezeichnet Sozialfiguren als „Rollenbilder oder Typen, wie sie in der gegenwärtigen historischen Situation zur Buntheit des Alltags gehören“ und „die in der ‚Gegenwart‘ die Interessen und Hoffnungen der Zeitgenossen zu beeinflussen scheinen.“[3] Andere Autoren, wie der Kulturwissenschaftler Max Fuchs, übernehmen die Definition von Moebius und Schroer.[4]
Beispielhafte Sozialfiguren
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Mittelalterliche Sozialfiguren sind zum Beispiel Bauer, Städter, Künstler, Mönch. Eine Sozialfigur des 19. Jahrhunderts ist der Junker. Sozialfiguren des 20. Jahrhunderts sind unter anderen Spontis, Tramps, Intellektuelle[5][6] und Bonzen. Sozialfiguren der Gegenwart sind neben anderen der Berater, der Fan, der Flüchtling, der Single, der Therapeut, der Voyeur und der Wutbürger[7]. Auch der Pfandsammler wird als zeitgenössische Sozialfigur genannt.[8][9][10] Dazu kommen der Nerd[11] und die jungen Alten.[12] Der Heimkehrer war in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg eine vielgenannte Sozialfigur, aktuell werden mit ihr Rückkehrer in das Gebiet der ehemaligen DDR beschrieben.[13]
Literatur
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Hans Manfred Bock: Der Intellektuelle als Sozialfigur. Neuere vergleichende Forschungen zu ihren Formen, Funktionen und Wandlungen. In: Archiv für Sozialgeschichte 52 (2011), S. 591–643 (Online, PDF 0,6 MB, abgerufen am 21. August 2018).
- Roland Girtler: Sozialfiguren. In: Soziologische Revue 36 (2013), S. 437–441 (Online, PDF, abgerufen am 3. April 2016).
- Stephan Moebius und Markus Schroer (Hrsg.): Diven, Hacker, Spekulanten. Sozialfiguren der Gegenwart. Suhrkamp, Berlin 2010, ISBN 978-3-518-12573-1.
- Sebastian J. Moser, Tobias Schlechtriemen: Sozialfiguren – zwischen gesellschaftlicher Erfahrung und soziologischer Diagnose. in: Zeitschrift für Soziologie 47.3 (2018), S. 164–180.
Weblinks
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Günter Beyer: Sozialfiguren der Gegenwart, Deutschlandfunk, 11. November 2010, abgerufen am 3. April 2016.
- Oskar Piegsa: Gegenwartstypen: Zur Diva auf'n Dosenbier, Spiegel Online, 17. Dezember 2010, abgerufen am 3. April 2016.
Einzelnachweise
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- ↑ Die Darstellung basiert, wenn nicht anders belegt, auf: Stephan Moebius und Markus Schroer (Hrsg.), Diven, Hacker, Spekulanten. Sozialfiguren der Gegenwart. Suhrkamp, Berlin 2010, ISBN 978-3-518-12573-1, Einleitung, S. 7–11.
- ↑ Stephan Moebius und Markus Schroer (Hrsg.): Diven, Hacker, Spekulanten. Sozialfiguren der Gegenwart. Suhrkamp, Berlin 2010, S. 8.
- ↑ Roland Girtler: Sozialfiguren. Soziologische Revue, Jahrgang 36, 2013, S. 437–441, hier S. 437 (Online, PDF, abgerufen am 3. April 2016).
- ↑ Max Fuchs: Subjektivität heute. Transformationen der Gesellschaft und des Subjekts. Utz, München 2014, ISBN 978-3-8316-4357-8, S. 60 f.
- ↑ Debatte: Wo sind die Intellektuellen hin? In: ZEIT ONLINE. (zeit.de [abgerufen am 21. August 2018]).
- ↑ Sie klagen an - bestenfalls. In: Der Tagesspiegel Online. 18. Juli 2014, ISSN 1865-2263 (tagesspiegel.de [abgerufen am 21. August 2018]).
- ↑ Thilo Sarrazin - Vor dem Buch ist nach dem Buch. In: Deutschlandfunk. (deutschlandfunk.de [abgerufen am 16. August 2018]).
- ↑ Sebastian J. Moser: Pfandsammler. Erkundungen einer urbanen Sozialfigur. Hamburger Edition, Hamburg 2014, ISBN 978-3-86854-276-9.
- ↑ Ähnlich Alexandra Rau: Alltag Flaschensammeln. Ethnographie einer informellen Arbeitspraxis. Münchner ethnographische Schriften, München 2016, ISBN 978-3-8316-4323-3, S. 109.
- ↑ Soziologie - Was Pfandsammler umtreibt. In: Deutschlandfunk. (deutschlandfunk.de [abgerufen am 21. August 2018]).
- ↑ Jasmin Siri: Nerds, Nerdettes #1 Eine begriffliche Invasion? und Nerds, Nerdettes #2 Die Anormalität des Nerd im Blog der Deutschen Gesellschaft für Soziologie
- ↑ Silke van Dyk und Stephan Lessenich (Hrsg.): Die jungen Alten. Analysen einer neuen Sozialfigur. Campus, Frankfurt am Main/New York 2009, ISBN 978-3-593-39033-8.
- ↑ Jörg Dürrschmidt: Rückkehr aus der Globalisierung? Der Heimkehrer als Sozialfigur der Moderne. Hamburger Edition, Hamburg 2013, ISBN 978-3-86854-265-3.