Verschiedene: Die Gartenlaube (1858) | |
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„Mutter, Mutter, wird nimmermehr
Die Prairie wogen, wie das Meer?
Begrünen die Wälder sich wieder, und wann?
Und kommt der duftige Sommer dann?“
Sie blickt in Schweigen auf ihr Kind;
Die großen Augen noch größer sind,
Und ach, so hell – es war wohl, daß
Er war so mager jetzt und blaß. –
Es kam der süße Maienmond und gab
Der Mutter Trost und Blumen für ein Grab.
Louis Legrand Noble.
Nach der Criminalordnung konnte ich als Inquirent, auf meine Verantwortlichkeit, handeln, wie ich wollte; nur ein Beschluß des Richtercollegiums konnte mich binden. Der Actuarius hatte aber die Pflicht, wenn er Unregelmäßigkeiten oder gar Gesetzwidrigkeiten in meinem Verfahren bemerkte, mir „seine Bedenken mit Bescheidenheit vorzutragen.“ Das that er.
„Herr Criminaldirector, daß ein Giftmord verübt ist, steht fest. Mahler hat sich durch sein Benehmen verdächtig gemacht. Er hat sich namentlich dadurch sehr verdächtig gemacht, daß er jede Beziehung zu der Louise und Familie Schmid ableugnete, die, wie Sie so richtig geahnt hatten, auch nach meiner jetzigen Ueberzeugung dennoch besteht. Der Wahrheit dürfte also fast nur dann auf den Grund zu kommen sein, wenn es gelänge, ihn mit der Familie Schmid und diese unter sich in Widersprüche zu verwickeln. Dennoch lassen Sie alle diese Personen in Freiheit und geben ihnen somit volle Gelegenheit, so viel zu colludiren, wie sie wollen. Entschuldigen Sie, wenn ich es für meine Pflicht halte, Ihnen diese Umstände zur Erwägung vorzutragen.“
Ich hatte ihn ruhig aussprechen lassen und hatte ihm vorläufig nur wenig zu erwidern.
„Lieber Herr Actuar, ich habe das Alles erwogen; aber auch noch mehr. Indeß darüber später, jetzt thut Eile Noth. – Sie kennen die Unterbeamten des Gerichts. Rufen Sie mir drei oder vier der gewandtesten und zuverlässigsten herein.“
Er verließ das Zimmer und kehrte nach wenigen Augenblicken mit vier Boten und Executoren des Inquisitoriats zurück. Ich instruirte diese einzeln: Zweien trug ich auf, das Mahlersche Haus zu bewachen, das nach zwei Seiten Eingänge hatte; zwei andere mußten das Schmid’sche Haus in Obacht nehmen. So wie einer von ihnen den Mahler oder die Louise Schmid oder den Vater oder die Mutter des Mädchens auf der Straße sah, hatte er ihnen zu folgen und sie nicht aus den Augen zu lassen. So weit es außerdem angehe, hatten sie, auch auf die Gretchen Kopp und das kleine Mahler’sche Dienstmädchen zu achten.
Alle hatten mit großer Vorsicht zu verfahren und sich vor keiner der genannten Personen sehen zu lassen, aus ihrer Verborgenheit nicht hervorzutreten, es mochte sich ereignen, was wollte. Keine einzige der genannten Personen durfte nur eine Ahnung davon haben, daß sie beobachtet werde oder beobachtet worden sei. Am folgenden Morgen um sieben Uhr hatten sie mir am Criminalgerichte zu rapportiren.
Sie begaben sich auf ihre Posten.
„Nun?“ fragte ich den Actuarius.
Der einsichtige und erfahrene Mann hatte meinen Plan begriffen.
„Sie erwarten, daß namentlich der Mahler und die Louise Schmid sich heimlich sprechen und dies morgen ableugnen werden?“
„So ist es, wenn sie schuldig sind.“
„Aber Sie spielen, entschuldigen Sie den Ausdruck, ein gefährliches Spiel.“
„Ich fürchte nicht. Mahler und das Mädchen wissen nichts davon, ob sie gegenseitig übereinander vernommen sind. Es liegt ihnen Alles daran, dies zu erfahren und was Jeder gesagt hat. Beide, von ihrem Gewissen belastet, haben daher ein kaum widerstehliches Verlangen, sich zu sprechen, zugleich, um Ferneres für die Zukunft zu verabreden. Es ist also mit Sicherheit zu erwarten, daß sie nicht nur sich gegenseitig aufsuchen, sondern auch, im Gefühle ihrer Schuld und um ihre Aussagen nicht Lügen zu strafen, auf eine heimliche Art sich zu treffen suchen werden. Dies macht sie von der einen Seite eben so verdächtig, als sie von der anderen Seite, indem sie eben durch ihre Nichtverhaftung sicher geworden sind und deshalb auf genaue Verabredungen und für alle Fälle nicht bedacht sein werden, morgen nothwendig sich in Widersprüche verwickeln müssen.“
„Ihr Verfahren,“ meinte der Actuarius, „bleibt dennoch ein gefährliches und gegen alle Grundsätze der Criminalordnung ist es unzweifelhaft.“
Er hatte nicht Unrecht. Nach den Grundsätzen der Criminalordnung hätte ich, bei dem Vorhandensein eines so schweren Verbrechens, vor allen Dingen die verdächtigen Personen in Haft nehmen müssen, damit sie „einerseits nicht durch Flucht sich der Strafe entziehen oder andererseits durch Verabredungen unter einander nicht die Wahrheit verdunkeln und die Zwecke der Untersuchung vereiteln“ konnten.
Diese Grundsätze hatten auch an sich ihre volle Berechtigung und ich wagte selbst für den vorlegenden Fall viel, konnte eine große Verantwortlichkeit auf mich laden. War wirklich, wovon ich ja eben ausging, Mahler schuldig: konnte er nicht die Freiheit, die ich ihm ließ, dazu benutzen, durch schleunige Flucht ein Leben zu retten, das unter den unmöglich im Voraus zu berechnenden Chancen der bereits eingeleiteten Untersuchung so leicht dem Henker verfallen war? Und wenn auch das nicht, ein einziger Mißgriff der von mir bestellten Wächter, zudem ungebildeter, mir kaum erst dem Namen nach bekannter Unterbeamten, die geringste Unachtsamkeit von ihrer, eine kleine List von seiner Seite, mußten sie ihm nicht, ohne alle Gefahr der Entdeckung, ein Einverständniß mit seinen Mitschuldigen, wenn auch nur Mitwissern ermöglichen, durch welches ich für immer alle Fäden der Entdeckung und Ueberführung wieder aus den Händen verlor?
Ich hatte mich dann schwer verantwortlich gemacht und – ich leugne nicht, daß auch der Gedanke bei mir mit in die Wagschale fiel, ich hatte mich dort, wo ich gerade eine bessere Rechtspflege wieder herstellen sollte, lächerlich, unmöglich gemacht; die Leute waren wirklich aus dem Regen unter die Traufe gekommen.
Und doch mußte ich es wagen; ich konnte, so meinte ich, den Charakteren der verdächtigen Personen gegenüber, nicht anders. Der verschlossene, kalte Mahler; das Mädchen, die, wenn sie seine Geliebte war, unter ihrem sanften Aeußeren die Natur einer lauernden Katze verbarg; die gemeinen, verschmitzten Eltern der Person; sie Alle sahen nicht darnach aus, als ob ich auf gewöhnlichem Wege Geständnisse oder erhebliche Auskunft von ihnen erlangen könne. Und um sie in Lügen und Widersprüche zu verwickeln, dazu fehlte es mir, ohne den eingeschlagenen Weg, an aller Handhabe.
Ich wagte es und verließ mich auf meine Physiognomik, auf meine Psychologie, auf mein Glück. Aber ruhig schlafen konnte ich doch nicht; ich träumte von Auslachen, von Regen, von Dachtraufen, von Mord; zuletzt wollten sie mich sogar köpfen.
Mit dem Glockenschlage sieben am andern Morgen waren die Criminalboten zum Rapport bei mir; und – ich hatte mich nicht geirrt, bis jetzt wenigstens hatte ich richtig gerechnet.
Mahler war vom Gerichte auf dem geraden Wege nach seinem Hause gegangen. Bis Mitternacht hatten die Verhöre gedauert. Er hatte seine Nichte und das kleine Dienstmädchen noch wach gefunden und ihnen befohlen, zu Bette zu gehen; er wollte auch gehen. Einer der Wächter hatte das durch das Fenster der zu ebener Erde gelegenen Stube gehört.
Die beiden Mädchen waren in eine Kammer gegangen. Mahler hatte dann die Hausthür verschlossen; gleich darauf aber war er an dem Fenster der Stube erschienen, hatte es geöffnet und in die Straße geblickt; als er nichts gesehen und gehört, schloß er dasselbe wieder und löschte das Licht in der Stube aus. Wenige Minuten nachher hatte er das Fenster zum zweiten Male geöffnet,
Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 438. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_438.jpg&oldid=- (Version vom 5.6.2018)