Verschiedene: Die Gartenlaube (1858) | |
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Shakespeare.
Die wahren Dichter werden immer seltener in dieser Zeit, deren Industrie alle Poesie zu ertödten droht. Das materielle Interesse ist die eherne Achse, um welche das Rad unseres gegenwärtigen Lebens in fieberhafter Hast sich dreht. Jagen nach Erwerb und Gewinn, Ueberfluß auf der einen, Verarmung auf der anderen Seite, schroffe Gegensätze, die ohne Ausgleichung nebeneinander liegen und sich reiben, und die drückend auf Allem lastende Schwüle unserer Zustände lähmen die Begeisterung der Schaffenden, die Empfänglichkeit der Genießenden. Der unermüdlich rechnende Verstand richtet das Herz zu Grunde, die Zahl mordet das Gefühl, Courszettel und Getreidepreise lassen für Verse wenig Papier übrig. Der Dichter ist der Sohn seiner Zeit, er sinkt jetzt zu ihrem Sclaven herab. Auch die heutige Literatur, mit wenig ehrenvollen Ausnahmen, ist nur ein Zweiggeschäft der allgemeinen großen Speculation geworden: der Schriftsteller genügt mit seinem Werke nicht mehr dem eigenen Drange, er gibt vielmehr sich dazu her, das flüchtige Bedürfniß der Menge zu befriedigen, ihre wechselnden und verkehrten Launen zu kitzeln. Bücher sind Waare für den, der sie verhandelt, der sie kauft, und leider auch für den, der sie schreibt, die, wie jede andere, zum höchsten Preise und in größter Masse an den Mann gebracht werden soll. Daher kommt es, daß auch in der Literatur die Ankündigung eine Macht geworden, daß häufig sie allein die großen Männer schafft. Unwillkürlich ergibt sich der Vergleich mit jenen Thierbuden, die durch abenteuerlich riesenhafte Aushängebilder, durch Trompetenstöße und Beckenschlagen das sie umfluthende Gewühl des Jahrmarktes einen Augenblick zu fesseln trachten, aber – die Löwen sind einzig auf der Leinwand, und innen erblickt man nur die herkömmlichen Affen und Papageien.
Wie tief und wie gerecht ist unter solchen Verhältnissen der Schmerz bei dem Verluste eines wahren Dichters, eines Dichters von Beruf und Begeisterung, dem die Poesie die ernste und heilige Aufgabe seines Lebens, dessen Stellung keine gemachte, sondern der tief in dem Herzen seines Volkes wurzelt, das immer noch sich aufthut, wenn am rechten Flecke angeklopft wird. Ein solcher Dichter aber war Adolf Schults, der in der Frühstunde des 2. April zu Elberfeld verschied und dessen Tod wir bereits kurz angezeigt. Er war ein deutscher Dichter im weitesten Umfange dieser Worte, und mithin auch – ein unglücklicher Mensch, der, von peinlicher Lage gedrückt, mit seinem äußeren Berufe entzweit, im Liede die Versöhnung seines Daseins fand, dem „Singen ein Segen war.“ Mitten in einem der geräuschvollsten Feldlager der Industrie, als deren Tagelöhner er mit Widerstreben das kärgliche Brod für sich und die Seinen erringen mußte, unter dem Schwirren und Sausen der Maschinen, zwischen dem strotzenden Reichthume der Fabrikherrn und den bleichen Gesichtern der Arbeiter dichtete er seine köstlichen Lieder, in denen jede rein menschliche Empfindung den natürlichsten und ergreifendsten Ausdruck findet. Es ist eine eben so bezeichnende als erfreuliche Erscheinung, daß gerade im Wupperthale, dem Sitze einer großartigen und blühenden Handels-Thätigkeit, zugleich aber auch dem Heerde jenes nüchternen, hohlen Pietismus, dieser gespenstischen Verzerrung des Glaubens, mit welcher unsere Zeit über ihre Armuth an wahrem und lebendigem Glauben sich selbst zu täuschen bemüht ist, also gleichsam „zwischen Himmel und Erde“ ein stattlich Fähnlein wackerer Sänger die frischen Weisen keck erschallen läßt. Leider betrauert die edle Zunft jetzt in Adolf Schults den begabtesten und bekanntesten ihrer Meister.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 485. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_485.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)