Verschiedene: Die Gartenlaube (1858) | |
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Am Einfluß des Buffalo-Flusses in den Red-River lebt seit vier Jahren schon ein deutscher Aussiedler, Hacker ist sein Name. Er war der Erste gewesen, der sich so weit in die dortige Wildniß gewagt hatte, denn das Land ist den Indianern nur erst seit ganz Kurzem vom Staate abgekauft und die dort lebenden Stämme haben demungeachtet ihre einstigen Gebiete noch bis auf den heutigen Tag nicht verlassen. Er hatte den Muth gehabt, sich schon vorher mitten unter ihnen niederzulassen. Die Strapatzen, die er dabei auszustehen gehabt, mag ich meinen Lesern nicht erst schildern; sie können sich aber versichert halten, daß die so oft gerühmten Fatiguen eines Feldzugs wahres Kinderspiel dagegen sind. Der Mann hatte Lebensmittel für sich und seine Familie auf ein ganzes Jahr mitgenommen. Für das folgende Jahr rechnete er auf den Ertrag der Ernte. Das Welschkorn, das er in den mühsam geklärten Waldboden gepflanzt, wucherte auch mit fabelhafter Ueppigkeit empor und versprach schon Anfang September eine reiche Ernte. Aber ein Sturm, der um diese Zeit, über die hohen Plateaus der westlichen Prairien dahinbrausend, ganze Waldstrecken zu Boden warf, riß auch die schwache Umzäunung seines Feldes nieder. Als der Mann dasselbe am andern Morgen besuchte, war es zum Pferdestall geworden. Einige 80 Sioux-Pferde waren eifrig damit beschäftigt, das Wenige noch vollends abzuweiden, was sie nicht schon unter die Hufe getreten hatten. Kam der Sturm nur acht Tage später, so waren die Indianer – und ihre Pferde natürlich mit – ein paar hundert Meilen westlicher auf der Büffeljagd und die eingerissene Fenz hatte so viel nicht zu sagen. – Wer wollte es Hackern verdenken, daß er jetzt die Bestien verwünschte mit sammt ihren Herrn? – Er dachte an sein Weib, an seine vier Kinder! – Aber das Fluchen allein konnte in der Sache nicht helfen. Es mußte Rath geschafft werden. Er revidirte seine Vorräthe, – sie reichten bei der äußersten Beschränkung noch höchstens vier Wochen hin. Bis zur nächsten Ortschaft Homesmill am Prairiefluß hatte er 160 englische Meilen, meist durch Wald – Wege gab es nicht. Er mußte unerhörte Anstrengungen machen, wenn er diese Strecke mit Pferd und Karren in 14 Tagen zurücklegen wollte, eben so viel Zeit brauchte er zur Wiederkehr. – Er spannte auf der Stelle ein, warf die Büchse über die Schulter und vergaß auch die andere Waffe nicht, die wichtigste des Hinterwäldlers, die großartigste der Civilisation, die mehr ausgerichtet hat, als alle gezogenen und nicht gezogenen Feuerröhre zusammengenommen, – die Axt meine ich. Dann nahm er Abschied von Frau und Kindern, mit schwerem Herzen; – der Weg war weit und wenn ihm etwas zustieß? – Sie hatten noch auf vier Wochen zu leben.
Die Sorge um die Seinen verdoppelte des Mannes Kräfte. Er leistete Unglaubliches und oft noch tief in der Nacht hallte der Wald wieder von den kräftigen Axtschlägen, mit denen er sich häufig die Bahn zu brechen hatte. Nach acht Tagen hatte er bereits 100 Meilen zurückgelegt. Am neunten Tage fühlte er plötzlich seine Beine heftig zittern, der Kopf war ihm glühend heiß, die Füße centnerschwer. Eine fast wahnsinnige Angst kam über ihn – er hatte das Fieber! –
Ihr vornehmen Herrn, die ihr vor Ungedult scheltet und mit den Füßen den Boden eurer Wiener Carosse stampft, wenn diese sich in ihrem raschen Fluge von einem unverschämten Mistwagen aufgehalten sieht, mit dem ein noch unverschämterer Bauerlümmel nicht schnell genug ausbiegen konnte, wißt ihr, was der Mann ausstand, der hier auf Leben und Tod nach dem noch 60 Meilen fernen Ziele strebte, an dessen Erreichung das Leben der Seinen hing? – Nun, wenn ihr Frau und Kinder habt, so werdet auch ihr es wissen, denn – wir sind ja alle Gottes Geschöpfe.
Er ließ nicht ab. Kalte Schweißtropfen rannen ihm von der Stirn; die Axt, mit der er sonst wie mit einer Gerte spielte, lag ihm jetzt wie Blei in den Händen; zuweilen verließen ihn die Kräfte ganz und er brach ohnmächtig zusammen, aber all die luftigen Bilder, die dann wie toll vor seinen Augen wirbelten und tanzten, – immer nahmen sie wieder die Gestalten seines Weibes, seiner Kinder an und immer raffte er sich wieder auf und „vorwärts! nach Homesmill! Brod, Brod für die Seinen!“ –
Am 16. Tage erreichte er endlich den Ort. Die paar Familien, die dort wohnten, liefen neugierig zusammen, als sie von Weitem das Fuhrwerk erblickten, das aus der ungewöhnlichen Richtung von Westen herkam. Sie wunderten sich bald noch mehr, als sie den Mann gewahrten, der wie ein Trunkener daneben hertaumelte. Beim ersten Blockhaus hielt der Wagen still, – der Mann stürzte nieder.
Es waren gute Menschen, und sie hoben ihn daher auf und schafften ihn zu Bett; aber er machte ihnen viel Noth. Während vierzehn langer Tage und Nächte kam er auch nicht ein einziges Mal zur Besinnung. Er raste und tobte wie ein Wüthender, und vier Männer hatten häufig Mühe, ihn mit Aufbietung aller ihrer Kräfte niederzuhalten, sonst hätte er sich kopfüber zum Fenster hinausgestürzt. Sie mußten ihn zuletzt mit Stricken festbinden. Manchmal, in seinen Phantasien, weinte er, als ob ihm das Herz brechen sollte, und er rief flehentlich nach Weib und Kindern. Einen Arzt gab es nicht in dem elenden Orte, und der Indianerdoctor, der die Niederlassung zuweilen besuchte, war mit seinem Stamme auf Büffeljagd. Eine Büchsenkugel hätten ihm die Männer ausziehen können, auch allenfalls einen gebrochenen Schenkel einrichten, aber sie hielten dafür, daß es mehr eine Gehirnentzündung sei, die den Mann ergriffen habe, und da konnten sie freilich nichts thun; die Natur mußte sich selber helfen.
Sie half sich auch endlich selber. Nach drei Wochen vermochte der Mann, sich von seinem Lager zu erheben. Aber wie groß war das Erstaunen der guten Leute, als er sich sogleich nach dem Stalle schleppte und Anstalt machte, sein Pferd an den Karren zu schirren! Sie hatten nicht wenig Noth, ihn davon abzubringen. Es würde sein sicherer Tod sein, meinten sie, und eine Woche müsse er wenigstens noch bei ihnen aushalten. Er sah bald ein, daß sie Recht hatten, denn seine Kräfte reichten nicht einmal hin, die Mehlfässer auf den Wagen zu heben. Als die Woche um war, hätte keine Gewalt der Erde hingereicht, ihn länger aufzuhalten. Er lud den gekauften Proviant auf, und nahm auch ein paar Kufen mit, da er fürchten mußte, Schnee auf dem Rückwege zu bekommen. Dann brach er auf. Die Richtung konnte er nicht verfehlen, sie war genau westlich.
Es war Anfang October. Die Wälder standen in ihrem schönsten Schmucke, und die tausendfältige Schattirung ihres Laubwerks, vom dunkelsten Grün des Lorbeerbaumes bis zum hellsten Roth des Ahorn, gewährte einen Anblick von wunderbarer Pracht. Tausend buntgefiederte Sänger wiegten sich noch in den Zweigen. Die Luft war am Tag über mild wie im Frühjahr, nur die Nächte waren kalt. Der indianische Sommer lag über der schweigenden Wildniß.
Nach 10 Tagen hatte er 90 Meilen zurückgelegt. In der folgenden Nacht fiel Schnee. Er mußte die Fässer abladen, die Räder vom Wagen ziehen, diesen auf Kufen setzen, und er verlor zwei ganze Tage mit dieser Arbeit, denn er war noch immer äußerst matt.
Die Reise ging jetzt etwas langsamer. Der tiefe Schnee machte sie überaus beschwerlich. Aber am meisen griffen ihn die Nächte an. Die Aufregung ließ ihn nur wenig schlafen, und auch dann war ihm der Schlaf keine Erquickung. Wilde, beängstigende Träume weckten ihn oft plötzlich und trotz des gewaltigen Feuers, das er immer sogleich bei anbrechender Dunkelheit anzündete, zitterte er beim Erwachen an allen Gliedern vor Frost.
Sein Herz klopfte immer gewaltiger, je näher er seiner Gegend kam. Er dachte oft nicht anders, als es wolle ihm die Brust zersprengen. – Hoffte er noch? –
Wenn nicht ein Wunder geschehen war, so mußte er an seinem Blockhause fünf halbverweste Leichname antreffen! – Er schauderte. Er bemühete sich, die Zeit zu vergessen. Er wollte, er konnte so Gräßliches nicht denken. Er trieb den halbgebrochenen Klepper mit neuem Ungestüm an. Vorwärts! – Er hoffte noch!
Am vierundzwanzigsten Tage nach seinem Aufbruche von Homesmill und am achtundsechzigsten nach seiner Abreise von zu Hause erblickte er die beiden gewaltigen Zuckerahornstämme, die er selbst mit der Axt gezeichnet hatte. Er befand sich endlich auf eigenem Grund und Boden.
Ein paar Schritte noch, und er trat aus dem Walde auf die von ihm selbst geklärte Bodenstrecke, auf der sein Haus stand. Aber er riß den Gaul zurück, der jetzt ungeduldiger war, als sein Herr, und hielt still. Seine Brust wagte wie die eines mit dem Tode Kämpfenden, und er hielt sich das Gesicht mit beiden Händen zu. –
Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 530. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_530.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)