ROSMINI STUDIES 1 (2014) 9-11
Warum Rosmini Studies?
Wissenschaftliche Zeitschriften rosminianischer Inspiration haben eine lange Tradition, die bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückreicht. Die vom Studienzentrum ‘Antonio Rosmini’ der Universität Trient herausgegebenen «Rosmini Studies» ist dabei
die erste Online-Zeitschrift mit freiem Zugang. Nicht nur der Titel und das immer in fünf
Sprachen veröffentlichte Editorial (italienisch, englisch, französisch, deutsch, spanisch)
verraten die dezidiert internationale Ausrichtung dieser jährlich erscheinenden Zeitschrift.
Vor allem die Zusammensetzung des wissenschaftlichen Beirats, die Herkunft der Beitragenden, welche ihre Artikel in der Regel in ihrer jeweiligen Muttersprache verfassen, und
das Medium Internet, das einen freien und kostenlosen Zugang in allen Teilen der Welt ermöglicht, bringen die Internationalität zum Ausdruck. Dahinter steht die Überzeugung,
dass die überaus reiche wissenschaftliche Produktion über Rosmini, die seit den 60er Jahren
exponentiell anstieg, einer immer stärkeren internationalen Ausrichtung bedarf.
«Rosmini Studies» zeichnet sich weiterhin durch einen interdisziplinären Zugang zur
Figur des großen Roveretaner Philosophen aus. Dies erscheint nicht allein von der enzyklopädischen Ausrichtung seines Denkens gefordert, sondern ergibt sich auch aus seiner polyedrischen Personalität, die nicht nur in der Philosophie- und Kulturgeschichte eine hochrangige Stellung einnimmt. Man denke etwa an seine intensiven Beziehungen zu Manzoni
und Tommaseo oder an die Auseinandersetzungen mit Gioia und Romagnosi. Auch in der
Kirchengeschichte gebührt ihm ein hervorragender Rang als Gründer des Instituts der Caritas und als Protagonist der ein Jahrhundert lang währenden ‘Rosminischen Frage’. Im italienischen Risogrimento war er mit der Veröffentlichung seiner politisch-religiösen Beiträge und seiner Mission nach Rom Protagonist. Nachdem nun lange Zeit diese verschiedenen
Aspekte in spezifischen Studien vertieft wurden, scheint es an der Zeit, diese verschiedenen
analytischen Perspektiven deutlicher und intensiver miteinander in Beziehung zu bringen,
um die Person Rosminis in ihrer Einheit und Kohärenz zu verstehen.
ISSN 2385-216X
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WARUM ROSMINI STUDIES?
In diesem Rahmen nimmt die historisch-philosophische Hermeneutik sicherlich eine
zentrale Stellung ein. Seit den Auseinandersetzungen zwischen Neothomisten und Neoidealisten, und in spezifischer Weise durch den italienischen Spiritualismus, wählten viele Rosmini-Interpretationen einen zweifelsohne legitimen theoretischen Ansatz. Dadurch wurde
der Blick auf Rosmini jedoch häufig durch diejenigen Denker bestimmt, mit denen sich
Rosmini auseinandersetzte. Dabei handelt es sich um die Klassiker der europäischen philosophischen Tradition in ihren vorherrschenden kulturellen Strömungen wie die französische Aufklärung, der deutsche Idealismus oder der katholische und gegenrevolutionäre
Traditionalismus. Diese Methode hatte ihre unbezweifelbaren Verdienste um die Erweiterung der Kenntnisse über das Denken Rosminis und um die Belebung der Debatte. Dennoch
scheint es, dass dies auch zu selbstreferentiellen Interpretationen führte. Teilperspektiven
verdichteten sich so zu einem im Ergebnis schiefen und abwegigen Blick auf Rosmini. Dem
somit heute immer noch bestehenden Mangel einer korrekten historischen Hermeneutik
soll durch «Rosmini Studies» begegnet werden. Eine strengere historisch-philosophische
Hermeneutik soll mit philologischem und einem weiter gefassten historisch-kulturellem Interesse verbunden werden. Um zu einem vollen und richtigen Verständnis des Denkens
Rosminis zu gelangen, muss vor allem der lebendige Kontext seiner Zeit und vor allem die
philosophisch-kulturelle Debatte berücksichtigt werden, die er häufig selbst durch kritische
Auseinandersetzung mit anderen großen modernen italienischen wie europäischen Philosophen entfachte: von Romagnosi bis Gioberti, von Voltaire bis Rousseau, von Kant bis Hegel, von Smith bis Malthus und Saint Simon. In dieser Hinsicht fordert ein den
rosminischen Schriften angemessener Zugang nicht nur eine korrekte philologische Exegese, sondern auch die diachronische Perspektive auf die Entwicklung des rosminischen Denkens, auf die verzweigten Quellen seines Denkens und schließlich auf die wirkungsgeschichtliche Interpretation seiner Texte durch bedeutende Denker.
Es ist hinlänglich bekannt, dass das rosminische Denken vor allem in seinen spekulativen Hochphasen ein großes Maß an Inaktualität besitzt, was die sowohl modernen als
auch antimodernen Paradigmen seiner Zeit angeht. Diese Inaktualität als Ausdruck einer
unwiderruflich traditionalistischen Position zu interpretieren, nur weil sein Denken unbezweifelbar metaphysisch und ontologisch fundiert ist, scheint heute mitnichten eine überzeugende Hermeneutik zu sein. Es gilt vielmehr, die innovative Ausrichtung zu erfassen, die
das rosminsiche Denken in vielen Bereichen, von der Epistemologie bis zur politischen Philosophie, von der Theologie zur Anthropologie, von der Ethik zur Pädagogik, von der Ekkle-
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siologie zur Spiritualität stets bedeutete. Es scheint daher, dass die Inaktualität Rosminis
nicht nur als ein vormodernes Erbe verstanden werden muss, sondern als eine Perspektive
in der Moderne, welche über die Moderne selbst hinausweist. In dieser Hinsicht kommt
Rosmini als ein historisch konnotierter und mithin in einigen Aspekten überholter Denker
in den Blick, der potentiell jedoch mit jedem anderen geschichtlichen Moment philosophischen Denkens in Dialog treten kann. Somit ist Rosmini ein Klassiker des christlichen
Denkens des 19. Jahrhunderts, der immer noch anregt, provoziert und unserer Zeit Fragen
stellt. Daher gibt diese Zeitschrift, neben den nach wie vor unersetzbaren Studien zur Vertiefung des rosminischen Denkens, vor allem solchen Beiträgen Platz, welche die
rosminischen Themen in origineller Weise aufgreifen, neu verhandeln und in Denkern wiederfinden, die als solche weit von Rosmini weg sind. Darin besteht die kritisch-dialogische
Inspiration des Roveretaner Philosophen.
Zur Gewährleistung der wissenschaftlichen Strenge wird jeder Beitrag der «Rosmini
Studies» einer double blind peer review unterzogen. Dies gilt selbstverständlich nicht für
Beiträge, welche bereits anderweitig veröffentlicht wurden.