Editorial: Corona-Splitter
David Tréfás*
* Universitätsbibliothek
Basel,
david.trefas@unibas.ch
Am 16. April 2020 gelangten wir mit folgender kurzen Mail an unsere Autorinnen und
Autoren:
Liebe 027.7-Autorinnen und Autoren,
wir hoffen, es geht Ihnen gut. Seit einigen Wochen lebt praktisch die ganze Welt
im Lockdown. Neben vielen anderen Geschäftsbereichen sind vielerorts auch
die Bibliotheken bzw. Hochschulen geschlossen. Kongresse, Treffen, Weiterbildungen und vieles mehr wurden abgesagt. Und jede Bibliothek, jedes Institut
scheint sich in dieser Zeit alleine zurecht finden zu müssen.
Wir von 027.7 möchten gerne die unterschiedlichen Erfahrungen zusammenbringen und unsere Autorinnen und Autoren dazu anregen, ihre Situation in
wenigen Zeilen zu schildern. Wir stellen uns ein Heft voller Beiträge von der
Länge von nur einer A4-Seite vor, ein Panoptikum der Bibliotheken, und wie sie
sich während der Pandemie organisieren. Für einmal wünschen wir also keine
wissenschaftlichen Abhandlungen, sondern Erfahrungsberichte.
Wir freuen uns, wenn wir zeitnah (bis in zwei Wochen) einige Beiträge sammeln
und publizieren können.
Mit freundlichen Grüssen
Die Frist war sehr knapp bemessen, und obwohl wir uns ein „Panoptikum“ erhofft hatten,
waren wir uns bewusst, dass sich die allgemeinen Erwartungen an das Home Office, wonach
Arbeitnehmer sehr viel Zeit für sich hätten, nicht bewahrheiten würden. Dennoch haben
uns drei Beiträge erreicht, die alle persönliche Erfahrungen während der Pandemiezeit zum
Thema haben:
• Karsten Schuldt, Bibliothekswissenschaftler in Chur und daher nicht direkt in einer
Bibliothek arbeitend, fühlte sich in die Zeit seiner Promotion versetzt, in der das
Selbstorganisieren mittels Rituale gelingen sollte. Dazu gehört der morgendliche Post
von Bibliotheksgeschichte, eine Tugend aus der Not geboren, die aber erquickende
Einsichten ermöglicht, auch wenn die Recherche für sein zu schreibendes Buch über
Bibliotheken warten muss.
• Frank Seeliger fragt sich in seiner kleinen Bibliothek in Wildau, was eine Bibliothek
ohne Kunden tun kann. Freudig wird die Zeit für Projektarbeiten benutzt, die Telearbeit
birgt Vorteile, aber die persönlichen Gespräche bleiben etwas auf der Strecke. Ist die
Lösung in dieser hybriden Bibliothek auch ein hybrides Arbeiten?
1
027.7 Zeitschrift für Bibliothekskultur 7(1), S. 1–2. ISSN: 2296-0597
• Eindrücklich kurz beschreibt Michael Franke-Maier mittels einer selbsterklärenden
Funktionsgrafik den Verlauf des Arbeitens im Quarantänemodus, wobei es sich vor
allem um das wichtigste Elixier in diesen Zeiten dreht – es sei denn, man trinkt lieber
Tee.
Die Fragen, die wir unseren Autorinnen und Autoren gestellt haben, bewegen viele Bibliotheken, so auch die UB Basel, an der die Herausgeber dieser Zeitschrift arbeiten. Obwohl die
Sammlung der Reflexionen über die Angebote und die Arbeitsorganisation hausintern erst
angelaufen ist, zeigt das Stimmungsbarometer eine interessante Tendenz, die man in etwa
so zusammenfassen könnte: Wir befinden uns mitten in einem Transformationsprozess mit
offenem Ausgang. Dank des plötzlichen Eintauchens grosser Teile der Bibliothekarinnen
und Bibliothekare in die digitale Arbeitswelt gewinnen Aussagen über den Stand dieses
Transformationsprozesses jedoch eine neue Tiefe. Und schon erscheint eben dieser Transformationsprozess nicht mehr als unaufhaltsamer und alternativloser Übergang von der analogen
in die digitale Welt. Es scheint vielmehr, dass beide Welten durch den neu angesammelten Erfahrungsschatz entzaubert wurden, sowohl die Kritiker der Digitalisierung als auch
die Förderer sind gleichermassen eines Besseren belehrt worden. Dies zeigt sich an Hand
verschiedener Beispiele.
Richten sich Bibliotheken normalerweise nach den Gesetzen des Publikations- und Dienstleistungsmarkts, so konnte der Markt die sprunghaft steigende Nachfrage nach digitalen Produkten nicht sofort und in genügendem Ausmass befriedigen. Zwar waren einige „Goodwill“Angebote wirklich eine grosse Hilfe, um den vor verschlossenen Bibliothekstoren und hinter
verschlossenen Wohnungstüren stehenden Benutzerinnen und Benutzern Zugang zu benötigter Literatur zu verschaffen. Eine ganze Reihe von Angeboten erwiesen sich jedoch als
unausgereifte Geschäftsmodelle in neuer Verpackung, was letztlich davon zeugt, dass der
Markt auf wackligem Fundament steht.
Auch die digitalen Arbeitsmethoden konnten die analoge Welt nur teilweise ersetzen. ZoomMeetings erwiesen sich als erstaunlich stabil, und doch begannen vielen nach einer gewissen
Zeit die Kolleginnen und Kollegen zu fehlen.
Nicht jedes Management war zudem auf die plötzliche Dringlichkeit des Home Office vorbereitet. Vorstellungen darüber, was die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu Hause während
der Arbeitszeit wirklich tun, mussten den Realitäten weichen. Während sich manche Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vor dem Arbeiten zu Hause fürchteten, konnten es andere
kaum erwarten. Der Erfolg von Home Office-Modellen aber scheint stark an persönliche
Erfahrungen und Lebensumstände gebunden zu sein, so dass sich nach einigen Wochen ein
uneinheitliches Erfahrungsbild abzeichnet. Was technisch machbar ist, muss nicht unbedingt
auch mit den Lebensumständen korrespondieren. Trotzdem möchten viele die Möglichkeit
nicht mehr missen. Und einer Kollegin stellte sich die bange Frage: Sind diejenigen, die im
Home Office keine Arbeit hatten auch diejenigen, deren Arbeitsplätze durch die fortschreitende Digitalisierung gefährdet sind?
Alles in allem birgt die Pandemieerfahrung auch all jenen, die glücklicherweise gesund
geblieben sind, eine Ausnahmeerfahrung und bietet Möglichkeiten für neue Reflexionen.
Unsere Theorien über die Zukunft der Branche und der Arbeitswelt wurden einem Test
unterzogen. Wir hoffen, dass die Antworten unserer Autoren Sie zum Nachdenken anregen!
CC-BY
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