Arbeit und Ethnograie
im Zeitalter des digitalen Kapitalismus
Andreas Wittel
1
Arbeit
Für Karl Marx ist Arbeit bekanntlich einer der Grundbegrife seiner Philosophie.
Arbeit ist für ihn nicht nur eine wirtschatliche, sondern eine menschliche Tätigkeit. Sie ist eine Universalkategorie der menschlichen Existenz und ist als solche
unabhängig von speziischen sozialen und ökonomischen Formen. „Die Arbeit ist
zunächst ein Prozess zwischen Mensch und Natur, ein Prozess, worin der Mensch
seinen Stofwechsel mit der Natur durch seine eigene Tat vermittelt, regelt und
kontrolliert“ (1985: 192). Im Unterschied zur Arbeit verweist der Arbeitsprozess
auf wirtschatliche und soziale Besonderheiten, auf je speziische Produktionsformen. Transformationen von Arbeitsprozessen sind dann immer auch Transformationen von Gesellschaten und Ökonomien. Insbesondere unterscheidet
Marx kapitalistische von feudalistischen Produktionsformen. Auf diese Weise
lässt sich plausibel zeigen, dass der kapitalistische Arbeitsprozess weder notwendig noch unvermeidlich ist und in einer zuküntigen neuen Phase überwunden
werden kann.
Im Vergleich mit dem feudalistischen Arbeitsprozess arbeitet er zwei zentrale
Phänomene des kapitalistischen Arbeitsprozesses heraus: Der Arbeiter arbeitet
unter der Kontrolle des Kapitalisten, dem seine Arbeit gehört. „Der Kapitalist
paßt auf, daß die Arbeit ordentlich vonstatten geht und die Produktionsmittel
zweckmäßig verwandt werden … Zweitens aber: das Produkt ist Eigentum des
Kapitalisten, nicht des unmittelbaren Produzenten, des Arbeiters. Der Kapitalist
zahlt z. B. den Tageswert der Arbeitskrat“ (1985: 199 f.). Damit sind zwei Formen
von Entfremdung thematisiert, zum einen die Entfremdung vom Produkt der eigenen Arbeit und die damit einhergehende Unfähigkeit, eben die Dinge, die die
Arbeiter selbst produziert haben, für ihren Lebensunterhalt zu verwenden,1 zum
1
Diese erste Form der Entfremdung hat ein Jahrhundert später Karl Polanyi (2001) aufgegrifen
und als den Beginn der ,great transformation‘ markiert.
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Andreas Wittel
anderen die Entfremdung von der Organisation des Arbeit, die im Kapitalismus
von den Besitzern der Produktionsmittel vorgegeben wird.
Marxistische Analysen von Arbeit sind in den Sozialwissenschaten lange Zeit
unterentwickelt geblieben. Dies änderte sich erst in den 1970er-Jahren, als erst
Harry Braverman (1974) und kurze Zeit später Michael Burawoy (1979) Pionierarbeit leisteten und mit ihren Untersuchungen eine langjährige Debatte zum Arbeitsprozess angestoßen haben, die dann in den späten 80er- und in den 90erJahren merklich verebbte. Marxistische Analysen von Arbeit machten Platz für
poststrukturalistische und kulturwissenschatliche Perspektiven. Marx wurde
vorgeworfen – sicherlich zu Recht –, die subjektiven wie auch die kulturellen Dimensionen des kapitalistischen Arbeitsprozesses unterschätzt zu haben.
Aber auch die Entwicklungen und Umwälzungen von kapitalistischer Produktion haben eine Abkehr von Marx nahegelegt. Schließlich war dessen Prognose eines Klassenkampfes zwischen den Kapitalisten (= Eigentümern von Produktionsmitteln) und den in Ketten gelegten Lohnabhängigen immer weniger
wahrscheinlich. Schon Burawoy (1979), der in dem selben Chicagoer Betrieb
Feldforschung machte wie schon eine Generation vor ihm Donald Roy (in den
1940er-Jahren), hat mit reichem ethnograischen Material beschrieben, wie die
Arbeitsbeziehungen zwischen Kapitalisten und Lohnabhängigen in diesem Betrieb im Verlauf einer Generation von eher konliktbezogenen und zwangshaten
Formen zu eher konsensorientierten Formen übergingen.
Diese Herstellung von Konsens hat seitdem eher zugenommen und wurde
über verschiedene Strategien gefördert. Erstens über Mitsprache und Mitbestimmung. Hier haben Prozesse von Selbstorganisation und Gruppenarbeit den Weg
für größere Entscheidungsspielräume seitens der Lohnabhängigen geebnet. Zweitens haben unternehmenskulturelle Initiativen Identiikationsangebote geschafen
und emotionale Anbindungen an den Betrieb erhöht. Drittens haben Informations- und Kommunikationstechnologien weichere, sauberere – und was jedoch
umstritten ist: kreativere – Formen von Lohnarbeit hervorgebracht. Diese Entwicklungen sind, ganz in der Tradition poststrukturalistischen Denkens, äußerst
ambivalent. Dies zeigt sich deutlich in den Debatten zu governmentality, zur Subjektivierung von Arbeit und zum unternehmerischen Selbst (Miller / Rose 1990;
Voß / Pongratz 2003; Bröckling 2007; Jurczyk et al. 2009). Machtstrukturen sind
weithin unsichtbar geworden. Wenig überraschend ist in diesem Zusammenhang
der eher resignative Befund von Zygmund Bauman:
„While all the agencies of political life stay where ,liquid modernity‘ times found them,
tied as before to their respective localities, power lows well beyond their reach. Ours is
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an experience akin to that of the airline passengers who discover, high in the sky, that
the pilot’s cabin is empty“ (Bauman 2000: 133).
Dass Marx’ politische Ökonomie dennoch relevant geblieben ist oder wieder relevant wurde, ist angesichts der tiefen Krise der kapitalistischen Produktionsweise
wenig verwunderlich: Viele der Pathologien, die neoliberale Ideologien und ein
ungezügelter Kapitalismus hervorgebracht haben, lassen sich nicht ohne Rekurs
auf das theoretische Besteck der politischen Ökonomie erklären. Warum leben
immer mehr Menschen in den sogenannten post-industriellen Nationen in prekären Verhältnissen und permanenter Unsicherheit ? Warum hat sich das Kapital
verselbstständigt ? Wie kommt es, dass das reichste eine Prozent der Weltbevölkerung einen Anteil von über 40 Prozent am gesamten globalen Reichtum verbuchen kann ? Warum ist die soziale Ungleichheitsschere in den letzten drei Jahrzehnten so radikal auseinandergegangen, wo Lohnabhängige doch genau in dieser
Periode einen Anstieg an Mitbestimmung und an Selbstorganisation erfahren
haben ? Welchen Zusammenhang gibt es zwischen exzessiver Anhäufung von globalem Reichtum in den Händen einer kleinen Elite und dem exzessiven Anstieg
von sowohl privaten als auch öfentlichen Schulden für den Rest der Menschheit ?
Zu all diesen Fragen lohnt sich eine Rückkehr zu Marx.
Weniger ofensichtlich ist jedoch die Frage, welche Impulse von Marx in der
heutigen Zeit für ethnograische Arbeitsforschung ausgehen können.2 Hilfreich
und produktiv erscheint mir hier ein Verweis auf die erste Form von Entfremdung, also auf die Entfremdung der Arbeiterin vom Produkt ihrer Arbeit und auf
die damit einhergehende Unfähigkeit, die Sicherung der eigenen Existenz über
die Produkte der eigenen Arbeit gewährleisten zu können. Aus zwei Gründen
rückt Lohnarbeit stärker ins Zentrum der Analyse. Zum einen ist Lohnarbeit eben
charakteristisch für den speziischen (= kapitalistischen) Arbeitsprozess, der die
Ursache ist für die von Marx beschriebene Entfremdung der Arbeiterin vom Produkt der Arbeit. Zum anderen ist Lohnarbeit eine (ebenfalls historisch speziische) Ursache für Ausbeutung und Mehrwertproduktion.
Eine neue Kritik von Lohnarbeit und Arbeitsvertrag scheint unumgänglich.
Hierzu gibt es bereits vielversprechende Vorlagen, sowohl von einer historischen
(Steinfeld 2001) wie auch von einer rechtsphilosophischen (Ellerman 1992) Per-
2
Es geht mir natürlich keinesfalls darum, marxistische gegen poststrukturalistische Ansätze auszuspielen. Im Gegenteil, notwendig ist eine verstärkte Integration beider Ansätze, und hierzu ist
schon viel Arbeit geleistest worden – vor allem in Kreisen um die italienische Operaismo Schule
(Negri / Lazzarato / Virno 1998).
62
Andreas Wittel
spektive. „Capitalism is capitalist,“ schreibt Ellerman (1992: 93 – 94), „not because
it is private enterprise or free enterprise, but because capital hires labor rather
than vice-versa. hus the quintessential aspect of our economy is neither private
property nor free markets but is that legal relationship wherein capital hires labor,
namely the employer-employee relationship.“ Lohn, so argumentiert Ellerman, ist
nichts anderes als Miete, als angemietete Arbeit, und degradiert so Menschen zu
Objekten.
Es stellt sich nun die Frage, ob es möglich ist, Formen von ethnograisch fundierter Kritik an Lohnarbeit zu entwickeln. Empirische Studien, die ich hierzu
kenne (Stahl 2008; O’Neil 2009; Coleman 2009) sind bislang dünn gesät und
nicht unbedingt ethnograisch im klassischen Sinn. Allerdings ist zu erwarten,
dass solche Studien im Umfeld der jüngst gegründeten Zeitschrit ,Critical Studies in Peer Production‘3 einen breiten Raum einnehmen werden. Überlegungen
hierzu bleiben vorerst notwendigerweise abstrakt.
Ziel dieses Beitrags sind Erörterungen zum Verhältnis eines Forschungsgebiets (Arbeit) mit einer sozialwissenschatlichen Methode (Ethnograie). Dieses Verhältnis, das lange Zeit als eher unproblematisch galt, ist inzwischen in
verschiedener Hinsicht neuen Herausforderungen ausgesetzt. Globalisierungsprozesse, digitale Medien, immaterielle Arbeit und Netzwerkstrukturen legen es
nahe, einige zentrale Grundannahmen von Arbeitsethnograie zu überdenken. Im
Zentrum dieses Beitrags steht eine Diskussion dieser Herausforderungen. Einige
beziehen sich lediglich auf die Schwierigkeiten, eine vor über einem Jahrhundert
entwickelte Methode unter stark veränderten Bedingungen überhaupt erst zur
Anwendung zu bringen. Andere Herausforderungen sind mehr als nur methodischer Natur: sie thematisieren die soziale Relevanz des Forschungsdesigns. Dies
bedeutet: Manchmal ist Ethnograie der Ausgangspunkt meiner Argumentation,
manchmal ist es Arbeit.
2
Ethnograie von Arbeitswelten
Was macht eine Ethnograie zu einer Ethnograie von Arbeit ? Diese Frage ist
schwer zu beantworten. Ofensichtlich gehören hierzu Ethnograien, die in solchen Forschungsfeldern operieren, in denen Arbeit in institutionelle Strukturen
eingebettet und organisatorisch geregelt ist, also in der Landwirtschat, im Berg3
Zu Informationen hierzu siehe http: / / cspp.oekonux.org / , zu peer production s. a. die Informationen im letzten Abschnitt des Beitrags.
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bau, in Fabriken und Büros, im Dienstleistungsbereich, in Krankenhäusern, Altenheimen, psychiatrischen Kliniken, Polizeistationen und Gefängnissen. Hierzu
gehören aber auch Ethnograien von Berufsgruppen, Schichten, Industriesektoren
oder Feldern wie etwa die Kulturindustrien oder die neuen Medien. Hierzu gehören Arbeitslose und all diejenigen, die extrem marginalisiert arbeiten: Obdachlose,
Prostituierte, Drogendealer und Kriminelle. Ethnograie von Arbeit ist zweifellos
ein weites Feld. Hinzu kommen zwei Probleme, die eine Eingrenzung dieses offenen Feldes noch weiter erschweren. Zum einen ist Arbeit, wie von Marx bereits
herausgearbeitet, ein unverzichtbarer Teil menschlicher Existenz. Es ist demnach
schwierig, sich eine Ethnograie zu einer bestimmten Gruppe (einer Gemeinde,
einer Subkultur etc.) vorzustellen, der es gelingt, Arbeit weitgehend auszublenden. Zum anderen hat sich Arbeit im Spätkapitalismus sowohl räumlich wie auch
zeitlich entgrenzt. Letztendlich kann man die Frage nur redundant beantworten:
Arbeitsethnograien sind solche Ethnograien, die sich für Arbeit interessieren.
Umgangen habe ich bislang die Frage nach der Deinition von Ethnograie. Diese Strategie der Vermeidung möchte ich auch weiterhin beibehalten. Der
Grund für diese Zurückhaltung liegt darin, dass der Begrif der Ethnograie eine
enorme Expansion erfahren hat, in verschiedenen akademischen Disziplinen je
unterschiedlich angeeignet wurde, und eine Anzahl von Neuinterpretationen
hervorgebracht hat (etwa ,Autoethnograie‘ oder ,virtuelle Ethnograie‘), die nur
noch wenig gemein haben mit dem Verständnis der ,Väter‘ dieser Methode, etwa
dem von Franz Boas oder Bronislaw Malinowski. Hier Position zu beziehen und
richtige Ethnograie von falscher Ethnograie zu trennen, macht meines Erachtens wenig Sinn. Anstrengungen, die Reinheit einer Methode zu gewährleisten,
würden dann privilegiert gegenüber Anstrengungen, eine sich dramatisch verändernde Welt zu verstehen.
Stattdessen wähle ich ein umgekehrtes Verfahren. Anstatt den Begrif der
Ethnograie mit einer Deinition fest zu zimmern, unternehme ich im Folgenden den Versuch, einige der Grundannahmen von ethnograischer Forschung in
Frage zu stellen. Ethnograie, so meine Konstruktion aus vier Grundannahmen,
ist demnach eine Methode, die erstens auf Feldforschung basiert, die zweitens soziale Interaktion untersucht, die dies drittens mit teilnehmender und kopräsenter
Beobachtung erreicht, um viertens eine existierende Kultur zu verstehen. Dies ist
eine von mir konstruierte Deinition mit dem alleinigen Ziel, sie zu dekonstruieren. Sie mag nicht völlig unumstritten sein, aber sie ist in dieser oder ähnlicher
Form in unzähligen Handbüchern sozialwissenschatlicher Methodenlehre zu inden. Diese vier Grundannahmen werden im Folgenden am Beispiel von Arbeits-
64
Andreas Wittel
forschung genauer inspiziert. Im letzten Teil dieses Kapitels komme ich zurück zu
den Potenzialen und Problemen einer ethnograischen Kritik von Arbeit.
2.1
Feld 4
Noch in den 50er- und 60er-Jahren, zu Beginn seiner Karriere, so Cliford Geertz
(1995: 43), sei das Konzept kulturanthropologischer Forschung recht klar gewesen: „they have a culture out there and your job is to come back to tell us what it
is“. Dieses Konzept ist den Praktikern der Disziplin abhanden gekommen – teilweise durch theoretische, teilweise durch praktische Entwicklungen: Die Zielgesellschaten modernisierten und diferenzierten sich, gleichzeitig intensivierten
sich die Außenbeziehungen der jeweils analysierten ‚Kultur‘ – medial, telekommunikativ, ökonomisch, durch Migration oder forschende sowie reisende Fremde.
‚Kultur‘, so lautet eine Bilanz der seit den 50er-Jahren geführten Debatten, ist nunmehr auch an einem Ort nur noch im Plural zu inden. Erstaunlich ist indes, dass
erst seit den 1980er-Jahren intensiver über die methodischen Implikationen dieser
Veränderungen diskutiert wird. Denn schließlich entschwindet mit der Pluralisierung der Kultur auch die Fiktion des ‚Feldes‘ als unproblematisch gegebenes
Forschungsareal, dessen Grenzen Kultur als Singularität räumlich klar umschlossen hat.
Erste Überlegungen zu möglichen Konsequenzen setzten die US-amerikanischen Anthropologen George Marcus und Michael Fischer (1986) in Gang, indem
sie hervorhoben, dass transnationale politische, ökonomische sowie kulturelle
Kräte lokale und regionale Welten erheblich stärker als bislang mitkonstituieren.
Ethnograie sollte daher multilokal angelegt werden, um diesen Veränderungen
und der Tatsache Rechnung zu tragen, dass Menschen und Objekte nicht mehr
primär an einem Ort, sondern meist in Bewegung sind. Deshalb sei es vonnöten,
sich verstärkt der Reise und den Wanderungsbewegungen zuzuwenden (Cliford
1997).
Dass diese methodische Diskussion erst mit solcher Verspätung gegenüber
der theoretischen Auseinandersetzung mit den Folgen von Dekolonialisierung,
Modernisierung und Globalisierung ernsthat begonnen wird, muss ebenso wie
4
Die Überlegungen in diesem Teilkapital sind nicht neu. Ich habe sie vor über einem Jahrzehnt
zusammen mit Stefan Beck veröfentlicht (Beck / Wittel 2000). Die zentralen Argumente sind
meines Erachtens noch immer gültig und sind hier nochmals zusammengefasst – zumeist in zitierender Form.
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die gegen diese Vorschläge einer Modiikation der Forschungspraxen gerichteten
Konservierungsappelle (etwa Geertz 1998) als Symptom dafür interpretiert werden, dass die Konzeption des ‚Feldes‘ eine zentrale orientierende und identiikatorische Funktion für die Ethnowissenschaten hat. Dies gilt sowohl für das traditionelle Verständnis des Feldes als homogenes, mit Dauerhatigkeit ausgestattetes
raumzeitliches Kontinuum wie auch für revidierte Konzeptionen des Feldes, wie
sie in der modernen Kulturanthropologie, der Volkskunde oder der feldorientierten Soziologie der Chicago-Schule Anwendung inden.
Die Schärfe der vorgetragenen Kritik gegenüber Vorschlägen zur Revision
des Feldbegrifs verweist darauf, dass sehr wirksame, implizite Vorannahmen in
Bezug auf die Bedeutung des Feldes in den verwandten Disziplinen Kulturanthropologie, Volkskunde und feldorientierter Soziologie in Frage gestellt sind – eine
Doxa, die etablierte Praxen reguliert und deiniert, wer als legitimer Praktiker der
betrefenden Disziplinen gilt.
Diese Doxa ist zwar nicht ausschließlich, aber doch entscheidend durch ein
naturalistisches Erbe geprägt. Denn in ihrer Vor- und Übergangsgeschichte zu
einer wissenschatlichen Disziplin wurde die Kultur- und Sozialanthropologie
ab Mitte des 19. Jahrhunderts von einer Generation naturwissenschatlich ausgebildeter Akademiker geprägt, die mit der Forderung nach detaillierten Studien
räumlich eng begrenzter Gebiete eine Methodik aufgrifen, die sich etwa in der
Biologie durch die Einrichtung von Feldobservatorien in den 1870er-Jahren bereits bewährt hatte.
Im Gegensatz zu den bis dahin dominanten Analysen von Tier- und Planzenpräparaten – also dekontextierten Objekten –, die von Gewährspersonen in die
Universitäten geliefert wurden, wurde in der Biologie das Studium der jeweiligen Spezies in ihrem natürlichen Habitat – ihre Untersuchung als kontextierte
Organismen – zunehmend als die überlegene Forschungsmethode angesehen.
Beispielhat für den bedeutenden Einluss des naturalistischen Positivismus für
die Entwicklung des Feldforschungsparadigmas in der frühen britischen Sozialanthropologie war etwa der Naturwissenschatler A. C. Haddon, der seit Anfang
der 1890er-Jahre maßgeblich an der Konzeption der Expedition in die Torres
Straße beteiligt war, die 1898 von Sozialanthropologen aus Cambridge unternommen wurde. Haddon (1896) insistierte etwa, dass ein Anthropologe nur durch
direkte, langdauernde Beobachtung in einem eng begrenzten Gebiet fremde Kulturen verstehen könne.
Die Übernahme des in den 1870er-Jahren entwickelten Feldforschungsparadigmas zog jedoch als neue Wissenschatspraxis für alle beteiligten Disziplinen
die Notwendigkeit zu teilweise radikalen Umstellungen nach sich, die wiederum
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Andreas Wittel
zu einer Stabilisierung dieser Datenerhebungspraxis führte. Besonders wirksam
und deshalb traditionsbildend waren die mit der methodischen Forderung nach
Feldforschung verknüpften Umbrüche. Das ‚Feld‘ wurde hierbei zu einem obligatorischen Passagepunkt sowohl für einzelne Forscher wie auch für die Disziplin
der Kultur- oder Sozialanthropologie insgesamt. ,Richtige‘ ethnograische Forschung war durch einen längeren Aufenthalt in einem Feld gekennzeichnet, das
geograisch, sozial sowie kulturell idealerweise eine maximale Distanz zur Heimat
des Forschers aufweisen konnte. Es ist hierbei die zeitweise überwundene Distanz
zu einem exotischen Feld, mittels derer der Forscher seine privilegierte Augenzeugenschat antreten konnte. Je entlegener das Feld, desto größer der Ruhm.
Es ist sicher nicht zu bestreiten, dass diese privilegierte Augenzeugenschat
durch dauerhate Nähe zu den Bewohnern des jeweiligen Feldes eine hervorragende Erkenntnismethode darstellt. Hinzuweisen ist jedoch darauf, dass teilnehmende, ansässige Beobachtung des Feldes angesichtige, raumzeitlich abgeschlossene Beziehungen privilegiert, während andere, weniger lokalisierte Beziehungen
tendenziell aus dem Sichtfeld ausgeblendet werden (Gupta / Ferguson 1997). Dies
wird vor allem dann zum Problem, wenn der Forscher selbst auf eine dauerhate
Ansässigkeit verplichtet ist, seine Forschungssubjekte jedoch teilweise hochmobil
sind. Wird unter diesen Umständen das klassische Feldforschungsparadigma
dogmatisiert, wird der Grundgedanke, der der Feldforschung zugrunde liegt, aufgegeben. Das Konzept der Feldforschung lässt sich zu nehmend nur noch durch
teilweisen Verzicht auf Feldforschung und eine Intensivierung der Erforschung
von Netzen realisieren.
2.2
Teilnehmende und kopräsente Beobachtung
Ebenso wie dem Feld kommt dem Topos der ,teilnehmenden Beobachtung‘ für
die Bestimmung von ethnograischen Verfahren ein zentraler Stellenwert zu.
Während jedoch die Idee des Feldes, wie eben dargestellt, in den letzten Jahrzehnten sowohl theoretisch als auch methodologisch immer mehr unter Beschuss geraten ist, gilt dies nicht für den Topos der ,teilnehmenden Beobachtung‘.
In gewissem Sinn war diese Formulierung schon immer ein Problem. Schließlich ist wirkliche Teilhabe ot nicht möglich. Je fremder das Forschungsfeld, desto
schwieriger ist es logischerweise für die Ethnograin, sich soweit zu integrieren,
dass echte Teilnahme möglich ist. Ot ist es deshalb richtiger und bescheidener,
von einer ,dabeistehenden Beobachtung‘ zu sprechen.
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Dies ist allerdings eher eine Frage von terminologischer Etikette und keine
grundlegende Infragestellung des Dabei-Seins. Genau dieses Dabei-Sein wird seit
der Etablierung von Ethnograie als deren methodischer Kern gesehen. So schreiben etwa Klaus Amann und Stefan Hirschauer (1997: 21), dass das „kultursoziologische Verständnis von der Gelebtheit kultureller Ordnungen ein weiteres Charakteristikum von ethnographischer Praxis (ist): die anhaltende Kopräsenz von
Beobachter und Geschehen.“ Amann und Hirschauer beleuchten zwei Dimensionen von Kopräsenz, eine räumliche und eine zeitliche Dimension, Gleichörtlichkeit und Gleichzeitigkeit.
Es stellt sich nun die Frage, wie Forderungen nach gleichörtlichen und gleichzeitigen Forschungen in postmodernen (oder spätkapitalistischen oder informationsgesellschatlichen) Kontexten umgesetzt werden können. Nach Fredric Jameson (1991) etwa ist in frühkapitalistischen Gesellschaten das Globale noch direkt
aus dem Lokalen erschließbar – eine perfekte Bedingung für Ethnograie. Dies
habe sich im Spätkapitalismus jedoch entscheidend verändert. Nun ist das Lokale
kurzlebig und vergänglich geworden und das Globale unsichtbar. David Harvey
(1989) charakterisiert Postfordismus mit dem Begrif der ,time-space compression‘,
in dem Krisen unberechenbar und launisch geworden sind, und unterscheidet dies
vom fordistischen ,time-space displacement‘, in dem Krisen entweder exportiert
oder aufgeschoben wurden. ‚Time-space compression‘ bezieht sich auf Technologien (vor allem Kommunikationstechnologien), die beschleunigende Wirkungen
haben und zeitliche Diferenzen schwinden lassen. Anthony Giddens (1990) hat
für nachmoderne Gesellschaten einen ähnlichen Begrif geprägt, den der ‚timespace distanciation‘. Damit konstatiert er eine Situation, in der alltägliches Leben
seine lokalen Anbindungen verliert. Für Manuel Castells (1996) schließlich sind
in der Informationsgesellschat Orte abgelöst worden durch Flüsse, und digitale
Technologien produzieren eine Form von Unmittelbarkeit, die zu zeitloser Zeit
führt und die Geschichte auflöst.
Nun sind diese vier Befunde, die ich hier viel zu grob verkürzt habe, keinesfalls deckungsgleich. Allerdings sind sich all diese Befunde darin einig, dass das
Lokale nicht nurmehr lokal ist, und dass wirtschatliche und technologische Prozesse unser Verständnis von Räumlichkeit und Zeitlichkeit tiefgreifend transformieren.
In diesem Transformationsprozess wird es zunehmend schwieriger, das Credo
von Kopräsenz (von Forscherin und den Erforschten) für ethnograische Praxis
aufrechtzuhalten – sowohl in Bezug auf Gleichörtlichkeit wie auch in Bezug auf
Gleichzeitigkeit. Nirgends tritt dieses Problem deutlicher zutage als im Bereich
der ethnograischen Arbeitsforschung.
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Andreas Wittel
Dies möchte ich anhand von zwei Entwicklungen verdeutlichen, am Beispiel
von immaterieller Arbeit und am Beispiel von medialisierter Interaktion und
Kommunikation. Michael Hardt und Antonio Negri (2000) vertreten die hese,
dass immaterielle Arbeit das zentrale Element ist, um die Logik von globaler kapitalistischer Herrschat zu verstehen. Mit dem Konzept der immateriellen Arbeit verbinden sie einen marxistischen Ansatz mit der Analyse von Arbeit in der
Informationsgesellschat. Immaterielle Arbeit ist solche Arbeit, die immaterielle
Produkte hervorbringt, also etwa Wissen, Information, Kommunikation, Afekte
und Beziehungen. Diese Form der Arbeit hat laut Hardt und Negri in den letzten
Jahrzehnten nicht nur rapide zugenommen, vielmehr steht sie im Zentrum und
hat Formen materieller Arbeit an die Ränder des ,Empire‘ verdrängt.
Es stellt sich also die Frage, ob sich immaterielle Arbeit ebenso gut beobachten lässt wie materielle Arbeit. Schließlich wird sie in erster Linie nicht mit dem
Körper, sondern mit dem Kopf ausgeführt.5 Die relativierende Formulierung ,in
erster Linie‘ ist hier natürlich wichtig. Jede Form von Arbeit beansprucht Kopf
und Körper. Allerdings nimmt der Körper bei materieller Arbeit eine weit größere
Rolle ein als bei immaterieller Arbeit. Und dies gilt in umgekehrter Weise auch
für den Kopf. Donald Roy (1960) hat wunderbar gezeigt, wie die manuellen und
hochgradig routinisierten Fließbandtätigkeiten den Kopf eben gerade nicht beanspruchen, sondern ihn frei machen für Gedanken, die mit dem Arbeitsprozess
selbst wenig zu tun haben. In starkem Kontrast hierzu indet analytische und intellektuelle Arbeit zu weiten Teilen im Kopf statt, zwar in permanenter Interaktionen mit entweder anderen Menschen oder mit Dingen (Texten, Bildern, Graiken,
Statistiken, Datensätzen), aber ein Großteil des Arbeitsprozesses indet im Gehirn
statt und ist nicht direkt beobachtbar. Auch in meinen eigenen ethnograischen
Forschungen hat sich gezeigt, dass die teilnehmende Beobachtung von immaterieller Arbeit weniger interessante Daten produziert als die Beobachtung materieller Arbeit. Dies bedeutet keinesfalls, dass Erforschung von immaterieller Arbeit
weniger ergiebig ist – es bedeutet lediglich, dass die Methode der teilnehmenden
Beobachtung an Grenzen stößt, die im Forschungsprozess natürlich umgangen
oder kreativ überwunden werden können.
5
Hier ist eine wichtige Einschränkung vonnöten. Dieses Problem stellt sich nicht für alle Bereiche
immaterieller Arbeit gleichermaßen, sondern nur für intellektuelle und analytische Arbeit. Affektiver Arbeit, etwa Arbeit in der Serviceindustrie (Verkäuferinnen, Frisöre, Bedienungen) und
anderen Formen von Kundenarbeit eignet sich ganz hervorragend für Beobachtung, schließlich
spielt hier der Körper eine ganz zentrale Rolle – man denke etwa an das Lächeln der von Arlie
Hochschild (1983) untersuchten Stewardessen.
Arbeit und Ethnograie im Zeitalter des digitalen Kapitalismus
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Der zweite Prozess, der kopräsente Beobachtung in zeitgenössischen Arbeitskontexten erschwert, ist die Medialisierung kommunikativer Arbeit. Zwar ist das
Phänomen einer medialisierten Kommunikation in Arbeitsprozessen nicht neu,
aber seit der digitalen Wende hat es erheblich zugenommen. Wiederum stellt sich
die Frage, wie dies die Möglichkeiten für teilnehmende Beobachtung beeinlusst.
Generelle Aussagen sind hier problematisch, denn die Möglichkeiten für teilnehmende Beobachtung hängen vor allem von den je speziischen Medien ab. Für die
Beobachtung eines Telefonats stellen sich etwa andere Herausforderungen als für
die Beobachtung einer E-Mail-Korrespondenz. Allerdings sind in beiden Fällen
Kopräsenz (im Sinne von Gleichörtlichkeit) nur noch eingeschränkt möglich.
Wiederum ist dies keineswegs ein Argument, dass Ethnograie im Kontext
von mediatisierter Kommunikation vor unüberwindlichen Hindernissen stehe.
Vielmehr sollte dies als eine Herausforderung begrifen werden, die kreativ umgangen werden kann – was allerdings zur Folge hat, dass das Ideal von Kopräsenz
aufgegeben werden muss. Für den Forschungsprozess und die dabei generierten
Ergebnisse ist dies zumeist auch nicht tragisch, denn die gleichzeitige Beobachtung etwa einer E-Mail-Korrespondenz liefert in der Regel selten bessere Forschungsdaten als eine Kopie derselben Korrespondenz, die der Ethnograin zu
einem späteren Zeitpunkt zugestellt wird. Der Punkt dieser Argumentation ist
lediglich, dass Kopräsenz in der alltäglichen Arbeitskommunikation inzwischen
nicht mehr der Normalfall, sondern fast schon der Idealfall ist.
Eine Reihe von Forschungsrichtungen sind an der Integration von Medien
(vor allem Informations- und Kommunikationstechnologien) im Arbeitsalltag
besonders interessiert und forschen hierzu ethnograisch. Zu nennen wären hier
etwa die Studien zur ,Computer Supported Cooperative Work‘ (CSCW), ,Science
and Technology Studies‘ (STS) sowie die ,Workplace Studies‘.6 Diese Forschungsrichtungen sind zum einen inspiriert von Bruno Latours Arbeiten zur ,ActorNetwork-heory‘, zum anderen von Lucy Suchmans (1987) Konzept der ,situated
actions‘. Viele dieser Studien – soweit man dies in der hier erforderlichen Kürze
überhaupt verallgemeinern kann – sind inspiriert von einer eher ethnomethodologisch ausgerichteten Ethnograie. Dieser speziische und sehr detaillierte Fokus
auf Interaktionen zwischen arbeitenden Menschen, aber vor allem auch auf die Interaktionen zwischen Menschen und Computern (und anderen Medienobjekten)
hat zahlreiche Innovationen hervorgebracht – sowohl im Bereich der Erforschung
von Netzwerken als auch im Bereich mikrosoziologischer Studien. Der Vorteil
6
Siehe zu Workplace Studies Knoblauch und Heath (1999), zum Stand des STS-Diskurses Ilyes
(2006) und zu CSCW sowie generell zum hema ‚Studies of Work‘ Bergmann (2005).
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Andreas Wittel
dieser Studien – die fast schon mikroskopische Erforschung der Interaktion zwischen Menschen und technologischen Objekten – ist zugleich auch ein Nachteil
für ethnograische und Medien einbeziehende Arbeitsforschung. Denn in diesen
Ansätzen werden Medien zwar kontextualisiert, allerdings um den Preis einer ot
dekontextualisierten Arbeitsforschung. Hierzu mehr im nächsten Abschnitt.
2.3
Soziale Interaktion
Das dritte Charakteristikum ethnograischer Praxis ist eine Fokussierung auf
Menschen und die Beziehungen zwischen Menschen. Ethnograie ist eine Beobachtung von sozialer Interaktion oder, wie Amann und Hirschauer (1997: 24) resümieren: „Ethnographie ist die Teilhabe an der Inspektion sozialer Situationen.“
Im Unterschied zu ,Feld‘ und ,teilnehmender Beobachtung‘ liegt die Problematik
von ,sozialer Interaktion‘ an anderer Stelle. Das ‚Feld‘, das ja schon immer eine soziale Konstruktion war, wird durch eine Reihe von Transformationen immer mehr
dekonstruiert. Die Forderung von Kopräsenz von Ethnograin und den Ethnograierten ist nicht mehr zu halten, wenn zwischen den Ethnograierten selbst
Kopräsenz aufgegeben wird. ,Soziale Interaktion‘ hingegen ist nicht in Gefahr, in
irgendeiner Form aufgelöst zu werden.
Vielmehr ist dies ein Problem von Reichweite. Je mehr sich Ethnograie auf
soziale Interaktion konzentriert, desto mehr besteht die Gefahr, die politischen
und ökonomischen Kontexte, die soziale Interaktionen zumindest teilweise strukturieren, aus dem Blickwinkel zu verlieren. Am Beispiel von Arbeitsforschung:
Ethnograie von Arbeit, die sich auf die Erleuchtung sozialer Interaktionen festlegt, kann Arbeit nur in einem begrenzten Ausmaß analysieren. Arbeit wird hier
reduziert auf Arbeitsbeziehungen und auf die Organisation von Arbeit in speziischen Settings (Institutionen, Firmen etc.). Ausgeblendet werden dann all jene
externen Kräte, die etwa Arbeitsprozesse, Arbeitskonlikte und Produktionsmodi
zumindest teilweise strukturieren. Je mehr sich ethnograische Arbeitsforschung
auf soziale Interaktion beschränkt, desto weniger steht Arbeit selbst im Zentrum
der Analyse.
Genau diesem Punkt widmet Michael Burawoy viel Aufmerksamkeit. Am
Beispiel der Chicago School zeigt Burawoy (2000: 7 – 15) die Konsequenzen der
Verengung von ethnograischer Forschung auf soziale Interaktion. Demnach sei
die Chicago School zunächst durchaus mit der Ambition gestartet, ethnograische Forschung nicht auf lokale Kontexte zu beschränken. So sei der ,foundational classic‘ der Chicago School, homas und Znanieckis ,he Polish Peasant in
Arbeit und Ethnograie im Zeitalter des digitalen Kapitalismus
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Europe and America‘, eine vielversprechende globale Ethnograie. Erst unter der
Führung von Robert Park habe sich die Chicago School mehr und mehr auf die
ethnograische Erforschung lokaler Settings (Städte, Stadtteile, Firmen und Institutionen) beschränkt. Diese Entwicklung kulminierte in Studien, die soziale Interaktion selbst in lokalen Settings weitgehend dekontextalisierten. Hierfür stünden etwa die Arbeiten von Erving Gofman. „Closing ethnography of from its
context had the advantage that its claims could be generalised across diverse settings“ (Burawoy 2000: 14). Allerdings habe dieser Fokus auf menschliches Verhalten in abgeschlossenen Welten (Gefängnissen, psychiatrischen Kliniken etc.)
einen Preis: Die Kontrollsysteme, die ja zu beachtlichen Teilen menschliches Verhalten strukturieren, werden dann weithin ignoriert.
Ich möchte im Folgenden an zwei deutschsprachigen Klassikern zeigen,
warum die Einbeziehung von Kontext für Arbeitsforschung so produktiv ist. Siegfried Krakauer (1971) hat für seine Ende der 1920er-Jahre veröfentlichte Studie
,Die Angestellten‘ kein klassisch ethnograisches Vorgehen gewählt – zumindest
kein Vorgehen, das durch einen klar vorgegebenen Forschungsrahmen charakterisiert ist. Krakauer hat natürlich auch viele soziale Situationen analysiert, aber
hat daraus keinen Fetisch gemacht, sondern sie mit anderen Methoden der Datengenerierung verwoben. Das von ihm analysierte Material ist vielfältig und scheinbar zufällig – private Briefe, oizielle Firmendokumente, Zeitungsartikel, Arbeitsbekleidungen, Gespräche mit Angestellten in verschiedenen hierarchischen
Ebenen, und eine Fülle von Beobachtungen (sowohl in bürokratischen Institutionen wie auch außerhalb der Arbeitswelt). Es sind indes Lumpen, wie Walter
Benjamin so scharfsinnig im Nachwort dieser Studie angemerkt hat, die unbeachtet am Wegesrand liegen und von Krakauer aufgelesen und so verknüpt werden, dass eine kohärente Erzählung zur Mentalität von Angestellten in der Weimarer Republik entsteht. Die Verknüpfungen sind keinesfalls zwingend, aber es
sind genau diese riskanten Verwebungen von ,kleinen‘ Beobachtungen und der
Analyse von größeren Kontexten, die es möglich machen, so verschiedene Bereiche wie die quasi wurzellose, sich erst formierende Angestelltenmentalität mit
Bürokratisierung, der Taylorisierung und Sinnentleerung von Angestelltenarbeit,
dem Aufkommen der Unterhaltungsindustrie und dem Aufkommen von Faschismus in Verbindung zu bringen und so Krakauers Studie zu einem ethnograischen
Meisterwerk machen.
,Die Arbeitslosen von Marienthal‘, eine soziograische Studie zu den Folgen von Langzeitarbeitslosigkeit, ist ein weiteres Beispiel eines ethnograischen
Meister werks, bei dem die teilnehmende Beobachtung von sozialer Interaktion
keineswegs im Zentrum der methodischen Herangehensweise steht. Die von
72
Andreas Wittel
Marie Jahoda, Paul Lazarsfeld und Hans Zeisel (1975) in den 30er-Jahren durchgeführte Studie eines österreichischen Dorfes, das nach der Schließung einer Fabrik
mit Massenarbeitslosigkeit konfrontiert war, ist bahnbrechend aufgrund einer innovativen Verschränkung von qualitativen und quantitativen Methoden sowie
einer Verknüpfung von bereits vorgefundenen Materialien mit eigens für die
Studie erhobenen Daten. Für jede Familie in Marienthal hat das Erhebungsteam
einen Ordner angelegt, der dann mit verschiedensten Daten gespeist wurde, etwa
mit Daten von Haushaltserhebungen und Essenserhebungen, mit Fragebögen,
Daten zur Zeitverwendung, Interviews, informellen Gesprächen sowie solchen
Interaktionen zwischen dem Forschungsteam und den Erforschten, die durch
Hilfsleistungen des Forschungsteams in Gang gesetzt wurden. Um nämlich eine
nur scheinbar natürliche Interaktionen zwischen dem Forschungsteam und den
erforschten Familien zu erhöhen, hat das Team im Dorf Angebote etabliert, etwa
Erziehungsberatungen und Kurse im Bereich von Fitness und Kreativität. Dieses
Vorgehen, in vielerlei Hinsicht problematisch – die ,Wirklichkeit‘ im Dorf wurde
künstlich verändert; die Arbeitslosen wurden über die eigentlichen Absichten dieser Angebote nicht informiert – ist innovativ als eine Form von experimenteller
Ethnograie. Während also die Beobachtung der sozialen Interaktion zwischen
den Erforschten nicht zentral war für die Formulierung der Forschungsergebnisse,
kommt der Interaktion zwischen Forschern und Erforschten in der Tat zentrale
Bedeutung zu.
Bislang habe ich die Problematik von sozialer Interaktion vor allem hinsichtlich der Frage der Reichweite thematisiert. Eine zweite Problematik von ethnograischer Arbeitsforschung, die soziale Interaktion ohne Einbeziehung von Kontext
untersucht, bezieht sich auf die Potenziale für kritische Sozialforschung. Sicherlich, soziale Interaktion ist kritisierbar, es stellt sich jedoch die Frage, ob eine Kritik von Arbeit im digitalen Kapitalismus möglich ist, wenn ethnograische Forschung sich lediglich auf die Mikrowelt sozialer Beziehungen beschränkt. Am
Beispiel von actor-network-theory (ANT) lässt sich dieser Aspekt gut verdeutlichen. Bruno Latour (2005) plädiert dafür, die Soziologie des Sozialen durch eine
Soziologie der Verknüpfungen zu ersetzen, dies sind Verknüpfungen zwischen
Menschen einerseits und zwischen Menschen und Dingen andererseits. Die vor
allem von Durkheim beeinlusste Soziologie des Sozialen verwechsle, so Latour,
Ursache und Wirkung und operiere mit einer Vielzahl von abstrakten Begrifen,
die erklärend wirken sollen, die aber eigentlich der Erklärung bedürften. Diese
Begrife könnten nur dann erfolgreich erklärt werden, wenn die Spuren der Konstruktion dieser Begrife nachgezeichnet werden können. Es gelte also, solche Begrife nicht als gegeben vorauszusetzen, sondern sie zunächst einmal empirisch
Arbeit und Ethnograie im Zeitalter des digitalen Kapitalismus
73
zu legitimieren. Deshalb vermeidet ANT Begrife wie Gesellschat, Kultur, Macht,
Struktur, und Kontext, um nur einige zu nennen.
Latours Einwand ist sicherlich berechtigt. Allerdings hat seine Soziologie
der Verknüpfungen meines Erachtens einen teuren Preis: Kritik wird aufgegeben zugunsten von Analyse. Wo Gesellschat nicht ist, kann Gesellschat auch
nicht kritisiert werden. Verknüpfungen von Aktanten können nur beschrieben
und dann analysiert werden. Es macht schließlich wenig Sinn, diese Verknüpfungen einer Kritik zu unterziehen. Insofern ist eine von ANT inspirierte ethnograische Arbeitsforschung eher eine Analyse von Mensch-Objekt-Beziehungen (mit
viel Spielraum für die Analyse von menschlichem Eigensinn), denn eine kritische
Auseinandersetzung mit Arbeitsprozessen und der Organisation von Arbeit in
speziischen politischen, ökonomischen und technologischen Kontexten.
2.4
Kultur
Das vierte Charakteristikum ethnograischen Arbeitens ist ein Schwergewicht auf
kulturellen Fragestellungen und Erkenntnissen, siehe die bereits zitierte Anweisung von Cliford Geertz an Ethnografen, die ,culture out there‘ zu inden und
zu beschreiben. Dieser Schwerpunkt auf Kultur als Forschungsgegenstand gilt
sicherlich nicht für alle ethnograisch operierenden Schulen und Disziplinen gleichermaßen – die Manchester School of Social Anthropology7, aber auch generell
die britische Anthropologie etwa haben schon immer sozialen, politischen und
wirtschatlichen Fragestellungen den Vorzug eingeräumt. Dennoch ist es nicht
allzu verzerrend, die Gewichtung auf Kultur als eines der zentralen Elemente zu
sehen, die ethnograische Praxis etablieren und legitimieren.
Auf die Problematik des Kulturbegrifs als wirksame analytische Kategorie
ist mehrfach hingewiesen worden. Im Zuge der ,Writing Culture‘ Debatte (Clifford / Marcus 1986) wurde Kultur zunehmend politisiert und als neokoloniales Instrument problematisiert. Lila Abu-Lughod (1991) etwa sieht in Kultur ein wesentliches Werkzeug ,for making the other‘. Anstelle einer Beschreibung von ,den
anderen‘ würden diese durch ethnograische Praxis erst hergestellt. Sie plädiert
dafür, Homogenisierungen und Verallgemeinerungen aufzugeben, und stattdessen Geschichten über Individuen in bestimmten Räumen und Zeiten zu erzäh7
Eine gute Einführung (für Studierende von Studierenden) in die Arbeiten der Manchester
School hat Anna Schmidt hier erstellt: http: / / anthropology.ua.edu / cultures / cultures.php?culture=Manchester%20School.
74
Andreas Wittel
len. Ähnlich argumentiert Tim Ingold (1993): Die Übersetzungen, die westliche
Ethnografen vornehmen, um von nicht-westlichen Welten zu berichten, würden
nicht funktionieren. Um eine Ethnograie zu ermöglichen, die auf gegenseitigem
Verstehen basiert, müsse das Kulturkonzept aufgegeben werden. In der deutschen
Diskussion haben jüngst Chris Hann (2007) und Stefan Beck (2009) die wesentlichen Kritiken zusammengefasst und für die Abschafung des Kulturbegrifs plädiert.
Mein eigenes ,Unbehagen an der Kultur‘ bezieht sich in erster Linie weder
auf die mangelhate analytische Brauchbarkeit des Kulturbegrifs noch auf dessen
fragwürdige politische Implikationen – obwohl ich alle vorgebrachten Einwände
teile. Mein Unbehagen, fast noch schlimmer, zielt auf die Relevanz von Kultur als
Forschungsgegenstand im digitalen Kapitalismus.
Es gilt in den Sozial- und Humanwissenschaten als wenig umstritten, dass in
der zweiten Hälte des letzten Jahrhunderts ein sogenannter ,cultural turn‘ eingesetzt hat, ein turn also, der indiziert, dass die Relevanz von kulturellen Perspektiven, Konzepten und heorien zugenommen hat. Nun ist die Konstatierung
von turns immer problematisch und mehrdeutig, und es ist an diese Stelle nicht
möglich, auf die zahlreichen Versuche zur Bestimmung des cultural turn einzugehen. Mein eigenes Verständnis des cultural turn ist durch zwei Prozesse gekennzeichnet, erstens durch eine umgangssprachliche Ausweitung des Kulturbegrifs
von Hochkultur sowohl zu populärer Kultur wie auch zu dem anthropologischen
Verständnis von Kultur als ,way of life‘, zweitens durch die Schwächung von positivistischen Epistemologien und einer stärkeren Hinwendung zu Zeichen, Symbolen und Konzepten wie Interpretation, Bedeutung, Diskurs und Kommunikation.
Dieser cultural turn hat nicht nur die cultural studies als neue akademische
Disziplin hervorgebracht, sondern auch eine Vielzahl von bahnbrechenden theoretischen Konzepten, die innovative Zugänge ermöglichten, etwa für eine diskurs-basierte Machttheorie (Foucault), neue Formen von Klassen- und Gesellschatsanalyse (Bourdieu), politische Ökonomie (Baudrillard) und die Analyse
von Moderne und Postmoderne (Jameson).
Diese heorien haben über viele Jahrzehnte den sozial- und humanwissenschatlichen Diskurs entscheidend geprägt – und sie prägen ihn auch weiterhin.
Allerdings zeigen sich auch erste Risse im Gebälk des cultural turn. Erstens hat die
Disziplin der cultural studies – zumindest in ihren angelsächsischen Ursprungsländern eine Schwächung erfahren, zum einen durch eine Vielzahl von Schließungen akademischer Institute – das Centre for Contemporary Cultural Studies
(CCCS) in Birmingham, einst stolzes Flaggschif der cultural studies, steht hier als
Paradebeispiel – zum anderen durch eine seit den 90er-Jahren anschwellende Kri-
Arbeit und Ethnograie im Zeitalter des digitalen Kapitalismus
75
tik, die den cultural studies vorwirt, ihre Kritikfähigkeit aufgegeben zu haben und
stattdessen zu einem verlängerten Arm der creative industries avanciert zu sein
(hierzu etwa die Kritik von homas Frank 2001). Zweitens sind die oben erwähnten bahnbrechenden Kulturtheorien fast ausschließlich in den 60er-, 70er- und
80er-Jahren entstanden, während in den letzten zwei Jahrzehnten wenig kulturtheoretische Innovationen zu verzeichnen waren – dafür wurde, wie bereits beschrieben, umso mehr Kritik an der Brauchbarkeit des Kulturbegrifs als analytische Kategorie vorgetragen. Am wichtigsten ist vielleicht der dritte Riss: Während
Kulturtheorien in den letzten zwei Jahrzehnten nur bedingt neue Impulse erhielten, sind Informationstheorien in demselben Zeitraum von einer akademischen
Nische in den Mainstream eingedrungen. Die ,großen Erzählungen‘, die in den
letzten zwei Jahrzehnten geschrieben wurden (etwa Castells 1996, Hardt / Negri
2000 und Benkler 2006), thematisieren vor allem das Informationszeitalter. Es
scheint, als werde der cultural turn von einem neuen turn, dem digital turn, etwas
in den Hintergrund gedrängt.
In eben diesem Zeitraum haben sich eine Reihe von Krisen zugespitzt – alle
globaler Natur – und alle haben inzwischen bedrohliche Ausmaße erreicht mit
größtenteils unkalkulierbaren Folgewirkungen. Zu nennen wäre hier u. a. die
Schulden- und Finanzkrise, die Energiekrise (peak oil), die globale Ernährungskrise sowie verschiedene ökologische Krisen (allen voran natürlich Klimawandel). Es stellt sich meines Erachtens zu Recht die Frage, welchen Beitrag kulturwissenschatliche Forschung in solch einer Situation leisten kann. Sollte es schwer
werden, auf diese Frage gute Antworten zu inden, ist die hese eines Relevanzverlusts kulturwissenschatlicher Forschung zumindest erörterungswürdig. Im
letzten Abschnitt soll dieses Unbehagen an der Kultur stärker an ,Arbeit‘ und
,Lohnarbeit‘ angebunden werden. Zunächst jedoch eine abschließende Anmerkung zu Ethnograie.
3
Arbeit und Ethnograie im digitalen Kapitalismus
Um den Topos der Ethnograie rankt sich eine interessante Paradoxie: Auf der
einen Seite geraten, wie hier an vier Beispielen beschrieben, die klassischen Säulen ethnograischer Forschung in eine immer größere Schräglage, auf der anderen
Seite erfährt der Begrif der Ethnograie eine ungeheure Expansion. Je weniger die
klassische Festschreibung von Ethnograie plausibel bleibt, desto mehr erstreckt
sich der Begrif wie ein Pilz über immer weitere Bereiche empirischer Sozial und
Kulturforschung.
76
Andreas Wittel
In einer solchen Situation gibt es zwei Möglichkeiten, um auf diese Paradoxie
zu reagieren. Man spielt entweder Methodenpolizei und deiniert einen Rahmen
für ethnograische Forschung, um dann, gemäß der aufgestellten Kriterien, über
Zulassung oder Ausschluss richten zu können. Die polemische Formulierung dieser Variante lässt unschwer darauf schließen, dass ich ihr eher skeptisch gegenüberstehe. Die zweite Möglichkeit scheint mir produktiver: Man akzeptiert die
Expansion, die der Begrif erfahren hat. Dies führt bedauerlicherweise zu einer
Verwässerung des Begrifs. Allerdings lässt sich die zweite Variante auch positiv
formulieren: Ethnograie bewegt sich weg von einer speziischen Methode empirischer Sozialforschung und mutiert stattdessen zu einer heorie und Logik des Forschungsprozesses.
Eine solche Bestimmung eröfnet neue Potenziale zur Erforschung von Arbeit und zur Kritik von Lohnarbeit. Ein Großteil der ethnograischen Arbeitsforschung operiert in institutionellen Kontexten – Arbeit wird erforscht in Unternehmen, Fabriken, Betrieben und Büros. Dies sind die Orte von Lohnarbeit, also
genau der Form von Arbeit, die speziisch ist für den kapitalistischen Arbeitsprozess. Damit komme ich zurück zu meiner Ausgangsargumentation und den
Marxschen Formen von Entfremdung. Meines Erachtens wurde in ethnograischer Arbeitsforschung – zumindest in den letzten Jahrzehnten – nur die zweite
Form von Entfremdung thematisiert, also die Form von Entfremdung, die durch
fehlende Selbstorganisation der Arbeit verursacht wird.
Die erste Form der Entfremdung jedoch, die Entfremdung zum Produkt der eigenen Arbeit, ist aus dem Diskurs ethnograischer Arbeitsforschung schlicht verschwunden. Lohnarbeit und die mit ihr einhergehende Entfremdung der Arbeiterin vom Produkt der Arbeit unterliegt kaum ethnograischer Kritik, sie wird
vielmehr als natürlich und unvermeidlich akzeptiert. Dies war solange plausibel,
wie sich Arbeit als soziales Phänomen fast ausschließlich in klassischen organisatorischen Kontexten bewegt hat. Mit dem Aufkommen des social web formieren
sich jedoch Alternativen zum Lohnarbeitsparadigma. Solche Alternativen sind
sicherlich nicht neu, sie haben in Form von freiwilliger und gemeinnütziger Arbeit immer existiert, allerdings immer an den ökonomischen Rändern und immer
in einer Weise, die kapitalistische Lohnarbeit ergänzt hat, ohne jedoch in direkte
Konkurrenz zu ihr zu treten.
Mit der digitalen Wende und dem Aufkommen des social web hat sich eine
Alternative zur industriellen Produktion (einer Produktion für den Markt) formiert, die Yochai Benkler (2006) als ‚social production‘ bezeichnet. Benkler unterscheidet zwei Formen von social production, zum einen die ‚commons based
peer production‘, zum anderen ‚peer production‘. Erstere, die commons-based peer
Arbeit und Ethnograie im Zeitalter des digitalen Kapitalismus
77
production, ist dadurch charakterisiert, dass eine ot große Anzahl von Personen
sich einem gemeinsamen Projekt verschreiben und ohne klassische Befehlsstrukturen zusammenarbeiten, ot auch ohne inanzielle Kompensation. Beispiele für
commons-based peer production sind etwa Wikipedia oder die Open-Source Gemeinde. Demgegenüber basiert ,peer production‘ eher auf individuellen Handlungen, die keine Koordination mit anderen verlangen. Hierzu gehören etwa Texte,
Fotos, Filme und Musikstücke, die ins Netz gestellt werden. In beiden Fällen wird
nicht für den Markt produziert, sondern für das Gemeinwohl, und die erstellten
Produkte sind keine Waren, sondern Gemeingüter. Das Verhältnis von sozialer
Produktion zur Produktion für den Markt ist zu komplex, um in wenigen Zeilen
angemessen beschrieben zu werden. Allerdings ist es kein Zufall, dass mit dem
Aufkommen der sozialen Produktion die Kulturindustrien (Zeitungen, Verlage,
Musikvertrieb, Filmvertrieb etc.) immer stärker in die Krise geraten.
Unbestreitbar: Arbeit, die in soziale Produktion investiert wird, gewinnt zunehmend an Bedeutung, nicht nur an gesellschatlicher Bedeutung, sondern auch
an wirtschatlicher Bedeutung. Gleichzeitig eröfnet diese Form von Arbeit eine
Reihe von neuen sozialen, politischen und ökonomischen Fragen und Problemen.
Dies sind Fragen zum Wert der Produkte sowie Fragen zum Wert der Arbeit. Dies
sind weiterhin Fragen zur Rückgewinnung von Autonomie über den Arbeitsprozess, aber auch Fragen zu neuen Formen von Entfremdung, die sich, wie etwa
Franco ‚Bifo‘ Berardi (2009) vorschlägt, an der Achse zwischen menschlicher Zeit
und monetärem Wert ausdrücken. Dies sind schließlich auch Fragen zu neuen
Formen von Ausbeutung. Denn im Internet sind die Nutzer zu Produzentinnen
von Inhalten geworden. Sie produzieren Informationen, die Proit ermöglichen.
Diesen Vorgang beschreibt Yann Moulier-Boutang (2007) als ‚pollination‘. Firmen
wie zum Beispiel die Anbieter von social media platforms können durch die unbeabsichtigte Arbeit der user Proite erwirtschaten, genauso wie manche Planzen
zur Reproduktion auf die unbeabsichtigte Befruchtungsarbeit von Bienen angewiesen sind. Ausgebeutet wird hier soziale Interaktion selbst. Im digitalen Kapitalismus ist soziale Produktion auf der einen Seite Arbeit und auf der anderen Seite
nichts anderes als menschliche Energie, menschliche Zeit, sowie der Ausdruck
von Gefühlen, Gedanken, und Beziehungen. Schließlich sind dies Fragen zum
Verhältnis zwischen social production und der Produktion für den Markt, denn
ot bilden sich hier neue Mischformen heraus. Die Herausforderung, die diese
Entwicklung an die Sozialwissenschat stellt, ist in der Tat enorm. Um Lohnarbeit
ethnograisch kritisierbar zu machen, ist eine Ausweitung des Blicks jenseits der
engen Grenzen von Lohnarbeit erforderlich.
78
Andreas Wittel
Michael Burawoy (1979), dessen ,Manufacturing Consent‘ ebenfalls zu der
Reihe von arbeitsethnograischen Klassikern gehört, die auf eine Fetischisierung
von sozialer Interaktion verzichten, entwickelt in seiner Studie eine scharfe Kritik soziologischer Praxis. „he political implications of sociology stem from the
adoption of a particular philosophy of history in which the future is the perfection
of the present, and the present is the inevitable culmination of the past. From this
all else follows. By taking the particular experiences of capitalist society and shaping them into universal experiences, sociology becomes incapable of conceiving
of a fundamentally diferent type of society in the future…What exists is natural,
inevitable, and unavoidable“ (Burawoy 1979: 13). Ob diese harsche Kritik an soziologischer Forschung gerechtfertigt ist oder nicht, sei an dieser Stelle dahingestellt.
Was mich an dem Zitat beeindruckt, ist sein Plädoyer für eine utopisch ausgerichtete Sozialforschung.
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