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Das Kirchenlied in Estland

2006, Musik und Kirche, 3

Sven Hiemke: Bachs musikalischer Umgang mit dem Teufel E inen historischen Überblick über das Kirchenlied in Estland und Livland zu geben ist aus mehreren Gründen schwierig. Ein erstes Hindernis stellt die Forschungssituation dar, die sich seit Ende des 19. Jahrhunderts herausbildete. Zuerst waren hier baltendeutsche Forscher tonangebend – mit ihrem einseitig nationalen und konfessionellen (d. h. evangelisch-lutherischen) Blickwinkel. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts versuchte sich die neue estnische Geschichtschrei- von Thomas Siitan bung von der früheren deutschbaltischen abzugrenzen, was aber Die Esten hatten und haben es schwer zu einer eigenen ebenfalls eher nationalistisch geriet, nationalen Identität im Kirchengesang zu kommen. Das da man die Stellung der lutherischen Luthertum und die in Estland stark vertretene BrüdergeKirche und Geistlichkeit tendenziös meine waren untrennbar mit Deutschland verbunden, die dem Finnischen verwandte estnische Schriftsprache darstellte oder zu übergehen versuchsetzte sich erst im 19. Jahrhundert durch. So ist es zweite. Während der sowjetischen Okku- felhaft, ob man heute von einem „Estnischen Kirchenpation blieb das kulturhistorische For- lied“ sprechen kann. schungsfeld, soweit es Kirche und Religion betraf, aus ideologischen Gründen fast völlig ausgeblendet. Ein zweites Forschungshindernis, besonders hinsichtlich der früheren baltischen Kulturgeschichte, war die Quellenlage. Unter den vielen Kriegen, die Estland und Livland durch die Jahrhunderte heimsuchten, litt das Quellenmaterial. Liturgische Bücher fielen politischen Umbrüchen, die dem Land neue kirchliche bzw. staatliche Ideologien aufzwangen, zum Opfer. So liegt die Geschichte des hiesigen katholischen Kirchengesangs im Dunkeln. Mit den gregorianischen Handschriften, die sich noch in estnischen Archiven befinden oder aus Estland stammen, befasste vor dem Zweiten Weltkrieg gründlicher nur der deutschbaltische Forscher Elmar Arro (1899–1985). Im Jahre 1939 siedelte er nach Deutschland über. Von den Quellen abgeschnitten, verfasste er mit Hilfe vor dem Krieg gesammelter Materialien in den 1970er-Jahren eine umfangreiche Monographie Geschichte der baltischen Kirchenmusik und geistlichen Tonkunst2, die allerdings unveröffentlicht blieb. In der bisherigen estnischen Literatur dominiert die Ansicht, dass die ersten estnischen Übersetzungen der deutschen Kirchenlieder erst im Jahre 1637 erschienen.3 Die ideologischen Vorurteile ließen uns bisher auch die Rolle Toomas Siitan (* 19??), 1981 Kompoder gegenreformatorischen Politik in Livland beim Werdegang nistendiplom, promovierte in Lund (Schweden) über die Geschichte des der estnischen Schriftsprache sowie des estnischen Kirchenlieds protestantischen Kirchengesangs in nicht objektiv bewerten. Beispielsweise hatten die Jesuiten im Estland und Livland, seit 1986 Dosüdestnischen Dorpat/Tartu, das Ende des 16. Jahrhunderts zur zent für Musikgeschichte an der EstPolen gehörte, im Bereich der volkssprachlichen Bildung vor den nischen Musikakademie, 2004 Proprotestantischen Schweden in Nordestland einen großen Vor- fessor, Präsident der Gesellschaft für sprung. Das erste bekannte gereimte estnische Gesangbuch Musikwissenschaft und der Gesellschaft für Hymnologie, seit 1990 (1656) sowie die erste nordestnische Übersetzung des Neuen auch als Dirigent tätig, Leiter des VoTestaments (1715) nennen beide als Vorbild die Institutiones Est- kalensembles „Studio Vocale“, seit honicae4 von Wilhelm Buccius, die u. a. estnische gereimte Ver- 1994 Künstlerischer Leiter des Festise mit Noten beinhalten. Dieses Buch, von dem heute leider kein vals für Alte Musik in Haapsalu. Exemplar mehr erhalten ist, wurde im Jesuitenkolleg zu Dorpat Das Kirchenlied in Estland 169 170 Thema: Kirchenmusik im Baltikum Der Dom in Tallinn (o.), Gottesdienst in der Petri-Kirche in Tartu (r.) (Photos: Naatan Haamer) 1 Gekürzte Fassung eines Vortrags auf der Arbeitstagung der Internationalen Arbeitsgemeinschaft für Hymnologie in Tartu, 8. August 2005. 2 Elmar Arro: Geschichte der baltischen Kirchenmusik und geistlichen Tonkunst. Versuch einer musikhistorischen Rekonstruktion, Schreibmaschinen-Manuskript [Wien]. 3 Heinrich Stahl: Hand- und Hauszbuch [...] für das Fürstenthumb Esten in Liffland, 4 Bände, Reval 1632– 1638; „Ander Theil” desselben von 1637 ist ein Gesangbuch „zusampt den Collecten und Praefationen”, das 144 deutsche Kirchenlieder mit estnischen Prosaübersetzungen enthält. [4] Gedruckt in Braunsberg 1622, offensichtlich identisch mit dem Buch Institutiones aestonicae catholicae, Braunsberg 1623. [5] Catechismus Catholicorum, Vilnius 1585. 6 Siehe dazu: Paul Johansen/Heinz von zur Mühlen: Deutsch und undeutsch im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Reval, Köln 1973, S. 354–357. herausgegeben. Es war aber offensichtlich nur eine überarbeitete Neuauflage eines Katechismus in südestnischer Sprache, den Thomas Busaeus 1585 im Dorpater Kolleg herausgab.5 Dieser wiederum – ebenfalls verschollen – soll auch ein Gesang- und Gebetsbuch gewesen sein und wenigstens zehn estnische Kirchenlieder beinhaltet haben. Allerdings soll der Pastor der Heiliggeistkirche zu Reval, Reinhold Beseler, schon in den 1540er-Jahren mit Hilfe eines jungen Esten versucht haben, ein „undeutsches” (d. h. estnisches) Evangeliums- und Gesangbuch zu verfassen.6 Heinrich Stahls Prosaübersetzungen protestantischer Kirchenlieder ins Estnische waren eher für den häuslichen Gebrauch gedacht. Das erste kirchliche Gesangbuch mit gereimten estnischen Versen (Neu Ehstnisches Gesangbuch) erschien im Jahre 1656. Es enthielt 241 Lieder, darunter Übersetzungen aus dem Deutschen, Schwedischen und Finnischen, nebst Originalliedern der vier deutschen geistlichen Herausgeber des Buches, das zum „Vater“ aller späteren Gesangbücher Estlands wurde. Eine Geschichte des estnischen Kirchenliedes steht bis heute aus. Den besten Überblick bietet das Vorwort des lutherischen Gesangbuchs (Uus lauluraamat) von 1899. Obwohl lückenhaft und voreingenommen, ging es 1991 als Faksimile in das neue Gesangbuch der Estnischen Evangelisch-Lutherischen Kirche ein (Kiriku laulu- ja palveraamat). Auf dem Felde des Kirchenliedes waren die Esten hauptsächlich Entleiher und Übersetzer. Ein Grund mag darin liegen, dass sich die estnische Schriftsprache erst Mitte des 19. Jahrhunderts durchsetzte – zu einer Zeit also, als das Kirchenlied-Repertoire schon bestand (vornehmlich aus deutschen Übersetzungen). Da die Kirchenlieddichtung des 19. Jahrhunderts ohnehin gegen die Verskunst früherer Jahrhunderte abfiel, hatten die ambitionierten estnischen Dichter des frühen 20. Jahrhunderts für die Gattung des Kirchenlieds nur ein spöttisches Lächeln übrig. Thema: Kirchenmusik im Baltikum Kirchenmusik und Kirchenmusikforschung in Estland seit 1990 Der Umbruch im staatlichen und kirchlichen Leben Estlands vor fünfzehn Jahren brachte wesentliche Veränderungen in der Einstellung gegenüber der Kirche und der Kirchenmusik mit sich. Blieb doch die Kirche und alles was dort stattfand ein halbes Jahrhundert lang vor der Öffentlichkeit verborgen und im Prinzip fast gänzlich verboten. Deshalb ist es verständlich, dass in den ersten Jahren der wiedererrungenen Freiheit das Interesse der Menschen für geistliche und Kirchenmusik explosionsartig anstieg. Nehmen wir als Beispiel das erste nationale Sängerfest seit Wiederherstellung der Eigenstaatlichkeit. Haupt- und Pflichtstück der beteiligten Chöre war Urmas Sisasks Eesti Missa (Estnische Messe). Damals, im Jahr 1992, fanden hunderte von Cyrillus Kreeks bis dahin unbekannten Bearbeitungen volkstümlicher Choralweisen Eingang ins Repertoire vieler estnischer Chöre und Ensembles. Zugleich fühlten sich viele Komponisten, die dem Genre früher fernstanden, von geistlichen Themen inspiriert. Bildlich ausgedrückt: Kirchenmusik wuchs über die Grenzen ihres „natürlichen Umfelds“ hinaus – von der Kirche in die Konzertsäle und auf die Sängerwiesen. Neben ihrer traditionellen Funktion, den Gottesdienst zu begleiten und auszuschmücken, band und spiegelte sie auch das Nationalempfinden und die Freiheitsgefühle der Esten. Im Laufe der darauffolgenden Jahre ließ die Neugier der Öffentlichkeit jedoch nach. Die Kirchenmusik zog sich wieder zurück auf ihr angestammtes Terrain. Dagegen entwickelte sich die kirchenmusikalische Forschung in umgekehrter Richtung. Im Laufe der Jahre stieg die Zahl der Artikel und wissenschaftlichen Arbeiten, die sich mit unserer Kirchenmusik beschäftigen, langsam aber stetig. 2003 verteidigte Toomas Siitan seine Dissertation Die Choralreform in den Ostseeprovinzen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die erste Doktorarbeit auf diesem Felde. In unserem Kulturund Geistesleben wird die Kirchenmusik wieder wahrgenommen. Allerdings gibt es keinen Grund, im Estland des 21. Jahrhunderts von einer homogenen Glaubenslandschaft samt zugehöriger liturgischer Gesangstradition zu sprechen. Neben der traditionell größten und einflussreichsten evangelisch-lutherischen Kirche existiert eine Vielzahl anderer Kirchen, Gemeinden und Glaubensgemeinschaften, die in immer klareren Abgrenzungen ihre Tätigkeit aufgenommen haben. Darunter solche, die sich zur Sowjetzeit entweder versteckten oder noch gar nicht nach Estland vorgedrungen waren. In den Jahren der ersten Selbstständigkeit Estlands (1918–1939), als es auf dem Gebiet der musikalischen Ausbildung hauptsächlich um Professionalisierung sowohl in der Komposition als auch in der Aufführungskunst ging und die Entwicklung einer nationalen Musik die tragende Idee der Musikkultur war, blieb die Kirchenmusik meist außerhalb des Interessengebietes der über Musik schreibenden Autoren. Während der sowjetischen Okkupation wurde die Erforschung der Kirchenmusik und zumal die Veröffentlichung entsprechender Texte bekanntermaßen behindert. Die in dieser Zeit verfassten Übersichtsdarstellungen Eesti Muusika I und II (1968, 1975), welche die Zeitspanne vom „frühen Feudalismus“ bis zum Ende der „bürgerlichen Zeit“ betrachteten, kamen natürlich nicht am musikalischen Geschehen in den Kirchen und am Entstehen größerer geistlicher Werke vorbei. Beide Teile berichteten hauptsächlich über das Konzertleben der Kirchen(chöre), aus der „bürgerlichen Periode“ wurden auch wichtigere geistliche Werke analysiert. 1971 (1994 verbessert und erweitert) erschien zudem Hugo Lepnurms Buch Oreli ja orelimuusika ajaloost (Zur Geschichte der Orgel und der Orgelmusik) mit historischem Überblick über das Orgelrepertoire und die Orgellandschaften des Ostseeraums. Die nach Wiedererlangung der Selbstständigkeit erste ernst zu nehmende Publikation zur Kirchenmusik ist das Buch Protestantlik kantoriinstitutsioon Tallinnas 16.–17. sajandil (Die protestantische Kantoreninstitution in Tallinn im 16.–17. Jahrhundert) von Heidi Heinmaa (1999). Sie zeigt das Tallinner Kantorat als Institution, welche Schule, Kirche und Stadtgesellschaft miteinander verband. Ihre Publikation ist die erste, die zur Erforschung der Kirchenmusik eine strukturgeschichtliche Methode anwendet, wobei die damalige Ideenwelt, soziale Aspekte, Komponisten und Werke in ihrem Wechselverhältnis sichtbar werden. Am gründlichsten hat Toomas Siitan im Bereich „Kirchenmusik in Estland“ zur Geschichte der lutherischen Choralbücher geforscht. Neben zahlreichen Artikeln erschien 2003 auf Basis seiner Doktorarbeit seine erste Monographie (Die Choralreform in den Ostseeprovinzen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Bonn 2003). Sie konzentriert sich auf die Choralreform von Punschel, die der Autor in profan- wie kirchen- und kirchenmusikgeschichtlichen Kontext setzt. Anu Kõlar (Aus dem Estnischen von Gerhard Lock Textredaktion: Lutz Lesle) 171 172 Thema: Kirchenmusik im Baltikum Idyll: Die Kirche von Väile-Maarja (Klein-Marien) in Nordwest-Estland (Photo: Naatan Haamer) 7 Vgl. dazu Jaan Kiivit: Von der Estnischen Evangelisch-Lutherischen Kirche, in: Lutherische Begegnung im Ostseeraum, hrsg. von Wilhelm Kahle, Gütersloh 1982, S. 129–153. 8 Choral-Buch enthaltend alle zu dem Gesangbuche der Evangelischen Brüder-Gemeinen vom Jahre 1778 gehörige Melodien, hrsg. von Christian Gregor, Leipzig 1784 (DKL 178403). 9 Evangelisches Choralbuch zunächst in Bezug auf die deutschen, lettischen und esthnischen Gesangbücher der russischen Ostsee-Provinzen, hrsg. von Johann Leberecht Ehregott Punschel, Leipzig 1839. 10 Choralbuch zum Gebrauche für die Orgel und das Pianoforte. Enthaltend Kirchen-Melodien für Deutsche und Ehstnische Kirchen-Gesangbücher, so wie auch für Dr. K. C. Ulmanns geistliche Lieder-Sammlung, hrsg. von Johann August Hagen, Reval [1845]. 11 Toomas Siitan: Zwei konkurrierende Universal-Choralbücher für die baltischen Provinzen in der Mitte des 19. Jahrhunderts, in: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie, Bd. 37 (1998), S. 167–178. Zudem barg das Kirchenlied für die erste Dichtergeneration estnischer Zunge einen Identitätskonflikt. Seit Beginn der Eigenstaatlichkeit im Jahr 1918 stand die Evangelisch-Lutherische Kirche Estlands vor der Aufgabe, sich ein nationales Gesicht zu geben. Als sie sich 1917 als freie Volkskirche der Esten konstituierte, bekam sie nicht nur die Kirchenfeindlichkeit der jungen estnischen Intelligenz zu spüren, sondern auch das Misstrauen des Volkes. Als Estland und Livland nach dem Nordischen Krieg 1721 dem Russischen Reich zufielen, blieben beide Gebiete noch über ein Jahrhundert rein lutherisch. In den 1830er Jahren erreichte die erste Welle der Russifizierung die Ostseeprovinzen, verbunden mit der Nötigung, zum „rechten Glauben“ überzutreten. So bekam die angestammte evangelisch-lutherische Kirche eine ungebetene Schwester: die für die hiesige Gesellschaft neue russisch- bzw. griechisch-orthodoxe Kirche. Für die Landbevölkerung vertraten beide Kirchen eine fremde Herrschaft: die lutherische diejenige der baltendeutschen Gutsherren, die orthodoxe die des Russischen Zarenreichs. Für viele Esten blieb die lutherische Kirche, deren Geistliche vorwiegend Deutsche waren, eine deutsche, mithin eine „Herrenkirche“. Entsprechend doppelsinnig klingt das estnische Wort „sakstekirik“.7 Im Schatten der beiden „Herrschaftskirchen“ siedelte sich eine dritte Glaubensgemeinschaft an: die Herrnhuter Brüdergemeine. Bereits in den 1730er Jahren, bald ihrer Gründung im sächsischen Herrnhut, wanderten die ersten Glaubensbrüder in die Ostseeprovinzen ein. Obwohl von 1743 bis 1817 amtlich verboten, gedieh ihre Arbeit insgeheim fort. Die Herrnhuter förderten die musikalische Erziehung (besonders in den livländischen Bauernschulen) und den Gemeindegesang der evangelisch-lutherischen Kirche. 1740 erhielt das Reval-Estnische Gesangbuch einen Anhang Herrnhutischer Lieder. In Livland waren die Gesangbücher der Brüdergemeine lange Zeit neben den kirchlichen Gesangbüchern in Gebrauch. Große Bedeutung zumal in den Landgemeinden erlangte auch das Choralbuch der Brüdergemeine von Christian Gregor.8 Im Jahre 1839 erschien aber dann das Reform-Choralbuch von Punschel,9 das die weit verbreiteten Melodievarianten der Brüdergemeine ignorierte und in Livland, später auch in Estland, zur amtlichen Norm wurde. Demgegenüber brachte das Choralbuch von Johann August Hagen, 1845 in Reval/Tallinn als Alternative zu Punschels Choralbuch verfasst,10 fast ausschließlich Melodievarianten aus dem Choralbuch der Brüdergemeine. Beide Choralbücher vertraten Mitte des 19. Jahrhunderts die zwei Richtungen der Choralreform.11 Ihre kulturelle Identität mussten die Esten irgendwo im Spannungsdreieck zwischen der russischen Macht, der baltendeutschen Kultur und ihrem eigenen Volkstum suchen – eine Situation, die sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts zuspitzte, als die russische Staatspolitik den Druck auf die erwachenden Nationalbewegungen des Baltikums erhöhte. Zur selben Zeit bildeten sich gewisse „Eigenmythen“ der Esten heraus, darunter die Vorstellung einer „700-jährigen Knechtschaft“. In den zwanziger Thema: Kirchenmusik im Baltikum Kirchenmusikalische Aus- und Fortbildung in Estland Die größte Glaubensgemeinschaft Estlands ist die Estnische Evangelische Lutherische Kirche (EELK) mit 165 Gemeinden. Da die kirchenmusikalische Arbeit oft auf mehrere Häupter verteilt ist, lässt sich schwer sagen, in wie vielen Gemeinden wie viele „richtige” Kirchenmusiker oder -musikerinnen tätig sind. Während Tallinn über fünf hauptamtliche Stellen verfügt, sind die meisten Positionen im Lande nebenamtlich oder ehrenamtlich besetzt. Oft leiten ortsansässige Musiklehrer oder -lehrerinnen den Kirchenchor und spielen sonntags die Orgel im Gottesdienst. Schon 1953 gründete Domorganist Hugo Lepnurm (1935–1999) eine Kirchenmusik-Abteilung am Theologischen Seminar der EELK. Viele Theologen und Kirchenmusiker erhielten dort ihr musikfachliches Rüstzeug. Von 1991 bis 1999 absolvierten 22 Kandidaten den kirchenmusikalischen Ausbildungsgang des Seminars. Nach Jahrzehnten der Behinderung kirchlicher Arbeit stieg das Interesse an kirchenmusikalischer Fachkompetenz in den 1990er-Jahren enorm. Verschiedene neue Ausbildungsstätten entstanden. Als die Kirchenmusikschule der EELK 1999 aus finanziellen Gründen geschlossen wurde, mussten etliche junge Musiker ihr Studium abbrechen. Einige nutzten „kompensierende” Kursangebote des Kirchenmusikverbands. Seit 1995 bietet die Estnische Musikakademie (seit 2005 Estnische Musik- und Theaterakademie) zwei Studiengänge an, die zum B- bzw. AExamen führen. Derzeit sind fünf Studenten für Kirchenmusik als Hauptfach eingeschrieben. Orgel- und Schulmusikstudenten können Kirchenmusik im Nebenfach studieren. Das B-Examen vermittel seit 1994 auch das Kulturkolleg in Viljandi (seit 2005 Viljandi Kulturakademie der Universität Tartu). Im Sommer 2001 wurde zudem am Theologischen Intitut der EELK eine Kirchenmusik-Abteilung eröffnet. Dort studieren die zukünftigen „Arbeitskollegen”, also Pastoren und Kirchenmusiker, unter einem Dach. Gemeinsam besuchen sie Vorlesungen und Seminare, gemeinsam absolvieren sie gottesdienstliche Praktika. Nur wer die Kindermusikschule erfolgreich durchlief, eine Grundausbildung im Klavierspiel vorweist und die allgemeine Musiklehre beherrscht, wird zur Aufnahmeprüfung zugelassen. Diese betrifft die Fächer Gehörbildung, Klavier und/oder Orgel und Gesang. Die Studierenden erhalten Einzelunterricht in Orgelliteraturspiel, li- turgischem Orgelspiel, Klavier, Gesang, Generalbass-Praxis. Die Unterweisung in Gehörbildung, Musiktheorie/Tonsatz, Chorleitung, Chorsingen und Klavierbegleitung geschieht im Gruppenunterricht. Der Vorlesungsplan umfasst Hymnologie, Liturgik, liturgisches Singen, Einführung in die Theologie, Bibelkunde, allgemeine Kirchengeschichte, estnische Kirchengeschichte, allgemeine Musikgeschichte, estnische Musikgeschichte, Chorliteratur, Chormethodik, Orgelliteraturkunde, Orgelkunde, Musik und Kirche sowie Gemeindearbeit. Als Lehrkräfte wirken hauptberufliche Kirchenmusiker, Fachlehrer und Theologen mit pädagogischer Erfahrung. Das Ausbildungsangebot des Theologischen Instituts (TI) umfasst sowohl D- und C-Kurse als auch Weiterbildungskurse. Der D-Kurs wendet sich an Personen, die ins Kirchenmusikstudium einsteigen möchten. Viele von ihnen sind schon ohne entsprechende Qualifikation in der musikalischen Gemeindearbeit tätig. Der D-Kurs dauert zwei Jahre. Für die C-Prüfung sind zwei weitere Studienjahre erforderlich (mit jeweils 20 Unterrichtswochen). Interessenten des C-Kurses haben die Möglichkeit, an einem einjährigen Einführungskurs teilzunehmen. Das Studium erfolgt in „Sessionen”. Pro Jahr gibt es zehn drei- bis viertägige Unterrichtsphasen. An den Weiterbildungsangeboten sind auch Gastdozenten aus Deutschland beteiligt. Zu den Lehrkräften zählen Heli Jürgenson, Marika Kahari, Marje Tralla, Ene Salumäe und Toomas Trass. Leiterin der Kirchenmusikabteilung des TI ist im laufenden Studienjahr Tiia Tenno. Das Kirchenmusikstudium ist sehr kostenintensiv. Ein Studienplatz kostet im Jahr etwa 30.000 EEK (2.000 EUR). 20% davon sollen die Studenten mit einer Studiengebühr selbst aufbringen. Die Arbeit der Kirchenmusikabteilung des TI wird unterstützt von der Finnischen Kirche und aus Deutschland vom Nordelbischen Kirchenamt, vom Verband der Evangelischen Kirchenmusiker und der Aktion „Chöre helfen Chören” des Verbandes evangelischer Kirchenchöre. Die estnischen Kirchenmusiker sind überaus dankbar für die finanzielle Unterstützung ihres Studiums, die von verschiedenen Organisationen in Estland und von ausländischen Institutionen geleistet wird. Ohne diese Hilfe wäre die Arbeit der letzten Jahre nicht möglich gewesen. Kersti Petermann (Textredaktion: Lutz Lesle) 173 174 Thema: Kirchenmusik im Baltikum Singen als nationales Lebenselixir Die Esten gelten als ein Volk von Sängerinnen und Sängern. Ihr schon 1869 erstmals veranstaltetes Sängerfest ist heute einer der Höhepunkte im Jahreslauf der kleinen Nation. Mehr als 30.000 Sängerinnen und Sängern wirken mit, mehr als 200.000 Zuschauer kommen zur großen Konzertmuschel am Rande der Hauptstadt Tallinn. Immer war das gemeinsame Singen auch ein Akt des Widerstandes gegen die Besatzer, zuletzt gegen die Sowjets, die 1988 gewaltfrei aus dem Land gesungen wurden. (Photos: Ivar Kadak [l.], Ants Liigus [r.]) Mailen Sie uns Ihre Meinung zu diesem Artikel: forum@musikundkirche.de, Veröffentlichung im „Forum“ unter www.musikundkirche.de Gibt es überhaupt ein estnisches Kirchenlied? Lutherische Choräle gelten heute als „estnisch geistliche Volklieder“ und dreißiger Jahren geriet dieser Mythos zum Klischee estnischer Geschichtsschreibung. Mit unverhohlener Abneigung gegen die baltendeutsche Bildungsschichte erklärte man das kirchliche Musikleben zum Pfahl im Fleische der estnischen Musikkultur. Erst in den letzten 15 Jahren bemüht sich eine neue Generation einheimischer Musikhistoriker um eine Neubewertung der Kulturbeziehungen. Obwohl Estland schon seit dem 16. Jahrhundert ein größtenteils lutherisches Land war, fällt es schwer, von einer „religiösen Identität“ der Esten zu sprechen. Christlichkeit findet hier auch heute, nach dem Untergang der Brüdergemeine und ihrer (der einheimischen Bevölkerung so wesensnahen) „naiven“ Frömmigkeit im 19. Jahrhundert, keinen breiten Boden – nicht nur eine Folge der sowjetischen Okkupation mit ihrem total atheistischen Bildungssystem und ihrer staatlichen Kontrolle über die Kirche, sondern auch der überaus verwickelten Geschichte der geistlichen Kultur Estlands. Angesichts der Tatsache, dass das einheimische Repertoire lutherischen Kirchengesangs bis heute nur eine geringe Rolle spielt, fragt es sich, ob man überhaupt vom estnischen Kirchenlied und Choralgesang sprechen sollte oder nicht eher nur vom Kirchenlied in Estland. Immerhin entdeckte die junge Generation der Esten auf ihrer Identitätssuche vor etwa 15 Jahren die kaum erforschte Tradition des volkstümlichen Choralgesangs. Häufig werden diese Gesänge als „estnische geistliche Volkslieder” bezeichnet, obwohl ihre Texte aus lutherischen Gesangbüchern stammen und ihre Melodien volkstümlich verzierte Varianten herkömmlicher Choralme- Thema: Kirchenmusik im Baltikum lodien vorwiegend deutscher Herkunft sind. Bei estnischen Chören sind die Bearbeitungen dieser Gesänge von Cyrillus Kreek (1889–1962) derzeit sehr beliebt. Noch Anfang der 1980er-Jahre waren sie so gut wie unbekannt. Das evangelisch-lutherische Gesangbuch von 1991 enthält zwar nur ein einziges, dafür aber hochgeschätztes Lied mit einer volkstümlich verzierten Melodie: Paul Gerhardts „Wach auf, mein Herz, und singe”. Das Gesangbuch der estnischen Baptisten, Methodisten und Pfingstgemeinden,12 welches sechs Jahre später erschien, enthält schon acht solch volkstümlicher Lieder. Die Geschichte gibt uns Stützpunkte, die wir bewahren wollen, damit die Wunden, die uns die Geschichte geschlagen hat, allmählich verheilen können. Wahrscheinlich verbirgt sich gerade in den volkstümlichen Chorälen ein geistesgeschichtlicher Kompromiss, eine Versöhnung des Eigenen mit dem Fremden: Die schönsten deutschen Kirchenlieder erklingen auf Estnisch. Dabei wird die Geschichte unserer Schriftsprache lebendig – in den Übersetzungen der gebildeteren deutschen Geistlichen, auf die sich die hiesige muttersprachliche Schulbildung Jahrhunderte lang stützte. Die ursprünglichen Melodien der protestantischen Kirchenlieder erfuhren Umformungen, die das Volk bewahrte und weitersang. Vielleicht ein „Friedensschluss“, auf dem etwas Neues wachsen kann. (Textredaktion: Lutz Lesle) 12 Vaimulikud laulud, Tallinn 1997. 175