Verschiedene: Die Gartenlaube (1858) | |
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No. 22. | 1858. |
(Schluß.)
Mein Mitleiden mit dem armen, verlassenen jungen Wesen, die Lebhaftigkeit, mit der sie vorhin erzählt hatte, die einfache Wahrhaftigkeit, die sich in jedem ihrer Worte ausgesprochen hatte, das Alles hielt mich unwillkürlich jetzt noch in einem Zauber gefangen, der mir auch ihre letzten Worte als wahr erscheinen ließ. Allein dieser Zauber konnte nur einen kurzen Augenblick vorhalten.
Der Leser eines Romans hätte einer solchen Entwickelung ferner Glauben schenken können, nicht der Inquirent. Dem geschwungenen Dolche dessen, der den Tod eines Anderen beschlossen hat, kommt nicht aus heiterem Himmel, und wenn es auch in einer hellen Mondnacht wäre, ein fremder Stahl zu Hülfe, um gefällig den Todesstreich auf sich zu nehmen. Und sie hatte, als sie die sonderbare Enthüllung erzählte, mich nicht ansehen, sondern nur verwirrt zu Boden blicken können! Und es war bei aller Tugend und edlen Gesinnung, die sie bis dahin gezeigt hatte, so natürlich, daß sie ihr Leben retten wollte!
Aber dennoch! Wie ich als Inquirent ihren Versicherungen nicht unbedingt glauben konnte, so konnte ich sie auch nicht von vornherein als erlogen betrachten. Ich mußte eben untersuchen, erforschen, ob sie wahr oder unwahr waren. Und konnte ihr nicht auch in der That in jenem entscheidenden Augenblicke eine andere Hand zuvorgekommen sein?
Der Jäger Anton war ihr treuer, ergebener Beschützer. Konnte er nicht, durch Zufall oder von Angst für seine Herrin getrieben, gerade zur rechten Zeit zurückgekehrt sein?
Sie war wieder ruhiger geworden.
„Sie hatten das Bewußtsein verloren?“ fragte ich sie.
„Ich war in eine tiefe Ohnmacht gefallen.“
„Und als Sie erwachten?“
„Lag ich am Boden neben der Leiche. Meine Kleider waren blutig.“
„Weiter.“
„Ich war in einem schrecklichen Zustande. Die Leiche war an meiner Seite. An dem Morde konnte ich nicht zweifeln. Aber daß ich ihn nicht verübt hatte, daß eine fremde Hand der meinigen zuvorgekommen war, das war mir wie ein Traum. Und doch! Mein Dolch lag neben mir. Ich besah ihn. Er war rein, kein Tropfen Blut klebte daran.
„Wer hatte die That verübt?“
„Anton? Aber warum war er nicht bei mir? Wie hatte er mich in dieser entsetzlichen Lage allein lassen, sogar den Schein, den Verdacht, nein, die Gewißheit des Mordes auf mich werfen können? Allein das konnte ja nur einen Augenblick sein. Er konnte sofort die Flucht ergriffen haben, um sein Leben zu retten. Aus dem ersten sicheren Aufenthaltsorte theilte er die Wahrheit mit und befreite mich wieder. Auch das blieb mir freilich, wie ich den braven Menschen kannte, nur wahrscheinlich. Aber es war nicht unmöglich. Meine Lage war durch den Gedanken nicht weniger fürchterlich. Ich war allein bei der Leiche. Ich mußte, wenn auch nur für die erste Zeit, für die Mörderin gehalten werden. Ich ging allen Qualen, aller Schmach der gerichtlichen Untersuchung entgegen! Und immer war ich wieder allein.
„O, welch ein armes, unglückliches Geschöpf ist ein Mädchen, das in fernem, fremdem Lande, unter lauter fremden Menschen allein, verlassen dasteht! Das Gefühl hat mich nie drückender überwältigt.
„Das Fenster stand noch offen und der Mond schien hell hindurch. Sein Licht fiel auf den blutigen Leichnam neben mir, auf die verzerrten Gesichtszüge des Todten. Und ich war allein und als Mörderin bei ihm! Ich war der Verzweiflung nahe. Da hörte ich ein Geräusch; es waren Schritte im Garten; sie naheten sich dem Hause, dem Zimmer, in dem ich mich befand, dem offenen Fenster. Es waren eilige Schritte. Ich erbebte in meiner Todesangst und sprang an das Fenster. Es war Anton. Ich stieß einen lauten Schrei aus.
„Habe ich Sie erschreckt, Fräulein?“
„Er mußte mich so nennen, wenn wir auch allein waren.
„Wo kommen Sie her, Anton?“
„Aus dem Walde.“
„Jetzt erst?“
„In diesem Augenblicke. Ich hatte eine so sonderbare Angst, den ganzen Abend, und wäre gern schon früher zurückgekehrt, aber es ging nicht. Als ich durfte, eilte ich hierher, in geradester Richtung nach diesem Flügel des Schlosses. Da sah ich hier die Jalousien, dann gar das Fenster offen stehen; ich mußte wissen, was es war.“
„Er trug noch Gewehr und Jagdtasche bei sich. Sie bestätigten seine Worte. Er war es also nicht gewesen. Wer dann? Was war geschehen?
„Allmächtiger Gott!“ rief ich.
„Da sah er die Leiche.
„Um Gotteswillen!“ rief er.
„Er sprang in das Zimmer und verschloß das Fenster; dann mußte ich ihm erzählen.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 317. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_317.jpg&oldid=- (Version vom 5.6.2018)