Verschiedene: Die Gartenlaube (1858) | |
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No. 23. | 1858. |
Es war um die Zeit der Herbst-Tag- und Nachtgleiche. Das Wetter begann schon unbeständig zu werden und wiederholt stellten sich sogenannte fliegende Stürme ein, die indeß nur von kurzer Dauer waren. In großen Schwärmen verließen die Zugvögel ihre Sommersitze, um wärmere Himmelsstriche aufzusuchen. Freunden der Natur gewährte es Zerstreuung und Genuß, namentlich die Geschwader der fortziehenden Störche zu beobachten. In den fetten Marschen der Westküste Schleswigs, wo diese Vögel in großer Menge während der guten Jahreszeit nisten, halten sie regelmägig vor ihrem Auszuge förmliche Berathungen. Die Bewohner dieser Landstriche wissen es immer einige Zeit vorher, wenn sich ein neues Storchgeschwader zum Zuge nach Süden rüstet. Dann kommen die seltsam klugen Vögel von allen Seiten unter lautem Geklapper hervorgerauscht, lassen sich in einer Binnendeichswiese nieder und beginnen in regelmäßigen Kreisen, meistens nur auf einem Beine stehend, die Reiseroute zu besprechen, d. h. zu beklappern. Haben sie sich geeinigt, so gibt ein noch lauteres Geklapper das Signal zum Abzuge. Wie ein Sturmwind rauscht der Schwarm hoch in die Luft, zertheilt sich hier in breite Geschwader, ordnet sich auf- und niedersteigend und fliegt dann, ein langschenkliges Dreieck bildend, dessen Spitze nach vorn gekehrt ist, über die Watten hinaus nach der brandenden See.
Nach dem Wegzuge der Störche berechnen die Küsten- und Inselbewohner den früheren oder späteren Eintritt des Winters. Wie alle derartigen Berechnungen trügt auch bisweilen der Abzug der Störche, in einer Beziehung aber können sie für die zuverlässigsten Propheten gelten. Man darf annehmen, daß es viele Stürme im Herbste geben wird, wenn die Störche sich zeitig zum Aufbruch rüsten. Und da Küstenbewohner weit mehr von Sturm und Fluth abhängen, als andere Menschen, so ist es für sie immer von Wichtigkeit, auf die Zeichen Acht zu haben, welche stürmische Witterung als nahe bevorstehend verkündigen.
Zwischen Heverknobs Westbrandung und Seesand in der breiten Reutertiefe flog bei guter Bries ein schlank gebautes Fahrzeug, das drei Segel führte, von der hohen See herein. Vor der schon niedrig stehenden Sonne stand ein Wall dunkeln Gewölkes, der indeß das sanft wogende Meer nicht berührte, sondern einen breiten Saum flimmernder Goldfransen in die langsam auf- und absteigende Fluth niederhängen ließ. Süd- und nordwärts brach das Sonnenfeuer in blendender Helle hinter der Wolkenmauer hervor und goß über weite Meeresstrecken, über hohe Sande und über die wunderbar-phantastische Inselgruppe der Halligen, die so zauberhaft poetisch und so düster melancholisch die Küsten Schleswigs umgürten, ihre kühle Purpurgluth aus. Der Anblick war eigenthümlich schön, das Bild, das sich vor dem Auge entrollte, von seltener Großartigkeit. Nur das Leben fehlte ihm. Man hätte sich in die Nähe des Nordpoles versetzt wähnen können, wenn man diese endlose Meeresöde im Westen betrachtete, wo nur die graziösen Schwingen streichender Möven jetzt wie Silberpfeile, jetzt wie gekrümmte Feuerflammen den rollenden Saum einer grauen Welle berührten. Nirgends war ein Segel zu sehen, nirgends ein Laut zu hören, außer der springenden Brandung am Heverknob und dem Geschrei der Seevögel, die auf dem weißen Sandrücken des Junge-Jap im Süden Atzung suchten.
Am Bord des Fahrzeuges befanden sich zwei Männer und ein junges Mädchen. Einer der Männer saß am Steuer, der andere richtete die Segel, je nachdem Fahrwasser und Wind dies forderten. Das junge Mädchen hatte auf der schmalen Treppe Platz genommen, die zur kleinen, niedrigen Cajüte hinabführte. Seeleute sprechen selten viel, wenn sie genöthigt sind, auf Wind und Wetter zu achten. Das Fahrwasser, auf welchem das Fahrzeug segelte, gehört nicht zu den gefahrlosen. Es hat Untiefen, die jeder Schiffer genau kennen muß, um sie beim Segeln geschickt zu vermeiden, und namentlich, wenn das Wasser auf- und abläuft, d. h. wenn die Zeit der Ebbe oder Fluth eintritt, bedarf es doppelter Aufmerksamkeit.
Als die Schiffer Seesand-Steert erreicht hatten, zog der Mann am Steuer dieses fest an sich, der Andere riß die Schooten herum, braßte die Segel scharf, und heftig schaukelnd, von ein paar springenden Wellen mit salzigem Gischt übersprüht, drehte sich der Ewer, um mehr südwärts zu segeln. Die Schiffer bogen in die Süder-Aue ein, wie dieser Arm der zwischen den Inseln in zahlreiche Tiefen, Piepen und Ströme sich spaltenden Nordsee genannt wird. Ein windartiges dumpfes Brausen machte das Mädchen auf der Cajütentreppe aufblicken. Gerade über das Schiff nach den im Abendglanz der Sonne goldglühenden Dünenspitzen von Amrom hin strich ein Storchgeschwader. Es war vorüber, wie eine zerflatternde Wolke und war gleich darauf verschwunden.
„Das ist schon der dritte Schwarm seit einer Stunde,“ sagte Taken Mannis, den verschwindenden Vögeln gleichgültig nachblickend. „Es wird bald ein heftiges Wehen geben.“
Der mit dem Stellen der Segel Beschäftigte antwortete anfangs nicht; er blickte zuerst seewärts, wandte sich dann nach Osten
Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 329. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_329.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)