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Arbeit und Ethnographie im Zeitalter des digitalen Kapitalismus

1 Arbeit Für Karl Marx ist Arbeit bekanntlich einer der Grundbegriff e seiner Philosophie. Arbeit ist für ihn nicht nur eine wirtschaft liche, sondern eine menschliche Tätigkeit. Sie ist eine Universalkategorie der menschlichen Existenz und ist als solche unabhängig von spezifi schen sozialen und ökonomischen Formen. "Die Arbeit ist zunächst ein Prozess zwischen Mensch und Natur, ein Prozess, worin der Mensch seinen Stoff wechsel mit der Natur durch seine eigene Tat vermittelt, regelt und kontrolliert" (1985: 192). Im Unterschied zur Arbeit verweist der Arbeitsprozess auf wirtschaft liche und soziale Besonderheiten, auf je spezifi sche Produktionsformen. Transformationen von Arbeitsprozessen sind dann immer auch Transformationen von Gesellschaft en und Ökonomien. Insbesondere unterscheidet Marx kapitalistische von feudalistischen Produktionsformen. Auf diese Weise lässt sich plausibel zeigen, dass der kapitalistische Arbeitsprozess weder notwendig noch unvermeidlich ist und in einer zukünft igen neuen Phase überwunden werden kann. Im Vergleich mit dem feudalistischen Arbeitsprozess arbeitet er zwei zentrale Phänomene des kapitalistischen Arbeitsprozesses heraus: Der Arbeiter arbeitet unter der Kontrolle des Kapitalisten, dem seine Arbeit gehört. "Der Kapitalist paßt auf, daß die Arbeit ordentlich vonstatten geht und die Produktionsmittel zweckmäßig verwandt werden … Zweitens aber: das Produkt ist Eigentum des Kapitalisten, nicht des unmittelbaren Produzenten, des Arbeiters. Der Kapitalist zahlt z. B. den Tageswert der Arbeitskraft " (1985: 199 f.). Damit sind zwei Formen von Entfremdung thematisiert, zum einen die Entfremdung vom Produkt der eigenen Arbeit und die damit einhergehende Unfähigkeit, eben die Dinge, die die Arbeiter selbst produziert haben, für ihren Lebensunterhalt zu verwenden, 1 zum

Arbeit und Ethnograie im Zeitalter des digitalen Kapitalismus Andreas Wittel 1 Arbeit Für Karl Marx ist Arbeit bekanntlich einer der Grundbegrife seiner Philosophie. Arbeit ist für ihn nicht nur eine wirtschatliche, sondern eine menschliche Tätigkeit. Sie ist eine Universalkategorie der menschlichen Existenz und ist als solche unabhängig von speziischen sozialen und ökonomischen Formen. „Die Arbeit ist zunächst ein Prozess zwischen Mensch und Natur, ein Prozess, worin der Mensch seinen Stofwechsel mit der Natur durch seine eigene Tat vermittelt, regelt und kontrolliert“ (1985: 192). Im Unterschied zur Arbeit verweist der Arbeitsprozess auf wirtschatliche und soziale Besonderheiten, auf je speziische Produktionsformen. Transformationen von Arbeitsprozessen sind dann immer auch Transformationen von Gesellschaten und Ökonomien. Insbesondere unterscheidet Marx kapitalistische von feudalistischen Produktionsformen. Auf diese Weise lässt sich plausibel zeigen, dass der kapitalistische Arbeitsprozess weder notwendig noch unvermeidlich ist und in einer zuküntigen neuen Phase überwunden werden kann. Im Vergleich mit dem feudalistischen Arbeitsprozess arbeitet er zwei zentrale Phänomene des kapitalistischen Arbeitsprozesses heraus: Der Arbeiter arbeitet unter der Kontrolle des Kapitalisten, dem seine Arbeit gehört. „Der Kapitalist paßt auf, daß die Arbeit ordentlich vonstatten geht und die Produktionsmittel zweckmäßig verwandt werden … Zweitens aber: das Produkt ist Eigentum des Kapitalisten, nicht des unmittelbaren Produzenten, des Arbeiters. Der Kapitalist zahlt z. B. den Tageswert der Arbeitskrat“ (1985: 199 f.). Damit sind zwei Formen von Entfremdung thematisiert, zum einen die Entfremdung vom Produkt der eigenen Arbeit und die damit einhergehende Unfähigkeit, eben die Dinge, die die Arbeiter selbst produziert haben, für ihren Lebensunterhalt zu verwenden,1 zum 1 Diese erste Form der Entfremdung hat ein Jahrhundert später Karl Polanyi (2001) aufgegrifen und als den Beginn der ,great transformation‘ markiert. 60 Andreas Wittel anderen die Entfremdung von der Organisation des Arbeit, die im Kapitalismus von den Besitzern der Produktionsmittel vorgegeben wird. Marxistische Analysen von Arbeit sind in den Sozialwissenschaten lange Zeit unterentwickelt geblieben. Dies änderte sich erst in den 1970er-Jahren, als erst Harry Braverman (1974) und kurze Zeit später Michael Burawoy (1979) Pionierarbeit leisteten und mit ihren Untersuchungen eine langjährige Debatte zum Arbeitsprozess angestoßen haben, die dann in den späten 80er- und in den 90erJahren merklich verebbte. Marxistische Analysen von Arbeit machten Platz für poststrukturalistische und kulturwissenschatliche Perspektiven. Marx wurde vorgeworfen – sicherlich zu Recht –, die subjektiven wie auch die kulturellen Dimensionen des kapitalistischen Arbeitsprozesses unterschätzt zu haben. Aber auch die Entwicklungen und Umwälzungen von kapitalistischer Produktion haben eine Abkehr von Marx nahegelegt. Schließlich war dessen Prognose eines Klassenkampfes zwischen den Kapitalisten (= Eigentümern von Produktionsmitteln) und den in Ketten gelegten Lohnabhängigen immer weniger wahrscheinlich. Schon Burawoy (1979), der in dem selben Chicagoer Betrieb Feldforschung machte wie schon eine Generation vor ihm Donald Roy (in den 1940er-Jahren), hat mit reichem ethnograischen Material beschrieben, wie die Arbeitsbeziehungen zwischen Kapitalisten und Lohnabhängigen in diesem Betrieb im Verlauf einer Generation von eher konliktbezogenen und zwangshaten Formen zu eher konsensorientierten Formen übergingen. Diese Herstellung von Konsens hat seitdem eher zugenommen und wurde über verschiedene Strategien gefördert. Erstens über Mitsprache und Mitbestimmung. Hier haben Prozesse von Selbstorganisation und Gruppenarbeit den Weg für größere Entscheidungsspielräume seitens der Lohnabhängigen geebnet. Zweitens haben unternehmenskulturelle Initiativen Identiikationsangebote geschafen und emotionale Anbindungen an den Betrieb erhöht. Drittens haben Informations- und Kommunikationstechnologien weichere, sauberere – und was jedoch umstritten ist: kreativere – Formen von Lohnarbeit hervorgebracht. Diese Entwicklungen sind, ganz in der Tradition poststrukturalistischen Denkens, äußerst ambivalent. Dies zeigt sich deutlich in den Debatten zu governmentality, zur Subjektivierung von Arbeit und zum unternehmerischen Selbst (Miller / Rose 1990; Voß / Pongratz 2003; Bröckling 2007; Jurczyk et al. 2009). Machtstrukturen sind weithin unsichtbar geworden. Wenig überraschend ist in diesem Zusammenhang der eher resignative Befund von Zygmund Bauman: „While all the agencies of political life stay where ,liquid modernity‘ times found them, tied as before to their respective localities, power lows well beyond their reach. Ours is Arbeit und Ethnograie im Zeitalter des digitalen Kapitalismus 61 an experience akin to that of the airline passengers who discover, high in the sky, that the pilot’s cabin is empty“ (Bauman 2000: 133). Dass Marx’ politische Ökonomie dennoch relevant geblieben ist oder wieder relevant wurde, ist angesichts der tiefen Krise der kapitalistischen Produktionsweise wenig verwunderlich: Viele der Pathologien, die neoliberale Ideologien und ein ungezügelter Kapitalismus hervorgebracht haben, lassen sich nicht ohne Rekurs auf das theoretische Besteck der politischen Ökonomie erklären. Warum leben immer mehr Menschen in den sogenannten post-industriellen Nationen in prekären Verhältnissen und permanenter Unsicherheit ? Warum hat sich das Kapital verselbstständigt ? Wie kommt es, dass das reichste eine Prozent der Weltbevölkerung einen Anteil von über 40 Prozent am gesamten globalen Reichtum verbuchen kann ? Warum ist die soziale Ungleichheitsschere in den letzten drei Jahrzehnten so radikal auseinandergegangen, wo Lohnabhängige doch genau in dieser Periode einen Anstieg an Mitbestimmung und an Selbstorganisation erfahren haben ? Welchen Zusammenhang gibt es zwischen exzessiver Anhäufung von globalem Reichtum in den Händen einer kleinen Elite und dem exzessiven Anstieg von sowohl privaten als auch öfentlichen Schulden für den Rest der Menschheit ? Zu all diesen Fragen lohnt sich eine Rückkehr zu Marx. Weniger ofensichtlich ist jedoch die Frage, welche Impulse von Marx in der heutigen Zeit für ethnograische Arbeitsforschung ausgehen können.2 Hilfreich und produktiv erscheint mir hier ein Verweis auf die erste Form von Entfremdung, also auf die Entfremdung der Arbeiterin vom Produkt ihrer Arbeit und auf die damit einhergehende Unfähigkeit, die Sicherung der eigenen Existenz über die Produkte der eigenen Arbeit gewährleisten zu können. Aus zwei Gründen rückt Lohnarbeit stärker ins Zentrum der Analyse. Zum einen ist Lohnarbeit eben charakteristisch für den speziischen (= kapitalistischen) Arbeitsprozess, der die Ursache ist für die von Marx beschriebene Entfremdung der Arbeiterin vom Produkt der Arbeit. Zum anderen ist Lohnarbeit eine (ebenfalls historisch speziische) Ursache für Ausbeutung und Mehrwertproduktion. Eine neue Kritik von Lohnarbeit und Arbeitsvertrag scheint unumgänglich. Hierzu gibt es bereits vielversprechende Vorlagen, sowohl von einer historischen (Steinfeld 2001) wie auch von einer rechtsphilosophischen (Ellerman 1992) Per- 2 Es geht mir natürlich keinesfalls darum, marxistische gegen poststrukturalistische Ansätze auszuspielen. Im Gegenteil, notwendig ist eine verstärkte Integration beider Ansätze, und hierzu ist schon viel Arbeit geleistest worden – vor allem in Kreisen um die italienische Operaismo Schule (Negri / Lazzarato / Virno 1998). 62 Andreas Wittel spektive. „Capitalism is capitalist,“ schreibt Ellerman (1992: 93 – 94), „not because it is private enterprise or free enterprise, but because capital hires labor rather than vice-versa. hus the quintessential aspect of our economy is neither private property nor free markets but is that legal relationship wherein capital hires labor, namely the employer-employee relationship.“ Lohn, so argumentiert Ellerman, ist nichts anderes als Miete, als angemietete Arbeit, und degradiert so Menschen zu Objekten. Es stellt sich nun die Frage, ob es möglich ist, Formen von ethnograisch fundierter Kritik an Lohnarbeit zu entwickeln. Empirische Studien, die ich hierzu kenne (Stahl 2008; O’Neil 2009; Coleman 2009) sind bislang dünn gesät und nicht unbedingt ethnograisch im klassischen Sinn. Allerdings ist zu erwarten, dass solche Studien im Umfeld der jüngst gegründeten Zeitschrit ,Critical Studies in Peer Production‘3 einen breiten Raum einnehmen werden. Überlegungen hierzu bleiben vorerst notwendigerweise abstrakt. Ziel dieses Beitrags sind Erörterungen zum Verhältnis eines Forschungsgebiets (Arbeit) mit einer sozialwissenschatlichen Methode (Ethnograie). Dieses Verhältnis, das lange Zeit als eher unproblematisch galt, ist inzwischen in verschiedener Hinsicht neuen Herausforderungen ausgesetzt. Globalisierungsprozesse, digitale Medien, immaterielle Arbeit und Netzwerkstrukturen legen es nahe, einige zentrale Grundannahmen von Arbeitsethnograie zu überdenken. Im Zentrum dieses Beitrags steht eine Diskussion dieser Herausforderungen. Einige beziehen sich lediglich auf die Schwierigkeiten, eine vor über einem Jahrhundert entwickelte Methode unter stark veränderten Bedingungen überhaupt erst zur Anwendung zu bringen. Andere Herausforderungen sind mehr als nur methodischer Natur: sie thematisieren die soziale Relevanz des Forschungsdesigns. Dies bedeutet: Manchmal ist Ethnograie der Ausgangspunkt meiner Argumentation, manchmal ist es Arbeit. 2 Ethnograie von Arbeitswelten Was macht eine Ethnograie zu einer Ethnograie von Arbeit ? Diese Frage ist schwer zu beantworten. Ofensichtlich gehören hierzu Ethnograien, die in solchen Forschungsfeldern operieren, in denen Arbeit in institutionelle Strukturen eingebettet und organisatorisch geregelt ist, also in der Landwirtschat, im Berg3 Zu Informationen hierzu siehe http: / / cspp.oekonux.org / , zu peer production s. a. die Informationen im letzten Abschnitt des Beitrags. Arbeit und Ethnograie im Zeitalter des digitalen Kapitalismus 63 bau, in Fabriken und Büros, im Dienstleistungsbereich, in Krankenhäusern, Altenheimen, psychiatrischen Kliniken, Polizeistationen und Gefängnissen. Hierzu gehören aber auch Ethnograien von Berufsgruppen, Schichten, Industriesektoren oder Feldern wie etwa die Kulturindustrien oder die neuen Medien. Hierzu gehören Arbeitslose und all diejenigen, die extrem marginalisiert arbeiten: Obdachlose, Prostituierte, Drogendealer und Kriminelle. Ethnograie von Arbeit ist zweifellos ein weites Feld. Hinzu kommen zwei Probleme, die eine Eingrenzung dieses offenen Feldes noch weiter erschweren. Zum einen ist Arbeit, wie von Marx bereits herausgearbeitet, ein unverzichtbarer Teil menschlicher Existenz. Es ist demnach schwierig, sich eine Ethnograie zu einer bestimmten Gruppe (einer Gemeinde, einer Subkultur etc.) vorzustellen, der es gelingt, Arbeit weitgehend auszublenden. Zum anderen hat sich Arbeit im Spätkapitalismus sowohl räumlich wie auch zeitlich entgrenzt. Letztendlich kann man die Frage nur redundant beantworten: Arbeitsethnograien sind solche Ethnograien, die sich für Arbeit interessieren. Umgangen habe ich bislang die Frage nach der Deinition von Ethnograie. Diese Strategie der Vermeidung möchte ich auch weiterhin beibehalten. Der Grund für diese Zurückhaltung liegt darin, dass der Begrif der Ethnograie eine enorme Expansion erfahren hat, in verschiedenen akademischen Disziplinen je unterschiedlich angeeignet wurde, und eine Anzahl von Neuinterpretationen hervorgebracht hat (etwa ,Autoethnograie‘ oder ,virtuelle Ethnograie‘), die nur noch wenig gemein haben mit dem Verständnis der ,Väter‘ dieser Methode, etwa dem von Franz Boas oder Bronislaw Malinowski. Hier Position zu beziehen und richtige Ethnograie von falscher Ethnograie zu trennen, macht meines Erachtens wenig Sinn. Anstrengungen, die Reinheit einer Methode zu gewährleisten, würden dann privilegiert gegenüber Anstrengungen, eine sich dramatisch verändernde Welt zu verstehen. Stattdessen wähle ich ein umgekehrtes Verfahren. Anstatt den Begrif der Ethnograie mit einer Deinition fest zu zimmern, unternehme ich im Folgenden den Versuch, einige der Grundannahmen von ethnograischer Forschung in Frage zu stellen. Ethnograie, so meine Konstruktion aus vier Grundannahmen, ist demnach eine Methode, die erstens auf Feldforschung basiert, die zweitens soziale Interaktion untersucht, die dies drittens mit teilnehmender und kopräsenter Beobachtung erreicht, um viertens eine existierende Kultur zu verstehen. Dies ist eine von mir konstruierte Deinition mit dem alleinigen Ziel, sie zu dekonstruieren. Sie mag nicht völlig unumstritten sein, aber sie ist in dieser oder ähnlicher Form in unzähligen Handbüchern sozialwissenschatlicher Methodenlehre zu inden. Diese vier Grundannahmen werden im Folgenden am Beispiel von Arbeits- 64 Andreas Wittel forschung genauer inspiziert. Im letzten Teil dieses Kapitels komme ich zurück zu den Potenzialen und Problemen einer ethnograischen Kritik von Arbeit. 2.1 Feld 4 Noch in den 50er- und 60er-Jahren, zu Beginn seiner Karriere, so Cliford Geertz (1995: 43), sei das Konzept kulturanthropologischer Forschung recht klar gewesen: „they have a culture out there and your job is to come back to tell us what it is“. Dieses Konzept ist den Praktikern der Disziplin abhanden gekommen – teilweise durch theoretische, teilweise durch praktische Entwicklungen: Die Zielgesellschaten modernisierten und diferenzierten sich, gleichzeitig intensivierten sich die Außenbeziehungen der jeweils analysierten ‚Kultur‘ – medial, telekommunikativ, ökonomisch, durch Migration oder forschende sowie reisende Fremde. ‚Kultur‘, so lautet eine Bilanz der seit den 50er-Jahren geführten Debatten, ist nunmehr auch an einem Ort nur noch im Plural zu inden. Erstaunlich ist indes, dass erst seit den 1980er-Jahren intensiver über die methodischen Implikationen dieser Veränderungen diskutiert wird. Denn schließlich entschwindet mit der Pluralisierung der Kultur auch die Fiktion des ‚Feldes‘ als unproblematisch gegebenes Forschungsareal, dessen Grenzen Kultur als Singularität räumlich klar umschlossen hat. Erste Überlegungen zu möglichen Konsequenzen setzten die US-amerikanischen Anthropologen George Marcus und Michael Fischer (1986) in Gang, indem sie hervorhoben, dass transnationale politische, ökonomische sowie kulturelle Kräte lokale und regionale Welten erheblich stärker als bislang mitkonstituieren. Ethnograie sollte daher multilokal angelegt werden, um diesen Veränderungen und der Tatsache Rechnung zu tragen, dass Menschen und Objekte nicht mehr primär an einem Ort, sondern meist in Bewegung sind. Deshalb sei es vonnöten, sich verstärkt der Reise und den Wanderungsbewegungen zuzuwenden (Cliford 1997). Dass diese methodische Diskussion erst mit solcher Verspätung gegenüber der theoretischen Auseinandersetzung mit den Folgen von Dekolonialisierung, Modernisierung und Globalisierung ernsthat begonnen wird, muss ebenso wie 4 Die Überlegungen in diesem Teilkapital sind nicht neu. Ich habe sie vor über einem Jahrzehnt zusammen mit Stefan Beck veröfentlicht (Beck / Wittel 2000). Die zentralen Argumente sind meines Erachtens noch immer gültig und sind hier nochmals zusammengefasst – zumeist in zitierender Form. Arbeit und Ethnograie im Zeitalter des digitalen Kapitalismus 65 die gegen diese Vorschläge einer Modiikation der Forschungspraxen gerichteten Konservierungsappelle (etwa Geertz 1998) als Symptom dafür interpretiert werden, dass die Konzeption des ‚Feldes‘ eine zentrale orientierende und identiikatorische Funktion für die Ethnowissenschaten hat. Dies gilt sowohl für das traditionelle Verständnis des Feldes als homogenes, mit Dauerhatigkeit ausgestattetes raumzeitliches Kontinuum wie auch für revidierte Konzeptionen des Feldes, wie sie in der modernen Kulturanthropologie, der Volkskunde oder der feldorientierten Soziologie der Chicago-Schule Anwendung inden. Die Schärfe der vorgetragenen Kritik gegenüber Vorschlägen zur Revision des Feldbegrifs verweist darauf, dass sehr wirksame, implizite Vorannahmen in Bezug auf die Bedeutung des Feldes in den verwandten Disziplinen Kulturanthropologie, Volkskunde und feldorientierter Soziologie in Frage gestellt sind – eine Doxa, die etablierte Praxen reguliert und deiniert, wer als legitimer Praktiker der betrefenden Disziplinen gilt. Diese Doxa ist zwar nicht ausschließlich, aber doch entscheidend durch ein naturalistisches Erbe geprägt. Denn in ihrer Vor- und Übergangsgeschichte zu einer wissenschatlichen Disziplin wurde die Kultur- und Sozialanthropologie ab Mitte des 19. Jahrhunderts von einer Generation naturwissenschatlich ausgebildeter Akademiker geprägt, die mit der Forderung nach detaillierten Studien räumlich eng begrenzter Gebiete eine Methodik aufgrifen, die sich etwa in der Biologie durch die Einrichtung von Feldobservatorien in den 1870er-Jahren bereits bewährt hatte. Im Gegensatz zu den bis dahin dominanten Analysen von Tier- und Planzenpräparaten – also dekontextierten Objekten –, die von Gewährspersonen in die Universitäten geliefert wurden, wurde in der Biologie das Studium der jeweiligen Spezies in ihrem natürlichen Habitat – ihre Untersuchung als kontextierte Organismen – zunehmend als die überlegene Forschungsmethode angesehen. Beispielhat für den bedeutenden Einluss des naturalistischen Positivismus für die Entwicklung des Feldforschungsparadigmas in der frühen britischen Sozialanthropologie war etwa der Naturwissenschatler A. C. Haddon, der seit Anfang der 1890er-Jahre maßgeblich an der Konzeption der Expedition in die Torres Straße beteiligt war, die 1898 von Sozialanthropologen aus Cambridge unternommen wurde. Haddon (1896) insistierte etwa, dass ein Anthropologe nur durch direkte, langdauernde Beobachtung in einem eng begrenzten Gebiet fremde Kulturen verstehen könne. Die Übernahme des in den 1870er-Jahren entwickelten Feldforschungsparadigmas zog jedoch als neue Wissenschatspraxis für alle beteiligten Disziplinen die Notwendigkeit zu teilweise radikalen Umstellungen nach sich, die wiederum 66 Andreas Wittel zu einer Stabilisierung dieser Datenerhebungspraxis führte. Besonders wirksam und deshalb traditionsbildend waren die mit der methodischen Forderung nach Feldforschung verknüpften Umbrüche. Das ‚Feld‘ wurde hierbei zu einem obligatorischen Passagepunkt sowohl für einzelne Forscher wie auch für die Disziplin der Kultur- oder Sozialanthropologie insgesamt. ,Richtige‘ ethnograische Forschung war durch einen längeren Aufenthalt in einem Feld gekennzeichnet, das geograisch, sozial sowie kulturell idealerweise eine maximale Distanz zur Heimat des Forschers aufweisen konnte. Es ist hierbei die zeitweise überwundene Distanz zu einem exotischen Feld, mittels derer der Forscher seine privilegierte Augenzeugenschat antreten konnte. Je entlegener das Feld, desto größer der Ruhm. Es ist sicher nicht zu bestreiten, dass diese privilegierte Augenzeugenschat durch dauerhate Nähe zu den Bewohnern des jeweiligen Feldes eine hervorragende Erkenntnismethode darstellt. Hinzuweisen ist jedoch darauf, dass teilnehmende, ansässige Beobachtung des Feldes angesichtige, raumzeitlich abgeschlossene Beziehungen privilegiert, während andere, weniger lokalisierte Beziehungen tendenziell aus dem Sichtfeld ausgeblendet werden (Gupta / Ferguson 1997). Dies wird vor allem dann zum Problem, wenn der Forscher selbst auf eine dauerhate Ansässigkeit verplichtet ist, seine Forschungssubjekte jedoch teilweise hochmobil sind. Wird unter diesen Umständen das klassische Feldforschungsparadigma dogmatisiert, wird der Grundgedanke, der der Feldforschung zugrunde liegt, aufgegeben. Das Konzept der Feldforschung lässt sich zu nehmend nur noch durch teilweisen Verzicht auf Feldforschung und eine Intensivierung der Erforschung von Netzen realisieren. 2.2 Teilnehmende und kopräsente Beobachtung Ebenso wie dem Feld kommt dem Topos der ,teilnehmenden Beobachtung‘ für die Bestimmung von ethnograischen Verfahren ein zentraler Stellenwert zu. Während jedoch die Idee des Feldes, wie eben dargestellt, in den letzten Jahrzehnten sowohl theoretisch als auch methodologisch immer mehr unter Beschuss geraten ist, gilt dies nicht für den Topos der ,teilnehmenden Beobachtung‘. In gewissem Sinn war diese Formulierung schon immer ein Problem. Schließlich ist wirkliche Teilhabe ot nicht möglich. Je fremder das Forschungsfeld, desto schwieriger ist es logischerweise für die Ethnograin, sich soweit zu integrieren, dass echte Teilnahme möglich ist. Ot ist es deshalb richtiger und bescheidener, von einer ,dabeistehenden Beobachtung‘ zu sprechen. Arbeit und Ethnograie im Zeitalter des digitalen Kapitalismus 67 Dies ist allerdings eher eine Frage von terminologischer Etikette und keine grundlegende Infragestellung des Dabei-Seins. Genau dieses Dabei-Sein wird seit der Etablierung von Ethnograie als deren methodischer Kern gesehen. So schreiben etwa Klaus Amann und Stefan Hirschauer (1997: 21), dass das „kultursoziologische Verständnis von der Gelebtheit kultureller Ordnungen ein weiteres Charakteristikum von ethnographischer Praxis (ist): die anhaltende Kopräsenz von Beobachter und Geschehen.“ Amann und Hirschauer beleuchten zwei Dimensionen von Kopräsenz, eine räumliche und eine zeitliche Dimension, Gleichörtlichkeit und Gleichzeitigkeit. Es stellt sich nun die Frage, wie Forderungen nach gleichörtlichen und gleichzeitigen Forschungen in postmodernen (oder spätkapitalistischen oder informationsgesellschatlichen) Kontexten umgesetzt werden können. Nach Fredric Jameson (1991) etwa ist in frühkapitalistischen Gesellschaten das Globale noch direkt aus dem Lokalen erschließbar – eine perfekte Bedingung für Ethnograie. Dies habe sich im Spätkapitalismus jedoch entscheidend verändert. Nun ist das Lokale kurzlebig und vergänglich geworden und das Globale unsichtbar. David Harvey (1989) charakterisiert Postfordismus mit dem Begrif der ,time-space compression‘, in dem Krisen unberechenbar und launisch geworden sind, und unterscheidet dies vom fordistischen ,time-space displacement‘, in dem Krisen entweder exportiert oder aufgeschoben wurden. ‚Time-space compression‘ bezieht sich auf Technologien (vor allem Kommunikationstechnologien), die beschleunigende Wirkungen haben und zeitliche Diferenzen schwinden lassen. Anthony Giddens (1990) hat für nachmoderne Gesellschaten einen ähnlichen Begrif geprägt, den der ‚timespace distanciation‘. Damit konstatiert er eine Situation, in der alltägliches Leben seine lokalen Anbindungen verliert. Für Manuel Castells (1996) schließlich sind in der Informationsgesellschat Orte abgelöst worden durch Flüsse, und digitale Technologien produzieren eine Form von Unmittelbarkeit, die zu zeitloser Zeit führt und die Geschichte auflöst. Nun sind diese vier Befunde, die ich hier viel zu grob verkürzt habe, keinesfalls deckungsgleich. Allerdings sind sich all diese Befunde darin einig, dass das Lokale nicht nurmehr lokal ist, und dass wirtschatliche und technologische Prozesse unser Verständnis von Räumlichkeit und Zeitlichkeit tiefgreifend transformieren. In diesem Transformationsprozess wird es zunehmend schwieriger, das Credo von Kopräsenz (von Forscherin und den Erforschten) für ethnograische Praxis aufrechtzuhalten – sowohl in Bezug auf Gleichörtlichkeit wie auch in Bezug auf Gleichzeitigkeit. Nirgends tritt dieses Problem deutlicher zutage als im Bereich der ethnograischen Arbeitsforschung. 68 Andreas Wittel Dies möchte ich anhand von zwei Entwicklungen verdeutlichen, am Beispiel von immaterieller Arbeit und am Beispiel von medialisierter Interaktion und Kommunikation. Michael Hardt und Antonio Negri (2000) vertreten die hese, dass immaterielle Arbeit das zentrale Element ist, um die Logik von globaler kapitalistischer Herrschat zu verstehen. Mit dem Konzept der immateriellen Arbeit verbinden sie einen marxistischen Ansatz mit der Analyse von Arbeit in der Informationsgesellschat. Immaterielle Arbeit ist solche Arbeit, die immaterielle Produkte hervorbringt, also etwa Wissen, Information, Kommunikation, Afekte und Beziehungen. Diese Form der Arbeit hat laut Hardt und Negri in den letzten Jahrzehnten nicht nur rapide zugenommen, vielmehr steht sie im Zentrum und hat Formen materieller Arbeit an die Ränder des ,Empire‘ verdrängt. Es stellt sich also die Frage, ob sich immaterielle Arbeit ebenso gut beobachten lässt wie materielle Arbeit. Schließlich wird sie in erster Linie nicht mit dem Körper, sondern mit dem Kopf ausgeführt.5 Die relativierende Formulierung ,in erster Linie‘ ist hier natürlich wichtig. Jede Form von Arbeit beansprucht Kopf und Körper. Allerdings nimmt der Körper bei materieller Arbeit eine weit größere Rolle ein als bei immaterieller Arbeit. Und dies gilt in umgekehrter Weise auch für den Kopf. Donald Roy (1960) hat wunderbar gezeigt, wie die manuellen und hochgradig routinisierten Fließbandtätigkeiten den Kopf eben gerade nicht beanspruchen, sondern ihn frei machen für Gedanken, die mit dem Arbeitsprozess selbst wenig zu tun haben. In starkem Kontrast hierzu indet analytische und intellektuelle Arbeit zu weiten Teilen im Kopf statt, zwar in permanenter Interaktionen mit entweder anderen Menschen oder mit Dingen (Texten, Bildern, Graiken, Statistiken, Datensätzen), aber ein Großteil des Arbeitsprozesses indet im Gehirn statt und ist nicht direkt beobachtbar. Auch in meinen eigenen ethnograischen Forschungen hat sich gezeigt, dass die teilnehmende Beobachtung von immaterieller Arbeit weniger interessante Daten produziert als die Beobachtung materieller Arbeit. Dies bedeutet keinesfalls, dass Erforschung von immaterieller Arbeit weniger ergiebig ist – es bedeutet lediglich, dass die Methode der teilnehmenden Beobachtung an Grenzen stößt, die im Forschungsprozess natürlich umgangen oder kreativ überwunden werden können. 5 Hier ist eine wichtige Einschränkung vonnöten. Dieses Problem stellt sich nicht für alle Bereiche immaterieller Arbeit gleichermaßen, sondern nur für intellektuelle und analytische Arbeit. Affektiver Arbeit, etwa Arbeit in der Serviceindustrie (Verkäuferinnen, Frisöre, Bedienungen) und anderen Formen von Kundenarbeit eignet sich ganz hervorragend für Beobachtung, schließlich spielt hier der Körper eine ganz zentrale Rolle – man denke etwa an das Lächeln der von Arlie Hochschild (1983) untersuchten Stewardessen. Arbeit und Ethnograie im Zeitalter des digitalen Kapitalismus 69 Der zweite Prozess, der kopräsente Beobachtung in zeitgenössischen Arbeitskontexten erschwert, ist die Medialisierung kommunikativer Arbeit. Zwar ist das Phänomen einer medialisierten Kommunikation in Arbeitsprozessen nicht neu, aber seit der digitalen Wende hat es erheblich zugenommen. Wiederum stellt sich die Frage, wie dies die Möglichkeiten für teilnehmende Beobachtung beeinlusst. Generelle Aussagen sind hier problematisch, denn die Möglichkeiten für teilnehmende Beobachtung hängen vor allem von den je speziischen Medien ab. Für die Beobachtung eines Telefonats stellen sich etwa andere Herausforderungen als für die Beobachtung einer E-Mail-Korrespondenz. Allerdings sind in beiden Fällen Kopräsenz (im Sinne von Gleichörtlichkeit) nur noch eingeschränkt möglich. Wiederum ist dies keineswegs ein Argument, dass Ethnograie im Kontext von mediatisierter Kommunikation vor unüberwindlichen Hindernissen stehe. Vielmehr sollte dies als eine Herausforderung begrifen werden, die kreativ umgangen werden kann – was allerdings zur Folge hat, dass das Ideal von Kopräsenz aufgegeben werden muss. Für den Forschungsprozess und die dabei generierten Ergebnisse ist dies zumeist auch nicht tragisch, denn die gleichzeitige Beobachtung etwa einer E-Mail-Korrespondenz liefert in der Regel selten bessere Forschungsdaten als eine Kopie derselben Korrespondenz, die der Ethnograin zu einem späteren Zeitpunkt zugestellt wird. Der Punkt dieser Argumentation ist lediglich, dass Kopräsenz in der alltäglichen Arbeitskommunikation inzwischen nicht mehr der Normalfall, sondern fast schon der Idealfall ist. Eine Reihe von Forschungsrichtungen sind an der Integration von Medien (vor allem Informations- und Kommunikationstechnologien) im Arbeitsalltag besonders interessiert und forschen hierzu ethnograisch. Zu nennen wären hier etwa die Studien zur ,Computer Supported Cooperative Work‘ (CSCW), ,Science and Technology Studies‘ (STS) sowie die ,Workplace Studies‘.6 Diese Forschungsrichtungen sind zum einen inspiriert von Bruno Latours Arbeiten zur ,ActorNetwork-heory‘, zum anderen von Lucy Suchmans (1987) Konzept der ,situated actions‘. Viele dieser Studien – soweit man dies in der hier erforderlichen Kürze überhaupt verallgemeinern kann – sind inspiriert von einer eher ethnomethodologisch ausgerichteten Ethnograie. Dieser speziische und sehr detaillierte Fokus auf Interaktionen zwischen arbeitenden Menschen, aber vor allem auch auf die Interaktionen zwischen Menschen und Computern (und anderen Medienobjekten) hat zahlreiche Innovationen hervorgebracht – sowohl im Bereich der Erforschung von Netzwerken als auch im Bereich mikrosoziologischer Studien. Der Vorteil 6 Siehe zu Workplace Studies Knoblauch und Heath (1999), zum Stand des STS-Diskurses Ilyes (2006) und zu CSCW sowie generell zum hema ‚Studies of Work‘ Bergmann (2005). 70 Andreas Wittel dieser Studien – die fast schon mikroskopische Erforschung der Interaktion zwischen Menschen und technologischen Objekten – ist zugleich auch ein Nachteil für ethnograische und Medien einbeziehende Arbeitsforschung. Denn in diesen Ansätzen werden Medien zwar kontextualisiert, allerdings um den Preis einer ot dekontextualisierten Arbeitsforschung. Hierzu mehr im nächsten Abschnitt. 2.3 Soziale Interaktion Das dritte Charakteristikum ethnograischer Praxis ist eine Fokussierung auf Menschen und die Beziehungen zwischen Menschen. Ethnograie ist eine Beobachtung von sozialer Interaktion oder, wie Amann und Hirschauer (1997: 24) resümieren: „Ethnographie ist die Teilhabe an der Inspektion sozialer Situationen.“ Im Unterschied zu ,Feld‘ und ,teilnehmender Beobachtung‘ liegt die Problematik von ,sozialer Interaktion‘ an anderer Stelle. Das ‚Feld‘, das ja schon immer eine soziale Konstruktion war, wird durch eine Reihe von Transformationen immer mehr dekonstruiert. Die Forderung von Kopräsenz von Ethnograin und den Ethnograierten ist nicht mehr zu halten, wenn zwischen den Ethnograierten selbst Kopräsenz aufgegeben wird. ,Soziale Interaktion‘ hingegen ist nicht in Gefahr, in irgendeiner Form aufgelöst zu werden. Vielmehr ist dies ein Problem von Reichweite. Je mehr sich Ethnograie auf soziale Interaktion konzentriert, desto mehr besteht die Gefahr, die politischen und ökonomischen Kontexte, die soziale Interaktionen zumindest teilweise strukturieren, aus dem Blickwinkel zu verlieren. Am Beispiel von Arbeitsforschung: Ethnograie von Arbeit, die sich auf die Erleuchtung sozialer Interaktionen festlegt, kann Arbeit nur in einem begrenzten Ausmaß analysieren. Arbeit wird hier reduziert auf Arbeitsbeziehungen und auf die Organisation von Arbeit in speziischen Settings (Institutionen, Firmen etc.). Ausgeblendet werden dann all jene externen Kräte, die etwa Arbeitsprozesse, Arbeitskonlikte und Produktionsmodi zumindest teilweise strukturieren. Je mehr sich ethnograische Arbeitsforschung auf soziale Interaktion beschränkt, desto weniger steht Arbeit selbst im Zentrum der Analyse. Genau diesem Punkt widmet Michael Burawoy viel Aufmerksamkeit. Am Beispiel der Chicago School zeigt Burawoy (2000: 7 – 15) die Konsequenzen der Verengung von ethnograischer Forschung auf soziale Interaktion. Demnach sei die Chicago School zunächst durchaus mit der Ambition gestartet, ethnograische Forschung nicht auf lokale Kontexte zu beschränken. So sei der ,foundational classic‘ der Chicago School, homas und Znanieckis ,he Polish Peasant in Arbeit und Ethnograie im Zeitalter des digitalen Kapitalismus 71 Europe and America‘, eine vielversprechende globale Ethnograie. Erst unter der Führung von Robert Park habe sich die Chicago School mehr und mehr auf die ethnograische Erforschung lokaler Settings (Städte, Stadtteile, Firmen und Institutionen) beschränkt. Diese Entwicklung kulminierte in Studien, die soziale Interaktion selbst in lokalen Settings weitgehend dekontextalisierten. Hierfür stünden etwa die Arbeiten von Erving Gofman. „Closing ethnography of from its context had the advantage that its claims could be generalised across diverse settings“ (Burawoy 2000: 14). Allerdings habe dieser Fokus auf menschliches Verhalten in abgeschlossenen Welten (Gefängnissen, psychiatrischen Kliniken etc.) einen Preis: Die Kontrollsysteme, die ja zu beachtlichen Teilen menschliches Verhalten strukturieren, werden dann weithin ignoriert. Ich möchte im Folgenden an zwei deutschsprachigen Klassikern zeigen, warum die Einbeziehung von Kontext für Arbeitsforschung so produktiv ist. Siegfried Krakauer (1971) hat für seine Ende der 1920er-Jahre veröfentlichte Studie ,Die Angestellten‘ kein klassisch ethnograisches Vorgehen gewählt – zumindest kein Vorgehen, das durch einen klar vorgegebenen Forschungsrahmen charakterisiert ist. Krakauer hat natürlich auch viele soziale Situationen analysiert, aber hat daraus keinen Fetisch gemacht, sondern sie mit anderen Methoden der Datengenerierung verwoben. Das von ihm analysierte Material ist vielfältig und scheinbar zufällig – private Briefe, oizielle Firmendokumente, Zeitungsartikel, Arbeitsbekleidungen, Gespräche mit Angestellten in verschiedenen hierarchischen Ebenen, und eine Fülle von Beobachtungen (sowohl in bürokratischen Institutionen wie auch außerhalb der Arbeitswelt). Es sind indes Lumpen, wie Walter Benjamin so scharfsinnig im Nachwort dieser Studie angemerkt hat, die unbeachtet am Wegesrand liegen und von Krakauer aufgelesen und so verknüpt werden, dass eine kohärente Erzählung zur Mentalität von Angestellten in der Weimarer Republik entsteht. Die Verknüpfungen sind keinesfalls zwingend, aber es sind genau diese riskanten Verwebungen von ,kleinen‘ Beobachtungen und der Analyse von größeren Kontexten, die es möglich machen, so verschiedene Bereiche wie die quasi wurzellose, sich erst formierende Angestelltenmentalität mit Bürokratisierung, der Taylorisierung und Sinnentleerung von Angestelltenarbeit, dem Aufkommen der Unterhaltungsindustrie und dem Aufkommen von Faschismus in Verbindung zu bringen und so Krakauers Studie zu einem ethnograischen Meisterwerk machen. ,Die Arbeitslosen von Marienthal‘, eine soziograische Studie zu den Folgen von Langzeitarbeitslosigkeit, ist ein weiteres Beispiel eines ethnograischen Meister werks, bei dem die teilnehmende Beobachtung von sozialer Interaktion keineswegs im Zentrum der methodischen Herangehensweise steht. Die von 72 Andreas Wittel Marie Jahoda, Paul Lazarsfeld und Hans Zeisel (1975) in den 30er-Jahren durchgeführte Studie eines österreichischen Dorfes, das nach der Schließung einer Fabrik mit Massenarbeitslosigkeit konfrontiert war, ist bahnbrechend aufgrund einer innovativen Verschränkung von qualitativen und quantitativen Methoden sowie einer Verknüpfung von bereits vorgefundenen Materialien mit eigens für die Studie erhobenen Daten. Für jede Familie in Marienthal hat das Erhebungsteam einen Ordner angelegt, der dann mit verschiedensten Daten gespeist wurde, etwa mit Daten von Haushaltserhebungen und Essenserhebungen, mit Fragebögen, Daten zur Zeitverwendung, Interviews, informellen Gesprächen sowie solchen Interaktionen zwischen dem Forschungsteam und den Erforschten, die durch Hilfsleistungen des Forschungsteams in Gang gesetzt wurden. Um nämlich eine nur scheinbar natürliche Interaktionen zwischen dem Forschungsteam und den erforschten Familien zu erhöhen, hat das Team im Dorf Angebote etabliert, etwa Erziehungsberatungen und Kurse im Bereich von Fitness und Kreativität. Dieses Vorgehen, in vielerlei Hinsicht problematisch – die ,Wirklichkeit‘ im Dorf wurde künstlich verändert; die Arbeitslosen wurden über die eigentlichen Absichten dieser Angebote nicht informiert – ist innovativ als eine Form von experimenteller Ethnograie. Während also die Beobachtung der sozialen Interaktion zwischen den Erforschten nicht zentral war für die Formulierung der Forschungsergebnisse, kommt der Interaktion zwischen Forschern und Erforschten in der Tat zentrale Bedeutung zu. Bislang habe ich die Problematik von sozialer Interaktion vor allem hinsichtlich der Frage der Reichweite thematisiert. Eine zweite Problematik von ethnograischer Arbeitsforschung, die soziale Interaktion ohne Einbeziehung von Kontext untersucht, bezieht sich auf die Potenziale für kritische Sozialforschung. Sicherlich, soziale Interaktion ist kritisierbar, es stellt sich jedoch die Frage, ob eine Kritik von Arbeit im digitalen Kapitalismus möglich ist, wenn ethnograische Forschung sich lediglich auf die Mikrowelt sozialer Beziehungen beschränkt. Am Beispiel von actor-network-theory (ANT) lässt sich dieser Aspekt gut verdeutlichen. Bruno Latour (2005) plädiert dafür, die Soziologie des Sozialen durch eine Soziologie der Verknüpfungen zu ersetzen, dies sind Verknüpfungen zwischen Menschen einerseits und zwischen Menschen und Dingen andererseits. Die vor allem von Durkheim beeinlusste Soziologie des Sozialen verwechsle, so Latour, Ursache und Wirkung und operiere mit einer Vielzahl von abstrakten Begrifen, die erklärend wirken sollen, die aber eigentlich der Erklärung bedürften. Diese Begrife könnten nur dann erfolgreich erklärt werden, wenn die Spuren der Konstruktion dieser Begrife nachgezeichnet werden können. Es gelte also, solche Begrife nicht als gegeben vorauszusetzen, sondern sie zunächst einmal empirisch Arbeit und Ethnograie im Zeitalter des digitalen Kapitalismus 73 zu legitimieren. Deshalb vermeidet ANT Begrife wie Gesellschat, Kultur, Macht, Struktur, und Kontext, um nur einige zu nennen. Latours Einwand ist sicherlich berechtigt. Allerdings hat seine Soziologie der Verknüpfungen meines Erachtens einen teuren Preis: Kritik wird aufgegeben zugunsten von Analyse. Wo Gesellschat nicht ist, kann Gesellschat auch nicht kritisiert werden. Verknüpfungen von Aktanten können nur beschrieben und dann analysiert werden. Es macht schließlich wenig Sinn, diese Verknüpfungen einer Kritik zu unterziehen. Insofern ist eine von ANT inspirierte ethnograische Arbeitsforschung eher eine Analyse von Mensch-Objekt-Beziehungen (mit viel Spielraum für die Analyse von menschlichem Eigensinn), denn eine kritische Auseinandersetzung mit Arbeitsprozessen und der Organisation von Arbeit in speziischen politischen, ökonomischen und technologischen Kontexten. 2.4 Kultur Das vierte Charakteristikum ethnograischen Arbeitens ist ein Schwergewicht auf kulturellen Fragestellungen und Erkenntnissen, siehe die bereits zitierte Anweisung von Cliford Geertz an Ethnografen, die ,culture out there‘ zu inden und zu beschreiben. Dieser Schwerpunkt auf Kultur als Forschungsgegenstand gilt sicherlich nicht für alle ethnograisch operierenden Schulen und Disziplinen gleichermaßen – die Manchester School of Social Anthropology7, aber auch generell die britische Anthropologie etwa haben schon immer sozialen, politischen und wirtschatlichen Fragestellungen den Vorzug eingeräumt. Dennoch ist es nicht allzu verzerrend, die Gewichtung auf Kultur als eines der zentralen Elemente zu sehen, die ethnograische Praxis etablieren und legitimieren. Auf die Problematik des Kulturbegrifs als wirksame analytische Kategorie ist mehrfach hingewiesen worden. Im Zuge der ,Writing Culture‘ Debatte (Clifford / Marcus 1986) wurde Kultur zunehmend politisiert und als neokoloniales Instrument problematisiert. Lila Abu-Lughod (1991) etwa sieht in Kultur ein wesentliches Werkzeug ,for making the other‘. Anstelle einer Beschreibung von ,den anderen‘ würden diese durch ethnograische Praxis erst hergestellt. Sie plädiert dafür, Homogenisierungen und Verallgemeinerungen aufzugeben, und stattdessen Geschichten über Individuen in bestimmten Räumen und Zeiten zu erzäh7 Eine gute Einführung (für Studierende von Studierenden) in die Arbeiten der Manchester School hat Anna Schmidt hier erstellt: http: / / anthropology.ua.edu / cultures / cultures.php?culture=Manchester%20School. 74 Andreas Wittel len. Ähnlich argumentiert Tim Ingold (1993): Die Übersetzungen, die westliche Ethnografen vornehmen, um von nicht-westlichen Welten zu berichten, würden nicht funktionieren. Um eine Ethnograie zu ermöglichen, die auf gegenseitigem Verstehen basiert, müsse das Kulturkonzept aufgegeben werden. In der deutschen Diskussion haben jüngst Chris Hann (2007) und Stefan Beck (2009) die wesentlichen Kritiken zusammengefasst und für die Abschafung des Kulturbegrifs plädiert. Mein eigenes ,Unbehagen an der Kultur‘ bezieht sich in erster Linie weder auf die mangelhate analytische Brauchbarkeit des Kulturbegrifs noch auf dessen fragwürdige politische Implikationen – obwohl ich alle vorgebrachten Einwände teile. Mein Unbehagen, fast noch schlimmer, zielt auf die Relevanz von Kultur als Forschungsgegenstand im digitalen Kapitalismus. Es gilt in den Sozial- und Humanwissenschaten als wenig umstritten, dass in der zweiten Hälte des letzten Jahrhunderts ein sogenannter ,cultural turn‘ eingesetzt hat, ein turn also, der indiziert, dass die Relevanz von kulturellen Perspektiven, Konzepten und heorien zugenommen hat. Nun ist die Konstatierung von turns immer problematisch und mehrdeutig, und es ist an diese Stelle nicht möglich, auf die zahlreichen Versuche zur Bestimmung des cultural turn einzugehen. Mein eigenes Verständnis des cultural turn ist durch zwei Prozesse gekennzeichnet, erstens durch eine umgangssprachliche Ausweitung des Kulturbegrifs von Hochkultur sowohl zu populärer Kultur wie auch zu dem anthropologischen Verständnis von Kultur als ,way of life‘, zweitens durch die Schwächung von positivistischen Epistemologien und einer stärkeren Hinwendung zu Zeichen, Symbolen und Konzepten wie Interpretation, Bedeutung, Diskurs und Kommunikation. Dieser cultural turn hat nicht nur die cultural studies als neue akademische Disziplin hervorgebracht, sondern auch eine Vielzahl von bahnbrechenden theoretischen Konzepten, die innovative Zugänge ermöglichten, etwa für eine diskurs-basierte Machttheorie (Foucault), neue Formen von Klassen- und Gesellschatsanalyse (Bourdieu), politische Ökonomie (Baudrillard) und die Analyse von Moderne und Postmoderne (Jameson). Diese heorien haben über viele Jahrzehnte den sozial- und humanwissenschatlichen Diskurs entscheidend geprägt – und sie prägen ihn auch weiterhin. Allerdings zeigen sich auch erste Risse im Gebälk des cultural turn. Erstens hat die Disziplin der cultural studies – zumindest in ihren angelsächsischen Ursprungsländern eine Schwächung erfahren, zum einen durch eine Vielzahl von Schließungen akademischer Institute – das Centre for Contemporary Cultural Studies (CCCS) in Birmingham, einst stolzes Flaggschif der cultural studies, steht hier als Paradebeispiel – zum anderen durch eine seit den 90er-Jahren anschwellende Kri- Arbeit und Ethnograie im Zeitalter des digitalen Kapitalismus 75 tik, die den cultural studies vorwirt, ihre Kritikfähigkeit aufgegeben zu haben und stattdessen zu einem verlängerten Arm der creative industries avanciert zu sein (hierzu etwa die Kritik von homas Frank 2001). Zweitens sind die oben erwähnten bahnbrechenden Kulturtheorien fast ausschließlich in den 60er-, 70er- und 80er-Jahren entstanden, während in den letzten zwei Jahrzehnten wenig kulturtheoretische Innovationen zu verzeichnen waren – dafür wurde, wie bereits beschrieben, umso mehr Kritik an der Brauchbarkeit des Kulturbegrifs als analytische Kategorie vorgetragen. Am wichtigsten ist vielleicht der dritte Riss: Während Kulturtheorien in den letzten zwei Jahrzehnten nur bedingt neue Impulse erhielten, sind Informationstheorien in demselben Zeitraum von einer akademischen Nische in den Mainstream eingedrungen. Die ,großen Erzählungen‘, die in den letzten zwei Jahrzehnten geschrieben wurden (etwa Castells 1996, Hardt / Negri 2000 und Benkler 2006), thematisieren vor allem das Informationszeitalter. Es scheint, als werde der cultural turn von einem neuen turn, dem digital turn, etwas in den Hintergrund gedrängt. In eben diesem Zeitraum haben sich eine Reihe von Krisen zugespitzt – alle globaler Natur – und alle haben inzwischen bedrohliche Ausmaße erreicht mit größtenteils unkalkulierbaren Folgewirkungen. Zu nennen wäre hier u. a. die Schulden- und Finanzkrise, die Energiekrise (peak oil), die globale Ernährungskrise sowie verschiedene ökologische Krisen (allen voran natürlich Klimawandel). Es stellt sich meines Erachtens zu Recht die Frage, welchen Beitrag kulturwissenschatliche Forschung in solch einer Situation leisten kann. Sollte es schwer werden, auf diese Frage gute Antworten zu inden, ist die hese eines Relevanzverlusts kulturwissenschatlicher Forschung zumindest erörterungswürdig. Im letzten Abschnitt soll dieses Unbehagen an der Kultur stärker an ,Arbeit‘ und ,Lohnarbeit‘ angebunden werden. Zunächst jedoch eine abschließende Anmerkung zu Ethnograie. 3 Arbeit und Ethnograie im digitalen Kapitalismus Um den Topos der Ethnograie rankt sich eine interessante Paradoxie: Auf der einen Seite geraten, wie hier an vier Beispielen beschrieben, die klassischen Säulen ethnograischer Forschung in eine immer größere Schräglage, auf der anderen Seite erfährt der Begrif der Ethnograie eine ungeheure Expansion. Je weniger die klassische Festschreibung von Ethnograie plausibel bleibt, desto mehr erstreckt sich der Begrif wie ein Pilz über immer weitere Bereiche empirischer Sozial und Kulturforschung. 76 Andreas Wittel In einer solchen Situation gibt es zwei Möglichkeiten, um auf diese Paradoxie zu reagieren. Man spielt entweder Methodenpolizei und deiniert einen Rahmen für ethnograische Forschung, um dann, gemäß der aufgestellten Kriterien, über Zulassung oder Ausschluss richten zu können. Die polemische Formulierung dieser Variante lässt unschwer darauf schließen, dass ich ihr eher skeptisch gegenüberstehe. Die zweite Möglichkeit scheint mir produktiver: Man akzeptiert die Expansion, die der Begrif erfahren hat. Dies führt bedauerlicherweise zu einer Verwässerung des Begrifs. Allerdings lässt sich die zweite Variante auch positiv formulieren: Ethnograie bewegt sich weg von einer speziischen Methode empirischer Sozialforschung und mutiert stattdessen zu einer heorie und Logik des Forschungsprozesses. Eine solche Bestimmung eröfnet neue Potenziale zur Erforschung von Arbeit und zur Kritik von Lohnarbeit. Ein Großteil der ethnograischen Arbeitsforschung operiert in institutionellen Kontexten – Arbeit wird erforscht in Unternehmen, Fabriken, Betrieben und Büros. Dies sind die Orte von Lohnarbeit, also genau der Form von Arbeit, die speziisch ist für den kapitalistischen Arbeitsprozess. Damit komme ich zurück zu meiner Ausgangsargumentation und den Marxschen Formen von Entfremdung. Meines Erachtens wurde in ethnograischer Arbeitsforschung – zumindest in den letzten Jahrzehnten – nur die zweite Form von Entfremdung thematisiert, also die Form von Entfremdung, die durch fehlende Selbstorganisation der Arbeit verursacht wird. Die erste Form der Entfremdung jedoch, die Entfremdung zum Produkt der eigenen Arbeit, ist aus dem Diskurs ethnograischer Arbeitsforschung schlicht verschwunden. Lohnarbeit und die mit ihr einhergehende Entfremdung der Arbeiterin vom Produkt der Arbeit unterliegt kaum ethnograischer Kritik, sie wird vielmehr als natürlich und unvermeidlich akzeptiert. Dies war solange plausibel, wie sich Arbeit als soziales Phänomen fast ausschließlich in klassischen organisatorischen Kontexten bewegt hat. Mit dem Aufkommen des social web formieren sich jedoch Alternativen zum Lohnarbeitsparadigma. Solche Alternativen sind sicherlich nicht neu, sie haben in Form von freiwilliger und gemeinnütziger Arbeit immer existiert, allerdings immer an den ökonomischen Rändern und immer in einer Weise, die kapitalistische Lohnarbeit ergänzt hat, ohne jedoch in direkte Konkurrenz zu ihr zu treten. Mit der digitalen Wende und dem Aufkommen des social web hat sich eine Alternative zur industriellen Produktion (einer Produktion für den Markt) formiert, die Yochai Benkler (2006) als ‚social production‘ bezeichnet. Benkler unterscheidet zwei Formen von social production, zum einen die ‚commons based peer production‘, zum anderen ‚peer production‘. Erstere, die commons-based peer Arbeit und Ethnograie im Zeitalter des digitalen Kapitalismus 77 production, ist dadurch charakterisiert, dass eine ot große Anzahl von Personen sich einem gemeinsamen Projekt verschreiben und ohne klassische Befehlsstrukturen zusammenarbeiten, ot auch ohne inanzielle Kompensation. Beispiele für commons-based peer production sind etwa Wikipedia oder die Open-Source Gemeinde. Demgegenüber basiert ,peer production‘ eher auf individuellen Handlungen, die keine Koordination mit anderen verlangen. Hierzu gehören etwa Texte, Fotos, Filme und Musikstücke, die ins Netz gestellt werden. In beiden Fällen wird nicht für den Markt produziert, sondern für das Gemeinwohl, und die erstellten Produkte sind keine Waren, sondern Gemeingüter. Das Verhältnis von sozialer Produktion zur Produktion für den Markt ist zu komplex, um in wenigen Zeilen angemessen beschrieben zu werden. Allerdings ist es kein Zufall, dass mit dem Aufkommen der sozialen Produktion die Kulturindustrien (Zeitungen, Verlage, Musikvertrieb, Filmvertrieb etc.) immer stärker in die Krise geraten. Unbestreitbar: Arbeit, die in soziale Produktion investiert wird, gewinnt zunehmend an Bedeutung, nicht nur an gesellschatlicher Bedeutung, sondern auch an wirtschatlicher Bedeutung. Gleichzeitig eröfnet diese Form von Arbeit eine Reihe von neuen sozialen, politischen und ökonomischen Fragen und Problemen. Dies sind Fragen zum Wert der Produkte sowie Fragen zum Wert der Arbeit. Dies sind weiterhin Fragen zur Rückgewinnung von Autonomie über den Arbeitsprozess, aber auch Fragen zu neuen Formen von Entfremdung, die sich, wie etwa Franco ‚Bifo‘ Berardi (2009) vorschlägt, an der Achse zwischen menschlicher Zeit und monetärem Wert ausdrücken. Dies sind schließlich auch Fragen zu neuen Formen von Ausbeutung. Denn im Internet sind die Nutzer zu Produzentinnen von Inhalten geworden. Sie produzieren Informationen, die Proit ermöglichen. Diesen Vorgang beschreibt Yann Moulier-Boutang (2007) als ‚pollination‘. Firmen wie zum Beispiel die Anbieter von social media platforms können durch die unbeabsichtigte Arbeit der user Proite erwirtschaten, genauso wie manche Planzen zur Reproduktion auf die unbeabsichtigte Befruchtungsarbeit von Bienen angewiesen sind. Ausgebeutet wird hier soziale Interaktion selbst. Im digitalen Kapitalismus ist soziale Produktion auf der einen Seite Arbeit und auf der anderen Seite nichts anderes als menschliche Energie, menschliche Zeit, sowie der Ausdruck von Gefühlen, Gedanken, und Beziehungen. Schließlich sind dies Fragen zum Verhältnis zwischen social production und der Produktion für den Markt, denn ot bilden sich hier neue Mischformen heraus. Die Herausforderung, die diese Entwicklung an die Sozialwissenschat stellt, ist in der Tat enorm. Um Lohnarbeit ethnograisch kritisierbar zu machen, ist eine Ausweitung des Blicks jenseits der engen Grenzen von Lohnarbeit erforderlich. 78 Andreas Wittel Michael Burawoy (1979), dessen ,Manufacturing Consent‘ ebenfalls zu der Reihe von arbeitsethnograischen Klassikern gehört, die auf eine Fetischisierung von sozialer Interaktion verzichten, entwickelt in seiner Studie eine scharfe Kritik soziologischer Praxis. „he political implications of sociology stem from the adoption of a particular philosophy of history in which the future is the perfection of the present, and the present is the inevitable culmination of the past. From this all else follows. By taking the particular experiences of capitalist society and shaping them into universal experiences, sociology becomes incapable of conceiving of a fundamentally diferent type of society in the future…What exists is natural, inevitable, and unavoidable“ (Burawoy 1979: 13). Ob diese harsche Kritik an soziologischer Forschung gerechtfertigt ist oder nicht, sei an dieser Stelle dahingestellt. Was mich an dem Zitat beeindruckt, ist sein Plädoyer für eine utopisch ausgerichtete Sozialforschung. Literatur Abu-Lughod, Lila (1991): Writing against culture. In: Recapturing Anthropology. Santa Fe: School of American Research Press: 137 – 62 Amann, Klaus / Hirschauer, Stefan (1997): Die Befremdung der eigenen Kultur. Ein Programm. In: Hirschauer, Stefan / Amann, Klaus (Hrsg.): Die Befremdung der eigenen Kultur. Zur ethnographischen Herausforderung soziologischer Empirie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp: 7 – 52 Bauman, Zygmunt (2000): Liquid modernity. Cambridge: Polity Press Beck, Stefan (2009): Vergesst Kultur – wenigstens für einen Augenblick ! Oder: Zur Vermeidbarkeit der kulturtheoretischen Engführung ethnologischen Forschens. In: Kultur – Forschung. Zum Proil einer volkskundlichen Kulturwissenschat. Studien zur Alltagskulturforschung. Bd. 6. 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