½ Aus der Praxis ½
Die therapeutische Beziehung
aus systemischer Sicht
"
Wolfgang Loth, Arist von Schlippe
Abstract
Der therapeutischen Beziehung wurde in
der Entwicklung von Familien- und Systemischer Therapie teilweise sehr unterschiedliche Bedeutung zugemessen. Die
aktuelle Diskussion und Praxis gewichtet
sie allerdings zentral. Konstruktive Kooperation ist dabei ein wesentliches Leitmotiv. In der praktischen Ausgestaltung
zeigt sich dies vor allem in zwei Aspekten:
positive affektive Rahmung und kontraktorientierte Haltung. Während die affektive
Rahmung einer übergreifenden Metastabilität dient, unterstützt die kontraktorientierte Haltung das Ausgestalten der
notwendigen Instabilität, die mit signifikanten Veränderungen verbunden ist.
Key words: Systemische Therapie, Familientherapie, Beziehung, Ressourcenorientierung, Auftragsklärung, klinische Kontrakte,
Beisteuern, partizipative Verfahren
Therapeutische Beziehung
und systemische Therapie ±
ein facettenreiches Bild
Das Bild der therapeutischen Beziehung
in der systemischen Therapie hat sich
im Laufe der Jahre erheblich gewandelt
(vgl. Reiter u. Mitarb. 1988, v. Schlippe
u. Schweitzer 1996, Schiepek 1999). Die
Frühphase der Familientherapie ist gekennzeichnet durch eine Haltung, die
der Familie die existenzielle Erfahrung
einer ¹Heilung durch Begegnungª bot
(Stierlin u. Mitarb. 1977) ± etwa im Rahmen einer ¹kongruenten und offenen Beziehungª oder in der Konfrontation mit
vermiedenen Themen aus der Familiengeschichte (Boszormenyi-Nagy u. Spark
1981).
Ab Mitte der 70er-Jahre brachte demgegenüber die sog. Mailänder Schule einen ¹radikal kybernetischen Ansatzª ins
Spiel. Anders als in den erstgenannten
Modellen ging es hier weniger um eine
kongruente und empathische Haltung,
als vielmehr um eine Strategie der Undurchschaubarkeit. Neutralität galt als
gegeben, wenn am Ende einer Sitzung
kein Familienmitglied sagen könnte, auf
wessen Seite die TherapeutIn gestanden
habe (Selvini Palazzoli u. Mitarb. 1981,
S.137). Im sog. ¹Zweikammersettingª beobachtete ein Team die Sitzung hinter der
Einwegscheibe und registrierte sorgfältig
die Einladungen der Familie an den Therapeuten, die therapeutische Position
aufzugeben und sich auf die Seite der Familie bzw. einzelner Mitglieder zu bege-
ben. Eine persönliche oder gar liebevolle
Beziehung zu den Familienmitgliedern
aufzunehmen, passte nicht in die Konzeption dieser Modelle, die Stierlin und
Mitarbeiter (1977) als ¹Heilung durch
Systemveränderungª beschrieben: Die
Therapeuten verstörten die kommunikativen Muster ¹von auûenª, und warfen
¹kommunikative Bombenª, die das
¹Spielª der Familie unmöglich machen
sollten. Klassische Vorstellungen über
die therapeutische Beziehung wurden
skeptisch bis spöttisch kommentiert, Manipulation als Instrument ausdrücklich
gebilligt (z. B. Watzlawick 1977, S. 14).
Im Verlaufe der 80er-Jahre wurden die
hier implizit versteckten Machtkonzepte
zunehmend hinterfragt ± etwa die paradoxe, ¹orakelhafteª Schlussverschreibung, die die Therapeuten nach der Beratung hinter dem Einwegspiegel von sich
gaben. Boscolo u. Cecchin, selbst Mitglieder des Mailänder Teams, reflektierten
nach ihrer Trennung von Selvini Palazzoli
selbstkritisch die Orientierung an der
Metaphorik des Kalten Krieges, in der
KlientInnen eher als Gegner gesehen
wurden, deren ¹Manöverª, ¹Schachzügeª
und ¹Strategienª strategisch zu ¹durchkreuzenª waren (Boscolo u. Mitarb.
1988). Das Ergebnis war eine Neuformulierung der Prämissen systemischer Arbeit. Neben das ¹Begegnungs-ª und das
¹Systemveränderungsmodellª tritt nun
ein ¹Kooperationsmodellª: Therapie wird
als gemeinsame Suche nach guten Beschreibungen angesehen, die auf einem
möglichst genauen Erarbeiten der Wünsche und Bedürfnisse der KlientInnen
aufbaut.
Moderne Selbstorganisationstheorien
rückten einen weiteren Aspekt in den
Vordergrund (z. B. Schiepek 1999, Kriz
1999): Wenn Therapie bedeutet, dass in
selbstorganisierten Systemen ¹OrdnungsOrdnungs-Übergängeª angeregt werden,
die mit einer Labilisierung und Chaotisierung gewohnter Muster einhergehen,
dann bedarf es hierzu des stabilisierenden Fundaments einer vertrauensvollen
Beziehung. Durch eine kontinuierliche
¹affektive Rahmungª der Situation
kommt es zu einem ¹Fallverstehen in
der Begegnungª (Welter-Enderlin u. Hildenbrand 1996) als Grundlage dafür, dass
sich KlientInnen ± Einzelpersonen, Paare
und Familien ± mit für sie bedrohlichen
Inhalten und Herausforderungen zur Veränderung auseinander setzen. Das Kooperationsmodell braucht also die Beziehung als Basis (Levold 1997).
Die Aufgabe der HelferInnen im Rahmen einer Therapie besteht so gesehen
Therapeutische Beziehung ´ Psychotherapie im Dialog 4 | 2004 | 5. Jg.
´ 341
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341
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Aus der Praxis
darin, konsequent einen guten Kooperationsprozess zu moderieren. Die Hilfesuchenden bestimmen die Inhalte und Veränderungswünsche, die TherapeutIn
sorgt für einen affektiven Rahmen, der
die bestmögliche und konstruktive Bearbeitung der Anliegen erlaubt. Auch wenn
hierbei Ideen zum aktiven Erschlieûen
von Zielen, brauchbaren Ressourcen und
Ergebniskriterien eingebracht werden, ist
dies nicht als gezielte Beeinflussung eines anderen Menschen zu sehen, sondern
als konzentriertes, konstruktives ¹Beisteuernª (Abb. 1).
Als Metastabilität wird der so entstehende sichere Rahmen bezeichnet, der
genügend Sicherheit vermittelt, um sich
auf die oft schmerzliche Instabilität einlassen zu können, die in der Auseinandersetzung mit belastenden Gefühlen und
Themen erlebt wird. In den folgenden
Abschnitten sollen die bislang schlaglichtartig dargestellten Aspekte einer systemischen Konzeption der therapeutischen Beziehung konkretisiert werden.
Autonomie als Schlüsselwort
Angenommen, Sie haben alles getan, was
Sie konnten, um jemanden in einer schwierigen Lebenssituation zu unterstützen. Sie
haben all Ihr Wissen, Ihre Erfahrung und
alle Möglichkeiten des Umfeldes genutzt,
die zur Verfügung standen. Schlieûlich erfahren Sie, dass es der Person, der Sie helfen wollten, auch tatsächlich besser geht.
Noch während Sie merken, dass Sie sich
darüber freuen, erfahren Sie, möglicherweise beiläufig, dass diese Person die Besserung damit begründet, sie habe ihre Ernährung umgestellt ± ein Thema von dem,
Sie sind sich sicher, im Gespräch nicht die
Rede war. Haben Sie geholfen?
¬
Ob etwas geholfen hat und was, entscheiden diejenigen, denen geholfen werden
sollte. Hier kommen wir auf eine spannungsgeladene Unterscheidung, die ein
Grundthema lebender Systeme darstellt:
Einerseits gilt es anzuerkennen, dass
Menschen Sinn ± also Anschlussbereitschaft und Anschlussfähigkeit ± nur aus
sich selbst heraus schaffen, andererseits
gilt es zu berücksichtigen, dass sie von
anderen abhängig sind, um aus sich
selbst heraus wirken zu können. Hilfesuchende werden daher konsequent als autonom, als nicht-instruierbar und als ExpertInnen ihres eigenen Lebens angesehen. Gleichzeitig wird die Notwendigkeit
sozialer Voraussetzungen berücksichtigt,
342 ´
Joining,
Small-Talk,
Kontaktaufbau,
Rapport
Wertschätzung,
Ressourcenund Lösungsorientierung
Affektabstimmung
(affektive
Rahmung)
Klarer äußerer
Rahmen (Zeit,
Raum, Form).
Kooperativer
Kontrakt. Klare
Gesprächsführung
Empathie,
einfühlendes
Verstehen,
Feinfühligkeit
Erzeugung von Metastabilität: ein Rahmen von Sicherheit, eine sichere Basis
Herstellen und Aufrechterhalten einer konstruktiven Hilfebeziehung
Erzeugung von Instabilität: innerhalb dieses Rahmens ein Spannungsbogen
von Interesse, Neugier und Aufregung
Zirkuläres/hypothetisches Fragen,
Lösungsfragen,
Skulpturarbeit
Dekonstruktion
(Querdenken)
Schlusskommentar,
Kontexterweiterung,
Reframing, Musterunterbrechung,
Mach etwas anderes, oder auch NoChange-Intervention
usw.
Thema fokussieren
(ggf. hidden agenda);
Unterschiede
verdeutlichen (Wer
mehr, wer weniger?)
Konfrontation,
Metakommunikation, Tabus ansprechen; Reflektierendes Team
Abb. 1 Prozessbeisteuerung in der systemischen Therapie (aus: v. Schlippe 2003, S. 38)
± Steuerung des therapeutischen Prozesses bedeutet: in einem Rahmen von Vertrauen und
Sicherheit für bedeutsame Interaktionen sorgen: bei welchem Thema, welcher Frage ist die
¹Energieª?
± Diese Steuerung spielt sich zum einen auf der Mikroebene des Prozesses ab: Blicke,
Lächeln, Bestätigen oder Infragestellen, zum anderen auf einer übergeordneten Ebene:
Contracting, Aufträge abklären, Angebote formulieren, gröûere thematische Bögen schlagen usw.
± Erzeugung von Instabilität ohne sicheren Rahmen ist ethisch nicht vertretbar
± Jedoch zu viel Vergewisserung von Sicherheit kann in eine Dynamik von Lähmung führen.
um dies sein zu können. So wird auch ein
Symptom oder eine Störung in seiner Bedeutung für das Überleben-in-einemKontext gewürdigt. Es wird versucht, im
therapeutischen Dialog wertschätzende
Beschreibungen für Störungen und
Symptome zu finden, Blockaden bei der
Nutzung potenziell bereits vorhandener
Lösungsressourcen zu überwinden und
diese Ressourcen (wieder) neu zu entdecken und zu nutzen.
Die praktischen Konsequenzen einer
solchen Perspektive sind erheblich, denn
die Frage von Autonomie und Kontrolle
stellt sich neu: Autonomie ist der Ausgangspunkt therapeutischer Bemühungen,
nicht ihr Ziel. Dies bedeutet den Verzicht
auf jegliche manipulative oder autoritäre
Einflussnahme ± mit der Chance für die
Möglichkeit generativer Veränderungen.
Auf die Idee gezielter und geplanter Veränderung zu verzichten, öffnet den Blick
Psychotherapie im Dialog 4 | 2004 | 5. Jg. ´ Therapeutische Beziehung
für Optionen, die sich aus dem Geschehen selbst heraus ergeben.
Die erlebte Widersprüchlichkeit und
¹Chaotikª der Lebensbedingungen und
-entwürfe von Hilfesuchenden sind so
gesehen nicht spezifischer Ausdruck eines Defizits, sondern potenziell brauchbare Ausgangspunkte für einen nächsten
guten Schritt. Vorgestellte Beschwerden,
Probleme und Störungen können dann
als Sonderfall von Selbstwirksamkeitsbemühungen (an)erkannt werden, die innerhalb eines als relevant erlebten Kontextes ¹Sinn ergebenª.
Probleme im Kontext bedenken und
den Möglichkeitsraum weiten:
± Wenn die Sorgen um einen aggressiven Sohn bisher das Familienleben dominierten: Was gibt es noch, was für
¹uns als Familieª spricht? Was
braucht es, um dieses andere zu stärken?
½
Die therapeutische Beziehung aus systemischer Sicht
± Wenn die Sorge darum, dass der Partner wieder rückfällig werden könnte,
die gesamte Paarbeziehung (im Wortsinn) aus-machte: Was spricht noch
für ¹uns als Paarª? Was braucht es,
um dieses andere zu stärken?
± Wenn meine Sorgen um etwas mich
völlig am Haken haben: Sind die Sorgen das einzige, worauf ich mich verlassen kann? Und von wem würde ich
lieber nicht verlassen werden?
Systemische Therapie geht weniger von
Hypothesen darüber aus, wie ein Problem oder Leiden entstanden ist, als vielmehr von der Frage, was helfen könnte,
eine pragmatische Position, die dem therapeutischen Imperativ folgt: ¹Handle
stets so, dass weitere Möglichkeiten entstehenª (v. Foerster 1981, S. 60). Eine entscheidende Rolle spielt dabei die therapeutische Beziehung. Sie macht ± wenn
es gut geht ± das Risiko der Veränderung
erträglich. Denn im Gegensatz zu jeder
Veränderung, auch der erwünschten, ist
alles Beklagte vertraut (Grabbe 2001).
Wer davon ausgeht, dass Probleme und
leidvolles Erleben Sinn machen, indem
sie bisher ein soziales Eingebundensein
und ein ausreichend einheitliches Selbstbild gewährleisteten, der hat auch ein
Gespür für das Risiko, das damit verbunden ist, es einmal mit anderen Mitteln zu
versuchen.
Ein Beispiel aus der Kinder- und Jugend-
psychiatrie: Ein 13-jähriger Junge mit extrem niedrigem Selbstwertgefühl verhielt
sich auf der Station so, dass es fraglich
schien, ob er dort verbleiben könne. Im
Teamgespräch wurde vereinbart, diesem
Jungen besondere Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, kleinste positive Ansätze
freundlich zu kommentieren und ihm immer wieder zu versichern, dass er geschätzt werde. Die Reaktion auf eine Aussage wie: ¹Thomas, ich mag dich richtig
gern!ª bestand jedoch in einer massiven
Steigerung seiner Spannung, die Augen flackerten und er wurde unruhig und fahrig,
bis er z. B. eine Tasse auf dem Boden zersplitterte. Sobald die Betreuerin zu schimpfen begann: ¹Mensch! Kannst du nicht aufpassen!ª, ging eine erkennbare Entspannung durch ihn: ¹Ich wusste doch, dass
keiner mich mag!ª ± die Welt war wieder
in Ordnung, so unglücklich sie auch sein
mochte.
¬
Wenn äuûere ¹Ereignisseª und deren innere Ein-¹Ordnungª passen, scheint das
die Angst vor dem Chaos zu bannen und
Vorhersagbarkeit und Verlässlichkeit zu
gewährleisten (Kriz 1999). Dies gilt
umso mehr, wenn sich darüber auch
noch ¹ohne Brücheª anschlussfähig kommunizieren lässt. Die bislang ¹ordnendenª Symptome und ¹Störungenª mögen
zwar schaden oder schmerzen, doch
kann man sich irgendwie auf sie verlassen. Was sich dazu als Alternative anbietet, müsste sich erst noch bewähren, es
ist noch unvertraut, und ob es gut geht,
kann nicht gewusst, sondern nur gehofft
und geglaubt werden. Systemische Therapie begegnet dieser Situation mit dem
nachhaltigen Bemühen um Transparenz,
mit dem Ziel, eine offene Kooperation zu
ermöglichen (Loth 1998, Hargens 2004).
Alles kommt darauf an, wie sich Hilfesuchende und Hilfeanbieter darüber verständigen, was und wie Hilfe in diesem
Fall geschehen könnte.
Dieses Selbstverständnis einer kooperativen
therapeutischen
Beziehung
scheint zu neueren Forschungsergebnissen zu passen. In der Zusammenfassung
der Task Force 29 der American Psychological Association (APA) heiût es etwa, effektive Therapeuten zeichneten sich dadurch aus, ¹dass sie spezifische Methoden anwenden, tragfähige Beziehungen
anbieten und sowohl unterschiedliche
Methoden als auch Beziehungsangebote
differenziert an der individuellen Person
und am jeweiligen Rahmen ausrichtenª
(Norcross 2002, S. 13, übers. durch uns).
Es braucht ein sorgfältiges, individuelles
Verständnis davon, um was es den Hilfesuchenden geht, und die Bereitschaft, das
Hilfeangebot genau darauf zu beziehen,
sonst sinkt die Wahrscheinlichkeit für
geglückte Hilfebeziehungen dramatisch
(Hubble u. Mitarb. 2001).
Autonomie und ¹doppelte
Kontingenzª
Das Vorzeichen der Autonomie setzt einige Interventionsideen auûer Kraft, die
es auf den ersten Blick leichter zu machen scheinen. Wie kann da Praxis funktionieren? Das ¹Therapeutendilemmaª
wird von Ludewig anschaulich illustriert:
¹gezielt handeln zu wollen, ohne den anderen ,durchschauen` zu können und daher ohne zu wissen, was sein Handeln
bewirktª (1992, S. 124). Wirksamkeit
kann aus der bisher skizzierten Sicht
nicht als erfolgreiches Einwirken beschrieben werden, sondern ergibt sich
aus der Art des Kooperierens zwischen
Hilfesuchenden und HilfeanbieterInnen.
Luhmann (1984) schlägt vor, Kommunikation als kennzeichnende Operation
sozialer Systeme anzunehmen. Als Ausgangsbedingung müsse erfüllt sein, dass
die Hürde der ¹doppelten Kontingenzª
überwunden wurde. Kontingenz bedeutet, dass kein sicheres Vorauswissen darüber möglich ist, was mein Gegenüber
als nächsten Schritt ausführt, es könne
auch ¹alles ganz andersª kommen als gedacht. Da dies für beide Seiten gilt, heiût
es ¹doppelteª Kontingenz: Wir können
uns nicht gegenseitig in die Köpfe (oder
Herzen) schauen, sondern sind darauf
angewiesen, unsere inneren Geräusche,
gerade die in Bezug auf den anderen, so
zu ordnen, dass sie für uns Sinn machen.
Dies müssen wir damit auch dem anderen unterstellen. Anschlieûend müssen
wir das Risiko eingehen, etwas zum Mitteilen auszuwählen, es mitzuteilen, auf
Anzeichen für Verstehen beim anderen
zu achten und uns so die eigene Undurchsichtigkeit wechselseitig zur Verfügung zu stellen. Für die konkrete Praxis
bedeutet dies, zu lernen, ein ¹guter Zuhörerª zu sein und nicht zu rasch zu verstehen! Je schneller man davon ausgeht,
dass man den anderen verstehe, umso
schneller endet der Dialog. Zu rasches
Verstehen birgt die Gefahr in sich, die
Entwicklung neuen Sinns zu blockieren.
So ist eine Position des ¹Nicht-Wissensª
der Ausgangspunkt systemischer Bemühungen und stellt eine besondere Form
des Beziehungsangebots dar (Goolishian
u. Anderson 1997).
In seiner interpersonal ausgerichteten
Neurobiologie der Psychotherapie zieht
Siegel (2003) Parallelen zwischen Therapie, speziell dem Umgang mit kontingenter Kommunikation, und dem Herstellen
von Rahmenbedingungen für ein sicheres
Bindungsverhalten. Beziehungen müssen
feinfühlig, aufmerksam und respektvoll
gestaltet werden, um hilfreiche Alternativen zu bisher gültigen Einbettungen von
Sinn darstellen zu können (vgl. Streeck
2004). Kernfrage ist: Wie können die Beteiligten ihre Möglichkeiten so zusammenbringen, dass ein gutes Ergebnis erzielt wird? Eine besondere Herausforderung ist es, für alle Beteiligten wertschätzende Beschreibungen zu finden, also
auch hinter scheinbar destruktivem Verhalten nach dem potenziell konstruktiven Beitrag zu suchen. Lösungen haben
nur dann Bestand, wenn ¹alle gewinnenª.
Entscheidend ist, dass alle Beteiligten ein
Gefühl dafür entwickeln können, selbst
bedeutsam zum Geschehen beitragen zu
können.
Die Mutter der 8-jährigen Walli macht
sich Sorgen wegen des niedergeschlagenen
Therapeutische Beziehung ´ Psychotherapie im Dialog 4 | 2004 | 5. Jg.
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½
Aus der Praxis
Eindrucks, den die Tochter oft mache. Von
Wallis Vater ist sie seit einigen Jahren getrennt. Sie hat die alleinige Sorge. Wegen
der Weigerung des Vaters gebe es immer
noch keine befriedigende Umgangsregelung. Das möchte die Mutter ändern, da
sie diese Situation mit Wallis Niedergeschlagenheit in Verbindung bringt.
Nach dem ersten Gespräch mit der Mutter
hatte ich ± mit ihrer Einwilligung ± den
Vater zu einem Gespräch eingeladen. Er
hatte in diesem Gespräch dem Vorschlag
eines gemeinsamen Gesprächs zugestimmt.
Zu diesem Gespräch hatte ich beide brieflich eingeladen. In dem Brief hatte ich Aussagen aus den jeweiligen Einzelgesprächen
wiederholt: Es gehe dabei ausschlieûlich
darum, nach Möglichkeiten für eine konstruktive Absprache zu suchen, kein Ermitteln von Schuld, kein Aufrechnen oder Vergleichbares: ¹Ich erbitte Ihre Zustimmung
dazu, solche Gesprächsthemen und -formen frühzeitig zu unterbrechen, die diesem
Ziel nicht dienenª. Mit Dank für die Bereitschaft, ¹sich in dieser Weise verantwortlich
für das Wohl Ihrer Tochter einzusetzenª
und Respekt davor, ¹dass dies nicht immer
einfach für Sie istª endete der Brief.
Jetzt sind die Eltern da. Die Sekretärin teilt
mir mit, im Wartezimmer säûen wohl zwei
¹Feindeª, die sich mühsam beherrschten.
Ich bedanke mich bei den Eltern dafür,
dass beide den Weg auf sich genommen
haben und unterstreiche noch einmal die
im Brief angedeutete Konzentration auf die
Zukunft:
± Wie kann sich Walli ausreichend sicher
werden, dass sie beide Eltern ¹hatª?
± Woran könnte sie erkennen, dass Mutter
und Vater so miteinander umgehen, dass
sie sich frei genug fühlen kann, mit beiden
ihre Erlebnisse und Wünsche, ihre Freuden
und Leiden zu besprechen?
Erste Prüfung Zwischenstand: Ist das für
beide eine akzeptable Idee? Ja, Mutter direkt, Vater etwas zögerlich, jedoch schlieûlich klar: ja.
Was könnte ein nächster guter Schritt
sein? Mutter: ¹Dass wir wieder miteinander redenª. In welcher Weise reden? ¹Uns
austauschen über Walliª. Vater? Vater
geht nicht unmittelbar auf die Frage ein,
berichtet vom letzten gemeinsamen Wochenende mit Walli, da seien sie zusammen ins Tierheim gegangen, da Walli sich
ein Tier wünscht. Er habe ihr abgeraten,
sich einen Hund anzuschaffen, habe ihr
stattdessen gesagt: ¹Wenn deine Mutter
einverstanden istª, könnten sie ja regelmäûig einen Hund aus dem Heim ausführen.
Er könne sich das einrichten.
Das Zauberwort: ¹wenn Deine Mutter einverstanden istª klingelt, ich greife es auf.
344 ´
Ob ich darunter so etwas verstehen könne
wie die Idee, dass es grundsätzlich sinnvoll
sei, den anderen Elternteil bei Überlegungen von Tragweite ¹mit zu bedenkenª, d. h.
in die gedankliche Auseinandersetzung mit
einzubeziehen. Der Vater zögert, stimmt
jedoch zu, wenn auch offensichtlich irritiert. Er habe, ich lege das nach, offensichtlich bereits damit begonnen.
Auch die Mutter schildert ein Ereignis aus
der letzten Zeit: Sie hatte die Tochter gebeten, den Vater doch zu fragen, ob er nicht
am 2. Weihnachtstag dazu kommen wolle,
als ein zusätzliches Treffen zu den bereits
vereinbarten. Er hatte abgelehnt. Sie hatte
das bedauert. Aber akzeptiert? Ja, schlieûlich ja. D. h., sie hatte, ohne es explizit zu
wissen, bereits zwischen Einladung und
Vorladung unterschieden: Einladungen
kann man ablehnen, Vorladungen nicht.
So und so ähnlich geht es weiter, im teilweise mühsamen, teilweise fast humorvollen Entwickeln von Bestandteilen einer Art
konstruktiver Kooperation der Eltern. Dazu
gehören in der Zwischenzeit auch Phasen,
in denen Befürchtungen zur Sprache kommen: wenn etwa der Vater den Finger der
Vater-Kooperation hinhält, ob dann nicht
sein Mann-Arm ergriffen werde (im Gespräch mit ihm allein war es darum gegangen, dass er glaubt, die Frau lasse ihn
nicht wirklich los). Er hält ¹Gleichgültigkeitª dagegen, es sei ihm letztlich gleichgültig, was die Frau mache.
Ich greife das auf und ertaste Möglichkeiten, ob es sich vielleicht um ¹Neutralitätª
handeln könne anstelle um Gleichgültigkeit. Ich denke laut nach über einen höherem Grundverbrauch des Organismus bei
¹Gleichgültigkeitª (da immer noch affektiv
besetzt) als bei ¹Neutralitätª und dass
Neutralität daher eine gute Grundlage für
Kooperation sei. Für den Vater scheint ein
Dilemma zu entstehen. Er findet das mit
dem Grundumsatz, das mit der Ökonomie
des Organismus offensichtlich irgendwie
beeindruckend. Gleichzeitig passt seine ¹irgendwieª auch abweisende Gleichgültigkeit da nicht so ganz: Er macht sich offensichtlich noch Gedanken, also Arbeit. Er
sucht nach einem Ausweg und die angebotene Kooperation ¹zum Wohl des Kindesª
scheint ihm erst einmal ein solcher Ausweg, zumal sich die Kooperation der Eltern, in dem was sie berichten, immer wieder ¹wie von selbstª zu dokumentieren
scheint.
Immer wieder die Zwischenschleife: sind
wir noch in einem plausiblen Rahmen für
beide? Beide bestätigen das verbal und
auch nonverbal glaubhaft, die Mutter mit
etwas mehr Emphase, der Vater mit weniger, jedoch sehr aufmerksam, und es ist
Psychotherapie im Dialog 4 | 2004 | 5. Jg. ´ Therapeutische Beziehung
auch er, der das Thema des bevorstehenden Wechsels zur weiterführenden Schule
anspricht. Für eine Zeit wird das Thema
Schulwechsel zu einer Demonstration, wie
elterliche Kooperation aussehen könnte.
Schlieûlich die Frage: Kann festgehalten
werden, dass die Eltern im Hinblick auf
ein Ziel übereinstimmen? Die Zielidee:
¹Dass sich Walli leichter ausreichend sicher sein kann, dass wir als Eltern zusammenarbeiten?ª Was heiût: sich über wichtige Themen, wie Schule, Zeitregelungen,
u. a. m. abzustimmen, auseinander zu setzen und sich direkt anzusprechen?
Für die Mutter ist das ein Ziel, der Vater
zögert. Er bringt wieder seine ¹Gleichgültigkeitª ins Spiel. Wenn es Spitz auf Knopf
stehe, gelte eh die Entscheidung der Mutter. Die mittlerweile entstandene Atmosphäre scheint jedoch Spielraum zu geben,
am Thema noch etwas zu basteln. Ich akzeptiere und würdige, dass beide Eltern in
diesem Gespräch bereit waren, ihren Spielraum auszuloten, sich hier im weitesten
Sinne kooperativ verhalten haben. Zum
Vater: Ob ich ihn recht verstehe, dass er
eine Sicht vorschlage der Art: ¹Walli ist
meine Tochter und sie ist deine Tochter,
aber nicht unsere Tochterª. Er stimmt zu,
nachdenklich, aber noch immer nicht bereit, über die von ihm deutlich markierte
Grenze zu gehen, auch wenn er es plausibel
findet, dass es auf Dauer für Walli besser
sei, wenn sie den Eindruck haben könne,
die Eltern arbeiten zusammen.
Ich danke für die bisherigen Bemühungen
der Eltern und fasse zusammen, dass beide
Eltern darin übereinstimmen, zum Wohle
des Kindes wenigstens alles zu unterlassen,
was einen Konflikt schädlich machen würde. Bildhaft: zwar nicht aktiv für Frieden
sorgen (Frieden ist ja aktives Bemühen,
kein Zustand), aber darauf verzichten,
Bomben zu werfen. Das ist die Basis, auf
der es weitergehen könnte. Beide greifen
die Möglichkeit zu einem weiteren gemeinsamen Gespräch auf.
¬
Ein Navigationsinstrument
für die Praxis: das Entwickeln Klinischer Kontrakte
Entscheidend für den Verlauf eines therapeutischen Prozesses ist es, ob ein guter affektiver Rahmen für selbstorganisierende Prozesse bereit gestellt werden
kann. Er vermittelt ± wenn es gut geht ±
gefühlsmäûig eine überdauernde Komponente: Was sich verändert, geht von
einem gesicherten Grund aus. Von dieser
sicheren Basis aus kann dann kontinuier-
½
Die therapeutische Beziehung aus systemischer Sicht
Tab. 1
Übersicht: Kontraktorientierte Leistungsbeschreibung (KOLB)
Kategorie
Tätigkeit
Basisarbeit
Validieren der Situation: Willkommen! und die weiteren Schritte
einladend gestalten
Anlässe: Welche Sorgen bewegen zum Aufsuchen der Hilfe? Wer
teilt diese Sorgen? Wer hat entschieden, um Hilfe zu fragen?
Unter welchen Umständen sind die Sorgen immer da, unter
welchen vielleicht weniger?
Anliegen: Wer hofft auf welche Veränderungen als Folge der
Hilfe? Was sollte getan werden? Und von wem?
Wie können unterschiedliche Anliegen verschiedener Beteiligter
koordiniert werden?
Anstoû klären: Falls andere den Anstoû gaben: Was müsste geschehen, damit diese sich keine Sorgen mehr machen?
Passung klären: Wie passen Anliegen und Rahmen des Hilfeangebots zusammen?
Informieren über eigene Möglichkeiten und Rahmenbedingungen. Gegebenenfalls: geeignetere Hilfeangebote vermitteln
Setting: Interessen und Teilnahmewünsche anderer berücksichtigen.
Motto ¹Eingeladen sind alle, die dazu beitragen möchten, dass
sich etwas ändertª
Veränderungsbereitschaft und Beziehungsform der Hilfeanfrage
berücksichtigen:
± Vorfeld, Abwägen, bereit zum Handeln, Rückfall?
± Kundschafts-, Interessenten-, Klage-, Besuchs-Beziehung?
Ziele: Wo soll es hingehen? Anschaulich und konkret? Im Entscheidungsrahmen der KlientInnen?
Aufträge handhabbar formulieren: Wird allen Beteiligten klar genug, wie sie zum Gelingen beitragen können?
individuell ausgerichtetes Helfen (Beratung, Therapie, Anleitung,
Begleitung, Information, ¼) ¼
¼ in verschiedenen Personen-Settings
Verlauf beständig an den Zielkriterien abgleichen: Noch auf dem
angepeilten Weg? Nähe zum Ziel?
Gültigkeit des Auftrags im Blick haben; gegebenenfalls: Neuformulieren
Kontrakt-Status: Kontrakt erfüllt? Noch nicht erfüllt? Einvernehmlich beendet? Ausbleiben weiterer Nachfrage? Abbruch?
qualitative Auswertung
quantitative Auswertung
Entwickeln von Aufträgen
am Auftrag orientiertes
Arbeiten
Evaluation/Dokumentieren
lich ein gemeinsamer Kontrakt entwickelt und immer wieder neu überprüft
werden1. Dabei soll das Beisteuern professioneller HelferInnen einerseits inhaltlich möglichst wenig eingeschränkt werden. Andererseits soll formal an jeder beliebigen Stelle des Prozesses beschrieben
werden können, was gerade geschieht.
Ein Modell für den Umgang mit Klinischen Kontrakten ist in Tab. 1 zusammengefasst (Loth 1998, 2003a, b). Es fördert
die Möglichkeit, dass Hilfesuchende sich
von Beginn an als selbstwirksam erleben
können. Dreh- und Angelpunkt ist die
grundsätzlich unterstellte ¹Kundigkeitª
1
Daher fasst das englische Wort ¹Contractingª die Prozesshaftigkeit des Geschehens wahrscheinlich besser als das statische Bild des ¹Kontraktsª.
der KlientInnen, deren Wirken in einer
Haltung ¹unerschrockenen Respektierensª unterstützt wird (Hargens 2004).
In der Logik des Kontraktmodells leiten
sich aus ¹Anlässenª keine unmittelbar
daraus folgenden spezifischen Interventionen ab. Sowohl das Erleben von Sorgen
und Leid als auch deren Mitteilen können
unter Umständen mit sehr unterschiedlichen Anliegen, Aufträgen und Kontrakten
verbunden sein.
Wenn
zum Beispiel eine Mutter ihren
8-jährigen Sohn vorstellt, der noch nachts
ins Bett macht, muss das nicht ohne weiteres heiûen, die Therapeutin sei damit
aufgefordert, das Einnässen zu beenden.
Vielleicht ist das Bettnässen zwar der Anlass, aber für die Mutter gar nicht so problematisch und ihr Anliegen ist eher, dass
das Kind die Bettwäsche allein in die
Waschmaschine steckt. Doch auch das
muss noch keinen Auftrag auf den Weg
bringen. So kann die Frage der Therapeutin, wie sie dabei behilflich sein solle, dazu
führen, dass die Mutter sich von ihr Unterstützung wünscht, sich mit ihrem Mann
auf eine klare gemeinsame Linie dem
Kind gegenüber einigen zu können ± unter
Umständen ein Wunsch, der im weiteren
Verlauf zum Kontrakt eines paartherapeutischen Settings anregt.
¬
Eine kontextualisierende Sicht von Leid
und Problemen bringt es mit sich, den
Schritt von ¹Klage über etwasª zu
¹Wunsch, es sollte anders seinª sorgfältig
zu tun. Die Frage nach Anliegen ist
gleichbedeutend mit einer Einladung,
den Blick auf den nächsten guten Schritt
zu richten. Unter anderem beinhaltet das
Erörtern von Anliegen auch die Möglichkeit, eventuelle Ausnahmen vom Beklagten früh ins Spiel zu bringen und dies zu
einer Art ¹Überlebensdiagnostikª auszubauen (Ludewig 2002). Der Unterschied
zwischen Klagen und Anliegen kann als
ein erster Schritt in der Veränderung
von Selbstwirksamkeitserwartungen aufgefasst werden. Anliegen beinhalten
grundsätzlich die Möglichkeit eigenen
Beisteuerns.
Ein Klient winkt ab: ¹Wozu soll ich mir
vorstellen, wie es anders sein sollte? Das
bringt doch sowieso nichts!ª Da ist er sich
sicher, vielleicht. Eine etwas andere Idee
als Angebot: ¹Das klingt, als seien Sie sich
da sicher. Ich würde Sie gerne fragen: Wie
überzeugen Sie sich üblicherweise davon,
dass Sie nichts übersehen?ª Oder: ¹Angenommen, es würde doch etwas bringen:
Wäre Ihnen das recht?ª, ¹Wäre das anderen auch recht? Wem am ehesten, wem
eher nicht?ª Ob solche Fragen als anregendes Angebot aufgegriffen werden oder
nicht, hängt in groûem Umfang davon ab,
als wie sicher die Beziehung von den Hilfesuchenden erlebt wird.
¬
Um einen erwünschten Weg auch gehen
zu können, sind Wegweiser von Vorteil.
Diesem Zweck dient das genauere Bedenken von Zielen. Motivierende Ziele machen für die Beteiligten Sinn, stellen das
Erreichen realistisch in Aussicht und lassen sich in konkrete Einzelschritte übersetzen.
Faustregeln:
± Ziele sind das, worauf sich Hilfesuchende tatsächlich hinbewegen (anstelle nur darüber zu sprechen).
Therapeutische Beziehung ´ Psychotherapie im Dialog 4 | 2004 | 5. Jg.
´ 345
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½
Aus der Praxis
± Ziele sind einfacher zu erreichen,
wenn sie mit den Zielen wichtiger anderer Personen kompatibel sind.
± Ziele können sich verändern und es
hilft weiter, dies kontinuierlich zu berücksichtigen.
Daher ist es notwendig,
± ins Gespräch zu bringen, wie sich besprochene Ziele im geschilderten Alltag wiederfinden,
± dabei zu unterstützen, dass die Ziele
der Hilfesuchenden und die Ziele
wichtiger Bezugspersonen zueinander
passen
± sich immer wieder zu vergewissern,
ob man noch ¹gemeinsam im Bootª
ist und in dieselbe Richtung rudert.
Auftragsbezogenes Helfen
Aus der Perspektive des Entwickelns Klinischer Kontrakte ist es wesentlich, beständig zu überprüfen, inwieweit das
Vorgehen sich (noch) am Auftrag orientiert bzw. aktiv zu klären, ob der Auftrag
bereits erfüllt ist. Das ist hier idealtypisch beschrieben, auch wenn theoretische Erwägungen nicht so ¹einfachª in
praktisches Handeln übertragbar sind.
Doch kann oft die einfache Frage danach,
ob beide Seiten immer noch ¹zufriedenª
mit dem Prozessverlauf sind, ein hilfreicher Ariadnefaden sein.
Das Repertoire an systemisch inspirierten und begründeten Vorgehensweisen
ist umfangreich (v. Schlippe u. Schweitzer 1996). Auftragsbezogenheit steht im
Vordergrund, nicht irgendein modellhaft
entwickeltes Verfahren. Alles wird als
passend akzeptiert, was aus Sicht der Hilfesuchenden ermutigend genug wirkt,
ihre Sicht der Dinge zu weiten und diese
erweiterte Sicht mit denen zu verhandeln, die ihnen wichtig sind.
Ein Experiment als Beispiel: ¹Der geschützte Blick über den Tellerrandª. Diese
Übung bietet an, sich im Fall erlebter
Konflikte einen inneren Freiraum zu verschaffen. Dieser Freiraum kann dadurch
entstehen, dass der Protest gegenüber
dem Verhalten des anderen ergänzt
wird um das Zugeständnis von Sinn und
die Erlaubnis zu einer eigenen Position:
¹Das, was der andere tut, macht Sinn,
auch wenn es mir nicht in den Kram
passt ± und ich muss die Position des anderen nicht übernehmenª2.
2
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eine angewandte Übung zum Umgang mit
¹doppelter Kontingenzª (s. o.)
Eine junge Frau mit psychosomatischen
Beschwerden klagt über ihren Vater, der
sie immer noch behandele wie ein Kind.
Er schreibe ihr vor, was sie zu tun habe.
Sie schildert dies wütend, es sei ¹aussichtslosª. Am meisten schmerzt sie, dass sie dem
Vater durch ihr ¹automatischª wütendes,
¹kindhaftes Protestierenª Anlass gebe, tatsächlich an ihrem Erwachsensein zu zweifeln. Sie erlebt die Situation als ambivalent
genug, um sich eine Abweichung vom ¹automatischenª Reagieren zuzumuten. Sie
lässt sich auf das Gedankenspiel ein, was
sich ändere an ihrer Geschichte, wenn sie
in Erwägung ziehe, dass der Vater ¹sinnvollª handelt, auch wenn es ihr nicht in
den Kram passt. Und dass sie sich vergewissert, dass sie seine Position nicht übernehmen muss.
Sie beschreibt einen innerlich vergröûerten
Spielraum, das Verhalten des Vaters auch
anders als bisher deuten zu können: sich
etwa seine Sorgen zu vergegenwärtigen,
ohne zu vergessen, dass sie diese für unbegründet hält. Es fallen ihr aus diesem
Blickwinkel andere Reaktionen ein als die
bisherigen und sie kann sich ausmalen,
wie sie in der nächsten zu erwartenden Situation mit dem Vater diese anderen Ideen
ausprobiert.
¬
Zusammenfassung und
Schluss
An der Qualität der therapeutischen Beziehung entscheidet sich, ob und wie sich
Ideen über Alternativen zu alltagspraktischen Lösungen entwickeln. Eine Frage ist
dabei von besonderem Interesse: Wodurch wird eine Beziehung zu einer ¹therapeutischenª, was unterscheidet eine
Beziehung, die therapeutisch wirken soll,
von einer, die therapeutisch wirkt? Therapeutische Realitäten werden in Sprache
von Hilfesuchenden und TherapeutInnen
gemeinsam hervorgebracht und entwickelt. Eine solche Beziehung kann nicht
hierarchisch sein, denn die Gesprächspartner sind Teil eines zirkulären Interaktionsmusters, sind gleichberechtigt im
Blick auf die ¹doppelte Kontingenzª, sodass sie aus einer Position des Nicht-Wissens heraus handeln. Therapeutische Professionalität besteht darin, die eigene Expertise ¹bei-zusteuernª, ohne besser zu
wissen, wo KlientInnen ¹eigentlichª hin
sollten. So sind TherapeutInnen eher
¹teilnehmende Beobachterª (Goolishian
u. Anderson 1997), die Raum für konstruktive Gespräche schaffen und dafür
sorgen, dass sie dialogisch bleiben.
Psychotherapie im Dialog 4 | 2004 | 5. Jg. ´ Therapeutische Beziehung
Vielleicht lassen sich die bisher skizzierten Überlegungen mit folgenden Anregungen zusammenfassen:
± Respektiere die Geschichten der
KlientInnen. Nimm die bisher darin
versammelten Bedeutungen ernst
und gehe davon aus, dass es auch anders sein kann und neue Bedeutungen
entstehen können.
± Achte darauf, ob dein Handeln und
Sprechen vom anderen leicht genug
als Kooperieren erlebt werden kann,
sodass dein Gegenüber dir zutrauen
mag, dass du seine Welt als plausibel
akzeptierst ± eine Voraussetzung, sich
an die Idee heranzuwagen, dass Alternativen ebenfalls plausibel sein können.
± Die Alternativen müssen für die Hilfesuchenden passen und sie entscheiden, ob etwas passt für sie oder nicht.
Sei also aufrichtig und beschreibe das,
was du anbietest, verständlich.
± Akzeptiere Klagen über das, was ist,
und schlieûe nicht aus, dass sie der
Ausgangspunkt für einen nächsten guten Schritt sein können. Dies ist, wie
alles im Bereich von Sprache und Bedeutung, eine Auswahl aus einer beinahe unendlichen Vielfalt. Werde dir
daher bewusst, dass du auswählst,
und sei ein gutes Beispiel dafür, verantwortlich und konstruktiv auszuwählen.
± Sorge für einen Rahmen, innerhalb
dessen dein Gegenüber so einfach
wie möglich in der Lage ist, zu bestimmen, was in dieser gemeinsamen Geschichte ein gutes Ende ist.
± Sorge dafür, dass dein eigener Freiraum groû genug ist, um selbst neugierig genug auf Veränderungen zu
sein.
Wolfgang Loth
Diplom-Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut; seit 1978 berufstätig, Erziehungs- und
Familienberatung, Fortbildung, Konsultation
und Supervision. Ausbildung in Familientherapie
(IF Weinheim), Einzelmitgliedschaft Systemische Gesellschaft; Redakteur
der Zeitschriften ¹Systhemaª (Weinheim) und ¹systemeª (Wien).
Veröffentlichungen zu Theorie und Praxis Systemischer Therapie, Entwickeln Klinischer Kontrakte und
Ressourcenorientierung.
½
Die therapeutische Beziehung aus systemischer Sicht
Arist v. Schlippe
geb. 1951, Dr. phil. Dipl.Psych., Privatdozent für
Psychotherapie und Klinische Psychologie, Psychologischer Psychotherapeut. Systemischer
Familientherapeut (IFW),
Gesprächspsychotherapeut (GwG), ausgebildet
in integrativer Therapie (FPI). Seit 1981 am Fachbereich Psychologie der Universität Osnabrück mit
Schwerpunkten Psychotherapie, systemische Familienmedizin, Beratung multikultureller Systeme,
systemische Supervision und Organisationsberatung. Lehrtherapeut am Institut für Familientherapie, Weinheim. Anerkannt als Lehrtherapeut und
lehrender Supervisor bei der Systemischen Gesellschaft, Berlin. Mitautor des ¹Lehrbuchs der systemischen Therapie und Beratung.
Literatur
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5
Korrespondenzadressen:
Dipl.-Psych. Wolfgang Loth
6
Steinbrecher Weg 52
51427 Bergisch Gladbach
7
PD Dr. Arist von Schlippe
Klinische Psychologie
Universität Osnabrück
8
Knollstraûe 15
49069 Osnabrück
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Therapeutische Beziehung ´ Psychotherapie im Dialog 4 | 2004 | 5. Jg.
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