ISSN 0259-7446
EUR 6,50
medien &
Kommunikation in Vergangenheit und Gegenwart
zeit
Thema:
Geheimnis
Geheimnisse
Geheim, verdrängt, unbekannt
„Geheimnis gibt es im Archiv
immer, weil vieles im Auge des
Betrachters liegt“
Gute Nachrichten für die SED
2/2014
Jahrgang 29
m&z
medien &
2/2014
zeit
Inhalt
Impressum
Geheimnisse
Medieninhaber, Herausgeber und Verleger:
Motive, Strategien und Funktionen
exklusiver Kommunikation
Joachim Westerbarkey
4
Geheim, verdrängt, unbekannt
Verein „Arbeitskreis für historische Kommunikationsforschung
(AHK)“, Währinger Straße 29, 1090 Wien,
ZVR-Zahl 963010743
http://www.medienundzeit.at
© Die Rechte für die Beiträge in diesem Heft liegen beim
„Arbeitskreis für historische Kommunikationsforschung (AHK)“
Herausgeberin:
Gaby Falböck, Roland Steiner;
Lücken von Öffentlichkeit:
Worüber Medien gern schweigen
– und warum sie das tun
Host Pöttker
Lektorat & Layout:
Karina Auer, Diotima Bertel, Barbara Metzler, Irina Pöschl;
Christina Krakovsky
Redaktion Buchbesprechungen:
13
Gaby Falböck, Roland Steiner
Redaktion Spezialbeitrag:
Christian Schwarzenegger
„Geheimnis gibt es im Archiv immer,
weil vieles im Auge des Betrachters liegt“
Eine Debatte zum Thema Archive, Kommunikationsbarrieren und Geheimnisse zwischen
Thomas Ballhausen (Filmarchiv Austria),
Gabriele Fröschl (Österreichische Mediathek),
Rudolf Jerábek (Archiv der Republik) und
Kurt Schmutzer (ORF-Archiv).
31
Korrespondenten:
Prof. Dr. Hans Bohrmann (Dortmund),
Univ.-Prof. Dr. Hermann Haarmann (Berlin),
Univ.-Prof. Dr. Ed Mc Luskie (Boise, Idaho),
Univ.-Prof. Dr. Arnulf Kutsch (Leipzig),
Prof. Dr. Markus Behmer (Bamberg),
Prof. Dr. Rudolf Stöber (Bamberg)
Druck:
digitaldruck.at Druck- und Handelsgesellschaft mbH
2544 Leobersdorf, Aredstrasse 7
Versand:
ÖHTB – Österreichisches Hilfswerk für Taubblinde und
hochgradig Hör- und Sehbehinderte
1100 Wien, Werkstätte Humboldtplatz 7
Erscheinungsweise:
Spezialbeitrag
medien & zeit erscheint vierteljährlich
in gedruckter und digitaler Form
Nachwuchsförderpreis der FG
Kommunikationsgeschichte der DGPuK:
Preisträgerin Dissertation
Bezugsbedingungen:
Einzelheft (exkl. Versand): 6,50 Euro
Doppelheft (exkl. Versand): 13,00 Euro
Jahresabonnement:
Österreich (inkl. Versand): 22,00 Euro
Ausland (inkl. Versand auf dem Landweg): 30,00 Euro
StudentInnenjahresabonnement:
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Ausland (inkl. Versand auf dem Landweg): 24,00 Euro
Info und Bestellung unter abo@medienundzeit.at
Gute Nachrichten für die SED
Medienlenkung in der DDR
als politische Öffentlichkeitsarbeit
Anke Fiedler
46
Bestellung an:
medien & zeit, Währinger Straße 29, 1090 Wien
oder über den gut sortierten Buch- und Zeitschriftenhandel
ISSN 0259-7446
Rezensionen
59
1
Vorstand des AHK:
Dr. Gaby Falböck (Obfrau),
a.o. Univ.-Prof. Dr. Fritz Hausjell (Obfrau-Stv.),
Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Duchkowitsch (Obfrau-Stv.),
Mag. Christian Schwarzenegger (Obfrau-Stv.),
Mag. Roland Steiner (Geschäftsführer),
Barbara Fischer, Bakk. (Geschäftsführer-Stv.),
Mag. Christina Krakovsky (Schriftführerin),
Arne Sytelä (Schriftführerin-Stv.),
Dr. Norbert P. Feldinger (Kassier),
Katriina Janhunen, Bakk. (Kassier-Stv.),
Mag. Bernd Semrad,
Dr. Erich Vogl,
Mag. Klaus Kienesberger,
Dr. Johann Gottfried Heinrich
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Editorial
G
eheimnisse sind ebenso wie – in deren Gefolge auftretende Phänomene – Gerüchte,
gar Lügen ein die interpersonelle Kommunikation mit nicht unerheblicher Kraft antreibender
Motor. Dennoch sind Geheimnisse – ebenso
wie die daran gekoppelten kommunikativen,
auch mediatisierten Ausprägungen – in der
Kommunikations- wie auch der Medienkulturforschung eine unterbeleuchtete Materie. Anlässe
sie wissenschaftlich zu analysieren und zu deuten, gibt es nicht nur aus historischer Perspektive, sondern auch jüngst einige: der (Medien-)
Skandal um die Arbeitsweise des amerikanischen
Geheimdienstes, geläufig unter dem Diktum
der NSA-Affäre; die Verurteilung von Bradley
E. Manning, der WikiLeaks Dokumente zugespielt haben soll; Debatten um das Phänomen
„Whistleblower“ und politische Ränkespiele hinsichtlich des Verbleibs von Julian Assange oder
Edward Snowden; die speziell in Österreich diskutierte Forderung nach Aufhebung des Amtsgeheimnisses und Einführung eines Transparenzgesetzes, geprägt in der Formel „Gläserner Staat
statt gläserner BürgerInnen“, gerade hinsichtlich
der Co-Finanzierung von Zeitungen durch staatliche Inserate. Nicht zuletzt die in regelmäßigen,
meist anlassbezogenen Konjunkturen wiederkehrende Mahnung zum vorsichtigen Umgang mit
Privatem in Sozialen Netzwerken und die damit
einhergehende Problematik der im Zeitenlauf
nicht vergessenden, räumlich entgrenzten digitalen Sphäre. All diese, sich im Grunde genommen um denselben Nukleus bewegenden Debatten waren Impetus für Medien & Zeit sich eben
jenem Kern der Diskurse, dem Thema Geheimnis, zu widmen.
Geheimes aufzudecken, sondern fordern es oft
auch ein, werden denn dadurch erst Voraussetzungen bzw. Prozesse öffentlicher Meinung bereitet. Wird eine Gesellschaft durch Geheimnisse
in ihrem Bestand bedroht, gibt es vermeintlich
unrechtmäßig Verborgenes zu konstatieren, wird
der demokratiepolitisch berechtigte Ruf nach
dem Recht auf Wissen und Information laut.
Intransparenz, Geheimhaltung und daraus resultierend Unvorhersehbarkeit sind schließlich auch
Instrumente um Machtpositionen abzusichern
und subtil Einfluss auszuüben.
Zwischen diesen Begriffen des Privaten, des
Nicht-Öffentlichen und des Öffentlichen oszillieren die beiden, diese Ausgabe von Medien &
Zeit eröffnenden Beiträge. Joachim Westerbarkey und Horst Pöttker widmen sich innert einer
theoretischen Auseinandersetzung dem Begriff
Geheimnis und nehmen dabei zwei einander
entgegenstehende Positionen ein. Jede für sich
nachvollziehbar und logisch argumentiert, verdeutlichen sie einmal mehr die Ambivalenz, die
dem Geheimnis innewohnt. Nach Westerbarkey
sind Geheimnisse wünschenswert und nützlich,
waren resultierend aus dem Umstand, dass Öffentlichkeit und Geheimnisse einander bedingen, wenngleich früher selbstverständlicher,
schon immer existent. Soziale Masken hinter
denen wir uns verbergen und gleichermaßen
Rollenerwartungen erfüllen, sowie vielfältige
Kommunikationsbarrieren, die uns den Zugang
zu und die Aufnahme von Information verunmöglichen, bedingen Geheimnisse. Jedoch seien
Geheimnisse und Intransparenz auch konstitutiv für Macht. Nicht zuletzt führt Westerbarkey
aus, wie die auf das gegenwärtige Mediensystem
stark einwirkenden Berufsfelder Werbung und
PR durch ihre Strategie der „Ablenkung durch
Hinlenkung“ zur Intransparenz beitragen und
warum die Berufsrealität der JournalistInnen
gleichfalls so manche Geheimnisse eben nicht
enthüllt lassen muss. Auch Horst Pöttker argumentiert von den Prämissen des Journalismus als
Beruf ausgehend. Dem Dortmunder Kommunikationswissenschaftler zufolge gehört es zur journalistischen Grundpflicht, Öffentlichkeit herzustellen und zutreffend, kritisch wie umfassend zu
informieren. Dieses berufliche Selbstverständnis
gelte es in der journalistischen Berufsausbildung
ebenso zu vermitteln wie das nötige Rüst- bzw.
Werkzeug für die Erfüllung dieses – in einer
Geheimnisse bergen eine vielschichtige Ambivalenz in sich. In privaten Belangen haben sie
ihre Berechtigung und Legitimität: Arztgeheimnis, Briefgeheimnis, Postgeheimnis, Beichtgeheimnis, für personenbezogene Daten gilt der
Datenschutz und das Amtsgeheimnis. Wer mit
einem Menschen privates Wissen teilt, zieht den
anderen ins Vertrauen. Der Respekt vor dem Individuum wie die in manchen Berufen bedingte
Pflicht zur Verschwiegenheit gebietet dieses Vertrauen auch nicht zu verletzen. In Angelegenheiten von öffentlichem Interesse erscheint das
Recht auf Geheimnisse dagegen bereits weniger
klar und unantastbar. Gerade JournalistInnen
und PublizistInnen billigen wir nicht nur zu
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Kommunikationshistorikerin Anke Fiedler. Wir
gratulieren!
zunehmend unter wirtschaftliche Zwänge geratenden Medienbranche – hohen Anspruchs. In
seiner Analyse ortet Pöttker sieben Ursachen, die
das von ihm als „Lücken von Öffentlichkeit“ begriffene Geheimnis verursachen. Dennoch bzw.
deshalb seien diese Lücken zu schließen – so
Pöttkers Conclusio –, durch Recherche einerseits
und durch das Regulativ der wissenschaftlichen
Beobachtung andererseits.
Das Archiv ist nicht nur die Rache der JournalistInnen an PolitikerInnen – um ein berühmtes
Bonmot des für seine kritischen und unermüdlichen Fragen berühmten, leider schon verstorbenen Zeit im Bild-Anchormans Robert Hochner
zu bedienen. Auch das öffentliche Archiv und darin wirkende Archivare und Archivarinnen verfügen über eine – nicht nur! – für die Wissenschaft
überaus einflussreiche Position. Sie sind nicht
nur mit der Verwaltung, Pflege und Bearbeitung
ihrer Bestände befasst, sie moderieren mit dem
Wissen um ihr Archivgut, durch den Hinweis auf
verfügbare Materialien auch den wissenschaftlichen Diskurs. Um einen Blick in die alltägliche
Praxis, das Selbstverständnis, die Arbeitsprozesse
und nicht zuletzt das Verständnis von und Potenzial für Geheimnis aus der Sicht von ArchivarInnen zu erfahren, lud Medien & Zeit vier
Vertreter-Innen großer öffentlicher Archive zur
Debatte: Gabriele Fröschl (Österreichische Mediathek), Thomas Ballhausen (Filmarchiv Austria), Rudolf Jerábek (Archiv der Republik) sowie
Kurt Schmutzer (ORF-Archiv) folgten unserer
Einladung und boten im Rahmen einer Gruppendiskussion erhellende Einblicke in ihre sonst
eher im Schatten stehende Berufspraxis.
Auf dass Geheimnisse kommunikationswissenschaftlich zumindest hier ihre Belichtung finden,
wünschen wir Ihnen eine spannende Lektüre,
Geheimnisse werden stets auch mit geheimen,
die eigene Position absichernden kommunikativen Strategien von MachtinhaberInnen assoziiert. Auf Diktaturen angewandt, sind Medienlenkung, Verlautbarungspflicht und Zensur übliche
Instrumente totalitärer Herrschaftssysteme.
Anke Fiedler fokussiert in ihrem Beitrag die diesbezügliche Praxis der DDR. Sie diskutiert dies
fundierend auf einem theoretischen Ansatz, der
in diesem Kontext kaum erprobt ist: Es sind Bausteine aus der PR-Forschung, die ihr dazu dienen
die Medienlenkung der DDR unter einem neuen Blickwinkel betrachten. Medien & Zeit freut
sich mit der Publikation dieses Beitrags nicht nur
eine weitere Facette des Rahmenthemas beleuchten zu können, sondern auch den von der DGPuK-Fachgruppe „Kommunikationsgeschichte“
ausgezeichneten und von der „Springer Stiftung“
finanziell honorierten Aufsatz einer Jungwissenschaftlerin eine Plattform bieten zu können.
Einmal pro Jahr wählt und prämiert die Fachgruppe aus den Einreichungen des an den wissenschaftlichen Nachwuchs adressierenden Calls
ein Extended Paper. Im Rahmen der Ausschreibung für 2014 fiel die Wahl auf die Münchner
Gaby Falböck & Roland Steiner
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Geheimnisse
Motive, Strategien und Funktionen exklusiver Kommunikation
Joachim Westerbarkey
Universität Münster
Abstract
Eine unvermeidliche Begleiterscheinung von Öffentlichkeit ist Nichtöffentlichkeit, denn jede
Öffentlichkeit schließt zugleich ein und aus, weil Kommunikation selektiv ist. Nichtöffentlichkeit resultiert außerdem aus alltäglichen Kommunikationsbarrieren und aus gezielter Geheimhaltung, also der Weigerung, anderen etwas mitzuteilen. Wird auch Geheimhaltung geheim
gehalten, handelt es sich um reflexive Geheimhaltung, bei der die Absicht schwer nachzuweisen
ist, und werden andere ins Vertrauen gezogen, entsteht ein kollektives Geheimnis bzw. eine
diskrete Öffentlichkeit.
Motive und Funktionen von Geheimhaltung sind ebenso ambivalent wie ihre Bewertung: Eigene Geheimnisse werden gewöhnlich positiv bewertet, fremde eher negativ. Kommunikativ
werden Geheimnisse gern durch Täuschungen, Lügen, Ablenkung oder verbales Verwirrspiel
geschützt und sie sind ein wichtiges Mittel zur Gewinnung von Macht, weil sie die eigene
Berechenbarkeit erschweren. Deshalb werden z.T. beträchtliche Ressourcen darauf verwendet,
eigene Geheimnisse zu sichern und fremde in Erfahrung zu bringen, und Experten werden
damit beauftragt, Geheimhaltung gesellschaftlich akzeptabel zu machen. Dies geschieht u.a.
durch wohldosierte Öffentlichkeitsarbeit, denn die Medien sind unverzichtbar, wenn man allgemeine Zustimmung braucht.
In Zeiten technischer Überwachungssysteme und extensiver Sammlung und Verwertung persönlicher Daten wird die Legitimität von Geheimnissen freilich fragwürdig, zumal solche Praktiken häufig nicht bemerkt werden oder unklar bleibt, wer dahinter steckt. Damit erreichen
Geheimnisse in der digitalen Welt eine neue gesellschaftliche Brisanz.
rei zu immer mehr Öffentlichkeit nahe legen.
Empirisch sind solche Thesen allerdings schwer
zu überprüfen, denn Geheimnisse entziehen sich
auch dem Forscherblick, solange sie bestehen.
So bleibt es weitgehend bei Vermutungen und
Hoffnungen, die zurück auf politische Ideen des
18. Jahrhunderts gehen und die zu einem zentralen demokratietheoretischen Postulat wurden,
nämlich dem der vollständigen Transparenz von
Verhältnissen und Vorgängen, die alle betreffen,
also alle etwas angehen – eine attraktive Fiktion,
die derzeit unter den Enthusiasten sozialer Netze
wieder fröhliche Urstände feiert. Doch sie hat
sich als Illusion erwiesen und ist wohl niemals zu
verwirklichen. Außerdem handelt es sich damals
wie heute um eine normative Gegenüberstellung, die Transparenz bevorzugt und Geheimhaltung diskreditiert und somit unterschlägt,
Öffentlichkeit als normatives
Konzept
Immer, wenn Menschen zusammenkommen
oder wenn sie sich mit Medien über Raum und
Zeit hinweg verständigen, entsteht Öffentlichkeit. Doch bei all diesen Gelegenheiten wird
auch immer vieles voreinander geheim gehalten.
Dieser Befund scheint nur deshalb widersprüchlich zu sein, weil Öffentlichkeit und Geheimnis
gewöhnlich als Gegensätze betrachtet werden,
die sich wechselseitig ausschließen. So lautet
eine verbreitete Hypothese: Je mehr Öffentlichkeit, desto weniger Geheimnisse – eine Annahme,
die bereits hinter historischen Metaphern steckt,
in denen vom finsteren Mittelalter und vom
Licht der Aufklärung die Rede ist und die eine
Entwicklung von notorischer Geheimniskräme-
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dass Geheimnisse durchaus wünschenswert und
nützlich, ja lebensnotwendig sein können. Plausibler ist deshalb,
URSACHE
UÊ dass Geheimhaltung früher nicht häufiger,
aber selbstverständlicher war,
UÊ dass Geheimhaltung heute professioneller
und globaler betrieben wird
UÊ und dass Öffentlichkeit und Geheimnisse
vielfältig miteinander verflochten sind und
sich gegenseitig bedingen.
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ARGUMENT
Geheimhaltung
nicht wissen sollen
Ignoranz
nicht wissen wollen
Inkompetenz
nicht wissen können
Tabuisierung
nicht wissen dürfen
TAB. 1: Ursachen und Gründe eingeschränkter Kommunikation
Dementsprechend kann auch die Herstellung von
Öffentlichkeit aus vielen Gründen scheitern: Es
geschieht etwas und keiner sieht hin (Desinteresse), ein Zustand wird geleugnet (reflexiv geheim
gehalten) oder Auskünfte darüber werden explizit
verweigert (einfache Geheimhaltung), unter dem
Siegel der Vertraulichkeit werden nur bestimmte
Leute eingeweiht (Diskretion), ein Ereignis wird
nur zum Teil bekannt gemacht (partielle Mitteilung) oder es wird offen, aber vergeblich darüber berichtet, weil dieses niemand zur Kenntnis nimmt (Ignoranz). Fasst man die genannten
Möglichkeiten zusammen, ergibt sich folgendes
Bild:
Nichtöffentlichkeit als Normalität
Eine Begleiterscheinung und Folge von Öffentlichkeit (gleichsam ihre Kehrseite) ist nämlich
immer auch Nichtöffentlichkeit, denn jede Öffentlichkeit schließt de facto zugleich ein und aus,
sei es thematisch, situativ oder sozial: Inklusion
bedeutet Öffentlichkeit, Exklusion Nichtöffentlichkeit. Die jeweils verantwortlichen Kommunikationsbarrieren sind Ergebnisse unvermeidlicher oder aufgenötigter, unwillkürlicher oder
gezielter Selektivität: Längst nicht alles ist für
jeden zugänglich, man kann nicht überall dabei
sein, Aufmerksamkeit ist knapp, jeder hat eigene
Vorlieben, man kann, will oder darf nicht über
alles reden was man weiß, man versteht nicht alles
und manches Kommunikationsangebot wird abgelehnt, weil man sich nicht einmischen möchte,
weil man sich nicht in der Lage sieht oder berechtigt glaubt, es anzunehmen, oder weil es unwichtig oder unglaubwürdig erscheint.
So beruht jede Kommunikation auf Selektionen
und Anschlussselektionen: Zuerst muss ich mich
entscheiden, was ich wem wann und wo sage, und
damit schließe ich schon die meisten Möglichkeiten aus; zweitens muss ich mich entscheiden,
wie ich etwas sage, also welche Sprache, Kanäle
und Medien ich benutze, und damit schließe ich
wiederum zahlreiche Möglichkeiten aus; und
drittens muss mein Adressat entscheiden, ob er
mir zuhört und wie er mich versteht, ob er meine
Mitteilung also ganz oder nur teilweise annimmt,
und dieses hängt wiederum von seinen Motiven,
Interessen, Fähigkeiten und vielem anderen ab.
Scheitert ein Mitteilungsversuch, bleibt für andere der Inhalt ebenso verborgen wie alles, was
ihnen nicht mitgeteilt wurde oder nicht mitgeteilt
werden sollte.
URSACHE
GRUND
Nichtteilnahme
Abwesenheit
Unaufmerksamkeit
Desinteresse
Geheimhaltung
Auskunftsverweigerung
vertrauliche
Kommunikation
Diskretion
vergebliche
Mitteilung
Ignoranz
TAB. 2: Ursachen und Gründe eingeschränkter
Öffentlichkeit (Beispiele)
Solche und andere Kommunikationsbarrieren sind
an der Tagesordnung (vgl. Westerbarkey, 2013b,
S. 30f; vgl. auch Badura, 1971):
UÊ ÌÛ>Ì>iÊ >ÀÀiÀiÊ ÜiÊ Ø`}iÌÊ `iÀÊ
Desinteresse) beeinträchtigen unsere Aufmerksamkeit, unsere Wahrnehmungen und unsere
Kommunikationsbereitschaft.
UÊ Ì>iÊ >ÀÀiÀiÊâ° °Ê}ÃÌÊ`iÀÊÌ«>thie) beruhen darauf, dass wir Unerfreuliches
meiden oder andere nicht mögen.
UÊ }ÌÛiÊ >ÀÀiÀiÊ «iÌiâi®Ê Liiträchtigen unsere Darstellungsmöglichkeiten
und unser Verstehen (z.B. von Vorgängen oder
Sprachen).
UÊ -ÌÕ>ÌÛiÊ >ÀÀiÀiÊ â° °Ê 6iÀÃBÕÃÃiÊ `iÀÊ
Folglich können nicht nur Geheimnisse Kommunikation verhindern, sondern auch Ignoranz,
Inkompetenz und Tabus:
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Störungen) resultieren aus raumzeitlichen Entfernungen oder konkurrierenden Kommunikationsangeboten.
UÊ -â>iÊ >ÀÀiÀiÊ V ÌâÕ}i À}iÌ®Ê iÌstehen zwischen Angehörigen verschiedener
Gruppen und Milieus und begünstigen Vorurteile und Diskriminierung.
UÊ "À}>Ã>ÌÀÃV iÊ >ÀÀiÀiÊvØ ÀiÊâÕÀÊÌÀ>Ãparenz für Nichtmitglieder und Nichtexperten.
UÊ /iV ÃV iÊ >ÀÀiÀiÊ LiiÌÀBV Ì}iÊ `iÊ
Möglichkeit, bestimmte Medien zu nutzen.
UÊ &ÃV iÊ >ÀÀiÀiÊLi}ØÃÌ}iÊiiÊÕgleiche Verfügbarkeit von Medien.
UÊ *ÌÃV iÊ >ÀÀiÀiÊÀiÃÕÌiÀiÊ>ÕÃÊÕ}iV iÀÊ
Macht über Medienstrukturen und -inhalte.
UÊ ,iV ÌV iÊ >ÀÀiÀiÊÃV iÀÊLiÃÌÌiÊ,i`i]Ê
Schweige- und Rezeptionsprivilegien und sollen z.B. den Staat oder die Jugend schützen.
UÊ `i}ÃV iÊ >ÀÀiÀiÊ LiÀÕ iÊ ÛÀÊ >iÊ >ÕvÊ
Weltanschauungen mit absolutem Wahrheitsanspruch.
UÊ ÕÌÕÀiiÊ >ÀÀiÀiÊÀiÃÕÌiÀiÊÃV i~V Ê>ÕÃÊ
unterschiedlichen Werten, Normen und Gewohnheiten und erschweren eine interkulturelle Verständigung.
auf Seiten der Adressaten, die gewöhnlich einen
Großteil der täglichen Informationsangebote
ignorieren müssen, wenn sie sich orientieren wollen.
Da absichtliche Retention hüben und drüben zumeist schwer nachzuweisen ist, kann sie leicht abgestritten werden, falls sie nicht freimütig praktiziert wird. Wenn nämlich Geheimhaltung reflexiv
geschieht, d.h. wenn jemand so tut oder vorgibt,
er habe kein Geheimnis, dann ist es für Nichteingeweihte kaum möglich, einen Unterschied zu
normalen Selektionsergebnissen zu erkennen.
Eine vertrauliche Mitteilung ist wiederum eine
Kombination von Mitteilung und Geheimhaltung, denn der Geheimnisträger erwartet von den
durch ihn Eingeweihten Diskretion, also die Wahrung des nunmehr gemeinsamen Geheimnisses.
Ein Verstoß gegen die erforderliche „Arkandisziplin“ ist ein schwerwiegender Vertrauensbruch
und kann mit sozialen Sanktionen wie Meidung
oder Ausschluss bestraft werden, denn wer als
Mitglied einer verschworenen Gemeinschaft andere Mitglieder „verpfeift“ (whistleblower) oder
sensible Organisationsinterna ausplaudert, gilt als
illoyaler Nestbeschmutzer und Verräter (ähnlich
wie der, der über Freunde oder gute Bekannte
hinter deren Rücken „klatscht“, obwohl Klatsch
zugleich zu den beliebtesten Alltagsgesprächen
zählt; vgl. Westerbarkey, 2013a, S. 152f ). Dieses
Risiko gehen übrigens ständig Doppelagenten
ein, wenn keiner ihrer Auftraggeber weiß, dass sie
auch für die andere Partei spionieren.
Gruppengeheimnisse konstituieren also diskrete
Öffentlichkeiten, die gleichsam hinter den Kulissen kommunizieren und Ausgeschlossene neugierig machen, aber auch ängstigen können, weil sie
sich der Möglichkeit allgemeiner Kontrolle entziehen. Damit rivalisieren sie prinzipiell mit den
Kontrollansprüchen politisch Mächtiger, die Geheimhaltungsprivilegien für sich reklamieren und
diese gern damit begründen, das „Gemeinwohl“
zu vertreten.
Geheimnisse:
Definition und Varianten
Aus kommunikationswissenschaftlicher Sicht beruht ein Geheimnis auf der Weigerung, anderen
etwas Bestimmtes mitzuteilen, sei es situativ oder
dauerhaft. Es ist also nicht einfach etwas, was niemand (oder noch niemand) weiß, also kein Rätsel
oder Mysterium, sondern wenigstens einer weiß
darum und verbirgt es vor wenigstens einem anderen. Aber auch kollektive Diskretion schützt
Geheimnisse, z.B. familiäre: Man plaudert nicht
„aus dem Nähkästchen“ und verrät sich nicht
gegenseitig, sondern redet nur mit Insidern über
Interna. Dagegen zählen jene „letzten Geheimnisse des Universums“ oder das „Geheimnis des
Glaubens“ nicht dazu, sondern allenfalls dann,
wenn es jemand gibt, der meint, sie entschlüsselt
zu haben, dieses aber niemandem verrät.
Geheimhaltung lässt sich deshalb nur auf der Ebene der Absichten identifizieren, denn im Ergebnis
ist sie von anderen Auswahlprozessen kaum zu
unterscheiden. Deshalb empfiehlt es sich, gezielte
Geheimnisse von funktionalen zu unterscheiden:
Im ersten Fall sollen bestimmte Dinge nicht bekannt werden, im zweiten Fall fallen sie alltäglichen Selektionsmechanismen zum Opfer, auch
Ambivalenzen gezielter
Geheimhaltung
Wie jeder weiß, gibt es dunkle und süße Geheimnisse, erschreckende und verlockende; es gibt
Geheimnisse zwischen Gegnern, Konkurrenten
und Freunden, gesetzlich geschützte Staats- und
Berufsgeheimnisse, esoterische Geheimbünde
und Geheimtraining im Profisport, und es gibt
literarische Pseudogeheimnisse, die für Spannung sorgen, aber eigentlich keine Geheimnisse
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sind, weil sie am Schluss der Geschichte gelüftet
werden. Geheimnisse sind allgegenwärtig, ihre
Vielfalt ist enorm und sie können entweder sehr
attraktiv sein, weil sie ungeahnte Möglichkeiten
suggerieren, oder sie können arge Befürchtungen
beflügeln (vgl. Westerbarkey, 1991, S. 113; Westerbarkey, 1998, S. 100).
Gründe, etwas geheim zu halten, gibt es viele,
und ihre Bewertung ist gewöhnlich ambivalent:
Man will sich oder andere schützen, man ist gehemmt oder man schämt sich, man will ungestört
etwas Erfreuliches, Nützliches oder Schlimmes
vorbereiten, man will eine Beziehung nicht aufs
Spiel setzen, man beansprucht Exklusivität oder
Macht, man misstraut anderen, man möchte ein
Spiel spannend machen etc.
Auch im Ergebnis sind Geheimnisse ambivalent: Sie behindern Kommunikation ebenso wie
sie sie fördern, nämlich zum einen durch Ausschluss von Themen und Teilnehmern und zum
andern durch die Provokation von Neugier oder
Gerüchten, Einweihung oder Verrat; sie können
uns beruhigen oder beunruhigen, faszinieren oder
ängstigen, nützen oder schaden. Eigene Geheimnisse geben uns Sicherheit, während fremde uns
verunsichern, und selbst für Machthaber sind
sie zugleich verlockend und riskant, schaffen sie
doch Vertrauen und Misstrauen, Gefolgschaft
und Gegner, Partner und Konkurrenten, je nachdem, welche Interessen im Spiel sind.
Durch Öffentlichkeit aber werden Geheimnisse
längst nicht immer liquidiert, denn das wäre für
viele Geheimnisträger peinlich oder sogar gefährlich und für viele Geheimnishändler kontraproduktiv, weil Geheimniskrämerei ein sehr lukratives Geschäft sein kann, nicht zuletzt für die
Medien. Deshalb tun viele so, als hätten sie nichts
zu verbergen, und weiß man die Möglichkeiten
strategischer Kommunikation optimal zu nutzen,
kann man andere auf diese Weise planmäßig täuschen.
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den. Dabei hat man mehrere Optionen (vgl. Sievers, 1974, S. 33f u. S. 84ff ):
UÊ >Ê>ÊÃV ÊÛiÀÃÌii]Êâ° °Ê1®ÕviÀsamkeit oder (Des)Interesse vortäuschen,
Freude oder Zustimmung simulieren oder
verdeckte Absichten durch Normalverhalten
tarnen, um zu vermeiden, dass andere misstrauisch werden.
UÊ >Ê>ÊØ}i]ÊÜ>ÃÊ>ÕÌÊiÀ}Ê-iÊØLrigens sehr sozialverträglich sein kann, denn
er schreibt über die Lüge: „So oft sie auch ein
Verhältnis zerstören mag – solange es bestand,
war sie doch ein integratives Moment seiner
Beschaffenheit.“ (Simmel, 1968, S. 262)
UÊ >Ê>Ê>Lii]Ê>ÃÊ`>ÃÊ/ i>ÊÜiV ÃiÊ
oder viel reden, ohne aus der Schule zu plaudern (denn hinter vielen Worten kann man
sich bekanntlich gut verstecken).
UÊ >Ê >Ê ÛiÀÜÀÀi]Ê BV Ê ÃV Ê }iâiÌÊ
mehrdeutig oder widersprüchlich äußern, etwa
durch vielsagende Anspielungen.
In bestimmten Situationen und von bestimmten
Berufsgruppen wird Irreführung sogar als Recht
oder Pflicht betrachtet, etwa in Notlagen oder
von Ärzten; bezeichnenderweise spricht man
dann wohlwollend von Notlügen, barmherzigen
Lügen oder white lies.
Permanente Täuschung ist allerdings riskant,
denn sie provoziert irgendwann Argwohn und
Kontrollversuche. Listiger und subtiler sind daher
Beihilfen zur Selbsttäuschung, wie wir sie z.B. in
der Werbung finden. So kritisierte schon der Kulturpessimist Adorno:
„Nicht nur fallen die Menschen [...] auf
Schwindel herein, wenn er ihnen sei’s noch
so flüchtige Gratifikationen gewährt; sie wollen bereits einen Betrug, den sie selbst durchschauen [...].“
(Adorno, 1972, S. 351)
Geheimhaltung durch
strategische Kommunikation
Die ambivalente Bewertung gezielter Geheimhaltung erleichtert übrigens solche Täuschungen
und Selbsttäuschungen, denn schließlich weiß
jeder, dass taktvolle Diskretion hilft, andere zu
schützen, und vielleicht plant ja jemand nur eine
freudige Überraschung.
Strategische Kommunikation wird überall und
alltäglich praktiziert. Um attraktiv und erfolgreich zu sein, tragen wir sozial akzeptierte Masken, hinter denen wir uns zumindest partiell verbergen (vgl. Goffman, 1976, S. 62ff ). Je größer
der Aufwand und je professioneller ihr Einsatz ist,
desto undurchsichtiger sind sie, und sollen sie die
Illusion des Natürlichen ermöglichen, müssen sie
möglichst „hinter den Kulissen“ präpariert wer-
Geheimhaltung durch Macht
Bereits Max Weber war davon überzeugt, dass
die meisten sozialen Organisationen versuchen,
durch Geheimhaltung von Kenntnissen und
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Absichten Macht zu gewinnen und zu erhalten, denn ihr struktureller Vorteil wachse durch
geheime Praktiken, um Ressourcen zu sichern,
Handlungsspielräume zu erweitern oder Profitchancen zu mehren (vgl. Weber, 1985, S. 548 u.
572f ). Und da Ressourcen normalerweise knapp
sind, also fast immer Konkurrenz besteht, dürfte
wohl jede auf dauerhaften Bestand eingerichtete
Herrschaft ein Stück weit Geheimherrschaft sein,
selbst in demokratischen Gesellschaften, wo politische und administrative Geheimnisse eigentlich
im Widerspruch zu allgemeinen Ansprüchen auf
Transparenz und Partizipation stehen. Unsere
Sprache hat übrigens diese Kultur bewahrt: Noch
immer finden Sitzungen im Kabinett statt, Chefs
haben Sekretärinnen und reifere Herren Geheimrats-Ecken.
Konflikten unter politischen Partnern ist keine
Transparenz vorgesehen:
„‚Differenzen‘ im Bereich der Geheimdienste
sollten über ‚bewährte private Kanäle‘ und
nicht über die Medien beigelegt werden, sagte
der Sprecher des Weißen Hauses, Joah Earnest.“
(AFP, 12./13.07.2014)
Zudem werden möglichst unbemerkt immer
mehr und immer aufwändigere Überwachungssysteme installiert, die die Betreiber und deren
Klienten mit wertvollen Daten versorgen, die sie
für ihre politischen oder wirtschaftlichen Zwecke
nutzen können, weil sie nicht allen zu Verfügung
stehen. Und um die Akzeptanz solcher Praktiken
zu erhöhen, werden Experten für vertrauensbildende Maßnahmen und Imagepflege engagiert.
Die Chance, andere zu kontrollieren und sich
selbst der Kontrolle anderer zu entziehen, wächst
also mit eigenen Ressourcen und Möglichkeiten,
denn wer sich teure Fassaden, Spitzel und Kommunikationsexperten leisten kann, ist zweifellos
im Vorteil. Frei nach Lenins Motto „Vertrauen
ist gut, Kontrolle ist besser“ kann Geheimhaltung
mithin sehr mächtig machen.
Nach neueren Ansätzen beruhen Macht und Einfluss darauf, dass Einzelne, Gruppen oder Organisationen für einander unterschiedlich berechenbar sind. Damit bestätigen sie Webers Annahme,
dass exklusives Wissen und Intransparenz konstitutiv für Macht sind, also für die Chance, andere
zu kontrollieren und sich selbst der Kontrolle anderer zu entziehen. Macht resultiert also aus relativer Unberechenbarkeit. Weiß A mehr von B als
B von A, ist B für A berechenbarer als umgekehrt.
Macht hat folglich derjenige, dem es gelingt, hinter fremde Kulissen zu blicken und andere daran
zu hindern, die eigenen zu durchschauen.
Im Vorteil ist der weniger Berechenbare besonders dann, wenn er über genug Mittel verfügt,
um hohe Informationsbarrieren aufzubauen,
denn dahinter kann er z.B. verbergen, über welche
Ressourcen er verfügt und wozu er sie verwendet. Außerdem kann er seine Motive und Pläne
geheim halten und seine Entscheidungen durch
vorgeschobene Gründe rechtfertigen, etwa durch
ein allgemeines Interesse. Weniger Mächtige haben dann drei Optionen: Sie können Machthabern vertrauen (was riskant ist, aber am wenigsten
anstrengend), sie können vorsichtig sein (also
ihre eigenen Arkana schützen) oder sie können
versuchen, durch Kontrolle von Mächtigen eine
Machtbalance zu herzustellen.
Deshalb werden enorme Anstrengungen unternommen, Macht kommunikationsstrategisch zu
sichern und zu steigern: So dienen kostspielige
Spitzelorganisationen wie Geheimdienste dazu, eigene Daten zu schützen, fremde auszuspionieren
und den Gegner durch Zuspielen falscher Angaben zu täuschen. Viele ihrer Agenten arbeiten anonym, sind nur Insidern bekannt und selbst bei
Masken der Macht
Doch oft steckt hinter hohen Fassaden weniger,
als es scheint. Um dieses zu verbergen, maskieren
Machthaber ihre Schwächen gern reflexiv, d.h. sie
tun so, als hätten sie keine. Reflexive Geheimhaltung erfordert freilich eine perfekte Tarnung,
wenn sie nicht durchschaut werden soll, ein dicht
gesponnenes Netz von Masken, Lügen und Ablenkungsmanövern, das von den Akteuren besondere Fähigkeiten verlangt und genau kalkulierte
Handlungsstrategien erfordert, also eine hohe
Selbstdarstellungskompetenz. Hier schlägt die
Stunde besagter Kommunikationsexperten, also
von PR-Beratern, Spin-Doctors oder Ghostwriters,
die man metaphorisch auch „Maskenbildner“
nennen könnte.
Das beste Argument, eigenen Geheimbereichen
gesellschaftliche Legitimität zu verschaffen, ist
die Behauptung, gemeinnützige Interessen oder
gar „den öffentlichen Willen“ zu vertreten. Wer
Macht hat und behalten möchte, muss daher
zwar egoistisch handeln, aber Altruismus bekunden, um gesellschaftlich akzeptiert zu werden,
denn sonst gedeihen Missgunst, Neid und Angst.
Deshalb riet bereits Niccolò Machiavelli seinen
adeligen Klienten:
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„Ein Fürst braucht also nicht alle [...] Tugenden
zu besitzen, muß aber im Rufe davon stehen.
Ja, ich wage zu sagen, daß es sehr schädlich ist,
sie zu besitzen und sie stets zu beachten; aber
fromm, treu, menschlich, gottesfürchtig und
ehrlich zu scheinen, ist nützlich.“
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reicht hier von symbolischer Politik im Sinne
pseudopolitischer Aktivitäten über „runde Tische“ und Scheinkontroversen (wie dem Kanzlerduell) bis hin zum Arrangement medialer
Fakes.
UÊ -iÊiÊÌÊi}iiÊiÃV V ÌiÊGeschichte machen: So werden angebliche Ahnen gefeiert, Erfolgsmythen konstruiert oder Flecken
auf der historischen Weste retuschiert (z.B. die
Zwangsarbeit von Kriegsgefangenen). Dabei
wird Sprache zum Vehikel von Definitionsmacht (etwa durch Bezeichnungen wie das
Dritte Reich) oder zum Werkzeug von Verschleierung (etwa durch Phrasen und Euphemismen) oder gar von Propagandalügen (wie
der Dolchstoßlegende oder der Machtergreifung).
Und weiter:
„Auch wird es einem Fürsten nie an guten
Gründen fehlen, um seinen Wortbruch zu beschönigen. [....] Denn die Menschen sind so
einfältig und gehorchen so sehr dem Eindruck
des Augenblicks, daß der, welcher sie hintergeht,
stets solche findet, die sich betrügen lassen.“
(Machiavelli [1513], 1990, S. 87f )
Masken dienen immer der Beeinflussung anderer, ob im Theater, im Karneval oder im Alltag
von Kosmetik und Contenance, und alle Masken
erfüllen die gleichen Funktionen, nämlich verbergen durch zeigen, ablenken durch hinlenken,
anziehen oder abschrecken. Dabei handelt es sich
oft ebenfalls um reflexive Geheimhaltung, denn
auch die Tatsache, dass man sich maskiert, wird
häufig maskiert, oder mit anderen Worten: Die
Maske wird als authentisches Selbst präsentiert,
als ungeschminkte Wahrheit.
Machthaber können dieses Manöver wiederum
in verschiedenen Varianten inszenieren (vgl. Westerbarkey, 2005, S. 219f ):
Imagepflege:
Ablenkung durch Hinlenkung
In jeder großen Organisation gibt es inzwischen
eine eigene Pressestelle oder eben eine Abteilung
für PR bzw. Öffentlichkeitsarbeit. Schon das
Wörtchen -arbeit verrät hier, dass Strategien planmäßiger Außendarstellung oft auf dem Prinzip
organisierter Nicht-Öffentlichkeit beruhen, also
auch auf Geheimhaltung. Öffentlichkeitsarbeit
muss nämlich stets als Ergebnis eines besonderen
Bemühens verstanden werden, idealisierende Entwürfe der eigenen Wirklichkeit zu verbreiten.
Funktional lenken die darauf spezialisierten Mitarbeiter durch ein möglichst attraktives Angebot positiver Botschaften von problematischen
Aspekten ihrer Organisation ab. Dabei sind sie
nachweislich umso erfolgreicher, je professioneller
ihr Material zur Veröffentlichung präpariert ist, je
besser sie also die Arbeitsweisen von Journalisten
kennen und verwenden.
Ablenkung durch Hinlenkung umfasst alle imagefördernden Maßnahmen, mit denen Vertrauen
in soziale Organisationen gebildet und erhalten
werden soll. Dabei kommt es darauf an, durch
wohldosierte Botschaften diejenigen Organisationsaspekte zu veröffentlichen, die am besten dem
Legitimationsbedarf der Entscheidungsträger dienen, oder es gilt, Personen statt Programme zu
präsentieren, also durch Beziehungsofferten den
Blick auf Strukturen zu verstellen (vgl. Westerbarkey, 2008, S. 187f ).
Der Clou liegt aber darin, Selbstdarstellungen in
journalistische Fremddarstellungen zu transformieren, damit das Publikum nicht merkt, dass
es sich um PR handelt. Daher wird PR-Material
gewöhnlich so formuliert und gestaltet, dass es
UÊ -iÊ iÊ ÀiÊ >V ÌÊ insgesamt maskieren,
um harmlos, arglos oder gar ahnungslos zu
erscheinen, also den Umstand, dass sie über
überlegene Ressourcen verfügen, über geheimes Wissen, über kundige Berater, über
hilfreiche Verbindungen, Organisationen,
Techniken und Datenbänke.
UÊ -iÊ iÊ ÕÀÊ LiÃÌÌiÊ Aspekte ihrer Ressourcen und Machtstrukturen, Ziele und
Programme, Methoden und Operationen
maskieren, sei es durch Schönfärberei oder
Personalisierung. So etwa werden Geschäftsberichte und Bilanzen frisiert, Misserfolge in
Erfolge umgedeutet und Sündenböcke für
Fehler gesucht und gefeuert, und laufend
werden verharmlosende Neologismen in Umlauf gebracht, etwa Qualitätspakt, Sparpaket,
Wachstumsbeschleunigungsgesetz, kriegsähnliche
Zustände, Kollateralschaden oder „alternativlos“.
UÊ -iÊ iÊ Events inszenieren lassen, um die
allgemeine Aufmerksamkeit von problematischen Aspekten abzulenken. Das Spektrum
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die Medien möglichst unverändert übernehmen
können. Allerdings wissen das die meisten Journalisten und selbst wenn sie es schätzen, ist das
Machtverhältnis zwischen PR und Medien einigermaßen ausbalanciert, denn sie sind füreinander hinreichend berechenbar. Doch ihr Publikum
bleibt „außen vor“ und die Wahrscheinlichkeit,
von diesem ertappt zu werden, ist ziemlich gering,
denn Nichteingeweihte können Nachrichten und
Berichte nur selten als PR-Produkte entlarven,
zumal Journalisten nicht verpflichtet sind, ihre
Quellen und Informanten zu nennen.
Funktional wird journalistische Arbeit durch
zwei weitere maßgebliche Faktoren beeinflusst,
nämlich durch den Input der Pressestellen und
Agenturen und durch berufsspezifische Entscheidungsprogramme und Arbeitsroutinen (vgl. auch
Baerns, 1985; Fröhlich, 1992). Diese Kontexte
beeinflussen jede Stufe der Informationsauswahl
und -darstellung und der ständige Selektionszwang sorgt dafür, dass journalistische Angebote
keine umfassenden und vollständigen Darstellungen sein können.
So muss der Nachrichtenjournalist täglich eine
enorme Fülle von Ereignissen auf ein paar Dutzend Themen reduzieren, um das Weltgeschehen
auf wenigen Seiten oder in wenigen Minuten
unterzubringen, wobei das Meiste seiner Schere
zum Opfer fällt. Das hat gewöhnlich nichts mit
gezielter Geheimhaltung zu tun, könnte unter
brisanten Umständen aber durchaus darauf beruhen. Dies nachzuweisen, würde dem Publikum
jedoch schwerfallen, denn für Leser, Hörer oder
Zuschauer ist es fast unmöglich, den jeweiligen
Konstruktionsprozess von Nachrichten zu rekonstruieren und im Ergebnis einen Unterschied zwischen Selektionsroutine und Geheimhaltung zu
erkennen.
Die Macht der Journalisten resultiert folglich
nicht nur daraus, dass sie bei ihrer Arbeit über leistungsstarke Verbreitungsmittel von Botschaften
verfügen, sondern dass sie auch darüber entscheiden, was auf die Tagesordnung gesellschaftlicher
Gespräche kommen soll und was nicht und dass
die Richtigkeit und Relevanz dieser Entscheidungen vom Publikum kaum zu überprüfen ist:
Entweder es vertraut ihnen, oder es kann sich
nicht aktuell informieren.
Auch Medienmacht macht
Geheimnisse
Die Erfinder demokratischer Gewaltenteilung
hatten Medienmacht eigentlich nicht vorgesehen, doch schon bald sprach man von der Presse
als „vierter Gewalt“ und nach wie vor attestieren
viele den Medien ein hohes Wirkungspotenzial,
sei es im positiven oder negativen Sinne. Jedenfalls dürfte klar sein, dass Medien nicht außerhalb gesellschaftlicher Macht operieren, sondern
stets „Teil des Problems“ sind, doch dabei spielen
unterschiedliche Akteure mit unterschiedlichen
Motiven, Möglichkeiten und Funktionen verschiedene Rollen (vgl. Luhmann, 1996, S. 53ff ).
Eigentümer und Geldgeber
Macht über die Medien haben zunächst einmal
die, denen sie gehören, und dann erst die sogenannten Medienmacher, also die Produzenten von
Inhalten, und schließlich die Lieferanten, Financiers und Kontrolleure der Medien. Letztere sind
nicht selten erfolgreich bemüht, Medieninhalte
durch Informationsverweigerung (also Geheimhaltung), wirtschaftliche Sanktionsdrohungen
oder politischen Druck zu steuern, und das nicht
nur in totalitären Systemen (diverse Beispiele
dazu finden sich bei Chomsky, 2003).
Entertainer
Die besseren Geschäfte machen Medien allerdings mit Entertainern, weil ihr Versprechen von
Spektakel, Spaß und Spannung auf breitestes
Interesse stößt. Dabei spielen sogenannte „Geheimnisse“ als Aufmerksamkeitsfänger eine große
Rolle, denn sie machen das Publikum besonders
neugierig, auch (oder gerade weil) sie am Ende
der Geschichten und Inszenierungen meistens gelüftet werden; die Zahl der Schriften, Hörspiele
und Filme, die irgendein Geheimnis im Titel tragen, ist jedenfalls legendär.
Nun könnte man glauben, dass damit wenig
Macht ausgeübt werden kann, weil das doch alles
fiktiv oder belanglos sei, doch um erfolgreich zu
sein und zu bleiben, lassen sich viele Medienstars
und ihre Manager nicht nur ungern in die Kar-
Journalisten
Idealiter sollen Journalisten eine laufende öffentliche Selbstbeobachtung der Gesellschaft im
Hinblick auf allgemein wichtige Angelegenheiten
ermöglichen. Doch auch sie haben Gründe und
sogar das Recht, ihr Wissen zumindest partiell und temporär geheim zu halten – sei es, um
ihre Informanten zu schützen, um vertrauliches
Hintergrundwissen zu wahren oder um exklusiv
recherchiertes Material so lange zu verbergen, bis
sich eine lukrative Publikationsmöglichkeit bietet.
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ten schauen, sondern die Unterhaltungsindustrie
leistet mit ihren kurzweiligen Traumwelten auch
laufend besagte „Beihilfe zur Selbsttäuschung“.
Daher sind ihre Illusionsmaschinen trotz aller Banalität und Trivialität durchaus mächtig, denn wir
lassen uns von ihnen allzu gern von den ernsten
Problemen unserer Welt ablenken.
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drücklich deren Schutz und Politiker fordern
schärfere Strafgesetze gegen die Verwendung
vertraulicher Quellen. Folglich bleibt fraglich,
ob im digitalen Zeitalter per saldo mehr Geheimnisse gelüftet werden als zuvor, es sei denn, man
rechnet all die Banalitäten hinzu, mit denen sich
zahlreiche Zeitgenossen laufend im Netz prostituieren.
Digitale Netze sind freilich eine Goldgrube für
Datensammler und -händler aller Art, wobei oft
unklar ist, wer dahinter steckt und in wessen Interesse es geschieht. Politiker verweisen hier gern
auf die Aufgabe des Staates, seine Bürger vorsorglich zu schützen oder Verdächtige aufzuspüren,
doch wer oder was schützt deren berechtigten Anspruch auf eine unversehrte Privatsphäre, wenn
sie nicht einmal wissen, wer sie wann beobachtet
und wozu ihre Daten wem dienen? Man muss
kein Paranoiker sein, um die alltägliche (und z.T.
sehr profitable) Beobachtung vieler durch wenige
infrage zu stellen, zumal sie für die Beobachteten
höchst intransparent ist.
Wie bei einem Stadtbummel muss zwar jeder,
der ein allgemein zugängliches Netz nutzt, damit
rechnen, verdeckt beobachtet werden zu können,
doch hinterlässt er nun erheblich mehr Spuren,
die ihm im Zweifelsfall zum Verhängnis werden
könnten. Doch weil das inzwischen jeder wissen
kann, sollte er Geheimnisse, deren Schutz persönlich sehr wichtig ist, eben nicht digital zugänglich
machen. Trotzdem wird im Internet pausen- und
sorglos gemailt, geskypet, gebloggt, gechattet und
getwittert, auch wenn das, was hier gezwitschert
wird, gewöhnlich genau so viel oder so wenig mit
dem Verrat von Geheimnissen zu tun hat wie das
tägliche Schwätzchen am Gartenzaun. Und selbst
wenn verschärft geklatscht wird, ist es sehr fraglich, ob dabei echte Geheimnisse gelüftet oder
nur Gerüchte kolportiert werden.
So behält die alte Fabel vom Hasen und Igel zwar
auch online ihre Gültigkeit, denn der Wettlauf
zwischen Diskretion und Investigation, zwischen Geheimhaltung und Veröffentlichung geht
munter weiter. Doch geschieht dieses unter zunehmend bedenklichen Bedingungen, weil die
Alltagsregel „Je dichter die Masken umso zudringlicher die Beobachter (und umgekehrt)“
immer mehr durch aufwändige technische Möglichkeiten außer Kraft gesetzt wird, die sich vor
allem diejenigen zu Nutze machen, die genügend
Macht und Geld haben.
Werbeleute
Schließlich zu den Werbeleuten, also zu einer
Branche, die uns unentwegt und unverhohlen
gezielt zu beeinflussen trachtet. Dabei blendet
sie Negatives prinzipiell aus, bedient sich psychologisch fundierter Überredungsstrategien und
nutzt (ähnlich wie die Unterhaltungsindustrie)
„Geheimnisse“ gern als Aufmerksamkeitsfänger
und Glücksversprechen, das angeblich durch den
Erwerb der damit etikettierten Produkte und
Dienstleistungen eingelöst wird.
Die Macht der Werbung beruht letztlich darauf,
dass Werbende ziemlich genau wissen, was wir
wünschen, wir aber ihre Strategien und Tricks
nicht hinreichend durchschauen, sondern sogar
in Kauf nehmen, ein bisschen belogen zu werden.
Wenn Werbung sich freilich nicht als solche zu
erkennen gibt (wie z.B. beim Product Placement),
operiert sie manipulativ, nämlich im Modus gezielter Täuschung und reflexiver Geheimhaltung.
Neue Medien – alte Geheimnisse
Wie es scheint, zerfällt die sogenannte „Informationsgesellschaft“ allmählich in unzählige Wissenssegmente mit wachsenden Unwissenheitshorizonten. Dank digitaler Medien prozessiert
das Wissen innerhalb solcher Fragmente immer
zuverlässiger und sicherer, zwischen den Fragmenten jedoch immer zufälliger und ungesicherter (vgl. Donk & Westerbarkey, 2009, S. 28ff ).
Die konventionellen Massenmedien klinken sich
zwar in dieses Netz ein, doch nutzen sie es primär dazu, ihre Publika durch Serviceangebote zu
binden, und weniger investigativ zur Aufdeckung
von Geheimnissen, denn dazu enthält es zu viele
unseriöse und leichtfertige Quellen.
Zwar könnten die Enthüllungen von Wikileaks
darauf schließen lassen, dass Online-Kommunikation besonders geeignet ist, Geheimnisse zu
liquidieren, doch schaffen solche Enthüllungen
auch neue Konflikte und Kommunikationsbarrieren: Informanten werden öffentlich als Verräter
angeprangert, Journalisten reklamieren nach-
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Bibliographie:
Adorno, T. W. (1972). Résumé über Kulturindustrie [1967]. In: Prokop, D. (Hg.), Massenkommunikationsforschung. Konzerne, Macher, Kontrolleure. Bd. 1. Frankfurt am Main, S. 347-353.
AFP (12./13.07.2014). US-Regierung verärgert über Berlin. In: Neue Westfälische, S. 1.
Badura, B. (1971). Sprachbarrieren. Zur Soziologie der Kommunikation. Stuttgart-Bad Cannstatt.
Baerns, B. (1985). Öffentlichkeitsarbeit oder Journalismus? Zum Einfluß im Mediensystem. Köln.
Chomsky, N. (2003). Media Control. Wie die Medien uns manipulieren. Hamburg & Wien.
Donk, A. & Westerbarkey, J. (2009). Politische Öffentlichkeit in der Mediengesellschaft: Fragmentierung, Desintegration und Depolitisierung. In: Bisky, L., Kriese, K. & Scheele, J. (Hg.), Medien –
Macht – Demokratie. Berlin, S. 18-35.
Fröhlich, R. (1992). Qualitativer Einfluß von Pressearbeit auf die Berichterstattung: Die »geheime Verführung« der Presse? In: Publizistik, 37 (1), S. 37-49.
Goffman, E. (1976). Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag. München.
Luhmann, N. (1996). Die Realität der Massenmedien. Opladen.
Machiavelli, N. (1990). Der Fürst. (Il Principe [1513]) Frankfurt am Main.
Sievers, B. (1974). Geheimnis und Geheimhaltung in sozialen Systemen. Opladen.
Simmel, G. (1968). Das Geheimnis und die geheime Gesellschaft. In: Simmel, G., Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung [1908]. Berlin, S. 256-304.
Weber, M. (1985). Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie [1922]. Tübingen.
Westerbarkey, J. (1991). Das Geheimnis. Zur funktionalen Ambivalenz von Kommunikationsstrukturen. Opladen.
Westerbarkey, J. (1998). Das Geheimnis. Die Faszination des Verborgenen. Leipzig.
Westerbarkey, J. (2005). Illusionsexperten. Die gesellschaftlichen Eliten und die Verschleierung von
Macht. In: Engstrom, E.J., Hess, V. & Thoms, U. (Hg.), Figurationen des Experten. Ambivalenzen
der wissenschaftlichen Expertise im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert. Frankfurt am
Main, S. 209-223.
Westerbarkey, J. (2008). Kritische Ansätze: ausgewählte Paradigmen. In: Bentele, G., Fröhlich, R. &
Szyszka, P. (Hg.), Handbuch der Public Relations. Wissenschaftliche Grundlagen und berufliches
Handeln. Wiesbaden, S. 177-191.
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Westerbarkey, J. (2013b). Öffentlichkeitskonzepte und ihre Bedeutung für strategische Kommunikation. In: Röttger, U., Gehrau, V. & Preusse, J. (Hg.), Strategische Kommunikation. Umrisse und
Perspektiven eines Forschungsfeldes. Wiesbaden, S. 21-36.
Joachim WESTERBARKEY
Prof. Dr. (em.), bis 2009 Professor für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft an
der Universität Münster. Lehrstuhlvertretungen an den Universitäten Dortmund und Düsseldorf, Gastvorlesungen an Universitäten in Moskau, Gwangju, Seoul, Campinas und
Fortaleza. Vorsitzender der Prüfungskommission des Zentrums für Angewandte Kommunikation (ZAK) an der Universität Münster. Arbeitsschwerpunkte: Kommunikations- und
Medientheorien, Strategische Kommunikation, Diskursanalyse, Filmanalyse.
Publikationen:
Westerbarkey W. (1991). Das Geheimnis. Zur funktionalen Ambivalenz von Kommunikationsstrukturen. Opladen.
Westerbarkey W. (1998). Das Geheimnis. Die Faszination des Verborgenen. Leipzig.
Westerbarkey W. (Hg.) (2010). EndZeitKommunikation. Diskurse der Temporalität. Berlin.
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Geheim, verdrängt, unbekannt
Lücken von Öffentlichkeit:
Worüber Medien gern schweigen – und warum sie das tun
Horst Pöttker
TU Dortmund
Abstract
Das Geheimnis wird bereits von Georg Simmel 1908 als ethisch und funktional ambivalent
gedeutet:
Einerseits unentbehrlich für soziale Beziehungen und kulturelle Entwicklung, steht es andererseits individueller Selbstbestimmung und demokratischer Selbstregulierung von Gesellschaften
entgegen. Diese zweite, problematische Seite des verborgen Bleibenden wird aus der Perspektive des Journalistenberufs und der ihn unterstützenden Journalistik analysiert. Zentrale Gesichtspunkte sind die Aufgabe, zutreffend und umfassend Öffentlichkeit herzustellen, und die
journalistische Grundpflicht zum Publizieren. Aus dieser Perspektive werden sieben Gründe
für Lücken von Öffentlichkeit analysiert: Druck von außen (z. B. Zensur), kulturelle Tabus,
professionelle Routinen (z. B. Nachrichtenfaktoren), erzieherisches Selbstverständnis, Verstopfung von Kommunikationskanälen mit „junk news“ und die Selbstgenese des (Ver-)Schweigens. Am Ende werden Rechercheförderung und Initiativen, die auf medial vernachlässigte
Themen hinweisen, als Möglichkeiten erwogen, um Lücken von Öffentlichkeit zu schließen.
„Spezielles Wissen, das innerhalb eines bestimmten Personenkreises oder einer bestimmten
Organisation oder Institution verbleiben soll
(Amts-, Beicht-, Berufs-, Militär-, Postgeheimnis); auch Phänomen, das nicht erklärbar ist.“
(wissen.de)
darf ein G. nicht ungerecht ausforschen. Wer
es tut, vergreift sich an einer fremden Sache u.
verletzt dadurch die (Verkehrs-)Gerechtigkeit.
Auch die Klugheit fordert, daß man sich nicht
zuviel mit den G.sen anderer belastet.
(Hörmann, 1976)
So definiert das Online-Lexikon wissen.de den
Begriff Geheimnis. Noch bestimmter drückt es
Karl Hörmann im Lexikon der christlichen Moral aus:
Im theologischen Kontext findet sich aber auch
noch eine andere Nebenbedeutung:
„Dieses Wort beschreibt eine verborgene oder
geheime Sache, die nur dem Urheber bekannt
ist. In der Schrift steht es im Gegensatz zu der
Offenbarung oder dem öffentlichen Handeln
Gottes“
(www.bibelkommentare.de)
„G. (secretum) nennt man eine verborgene od.
zu verbergende Sache od. ein solches Wissen
(Erfindung od. Tatsache). I. Das G. eines Menschen (des G.herrn) ist von seinen Mitmenschen
zu achten. 1. Das Recht des Menschen darauf,
daß sein G. gewahrt werde, gründet in der Bedeutung der Wahrung für sein Bestehen in der
Gesellschaft u. für das Gemeinwohl. Eindringlich schildert die Hl. Schrift die nachteiligen
Folgen des Verrates von G.sen für das Verhältnis der Menschen zueinander (Sir 27,16-21).
2. Die Pflicht der Achtung vor dem Recht des
Menschen auf sein G. schließt in sich: a) Man
1. Perspektive: die journalistische
Aufgabe Öffentlichkeit
Am Begriff des Geheimnisses haftet die Vorstellung von Legitimität. Wer ein Geheimnis hütet,
hat dafür Gründe, die oft auch für andere Menschen akzeptabel, in aller Regel jedenfalls nachvollziehbar, respektive verstehbar sind.1 Über die
Dass Verstehen von Handlung(sweis)en nicht Gutheißen
derselben bedeutet, sollte seit Max Weber in den Sozialwissenschaften selbstverständlich sein (vgl. Webers Schlüsseltext
zu Erkenntnisinteresse und Methodologie der von ihm konzipierten „verstehenden Soziologie“ in Weber, 1966).
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Unantastbarkeit von Post- oder Beichtgeheimnis
herrscht wohl Konsens, aber auch im Privaten lassen sich Beispiele für die Akzeptanz von Geheimnissen finden: So stößt die Praxis, Weihnachtsgeschenke zu verstecken, selbst bei neugierigen
Kindern letztlich auf Zustimmung. Dass Journalisten verdeckt recherchieren, wenn es um anders
nicht zu beschaffende Informationen von besonderem öffentlichem Interesse geht, erklärt die
Berufsethik ausdrücklich für erlaubt.2 Wenn der
Geheimdienst unseres Landes im Verborgenen
nach Gefährdungen fahndet, finden wir das um
unserer Sicherheit willen im Allgemeinen in Ordnung. Zweifel beziehen sich allenfalls darauf, dass
er sich dabei in den Besitz unserer eigenen legitimen Geheimnisse bringt.3 Diese Konnotation
von Legitimität oder Funktionalität des Geheimnis-Begriffs ins Zentrum der Analyse zu rücken
ist fraglos eine lohnende kommunikationswissenschaftliche Aufgabe, der sich dieses Themenheft
von medien & zeit u. a. widmet. Georg Simmel
hat ihr sogar kulturhistorischen Glanz verliehen.
Geheimhaltung für Andere zwar nachvollziehbar,
aber eben nicht akzeptabel ist. Wenn Räuber ihre
Beute in geheimen Verstecken deponieren, Korruption oder Drogenhandel sich im Verborgenen
vollziehen und Diktatoren ihre Widersacher in
dunklen Verliesen foltern lassen, verstehen wir
zwar, warum sie das im Verborgenen tun, aber es
herrscht Einigkeit in der Ablehnung solcher finsteren Machenschaften. Gerade im Wissen über
diese gesellschaftliche Reaktion werden sie ja im
Schutz des Geheimen verübt.4
Eine weitere Nebenbedeutung ist klarer. Man
kann auch von sich aus etwas nicht wissen, im
Unbekannten lassen, nicht wahrhaben wollen. Im
Falle dieses Vor-sich-selbst-Verbergens verbietet es
sich, von Geheimnis zu sprechen, setzt der Begriff
doch eine Trennung von Subjekt und Objekt des
Verbergens voraus. Stattdessen bietet sich der Begriff der Verdrängung an. Eine normative Ambivalenz gegenüber dem Phänomen zeigt sich freilich
auch hier: Wir akzeptieren, dass Verdrängung
notwendig ist, um den Alltag bestehen zu können.
Man kann nicht jeden Augenblick an Auschwitz
denken, so wünschbar das wäre, um die Opfer
nicht zu vergessen und Ähnliches in Zukunft auszuschließen. Wir lehnen Verdrängung aber auch
ab, wenn sie dazu dient, eigene, individuell oder
kulturell bedingte Schuld zu leugnen und auf andere Individuen oder Kulturen zu projizieren.
„Die Absicht des Verbergens nimmt eine ganz
andre Intensität an, sobald ihr die Absicht der
Entschleierung gegenübersteht. Dann entsteht
jenes tendenziöse Verstecken und Maskieren,
jene sozusagen aggressive Defensive gegen den
Dritten, die man erst eigentlich als Geheimnis
bezeichnet. Das Geheimnis in diesem Sinne,
das durch negative oder positive Mittel getragene Verbergen von Wirklichkeiten ist eine der
größten Errungenschaften der Menschheit; gegenüber dem kindischen Zustand, in dem jede
Vorstellung sofort ausgesprochen wird, jedes Unternehmen allen Blicken zugänglich ist, wird
durch das Geheimnis eine ungeheure Erweiterung des Lebens erreicht.“
(Simmel, 1958, S. 272)
Schließlich: Nicht alles Dunkle, Unerkannte,
Nicht-Thematisierte ist geheim. Denn eine weitere Nebenbedeutung des Begriffs vom Geheimen
und Verborgenen (abgeleitet vom transitiven Verb
verbergen) impliziert ein mehr oder weniger aktives Subjekt. Dieses hat am Geheimhalten bzw.
Verbergen Interesse (weshalb wir es verstehen können) und trägt dafür Verantwortung. Darüber
hinaus gibt es auch Probleme, die nicht deshalb
unbekannt sind, weil sie absichtlich geheim gehalten werden, sondern weil sie z. B. zu entfernt,
zu kompliziert oder zu langweilig sind um Interesse zu finden. In manchen Fällen, z. B. bei
einem Desinteresse an den Privatangelegenheiten
Daneben gibt es allerdings – nicht nur aus theologischer Sicht – noch eine andere Nebenbedeutung, die z. B. das Kompositum Geheimniskrämerei auf harmlose Weise akzentuiert. Sie
wird durch Beispiele anschaulich, bei denen die
zu den Identitäten von Kriminellen, die US-Netzwerke angriffen.“ Dagegen der kritische: „Neun von zehn Menschen, deren
Kommunikation die NSA überwacht, sind unverdächtig: Laut
Washington Post werden dennoch intimste Details über ihr Leben
gespeichert. (...) Sexbeichten, Fotos von Frauen, die in Unterwäsche posieren, ärztliche Unterlagen, Babyfotos – all das hat die
NSA im Rahmen ihrer Überwachung von Kommunikationsinhalten (...) abgefangen und gespeichert.“ (Beuth, 2014).
4
Es ist wohl auch diese normative Ambivalenz, die – neben
der Hauptbedeutung des Verborgenen – zum Numinosen,
„Geheimnisvollen“ des Begriffs vom Geheimnis beiträgt.
In Richtlinie „4.1 – Grundsätze der Recherchen“ der Publizistischen Grundsätze (Pressekodex) des Deutschen Presserats
heißt es: „Verdeckte Recherche ist im Einzelfall gerechtfertigt,
wenn damit Informationen von besonderem öffentlichen Interesse
beschafft werden, die auf andere Weise nicht zugänglich sind.“
3
In den öffentlichen Äußerungen zur NSA-Affäre gibt es
meistens einen affirmativen und einen kritischen Tenor nebeneinander. Der affirmative lautet, es gebe in dem von der
NSA gesammelten Material „Dokumente, die aufschlussreiche
geheimdienstliche Erkenntnisse bereithielten: Enthüllungen über
ein geheimes Atomprojekt im Ausland etwa, Informationen
über das doppelte Spiel eines vermeintlichen Verbündeten sowie
2
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anderer, erscheint uns das berechtigt, ja geboten.
Bei anderem, z. B. einer Gleichgültigkeit gegenüber humanitären Katastrophen in anderen
Weltgegenden, trifft diese Haltung auf Unbehagen und fordert Kritik heraus. Auch beim nicht
intendierten Unbekannten herrscht also eine Ambivalenz von zuerkannter und bezweifelter Legitimität. Wo die Grenze zwischen legitim und illegitim, Zustimmung und Ablehnung gegenüber
dem Unbekannten verläuft, ist von Epoche zu
Epoche, von Kultur zu Kultur und von Beruf zu
Beruf verschieden.
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gehinderten gesellschaftlichen Kommunikation,
die wir Öffentlichkeit nennen (vgl. Habermas,
1962/1990; Schneider, 1966; Splichal, 2002;
Pöttker, 2005; Peters, 2007; Gerhardt, 2012).
Sie ermöglicht dem Einzelnen, Kenntnisse von
Gegebenheiten zu erlangen, die jenseits seiner
unmittelbaren Wahrnehmung liegen. Sie ist eine
notwendige Bedingung dafür, dass moderne Gesellschaften gewahr werden, welche Probleme sie
zu verarbeiten haben, damit sie keine zerstörerische Sprengkraft entwickeln. Die beiden Funktionen hängen zusammen, denn Information ist
nötig für kundige Partizipation und kundige Partizipation ist nötig für soziale Selbstregulierung.
Auch diese Idee hat Georg Simmel bereits 1908 in
seinem Essay über das Geheimnis als Prinzip der
Demokratie formuliert:
Die folgenden Überlegungen gelten nicht nur
dem Geheimgehaltenen, sondern auch dem – vor
allem kulturell – Verdrängten und nicht zuletzt
dem nicht intendierten, nur aus seinen Bedingungen erklärbaren Un„Alle Demokratie wird
bekannten. Sie wenden
Komplexe Gesellschaften müsdie Publizität für den
sich allerdings nicht den
sen sich im Interesse ihrer Selbst- an sich wünschenswerten
beiden Seiten möglicher
Zustand halten, von der
regulierungsfähigkeit darauf
Beurteilungen zu, sonGrundvorstellung aus:
dern nur dem Illegitimen,
verlassen können, dass Journadaß jeder diejenigen ErDysfunktionalen, Verwerflistinnen und Journalisten ihre
eignisse und Verhältnisse,
lichen des Unbekannten.
die ihn angehen, auch
Öffentlichkeitsaufgabe erfüllen
Grund dafür ist die hier
kennen solle – da dies
eingenommene Fachperwollen [...] und auch erfüllen
die Bedingung davon ist,
spektive der Journalistik
daß er über sie mit zu bekönnen.
und damit des Jourschließen hat; und jedes
Mitwissen enthält auch
nalistenberufs.
Dessen
schon die psychologische Anreizung, mittun zu
konstitutive Aufgabe ist, die komplexe Welt der
wollen.“
Moderne zutreffend, unerschrocken, fair und
(Simmel, 1958, S. 277)
umfassend transparent zu machen. Es gilt das Geheimgehaltene, Verdrängte und Unbekannte ans
Letztlich steckt hinter dem Prinzip von ÖffentLicht zu bringen, wo nicht andere Gründe – z. B.
lichkeit die Idee der Aufklärung, dass Missständer Schutz der Privatsphäre – das verbieten. Die
de vor allem im Verborgenen gedeihen und das
Journalistik nennt das die Öffentlichkeitsaufgabe
Nützliche und Sinnvolle die Kenntnis der Allgedes Journalismus. Im Folgenden ist deshalb nicht
meinheit nicht zu scheuen braucht.
mehr vom Geheimen, Verdrängten und Unbekannten die Rede, sondern zusammenfassend von
In modernen Gesellschaften muss Öffentlichkeit
Lücken von Öffentlichkeit.
hergestellt werden, denn fortgeschrittene DiffeZunächst sei aber die Öffentlichkeitsaufgabe des
renzierung und Parzellierung bringt eine Vielzahl
Journalistenberufs etwas näher erläutert.
von sozio-kulturell gegebenen Kommunikations2. Öffentlichkeit und Journalismus barrieren mit sich, die es durch gezielte Informationsbeschaffung und weite Informationsverbreitung kommunikativ zu überbrücken gilt. Die
In den hoch komplexen, stark parzellierten GeKulturleistung des Journalismus besteht darin,
sellschaften der Moderne reicht das unmittelbar
Arbeitstechniken zu entwickeln, die Recherche
erworbene Erfahrungswissen nicht mehr aus,
und Distribution optimieren, um die Aufgabe,
damit Individuen ihr Leben auf der Höhe der
Öffentlichkeit herzustellen, möglichst effektiv
Kulturentwicklung gestalten und sich kundig
zu erfüllen. Öffentlichkeit herstellen heißt: Für
an sozialen Selbstregulierungsmechanismen wie
optimale Unbeschränktheit der gesellschaftlichen
Demokratie, Recht oder Markt beteiligen könKommunikation und optimale Transparenz der
nen. Hier bedarf es daher einer Sphäre der ungesellschaftlichen Verhältnisse zu sorgen, in praxi:
15
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willen zunächst auch täten. So handeln Geheimdienste, Intriganten und andere an Machtlogiken
Orientierte. Im journalistischen Öffentlichkeitdiskurs geht es dagegen um rasche Zugänglichkeit
möglichst vieler richtiger und wichtiger Informationen für möglichst viele, idealiter alle Teilnehmenden der Kommunikationsgemeinschaft.6
einem möglichst großen und vielfältigen Publikum möglichst viele richtige und wichtige Informationen zu vermitteln.
Komplexe Gesellschaften müssen sich im Interesse ihrer Selbstregulierungsfähigkeit darauf verlassen können, dass Journalistinnen und Journalisten ihre Öffentlichkeitsaufgabe erfüllen wollen,
weil sie sich ihrer bewusst sind, und auch erfüllen
können, weil die Bedingungen ihrer Arbeit – Ausbildung, Bezahlung, rechtliche und politische
Rahmenbedingungen, technische und organisatorische Ressourcen usw. – dies gestatten. Das auf
die Öffentlichkeitsaufgabe konzentrierte Wollen
und Können wird auch journalistische Professionalität genannt (vgl. Pöttker, 2010).
Eine weitere Konsequenz der Grundpflicht zum
Publizieren ist, dass das Übergehen von Themen,
das Schweigen und Verschweigen im Zweifel ein
stärkerer Verstoß gegen das journalistische Berufsethos ist als das Veröffentlichen von Überflüssigem oder eo ipso Schädlichem. Die so genannte
„Medienethik“ setzt aber meistens gerade an Letzterem an (vgl. Schicha & Brosda, 2010).
Damit sind wir bei den Lücken von Öffentlichkeit
angelangt. Im Folgenden soll anhand von Beispielen gezeigt werden, welche Gründe zu Öffentlichkeitslücken führen (können). Dabei zeichnet sich
eine Typologie der Ursachen von zu schwacher
Thematisierung in den Medien ab, wobei die
journalistische Vernachlässigung eines relevanten
Themas selbstverständlich mehrere der hier idealtypisch und ohne Anspruch auf Vollständigkeit
unterschiedenen Gründe haben kann.
Weil über die Relevanz von Informationen wiederum nur in einem Prozess unbeschränkter gesellschaftlicher Kommunikation entschieden werden
kann, gibt es für Journalisten eine Grundpflicht
zum Publizieren, pragmatisch: zu umfassender
Berichterstattung. Sie entspricht in etwa der ärztlichen Grundpflicht zum Heilen. Das heißt: Ähnlich wie ein Arzt nicht konkret begründen muss,
warum er einen Patienten versorgt, muss ein Journalist nicht konkret begründen können, warum
er etwas veröffentlicht. Ärzte müssen jedoch unter
Umständen, z. B. in der Triage-Situation oder bei
erbetener passiver Sterbehilfe, unter Abwägung
konkurrierender Pflichten und Rechte begründen können, warum sie Patienten nicht versorgen.
Ähnlich müssen Journalisten unter Abwägung
konkurrierender Gesichtspunkte begründen können, warum sie etwas nicht veröffentlichen. Denn
es gibt ja andere Pflichten, die die professionelle
Grundpflicht zum Publizieren begrenzen und im
Einzelfall übertrumpfen können. Möglicherweise existieren Gründe, die zum Verzicht auf eine
Veröffentlichung zwingen. Solche Gründe liegen nicht zuletzt im Bereich der Menschenrechte (Schutz der Privatsphäre) und der Moral (vgl.
Pöttker, 2013b).
3. Zensur und andere äußere
Barrieren
Beim Thema Lücken von Öffentlichkeit hat man
es meistens mit historischen Beispielen zu tun,
lässt sich doch über aktuelle Probleme, die nicht
öffentlich werden, eben weil sie unbekannt sind,
wenig sagen. Deshalb ist man auf Rückblicke angewiesen. Rückblicke auf Fälle in denen das nicht
öffentlich Gewordene letztendlich doch an den
Tag gekommen ist.
Wo sich aus der Grundpflicht zum Publizieren der
Drang zum Aufdecken von Geheimnissen speist,
darf es Journalisten nicht darum gehen, das Aufgedeckte danach selbst geheim zu halten,5 so gern
sie das um der Exklusivität ihrer „Geschichten“
Im Ersten Weltkrieg wusste die deutsche Generalität spätestens im Sommer 1916, dass die Niederlage des Heeres unvermeidlich war und sich allenfalls hinauszögern ließ. Die Militärzensur sorgte
jedoch dafür, dass die Bevölkerung davon nichts
erfuhr (vgl. Koszyk, 2010). Diese Lücke von Öffentlichkeit hat nicht nur die Dolchstoßlegende
möglich gemacht. Ihre Folgen reichen bis zur NSHerrschaft und ihren Menschheitsverbrechen.
Es sei denn, Grundrechte und -regeln wie der Schutz der
Privatsphäre oder das gesetzliche Verbot von Landesverrat stehen dem entgegen und werden durch das öffentliche Interesse
am Aufgedeckten nicht übertrumpft.
6
Der Widerspruch zwischen Öffentlichkeitsgebot und Ex-
klusivitätsinteresse ist einer der Reibungspunkte, an denen
journalistische Professionalität und kommerzielles Kalkül sich
trotz grundsätzlicher Übereinstimmungen zwischen publizistischer und ökonomischer Sphäre – z. B. dem gemeinsamem
Interesse an großem Publikum – partiell widersprechen.
5
16
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gesichts des Abwanderns von Werbung ins Internet7 tendenziell ihre zentrale Bedeutung für die
Finanzierung von Journalismus verliert, gibt es
weitere Methoden um partikulare Wirtschaftsinteressen in Medien durchzusetzen. Dazu gehören verdeckte Lobby-Zirkel wie die Initiative
Neue Soziale Marktwirtschaft in Deutschland oder
PR-Kampagnen, die sich vornehmlich an Journalisten als Adressaten und Zwischenträger ihrer
Botschaften wenden. Ziel ist es, sich deren Zugang zum Publikum und deren Glaubwürdigkeit
zu borgen.8
Die alljährlich vom Project Censored veröffentlichte Liste mit 25 vom US-Journalismus vernachlässigten Themen macht deutlich, dass es hier vor
allem um Lücken der Öffentlichkeit geht, die auf
von außen einwirkende Einflüsse zurückgehen.
Die ersten zwölf der Top-Themen des – mittlerweile historischen – Jahres 2011 waren:
Sie ist ein klassisches Beispiel dafür, dass nicht
nur das Berichtete, etwa über skandalöse Verfehlungen von Prominenten und Politikern, beträchtliche Folgen haben kann, sondern auch das
verborgen Gebliebene und kulturell Verdrängte.
Und sie zeigt die verheerenden Auswirkungen, die
ein Versagen von Öffentlichkeit als Ressource von
sozialer Selbstregulierung haben kann.
Sie ist aber auch ein Beispiel für einen Grund
des Mangels an Öffentlichkeit, auf den der Begriff der Geheimhaltung wegen der aktiven Rolle
eines interessierten Subjekts noch einigermaßen
zutrifft. An Zensur wird oft zuerst gedacht, wenn
vom Problem versagender Selbstregulierung wegen mangelnder Transparenz die Rede ist. Die
Väter und Mütter der deutschen Verfassung von
1949 haben sie deshalb grundsätzlich ausgeschlossen: „Eine Zensur findet nicht statt“, heißt
es in Art. 5 GG.
PROJECT CENSORED 2011
Zensur ist ein Faktor, der von außen, in diesem
Fall von der politischen Exekutive, auf Medien und
Journalismus einwirkt, um bestimmte, in der Regel für die gerade Herrschenden unbequeme, weil
ihre Herrschaft delegitimierende Informationen
aus der Öffentlichkeit fernzuhalten. Ein seit 1978
existierendes US-Projekt, das auf Lücken der Öffentlichkeit hinweist, nennt sich Project Censored.
Der Name impliziert, dass Zensur der einzige
Grund dafür sei, dass Journalistinnen und Journalisten bestimmte Themen nicht recherchieren
und an den Tag bringen. Dabei setzt das von Sozialwissenschaftlern an der Sonoma State University betriebene Projekt selbst überwiegend an von
außen auf Medien einwirkenden Faktoren an, die
weniger mit politischen als mit Wirtschaftsinteressen zusammenhängen. Im Vordergrund steht das
Interesse von Industrie-, Handels- und Dienstleistungskonzernen an ungefährdetem Gewinn. Bei
Medien setzen Wirtschaftsunternehmen solche
Interessen traditionell vor allem durch selektive
Vergabe bzw. Entzug von Anzeigenaufträgen
durch. Neben dieser Lenkungsmethode, die an-
(www.projectcensored.org)
1. Global Plans to Replace the Dollar
2. US Department of Defense is the Worst Polluter
on the Planet
3. Internet Privacy and Personal Access at Risk
4. ICE Operates Secret Detention and Courts
5. Blackwater (Xe): The Secret US War in Pakistan
6. Health Care Restrictions Cost Thousands of
Lives in US
7. External Capitalist Forces Wreak Havoc in
Africa
8. Massacre in Peruvian Amazon over US Free
Trade Agreement
9. Human Rights Abuses Continue in Palestie
10. US Funds and Supports the Taliban
11. The H1N1 Swine Flu Pandemic: Manipulating
Data to Enrich Drug Companies
12. Cuba Provided the Greatest Medical Aid to
Haiti after the Earthquake
An diesen Beispielen wird deutlich, dass sich eine
Trennung von politischer Zensur und ökonomischer Lenkung zwecks vorbeugender Abschir-
Dort können Anzeigen wegen der Zielgruppengenauigkeit
des One-to-some-Kommunikations-Modus sowie der Gebräuchlichkeit von Suchmaschinen auch ohne einen redaktionellen Teil und die entsprechenden Kosten ihre Adressaten
finden.
8
Zu den wichtigsten PR-Kompetenzen gehört daher das Wissen über journalistische Arbeitsweisen, vor allem die Kenntnis,
worauf Journalistinnen und Journalisten ihre Aufmerksamkeit
richten. Manche meinen deshalb, Journalistenausbildung auf
wissenschaftlicher Grundlage, die sich am Leitbild distanzier-
ter Professionalität orientiert, bereite auf eine PR-Tätigkeit
sogar besser vor als viele der neuen PR-Studiengänge. Und ein
Protagonist der Öffentlichkeitsarbeit wie Klaus Kocks vertritt
die Ansicht, die PR-Branche müsse einen Teil ihrer beträchtlichen Ressourcen für Maßnahmen verwenden, die den in die
Krise geratenen Journalismus erhalten helfen, weil ihr ohne
ihn die Glaubwürdigkeit und damit das Publikum abhanden
komme. Kocks benutzt dafür das Bild vom Parasiten, der an
der Erhaltung der Wirtspflanze ein existentielles Interesse hat.
7
17
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mung der Öffentlichkeit gegen heikle Themen
kaum aufrechterhalten lässt. Staat und Wirtschaft
haben sich mittlerweile zum Konglomerat eines
politisch-ökonomischen Komplexes verbunden.
Rezipientinnen und Rezipienten, nicht nach
Ungereimtheiten in der medialen Überlieferung
von Informationen fragen. Dies fällt besonders
leicht, wenn die ungereimte oder unvollständige
Überlieferung mit vorherrschenden Weltbildern
und Vorurteilen übereinstimmt.
Das Bemühen, Pressefreiheit und Öffentlichkeit
gegen Maßnahmen des politisch-ökonomischen
Komplexes und andere von außen auf den JourDieser Aspekt berührt eine zweite Kategorie von
nalismus einwirkende Beschränkungen zu verteidiGründen für die Vernachlässigung von Themen
gen, schafft allerdings auch ein günstiges Klima für
(-komplexen). Diese Gründe hängen ebenfalls
Verschwörungstheorien.
mit dem gesellschaftGerhard Wisnewski gibt
lichen Kontext zusamJournalismus ist durchaus in
Das andere Jahrbuch mit
men, manifestieren sich
der Lage, Missstände wirksam
dem Untertitel „verheimaber nicht als Druck von
licht, vertuscht, vergessen.
außen, sondern wohnen
aufzudecken und ÖffentlichWas (…) nicht in der Zeials kulturelle Selbstverkeit als Impuls für gesellschafttung stand“ heraus, das
ständlichkeiten auch dem
liche Selbstregulierung zu
in Buchhandlungen und
(Unter-)Bewusstsein von
Kiosken an der Kasse liegt.
Journalisten inne und
schaffen.
Hier wird insinuiert, Terkönnen deren professiororakte wie die Anschläge
nelles Handeln prägen.
vom 11. September 2001 oder die Massenmorde
vom 22. Juli 2011 in Oslo und auf Utøya seien
4. Tabus und kulturelle
auf Machenschaften von Geheimdiensten und
Selbstverständlichkeiten
Polizei zurückzuführen, um die vermeintlich vorgeschobenen Urheber dieser Attentate wie Anders
Zunächst wieder ein Beispiel, das – auch wenn
Behring Breivik samt ihrer bizarren Überzeues erst vor wenigen Jahren ins Licht der Öffentgungen verteufeln zu können. Dadurch würden
lichkeit geraten ist – als historisch gelten kann.
„Ideologien“ wie der Multikulturalismus in den
Im Januar 2010 wurde ein Brief vom Rektor
Rang der öffentlichen Meinung, gegen die sich
des Berliner Canisius-Kollegs, Klaus Mertes
kein Widerspruch zu artikulieren wage, erhoben
SJ, bekannt. Darin entschuldigte sich der Jesu(vgl. Wisnewski, 2012, S. 217-237).
it bei den betroffenen Jahrgängen wegen zahlreicher Fälle sexuellen Missbrauchs an Kindern
Wisnewskis Unterstellung, solche Terrorakte
und Jugendlichen in seiner Einrichtung. Damit
würden von großen Organisationen geplant,
bezweckte er nicht zuletzt, „dass das Schweium die kulturelle Hegemonie von Ideologien zu
gen gebrochen wird“.10 Bekanntlich kam es in
sichern, ist nicht nur abstrus. Sie ist für einen
der Folge in den Medien zu einer Welle immer
„Enthüllungsjournalisten“ (Umschlagtext) auch
neuer Enthüllungen von Missbrauchsfällen. Anunprofessionell, weil sie nicht dem empirischen
fangs im Rahmen der katholischen Kirche, dann
Wahrheitsbegriff des modernen Journalismus
auch von reformpädagogischen Einrichtungen
folgt, sondern nur die Frage cui bono? gelten
wie der Odenwald-Schule, weniger berichtet
lässt. Sie verwendet damit ein Wahrheitskritewurde über den vermutlich häufigsten Tatort der
rium, das die Angelsachsen common sense und
„normalen“ Familie. Die Zahl der Zeitungs- und
wir Deutsche und Österreicher in unserer NeiZeitschriftenartikel, Hörfunk- und Fernsehbeigung zu biologistischen Kategorien gesunden
träge und journalistischen Online-Produkte zu
Menschenverstand nennen.9 In einem allerdings
dieser Problematik in den kommenden Wochen
ist Wisnewski zuzustimmen: Manche Lücken
und Monaten war Legion.11
der Öffentlichkeit bestehen nur, weil wir, die
Zur Begründung der Unbrauchbarkeit dieses Wahrheitskriteriums im Journalismus vgl. Pöttker, 1998, S. 224f.
10
Abgerufen von http://www.welt.de/vermischtes/article
6014879/So-entschuldigt-sich-der-Rektor-fuer-den-Missbrauch.html; Zugriff am 01. 08. 2014.
Solche plötzlich anschwellenden und dann wieder abebbenden Themen-Konjunkturen werden von der Kommunikations- und Medienforschung seit langem kritisch beobachtet
(vgl. z. B. Otto, 2001).
9
11
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An diesem Beispiel zeigt sich, dass der Journalismus durchaus in der Lage ist, Missstände
wirksam aufzudecken und Öffentlichkeit als
Impuls für gesellschaftliche Selbstregulierung zu
schaffen. Die katholische Kirche wie die Odenwald-Schule sehen sich seitdem zu Maßnahmen
veranlasst, die über individuelle Schuldeingeständnisse hinausgehen. Sie nehmen die Verantwortung der Institutionen wahr, indem sie sowohl eine psychische Entschädigung der Opfer
sichern als auch Maßnahmen setzen, um Wiederholungen zu verhindern. Gleichzeitig erhob
sich aber auch seitens der Kirche eine Kritik an
den Medien: Diese richtet sich vor allem darauf,
dass die Darstellung von Missbrauchsfällen im
katholischen Bereich quantitativ überproportional und qualitativ überdramatisiert sei. Im Fokus steht also einmal mehr das vermeintlich zu
viele und verzerrte Öffentlichmachen.12
Auf die Idee, die Frage zu stellen, warum sich
die beruflichen Öffentlichmacher erst so spät der
Problematik angenommen haben, ist die Medienschelte der kirchlichen und auch der reformpädagogischen Einrichtungen13 nicht gekommen.
Dabei liegen die Missbrauchsfälle doch bereits
Jahrzehnte zurück. Um diese Missstände rechtzeitig zu enthüllen, wären nicht einmal investigative
Recherchen notwendig gewesen. Einzelne Opfer,
aber auch Verantwortliche von Institutionen wie
Rektor Mertes haben früh versucht, Medien auf
die Problematik des sexuellen Missbrauchs hinzuweisen. Bereits 1999 ist in der Frankfurter Rundschau auf Veranlassung betroffener ehemaliger
Schüler der Odenwald-Schule sogar ein entsprechender Artikel des Autors Jörg Schindler erschienen (vgl. Schindler, 1999) – ohne journalistische
Resonanz. Oft wird gefragt, warum ausgerechnet
im Frühjahr 2010 die Welle der medialen Aufmerksamkeit hochgebrandet ist. Man kann die
Frage auch umdrehen: Woran liegt es, dass die
Medien solange geschwiegen haben, obwohl das
Thema Missbrauch etliche Nachrichtenwertfaktoren – Schaden, Negativismus, Sexualität oder
Elite-Institutionen – in Kombination erfüllt.
Nicht nur der extrem konservative, dann bald von seinem
Amt zurückgetretene Augsburger Bischof Walter Mixa hat
sofort in einem Interview mit der Augsburger Allgemeinen
gemeint: „Wir haben in den letzten Jahrzehnten gerade in den
Medien eine zunehmende Sexualisierung der Öffentlichkeit erlebt, die auch abnorme sexuelle Neigungen eher fördert als begrenzt.“ (Abgerufen von http://www.welt.de/vermischtes/
article6423525/Bischof-Mixa-gibt-sexueller-RevolutionMitschuld.html; Zugriff am 02. 08. 2014). Auch der Regensburger Erzbischof Ludwig Müller, seit 2012 Chef der
vatikanischen Glaubenskongregation, hat die Kirche bereits
am Passionssonntag 2010 mit dem Rückenwind der üblichen
Medienschelte gegen die Enthüllungen in Schutz zu nehmen
versucht: „Zu Unrecht wird von interessierter Seite der Vorwurf
erhoben, die Verantwortlichen für die Personalführung hätten
ohne Rücksicht auf die Opfer systematisch diese Vergehen vertuscht. Dieser Desinformation, die mit bekannten Vorurteilen
gegen die katholische Kirche agiert, trete ich als Bischof mit aller
Entschiedenheit entgegen. Es ist meine Pflicht, den vielen katholischen Christen, die ihrer Kirche treu verbunden sind, Mut zu
machen. In der Stunde der Bedrängnis sorgt sich jeder Hirte um
die Schafe. Das Heulen der Wölfe schreckt mich nicht.“ Dieses
Hirtenwort wurde vom katholischen Online-Dienst Christliches Forum als mutiger Schritt gegen das „unfaire Verhalten
vieler Medien“, die angeblichen Exzesse einer „hysterischen
Medienschlammschlacht“ und die „antikirchliche Jagdmeute“ gelobt. (Abgerufen von http://charismatismus.wordpress.
com/2012/07/12/medienkritik-von-erzbischof-gerhard-lmuller-das-heulen-der-wolfe-schreckt-mich-nicht/; Zugriff
am 01.08. 2014).
13
Ähnlich wie die zitierten Bischöfe meinte auch der Nestor
der Reformpädagogik, Hartmut von Hentig, am Ende seiner öffentlichen Verteidigung gegen journalistische Behauptungen, er habe etwas vom notorischen Missbrauch an der
Odenwaldschule gewusst oder sei daran beteiligt gewesen:
„Die aufgeblähte pornografische Berichterstattung, die Schwammigkeit der Anschuldigungen (‚mindestens 8 Lehrer, mindestens
33 oder 100 oder 1000 Fälle’ – ohne Angabe, wem tatsächlich
welche Art von Tat zugerechnet werden kann) und die arglistige
anhaltende Verdächtigung meiner Person und meines Werkes
beschädigen den deutschen Journalismus. Ich habe früh für eine
gerichtliche Aufklärung der Fälle plädiert [...]: damit es nicht so
hysterisch zugehe wie vor dem Tribunal der Medien.“ (von Hentig, 2014).
Die Vermutung liegt sehr nahe, dass das lange
Schweigen mit kulturellen Tabus zusammenhängt. Sexualität ist nicht nur ein bewährter, weil
in der menschlichen Natur verankerter Aufmerksamkeitsfaktor für „soft news“, sondern auch ein
in der abendländisch-christlichen Tradition tendenziell tabuisierter Lebensbereich. Über diesen
spricht man offiziell nicht gern – inoffiziell zwar
gern und oft, aber lieber verklausuliert. Noch in
den 1950er Jahren wurden Schülerinnen und
Schüler im Biologie-Unterricht anhand der Paarung entfernter Verwandter aus dem Tier- oder
gar Pflanzenreich „aufgeklärt“. Beim Missbrauch
kommt hinzu, dass es sich um eine auch rechtlich
scharf geächtete Form von Sexualität handelt. Damit will – jedenfalls öffentlich – niemand etwas
zu tun haben. Auch Journalistinnen und Journalisten wurde qua Primärsozialisation dieses Tabu
so eingesenkt wie allen anderen Mitgliedern westlicher Gesellschaften.
Die katholische Kirche und erst recht die Odenwald-Schule hätten kaum die Macht gehabt, dieses Thema durch äußeren Druck auf den Journalismus aus den Medien fernzuhalten. Aber das
Tabu offen über Pädophilie zu reden und der
Fratze dieser Realität ins Auge zu blicken, noch
12
19
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dazu im Zusammenhang mit angesehenen Institutionen wie der Kirche und den Reformschulen,
hat hier über Jahrzehnte eine Lücke von Öffentlichkeit entstehen und andauern lassen. Dass sie
2010 endlich geschlossen werden konnte, mag
auch damit zu tun haben, dass viele Täter mittlerweile ihr Leben oder jedenfalls ihren Einfluss auf
ihre früheren Opfer verloren hatten. Der Hauptgrund ist aber wohl, dass das Tabu sich mit den
abstoßenden Seiten der Sexualität zu befassen, infolge fortschreitender Enttabuisierungstendenzen
in der Postmoderne an Geltung verloren hat.
sollten selbstverständliche Überzeugungen bei
sich selbst wie im Kollektiv infrage stellen.
5. Nachrichtenwertfaktoren und
andere professionelle Routinen
Die Initiative Nachrichtenaufklärung (INA) publiziert jährlich eine Top-Ten-Liste der in den Medien am meisten vernachlässigten Themen. Erstellt
wird diese Liste von einer aus Journalisten und
Kommunikationswissenschaftlern zusammengesetzten Jury. Das Thema, das bei der Gründung
der INA im Jahre 1997 an der Spitze stand, war
von der mittlerweile verstorbenen Kommunikationswissenschaftlerin Hertha Sturm vorgeschlagen
worden:
Im Zuge postmoderner Entwicklungen können
allerdings an die Stelle traditioneller Tabus auch
neue kollektive Überzeugungen, etwa im Bereich
des ökologischen Verhaltens oder des Diskriminierungsschutzes,14 treten. Deren Wirksamkeit
als öffentliche Kommunikationsbarrieren beruht
darauf, dass kaum jemand ihnen zu widersprechen wagt. Elisabeth Noelle-Neumann hat diesen Mechanismus der Konformitätsbildung Die
Schweigespirale (vgl. Noelle-Neumann, 1980)
genannt. Diese kann fraglos real existierende
Probleme der Aufmerksamkeit von Journalisten
und damit der Öffentlichkeit entziehen. Dafür
hat sich der Begriff der political correctness eingebürgert (vgl. Joffe, Maxeiner, Miersch & Broder,
2007), der aus professioneller journalistischer
Sicht informelle Kommunikationsverbote meint,
die es zu überwinden gilt. Unter der Oberfläche
von political correctness, der Formulierungen
verfallen, ist noch eine tiefere Schicht selbstverständlicher Überzeugungen und Tabus zu ahnen.
Über diese lässt sich wenig sagen, eben weil sie
selbstverständlich sind. Ob der feste Glaube an
Demokratie, Menschenrechte und individuelle
Selbstbestimmung als Begriffe, die die Diskurse
der westlichen Gesellschaften grundieren, gegenüber bestimmten Realitäten und Problemen blind
macht, werden erst spätere Kohorten sagen können.
Schon heute ist aber sicher: Wenn kulturelle Tabus
und kollektive Grundüberzeugungen Ursachen
dafür sind, dass sich Lücken von produktiver Öffentlichkeit bilden oder fortbestehen, dann gehört
es zur journalistischen Professionalität diese Tabus
zu überwinden. Professionelle Öffentlichmacher
„1. Die Demokratie der 3,8 Prozent. 3,8 %
- dies ist der Anteil der Personen, die, bezogen
auf die wahlberechtigte Gesamtbevölkerung
der Bundesrepublik Deutschland, Mitglieder
in politischen Parteien sind. Das bedeutet zum
einen, dass die politischen Geschicke in unserem
Land von einer Minderheit, die in Parlamenten
und Regierungen vertreten ist, geleitet werden
(was für repräsentative Demokratien ganz normal ist). Zum anderen rekrutieren sich jedoch
aus diesem schmalen Personenreservoir nicht
nur die Parlamente und Regierungsmannschaften, sondern auch die Inhaber von Leitungspositionen in nahezu allen Behörden (von Arbeitsämtern, Zollverwaltungen, Fachministerien
bis zu Anstalten des öffentlichen Rechts).“15
Zu fragen woran es liegt, dass dieses Problem im
öffentlichen Diskurs nach wie vor nicht präsent
ist, führt ins Herz der journalistischen Professionalität. Die Routinen und paradoxerweise sogar
die auf seine Aufgabe zugeschnittenen Arbeitstechniken des „Berufs zur Öffentlichkeit“ (vgl.
Pöttker, 2010) können nämlich selbst zu Faktoren werden, die zur Vernachlässigung relevanter
Themen in den Medien führen.
Zur journalistischen Öffentlichkeitsaufgabe gehört nicht nur gründliche Recherche und richtige
Darstellung relevanter Themen, sondern auch
mit diesen Inhalten ein möglichst großes Publikum zu erreichen. Genau genommen ist Information kein Gegenstand, sondern ein kommunika-
Angeblich zum Zweck des Diskriminierungsschutzes hat in
Deutschland und anderen Ländern das grundsätzliche Verbot, die Zugehörigkeit von Straftätern zu „schutzwürdigen
Minderheiten“ zu nennen, sogar in den Pressekodex Eingang
gefunden.(vgl. Pöttker, 2013b, 2002). Im österreichischen
Pressekodex gibt es ein ähnlich starres Formulierungsverbot
nicht (vgl. auch Koszyk, 1992).
15
Abgerufen von http://www.derblindefleck.de/top-themen/
top-themen-1997/; Zugriff am 12. 08. 2014.
14
20
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tiver Vorgang. Journalistinnen und Journalisten
antizipieren daher, was die Aufmerksamkeit des
potentiellen Publikums auf sich zieht. Seit Walter
Lippmanns Studie über Die öffentliche Meinung
aus den 1920er Jahren (vgl. Lippmann, 1922,
dt. Lippmann, 1990) wird systematisch darüber
nachgedacht, nach welchen Kriterien das Publikum und infolgedessen Journalisten ihre Aufmerksamkeit zuteilen. Und seit den 1960er Jahren gibt es auch eine empirische Forschung zu
diesen Nachrichtenwertfaktoren, die von dem Friedensforscher Johann Galtung in den 1960er Jahren forciert wurde. Ziel war es, Journalisten dafür
zu sensibilisieren, dass sie ihre Berichterstattung
zu sehr auf spektakuläre, aber wenig relevante Gegenstände richten (vgl. Galtung & Ruge, 1965).
Lippmann identifizierte vier Nachrichtenwertfaktoren, nämlich Nähe (proximity), Prominenz
(big names), Überraschung (oddity) und Konflikt
(controversy). Winfried Schulz, der der deutschen
Nachrichtenwertforschung in den 1970er Jahren
Impulse gab, sortierte die Nachrichtenfaktoren
nach sechs Dimensionen: Zeit (Dauer, Thematisierung); Nähe (räumliche, politische, kulturelle,
existenzielle); Status (regionale und nationale
Zentralität, persönlicher Einfluss, Prominenz);
Dynamik (Überraschung, Komplexität); Valenz
(Konflikt, Kriminalität, Schaden, Erfolg); Identifikation (Personalisierung, Ethnozentrismus) (vgl.
Schulz, 1976). Je mehr dieser Faktoren ein Thema kombiniert, desto größer seine Chance, von
Journalisten aufgegriffen und öffentlich gemacht
zu werden.
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teimitgliedern in öffentlichen Ämtern wird seit
jeher kritiklos hingenommen.16
Nicht zuletzt aus der routinierten Orientierung an
den Nachrichtenwertfaktoren im journalistischen
Alltag ist zu erklären, dass die Demokratie der 3,8
Prozent in den Medien kaum zum Thema gemacht
wird, obwohl das Problem zweifellos eine engagierte öffentliche Auseinandersetzung verdiente.17
Professionalität kann also offenbar ein Grund sein,
warum Journalistinnen und Journalisten ihre berufliche Aufgabe, unerschrocken und umfassend
Öffentlichkeit herzustellen, nur unvollkommen erfüllen. Wenn man allerdings unter Professionalität
eine konsequente Orientierung an der Öffentlichkeitsaufgabe versteht, dann umfasst sie die Pflicht,
nicht nur Tabus und selbstverständliche Überzeugungen, sondern auch das journalistische „Handwerk“18 immer wieder infrage zu stellen.
Selbstkritische Skepsis wird in der gegenwärtigen
Krise des Journalismus (vgl. Barelt-Kircher et al,
2010; Pöttker, 2013a) möglicherweise dadurch
beflügelt, dass der Beruf sich ohnehin grundlegend verändern muss. Ein Jahrhundert lang
war die Nachrichtenfunktion sein Lebenselixier.
Doch deren dominante Bedeutung verblasst (vgl.
Stephens, 2014). Der Journalismus bekommt,
das Tempo der Informationsvermittlung betreffend, in der digitalen Medienwelt zahlreiche
und starke Konkurrenz. Er muss sich deshalb auf
andere Funktionen besinnen. Zu denen gehört
etwa auch das bisher nachrangig gewertete Orientierungsangebot für das Publikum. Damit sind
das Durchleuchten von Verhältnissen und Informationen über partiell unverstandene Lebensbedingungen von Rezipientinnen und Rezipienten
gemeint. Also mehr Wissenschafts- und Umweltberichterstattung, mehr Geschichtsjournalismus,
mehr Berichte über Zivilprozesse und weniger
Nachrichten über Urteile der Strafjustiz usw (vgl.
Pöttker, 03.01.2012). Wenn sich die Fixierung
auf Ereignisse lockert, werden Nachrichtenfaktoren im journalistischen Arbeitsalltag ohnehin
an Bedeutung verlieren.
Dass Nachrichtenfaktoren auch eine Kehrseite
haben, liegt auf der Hand. Indem sie Aufmerksamkeit generieren, führen sie bei Themen, die
nur wenige oder gar keine dieser Kriterien erfüllen, Unaufmerksamkeit herbei (vgl. Vock, 2007).
Offenbar gehört die Demokratie der 3,8 Prozent
zu diesen Themen. Da 96 Prozent der Bevölkerung keiner Partei angehören, ist für den größten Teil des Publikums Nähe nicht gegeben; auf
prominente Personen lässt es sich schlecht beziehen. Von politischer Prominenz wird man kaum
erwarten können, dass sie sich von den Parteien
fernhält. Überraschung bietet das Thema nicht, es
handelt sich um eine seit langem existierende Disproportionalität. Und Konflikt ist damit erst recht
nicht verbunden, denn das Übergewicht von Par-
Mit Orientierungsfunktion kann im Hinblick auf
die Öffentlichkeitsaufgabe nicht der volkspädagogische Zeigefinger gemeint sein. Journalistinnen
und Journalisten sind keine Erzieher. Ein solches
Journalisten müssten Konflikte hier von sich aus hervorrufen, was nicht zum traditionellen Selbstbild des unbeteiligten
Beobachters passt.
17
Dass hier auch äußerer Druck der Parteien eine Rolle spie-
len kann, soll nicht ausgeschlossen werden.
18
Ein oft gebrauchter Begriff, der zu Missverständnissen einlädt: Journalismus ist mehr Kopf- als Handwerk – oder sollte
es jedenfalls sein!
16
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auch seinem oft reklamierten Selbstverständnis nach darauf spezialisiert ist problematische
Zustände transparent zu machen und die Allgemeinheit über Missstände und Gefahren zu
informieren, damit die Probleme bearbeitet, die
6. Volkspädagogik und
Gefahren abgewendet werden können – auch von
Weltbildvermittlung
dem durch die Öffentlichkeit dazu angehaltenen
Staat? Hätte ein wachsamer Journalismus die öfWenngleich die betreffende Thematisierungslüfentliche Fahndung, die Bundesanwaltschaft und
cke noch nicht beseitigt ist, zeigt auch das folBundeskriminalamt im Dezember 2011 starteten,
gende Beispiel, dass wir sie und ihre Folgen erst
nicht schon längst in Gang setzen müssen? Hätim Nachhinein erkennen. Dies ist geradezu tyte er nicht längst die ineffektive Kooperation von
pisch für vernachlässigte Themen.
Bundes- und Landesbehörden aufdecken und
Gemeint ist die Existenz eines brutalen, u. a. zu
die Reform der PolizeistSerienmorden an Mirukturen einfordern müsgranten bereiten rechtWenn Journalistinnen und Joursen?21
sterroristischen
Unternalisten sich als Erzieher vergrunds in Deutschland,
Die Teilblindheit des
der durch ein politisches
stehen und sich gemeinsam mit
Journalismus
gegenUmfeld von Neonazis beder (Kommunal-)Politik für das
über Neonazismus und
schützt und versorgt wird.
Wohl ihrer Gemeinde oder ihrer Rechtsterrorismus
hat
Die Öffentlichkeit, aber
nichts
damit
zu
tun,
dass
auch die Geheimdienste
Nation verantwortlich fühlen,
die Journalistinnen und
und die Kriminalpolizei
können Lücken der ÖffentlichJournalisten selbst rechte
haben davon erst durch
keit entstehen.
Affinitäten hätten. Abgedas zufällige Auffliegen
sehen von einschlägigen
der Zwickauer Terrorzelle
Blättern wie der National-Zeitung oder der Jungen
im November 2011 erfahren. Meistens werden
Freiheit ist das Gegenteil der Fall, wie die Mainsolche Fehler – zutreffend – als Versagen der für
zer Schule der Kommunikationswissenschaft seit
Strafverfolgung und Verfassungsschutz zustänJahrzehnten nicht müde wird festzustellen (vgl.
digen Staatsorgane betrachtet. Der Präsident
Kepplinger, 1979; Donsbach, 1982). Aber gerades Bundesamts für Verfassungsschutz, Heinz
de weil Journalisten eher linke oder links-liberale
Fromm, hat im Juli 2012 eine „schwere Niepolitische Einstellungen haben, ergibt sich ein
derlage der Sicherheitsbehörden“ eingeräumt.19
Problem im Hinblick auf einen professionellen
Bundeskanzlerin Angela Merkel hat sich auf eiUmgang mit dem Thema Rechtsextremismus.
ner öffentlichkeitswirksamen Trauerfeier für die
Einerseits ist es angesichts der Geschichte ihres
Mordopfer bei deren Angehörigen entschuldigt.
Landes verständlich, wenn deutsche Journalisten
sich auch in ihrem beruflichen Handeln mögAber geht die Ignoranz gegenüber dem Rechtslichst weit von den Menschheitsverbrechen des
terrorismus und seinem sozio-politischen NährNS-Regimes distanzieren und durch ihre Berichtboden nicht auch auf ein Versagen jenes Berufs
erstattung Neonazismus und Rechtsextremismus
zurück, der laut Bundesverfassungsgericht,20 aber
Selbstverständnis würde ebenfalls zu Lücken von
Öffentlichkeit führen, wie ein weiteres Beispiel
zeigt.
Abgerufen von http://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2012/39747584_kw27_nsu_do/209000; Zugriff am
03. 08. 2014.
20
In seinem Urteil zur Spiegel-Affäre vom 5. 8. 1966 hat
das BVG diese Aufgabe von Medien und Journalismus am
Beispiel der Verteidigungspolitik festgehalten. Dem Interesse
der militärischen Führung an Geheimhaltung sei gegenüberzustellen, so heißt es da, „das sich aus dem demokratischen
Prinzip ergebende Anrecht der Öffentlichkeit an der Information und Diskussion der betreffenden Fakten; hierbei sind
auch die möglichen heilsamen Folgen einer Veröffentlichung
in Rechnung zu stellen. So kann etwa die Aufdeckung wesentlicher Schwächen der Verteidigungsbereitschaft trotz der
zunächst damit verbundenen militärischen Nachteile für das
Wohl der Bundesrepublik auf lange Sicht wichtiger sein als
die Geheimhaltung.“ (Abgerufen von www.servat.unibe.ch/
dfr/bv020162.html; Zugriff am 03. 08. 2014).
21
In der medienkritischen Online-Publikation vocer ist
am 01. 10. 2012 einer der wenigen Artikel zum Versagen
des Journalismus in der NSU-Affäre erschienen (vgl. Fuchs,
2012). Im deutschsprachigen Blätterwald findet sich nur ein
einziger, von der Autorin Miriam Bunjes am 13. 06. 2006 im
damals noch existierenden NRW-Teil der tageszeitung (taz)
veröffentlichter Bericht, der vor dem Auffliegen des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) im November 2011
immerhin über den von Angehörigen eines Opfers angesprochenen Verdacht informiert hat, die Mörder könnten aus der
rechtsextremen Ecke kommen (vgl. http://www.taz.de/1/archiv/print-archiv/printressorts/digiartikel/?ressort=hi&dig=2
006%2F06%2F13%2Fa0023 &cHash=1e898a583d; Zugriff:
03. 08. 2014).
19
22
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bekämpfen wollen. Andererseits kann diese mehr
am Einfluss auf das Publikum als am Herstellen
von Transparenz orientierte und daher wenig professionelle Haltung auch dazu führen, dass dem
Publikum Informationen über das Ausmaß des
Rechtsextremismus und die typischen Denk- und
Handlungsweisen von Neonazis vorenthalten
werden.
2/2014
keit, auch gegenüber dem was der Staat hier zu
leisten hätte.
Eine volkspädagogische Haltung von Journalisten
gegenüber Rechtsextremismus und -terrorismus
setzt fort, was die Alliierten in den ersten Nachkriegsjahren an Entnazifizierung und Umerziehung ins Werk gesetzt haben und damals wohl
auch notwendig war. Bundespräsident Theodor
Benedikt Reichel und Malte Wicking haben in
Heuß hat freilich schon in den 1950er Jahren voreiner Inhaltsanalyse von zwei Regionalzeitungen
geschlagen, Hitlers programmatisches Buch Mein
in West- und Ostdeutschland (Kölner Stadt-AnKampf in kritisch kommentierter Ausgabe wieder
zeiger, Mitteldeutsche Zeitung) festgestellt, dass
auf den Markt zu bringen (vgl. Maser, 1966). DaRechtsextremisten in deren Berichterstattung
mit die Deutschen verstehen lernen, wie es zum
kaum zu Wort kommen.
NS-Regime
kommen
Obwohl es im Posteinkonnte, und damit sie sich
Eine Lücke von Öffentlichkeit
gang der Zeitungen an
gegen dessen brutale, aber
geht auf das alliierte Verbot
Briefen mit entspreauch verführerische Ideochenden
Äußerungen
logie wappnen könnten.
zurück, nationalsozialistische
nicht mangelt, fehlt der
Die Regierung des FreiSymbole zu zeigen, und die
O-Ton auch in den pustaats Bayern hat von ihinfolge dieses Verbots von der
blizierten Leserbriefen.
ren Urheberrechten an
Ganz überwiegend wird
diesem Buch aus volkspäFreiwilligen Selbstkontrolle der
über Rechtsextremismus
dagogischen Gründen bis
Filmwirtschaft (FSF) verlangten
nur im Zusammenhang
heute keinen aktiven GeSchnittauflagen für Spielfilme
mit Gegendemonstratibrauch gemacht. Das hat
onen und -maßnahmen
eine Lücke von Öffentder NS-Zeit.
berichtet (vgl. Reichel
lichkeit entstehen lassen,
& Wicking, 2010). Und
deren schädliche Folgen
Birte Penshorn hat in einer Studie mit ähnlicher
möglicherweise erkennbar werden, wenn das
Fragestellung durch Interviews mit Redakteuren
Copyright ab 2016 erloschen sein wird. Möglivon Regionalzeitungen in Dortmund gezeigt,
cherweise stellen viele Leser dann fest, dass Hitlers
dass solche auslassende Selektion von LeserbrieBuch nicht einfach, wie ohne Textkenntnis gern
fen und Nachrichten auf die Furcht der Blattmakolportiert, nur eine „Hetzschrift“ ist, bei der das
cher zurückgeht, dem Thema Rechtsextremismus
Böse aus jeder Zeile lugt (vgl. Pöttker, 2013c).
zu viel Raum zu gewähren und Rechtsextremen
eine „Plattform“ zu bieten. Nicht zuletzt kann
Eine ähnlich verursachte Lücke von Öffentlichauch Rücksicht auf das Image der Stadt eine Rolle
keit geht auf das alliierte Verbot zurück, nationalspielen (vgl. Penshorn, 2009). Hier wird deutlich:
sozialistische Symbole zu zeigen, und die infolge
Wenn Journalistinnen und Journalisten sich als
dieses Verbots von der Freiwilligen Selbstkontrolle
Erzieher verstehen und sich gemeinsam mit der
der Filmwirtschaft (FSF) verlangten Schnittaufla(Kommunal-)Politik für das Wohl ihrer Gemeingen für Spielfilme der NS-Zeit. Wenn man diese
de oder ihrer Nation verantwortlich fühlen, könFilme aus der Produktion der von Goebbels übernen Lücken von Öffentlichkeit entstehen. Diese
wachten deutschen Filmwirtschaft schon zeigt,
helfen der Gesellschaft dabei sich über ihre Prodann sollte man es mit den ursprünglich sichtbleme hinwegzutäuschen und erschweren deren
baren Hakenkreuzen tun, damit das Publikum
Bearbeitung. Wenn das Publikum nie zu lesen beweiß, wann diese oberflächlich harmlos wirkende
kommt, was Rechtsextreme an die Zeitung schreiUnterhaltung entstanden ist.
ben, wenn ihm rechtsextreme Gewalt nur in der
Verpackung politischer und kultureller Vorsorge
7. Überforderung von
serviert wird, dann kann es sich eben den NatiRecherchekapazitäten
onalsozialistischen Untergrund (NSU) und seine
Mordtaten nicht vorstellen. In weiterer KonseZu den vier genannten Gründen für die Vernachquenz fehlt es ihm an entsprechender Wachsamlässigung von Themen kommen weitere struktu-
23
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lungsdynamik der sich weiter ausdifferenzierenden
und technisierenden Weltgesellschaft erfordert,
dass sich Journalisten in allen Ressorts und Problembereichen ständig neues Sachwissen aneignen
(können). Andernfalls wird es bei wichtigen Themen zunehmend zu Lücken von Öffentlichkeit
kommen.
Schaut man sich gegenwärtig in den Medien um,
scheint dies der Fall zu sein: Je komplizierter ein
Problem, desto höher ist das Risiko, dass es nicht
aufgegriffen wird. Der Journalismus in der ökonomischen Krise wird oft oberflächlicher. In der
Politik führt das u. a. dazu, dass weniger über
gesellschaftliche Zusammenhänge und politische
Programme berichtet wird als über persönliche
Verfehlungen von Politikern. Letztere lassen sich
leichter recherchieren und beurteilen als beispielsweise die europäische Finanzpolitik angesichts
von Staatsschulden und Euro-Krise. In Deutschland hat es in den letzten Jahren auf Druck von
journalistischen Medien Rücktritte zahlreicher
Politiker gegeben. Aber wann ist zuletzt ein Politiker wegen seiner Politik zurückgetreten und
nicht wegen einer plagiierten Doktorarbeit, einer
Liebesaffäre mit einer Minderjährigen oder einer
Falschaussage im Parlament über einen privaten
Immobilienkredit?
relle Bedingungen öffentlicher Lücken. Für diese
empfiehlt es sich allerdings mehr von einer Systematik als von Beispielen auszugehen.
Zu den Ursachen mangelnder Öffentlichkeit, die
ähnlich wie das Fehlen von Nachrichtenwertfaktoren auch an den Themen selbst liegen, gehört
Hyperkomplexität. Diese überfordert mitunter
Journalisten sowohl bei der Recherche als auch
bei der verständlichen Darstellung. Gerade seriöse
Journalisten, denen es auf Richtigkeit, Vollständigkeit und Solidität ihrer Produkte ankommt,
wagen sich selten an komplizierte Zusammenhänge heran. Meist ist schon von vornherein erkennbar, dass sich mit den gegebenen Ressourcen
an Zeit und Geld kaum etwas Substantielles herausfinden lässt.
In diese tendenziell gemiedene Zone gehören z. B.
problematische Entwicklungen in Hochtechnologie oder Ökologie, bei denen es ebenso schwierig
wie wichtig wäre die Folgen alltäglichen Konsumverhaltens abzuschätzen.22 Der Medizinberichterstattung, die kaum vermeiden kann, dass Rezipientinnen und Rezipienten aus ihr Ratschläge
ablesen, kommt eine enorme Verantwortung zu.
Dieser könnte sie nur gerecht werden, wenn die
betreffenden Journalisten selbst so viel von Medizin und ihrer Forschung verstünden, um verlässliche neue Heilverfahren von Scharlatanerie
unterscheiden zu können. Der Pressekodex,23 der
verbietet, beim Publikum unberechtigte Ängste
oder Hoffnungen zu schüren, genügt hier nicht.
Wenn man nicht zumindest eine elementare medizinische Ausbildung erfahren hat, lässt man als
gute Journalistin oder guter Journalist lieber die
Finger von solchen Themen – von den notwendigen Ressourcen für gründliche Recherche ganz
zu schweigen. Das führt zur Vernachlässigung solcher Themen gerade in einer Zeit, in der der Journalismus infolge des Rückgangs von Anzeigeneinnahmen und Auflagen in eine Situation geraten
ist, in der Mittel für Recherche und Ausbildung
zunehmend schrumpfen werden.
Was für Hochtechnologie, Ökologie und Medizin
gilt, betrifft ähnlich auch andere Problembereiche,
nicht zuletzt Wirtschaft und Politik. Die Entwick-
8. Verstopfung der
Kommunikationskanäle mit
Informationsmüll
Wenn man von der Vernachlässigung von Problemen in den Medien spricht, setzt das eine Unterscheidung von gesellschaftlich wichtigen und
weniger wichtigen Themen voraus. Das Project
Censored publiziert nicht nur jährlich die Liste
von 25 in den Medien zu kurz gekommenen Problemen. Die Initiative erstellt auch eine ebenso
lange Liste von überflüssigen Neuigkeiten („junk
news“), die die öffentlichen Kommunikationskanäle verstopfen und die Aufnahmekapazität des
Publikums überfordern. Wichtigeres wird dagegen nicht selten allenfalls am Rande berichtet und
wahrgenommen. In der Top-Ten-Liste der INA,
die öffentlich zu kurz gekommene Probleme
Vgl. den hohen Anteil technologischer oder ökologischer
Themen an den Top-Ten-Listen vernachlässigter Themen
der Intitiative Nachrichtenaufklärung (INA) seit 1997
(Abgerufen von http://www.derblindefleck.de; Zugriff am
05.08.2014). Zum Problem mangelnder Interaktion mit
Institutionen infolge der Zeitverzögerung von Folgen alltäglicher Handlung(sweis)en und den sich daraus ergebenden
Regulierungsdefiziten vgl. Pöttker, 1997.
Ziffer 14 der Publizistischen Grundsätze des Deutschen
Presserats lautet: „Medizin-Berichterstattung – Bei Berichten
über medizinische Themen ist eine unangemessen sensationelle
Darstellung zu vermeiden, die unbegründete Befürchtungen oder
Hoffnungen beim Leser erwecken könnte. Forschungsergebnisse,
die sich in einem frühen Stadium befinden, sollten nicht als abgeschlossen oder nahezu abgeschlossen dargestellt werden.“
22
23
24
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So hat es Der Spiegel in seiner Ausgabe Nr. 50 vom
08. 12. 1997 zugespitzt. Vermutlich fand die Redaktion die Wendung witzig, weil die Leiterin der konkurrierenden Journalistenschule Gruner + Jahr an
der Tagung beteiligt war.24 Gleichwohl hat sich das
Nachrichtenmagazin, das seit der nach ihm benannten Affäre (vgl. Pöttker, 2012) als „Sturmgeschütz“
der Demokratie und des investigativen Journalismus gelten möchte, damit über ein Problem lustig
gemacht, das und jeden professionellen Journalisten
beunruhigen muss. Und es hat eine seltene Gelegenheit verpasst, diesem Problem wenigstens publizistisch zu Leibe zu rücken.
Selten sind solche Gelegenheiten, weil das Schweigen, das Nicht-öffentlich-werden, selbst eine Ursache dafür ist, dass Lücken von Öffentlichkeit bestehen (können). Sie soll hier als letzte erwähnt werden,
auch wenn das selbstverständlich oder komisch erscheinen mag (vgl. Pöttker, 1999).
Das Verschwiegene, nicht öffentlich Gewordene
setzt sich aus sich selbst heraus fort, weil es anders
als das zu viel, verzerrt oder falsch Berichtete keinen
Anlass gibt, es zu kritisieren oder überhaupt darüber
zu sprechen. Auch deshalb muss das gar nicht Berichten, das (Ver-)Schweigen für den Beruf, dessen
Aufgabe das Herstellen von Öffentlichkeit ist, als
besonders schweres Vergehen gegen publizistische
Professionalität gelten.
In den Diskussionsrunden eines internationalen,
von Sozialwissenschaftlern aus West- und Mitteleuropa, Nordamerika und Russland betriebenen Projekts zur Bedeutung von Medien für interkulturelle
Integrationsprozesse in Migrationsgesellschaften,
tauchte eine Frage auf, bei der die beteiligten Wissenschaftler aus dem Fach Journalistik sich deutlich von
den anderen Teilnehmern unterschieden. Während
letztere sich einig waren, dass eine diskriminierende,
negative Stereotypen bedienende Berichterstattung
am schädlichsten sei, hielten die beiden Journalismusforscher es für noch problematischer, wenn Migranten und ethnische Minderheiten in den Medien
gar nicht vorkommen (vgl. Round Table Discussion,
2009). Kenneth Starck von der University of Iowa
begründete das mit einer Metapher: Das Gegenteil
von Liebe sei nicht Hass, sondern Gleichgültigkeit.
Der sachliche Grund für diese Position, welche für
ein berufsorientiertes Fach charakteristisch ist, ist die
erwähnte journalistische Grundpflicht zum Publizieren. Sie muss auch deshalb gelten, weil das NichtPublizieren sich selbst in potenzierender Weise zur
Folge hat.
aufführt, über die Journalisten exklusiv berichten könnten, rangierte 2012 an erster Stelle: der
Umstand, dass deutsche Richter jährlich etwa 100
Millionen Euro Einnahmen aus Prozessauflagen
unkontrolliert an staatliche und gemeinnützige
Einrichtungen verteilen. An zweiter Stelle rangierte das Geschäft mit der Abschiebepraxis, bei
dem die europäische Grenzpolizei Frontex lukrative Großaufträge für Sammelabschiebungen an
Fluglinien und andere private Firmen vergibt.
Thema Nummer drei war der Widerspruch im
UN-Welternährungsprogramm, das einerseits
Kleinbauern in der Dritten Welt unterstützen soll,
andererseits aber bei Großkonzernen einkauft, die
Lebensmittel zu günstigeren Preisen anbieten.
Relevanz wohnt Themen nicht objektiv inne, sondern wird von Journalistinnen und Journalisten
und vor allem vom Publikum subjektiv zugeschrieben. Dennoch dürfte Einigkeit darüber herzustellen sein, dass es sich bei diesen in den Medien wenig behandelten Themen um Probleme
handelt, die mehr öffentliche Aufmerksamkeit
verdienten als etwa die folgenden Nachrichten:
Estelle, 18 Monate alte Enkelin des schwedischen
Königs Carl Gustaf, feiert das 40-jährige Thronjubiläum des Großvaters; TV-Star Adele Neuhauser hatte eine schwere Kindheit, weil sie mit
vier Jahren aus dem sonnigen Griechenland ins
wolkige Wien umziehen musste; oder: Präsident
Uli Hoeneß und Sport-Vorstand Matthias Sammer vom Fußballclub Bayern München streiten
sich über die Strategie, mit der man Kritik an der
prominenten Mannschaft äußern sollte.
Auch dieses Zuviel kann ein Grund für Lücken
von Öffentlichkeit sein. Die sogenannten junk
news stammen alle vom selben Titelblatt der auflagenstärksten Zeitung Europas, dem deutschen
Boulevard-Blatt Bild vom 16. September 2013.
Dies zeigt auch, dass für das Verstopfen der Kommunikationskanäle nicht nur die (Boulevard-)
Journalisten, sondern auch die von ihnen bedienten Leserinnen und Leser verantwortlich sind.
9. Das Schweigen über das
Schweigen
„Das Zitat. Silentium. ‚Vom Schweigen über das
Schweigen’ – ‚Gesprächs’-Thema auf einer medienwissenschaftlichen Tagung in Siegen am 9. Dezember“
Abgerufen
von
http://www.spiegel.de/spiegel/print/
d-9276391.html; Zugriff am 07.08.2014.
24
25
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ständliche Grundüberzeugungen und traditionelle
Selbstbilder, nicht zuletzt sogar gegen professionelle
Routinen (vgl. Pöttker, 2007). Auch Journalistinnen
und Journalisten recherchieren von Natur aus nicht
gern und müssen sich deshalb eine zweite, professionelle Natur antrainieren. Dabei mag ihnen das
listige Überwinden äußerer Hindernisse noch leichter fallen als das selbstkritische Überwinden innerer
Barrieren.
Aber Journalisten, die sich konsequent an der Aufgabe Öffentlichkeit orientieren, können ihr Recherchepotential gezielt stärken: Es gilt sich gegen äußere
Hindernisse wie die notorische Unterfinanzierung
der Recherche in Medienbetrieben zu stemmen. Die
Bildung von Interessensverbänden ist diesem Ziel
ebenso dienlich wie die individuelle Entwicklung
des Recherchewillens auch gegen innere Widerstände.
10. Was lässt sich gegen
(Ver-)Schweigen tun?
Zensur, Tabus, Nachrichtenfaktoren, volkspädagogisches Selbstverständnis, Hyperkomplexität, „junk
news“ und Schweigen über das Schweigen – sieben
Gründe, warum Journalisten ihre Grundpflicht zum
Publizieren systematisch verletzen. Sieben Ursachen
für das Entstehen der Lücken von Öffentlichkeit.
Aber was lässt sich dagegen tun?
Zunächst sei noch einmal betont: Lücken von Öffentlichkeit lassen sich nur schwer füllen, denn über
das Geheime, Verdrängte oder einfach nur Unbekannte lässt sich kaum diskutieren, eben weil es
nicht öffentlich geworden ist. Das Schweigen zeugt
sich fort. Auch deshalb sind Maßnahmen gegen das
Verletzen der journalistischen Grundpflicht zum
Publizieren eine Sisyphusarbeit. Im Grunde genommen ist das Herstellen von Öffentlichkeit überhaupt
eine Sisyphusarbeit (vgl. Pöttker, 2008), weil Journalisten davon ausgehen müssen, dass das Publikum
wenig Interesse an Unvertrautem und Neuem hat.
Menschen wollen mit sich selbst in Einklang bleiben, streben nach kognitiver und emotionaler Konsonanz (vgl. Festinger, 2012) und recherchieren deshalb von Natur aus nicht gern.
Was Initiativen und Organisationen zur Überwindung äußerer Hindernisse betrifft, lässt sich neben
dem Project Censored in den USA auf das netzwerk
recherche (nr) in Deutschland hinweisen. Auch wenn
sich das nr gegen Vorwürfe verteidigen muss, unter
dem bis 2011 amtierenden Vorsitzenden Thomas
Leif durch die publizistische Schonung von Sponsoren und die unrechtmäßige Verwendung von
Fördergeldern seine eigenen Prinzipien verletzt zu
haben (vgl. Holland-Letz, 2006; Wiegand, 2011).
Das nr stemmt sich nicht nur gegen den Einfluss
politischer und wirtschaftlicher Partikularinteressen auf den Journalismus, sondern auch gegen die
Unterausstattung investigativer Aktivitäten in den
Medien. Außerdem kümmert es sich um Rechercheaus- und -weiterbildung sowie Unterrichtsmaterial dazu,25 wobei die Vermittlung von erlernbaren
Techniken im Zentrum steht.
Aber auch die Aufgabe der Ärzte, das Leben ihrer Patienten zu erhalten, lässt sich nicht ad infinitum erfüllen. Jede Patientin und jeder Patient muss irgendwann sterben. Wenn wir zum Arzt gehen erwarten
wir trotzdem, dass er professionell genug ist, um sich
konsequent an der Aufgabe seines Berufs zu orientieren. Wir wollen ihm in dieser Hinsicht vertrauen
können. Ähnlich muss die Gesellschaft sich darauf
verlassen können, dass Journalisten sich konsequent
auf die Aufgabe Öffentlichkeit konzentrieren. Es gilt
ein Optimum an individueller Selbstbestimmung
und gesellschaftlicher Selbstregulierung zu ermöglichen. Für Sisyphusaufgaben ist nicht nur charakteristisch, dass sie unerfüllbar sind, sondern auch, dass
man sie nicht lassen kann.
Damit kann sich Rechercheaus- und -weiterbildung
freilich nicht begnügen. Sie sollte ihren Fokus auf
die berufliche Grundeinstellung von (angehenden)
Journalistinnen und Journalisten richten. Ziel ist
die Vermittlung der Einsicht, dass die Bereitschaft
zur Recherche der natürlichen Selbstbestätigungsneigung in einem lebenslangen Prozess der persönlichen Emanzipation, der sozialen Selbstreflexion
und der beruflichen Sozialisation abgetrotzt werden
muss.
Genau betrachtet erfordert das Füllen von Öffentlichkeitslücken nichts anderes als das Herstellen von
Öffentlichkeit überhaupt: Entschlossene und findige
Recherche – nicht nur gegen äußere Widerstände wie
Geheimhaltung und Zensur, sondern auch gegen
innere Barrieren wie Tabus, scheinbar selbstver-
Wie kaum ein anderes professionelles Problem ist
das Füllen von Öffentlichkeitslücken durch Recher-
Eine Zusammenstellung findet sich bei http://rechercheinfo.de/handouts-recherche-kann-man-lernen/; Zugriff am
07.08.2014.
25
26
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befreien, dass von Journalisten bisher vernachlässigte
Themen trotz des sich fortzeugenden Schweigens in
den öffentlichen Diskurs gelangen. Er braucht dazu
Anstöße und Hilfen von außen, nicht zuletzt von
der ihn stützenden Wissenschaft.
che eine ständige Herausforderung für die journalistische Berufsethik. Sie erfordert bewusste (Selbst-)
Erziehung zur Offenheit auch gegenüber Themen,
die einem gegen den Strich gehen. Diese Offenheit,
die für das Herstellen von Öffentlichkeit unerlässlich ist, müssen Journalistinnen und Journalisten
trainieren, bis sie zur zweiten Natur geworden ist.
Dabei können sie von der Wissenschaft lernen, der
traditionell die Rolle des Tabubrechers zufällt. Die
Methodologie der empirischen Sozialforschung
stellt einen Kasten mit Kontrollwerkzeugen bereit,
die alle dem Zweck dienen, Forscherinnen und Forschern daran zu hindern, nur das festzustellen was
sie feststellen möchten. Viele der in der sozialwissenschaftlichen Methodologie diskutierten Probleme
und gut begründeten Einsichten lassen sich auf die
journalistische Recherche übertragen. Die Nähe von
Sozialforschung und journalistischer Recherche –
naheliegend ist der Begriff Sozialrecherche – ist ein
wichtiges Argument, warum Journalistenaus- und
-weiterbildung von Universitäten besorgt werden
sollte.26
Deshalb prüft die Initiative Nachrichtenaufklärung
(INA) Hinweise auf vernachlässigte Themen, die
von außen an sie herangetragen werden. Dies geschieht zunächst in wissenschaftlichen Rechercheseminaren mit Hilfe von Experten und Datenbanken.
Ermittelt wird, ob diese Themen triftig, also recherchierbar und außerdem tatsächlich in den Medien
vernachlässigt sind. Nur Vorschläge, die dieser Prüfung standhalten, werden der Jury aus Wissenschaftlern und Journalisten zur Entscheidung über die
Top-Ten-Liste vorgelegt.
Das Ziel der INA ist, Journalisten dazu anzuregen,
triftige und relevante, aber bisher vernachlässigte,
also exklusive Themen aufzugreifen und die Berichterstattung darüber zu intensivieren. Bei der
INA ist man sich bewusst, dass dadurch strukturelle
Gründe für Öffentlichkeitslücken wie die oben
erläuterten nicht verschwinden. Aber sie liefert
ein Beispiel, wie das Sisyphusproblem des öffentlichen (Ver-)Schweigens zwar nicht gelöst, aber
angegangen werden kann.27
Schließlich: Um Lücken von Öffentlichkeit zu
schließen, braucht auch der Journalismus selbst
etwas, für dessen Entstehen er anderen gegenüber
verantwortlich ist – öffentliche Kritik. Letztlich wird
er es nicht von sich aus schaffen, die Recherche so
von ihren diversen äußeren und inneren Fesseln zu
Als Fachliteratur dazu vgl. Klammer, 2005.
Journalisten, die im Sommerloch und anderen EreignisFlauten nach exklusiven Themen suchen, finden die Top-
Ten-Listen der Jahre 1997 bis 2013 auf der INA-Homepage:
http://www.derblindefleck.de/top-themen/;
Zugriff
am
08.08.2014.
26
27
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Horst PÖTTKER
Dr. phil.-hist. habil., war von 1995 bis 2013 Inhaber der Professur für Theorie und Praxis des Journalismus an der (seit 2007 Technischen) Universität Dortmund und dort verantwortlich für den Fachschwerpunkt Gesellschaftliche und historische Grundlagen des
Journalismus. Von 2002 bis 2013 hat er die Initiative Nachrichtenaufklärung (INA) als Geschäftsführer koordiniert. Seit 2013 nimmt er Lehraufträge an den Universitäten Wien
und Hamburg wahr und pflegt Kooperationen mit den russischen Universitäten Rostov a.
D., St. Petersburg und Stavropol.
Aktuelle Publikationen:
Pöttker H. & Vehmeier A. (2013). Das verkannte Ressort. Probleme und Perspektiven des
Lokaljournalismus. Wiesbaden: Springer VS
Pöttker H. & Kiesewetter C. (Hg.) (2011). Wann beginnt der Journalismus? medien & zeit,
26 (2). Wien: Verein „Arbeitskreis für historische Kommunikationsforschung (AHK)“
Pöttker H. & Toepser-Ziegert G. (Hg.) (2010). Journalismus, der Geschichte schrieb. 60 Jahre Pressefreiheit in der Bundesrepublik Deutschland. (= Dortmunder Beiträge zur Zeitungsforschung, Bd. 65) Berlin, New York: De Gruyter
Pöttker H., Kurz J., Müller D., Pötschke J. & Gehr M. (Hg.) (2010). Stilistik für Journalisten.
Lehrbuch. 2., erw. u. überarb. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften
Pöttker H. & Geißler R. (Hg.) (2010). Medien und Integration in Nordamerika. Erfahrungen
aus den Einwanderungsländern Kanada und USA. (= Medienumbrüche, Bd. 35). Bielefeld: transcript
Pöttker H. & Schwarzenegger C. (Hg.) (2010). Europäische Öffentlichkeit und journalistische Verantwortung. (= Journalismus International, Bd. 6). Köln: Herbert von Halem
Verlag 2010
Pöttker H., Bespalova A. G. & Kornilov E. A. (†) (Hg.) (2010). Journalistische Genres in
Deutschland und Russland. Handbuch. (= Journalismus International, Bd. 4). Köln: Herbert von Halem Verlag
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„Geheimnis gibt es im Archiv immer,
weil vieles im Auge des Betrachters liegt“
Eine Debatte zum Thema Archive, Kommunikationsbarrieren und
Geheimnisse zwischen Thomas Ballhausen (Filmarchiv Austria), Gabriele
Fröschl (Österreichische Mediathek), Rudolf Jerábek (Archiv der Republik) und Kurt Schmutzer (ORF-Archiv).
Moderation: Fritz Hausjell (Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der Universität Wien).
HAUSJELL: Meine erste Frage dient dazu die Dimensionen, die sie zu verwalten und organisieren
haben, wechselseitig kennenzulernen. Wie lassen
sich diese Bestände am besten beziffern? Wie kann
man sich die Größenordnung der Archive vorstellen:
Wie viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wirken
im Archiv? Und eine andere Größenordnung: Mit
wievielen Besucherinnen und Besuchern haben sie es
monatlich im Archiv zu tun? Aus welcher Klientel,
welchen Personengruppen setzen sich diese Besucher
zusammen?
chiv bietet ein vielfältiges Betätigungsfeld. Wieviele Benutzer das Archiv täglich konsultieren,
kann ich nicht so genau sagen. Der Großteil ist
natürlich aus dem aktuellen Bereich. Das sind
ungefähr 120 bis 150 Anfragen, die aus diesem
Bereich kommen. Ein paar Mitarbeiter betreuen längerfristig Projekte und sind ständig damit
befasst. Dazu kommen noch Kunden von außerhalb. Dazu zählen kommerzielle Kunden der
ORF Enterprise, nicht-kommerzielle Projekte,
auch Studierende und Lehrende.
SCHMUTZER: Das ORF Archiv verwaltet momentan ca. 600.000 Programmstunden, also das gesamte ORF Programm, das seit 1955 angefallen
ist. Dazu noch ein paar Sonderbestände wie das
Historische Archiv, also im Wesentlichen Filmmaterial vor 1955, im vergleichsweise relativ kleinen Maßstab von ca. 1000 Stunden. Der Bestand
steigt natürlich ständig angesichts von – mit Sport
Plus – vier ORF-Programmen täglich 24 Stunden
lang. Wir haben den gesamten Fernsehprogramm
Output des ORF zu verwalten. Damit sind täglich
70 Mitarbeiter in verschiedenen Arbeitsgruppen
beschäftigt. Da geht es zuerst einmal um das Erschließen des Programms, Beschlagwortung und
Einarbeitung ins Archivsystem, Auswertung von
Drehmaterialien und Mutterbändern. Und natürlich die Betreuung des tagtäglichen Fernsehbetriebs: In den aktuellen Journaldiensten werden
die Redakteure des Hauses betreut. Dazu kommt
noch die Produktionsbetreuung in der wir längerfristige Produktionen oft über Monate hinweg
begleiten. Die Unterstützung reicht bis hin zu
kleineren Arbeitsgruppen, wie das Audioarchiv
für Musik und Geräusche. Also das gesamte Ar-
HAUSJELL: Ich erinnere mich, dass der ehemalige
Leiter des ORF-Archivs, Peter Dusek, den Anteil der
Archivbilder an aktuellen Produktionen mit einer
zweistelligen Zahl bezifferte. Ich glaube er sprach
von 12 oder 17 Prozent.
SCHMUTZER: Genaue Zahlen hab ich jetzt nicht
präsent, aber das Archiv steckt in vielen Details
der Berichterstattung drin. Vieles wird nicht neu
gedreht, sondern kommt aus dem Archiv. Beginnend bei Sujetbildern oder Hintersetzern in der
Zeit im Bild-Sendung. Die Mitarbeit des Archivs
am aktuellen Programm ist relativ groß.
HAUSJELL: Frau Fröschl, wie sieht es diesbezüglich in
der Österreichischen Mediathek aus?
FRÖSCHL: Die Österreichische Mediathek bewahrt ca. 500.000 Träger in ihren Beständen. Ich
würde schätzen dass es ca. 2 Millionen Aufnahmen sind. Ein Träger entspricht ja nicht immer
einer Aufnahme. Die österreichische Mediathek,
ehemals noch Phonothek benannt, wurde 1960
gegründet. Der Name erklärt auch ein wenig die
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HAUSJELL: Thomas Ballhausen, wie sehen die Eckdaten beim Filmarchiv Austria aus?
Zusammensetzung des Bestandes. Wir sammeln
einerseits retrospektiv und schneiden andererseits
aktuelles Rundfunk- und Fernsehprogramm mit.
Was für ein Archiv vielleicht etwas ungewöhnlich
ist: Wir übernehmen nicht nur Material, sondern
erstellen auch welches. In den 70er und 80er Jahren gab es im Audiobereich diesbezüglich mehr
Engagement. Damals gab es eigene Aufnahmeteams des Archivs, die bei Lesungen und Diskussionsveranstaltungen mit dabei waren und mitgeschnitten haben. Mitte der 90er Jahre wurde
das „Institut für den wissenschaftlichen Film“, der
ÖWF aufgelöst. Die Bestände sind in die österreichische Phonothek gekommen und mit diesen
Beständen auch ein Teil der Mitarbeiter. Ab diesem Zeitpunkt gab es ein Videoteam und es wurden ab Ende der 90er, Anfang der 2000er Jahre
auch Videoquellen erstellt. Beide Schienen sind
für uns mittlerweile nicht mehr aktiv. Die Erstellung von Quellenmaterialien beschränkt sich bei
uns nun auf wissenschaftliche Projekte. Zur Zeit
läuft etwa ein großes Projekt, bei dem wir Oral
History Material, also lebensgeschichtliche Interviews erstellen. Dabei gibt es keinen speziellen
thematischen Fokus.
Unser Stammpersonal setzt sich aus 21 Mitarbeitern zusammen. Meist sind es aber mehr,
abhängig von der Zahl der Drittmittelprojekte,
die gerade laufen. Derzeit existieren fünf Drittmittelprojekte, weshalb insgesamt 27 Mitarbeiter
beschäftigt werden. Interessant ist vielleicht noch
die Frage, wie sich die Sammlung generiert. Der
jährliche Zuwachs beträgt ca. 20.000 Stück. Der
größte Teil des Neuzugangs setzt sich aus Schenkungen von Privatpersonen zusammen. Dazu
kommen noch Überlassungen aus Institutionen,
die ihr AV-Material bei uns einlagern, da sie selbst
Probleme haben ihr AV-Material zu spielen.
Bei den Benutzern liegt unser Fokus auf Wissenschaft und Bildung. Prinzipiell sind sämtliche
unserer Archivbestände frei zugänglich und frei
benutzbar. Es gibt nur ganz wenige, die gesperrt
sind. Das sind meistens Bestände, die die Übergeber aus persönlichen Gründen für einige Zeit
sperren möchten. Grundsätzlich ist der gesamte
Archivbestand für Benutzer öffentlich und kostenfrei zugänglich. Dies entspricht unserem
Selbstverständnis und unserem Hauptfokus. Wir
dienen mit unseren Archivmaterialien aber auch
Rundfunk- und Fernsehproduktionen sowie
Film- und kommerziellen Filmproduktionen. In
einem solchen Fall wird das Archiv auch kommerziell geführt. Aber das ist nicht unsere Hauptaufgabengebiet.
BALLHAUSEN: Das Filmarchiv Austria wurde 1955
gegründet und es fungiert als Filmarchiv für das
nationale audiovisuelle Erbe – und weit darüber hinaus. Man muss unterscheiden zwischen
Kernbeständen, sprich den analogen Beständen,
inzwischen ergänzt durch digitale, neue Mastermaterialien. Analog haben wir eine Sammlung
von mehr als 250.000 Filmdosen. Das übersetzt
sich natürlich auch nicht in Filmtitel, die in diesem Fall mit mehr als 70.000 angegeben werden
können. Darüberhinaus gibt es Materialien, die
ebenfalls eine Sende- bzw. Weiterverwendungstauglichkeit haben, Masterbänder oder digitale
Equivalente. Dazu kommen große Bestände, die
die Filmbestände thematisch rahmen, wie etwa
Filmprogramme, Filmplakate und dergleichen
mehr. Ich bin für die Koordination des Studienzentrums im Filmarchiv Austria verantwortlich.
Meine Abteilung fungiert somit als eine unserer
Schnittstellen zwischen den sehr heterogenen Archivbeständen und der Öffentlichkeit.
Pro Tag haben wir es mit ca. 60 Anfragen zu tun.
Das sind nicht nur Besucher vor Ort, sondern es
sind auch Anfragen, die via Mail usw. eintreffen.
Diese Anfragen, inklusive der Benutzer vor Ort,
kommen zu etwa in 60 Prozent aus einem akademischen Hintergrund. Die restlichen 40 Prozent entfallen auf Privatpersonen, Journalisten,
unterschiedliche Interessen. Auch wir stellen
unsere Dienste der Öffentlichkeit beginnend
bei der Recherche bis zur Unterstützung bei der
Entwicklung von Forschungsfragen kostenlos zur
Verfügung. Davon zu unterscheiden sind freilich
klassische Lizenzfälle bei Film- und Fernsehproduktionen. Die gibt es bei uns auch.
Im Studienzentrum gibt es ergänzend dazu etwa
30.000 klassische Printpublikationen, hinzu kommen mehr als eine Million Aktenseiten, Nachlässe,
Zeitungsausschnittsammlungen und inzwischen
auch digitale Quellen. Das stellen wir unseren
Nutzerinnen und Nutzern zur Verfügung.
Die Abteilung im Studienzentrum ist verhältnismäßig klein. Hier arbeitet ein engagiertes Team
aus drei Personen. Im gesamten Archiv arbeiten,
unter Einreichung aller Teilzeitkräfte, ca. 40 Personen. Es gibt einen großen Bereich der Technik.
Die Aufarbeitung ist teilweise auch bei uns projektgebunden, läuft oft auch über Drittmittelprojekte. Die eigentliche Vermittlungsarbeit passiert
über einen vergleichsweise kleinen Personalbestand.
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HAUSJELL: Rudolf Jerábek, das Archiv der Republik
und damit das größte Archiv. Wie schaut es dort aus?
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Metadaten enthalten um einen Sachbegriff oder
eine Person zu einer Aktenzahl zuzuordnen. Das
ist aus Sicht der Behörde durchaus verständlich.
Die Aktenproduzenten gaben damals etwa 15 bis
30 Jahre alte Aktenbestände ab. Man behielt sich
die Karteien und damit das Zuordnungssystem,
konnte so klar erkennen welche Akten sich schon
im Archiv befinden und wo man diese, bei Bedarf
wieder anfordern kann. Diese Praxis wurde dann
leider ein Dauerzustand. Speziell in der sogenannten KIS (Kanzleiinformationssystem, Anm.
Red.)-Zeit, in der es analoge Akten in Papierform
gab, die Verwaltung der Metadaten allerdings
durch das elektronische Kanzleiinformationssystem erfolgte. Damit ergab sich ein technisches
Problem: Es wäre lange Zeit gar nicht möglich
gewesen, diese Daten ins System des Archiv der
Republik zu überspielen.
JERÁBEK: Ein Teil davon ist die – wie es archivwissenschaftlich so schön heißt – einzige lebende
Abteilung des österreichischen Staatsarchivs und
ist zuständig für das gesamte Bundesschriftgut
vom Höchstgericht – mit Einschränkungen, weil
die eigentlich ein eigenes Archiv führen, aber inzwischen auch wie der Verwaltungsgerichtshof
ins Staatsarchiv abgeben – bis zu den Bundesschulen, Gymnasien, Bezirksgerichten und sogar
den Polizeiinspektionen, sprich Polizeidienststellen. Natürlich nimmt das Staatsarchiv nicht alles Bundesschriftgut auf, sondern nur das überregional bedeutsame und das von den zentralen
Stellen. Von den Statistiken her kann ich schwer
auf die Abteilung „Archiv der Republik“ runterbrechen. Laut derzeitiger Angabe auf der Homepage handelt es sich im Staatsarchiv insgesamt um
183 Laufkilometer Akten mit 107 Mitarbeitern.
Im Vergleich zu Archiven ähnlicher Größenordnung sind wir personell völlig unterausgestattet.
Pro Jahr haben wir ca. 3000 bis 4000 Benutzer.
In Spitzenzeiten sitzen gleichzeitig 80 Leute im
Besuchersaal.
Die Arbeit ist sehr vielfältig. Auch im Vergleich
zu den „alten“ Abteilungen. Dort hat man eben
keinen Kontakt mehr zu den Aktenproduzenten
und auch nicht zu jenen, die die Aktenpläne
erstellen. Zur Zeit existiert das Projekt der Einrichtung eines digitalen Langzeitarchivs und die
Digitalisierung von Akten-Datenbänken. Auf uns
kommt natürlich auch der sogenannte ELAK zu,
der dauerhaft archiviert werden soll.
HAUSJELL: Gibt’s ein ähnliches Problem im Filmarchiv Austria?
BALLHAUSEN: Ich würde sagen es gibt ähnliche
Herausforderungen, nicht zuletzt weil wir permanent sammeln. Es gibt natürlich retrospektiv ausgerichtete Sammlungstätigkeit, Repatriierungen
usw. Auf der anderen Seite gilt es auch aktuelle
Produktionen, Schenkungen, Ankäufe und dergleichen aufzuarbeiten. Es gibt immer einen Bestand mehr der angeschaut gehört, der aufgearbeitet werden müsste. Das ist wohl auch ein Prozess
der nicht aufhören wird.
HAUSJELL: Frau Fröschl, sie haben auch schon zustimmend geschmunzelt. Wie stellt sich das in der
Österreichischen Mediathek dar?
HAUSJELL: Die nächste Frage ist wahrscheinlich fast
ein wenig redundant. Ich möchte das aber noch ein
Stück nachschärfen. Gibt es Bestände, die noch einer Sichtung und Archivierung harren? Angesichts
der soeben angesprochenen niedrigen Personaldecke.
Gibt es Bestände, die sie gerne schon viel früher aufgearbeitet hätten?
FRÖSCHL: Ja, das ist wohl medienimmanent.
Es trifft für sehr viele Bestände zu, dass man
wünscht, man könnte sie mehr in die Tiefe aufarbeiten. Das Medium – etwa ein Tonband – erschließt sich nicht. Wenn ich das Tonband sehe,
kann ich nicht einmal sagen wie viele Stunden auf
dem Tonband drauf sind, geschweige denn was
auf dem Tonband alles drauf ist. Wenn es nicht
ordentlich beschriftet ist, kann ich den Inhalt
nicht feststellen, d.h. ich muss es mir anhören.
Um die Bestände wirklich anzuhören fehlt in der
alltäglichen Archivarbeit die Zeit. Um wirklich
ganz tief in die Bestände hineinzugehen, braucht
es spezieller Projekte. Wir hatten ein Projekt bzw.
drei Folgeprojekte, die sich der Aufarbeitung
der ORF Hörfunkjournale gewidmet haben. Im
Zuge dessen war es den Mitarbeitern möglich
JERÁBEK: Die gibt es gewiss. Im Archiv der Republik denke ich etwa an das Militärgerichtsarchiv
der Monarchie. Die Karteien, die diese Akten
erschließen, sind im Zweiten Weltkrieg verloren
gegangen. Man hat natürlich begonnen das Material nachzuarbeiten, ist aber bei einem kleinen
Prozentsatz der Bestände stecken geblieben. Das
Problem besteht darin, dass die Akten ans Archiv
abgegeben werden, aber nicht die dazugehörigen
Findmittel. Es fehlen die Kanzleimittel, die die
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sich die gesamten Journale anzuhören und die
entsprechenden Metadaten zu gewinnen. Das ist
allerdings ein Zeitaufwand, den wir im normalen
Archivbetrieb nicht leisten können. Die Aufarbeitung eines Jahrzehnts Mittagsjournal bedeutet
auch 3000 Stunden „Anhörzeit“ oder – anders
ausgedrückt – 3 Jahre Arbeit für zwei Mitarbeiter. Und wahrscheinlich gäbe es selbst da noch
den Wunsch mehr in die Tiefe zu gehen um eine
einfachere Benützung des Materials zu gewährleisten.
ge Zeit sehr wenig geschehen. Die Abteilungen
haben ihr eigenes Ablagesystem entwickelt, ihre
Ordner einfach irgendwo gelagert und für uns
gilt es nun alles zu organisieren und zu erschließen. Diese Aufgabe ist uns erst in letzter Zeit zugefallen. Ursprünglich bestand der Job darin das
Fernseh-Archiv zu bearbeiten. Man muss noch
dazusagen, dass es nicht nur das Fernseharchiv
im ORF-Zentrum gibt. Es existieren mehrere
Archive, konkret das Radioarchiv, die Archive in
den Bundesländern und dazu zählen auch die dazugehörigen Papierarchive. Das alles wächst jetzt
langsam zusammen. Geleitet wird es vom ORF
Fernseharchiv, das die Richtlinienkompetenz innehat und seit neuestem „Multimediales Archiv“
genannt wird.
HAUSJELL: Im großen ORF Archiv gibt es ganz sicher
auch große Bestände, die unbearbeitet sind.
SCHMUTZER: Im ORF Archiv gibt es durchaus
auch Bestände wo man sich wünschen würde,
dass die Erschließung besser wäre. Wir haben
allerdings keine Bestände mehr, die übers Archivsystem überhaupt nicht auffindbar wären. D.h.
wir haben es geschafft das gesamte Archivmaterial
ins Archivsystem zu integrieren, freilich mit unterschiedlichem Erschließungsgrad.
Für uns gibt es derzeit zwei große Herausforderungen: Die eine besteht darin, dass wir für den
laufenden Betrieb, für den aktuellen Dienst und
den semiaktuellen Magazinbereich, die Bearbeitung tagesaktuell und sehr genau machen müssen.
Der Rest des Programms wird innerhalb weniger
Tage erschlossen. Die Aufgabe besteht nicht nur
darin zu beschlagworten, sondern auch das Material digital verfügbar zu machen, also ins Archivsystem einzuspeisen. Damit wird das Material für die Redakteure als Rechercheinstrument
und Ansichtsquelle benützbar. Die zweite große
Herausforderung besteht in der Bewältigung des
Problems der Haltbarkeit vieler Datenträger. Es
gilt also unseren gesamten Archivbestand zu digitalisieren. Diese Aufgabe stellt sich aus den aktuellen Produktionsnotwendigkeiten. Darüberhinaus müssen wir auch schauen, dass unsere
Altbestände nicht verrotten. Es handelt sich also
um einen ständigen Bearbeitungs- und Umkopierungsprozess.
HAUSJELL: Nachdem wir nun den größeren Rahmen abgesteckt haben, kommen wir zum Kernthema dieses medien & zeit Heftes. Öffentlichkeit und Geheimnis werden typischerweise als
Gegensätze betrachtet, die sich wechselseitig
ausschließen – folgt man etwa Joachim Westerbarkey. Anders formuliert: Je mehr Öffentlichkeit
desto weniger Geheimnis. Auf die archivarische
Perspektive umgelegt, handelt es sich vielleicht
auch – oder besser mehr um Öffentlichkeit und
Nicht-Öffentlichkeit. Diese Nicht-Öffentlichkeit
resultiert auch aus Kommunikationsbarrieren. Im
archivarischen Kontext scheinen folgende Kommunikationsbarrieren zu existieren:
UÊ rechtliche Barrieren (Stichwort Persönlichkeitsschutz, Rezeptionsprivilegien),
UÊ technische Barrieren (sprich die Möglichkeit
die Speichermedien zu nutzen und technischen
Zugang zum Material zu haben),
UÊ situative Barrieren (Desinteresse am Material
resultierend aus gesellschaftlichen Debatten
die laufen und aus Themenkonjunkturen, die
es gibt und nicht gibt).
Stimmen sie dieser Einschätzung aus ihrer Erfahrung zu? Sehen sie in ihrer Praxis noch andere
Barrieren?
BALLHAUSEN: Ich würde dem prinzipiell zustimmen. Ich glaube, dass sich die genannten Barrieren unterschiedlich stark gewichten. Ich würde
noch eine Generationsbarriere ansprechen. Ich
denke, das ist eine reale Problematik, resultierend
aus einem überkommenem Archivverständnis,
demzufolge man manche Archivbestände der
Öffentlichkeit nicht zugänglich macht. Es gibt
ein großes, ethisches Manko in manchen Eigenverständnissen. Genaugenommen ist man ja ein
HAUSJELL: Stichwort Wiederverwendung alter Materialien. Es besteht ja auch die Problematik, dass
das Papierarchiv – inklusive aller Verträge, Rechte
etc. – nicht erschlossen ist.
SCHMUTZER: Das ist ein Arbeitsbereich, der ganz
aktuell auf uns zukommt. Wir arbeiten schon
länger daran das Dokumentenarchiv zu strukturieren und aufzuarbeiten. Diesbezüglich ist lan-
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Civil Servant, ein Diener des Materials und der
formulierten Unterstellungen werden oft geÖffentlichkeit. Die Aufgabe besteht darin logimacht. Tatsache ist allerdings, dass man sich an
stisch zu moderieren. Das kann mitunter anstrendie nunmehr vorhandenen rechtlichen Grundlagend sein, aber es ist notwendig. Deshalb muss
gen halten muss.
man von dem Missverständnis wegkommen, dass
Ein Fall ist sehr unangenehm, resultiert allerdings
alle Benutzer per se dumm sind oder eine Gefahr
aus unseren eingeschränkten personellen Kapafür die Bestände darstellen. Ich glaube, es ist eine
zitäten. Wenn ein unverhältnismäßiger VerwalHerausforderung der Archive das zu moderieren
tungsaufwand entsteht, müssen wir die Akten
und dafür eine Rahmung zu finden.
nicht vorlegen, selbst dann wenn das AktenmaAuf der anderen Seite geht es auch um Privileterial zur Benützung freigegeben wäre. Konkret
gien. Oft spielt das Missverständnis mit hinein,
kommt es dazu nur, wenn das Material ganz exdass man das Archivgut als das Privatvergnügen
trem schlecht oder gar nicht erschlossen ist und
bzw. den Privatbesitz betrachtet. Es geht nicht
wir für eine Anfrage Tage lang suchen müssten
um mich als Archivar. Philosophisch gesehen
um überhaupt einmal rauszufinden, ob etwas da
sollte dieses Bewusstsein
ist. So das Material ereigentlich ab dem heilischlossen ist, funktioniert
Genaugenommen ist man ein
gen Augustinus gelten: Es
die Arbeit sehr gut.
Civil Servant, ein Diener des
geht um eine andere, gröStichwort liberal: Wir haMaterials und der Öffentlichkeit. ben etwa keine Auflage
ßere Aufgabe und nicht
um das eigene Ego. Aus
personenbezogene
Dameiner Sicht müsste man da noch einhaken und
ten nicht herzugeben. Der Schutz generiert sich
konkret handeln. Gut wäre etwa ein „Code of
allein aus der für alle geltenden europäischen
Conduct“, der nicht nur auf dem Papier existiert,
Menschenrechtskonvention. Schließlich will
sondern tatsächlich umgesetzt wird. Ich begebe
niemand, dass die eigenen Daten, sobald sie im
mich diesbezüglich immer wieder in Debatten. Es
Archiv landen – nach fünfzehn oder auch nach
geht nicht nur um das Material, sondern auch um
zehn Jahren – für alle Leute freigegeben sind. Ich
den Dienst an der Öffentlichkeit. Für uns gilt es
war vor einigen Tagen bei einer Sitzung im Inneneine intellektuelle Logistik zu gewährleisten. Daministerium, wo beschlossen wurde, dass an und
bei sehe ich sehr wohl einen generativen Sprung.
für sich rechtlich zu löschende Daten mit ArchiEs braucht ein moderneres Verständnis vom Arvgutqualität auch ans Archiv übergeben werden
chiv als Institution, Haltung und Denkansatz.
sollten. Dabei ist genau festgeschrieben, was die
Polizeiinspektionen laut Gesetz zu löschen haben.
HAUSJELL: Herr Jerábek das Archiv der Republik
Die Fristen sind drei, fünf, manchmal sieben Jahstand ja auch immer wieder in Kritik für Nichtre. Trotzdem wird überlegt, was kommt dennoch
Öffentlichkeit zu sorgen oder sorgen zu müssen. Im
ins Archiv. Der Zugriff des Produzenten ist dann
internationalen Vergleich bestanden oft lange Archinicht mehr möglich. Früher war es so, dass der
vsperren für Materialien. Wie sehen sie das jetzt?
Aktennutzer auf alles was er ins Archiv geschickt
hat Zugriff hat. Mittlerweile ist das nicht mehr so,
JERÁBEK: Diesen Vorwurf kann ich im internatiowürde es doch den Sinn dieses Löschungszwanges
nalen Vergleich eigentlich nicht als gerechtfertigt
unterlaufen. Auch das wird ganz genau eingesehen. 1985-86 gab es die Grundsatzgrenze, dass
halten. Damit sind die Daten also als zukünftige
Akten mit Ende des Dritten Reichs eingefroren
Geschichtsquellen im öffentlichen Besitz, werden
wurden. Damals gab es den Schutz über 30 bzw.
allerdings nicht einmal der Behörde zugänglich
40 Jahre hinaus, danach wurde es auf 30 Jahre regemacht, weil es vom Gesetz so vorgesehen ist.
duziert. Auch im internationalen Vergleich gelten
Die personenbezogenen Daten, die man im Benunmehr sehr liberale Handhabungen der öffentnützersaal vorgelegt bekommt, dürfen erst zehn
lichen Akten. Öffentlich und auch im öffentJahre nach dem Tod der betroffenen Person veröflichen Besitz sind alle Akten, aber manche halt
fentlicht werden. Es gibt keine Strafbestimmung
noch nicht zugänglich.
dazu, aber es existieren zivilrechtliche Ansprüche.
Ich weiß nicht, warum sich der Kollege als OmHergegeben werden die Akten 100 Jahre nach der
budsmann der Benutzer geriert hat. Vielleicht
Geburt oder sofort nach dem Tod, wenn der Inresultieren die Überlegungen auch aus einem
halt 30 Jahre zurückliegt. Das Letztere bezeichnet
schlechten Gewissen. Aufs Staatsarchiv treffen
man als Sachaktenlaufschutzfrist. Im deutschen
diese überhaupt nicht mehr zu. Die von ihnen
Außenamt beträgt die Schutzfrist für Personalak-
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ten 130 Jahre. Der Akt wird also erst 130 Jahre
nach der Geburt oder 30 Jahre nach dem Tod
vorgelegt. In Frankreich und Großbritannien existieren teilweise ganz unglaublich lange Schutzfristen.
eigene Gesetze. All das haben wir nicht. Freilich
hätten wir auch niemals das Personal dazu einen
Schwärzungsvorgang vorzunehmen.
Das ist hierzulande oft ein Problem, dass in manchen Akten nicht nur Informationen über die
Hauptperson veröffentlicht würden, sondern
auch andere in die Causa Involvierte und möglicherweise noch lebende Personen. Das kann besonders bei Kriminalakten und bei Opfern dieser
kriminellen Handlungen ein Problem werden.
Da gibt es einen Kriminalakt aus den 70er Jahren,
der ist ca. 30 Zentimeter hoch. Es handelt sich
um einen Mord an einem Mann mit einer Autobombe in einer niederösterreichischen Kleinstadt mit bis heute ungeklärtem Hintergrund.
Weil man damals auf Motivsuche war und dabei
der Frage nachging: Wer hat das getan?, hat man
immer weitere Kreise gezogen. Dieser Akt kann
in hundert Jahren hochinteressant werden, beinhaltet er doch ein Schlaglicht auf die sozialen
Strukturen und auf die örtliche Kultur dieser
Kleinstadt. Da erfährt man Dinge wie, wer betrügt wen mit wem? Angesichts der Suche nach
dem Motiv denkt man eben alles durch: Eifersucht, Habgier, bis hin zu den individuellen Interessen wie auch jenen des Pfarrers. Da ist alles in
einer solchen Weise aufgearbeitet, dass man es als
Sozialstudie vielleicht einmal gebrauchen kann.
Der Akt ist der Akt – nennen wir ihn Oskar Pimpelhuber – ermordet an dem und dem Tag. Das
Ableben der Hauptperson ist also vierzig Jahre
her, deswegen ist der Akt allerdings nicht frei. Die
enthaltenen Akten von den Missbrauchsopfern,
vergewaltigten Kindern, Ehebrechern, Ehestörern
– die leben alle noch. Das kann man unmöglich
aus der Hand geben. Daher gibt’s dann die Rücksichtnahme auf den Datenschutz über die für den
Sachakt geltenden Schutzfristen hinaus. Würden
wir alle Akten auf personenbezogene Daten hin
überprüfen und sonst nicht vorlegen, dann gäbe
es fast keine Akten aus der neueren Zeit für die
Benutzer. Im Prinzip wird der Benutzer mit ins
Geheimnis genommen. Und das ist das einzige
Mal, dass ich das Wort Geheimnis in den Mund
nehmen werde, denn ein Geheimnis gibt es im
österreichischen Staatsarchiv eigentlich nicht.
Wenn man Akten vorgelegt bekommt und darin Angaben über noch lebende Personen findet,
liegt es in der Verantwortung des Benutzers was er
damit anstellt. Er wird dabei quasi vom Staatsarchiv durch die Teilnahme am Datenschutzgesetz
unterstützt, indem wir eben nicht alles wahllos
vorlegen. Grundsätzlich ist die Handhabung aber
sehr liberal und wir haben bisher keine Probleme
HAUSJELL: Ich meinte ursprünglich den internationalen Vergleich mit den USA und Großbritannien.
Da hatten wir hierzulande bis in die 80er Jahre vergleichsweise eine sehr lange Sperrfrist.
JERÁBEK: Das ist ein anderes Problem. Siegermächte behandeln Verliererakten natürlich sehr
liberal. So wie bei der Übergabe der Akten des
„Berlin Document Center“ keinerlei Aktenschutz
gegenüber Lebenden gegolten hat. Es gab die
Auflage an das Deutsche Bundesarchiv, dass hier
die deutschen Normen nicht angewendet werden
dürfen. Mit den Akten zu den eigenen Taten sind
die Briten und Amerikaner weniger liberal.
HAUSJELL: Ein Teil der Akten ist ja nach wie vor
gesperrt.
JERÁBEK: Und wenn man Unterlagen bekommt,
sind die Streichungen derart umfangreich, dass
man nachher kaum mehr weiss als vorher. Dafür
haben wir im Archiv der Republik keinen Apparat und keine Normen. Dazu kurz ein Beispiel:
Ich war vor zwei Jahren in Dresden bei der Stasiaktenbehörde und konnte im Gespräch mit
einer Kollegin einige sehr interessante Dinge erfahren. Diese Behörde wurde 1990 eingerichtet
und verfügt ab die 160 Kilometer Akten. 2012
waren dort 1600 Mitarbeiter beschäftigt. D.h.
pro Mitarbeiter waren 100 Meter zu bewältigen.
Im Vergleich dazu: Im Archiv der Republik haben wir pro Mitarbeiter 1700 Meter Akten. Aber
wir haben einen durchaus ähnlichen Erschließungsbedarf durch die bereits genannten aktengeschichtlichen Umstände. Der enorme Bedarf
an personellen Kapazitäten resultiert aus der
Form der Auskunft aus den Stasiakten. Es wird
nämlich nicht etwa eine Prosa aus den Akten kondensiert, sondern eine Kopie der Akten vorgelegt.
Den Prozess kann man sich folgendermaßen vorstellen: Zuerst sucht man die Akten, dann werden sie kopiert, dann gelesen und alles was nicht
weitergegeben werden darf geschwärzt. Danach
werden die geschwärzten Kopien noch einmal
kopiert, man könnte mit Raffinesse ja vielleicht
doch etwas lesen. Diese Unterlagen bekommt der
Benützer in die Hand. Die Vorschriften für diesen
Vorgang umfassen viele Seiten und gründen auf
36
m&z
gehabt, inzwischen auch kaum mehr wegen
Nicht-Vorlegung. Die Beschwerde lautete öfter:
Warum wird etwas zurückgehalten als warum
wird etwas hergegeben?
Abgesehen von den Benutzern, die kommen und
sich weigern den Benützerbogen auszufüllen.
Schließlich hätte man dann einen Akt über sie.
Sie wollen zwar die Akten sehen, aber sie wollen
keine Angaben über sich machen. Das ist natürlich auch ein wichtiger Aspekt: Jeder – auch jeder
Journalist – will natürlich möglichst viele Quellen, aber die Quellen über sich selbst, die will er
natürlich nicht offen sehen. Inzwischen ist die
Akzeptanz in allen von ihnen angesprochenen
Bereichen im Staatsarchiv sehr groß. Es gibt natürlich die alten Archivare und das sind wohl jene,
die sie vorher angesprochen haben, auch kaum
mehr. Das waren Archivare, die nicht einmal den
Kollegen die Tricks wie man etwas findet, verraten
haben.
2/2014
Waltz ist vielleicht nicht einmal ausgewertet oder
auch nicht einmal im Nachspann eines Filmes genannt. Erst retrospektiv kommt man dann darauf:
Da muss es irgendwo einen Tatort gegeben haben
in dem Christoph Waltz eine Nebenrolle gespielt hat. Und dann erst ist ein Geheimnis gelüftet.
Es kommt auch immer auf den Blick ins Archiv
an was geheim ist und was nicht. Dass die ORF
Archivare Geheimnisse hüten, das hat sich auch
geändert. Das Selbstverständnis hat sich auch dadurch geändert, dass das ORF Archiv zunächst
ein Archiv für die Redakteure war und nun ein
Archiv einer Stiftung öffentlichen Rechts ist und
damit auch unter das Bundesarchivgesetz fällt.
Damit ist das Archiv öffentlich zugänglich und es
gilt sich auch dementsprechend zu verhalten.
Die größten Barrieren sind sicher technischer Natur. Das betrifft zum Teil auch die Verfügbarkeit
von Materialien, wo – wie schon angesprochen
– der Erhaltungszustand etc. eine Rolle spielen
kann. Eine andere Barriere sind die rechtlichen
Fragen, wobei die Außenstelle, die wir seit gut drei
Jahren an der Zeitgeschichte betreiben, ein gutes
Beispiel dafür ist wie wir damit umgehen. An
sich halten wir Schutzfristen eigentlich nicht ein,
weil man an der Außenstelle ja das gesamte ORF
Programm bis zum heutigen Tag sichten kann.
Unsere Rechtsabteilung war auch der Meinung,
dass das geht und wir Schutzfristen für diese Art
von Sichtung nicht einzuhalten brauchen. Das
liegt darin begründet, dass das ORF Programm
ja schon öffentlich ist. Nachdem alles was dort
gesagt wurde, bereits öffentlich ist, gibt es auch
kein Problem wenn man das für eine Sichtung für
wissenschaftliche Zwecke zugänglich macht. Das
betrifft allerdings nur das tatsächlich veröffentlichte Material, also die ausgestrahlten Sendungen
des ORF. Das betrifft aber nicht Drehmaterialien,
die wohl im Archiv sind, aber nicht zugänglich
sind aus urheberrechtlichen und Datenschutzgründen. Nicht zuletzt geht es auch darum das
Redaktionsgeheimnis der ORF-Redakteure, das
im Redakteurstatut verankert ist, zu wahren.
BALLHAUSEN: An der Stelle möchte ich ganz kurz
ergänzen. Ich glaube, die Generationsbarriere ist
nicht immer einem biologischen Alter geschuldet. Mit Gewissen haben Sie, geschätzter Kollege,
einen richtigen Punkt angesprochen, aber es ist
nicht das schlechte Gewissen. Sondern Gewissen
verstanden als etwas Positives, als Haltung der
Verantwortung. Dass es auch darum geht jede,
freilich Medientypus unterschiedliche rechtliche
Rahmenbedingung mitzudenken und mitzukommunizieren, da bin ich ganz bei Ihnen. Das
trifft bei uns genauso zu, zum Beispiel im Kontext der Frage: Warum gibt es Verbotsfilme? Das
ist ja immer wieder ein Debattenfall. Aber diese
Rahmungen sind notwendig und hilfreich. Und
Geheimnis: Ich meine, dass es dabei nicht zuletzt
um interne Findmittel, um die Aufarbeitung der
Quellen geht. Um Dinge, die für den Benutzer
vielleicht gar nicht so wichtig sind.
HAUSJELL: Was sind die größten Barrieren, wenn wir
an das ORF Archiv denken?
SCHMUTZER: Kurz zum Thema Geheimnis: Ich
glaube Geheimnis gibt es im Archiv immer, weil
vieles einfach im Auge des Betrachters liegt. Zumindest sag ich das fürs ORF Archiv. Wir können auch mit unseren guten Standards niemals
alle Materialien so auswerten, dass nie wieder
jemand überrascht ist, was man drinnen findet.
Zum Teil ist es ja auch eine Frage der Suche und
eine Frage der Zeit bis Dinge relevant und interessant werden. Eine Jugendrolle von Christoph
HAUSJELL: Da würden sich manche die Drehmaterialien von Am Schauplatz sehr gerne anschauen.
Dass der ORF damals ja aus genau diesen Gründen
nicht herausgegeben hat.
SCHMUTZER: Prinzipiell lautet die Übereinkunft
bei jedem Interview des ORF auch, dass das was
als veröffentlicht herausgegeben wird, als akkordiert betrachtet wird. Dass die Inhalte, die nebenher gesagt werden, nicht veröffentlicht werden.
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m&z
2/2014
Daher gibt es eine prinzipielle Sperre für Drehgitalisierten Materialien. Die Archive geben also
materialien.
implizit auch eine Richtung vor, welche MateriWir sind – wie bereits gesagt – dabei unseren
alien in den wissenschaftlichen Diskurs geworfen
Bestand nach und nach zu digitalisieren. Wenn
werden, weil sie eben online benutzbar sind. Wir
wir den Gesamtbestand digital haben wollen,
bemühen uns sehr, viele Quellen online zur Verdann ist das ein Zehn-Jahres-Projekt. Wenn wir
fügung zu stellen, aber daran hindern uns vielfach
diese Digitalisierung durchführen, dann heißt
die bekannten rechtlichen Barrieren.
das auch, dass in der Außenstelle immer mehr
Das Geheimnis im Archiv ist natürlich auch für
nicht nur in den Metadaten verfügbar ist, sonuns als Mitarbeiter gegeben. Auch wir wissen
dern dass sie auch gesichtet werden können. Auf
nicht, was auf den Bändern drauf ist. Die Gediesem Weg versuchen wir einen Schritt der Öffheimnisse zu entdecken ist also nicht nur das
nung zu machen. So man etwa keinen Zugang
Privileg der wissenschaftlichen Nutzung, sondern
zur Außenstelle hat, sprich kein Mitarbeiter oder
auch unseres bei der Aufarbeitung.
Studierender der UniverEs gibt auch Geheimnisse,
sität Wien ist, ist es auch
die wir den Übergebern
Das Geheimnis im Archiv wird
möglich das ORF Archiv
unserer Materialien selbst
sehr stark auch durch die
am Küniglberg mit den
anvertrauen. D.h., dass
Ansichtsplätzen zu benutwir den Übergebern auch
Benutzer selbst geschaffen. Ich
zen. Darüber hinaus kann
die Möglichkeit geben
sehe eine Tendenz dahingeman das ORF Programm
zu bestimmen, wie ihr
hend, dass vor allem jene Medi- Material genutzt werden
auch auskopieren. Diese Variante ist allerdings
en genutzt werden, die digitali- soll. Wir kommen da in
mit Kosten verbunden
dieselbe Richtung, die
siert vorliegen.
und mag deshalb für den
auch vom Staatsarchiv
einen oder anderen eine
geschildert wurde. Wir
Barriere sein.
haben zum Beispiel ein Interviewprojekt laufen
bei dem wir sehr lange und ausführliche lebensgeHAUSJELL: Wie stellt sich die Einschätzung der Barschichtliche Interviews sammeln. Wir überlassen
rieren aus der Sicht der Österreichischen Mediathek
es dabei den Interviewten in welcher Form ihr
dar?
Material zur Verfügung gestellt wird. Wir fragen
nach ob es online gestellt werden soll, ob es vor
FRÖSCHL: Ich würde dem was Kollege Schmutzer
Ort verfügbar sein darf, ob es anonymisiert werfür das ORF-Archiv gesagt hat, zustimmen: Es
den soll oder der reale Name in den Metadaten
gibt vor allem technische Barrieren. Wir können
weitergegeben werden kann. Seit einem Jahr läuft
etwa in unseren Benutzerräumlichkeiten nicht
ein weiteres Projekt bei dem es darum geht prisämtliche Abspielgeräte für sämtliche Medien akvates Material von Leuten auf dem gefährdeten
tuell halten. Bestimmte Materialien sind deshalb
Format Video zu sammeln. Es sind also Hochauch schwerer zugänglich. Sie können benutzt
zeiten, Geburtstagsfeiern, private Dokumentatiwerden, aber sie müssen vorher noch bearbeitet
onen, die da aufgenommen wurden. Auch hier
werden. Zum Beispiel müssen wir manche Mabestimmen die Übergeber wie das Material zur
terialien digitalisieren bevor wir sie weitergeben.
Verfügung gestellt werden soll. Für das Material
Damit wird der Benutzungsvorgang verzögert,
gelten natürlich die bekannten rechtlichen Barriaber es macht ihn nicht unmöglich.
eren. Aber zusätzlich zur rechtlichen VerantworDas Geheimnis im Archiv wird sehr stark auch
tung gibt es auch eine ethische Verantwortung der
durch die Benutzer selbst geschaffen. Ich sehe eine
Archive. Wir raten den Leuten auch was man wie
Tendenz dahingehend, dass vor allem jene Mezur Verfügung stellen kann. Nicht alles was zur
dien genutzt werden, die digitalisiert vorliegen.
Online-Nutzung freigegeben wurde, ist aus meiDiese Entwicklung resultiert aus dem gewohnten
ner Sicht auch dafür geeignet. Manchen Leuten
Umgang mit Medien. Alle Medien, die nicht diist gar nicht bewusst, was sie da mit so manchen
gital verfügbar sind, auch wenn sie durch Metaprivaten Aufnahmen öffentlich machen würden.
daten gut erfasst sind, bei uns im Archiv vorliegen
Auch wenn Leute sehr intime Details aus ihrem
und damit genauso benutzbar wären, treten in die
Leben, aber nicht nur aus ihrem, sondern auch
zweite Reihe. Das trifft auch für universitäre und
jenem der Familie und der dörflichen Umgebung
studentische Nutzung zu. Der Fokus liegt auf dierzählen, dann braucht es aus meiner Sicht ethi-
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JERÁBEK: Freilich dem anderen. Eine weitere Barriere ist mir noch eingefallen. Auch dabei geht
es um die Benützbarkeit von Medien, die eine
HAUSJELL: Sie sprechen da etwas ein, das im KonHürde sein kann. Zugegebenermaßen gibt es
text der öffentlichen Debatte um die Tätigkeit von
Studenten, die für ihre Diplomarbeit oder DisGeheimdiensten, um die Sammlung aller möglichen
sertation Akten aus den 30er Jahren anschauen
Daten aktuell ist. Spüren sie da eine geänderte Senund selbst zugeben: Ich berücksichtige nur das
sibilität im Archiv, konkret mit Daten, die man eher
Maschinengeschriebene. Oft findet man auf den
der Privatsphäre zuspricht. Hat sich das aus ihrer
Akten handgeschriebene Vermerke, Konzepte
Sicht, im Vergleich von vor ein paar Jahren, gewanoder Verbesserungen in Kurrentschrift. Das kann
delt?
man dann entweder gar nicht lesen oder man
nimmt sich nicht die Zeit dazu. Angesichts der
FRÖSCHL: Ja. Beide Projekte sind vor und nach der
Verschulung der Universität ist natürlich auch der
NSA-Affäre gelaufen und wir stellen eine deutZeitdruck größer. Ich habe für meine Dissertatiliche Zunahme beim Nein zur Online-Verwenon noch sehr lange brauchen dürfen. Aber es ist
dung fest. Auch der Wunsch nach Anonymisieauch das Handwerkszeug, das immer mehr verlorung wird ganz stark geäußert. Daran müssen wir
ren geht. Es erfolgt der Schrei nach Lesehilfe oder
uns freilich halten, sonst würden wir das Material
sogar der strategische Wechsel des Arbeitsthemas
natürlich nicht bekomin eine Zeit in der das Mamen. Es ist auch so, dass
terial leichter fassbar ist.
Was nicht im Netz ist,
wir in unserer Arbeit nicht
Diese Tendenz ist immer
interessiert die Leute oft schon
nur auf die Jetztzeit abmehr zu beobachten.
zielen. Benutzer sind für
Obwohl alles an verfüggar nicht mehr.
uns nicht nur Menschen,
barem Aktenmaterial vordie jetzt gerade leben,
gelegt wurde, bleibt also
sondern es können auch künftige Generationen,
ein Geheimnis weil der Benutzer nicht in der
Benutzer in 100, 150 Jahren sein. Dann sind die
Lage ist die Schrift zu lesen. Das kann man vielSchutzfristen gefallen. Dann ist das Material in
leicht noch verstehen, wenn jemand eine merojedem Fall interessant und deshalb kann man mit
wingische Schrift aus dem 8. Jahrhundert im dadiesen Einschränkungen relativ gut leben.
maligen Latein lesen soll, aber eine Kurrentschrift
aus den 30ern und damit aus der Zeit in die er
HAUSJELL: Vor diesem Hintergrund hat sich diesbesich eingearbeitet hat. Das sollte er sich schon erzüglich auch im Staatsarchiv etwas geändert oder ist
arbeiten.
der diesbezügliche Umgang stabil?
HAUSJELL: Das sehe ich auch so. Es ist aber auch
JERÁBEK: Ich würde sagen stabil. Ich war auch zu
noch eine interessante Barriere, dass das Vermögen
unsensibel um eine breitgefächerte HaltungsändeInformationen zu rezipieren, zunehmend mit der
rung zu bemerken. Die Wahrnehmung erschöpft
Distanz der Jahre abnimmt. Da hat sich nichts
sich eher in Witzchen wie: „Da bekomm ich den
geändert an den Akten, den Archiven, der VerfügAkt nicht, aber die NSA weiss eh alles.“ Auch
barkeit, sondern es haben sich die Fähigkeiten der
wir fragen bei der NSA an, wenn wir den Akt
Nutzer gewandelt.
nicht finden. Die helfen uns dann zuverlässig aus.
Unsere sogenannte „Informationsgesellschaft“ splittet
[lacht]. Nein ernsthaft: Die Debatte ist vielleicht
die Gesellschaft in immer mehr Wissenssegmente auf.
zu aktuell, zu sehr in die Zukunft gerichtet: Was
Innerhalb dieser Segmente wird das Wissen immer
passiert dereinst mit von der NSA abgeschöpften
spezialisierter einerseits und umfangreicher andeAkten? Werden sie öffentlich gemacht?
rerseits. Außerhalb dieser Segmente wird die Kluft
Andererseits: Wenn es soweit kommt, dass wir
der Unwissenheit dagegen immer größer. Ist die
alle eine Google-Brille mit Gesichtserkennung
Digitalisierung und damit die leichtere Online-Vertragen und im gleichen Moment in dem ich mein
fügbarkeit von Beständen für sie eine Strategie um
Gegenüber anschaue auch über Namen, Alter,
dieser Entwicklung gegenzusteuern oder wird diese
Beruf, Vorlieben und Kaufverhalten informiert
Tendenz davon unberührt bleiben?
werde, dann ist eh schon alles egal.
JERÁBEK: Es ist schon angesprochen worden, dass
HAUSJELL: Dann muss man die Brille wieder einmal
das Ins-Netz-Stellen die wissenschaftlichen Konabnehmen.
junkturthemen fördert, mitbestimmt, von andesche Barrieren. Manche Dinge sollten einfach ein
Geheimnis bleiben.
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ren vielleicht ablenkt und natürlich auch eine Vorauswahl trifft. Was nicht im Netz ist, interessiert
die Leute oft auch schon gar nicht mehr. Dahinter steckt der naive Glaube, dass die gesamten 180
Kilometer Aktenlauflänge des Staatsarchivs in den
letzten 15 Jahren einfach so ins Netz gehüpft wären. Das geht ja nicht. Es ist eine Riesenarbeit
selbst digital vorhandene Dateien einzuspeisen.
Erst recht die Dateien in den Computer zu klopfen.
Die Kehrseite der Medaille demonstrieren die
ach so liberalen Amerikaner in der der National
Records Agency. Sie geben Dinge ganz gezielt ins
Netz. Vermeintlich handeln sie liberal, tatsächlich
sind es aber Akten bei denen immer die anderen
die Deppen sind.
raus ableiten lässt. Da kommen natürlich verschiedene Dinge zusammen. Die Institution, die das
Ganze übernimmt, tritt dann auch als Information-Broker auf und verfügt damit auch über die
Deutungshoheit. Auch Aspekte des Rechtlichen
kommen noch hinzu. Das heißt, welche Form der
Diskurskonjunktur wird dadurch auch möglich
und welchem Diskurs dient man sich auch an.
Das trifft auf eine mangelnde medienübergreifende Quellenkompetenz auf Benutzerseite. Diese
wird immer wieder deutlich. Bei Film als Sonderfall ist zu bedenken, dass wenige rechtefrei sind.
Die Online-Verfügbarkeit bedingt einen langwierigen, komplexen Prozess zur Klärung der Intellectual Property Rights. Auf der anderen Seite ist das
zur Verfügung Stellen für kurz- oder mittelfristige
Perspektiven gut. Aber es führt dazu, dass man in
eine andere Konjunktur eintritt, nämlich immer
wieder neu zu konvertieren. Für die langfristige
Erhaltung von Film ist das analoge Material einfach nicht zu verabschieden. In digitaler Form ist
die Langzeitarchivierung aus meiner Perspektive
noch nicht zufriedenstellend umsetzbar. In diesen
Aspekten werden das Diskursive, die verschiedenen Motivationen dahinter und die tägliche
Handhabung miteinander verkoppelt.
HAUSJELL: Also eine gezielte Politik Informationen
ins Netz zu stellen, von denen man möchte, dass sie
von der Forschung auch wahrgenommen werden.
Weil die Reise nach Washington in die National
Archives, die ist ja ein Stück aufwendiger. Sie muss
nicht zuletzt finanziert werden. Natürlich wünschen wir uns alle in der Forschung, dass möglichst
vieles online verfügbar ist. Gleichzeitig: Wer jemals
ein Archiv von Innen gesehen hat, weiss, dass es das
wahrscheinlich nie spielen wird. Oder ist die vollständige Digitalisierung für sie denkbar?
HAUSJELL: Die Digitalisierung der Bestände kostet.
Wie sehen sie die Perspektiven in Richtung möglicher
neuer Barrieren finanzieller Art. Die jüngere Generation erwartet sich, dass Inhalte die digital verfügbar sind, auch kostenlos angeboten werden. Diese
Kultur kennen wir. Aber die Institutionen könnten
ja auch sagen: Wenn die Benutzer immer mehr digital benutzen wollen, dann gibt es dafür halt entsprechende Benutzungskosten. Ist das ein Weg der aus
ihrer Sicht in Zukunft stärker beschritten werden
wird?
JERÁBEK: Kommt darauf an wer das Ganze inszeniert. Wenn eine ökonomische Gewalt wie Google
Books dahinter steht, dann kann auch so ein Output produziert werden. Wenn solche Interessen
dahinter stehen, wäre alles machbar.
HAUSJELL: Welche Interessen könnten dahinter stehen, das was sie im Archiv der Republik haben komplett zu digitalisieren?
JERÁBEK: Dass man das Archiv privatisiert. Der
Staat erspart sich die Kosten für das Personal
und Sonstiges. Die Firma, die übernimmt, verkauft dann gegen entsprechende Gebühren die
Akteneinsicht und Ausdrucke etc. übers Netz. So
könnte das funktionieren. Das wäre dann genau
jene Tendenz, die wir seit dem Durchschlagen des
Neoliberalismus in der Verwaltung haben. Wenn
so ein Vorhaben Gewinnaussicht verspricht, ist
die Gefahr, dass so etwas auch passiert, ständig da.
SCHMUTZER: Also bei uns ist die Digitalisierung
notwendig, weil es der Produktionsprozess erfordert. Auch wenn es andere Formen der Langzeitarchivierung gäbe. Ich glaube allerdings nicht,
dass jemals das gesamte Archiv digitalisiert wird.
Wir werden sicher auch immer Filmbestände bei
uns haben. Im Hinblick auf die Haltbarkeit sind
nicht die Filmbestände das große Problem, sondern die Magnetaufzeichnungsbänder der 60er,
70er und 80er Jahre. Die halten einfach nicht
länger als 20 bis 30 Jahre und müssen deshalb kopiert und digitalisiert werden. Filme überdauern
schon länger.
Die vollständige Digitalisierung sehe ich – wie gesagt – nicht. Irgendwann wird man sich die Frage
BALLHAUSEN: Die wirtschaftliche Motivation würde ich auch als potentielle Gefahr sehen, dass man
– wie es so schön heißt – Institutions in Enterprises
verwandelt. Das ist eine Problematik, die sich da-
40
m&z
stellen, inwieweit es sich auszahlt Altbestände und
Bestände, die nur selten benützt werden, durch
die Maschinerie durchzuschleusen. Da das ORFArchiv wie auch das Filmarchiv aus urheberrechtlichen Gründen nie wirklich online gehen wird,
wird auch die Benützung des Archivs bestehen
bleiben. Auch die Außenstelle am Institut für
Zeitgeschichte ist ja kein Online-Zugang, sondern ein Blick in unser Archivsystem. Das Archiv
als Institution mit den Archivaren als Personen
des Wissens und Geheimnisträger wird weiter bestehen bleiben. Ich habe eher das Gefühl, dass You
Tube und Google, die Rezeptionsmentalität prägt.
Nur was im Netz vorhanden ist, existiert wirklich.
Damit werden Erwartungshaltungen an Archive
geschürt, die nicht wirklich einlösbar sind.
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archivierung, die bestimmt auch die Digitalisierungsstrategie. Ich vermute, dass es in Fernsehstationen ähnlich ist, dass nicht unendlich viel Geld
verfügbar ist und deshalb eine Strategie verfolgt
werden muss.
HAUSJELL: Weil das Schlüsselwort Geld gefallen ist:
Max Weber zum Beispiel hat postuliert, dass die
meisten sozialen Organisationen versuchen, durch
Geheimhaltung von Kenntnissen und Absichten
Macht zu gewinnen und zu erhalten, denn daraus
wachse ihr struktureller Vorteil. Durch die finanzielle Förderung von Archiven – sei es durch staatliche
Mittel oder durch die Vergabe von Forschungsgeldern
zur Aufarbeitung und Pflege der Bestände – steuert
die Politik das Wissen der Öffentlichkeit. Wie würden sie die diesbezügliche Politik – angesichts von
Wirtschaftskrise und knapper Budgets – beschreiben? Stehen sie aufgrund der finanziellen Situation
gewissermaßen alle in einem Konkurrenzverhältnis
zueinander? Oder ist die Lage eher durch den Begriff
der Kooperation zu bezeichnen?
FRÖSCHL: Digitalisierung ist auch für uns nicht
gleich Online-Stellen. Es ist wirklich materialabhängig, da geb ich Thomas Ballhausen völlig
recht. Für Film ist die Notwendigkeit zu digitalisieren nicht so stark gegeben, wie etwa für Videoformate. Für manche unserer Bestände kann ich
ganz klar sagen: Wenn wir sie nicht jetzt bis zu
einer gewissen Zeit digitalisieren, ist das Material
weg. Die Digitalisierungsstrategie ist immer auch
eine Strategie der nachträglichen Ausscheidung
von Medienarchiven. Eines kann ich ganz klar
sagen: Wir werden nicht den gesamten Bestand
der Österreichischen Mediathek digitalisieren
können. Das heißt mit unserer Digitalisierungsstrategie entscheiden wir auch darüber was für
künftige Generationen tatsächlich noch an Material vorhanden sein wird und was nicht. Das ist sicher auch immer eine Form des Geheimnisses des
Archivs. Weil ich als Nutzer nicht weiß, welche
Strategien dahinter stecken. Diese Hintergründe
werden schließlich nicht öffentlich gemacht. Es
wäre deshalb sinnvoll diese Überlegungen offenzulegen.
Bei der Debatte um die Digitalisierung wird auch
immer die Realität der digitalen Langzeitarchivierung übersehen. Bei uns ist es über Projekte
immer noch möglich gewisse Bestände zu digitalisieren und aufzuarbeiten. Bei Audio bin ich
danach mit relativ geringen, bei Video dagegen
mit sehr großen Datenmengen konfrontiert. Und
digitale Langzeitarchivierung heißt ja nicht, dass
ich einmal in ein bestimmtes Format digitalisiere
und dann bleibt das so. Das bedeutet, dass ich
beständig migrieren muss, dass ich relativ große
Speicher dafür benötige und die Institutionen dafür mit relativ hohen Kosten belastet werden. Die
Tatsache der Möglichkeit der digitalen Langzeit-
SCHMUTZER: Dass das ORF-Archiv für den aktuellen Betrieb notwendig ist und dass es jederzeit
zur Auskunft rasch bereit stehen muss, hat zur
Folge, dass das Archiv geschätzt und gefördert
wird. Für spezielle Projekte wie etwa die Langzeitsicherung müssen wir immer wieder um das Geld
kämpfen. Die Arbeit des Archivs ist – auch im
ORF – kein Selbstläufer. Wir müssen uns nicht
Legitimieren, da es im Gesamtzusammenhang
des ORF klar ist. Aber wir müssen immer wieder
unter Beweis stellen, dass eine finanzielle Ausdünnung des Archivs unmittelbare Folgen auf die
Qualität des Programms haben könnte.
Zur Finanzierung gehört auch dazu, dass der
ORF zum Teil gebührenfinanziert ist und die
andere Hälfte des Budgets verdienen muss. Dazu
gehört eben auch, dass wir als Archiv unsere Leistungen vor allem an externe Kunden verrechnen.
Dazu zählen nicht nur kommerzielle, sondern
auch nicht-kommerzielle Kunden. Wir versuchen
durch moderate Preisgestaltung den Zugang für
Wissenschaft und Studenten möglichst leistbar
zu halten. Aber wir müssen einen Anteil an den
Technikkosten verrechnen, um all die anstehenden Aufgaben bewältigen zu können.
FRÖSCHL: Ja, die Berechtigung des Archivs beruht
sicherlich einerseits auf gesetzlichen Grundlagen.
Wir sind das nationale Archiv für Audio und Video und für uns gilt ein Bundesgesetz. Finanziell sieht es so aus: Wir sind Teil des Technischen
41
m&z
2/2014
Museums. Alle Bundesmuseen, alle Bundestheater leiden darunter, dass die Basisabgeltung nicht
erhöht wird. Defacto sieht es für uns deshalb auch
so aus, dass wir weniger Personal und weniger
budgetäre Mittel zur Verfügung haben. Wir versuchen den Ausgleich durch Drittmittelprojekte
zu schaffen. D.h. wir reichen Wissenschaftsprojekte ein um Bestände aufzuarbeiten, was mit unseren normalen Kapazitäten nicht leistbar wäre.
Dabei passt man sich natürlich gewissen wissenschaftlichen Konjunkturen an. Also wir trachten
danach Themen einzureichen, die eine höhere
Wahrscheinlichkeit haben auch bewilligt zu werden. Die kommerzielle Verwertung ist bei uns
schwierig, weil wir – wahrscheinlich ähnlich wie
beim Filmarchiv – nicht die Rechte am Material
besitzen. Dies trifft für über 90 Prozent des bei
uns liegenden Archivmaterials zu. Die Ausnahme bildet Material, das mittlerweile rechtefrei ist.
Das ist in einem audiovisuellem Archiv aber nur
ein geringer Anteil des Materials. Für alle anderen Inhalte wäre die rechtliche Verwertung relativ
kompliziert zu klären, denn da hängt ein Rattenschwanz an Rechteinhabern dran.
Für die Benutzung etwas zu verrechnen entspricht
derzeit noch nicht unserem Selbstverständnis. Ich
hoffe, dass das auch noch lange so bleiben wird.
Ich glaube auch nicht, dass so eine Maßnahme
die Rettung des Archivs bedeuten würde. So lange
man die Nutzungsgebühren in einem einigermaßen moderaten Bereich hält, würden sie nicht die
Kosten für die Digitalisierung, die Langzeitarchivierung etc. tragen.
in wirtschaftlichen Parametern gemessen werden
kann und soll.
JERÁBEK: Zur Zeit der Besiedelung des neuen Archivs in Erdberg waren wir 147 Leute. Das ist
25 Jahre her. In der Zwischenzeit sind dutzende
Kilometer an Akten hereinbekommen, die nicht
erschlossen sind und wir sind nur noch etwa 100
Mitarbeiter. Früher hat man sich durch Praktikanten beholfen, die das auch für ihr Studium benötigt haben und die unsererseits nur unfallversichert wurden. Heute geht das nicht mehr, da man
die Praktikanten bezahlen muss und uns dafür
das Geld fehlt. Per se dient das Gesetz dazu, dass
Privatfirmen und Banken Praktikanten nicht als
gratis Kräfte für unangenehme Arbeit engagieren.
Grundsätzlich ist der audiovisuelle Bereich wohl
eher einer, bei dem die Benutzer nachvollziehen können, dass man etwas dafür zahlen muss.
Audiovisuelle Materialien sind attraktiver, auch
fürs Netz. Da haben wir eben das Laufbild oder
wenigstens das Geräusch und die Musik. Akten
dagegen sind sehr unattraktiv, das ist Flachware. Das schlimmste ist, wenn uns vorgeschlagen
wird, es wie die Nationalbibliothek zu machen.
Ja wir haben eben keinen Prunksaal von Fischer
von Erlach. Wir sind weitestgehend auf traditionelle staatliche Finanzierung angewiesen. Es gibt
oft kein Verständnis dafür, warum man für dieses
oder jenes Gebühren einhebt. Akzeptanz findet
nur die pauschal kostende Benutzerkarte. Anders
verhält es sich mit dem sogenannten Rechercheangebot ohne Erfolgsgarantie. Da kann man sicher nicht die Kostenwahrheit nach drei ergebnislosen Stunden, mit einer Gebühr von ca. 35 Euro
pro 30 Minuten, einfordern.
Von Seiten des Kriegsarchivs gab es jetzt auch
erstmals EU-Projekte. Die Abwicklung solcher
internationaler Projekte ist derart kompliziert
und schwierig, dass die anfallenden Personalkosten für die vierteljährlichen Berichte und die
Buchhaltung usw. so hoch waren, dass kaum
Gewinn übrig blieb. Man kann freilich froh sein,
dass es Ergebnisse gibt und das Ganze ein Nullsummenspiel war.
Im Deutschen Bundesarchiv zählt auch das Drucken und Aufarbeiten von Editionen zur Aufgabe
des Archivs. Dafür werden wechselnd Akademiker in Vollzeit abgestellt, die nach Editierung
des einen Bandes oder nach zwei Jahren wieder
etwas anderes machen. Bei uns passiert so etwas
über Vereine, die sehr stark ans Staatsarchiv angebunden sind. Die Österreichische Gesellschaft
für historische Quellenstudien hat gemeinsam
BALLHAUSEN: Es gibt auf jeden Fall die Notwendigkeit einen nicht unwesentlichen Teil des Budgets
zu erwirtschaften. Sei es durch eigene Projekte,
Editionen, durch Drittmittelprojekte, die schon
angesprochen wurden. Man darf ja nicht vergessen, was uns dahingehend gesamteuropäische
Studien deutlich machen: Von 100 Euro, die die
öffentliche Hand investiert, entfallen 97 Euro auf
die Förderung neuer Produktionen und drei Euro
auf die langfristige Erhaltung und Digitalisierung
ebendieser Produktionen. Insgesamt sehe ich eher
die Kooperation im Vordergrund und weniger das
klassische Konkurrenzszenario. Die Auswertung
mit kommerziellen Partnern ist natürlich ein Faktor für uns. Wo wir über die Rechte verfügen, tun
wir das auch sehr erfolgreich. Die Benutzung im
Studienzentrum ist möglichst kostenfrei. Wir versuchen diesbezüglich auf die Zugänglichkeit zu
setzen und damit eine Form von Notwendigkeit
des Archivs zu demonstrieren, die nicht immer
42
m&z
mit dem Vorgängerverein ca. 40 Bände Editionen gemacht. Andere Archive machen das im
staatlichen Auftrag. Bei uns war derartiges schon
damals nicht möglich. Diese Form der Drittmittelfinanzierung hat bis vor kurzem funktioniert,
wird wahrscheinlich bald auch nicht mehr gehen.
Wenn man nicht unter den von den Geldgebern
proklamieren Mainstream fällt, ist es sehr schwer
etwas aufrecht zu erhalten.
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Das macht dann nicht mehr der Wissenschafter,
sondern es macht das Archiv selbst. Anscheinend
ist es auch für Wissenschafter manchmal schwierig zu unterscheiden: Was ist die Deutung der
Quelle und was ist die Quelle selbst? Ich finde
diesen Aspekt der Funktionen und Aufgaben des
Archivs interessant.
Freilich gibt es ganz unterschiedliche Archivtypen. Es stellt sich die Frage ob der Begriff Archiv auch auf alle diese Institutionen zutrifft. In
unserem Fall ist es so, dass die Aufnahme von
Materialien ins Archiv nach keinerlei Automatismus erfolgt. Es gibt Archive bei denen das ganz
klar ist. Bei uns ist es aber eher eine Sammlung.
Angesichts dessen wird wohl auch die Frage nach
der Macht des Archivs in einem anderen Kontext
gesehen. Wie setzt sich überhaupt die Sammlung
des Archivs zusammen? Welche Stücke kommen
überhaupt rein?
SCHMUTZER: Wir sind wohl alle aus Archiven,
denen öffentliche Gelder zur Verfügung stehen.
Ich finde es aber trotzdem nicht unanständig Benutzungsgebühren einzuheben. Ein Archiv aufzubauen, zu erhalten und zu pflegen kostet soviel an
Ressourcen und Geld, dass ich es für vertretbar
halte für die Benutzung einen kleinen Beitrag zu
kassieren.
HAUSJELL: Wir haben noch eine Schluss Fragerunde. Es gibt gezielte Geheimnisse und es gibt funktionale Geheimnisse. Im ersten Fall geht es darum,
dass bestimmte Inhalte nicht bekannt werden sollen.
Bei den funktionalen Geheimnissen gibt es mehrere
Gründe, etwa die Konzentration auf bestimmte Themen, Trends, Themenkonjunkturen auch gezielte
Forschungsförderung oder das Erschließen bestimmter Quellenbestände durch Publikationen. Archive
können diesbezüglich auch mitsteuern, sei es durch
Eventisierung, Ausstellungen, Veranstaltungen. Das
ist freilich einfacher wenn man einen Prunksaal
hat, braucht aber trotzdem Ressourcen. Sehen sie
das als eine mögliche Strategie auf Bestände, die bisher nicht wahrgenommen wurden, aufmerksam zu
machen? Braucht es dazu Mäzene? Braucht es interessierte Medien über die Interesse geweckt werden
kann? Reicht es sich mit den Lehrenden an den Unis
kurzzuschließen und durch Angebot eines Seminars
zu einem bestimmten Thema die Aktenbestände zu
erschließen? Braucht es so etwas überhaupt nicht aus
ihrer Sicht?
BALLHAUSEN: Ich muss der Kollegin auf jeden Fall
zustimmen. Ich glaube, es braucht ein Bündel an
Maßnahmen und viel an Eigenaktivität um auf die
Bestände aufmerksam zu machen. Hier beginnen
die sehr unterschiedlichen Aspekte eines Archivs
zu greifen. Ein Großteil der Arbeit im Archiv ist
ja unsichtbar. Und erst wenn sie nicht mehr funktioniert, wird es klar, dass da etwas nicht geklappt
hat. Es gilt auch für diese unsichtbare Arbeit zu
sensibilisieren, darauf aufmerksam zu machen
was die Archive hier unter nicht immer einfachen
Bedingungen leisten. Für Film als relativ junge
Kunstform gilt es zusätzliches Interesse zu schüren. Grundsätzlich ist jedenfalls großes Interesse
spürbar, auch für Film als historische Quelle, die
man gleichwertig wie traditionelle Quellentypen
wahrnimmt.
JERÁBEK: Ich glaube, es wird erwartet, dass man
sich präsentiert und auf etwas aufmerksam macht
oder zu einem Konjunkturthema etwas beiträgt.
Wenn wir als Staatsarchiv nicht auf unsere Bestände zu Propaganda im Ersten Weltkrieg, als
Ausstellung und auch via Webausstellung, aufmerksam gemacht hätten, hätten wir uns berechtigter Kritik ausgesetzt. Schließlich sind wir der
wichtigste Aktenbewahrer, nicht nur der militärischen Operationen, sondern auch des Sozialgeschichtlichen. Man konnte dabei auch bemerken,
dass das Personal dadurch erheblich belastet wird,
wenn man keine zusätzlichen Kräfte abstellen
kann. Es reicht nicht, dass für einen Webauftritt
Techniker arbeiten, es braucht auch Facharchivare, die das Ganze prüfen. Archive sind sicher
FRÖSCHL: Ja braucht es schon. Wir nutzen das Internet um auf bestimmte Bestände hinzuweisen
und dazu einzuladen damit zu arbeiten. Interessant finde ich, dass mit dieser Tendenz bestimmte
Bestände der Öffentlichkeit zur Verfügung zu
stellen, immer auch eine Deutung verbunden ist.
Das Archiv als Institution stellt bekanntermaßen
die Quellen zur Verfügung. Die Frage ist, inwieweit auch die Deutungshoheit über diese Quellen
beim Archiv liegt. Wenn man die Quellen in einer Art Edition veröffentlicht, interpretiert man
sie mit und stellt diese Quellen in einen Kontext.
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durchsuchbaren Objekte. Dazu kommen auch
noch sich wandelnde Vorstellungen der Öffentlichkeit. Natürlich muss ich Herrn Jerábek auch
zustimmen. Man würde sich berechtigter Kritik
aussetzen, würde man wichtiges Material zu einer
Debatte zurückhalten und sich damit aus dem
Diskurs herausnehmen.
hinsichtlich der Anerkennung hinter Museen
und Bibliotheken anzusiedeln. Bund und Länder
zahlen immer noch gerne die sich niemals selbst
erhaltende Staatsoper. Die Archive werden dem
gegenüber etwas stiefmütterlich behandelt.
FRÖSCHL: Es ist wahrscheinlich auch so, dass man
sich immer an eine interessierte Öffentlichkeit
wendet. Ich gehe mal davon aus, dass auch in
der Staatsoper eine interessierte Öffentlichkeit
sitzt, aber nicht nur. Archive fallen nicht in diesen Sektor der Freizeitgestaltung, wie es bei Museen, Theatern, bei Bibliotheken schon weniger,
der Fall ist. Archive werden sich immer auf diese
interessierte Öffentlichkeit beschränken und in
diesem Kontext ist auch die Öffnung im Internet
zu sehen. Es ist nicht so, dass nur weil ich etwas
ins Internet stelle, Millionen von Besuchern, die
sich vorher nie für Hörfunkjournale interessiert
haben, jetzt plötzlich gesteigertes Interesse daran
haben. Es ist nicht so, dass die Bestände, die man
präsentiert, plötzlich auf eine Benutzerschaft treffen, die enorm explodiert und ansonsten niemals
ins Archiv gehen würde. Wenn ich nicht ein bestimmtes Interesse habe, gehe ich nicht hin um
ein Archiv zu benutzen. Durch die Kommunikation via Internet ändert sich nicht so riesig viel an
diesen Rahmenbedingungen.
SCHMUTZER: Ich seh das so ähnlich, nämlich dass
das Interesse am Archiv als Ganzes ein eingeschränktes ist. Wir haben als ORF mehrere Angebote nach Außen, wir haben die TV-Thek, wir
haben Themenarchive, die längere Zeit online
stehen.
Beim Archiv als Ganzes findet man eher weniger
Leute, die interessiert sind und einen bestimmten
Anspruch mitbringen. Dieser Gruppe geht es darum das Archiv als Ganzes zu nutzen. Dabei geht
es nicht nur um ein Video, sondern um eine thematische Recherchen.
Dieser Kreis ist deutlich kleiner und den erreicht
man mit dem online Stellen, mit diesen Fenstern
nach Außen, sonst nicht. Zum Thema Kooperationen: So etwas wäre für uns auch wichtig. Es gibt
in den letzten Jahren einzelne Projekte, die sich
mit dem ORF Programm beschäftigen, aber da
gäbe es sicher noch mehr zu tun. Eine Anregung
durch Lehrveranstaltungen wäre sicher sehr hilfreich. Wir versuchen durch Ferialpraktikanten,
Teile unserer Bestände aufzuarbeiten. Ziel ist eben
nicht nur die aktuellen Sendungen, sondern auch
die historischen Bestände zu integrieren und das
gestaltet sich als sehr zeitaufwändig. Aber wie gesagt: Es kann immer noch besser werden im Archiv.
BALLHAUSEN: Man muss zwischen den Strategien und Möglichkeiten der Vermittlung unterscheiden. Wir haben an Europeana und daran
gekoppelten Projekten indirekt als auch direkt
mitarbeiten dürfen und haben deshalb guten
Einblick in die Situation. Bewegtbilder werden
etwa zehnmal häufiger frequentiert, es gibt eine
höhere Verweildauer usw. Innerhalb von Europeana repräsentieren die audiovisuellen Angebote
einen relativ geringen Prozentsatz dieser gesamten
HAUSJELL: Ich denke das war ein schönes Schlusswort
und damit bedanke ich mich fürs Gespräch.
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Thomas BALLHAUSEN, Filmarchiv Austria,
Mag., Thomas Ballhausen wurde 1975 in Wien geboren und lebt ebenda, wo er Literaturwissenschaft, Deutsche Philologie und Philosophie studierte. Er ist wissenschaftlicher
Mitarbeiter im Filmarchiv Austria, Autor und Lehrbeauftragter u. a. an der Universität
Wien und am Mozarteum. Ballhausen nahm 2013 als Autor an den Tagen der deutschsprachigen Literatur, besser bekannt als Bachmann Preis, teil. Internationale Tätigkeit als
Kurator und Vortragender, Redakteur der Popkultur-Zeitschrift skug, Mitglied im Arbeitskreis für historische Kommunikationsforschung. Er wirkt seit 2001 im Studienzentrum
des Filmarchivs Austria und damit an der Schnittstelle zwischen den Sammlungen des
Filmarchivs und der Öffentlichkeit.
Gabriele FRÖSCHL, Leitung Österreichische Mediathek,
Mag. Dr., geboren 1969, studierte Geschichte, Wirtschafts- und Sozialgeschichte und Soziologie in Wien, Doktoratsstudium Geschichte. Seit 1999 in der Österreichischen Mediathek, einer Außenstelle des Technischen Museums Wien. Mitarbeit am Projekt der Digitalisierung und Langzeitarchivierung von audiovisuellen Medien mit dem Schwerpunkt
Metadatenerfassung, Benutzung, Internetprojekte, wissenschaftliche Projekte.
Seit 2011 Leitung der Österreichischen Mediathek. Ab 2006 wirkt sie auch im Bereich der
Ausbildung u. a. als Lektorin an der Fachhochschule Eisenstadt für Informationsberufe
und Lektorin im Lehrgang „Library and Information Studies“ der Österreichischen Nationalbibliothek sowie der Universitätsbibliothek Wien. Seit 2010 Lektorin am Institut für
Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien mit dem Schwerpunkt Quellenkunde audiovisueller Medien in der Geschichtswissenschaft. Fröschl ist auch Vorsitzende
der maa – Medien Archive Austria.
Rudolf JERÁBEK, Archiv der Republik,
Dr., 1956 in Wien geboren, Studium der Geschichte und Kunstgeschichte an der Universität Wien, Promotion 1983. Seit Mai 1985 als Vertragsbediensteter im Österreichischen
Staatsarchiv tätig, von 1985 bis 1988 in der Abteilung Allgemeines Verwaltungsarchiv.
Während dieser Zeit betreute er als Referent die Bestände Hofkanzlei, Polizeihofstelle,
k. k. Ministerium des Innern, Bundeskanzleramt, Handelsministerium, NS-Akten, Justizhofstelle, k. k. Justizministerium, Bundesministerium für Justiz und NS-Dienststellen. Im
Zuge der Übersiedlung der Teilarchive in das zentrale Archivgebäude in Wien-Erdberg
wurde Dr. Jerábek 1988 dem neu gegründeten Archiv der Republik zur Dienstleistung zugeteilt. Von nun an war er Leiter der Bestandsgruppe „BKA/Inneres/Justiz“, in der die sehr
umfangreichen und sensiblen Akten des Bundeskanzleramtes, des Bundesministeriums
für Inneres und des Bundesministeriums für Justiz zusammengefasst sind. Seit 1988 ist Dr.
Jerábek Stellvertreter des Direktors des Archivs der Republik. Zahlreiche Publikationen
zum Staatsarchiv und dessen Bestände wie zur Sicherung der Archivalien. Er erhielt das
österreichische Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich.
Kurt SCHMUTZER, Multimediales Archiv des ORF,
Dr., 1967 in Waidhofen/Ybbs geboren, Studium der Geschichte und Kunstgeschichte an
der Universität Wien und Ausbildungskurs für Historische Hilfswissenschaften am Institut
für Österreichische Geschichtsforschung. Promotion 2008. Nach Praktika im Wiener Stadtund Landesarchiv und im Haus-, Hof- und Staatsarchiv (Hofkammerarchiv), arbeitet er seit
1992 im ORF als Redakteur und Gestalter in der Abteilung „Multimediales Archiv“. Kurt
Schmutzer ist für die ORF-Archivaußenstelle an der Fachbibliothek des Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien zuständig.
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Spezialbeitrag:
Nachwuchsförderpreis der FG Kommunikationsgeschichte der DGPuK:
Preisträgerin Dissertation
Anke Fiedler wurde für Ihre Dissertation 2014 mit dem erstmals vergebenen Nachwuchsförderpreis der Fachgruppe Kommunikationsgeschichte der DGPuK ausgezeichnet. Dieser Aufsatz stellt die Arbeit und ihre zentralen Befunde vor.
Gute Nachrichten für die SED
Medienlenkung in der DDR als politische Öffentlichkeitsarbeit1
Anke Fiedler
Université libre de Bruxelles
Abstract
In diesem Aufsatz geht es um ein Thema, das eigentlich schon längst beforscht erschien: die
Medienlenkung in der DDR. Bis auf Propagandatheorien und Lenins Formel vom „kollektiven Propagandisten, Agitator und Organisator“ bietet die Literatur bis dato allerdings wenig
Erklärungsansätze, wie Anleitung und Kontrolle der DDR-Medien funktioniert haben und wie
sich diese vor allem veränderten. Mit einem theoretischen Ansatz aus dem Bereich der Public
Relations soll daher ein neuer Blick auf das Medienlenkungsgefüge der DDR gerichtet werden.
Die Untersuchung wird dabei von der These geleitet, dass weniger ideologische Maxime die
tägliche Lenkung und Kontrolle der Medien beeinflusst haben als vielmehr die aktuellen Interessen der DDR-Führung. Entscheidend war in erster Linie, dass nichts an die Öffentlichkeit
gelangte, was diesen Interessen schaden und dem Westen Munition liefern konnte. Vor dem
Hintergrund der politischen Großwetterlage wandelten sich nicht nur die Interessen der SED,
sondern entsprechend auch der Lenkungsapparat und die Lenkungspraxis.
D
ie DDR ist ein offenes Buch. Während die
Sperrfrist für das Archivgut bundesdeutscher Behörden in der Regel 30 Jahre beträgt,
wurde ein großer Teil der DDR-Archivalien bereits Anfang der 1990er Jahre der Öffentlichkeit
zugänglich gemacht. Die Überführung der Akten
von Partei und Staat in das Bundesarchiv und ihre
rasche Erschließung mündeten in einen „spektakulären Boom der zeithistorischen DDR-Forschung und einen stetig wachsenden Strom einschlägiger Veröffentlichungen“, der im Jahr 2009
einen vorläufigen Höchststand erreichte (Jessen,
2010, S. 1056). Die Aufarbeitung der DDRMedienstrukturen steht dem in nichts nach: Mit
Handbüchern und Sammelbänden zur deutschdeutschen Mediengeschichte (vgl. u.a. Pürer &
Raabe, 2007; Wilke, 1999), historischen und
systematischen Analysen zu einzelnen Medienangeboten in der DDR (vgl. u.a. Bösenberg, 2004)
oder einer Vielzahl an (auto-)biografischen Werken über die Karrierewege von Journalisten und
Funktionären (vgl. u.a. Schütt, 2009; Fensch,
2003) lässt sich mühelos jedes Literaturverzeichnis zum Thema DDR-Medien füllen. Warum
also, möchte man da fragen, braucht es diesen
Beitrag zur Medienlenkung in der DDR – dazu
geschrieben von einer Autorin, die in den „alten
Bundesländern“ aufgewachsen ist, sich nur noch
Dieser Aufsatz basiert auf der im Böhlau-Verlag veröffentlichten Dissertation: Fiedler, A. (2014). Medienlenkung in der
DDR. Köln.
1
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schemenhaft an den Fall der Mauer erinnert und
Dienststellenleiter des Gesamtdeutschen Instituts
eigentlich gar nicht wissen kann, wie es wirklich
und wechselte nach dessen Abwicklung ins Bungewesen ist?
desarchiv Berlin. Obwohl er dort im Wortsinn an
Historische Forschung würde ihren Namen
der Quelle saß, änderte sich der Duktus in Holznicht verdienen, wenn sie sich nicht immer wieweißigs Arbeiten zur DDR-Mediengeschichte
der aus ihrer gegenwärtigen Position heraus neu
selbst nach dem Mauerfall nur unwesentlich (vgl.
bestimmen müsste. Ralph Jessen erklärt diesen
Agde, 2003; Meyen, 2002): Presse, Hörfunk und
selbstreflexiven Zugang zur Geschichte mit dem
Fernsehen der DDR seien gekennzeichnet gewe„Verfallsrisiko“ von zeithistorischem Wissen,
sen von „Monotonie“ (Holzweißig, 1983, S. 15),
das stets vom Deutungshorizont der jeweiligen
„Desinformation“ (ebd., 1997, S. 106) und „UniGegenwart abhängt (Jessen, 2010, S. 1052). In
formität“ (ebd., 2002, S. 10).
diesem Beitrag wird argumentiert, dass das „UrNicht unproblematisch ist hier seine Nähe zum
teil“ über das DDR-Mediensystem gefällt worden
Gegenstand: Jens Hüttmann hat die Geschichte
ist, als dieser Deutungshorizont noch von Mauer
und Entwicklung der bundesdeutschen DDRund Stacheldraht versperrt wurde (vgl. HolzweiForschung nachgezeichnet und herausgefunden,
ßig, 1983; ders., 1989; Blaum, 1985; Geserick,
dass „der biografische Faktor bis heute zentral
1989). Dieses Urteil oder (genauer gesagt) zeithifür das Feld der DDR-Forschung“ bleibe, auch
storische Wissen über das
wenn „die lebensgeMedienlenkungssystem
schichtliche
BetroffenHistorische Forschung würde
der DDR, das dem Konheit am Forschungsgeihren Namen nicht verdienen,
text des Kalten Krieges
genstand DDR“ mit den
entsprungen ist, wurde
Generationswechseln abwenn sie sich nicht immer wienur sehr ungenügend in
genommen habe. Diese
der aus ihrer gegenwärtigen
der jüngeren Vergangen„lebensgeschichtliche BePosition heraus neu bestimmen
heit hinterfragt, obwohl
troffenheit“ verleite dazu,
„langfristige Prozesse hi„die eigenen historischen
müsste.
storischen Wandels und
Erfahrungen in die Spraübergreifende Zusammenhänge oft erst aus gröche wissenschaftlicher Forschung zu übersetzen“
ßerer zeitlicher Distanz zu erkennen sind“ (Jessen,
(Hüttmann, 2008, S. 43, 389).
2010, S. 1052). Das Verfallsrisiko bringt es mit
Die zweite Annahme ist eng mit der ersten versich, dass viele Aspekte des DDR-Mediensystems
knüpft: Die Vermutung liegt nahe, dass vor allem
durch die heutige Brille anders zu deuten und zu
in den 1990er Jahren kaum Interesse daran bebewerten sind als noch vor einem Vierteljahrstand, das Bild zu DDR-Medien zu differenziehundert. In diesem Beitrag wird daher danach
ren. Die Einsetzung einer Enquete-Kommission
gefragt: Wie funktionierte die Medienlenkung in
1992 zur „Aufarbeitung von Geschichte und
der DDR? Welche Mechanismen entschieden daFolgen der SED-Diktatur in Deutschland“ und
rüber, ob eine Nachricht in die Medien gelangte
die Übernahme vieler ostdeutscher Zeitungen
und wie sie dort gedeutet wurde? Und hat sich die
durch westdeutsche Verlagshäuser beförderten ein
Medienlenkung im Laufe der Jahrzehnte veränMeinungsklima, das einer konstruktiven Auseidert – und wenn ja, wie und warum?
nandersetzung mit dem DDR-Journalismus von
Diesen Fragen liegen drei zentrale Annahmen
Beginn an feindlich gesonnen war. Während sich
zugrunde: Erstens wird hier davon ausgegangen,
ehemalige Redakteure der DDR-Medien anfangs
dass die schnelle Öffnung der Partei- und Staatsnoch bereitwillig als Zeitzeugen befragen ließen
archive die DDR-Geschichtsschreibung zwar be(vgl. u.a. Schubert, 1992), war das Verhältnis im
schleunigt hat, aber gleichzeitig auch begünstigte,
Laufe der 1990er Jahre zunehmend von Misstraudass zuvor gezeichnete Stereotype in kürzester
en geprägt (vgl. Meyen & Fiedler, 2011).
Zeit mit Aktenmaterial „belegt“ werden konnten
Die aufgezeigte Problematik dürfte drittens und
– ohne systematische Analyse mit der gebotenen
letztens eine Erklärung dafür liefern, dass bislang
zeitlichen Distanz. Beim Blick in die Literatur
nur wenig Versuche unternommen wurden, das
zum Thema DDR-Medienlenkung drängt sich
DDR-Mediensystem vor dem Hintergrund eines
vor allem ein Name in den Vordergrund: Guntheoriegeleiteten Bezugsrahmens zu analysieren.
ter Holzweißig, geboren 1939 in Aue (Sachsen).
Stattdessen wird in der Regel pauschal von „ProAls promovierter Historiker war er unter anderem
paganda“ gesprochen oder auf die marxistisch-levon 1982 bis Ende 1991 Berliner Abteilungs- und
ninistische Pressetheorie verwiesen, die aber jede
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Presseamtes beim Vorsitzenden des Ministerrates.
Neben diesem Aktenmaterial sind Zeitzeugen die
zweite wichtige Quelle. Zwischen Juli 2009 und
Juli 2010 wurden insgesamt 31 teilstandardisierte
Leitfadeninterviews mit ehemaligen DDR-Redakteuren und Funktionären aus dem Lenkungsapparat geführt (vgl. Meyen & Fiedler, 2011),
die auch Fragen zur Anleitung und Kontrolle der
Medien, zu redaktionellen Spielräumen oder zur
Lenkungspraxis abdeckten. Bei der Auswahl der
Befragten spielte außer den Kategorien Vielfalt
(Generationszugehörigkeit, Geschlecht, Ressort)
vor allem die Position (möglichst weit oben in der
Hierarchie) eine Rolle, da Qualifikationsniveau,
Reflexionsvermögen und der Überblick an der
Spitze normalerweise am größten sind und auch
dort die Regeln gemacht werden, die den Redaktionsalltag bestimmen.
Befragt wurden unter anderem Günter Schabowski, der ab 1968 bereits stellvertretender
Chefredakteur beim SED-Zentralorgan Neues
Deutschland (ND) war und später als PolitbüroMitglied (ab 1984) zum innersten Führungszirkel
der Partei gehörte, Hans Modrow, der 1971 bis
1973 die Abteilung Agitation im ZK der SED
leitete, Arnolf Kriener und Günter Böhme (beide
Mitglieder der Agitationskommission) sowie Kulturchef Christoph Funke und der stellvertretende
Chefredakteur Werner Fahlenkamp, beide vom
LDPD-Zentralorgan Der Morgen. Ist die Quelle
Zeitzeuge ohnehin immer problematisch (weil
die Erinnerung durch die Interessen der Gegenwart und den Wunsch nach Legitimation verzerrt
wird) (vgl. Welzer, 2000), verstärkt sich dieser
Zweifel bei Befragungen von DDR-Eliten, weil
diese nicht nur um ihren Platz in der Geschichte kämpfen, sondern auch gegen die öffentliche
Stigmatisierung. Für die vorliegende Untersuchung spricht, dass sie Quellen kombiniert (die
Aktenüberlieferungen konnten zum Teil auch in
die Interviews eingebracht werden) und dass sie
sehr unterschiedliche Zeitzeugen einbezieht.
für sich das „große theoretische Defizit“ (Scharf,
1988, S. 37) kaum zu schließen vermögen. Nicht
nur die systematische Analyse der Medienlenkungsstrukturen der DDR wird in diesem Aufsatz
daher eine zentrale Rolle spielen, sondern auch
ein theoretischer Richtungswechsel: Medienlenkung wird hier nicht mit Propagandatheorien erklärt, sondern mit dem Konzept der „politischen
Öffentlichkeitsarbeit“, die mit Klaus Mertens Definition von Public Relations als
„Differenzmanagement zwischen Fakt und
Fiktion durch Kommunikation über Kommunikation in zeitlicher, sachlicher und sozialer
Perspektive“
(Merten, 2008, S. 55)
verstanden wird. Diese theoretische Herangehensweise soll helfen, Anleitungsprozesse im
SED-Medienapparat besser nachzuvollziehen,
weil sie von der ideologiezentrierten Sichtweise
von Propagandatheorien abrückt und Medienlenkung stattdessen als Interessenpolitik der DDRFührung begreift, die sich analog zur aktuellen
politischen und wirtschaftlichen Großwetterlage
änderte.
Bevor jedoch auf das theoretische Konzept näher
eingegangen wird, sollen zunächst die Quellen
vorgestellt werden, auf denen der vorliegende Beitrag aufbaut. Im Anschluss daran wird Mertens
Definition von politischer Public Relation diskutiert und sein Konzept dem Propagandabegriff gegenübergestellt. Im vierten und letzten Teil dieses
Beitrags werden die Ergebnisse dann zu Thesen
verdichtet, die entlang der PR-Theorie das Medienlenkungssystem der DDR beschreiben, einordnen und bewerten.
Quellen
Die vorliegende Untersuchung stützt sich neben
der einschlägigen Literatur auf zwei wesentliche
Quellen: Akten und Zeitzeugen. Im ersten Schritt
wurden Archivalien aus dem Bundesarchiv in
Berlin ausgewertet, die Aufschluss über Medienlenkungsstrukturen in der DDR geben konnten,
zum Beispiel personelle Beziehungen, Anleitungsund Kontrollmechanismen, Anleitungswege sowie die Medienarbeit der SED-Chefs und ihrer
Agitationssekretäre. Hierbei handelte es sich um
rund 900 Akten, unter anderem aus den Beständen des Politbüros und Sekretariats des Zentralkomitees der SED, der beiden Büros von Walter
Ulbricht und Erich Honecker, der Abteilung
Agitation und Agitationskommission sowie des
Theoretischer Hintergrund:
Medienlenkung als politische
Öffentlichkeitsarbeit
Der Forschungsstand zu DDR-Medien zeigt,
dass Propagandatheorien bis auf wenige Ausnahmen (vgl. u.a. Boyer, 2005; Friedrich, 2010)
eine Monopolstellung in der Beschreibung von
DDR-Mediengeschichte einnehmen. Dass sich
die vorliegende Untersuchung nicht in diesen Kanon einreiht, erklärt sich vor diesem Hintergrund
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nicht von selbst. Studien, die mit Propagandakonsie waren genau wie die DDR-Medien Teil der
zepten arbeiten, stellen die DDR-Medienpolitik
Öffentlichkeit (vgl. Meyen, 2011).
in der Regel in den Generalverdacht der ideoloDer letzte Punkt erscheint erklärungsbedürftig,
gischen Orthodoxie, ohne Blick auf strukturelle
da sich die beiden Begriffe „DDR“ und „ÖffentVeränderungen im Mediensystem und ohne eine
lichkeit“ in der Literatur in aller Regel beißen.
empirische Analyse der Medieninhalte (vgl. u.a.
Propagandatheorien blenden aus, dass gerade
Bytwerk, 1999). Holzweißig schreibt, dass Lendie DDR-Medien bei der politischen Orientieins Glaubensdogmen bis zum Ende der DDR
rung im Alltag helfen mussten und zugleich auch
„sakrosankt“ geblieben seien; die Strukturen der
eingeschränkt Rückschlüsse auf Ziele der SEDAnleitung und Kontrolle wertet er folgerichtig als
Führung zuließen, weil sowohl im Inland als auch
konstant (Holzweißig, 1997, S. 9-11).
im Ausland bekannt war, dass Presse, Funk und
Ohne den Impuls der Ideologie wären die komFernsehen der DDR gelenkt und kontrolliert
munistische Bewegung und ihre Instrumentawurden (vgl. Meyen, 2003). Wer mehr über den
lisierung in Politik und
offiziellen
Standpunkt
Medien in der Tat nicht
der SED erfahren wollte,
Die DDR-Führung musste nicht
nachzuvollziehen. Blickt
der musste die Tagespresnur ihren Machtanspruch manman allerdings über diese aufschlagen oder die
sen Tellerrand hinaus,
gels demokratischer Wahlen ge- Aktuelle Kamera einschalbleiben viele Fragen often, weil hier nicht nur
rade über öffentliche Kommufen: Warum zum Beispiel
die Interpretation der
nikation legitimieren, sondern
erinnern sich Journalisten
SED von geschichtlicher,
an Phasen, in denen es
auch die Teilung der Nation und politischer und geselloffener zuging, und an
schaftlicher Wirklichkeit
den allgegenwärtigen SystemZeiten, in denen die Pozu finden war, sondern
litik die Zügel besonders
im Grunde auch das, was
wettstreit mit der Bundesrepustraff hielt (vgl. Meyen &
die DDR im Innersten
blik, die wirtschaftlich davonFiedler, 2011)? Wenn die
zusammenhielt. Martin
eilte und damit die Illusion einer Sabrow spricht in diesem
Medien von Gleichförmigkeit in Sprache und
Zusammenhang von einer
Überlegenheit des Sozialismus
Inhalt
gekennzeichnet
„Konsensdiktatur“. Die
im Fundament erschütterte.
waren (wie PropagandaDDR-Medien
vermittheorien
suggerieren),
telten einen „gleichsam
warum haben dann die DDR-Bürger eine Zeivorpolitischen Wahrnehmungs- und Wertungstung wie das Neue Deutschland überhaupt erst in
rahmen“, in dem „die herrschende Ideologie ihre
die Hand genommen? Die (vielleicht) wichtigste
eigentliche Wirkung überhaupt erst entfalten
Frage lautet: Konnte sich die DDR als „moderkonnte“ (Sabrow, 1999, S. 91). Ob ein Ereignis
ner Industriestaat“ mit „Spitzenposition“ im Ostin die Medien des Landes gelangte und wie es
block (Benz, 2010, S. 145) einen Verzicht – man
dort gedeutet wurde, entschieden aber nicht markönnte sogar sagen: einen Totalausfall der Medien
xistische oder leninistische Prinzipen, sondern
nach demokratisch-normativen Wertmaßstäben –
vielmehr die aktuellen Interessen der SED. Die
tatsächlich leisten, wie in der Literatur zu PropaDDR-Führung musste nicht nur ihren Machtanganda behauptet wird?
spruch mangels demokratischer Wahlen gerade
Diese Argumentationskette lässt sich weiter ausüber öffentliche Kommunikation legitimieren,
bauen, wenn man die Rolle der Westmedien mitsondern auch die Teilung der Nation und den alldenkt. Die SED-Führung konnte zwar direkt auf
gegenwärtigen Systemwettstreit mit der BundesRedaktionen und Inhalte der heimischen Medien
republik, die wirtschaftlich davoneilte und damit
zugreifen. Allerdings mussten Presse und Funk
die Illusion einer Überlegenheit des Sozialismus
immer gegen die Konkurrenz aus der Bundesreim Fundament erschütterte (vgl. Lindenberger,
publik ankämpfen, auf die man keinen Zugriff
2009, S. 208). Die Massenmedien der DDR
hatte. Natürlich gab es deshalb trotzdem keinen
sollten der Parteiführung in diesem Kampf der
offenen Meinungsmarkt in der DDR, aber die
Systeme nicht nur unterstützend zur Seite stehen,
Westmedien lieferten dennoch „frei Haus“ eine
sondern auch die jeweils gültige Interessenpolitik
andere Sicht der Dinge auf die Welt und stellten
der SED transportieren.
daher nicht nur eine Art Korrektiv dar, sondern
Daher wird die Medienlenkung in der DDR in
49
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und Fiktionen war. Kommunikationsmanager
müssen in zwei Dimensionen gleichzeitig optimieren: Es geht nicht um die wahrheitsbezogene Darstellung von Sachverhalten, sondern
um deren situational bedingte Anpassung, allerdings ohne die Glaubwürdigkeit zu riskieren
Das zeitliche Differenzmanagement spiegelt eine
der Grundweisheiten der Public Relations wider,
die lautet, „dass es eine richtige Zeit gibt, Dinge
zu sagen und zu tun, aber eben auch eine falsche
Zeit“. Hier muss die Frage daher lauten: Wie hat
die SED-Führung die zeitliche Dimension „professionalisiert“ und „perfektioniert“, um tatsächlich eine politische Öffentlichkeitsarbeit zum
jeweils richtigen Zeitpunkt (unter Umständen:
sofort) garantieren zu können? Mit dem sozialen
Differenzmanagement kann hingegen beschrieben
werden, wie das Netz aus Lenkungsinstitutionen
auf Partei- und Staatsebene für die notwendige
Differenzierung der Kommunikation nach Zielgruppen im In- und Ausland sorgte (ebd., S. 4854).
diesem Aufsatz als „politische PR“ der Führung
des Landes verstanden, die mit Merten als
„Differenzmanagement zwischen Fakt und
Fiktion durch Kommunikation über Kommunikation in zeitlicher, sachlicher und sozialer
Perspektive“
definiert wird (Merten, 2008, S. 55f.). Da die
kommunistische Ideologie stets wie eine Folie im
Hintergrund mitlief, entsprachen diese „Fakten“
aber nicht zwangsläufig objektiven Wahrheiten,
sondern bereits reproduzierten Wirklichkeiten.
Wenn der Begriff nicht paradox wäre, könnte
man von „subjektiven Fakten“ sprechen. Die
Ideologie half dabei, das Geschehene zu deuten,
einzuordnen, auszuwählen und schließlich für die
Fiktion aufzubereiten. Wenn man so will, war das
Differenzmanagement zwischen Fakt und Fiktion
im Grunde die Differenzbildung zwischen einer
reproduzierten Wirklichkeit und einer Konstruktion dieser reproduzierten Wirklichkeit.
Die Aufgabe von PR-Fachleuten liegt laut Merten
„nicht in der strikt wahrheitsbezogenen Darstellung von Sachverhalten“, sondern in deren „situational bedingter Anpassung“. PR-Manager (oder
hier: DDR-Journalisten und Medienfunktionäre)
sind „professionelle Konstrukteure fiktionaler
Wirklichkeiten“. Merten beschreibt diese Konstruktion als das durchgehende Bestreben, „Sachverhalte stets in positiver Tönung“, also letztlich
„unter Dehnung von Wahrheit und Wahrhaftigkeit, darzustellen“. Das Ziel lautet, „die Öffentlichkeit über Täuschungen zu täuschen“, um
„Images von Personen, Unternehmen, Ereignissen
oder Ideen“ verändern zu können (ebd., S. 5155). Seine Definition ist zwar an die Mediengesellschaft gebunden. Die Ursprünge der Nutzung
von Fiktionen (die bei ihm für alle Medien konstitutiv ist) liegen aber „tausende Jahre zurück,
nämlich beim ersten kommunikativen Modus,
der Propaganda“. Der Vorteil an Mertens Ansatz
gegenüber anderen PR-Definitionen ist das darin
enthaltene Prinzip der Differenzbildung, die „das
Hantieren mit großen Flexibilitäten und hohen
Komplexitäten erlaubt“ (ebd., S. 55f.). Das heißt,
dass Medienlenkung in der DDR nicht als statischer Zustand begriffen wird (wie bei Propagandatheorien), sondern als durchaus flexibler und
dynamischer Prozess.
Bringt man Mertens Theorie mit der Medienlenkung zusammen, dann lässt sich für das sachliche
Differenzmanagement resümieren, dass insbesondere die außenpolitische Lage der maßgebliche
Faktor für die Differenzbildung zwischen Fakten
Ergebnisse:
DDR-Medienlenkung im Wandel
Die Aufsatzform erlaubt nur eine schlaglichtartige
Zusammenfassung und Auswahl der wichtigsten
Ergebnisse, die hier zu Thesen verdichtet werden:
These 1: Da die DDR-Medienlenkung an den
aktuellen Interessen der SED ausgerichtet werden
musste, veränderten sich auch die Lenkungsstrukturen im Laufe der Jahrzehnte entsprechend der
„politischen Großwetterlage“: Personen kamen und
gingen, einzelne Lenkungsinstanzen lösten sich entweder komplett in Luft auf oder wurden zur Makulatur.
Diese These lässt sich am besten anhand der
Westkommission und der Agitationskommission erklären, ursprünglich zentrale Gremien im
Lenkungsgefüge, die sich im Laufe der Jahrzehnte
in völlig unterschiedlicher Weise entwickelten.
Ausschlaggebend hierfür waren drei politische
Zäsuren: erstens der Bau der Mauer am 13. August 1961, zweitens die Anerkennungswelle im
Zuge der Verabschiedung des Grundlagenvertrags
1972/73 und drittens die zunehmende Importverschuldung der DDR ab Anfang der 1980er
Jahre vor dem Hintergrund der aufkeimenden
Reformbewegungen in den osteuropäischen Ländern. Der politische Kontext blieb vor und nach
den Ereignissen relativ konstant, so dass vier Pha-
50
m&z
sen die Interessenpolitik der DDR-Führung und
damit auch die Medienlenkungskurve bestimmten.
Die erste Phase des Staatsaufbaus und der Ostintegration konzentrierte sich vor allem auf die
innenpolitische Stabilisierung durch eine radikale
ideologische Abgrenzung von der BRD und die
Herausstellung der engen Verbundenheit mit der
Sowjetunion. In diesen Zeitraum fällt auch die
Gründung der beiden Kommissionen: Schon im
Februar 1949 richtete das Politbüro die Westkommission ein, die nicht nur die Westarbeit der einzelnen Abteilungen im Zentralkomitee sowie der
Nationalen Front und (Massen-)Organisationen
koordinieren, sondern zugleich auch „die teils
offene, teils konspirative politisch-ideologische
Arbeit mittels der West-KPD“ führen sollte (Kubina, 1998, S. 415f ). Auch die Agitationskommission taucht erstmals 1949 in Protokollen des
Kleinen Sekretariats des Zentralkomitees auf, laut
denen das Gremium auf Basis „der Weisungen
des Politbüros“ die Linie der Agitation „für Partei, Massenorganisationen, Verwaltungen, Presse,
Funk, Film“ erarbeiten sollte.2
Beide Kommissionen waren von Beginn an als
Expertengremien gedacht mit jeweils haupt- und
ehrenamtlichen Mitgliedern, die für die allgemeine Medienstrategie und inhaltliche Vorgaben für
Presse und Funk in Form von Argumentationsanweisungen verantwortlich zeichneten. Ihre Hochphase hatten die Kommissionen in den 1950er
Jahren unter Führung des ZK-Agitationssekretärs
Albert Norden.
Der Mauerbau läutete nicht nur die nächste Zäsur
ein, die sich durch die innenpolitische Konsolidierung der DDR auszeichnete, sondern auch das
Ende der Westkommission, der mit dem Eisernen
Vorhang quasi der Nährboden entzogen wurde,
weil das Feindbild West immer unwichtiger wurde. Bereits am 19. August 1961, nur sechs Tage
nach der Schließung der Grenze, beschwerte sich
Hans Rentmeister, Sekretär der Kommission,
bei Albert Norden darüber, dass ein Hinweis zu
einem Beschluss des Parteivorstandes der SPD
von Horst Sindermann, Leiter der ZK-Abteilung
für Agitation, „als zu abstrakt und unbedeutend
abgetan“ worden sei.3 Ähnliche Vorfälle häuften
sich von nun an, wie Archivakten belegen. Rentmeister ließ man mit seinen Belangen einfach
auflaufen. Ein Jahr nach dem Mauerbau wurde er
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von seiner Funktion als Sekretär der Kommission
entbunden.
Das politische Sterben der Westkommission war
offensichtlich gewollt. Im Oktober 1964 berichtete Werner Lamberz, hauptamtliches Mitglied
der Agitationskommission und ab 1967 Nachfolger von Norden als ZK-Sekretär für Agitation:
„Seit vier Monaten geht von der Westkommission keinerlei Initiative für die Entwicklung der
politischen Argumentation und Polemik in der
DDR-Presse gegenüber der Bonner Politik aus“.
Die Mitglieder würden „seit Monaten nicht mehr
an den Argumentationsbesprechungen der Agitationskommission teilnehmen“.4 Im Juni 1965
wurde die ZK-Westabteilung zur maßgebenden
Institution in der Arbeit nach Westdeutschland
ernannt, die Westkommission musste ihre Richtlinienkompetenz abgeben und existierte fortan
nur noch als beratendes Organ. Für die Medienlenkung wurde sie danach bedeutungslos.
Die Entwicklung der Agitationskommission vollzog sich in einer auffälligen Analogie zum Untergang der Westkommission, aber das Ergebnis
war ein anderes. Das Gremium verlor ab Mitte
der 1960er Jahre zunehmend an Einfluss, da die
SED-Führung den Kontrollanspruch über die
Medien im verstärkten Maße für sich allein beanspruchte. Erst ging es „nur“ um die diplomatischen Beziehungen zu den sogenannten „jungen
Nationalstaaten“ in Afrika und Asien. Mit der
dritten politischen Zäsur, die mit der Schließung
des Grundlagenvertrags 1972 eingeleitet wurde
(dem der UNO-Beitritt der DDR 1973 und die
Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte von Helsinki 1975 folgten), vollzog sich dann ein grundlegender Wandel in dem Gremium: Die Gängelung der Medien durch die Parteispitze wurde
mehr und mehr zum Regelfall, weil man nicht
riskieren wollte, die frisch geknüpften, diplomatischen Beziehungen mit Frankreich, den USA,
Großbritannien und vielen weiteren westlichen
Staaten durch eine negative Berichterstattung zu
belasten.
Nimmt man die überlieferten Protokolle als
Maßstab, dann dürfte die Kommission höchstens
noch in den ersten beiden Jahren unter Lamberz’
Führung annähernd wie bei Norden funktioniert
haben. Bruno Wagner, Mitglied des Gremiums,
Anlage Nr. 3, Protokoll Nr. 3/49 der Sitzung des Kleinen
Sekretariats der SED, 7. Februar 1949, in: SAPMO-BArch,
DY 30/J IV 2/3/3, Bl. 12.
3
Rentmeister an Norden, 19. August 1961, in: SAPMO-
BArch, DY 30/IV 2/2.028/11, Bl. 113f.
4
Zur Mitarbeit der Westkommission, 13. Oktober 1964, in:
SAPMO-BArch, DY 30/IV A 2/2.028/49, Bl. 171.
2
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These 2: Die politischen Zäsuren beeinflussten
auch die Medienlenkungspraxis, die sich zunehmend
von einer Nachzensur unter Walter Ulbricht in eine
Vorzensur unter Erich Honecker wandelte. Der Lenkungsapparat wurde mit dem Machtwechsel in der
SED immer hierarchischer, mit dem Generalsekretär
an der Spitze der Lenkungspyramide.
klagte bereits im Juni 1967 darüber, „daß die
Kommission über wichtige Gesetze und Verordnungen erst aus dem ND erfährt“.5 Horst Pehnert, als Chefredakteur der Jungen Welt von 1966
bis 1971 ehrenamtliches Kommissionsmitglied,
sprach im Zeitzeugeninterview von einem „Placebo“: Die Kommission habe „nicht mehr das
gemacht, was sie machen sollte. Aktuelle Fragen
aufarbeiten und dazu Argumente entwickeln“
(Pehnert, 2011, S. 165). Die Kontrolle über die
Medienlenkung konzentrierte sich zunehmend
bei einer Handvoll Funktionäre im Apparat.
Während die wöchentliche Planarbeit unter
Norden und Ulbricht das A und O war, spielte
diese bei Werner Lamberz kaum noch eine Rolle.
Stattdessen arbeitete man fast ausschließlich mit
Halbjahresplänen, die das politisch-ideologische
Konzept der Agitationskommission mit den Interessen der SED-Führung auf lange Sicht synchronisieren sollten.
Während Lamberz noch ausdrücklich betonte,
dass die Agitationskommission ein beratendes
Organ der Parteiführung sei („sie wirkt koordinierend, trifft aber keine Entscheidungen“6), wurde unter seinem Nachfolger Joachim Herrmann,
1978 von Honecker in das Amt des Agitationssekretärs gehievt, auch dieses letztes Überbleibsel aufgeweicht. „Da wurde kein Gedanke mehr
gefordert“, erzählte Arnolf Kriener, von 1985 bis
1989 in der Kommission zuständig für den Bereich Landwirtschaft (Kriener, 2011, S. 96). Die
wirtschaftliche Krise im Ostblock und die einsetzenden Reformbewegungen, kennzeichnend für
die vierte und letzte Phase, verschärften die Situation im Lenkungsapparat zusätzlich. Die Treffen
mit allen haupt- und ehrenamtlichen Kommissionsmitgliedern fanden unter Herrmann jeden
Dienstag nach der Politbürositzung statt und
wurden so zu einer direkten Relaisstation für
die Anweisungen aus dem Machtzentrum an die
Medien umgebaut. Die Funktion der hauptamtlichen Mitarbeiter beschränkte sich in erster Linie
darauf, als Schaltzentrale zwischen Herrmann,
den anderen zuständigen ZK-Sekretären und den
Journalisten zu agieren. Aus der ursprünglichen
Idee eines proaktiven „Braintrusts“ (Kriener,
2011, S. 96) war unter Joachim Herrmann eine
reaktive Schnittstelle zwischen ZK-Apparat und
Medien geworden.
Die These wird nicht nur durch den Bedeutungsverlust der beiden Kommissionen gestützt, sondern auch durch Zeitzeugen und die Akten aus
den Büros der beiden Ersten Sekretäre. „Wir haben das getan, was zur Befriedigung der obersten
Etage nötig war, und hatten sonst völlige Freiheit“,
erzählte zum Beispiel Arnolf Kriener über seine
ersten Jahre als ND-Redakteur in der UlbrichtÄra. Dennoch sei man gut beraten gewesen, Die
Welt, den Tagesspiegel, den Kurier und den Telegraf
regelmäßig zu lesen. Ulbricht „hatte nach dem
Krieg festgelegt, dass das die wichtigsten Zeitungen des Klassenfeindes sind“ (Kriener 2011,
S. 94f.). Der SED-Chef soll, so sein Büromitarbeiter Werner Micke, auch nur ein einziges Mal
in der Redaktion des Zentralorgans gewesen sein
– „zu einer Parteiversammlung“. Zwar habe er die
Zeitung gelesen „und hier und da auch kritisiert“.
In der Redaktion sei davon aber wenig angekommen (Micke, 2011, S. 134).
Die Akten belegen, dass sich der Parteichef nicht
täglich in die aktive Medienarbeit seines Zentralorgans einmischte (was bei Erich Honecker später
Regel werden sollte). Zumindest lassen sich die
dokumentierten Fälle an einer Hand abzählen.
Aber er kritisierte durchaus (vor allem die elektronischen Medien), und dann mitunter auch
sehr heftig. Im Juli 1961 meldete beispielsweise
Norden an Sindermann, dass sich Ulbricht „heute
beim Mittagessen sehr über die gestrige Sendung
des Schwarzen Kanals mit Schnitzler“ aufgeregt
habe, „und zwar über jene Stelle, wo Schnitzler
den Friedensvertrag auf obszöne Weise diskreditiert“. Ulbricht drängte darauf, „dass mit den
Genossen des Fernsehfunks und insbesondere mit
Schnitzler selbst darüber gesprochen wird“.7
Erst Honecker machte die Medienarbeit zur
Chefsache. Bereits als kommender Mann mischte
er hinter den Kulissen mit und ließ sich dann
als Generalsekretär sogar ADN-Meldungen, den
Sendeablauf der Aktuellen Kamera und den Sei-
Protokoll der Sitzung der Agitationskommission, 22. Juni
1967, in: SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/2.106/4, Bl. 28-30.
6
Protokoll der Sitzung der Agitationskommission am 22. Juni
1967, in: SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/2.106/4, Bl. 28-30.
7
Norden an Sindermann, 11. Juli 1961, in: SAPMO-BArch,
DY 30/IV 2/2.028/33, Bl. 131f.
5
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„Beiß nicht in die Hand, die dich füttert“, besagt
ein Sprichwort. Mit der zunehmenden Abhängigkeit von westlichen Importen und Krediten
verstummte auch die Kapitalismuskritik. In der
Honecker-Ära verloren Anweisungen zur BRD
dann massiv an Bedeutung (mehr als 25 Prozent
Rückgang!). In den 1980er Jahren hatte der Regierungschef in erster Linie mit dem Krisenherd
zu Hause zu kämpfen: Fast zwei Drittel aller
Anweisungen drehten sich in den letzten beiden
Jahrzehnten um das eigene Land (vgl. Fiedler &
Meyen, 2010).
Was aber bekam der DDR-Bürger zu Gesicht, als
er seine Tageszeitung aufschlug? Nicht viel Überraschendes. Inhaltsanalysen zu den vier DDRZentralorganen Neues Deutschland, Junge Welt,
Der Morgen und Neue Zeit zeigen, dass vor dem
Mauerbau sehr viel über die Bundesrepublik berichtet wurde, der Anteil nach 1961 aber kontinuierlich sank, um erst Ende der 80er Jahre wieder leicht zuzunehmen. Analog zum Ausbau der
diplomatischen Beziehungen nahm die Berichterstattung über die anderen nicht-sozialistischen
Staaten zu. In der Anerkennungsphase wurde außerdem über kein Land so häufig berichtet wie
über die Sowjetunion. Erst in den Krisenjahren
1980 bis 1989 sanken die Werte schließlich wieder auf fünf Prozent ab. Gorbatschow wollte man
dann doch nicht so viel Aufmerksamkeit schenken wie Leonid Breschnew.
Auch die Berichterstattung über den Westen veränderte sich in allen Zeitungen nahezu deckungsgleich – in Form einer Abwärtskurve. Während
die vier Zentralorgane in der Phase nach der
Staatsgründung besonders negativ berichteten
(allen voran das Neue Deutschland und die Junge
Welt, Schlusslicht ist der Morgen), wurde der Ton
bereits nach dem Bau der Mauer versöhnlicher
und pendelte sich schließlich in der Anerkennungsphase auf einem konstanten Level ein (vgl.
Fiedler, 2011).
tenspiegel des ND vorlegen, um die wichtigsten
Nachrichten, meist aus Politik und Wirtschaft, in
seinem Sinne zu beeinflussen. Manchmal wartete
Joachim Herrmann mit den Seitenspiegeln bis
tief in die Nacht, „wenn der Generalsekretär zur
Jagd war. Ohne diesen Anruf war sich der Sekretär
nicht sicher, ob wir alles richtig gemacht haben“,
berichtete Günter Böhme, der nicht nur Mitglied
der Agitationskommission, sondern auch „bei
Joachim Herrmann der Mann für das ND“ war
(Böhme, 2011, S. 123). Dass Gunter Holzweißigs
These von einer „Zensur ohne Zensor“ (2002,
S. 1f ) die Medienlenkung in der DDR nur sehr
unzulänglich beschreibt, hat schon Jost-Arend
Bösenberg in seiner Studie zur Aktuellen Kamera
betont:
„In der DDR existierte vielmehr eine Zensur
mit umgekehrter Methode, nämlich der Freigabe von zuvor mit festgelegtem Tenor gefertigten
und gefilterten Informationen.“
(Bösenberg, 2004, S. 160)
These 3: Mit den politischen Zäsuren änderten
sich nicht nur Tenor und Fokus der Argumentationsanweisungen aus dem Lenkungsapparat, sondern
folgerichtig auch die Berichterstattung der DDRMedien.
Dass die politische Großwetterlage Einfluss auf
das Differenzmanagement in sachlicher Dimension genommen hat, verdeutlicht etwa eine Inhaltsanalyse der überlieferten Argumentationsanweisungen: Während die Ulbricht-Jahre eindeutig
von Hinweisen zur DDR und BRD dominiert
wurden (Stichwort: Abgrenzung nach dem Mauerbau), legte sich der Fokus der gelenkten Berichterstattung in den Jahren unter der Führung von
Erich Honecker auch auf andere Regionen, wie
die westeuropäischen Staaten oder Polen (vor dem
Hintergrund der Krise Anfang der 1980er Jahre).
Auch die „jungen Nationalstaaten“ bedachte man
häufiger mit Anweisungen als noch zu Walter Ulbrichts Zeiten. Offenbar sah die SED-Spitze im
Zuge der internationalen Anerkennung höheren
Kontrollbedarf, um keine politischen oder wirtschaftlichen Partner zu verprellen (zumal im Ausland bekannt war, dass die DDR-Medien gelenkt
wurden). Dies spiegelte sich auch im Tenor der
Direktiven wider: Während in der Ära Ulbricht
mehr als 30 Prozent der Fernschreib-Telegramme
mindestens eine negative Aussage zum nicht-sozialistischen Ausland enthielten (der Großteil davon betraf die BRD), kam dies unter Erich Honecker nur noch in rund acht Prozent der Fälle vor.
These 4: Auch wenn die SED-Führung die
zeitlichen Abläufe im Lenkungsapparat im Laufe
der Jahrzehnte optimierte, konnte sie nur bei den
Themen über den Zeitpunkt der Veröffentlichung
bestimmen, über die der Westen mit Sicherheit keine
Informationen hatte. Sobald die Medien der Bundesrepublik oder des restlichen (nicht-sozialistischen)
Auslands DDR-kritische Meldungen lancierten, war
die SED-Führung zu einer Reaktion gezwungen
– sei es durch prompte Disziplinarstrafen im Lenkungsapparat oder durch eine sofortige Gegenreaktion in den eigenen Medien.
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Die politische Öffentlichkeitsarbeit „zum richtigen
Zeitpunkt“ hing von einer wesentlichen Einflussgröße ab: der Verkürzung der Lenkungswege. Die
Kommissionen, in denen zum Teil stundenlang
über einzelne Argumentationsanweisungen debattiert wurde, und Fernschreibtelegramme als
Überbringer dieser Direktiven wurden auch deshalb schrittweise abgeschafft, weil der Zeitgewinn
immer mehr in den Vordergrund rückte. Eine Optimierung der Lenkungspraxis stellte (aus Sicht der
SED) die direkte Anleitung durch den Generalsekretär dar, dessen Anweisungen in den 1970er und
1980er Jahren fast nur noch über das Telefon oder
in mündlichen Argumentationssitzungen (den
„Donnerstags-Argus“) verbreitet wurden.
Eine schnelle Reaktion wurde dann gefordert,
wenn der Westen negativ über die DDR berichtete. Das lag nicht nur am Empfang von
bundesrepublikanischen Fernseh- und Hörfunkprogrammen auf ostdeutschem Territorium. Die
„Strategen des Kalten Krieges“ kämpften ebenso
um die „Hirne und Herzen der Bürgerinnen und
Bürger des jeweils anderen Lagers“, wie auch darum, die „Legitimität und Lebensfähigkeit des
gegnerischen Machtblocks zu untergraben“ (Lindenberger, 2006, S. 11f ).
Der (vermutete) Einfluss des Westfunks spiegelte sich in der gesamten Informationspolitik der
DDR-Führung wider, so dass man ohne Übertreibung sagen kann, dass auch die Medien der
Bundesrepublik die Medienlenkung in der DDR
„gelenkt“ haben. Die Strategien im Umgang mit
den Westmedien wurden im Laufe der Jahre immer ausgefeilter. Vor allem Programmstrukturen
und Sendezeiten mussten immer wieder an die
Konkurrenz der Bundesrepublik angepasst werden, um das wachsende Unterhaltungsbedürfnis
der eigenen Bevölkerung zu stillen (vgl. Meyen,
2003). In der Abteilung Agitation entwickelte
man Kampagnen gegen konkrete Sendungen
oder Meldungen der Westmedien.
Hans Modrow, in den 1970er Jahren Leiter der
ZK-Abteilung für Agitation, sagte im Interview,
dass das Fernsehen für Erich Honecker „am allerwichtigsten“ gewesen sei. Lamberz habe jeden
Abend vor einem Apparat gesessen,
Je wichtiger die Informationen waren, desto
schneller verbreiteten sie sich im Zentralkomitee,
beispielsweise im Vorfeld des Besuchs von Bundeskanzler Helmut Schmidt in der DDR:
„Lieber Genosse Honecker! Anliegend schicke
ich zu Deiner Kenntnis die erste Kommentierung unserer beiden Kommentare zur Erklärung Schmidts aus dem Deutschlandfunk von
heute früh. Die westlichen Agenturen gehen
ebenfalls darauf ein, worüber im Laufe des Tages informiert wird“,
meldete Joachim Herrmann im April 1981.8 Die
eng beschriebene, dreiseitige Transkription der
kompletten Sendung im Deutschlandfunk (Ausstrahlung um 7:35 Uhr) lag bereits vormittags
auf dem Schreibtisch des Generalsekretärs. Obwohl die DDR-Medien in Technik und Qualität
hinterherhinkten – und damit auch in der Meinungsführerschaft, da immer die Gefahr bestand,
dass das Programm im Konkurrenzkanal bunter,
aktueller oder informativer war – gab es natürlich
trotzdem Bereiche, bei denen die SED das zeitliche Differenzmanagement unabhängig von der
Westkonkurrenz bestimmen konnte, etwa in der
Lokalberichterstattung und auch weitgehend in
Fragen der Innenpolitik. Hier hatten die DDRBürger und selbst die akkreditierten Westkorrespondenten (die erst ab Anfang der 1970er Jahre
ihre Arbeit aufgenommen hatten) nur begrenzten
Informationszugang und Einblick in interne Abläufe.
These 5: Die DDR-Medien konnten vor allem
dort ihr individuelles Erscheinungsbild entfalten,
wo sowohl die aktuellen Interessen der SED als auch
der Westen eine untergeordnete Rolle spielten, etwa
im Sport, in der Lokalberichterstattung oder in der
Kultur.
Inhaltsanalysen zeigen, dass tatsächlich die Teile
der Medien besonders uniform waren, die auf den
Westen zugeschnitten wurden: vor allem der Politik- und Wirtschaftsbereich (vgl. Fiedler, 2011).
Warum die Idee einer gleichförmigen Berichterstattung in den DDR-Medien dennoch nicht aufgehen konnte, lässt sich mit der PR-Theorie leicht
erklären. „Public Relations begins at home“, lautet ein viel zitierter Leitsatz in der Literatur. Die
Mitarbeiter einer Organisation oder eines Unternehmens (die sogenannte „interne Öffentlich-
„wo er alle vier Programme sehen konnte. Unten die beiden Westsender, oben von uns das
erste und das zweite. Man konnte aber auch die
ARD nach oben holen“.
(Modrow, 2011, S. 42)
Herrmann an Honecker, 10. April 1981, in: SAPMOBArch, DY 30/IV 2/2.037/5, Bl. 146.
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differenzierte Betrachtung der Medienstrukturen paradoxerweise sogar eher verzögerte. Das
Pauschalurteil der Propaganda ist ebenso wenig
haltbar wie die Formel von der „Zensur ohne
Zensor“, die in der Literatur ohne Überprüfung
immer weiter kolportiert wurde.
Es hat sich gezeigt, dass die politische Öffentlichkeitsarbeit der SED, die hier mit Klaus Merten als
keit“) sind „eine der wichtigsten Dialoggruppen
der PR“. Nur zufriedene Mitarbeiter können als
glaubwürdige „Multiplikatoren“ für die Ziele des
Unternehmens in der externen Öffentlichkeit
werben. Eine PR nach innen muss deshalb
„die Identifikation der Mitarbeiter mit der
Organisation unterstützen und den kontinuierlichen Dialog zwischen Management und
Mitarbeitern ermöglichen.“
(Grupe, 2011, S. 179f )
„Differenzmanagement zwischen Fakt und
Fiktion durch Kommunikation über Kommunikation in zeitlicher, sachlicher und sozialer
Perspektive“
(Merten, 2008, S. 55)
Auch die Medien der DDR wollten der Bevölkerung theoretisch das bieten, was den Menschen
zur persönlichen Zufriedenheit verhalf: Entspannung durch einen guten Film, Hintergrundmusik
bei der Arbeit oder eine interessante Lektüre (vgl.
Meyen, 2003).
Die Organe der kleinen Blockparteien beispielsweise sollten „den unterschiedlichen Teilen des
Mittelstandes […] ein spezifisches Bündnisangebot“ unterbreiten und mussten schon deshalb
Handwerker, Selbstständige, Bauern oder kirchlich gebundene Leser wenigstens in Teilen ihrer
Zeitungen anders ansprechen als die SED-Blätter
(Matysiak, 2005, S. 479). „Der Morgen hatte ein
gutes Ansehen. Nicht zuletzt wegen des Kulturteils“, erzählte Werner Fahlenkamp, stellvertretender Chefredakteur im Zeitzeugengespräch
(Fahlenkamp, 2011, S. 267). Das lag auch daran,
dass die Zeitungen der LDPD „viele begabte Theaterkritiker“ hatten.
definiert wurde, in allen drei Dimensionen sehr
stark von äußeren Einflussfaktoren abhing. Das
sachliche Differenzmanagement änderte sich analog
zur gegenwärtigen (außen-)politischen Situation.
Medienlenkung war also nicht statisch, sondern
flexibel und elastisch. Mit dem zunehmenden
Bedeutungsverlust des Westens nach dem Bau
der Mauer wurde auch die Westkommission als
spezielles Lenkungsgremium für die Arbeit nach
Westdeutschland abgeschafft. Die Agitationskommission verlor in dem Moment an Einfluss,
als die außenpolitische Verantwortung wuchs und
sich zugleich schleichend das „System Honecker“
etablierte. Die Differenz zwischen Fakt und Fiktion wurde im Laufe der Jahrzehnte mit Blick auf
außenpolitische Beziehungen zwar kleiner (man
wollte den Westen nicht verprellen!), über die
Wohnungsprobleme, leeren Regale und Glasnost
fanden die Leute trotzdem (und gerade deswegen)
nichts in den Medien. Damit konnte die SED
zwar das Bild eines solventen, autarken Staates in
Richtung Westen aufrechterhalten, die eigene Bevölkerung wurde dagegen in der Medienberichterstattung mit einer völlig unrealistischen Wirklichkeitskonstruktion vor den Kopf gestoßen.
Das konsequente Ausschalten aller negativen
Meldungen oder Gegenstimmen, die dem Westen Munition liefern konnten, hatte eine ganze
Zeitlang auch auf Rezipientenseite stabilisierende
Wirkung. Auch wenn die Bevölkerung wusste,
dass die Medien durch die SED gelenkt wurden,
und obwohl bestimmte Informationen Rückschlüsse auf Absichten der Führung zuließen, war
es trotzdem erst Ende der 1980er Jahre möglich,
eine kritische Öffentlichkeit herzustellen, die weite Teile der Bevölkerung erreichen konnte. Das
öffentliche Eingestehen von Fehlern hätte das politische System der DDR verwundbar gemacht.
Das Differenzmanagement der SED hat zwar
erlaubt, neue Schulden beim Westen machen zu
„Jede Theaterkritik sollte spätestens am zweiten
Tag nach der Premiere erscheinen, wenn wir da
eine Kulturseite hatten. Wenn heute manche
Westkollegen meinen, wir hätten immer auf das
,Neue Deutschland‘ warten müssen, dann ist
das eindeutig Quatsch“,
berichtete auch der ehemalige Kulturchef der Zeitung, Christoph Funke.
„Wir hatten manchmal den Text schon im Blatt,
wenn die SED gerade beschlossen hat, dass über
diese Aufführung nichts geschrieben wird.“
(Funke, 2011, S. 272, 275)
Zusammenfassung und Fazit
Dieser Beitrag wird das Wissen über die Medienlenkung in der DDR mit Sicherheit nicht revolutionieren. Aber es dürfte deutlich geworden sein,
dass die (zu?) schnelle Öffnung der Partei- und
Staatsarchive der DDR die Verbreitung gängiger
Klischees nicht nur begünstigte, sondern eine
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können. Es trug aber letzten Endes dazu bei, dass
die DDR-Führung jegliche Glaubwürdigkeit in
der Bevölkerung verlor, weil die Neuverschuldung
über ein Medienbild erkauft werden musste, dass
in keiner Weise mehr der Realität entsprach. Dass
eine solche Einengung des Kommunikationsraums einer Gesellschaft, auch den „innovationsfördernden gesellschaftlichen Meinungsstreit“ im
Keim erstickte, wurde von der SED-Führung bis
zuletzt nicht erkannt (Gibas, 1998, S. 64).
Wenn man so will, liegt hier der inhärente Wider-
spruch von sozialistischen Medien: Auf der einen
Seite mussten Presse und Funk das „Erwerbsziel“
bedienen: den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft, die Schaffung eines „neuen Menschen“
über Bildung und Aufklärung. Auf der anderen
Seite ging es stets um die Erfüllung des PR-Ziels:
dem Westen keine Blöße zu geben und sich als
Staat zu präsentieren, der wirtschaftlich auf Augenhöhe mit dem kapitalistischen Ausland stand:
die Quadratur des Kreises.
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Welzer, H. (2000). Das Interview als Artefakt. Zur Kritik der Zeitzeugenforschung. In: BIOS – Zeitschrift für Biographieforschung und Oral History, 13(1), S. 51-63.
Wilke, J. (Hg.) (1999). Mediengeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Bonn.
Anke FIEDLER
2000-2006 Studium der Kommunikationswissenschaft, Soziologie und Psychologie an der
Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) und Université Panthéon-Assas Paris II,
2006-2008 Projektassistenz UNESCO Irak Büro in Amman, 2009-2013 wissenschaftliche
Mitarbeiterin und Promotionsstipendiatin an der LMU München, 2012 Promotion zum
Dr. phil mit einer Dissertation zur Medienlenkung in der DDR (erschienen 2014 im Böhlau Verlag), seit 2014 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Université libre de Bruxelles
(ULB).
Aktuelle Publikationen:
Meyen, M. & Fiedler, A. (2013). Wer jung ist, liest die Junge Welt. Die Geschichte der auflagenstärksten DDR-Zeitung. Berlin
Fiedler, A. & Meyen, M. (2011). Fiktionen für das Volk. DDR-Zeitungen als PR-Instrument.
Münster; Meyen, M. & Fiedler, A. (2011). Die Grenze im Kopf. Journalisten in der DDR.
Berlin.
58
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Rezensionen
Theory von Glaser und Strauss, deren Potenzial
für die Technik- und Medienforschung auch in
einem eigenen, abschließenden Kapitel erörtert
wird.
TANJA CARSTENSEN & CHRISTINA SCHACHTNER & HEIDI SCHELHOWE & RAPHAEL BEER
(HG.): Digitale Subjekte. Praktiken
der Subjektivierung im Medienumbruch der Gegenwart. Bielefeld, transcript Verlag 2014, 300 Seiten.
Das Hauptkapitel „Arbeitsalltag im Internet“
(TU Hamburg-Harburg) widmet sich dem genannten Teilprojekt „webbasierte Erwerbsarbeit“
mittels digitaler Technologien. Dabei wurden
junge Menschen zwischen 22 und 30 Jahren aus
den Bereichen Online-Journalismus, Webdesign,
Social Media-Beratung und Programmierung
mittels Leitfadeninterviews befragt. Auffälliges
Merkmal war dabei vor allem die „Entgrenzung“
sowohl zwischen Erwerbsarbeit und freizeitorientierten Lebensbereichen, als auch zwischen
Öffentlichkeit und Privatsphäre. Gerade die Herausforderung „Grenzziehung“ wurde dabei ganz
unterschiedlich bewältigt: So gibt es neben dem
Muster des „Genussvollen Grenzverwischers“
(S. 43), der die neuen Herausforderungen gewinnbringend und spielerisch für sich nutzen
kann, auch noch andere Muster wie „Sehnsüchtige Mehrarbeit“ (S. 48), „kontrolliert-strategisches Grenzmanagement“ (S. 51), „Umgang
mit Entgrenzung als Belastung“ (S. 55) oder
„Pragmatische Abgrenzung“ (S. 61). Keineswegs
sind die genannten Berufsfelder für alle TeilnehmerInnen gleichermaßen befriedigend:
Wie konstituieren sich Subjekte in Zusammenhang mit Digitalen Medien und neuen Technologien? Konkreter gefragt, welche Lebenswirklichkeiten verändern, welche Subjektentwürfe
gestalten und welche Praktiken entwickeln junge
Menschen während ihres Heranreifens und ihrer
Berufstätigkeit im Umfeld von Internet und neuen Computertechnologien? Welche Dynamiken
menschlichen Seins entstehen dabei?
Diesen Fragen widmete sich das interdisziplinäre
Verbundprojekt „Subjektkonstruktion und digitale Kultur“ (SKUDI), das in vier Teilprojekten
von ForscherInnen der TU Hamburg-Harburg,
der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, der Universität Bremen und der Universität Münster
durchgeführt wurde, und dessen Ergebnisse die
Basis für das vorliegende Buch bilden. Beteiligt
waren dabei WissenschaftlerInnen aus den Bereichen Soziologie, Medienwissenschaften, Philosophie, Politikwissenschaft, Informatik, Kulturwissenschaft und Gender Studies. Im Fokus der
Untersuchungen stehen Elf- bis 32-Jährige, deren
Persönlichkeitsentwicklung erstmals von Anfang
an in Interaktion mit Digitalen Medien stattgefunden hat. Ebenso vielfältig wie sie, sind auch
die sie umgebenden gesellschaftlichen Umbrüche
und Herausforderungen: Globalisierung, Transnationalisierung und Prekarisierung.
„Während manche Umgangsweisen entwickeln
können, mit denen sie den Wandel genießen und
teilweise sogar aktiv mitgestalten können, erfordert es von Anderen viel Selbstdisziplinierung,
die richtigen Umgangsweisen zu finden; wieder
Andere sind erschöpft und angestrengt…“
(S. 70)
Die Untersuchung verschiedener „technischmedialer Verhaltensschauplätze“ (S. 16) wurde
auf die Projektpartner aufgeteilt: Die Hamburger
Gruppe untersuchte den Schauplatz „Webbasierte
Erwerbsarbeit“, in Klagenfurt wurde die „Kommunikation in virtuellen Öffentlichkeiten“ erforscht, in Bremen stand das „Lernen in Interaktion mit technischen Artefakten“ auf der Agenda
und in Münster erfolgte die Auseinandersetzung
„Formen und Inhalte des Subjekts“. Bei letzterer
handelt es sich um eine Theoriearbeit, die jeweils
mit den mittels qualitativer Methoden gewonnenen Ergebnissen der drei erstgenannten Projekte in Beziehung gesetzt wurde. Verbindender
methodischer Rahmen war dabei die Grounded
Auch strukturelle Ungleichheiten sind bemerkenswert: etwa, dass (meist männliche) Programmierer stark nachfragt werden, während offenbar
kommunikative und künstlerische Berufsfelder
eine deutlich niedrigere Bewertung erfahren. Die
hohen Anforderungen, um in der Branche mithalten zu können, machen aber
„auch den Druck und die Ausschlüsse deutlich,
die produziert werden, betrachten wir diese Berufe in Relation zur Gesamtgesellschaft.“
(S. 71)
Das Hauptkapitel „Kommunikationsort Internet“ basiert auf dem Teilprojekt „Kommu-
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nikation in virtuellen Öffentlichkeiten“. Das
Klagenfurter Team wählte 24 Netzdiskussionen
und unterzog sie einer Netzanalyse, wobei neben
deutschsprachigen auch englischsprachige Netzwerke aus den USA, Kanada und der arabischen
Region untersucht wurden. 33 AkteurInnen von
elf bis 32 Jahren wurden in Folge ausgewählt, um
mit ihnen thematisch strukturierte Interviews
zu führen. Zur Gewinnung zusätzlicher Daten
wurden die ProbandInnen auch noch gebeten
ihre Aussagen mit ein oder zwei Zeichnungen zu
ergänzen. Auf der Basis dieser Daten wurde eine
Typologie kommunikativer Praktiken entwickelt
(die sich in der Praxis auch überschneiden können): Bei den „Praktiken des Formwandels“ (S.
100) fungiert der Cyberspace z.B. als Bühne für
den Wandel vom Kind zum jungen Erwachsenen oder von einer Außenseiterin zur selbstbewussten Frau. Ein weiteres Beispiel ist die Auseinandersetzung mit dem Gender-Thema in der
arabischen Welt, wo zwischen muslimischen
Mädchen und Jungen online über Vorstellungen
von „Männlichkeit“ diskutiert wird. „Praktiken
der Selbstinszenierung“ (S. 105) dienen hingegen nicht der Ich-Suche, sondern der Selbstpräsentation – sowohl privat, als auch beruflich.
Praktiken des Grenzmanagements zwischen verschiedenen Öffentlichkeiten und privaten und
öffentlichen Räumen dienen als „Antwort auf
strukturelle Entgrenzungen“ (ebd.). Das Gegenteil stellen „Praktiken der Grenzüberschreitung“
(S. 119) dar, z.B. Tabubrüche im Arabischen
Frühling, oder rollenbezogene Grenzüberschreitungen. Unterschieden werden auch noch „Praktiken des Handelns und Verkaufens“ (S. 128),
sowie „Spiel- und Spaßpraktiken“ (S. 129) wie
etwa Kommunikationsspiele oder Comics. Gedeutet werden diese Strategien als, „Versuche
[…] Kohärenz im eigenen Leben herzustellen“
(S. 147). Dabei, so das Fazit, sei das Internet keineswegs ein Paradies. „Uneindeutigkeit, Differenzen und Widersprüche zu leben ist nicht nur
befreiend, sondern auch anstrengend.“ (ebd.)
Dabei war von Interesse
„wie die Jugendlichen sich in Beziehung zu den
digitalen Artefakten setzen, wie sie mit ihnen
kommunizieren und interagieren und welchen
Grad an Autonomie sie ihnen zusprechen.“
(S. 156)
Im Zuge der beobachteten Interaktionsverläufe
konnten auch in diesem Projekt mehrere „Subjekttypen“ konstruiert werden: so etwa das „professionelle Subjet“ (S. 187), das sich, ähnlich dem
„genussvollen Grenzverwischer“ aus der Arbeitsweltgruppe, mit dem technischen Umfeld gut
und kreativ verbindet. Eigene Ideen werden dabei
„mit Verwertungsgedanken und Marktlogiken
verknüpft“ (S. 188). Demgegenüber steht ein
„emanzipatorisches Subjekt“ (S. 190), das auch
Selbstoptimierung betreibt,
„jedoch nicht vorrangig, um gesellschaftlichen
und beruflichen Anforderungen zu entsprechen,
sondern um sich selbst zu entfalten und persönliche Freiheiten zu etablieren.“
(S. 190)
Weniger erfolgreich nutzen können die neuen Techniken das sogenannte „zertifikationsorientierte Subjekt“ (S. 193), welches nur nach
Feedback strebt, das „desinteressierte Subjekt“
(S. 195), welches Interaktionen als unnütz erlebt,
das – in Anlehnung an Levi-Strauss sogenannte
– „Bricolage-Subjekt“ (S. 198), das improvisierend mit den Artefakten umgeht, und letztlich
das „ambivalente Subjekt“ (S. 200), welches den
eigenen Kompetenzen nicht vertraut.
Ein weiteres Hauptkapitel diskutiert entsprechend dem Teilprojekt „Formen und Inhalte des
Subjekts“ der Universität Münster die Frage, inwieweit das Subjekt frei ist oder durch die Gesellschaft gemacht bzw. beschränkt wird.
„Denn, wenn oben postuliert wurde, insbesondere auch bei den Neuen Medien käme es darauf an, was die Subjekte daraus machen, muss
geklärt werden, ob sie denn überhaupt selbstbestimmt etwas daraus machen können.“
(S. 254)
Im Hauptkapitel/Teilprojekt „Lernen in Interaktion mit Digitalen Medien“ geht es um Subjektkonstruktionen in Zusammenhang mit Lernen
anhand „algorithmischer Welten“ (S. 156). Kern
dieses Projekts der Universität Bremen waren
verschiedene digitale Installationen: etwa „der
Schwarm“ (S. 163), kleine auf den Boden projizierte Lichtpunkte, die mit BeobachterInnen
interagieren, oder Bausteine zum Herstellen von
kleinen Robots.
Dabei spannt Autor Raphael Beer einen gewaltigen Bogen von Descartes, Hume, Kant, Husserl, Hobbes, Locke und Rousseau bis zu Adam
Smith, Marx, Durkheim, Nietzsche, Horkheimer & Adorno, Bourdieu, G. H. Mead und
Habermas. Letztlich wird auch noch die Hirn-
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forschung Wolf Singers gestreift und diesem die
Philosophie Sartres gegenübergestellt. Ein Fazit
Beers:
Mensch verdiente er eine eigene, aus publizistischer Sicht gefaßte Biographie.“
(S. 701f )
„Mit Sartre und Habermas gibt es auf der anderen Seite gewichtige Hinweise darauf, dass der
Prozess der Aufklärung zwar nicht unbedingt
vollendet ist, aber auch keineswegs abgebrochen.“
(S. 263)
Haackes Anregung ging ins Leere des Faches; niemand von uns entdeckte diesen glänzenden Publizisten – und damit mehr: einen Protagonisten
des anderen, des demokratischen Deutschland.
Offensichtlich ist die Geschichtswissenschaft für
solche Phänomene notorisch sensibler. Und so
ist es nun der Inhaber einer Juniorprofessur Europäische Aufklärung an der Universität Potsdam,
Iwan-Michelangelo D ’Aprile, der zwar nicht die
Biographie (dafür mangle es an Quellen), aber
doch eine umfassende Studie und Briefdokumentation vorlegt, in deren Mittelpunkt Buchholz
steht.
D ’Apriles Ausgangsthese ist, dass die Zeitgeschichtsschreibung um 1800 zwar nicht neu
erfunden wird, aber doch eine grundlegend veränderte Qualität gewinnt. Als Quellen für diese
Innovationen entdeckt er Journalisten und deren
Geschichtsschreibung, denn die „Grenzen zwischen akademischer Geschichtsschreibung und
Journalismus (sind) um 1800 fließend“. Er identifiziert – elementar für die Berufsgeschichte des
Journalismus, aber bisher kaum beachtet – einen
Das vorliegende Werk zeigt vielerlei facettiert,
dass es sich bei den vielfach sogenannten „Digital
Natives“ keineswegs um eine homogene Gruppe
handelt, sondern dass es auch hier – nicht zuletzt
abhängig von Milieus und Herkunft – im Zuge
der verschiedenen Anpassungsprozesse GewinnerInnen und VerliererInnen gibt. Ein wichtiges
Buch zum Begreifen digitaler Kulturen, wobei die
gewonnenen Typologien für weitere Forschungen
durchaus anschlussfähig erscheinen.
Erik Bauer, Wien
IWAN-MICHELANGELO D ’APRILE: Die
Erfindung der Zeitgeschichte. Geschichtsschreibung und Journalismus
zwischen Aufklärung und Vormärz.
Mit einer Edition von 93 Briefen von
Friedrich Buchholz an Johann Georg
Cotta 1805-1833. Berlin, Akademie
Verlag 2013, 438 Seiten.
„neuen Autorentypus [...]: den JournalistenHistoriker, der zumeist vom Schreiben lebt,
<hauptberuflich> als Redakteur oder Journalist
tätig ist, häufig bewusst Universitätsprofessuren
ausschlägt und Ämter und Würden erst auf der
Basis seiner Popularität als Journalist erhält.“
(S. 9)
Ein Kurt Bahrs legte 1907 über ihn eine Dissertation des Titels Ein preussischer Publizist (17681843) vor; in der einschlägigen presse- und journalismusgeschichtlichen Literatur finden sich
nur zufällig einige Zeilen: Friedrich Buchholz ist
– anders als seine journalistischen Zeitgenossen
Friedrich von Gentz (1764-1832) oder Heinrich
Heine (1797-1856) – gründlich vergessen. Wenn
man diesen ersten Eindruck allerdings überprüft,
führt einen Wikipedia zu einem verblüffenden
Fund: für die Neue deutsche Biographie (Bd. 2,
Berlin, Behaim-Bürkel, 1955) hat Wilmont Haacke einen Eintrag über Paul Ferdinand Friedrich,
Publizist, 5.2.1768 (Alt-Ruppin) – 24.2.1843
(Berlin) beigesteuert (abrufbar über die Digitale
Bibliothek in München). Der kurze Text endet
so:
Die gängige Bezeichnung für diese Personen ist
„Zeitschriftsteller“ – neben Buchholz zählt der
Autor z.B. auch Ernst Ludwig Posselt (17631804), Karl Ludwig Woltmann (1770-1817),
Paul Usteri (1768-1831), Heinrich Zschokke
(1771-1848) und „viele weitere“ dazu. Wenn ein
Aufklärungsforscher das so sieht, verweist er fraglos auf beklagenswerte Forschungsdefizite einer
genuinen Kommunikationsgeschichtsschreibung
und schlägt dieser geradezu ein Forschungsprogramm vor – deshalb oben dieses lange Zitat! Seine eigene Analyse, die über 200 Seiten des schön
ausgestatteten Buches ausmacht, handelt eher von
„Geschichtsschreibung“ als von „Journalismus“
und lädt so zur anders gewichtenden Fortsetzung
des ersten Kapitels („Journalisten als Historiker“)
ein. Besonders herausfordernd dabei müsste eigentlich sein, dass „Historiker-Journalisten im
frühen 19. Jahrhundert ein europaweites Phäno-
„B. war ein glänzender Publizist. (...) Ähnlich
wie sein Gegner Gentz wird er höchst verschiedenartig beurteilt. Als Stilist, als Politiker, als
61
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men sind“ (S.20f.). Hier liegen noch unbeachtete
Wurzeln der Verberuflichung des Journalismus,
nach denen die Journalismus-Forschung ja immer
wieder sucht. D ’Aprile spricht von „erstaunlichen europäischen Journalistenkarrieren dieser
Zeit“ (S.5 3). Parallel damit ging eine initiative
verlegerische Pflege der populären Geschichtsschreibung einher; diese Tradition hält bis heute
an, nun multimedial und durch eigenständige
investigative Rechercheleistungen beglaubigt.
Dank der Akademisierung gibt es ja nicht wenige
studierte Historiker im Journalismus, die also für
eine eindrucksvolle Kontinuität stehen.
Mit dem hier ausgebreiteten Gedanken v.a. von
Friedrich Buchholz verbinden sich immer wieder Lektüreerlebnisse, wie sie der historisch Interessierte genießt und an anders Orientierten
schmerzlich vermisst: So vieles, was eben erfunden erscheint, gehört längst zu den gesicherten
historischen Beständen. So findet man in dieser
Geschichte des 19. Jahrhunderts höchst anschauliche Spuren der Ausbildung von demokratischem
Staat, Gesellschaft, Öffentlichkeit, Zensur und
Medien. Im zweiten Teil des Buches, der akribisch sorgfältigen Edition von über 90 Briefen,
die Friedrich Buchholz an seinen Verleger Cotta
zwischen 1805 und 1833 schrieb, wird das ganz
lebendig. Dieser erweist sich nicht nur als ein
geistreicher Schreiber, sondern auch als ein hellsichtiger Analytiker der Gesellschaft. So leuchtet
ein, dass er schon vor Jahrzehnten von Hans H.
Gerth in die Entstehungsgeschichte der Soziologie eingereiht wurde. Ein immer wieder sich
aufdrängender Stoßseufzer angesichts dieser Korrespondenz: Wie lange brauchen Gesellschaften,
um zu lernen, was von intellektuell trainierten
Köpfen längst durchdacht und in den Diskursen
vielfältiger Netzwerke geklärt ist? Das Lesevergnügen an diesen Briefen macht aber auch ihr
journalistischer Duktus aus – so, wenn Buchholz
über den Suizid von H. von Kleist und „Madame
Vogel“ berichtet.
Der Band ist also einerseits Analyse und andererseits Edition in dokumentarischer Absicht.
Welche Fülle da an Material geborgen und an Erkenntnissen gewonnen wurde, das macht einem
noch einmal das umfassende Quellenverzeichnis (S. 391-409) und das Literaturverzeichnis
(S. 410-431) klar. Letzteres kritisch musternd,
drängen sich zwei Beobachtungen auf: Diese
Arbeit resultiert offensichtlich aus befruchtenden Zusammenhängen und Umgebungen an der
Universität Potsdam, wo auch Frank Bösch lehrt.
Zusammen mit vielen einschlägigen Titeln zeich-
net sich da ein ertragreiches Interesse an Kommunikationsgeschichte innerhalb der universitären
Geschichtsforschung ab, das in der historischen
Kommunikationswissenschaft zu wenig beachtet
wird – ausweislich der üblichen Zitationsriten.
Umgekehrt gilt das aber ebenso: D ’Aprile etwa
kennt in diesem Buch keinen Otto Groth, nicht
Walter Hömbergs für sein Thema einschlägige
Dissertation Zeitgeist und Ideenschmuggel. Die
Kommunikationsstrategie des Jungen Deutschland
(Stuttgart 1975), nicht das dreibändige, voluminöse Standardwerk des gerade an journalistischen
Formen interessierten Literaturhistorikers Friedrich Sengle (1909-1994): Biedermeierzeit (Stuttgart 1971, 1972, 1980), nicht die Pressegeschichten von Margot Lindemann und Kurt Koszyk
oder die Bücher zur Zeitschriftengeschichte von
Wilmont Haacke (1911-2008). Zugegeben: Jeder
Geschichtsforschung ist immanent, dass sie nicht
(mehr) überblickbare Massen an wissenschaftlich
gewonnenem Wissen produziert. Aber andererseits löst gerade dieses Fach immer wieder auf oft
glanzvolle Weise den Anspruch auf große Werke,
auf Gesamtdarstellungen ein. Warum kann es
nicht, so wie es eine mehrbändige Deutsche Gesellschaftsgeschichte (Hans-Ulrich Wehler) gibt,
eine – am besten gleich: europäische – Kommunikationsgeschichte geben? Solche Synthesen sind
offensichtlich möglich, wenn sich die diversen
Geschichtswissenschaften mehr als bisher und systematischer wechselseitig wahrnehmen.
Wolfgang R. Langenbucher,
Wien/München
MONIKA DOMMANN: Autoren und Apparate. Die Geschichte des Copyrights im Medienwandel. Frankfurt
am Main, S. Fischer 2014, 427 Seiten.
Monika Dommann liefert mit ihrem mehr als 400
Seiten Umfang starken Werk einen mit 71 Abbildungen garnierten historischen Abriss über 200
Jahre Verwertungspraxis- und -theorie zwischen
Werkschöpfer und Werknutzer in dem transatlantischem Raum USA, Deutschland, Frankreich
und Großbritannien. Die Erkenntnis lässt sich, in
positiver Konnotation, kurz halten: Intermediäre,
also Zwischenhändler, traten in den vergangenen
Centurien einen erfolgreichen Feldzug gegen die
Anbieter-Nachfrager-Beziehung an und sorgten
im Ergebnis – vielleicht – für die im 21. Jahrhundert erkennbare Entfremdung in der Beziehung
62
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zwischen Künstler und Publikum, geht es um
eine monetäre Anerkennung für den Austausch
und Verbreitung von Werkkopien. Diese Konsequenz stellt Dommann anhand der Beispielsachverhalte Fotokopie und Musikaufnahme nach.
Die Zeitreise durch das Urheberrecht ist geprägt
von technologischen Disruptionen, die Ende
des 20. Jahrhunderts in Multimedialität geradezu zerfließen. Der bisweilen philosophisch
gehaltene Text Dommanns ist nach der rechtsgeschichtlichen Einleitung in drei Hauptkapitel
(Schrift und Aufzeichnung, Verwertungsagenturen
und Forschungsmaterialien sowie Privatkopien
und Universalnormen) mit zwei anschließenden
Epilogen (Rechtsgeschichten des technischen Medienwandels und bibliographischer Essay) gegliedert.
Vervollständigt wird die Publikation mit Dank,
Anmerkungen, Bibliographie (S. 368-409!), Abbildungsnachweis und Abkürzungsverzeichnis sowie einem Register.
2/2014
ungleich schärfere Dimension der Vergütungssystematik erlangt. Widerrechtliches Kopieren und
der, im Zweifel, daraus folgenden Verfügbarkeit
von Server-verteilten Werkkopien kann als Fluch
(unkontrollierte Verbreitung und publikumsfeindliche Programme des Digital Rights Management) und Segen (Verlängerung der Alternativen zur Publikumsansprache) gleichermaßen in
Dommanns Darstellung hineingedacht werden.
Die Rezeption eröffnet eine stringent und integral
ausgerichtete (rechts-)geschichtswissenschaftliche
Dokumentation inklusive der maßgeblichen technologischen Entwicklung von Verbreitungs-, Vervielfältigungs- und Speichermedien. Dadurch unterbleiben – aus der Perspektive des Rezensenten
– leider Entwürfe für eine Lösung des durch die
Digitalisierung unter erneuten Druck geratenen
Urheberrechts modernen Verständnisses mit einer temperierten Balance zwischen Urheber und
Publikum (wie jüngst in Großbritannien erreicht;
„digitale Privatkopie“1). Das Pendel zwischen
Ökonomisierung und kultureller Verantwortung
der an einem Austausch beteiligten Akteursgruppen wird nicht nur einerseits durch intransparente und umstrittene Handelsabkommen wie
ACTA (Anti-Counterfeiting Trade Agreement)
oder TTIP (Transatlantic Trade and Investment
Partnership) in Schwingungen versetzt. Andererseits im Kern um ein gesellschaftspolitisches
Verständnis der Adressaten für Kunst und Kultur,
nicht der genauso exklusiven wie nicht mehrheitsfähigen Zirkel anspruchsvollen Connaisseure, sondern denen eines in ganzer Breite zu
verstehenden Bürgertums, das nicht nur mit dem
Merkmal der Vertragsfreiheit ausgestattete Urheber geistiger Schöpfung in bedrückender Freiheit hinterlässt, sondern ebenso weite Teile des
redaktionell verankerten, gemeinen Medienbetriebs vor die hartnäckige Herausforderung einer
letztlich doch notwendigen Monetarisierung von
Kulturgütern stellt. Hier funktioniert es häufig im
Einklang der Vertragspartner, direkter Natur oder
indirekter (beispielsweise Kinolangfilm), dort reiben sich andere untereinander und gegeneinander auf (beispielsweise Zeitungsverlage). Konstant
und sichtbar bleiben unter Dommanns Licht die
prozessualen Schritte: der Technologie folgt die
Ökonomie, folgt die Konsumtion, folgt die Politik, folgt das Recht. Die Kreation befindet sich
Das Copyright steht unter politischem wie auch
gesellschaftlichem Druck. Dieses Einflussmoment stellt sich nicht nur im Medienwandel qua
Digitalisierung und nur in diesem Themenbereich dar, sondern ist ein Phänomen des Medienbetriebes gemeinhin. Der von Dommann identifizierte Einstieg mit dem im 18. Jahrhundert
erdachten und im 19. Jahrhundert etablierten
Urheberrecht weist in kurzer Folge auf den Konflikt zwischen Kultur- und Wirtschaftsgütern hin,
der kreatives Schaffen als „Arbeit“ definiert und
den Eintritt in das unternehmerische Handeln
vollzieht. Ein „digitaler Moment“ bezeichne in
Dommanns Reflektion eine Zäsur, die Immanenz
des Medienwandels. McLuhans „The Gutenberg
Galaxy“ dient auch hier als willkommene Inspiration für die Darstellung von Umbrüchen und
neuen Balancezuständen zwischen pragmatischtechnischer Auswertung von tangiblen Rechten
und poetisch-aufklärerischen Zugängen geistiger
Werkschöpfer. Dass die Autorin ihre Einlassungen lediglich bis in die 1980er Jahre dokumentiert und verarbeitet (der Kern des Buches
liegt in den drei Hauptkapiteln und rund 230 Seiten), sich nur einen Ausblick auf die Gegenwart
erlaubt, ist offenbar ihrer Linie als Historikerin
geschuldet. Die Sachlage hat sich mit dem in die
gesellschaftliche Mitte gerückten Kommunikationskanal „Internet“ bereits eine neue Dimension,
Vgl. Krempl, S. (2014): Privatkopie wird legal in Großbritannien. In: heise.de. Abgerufen von http://heise.de/-2280923,
Zugriff am 31.07.2014.
1
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trotz alledem am Anfang und doch irgendwie dazwischen auf der Strecke, verordnet sie sich nicht
ein kalkulatorisches Kalkül.
sorin für Romanische Sprach- und Kulturwissenschaft an der Universität Passau und Direktorin
des dortigen Instituts für Interkulturelle Kommunikation, liegen die Vorträge nun auch schriftlich vor. Im Mittelpunkt stehen Fragen danach,
inwieweit das interkulturelle Kommunikationspotential digitaler Medien ausgeschöpft wird;
wie virtuelle Grenzüberschreitungen tradierte
Verhaltensweisen beeinflussen und welche Rückwirkungen eine sich im Internet herausbildende,
neue Kultur auf den nicht-virtuellen Alltag hat.
In den 23 Beiträgen kommt zwar keine wirklich
multikulturelle (zumindest, wenn es nach dem im
Band vertretenen Kulturverständnis geht), dafür
aber eine multidisziplinäre AutorInnenschaft zu
Wort: neben der Kommunikationswissenschaft,
Literatur-, Medien- und Sprachwissenschaften
ist auch die Rechtswissenschaft, die Wirtschaftsinformatik, die Ethnologie, die Geographie sowie
die Psychologie vertreten. Gegliedert ist das Werk
in drei Teile.
Kritik und gleichzeitiges Verständnis an dem vorliegenden Werk muss an den Einlassungsdimensionen Musik und Fotokopie vermerkt werden.
Einerseits beanspruchen diese Felder eine spezifische Berücksichtigung, andererseits kann die
Aufteilung in verschiedene Anwendungsgebiete
der in der Digitalisierung vorherrschenden Multimedialität von durch Kreativität geschaffenen
Werken nicht gerecht werden. Das Konvergenzparadigma des Medienwandels qua Digitalisierung verlangt nach einer Berücksichtigung, eröffnet damit gleichzeitig neue politische Arenen.
Die Balance zwischen Kreativen, Verwertungsvertretern, Konsumenten, Technologien und
dem politischen Weg zu neuen gesellschaftlichen
Konsensen für ein akzeptierfähiges Urheberrecht
bleibt unklar und wird – ganz der Entwicklung
entsprechend – den expliziten Akteuren nach ihren eigenen Agenden selbst überlassen. Ein mit
viel Faktenwissen und kluger Auslegung und Zusammenfassung von vielfältigen, interdisziplinär
ausgewählten Quellen versehenes Werk wie das
vorliegende wird den Weg in die Spitzen der politischen Arena zur Neugestaltung finden. Ein Lesen sei allen an der Kreativwirtschaft teilhabenden
Protagonisten bzw. Kollektiven zur Stärkung der
Auswertungsdurchsetzung, als auch antagonistischen Agenten empfohlen. Zentrales Element
des mittlerweile vielfach rezensierten Werkes
Monika Dommanns Autoren und Apparate. Die
Geschichte des Copyrights im Medienwandel ist in
den Aushandlungen, Kompromissen, Anspruchsstellungen der Urheber. Und die Bibliographie.
Den Abschnitt Identität und Persönlichkeit eröffnet Alois Moosmüller mit seinen Ausführungen
zur Bedeutung virtueller sozialer Netzwerke für
die Akkulturation und Identitätskonstruktion
von MigrantInnen. Der Ethnologe geht davon
aus, dass Identität von MigrantInnen nicht aus
ihrer Heimat mitgebracht, sondern in der Ankunftsgesellschaft in Auseinandersetzung mit der
neuen Lebenssituation hergestellt wird. Digitalen
Diasporas kommen dabei verschiedene Funktionen zu: so erhalten MigrantInnen in der NetzCommunity jene Anerkennung, die ihnen die
Mehrheitsgesellschaft verwehrt; können sich im
Austausch mit anderen versichern, mit ihrer Situation nicht allein zu sein; haben die Möglichkeit
familiäre Gefühle gegenüber in verschiedenen
Ländern lebenden Familienangehörigen, kulturelle Besonderheiten sowie Bindungen an die
Heimat aufrecht zu erhalten; erlangen neue Perspektiven auf ihr Herkunftsland und vieles mehr.
Digital Memories widmet sich Birgit Neumann.
Anhand exemplarischer Online-Projekte zu den
Anschlägen auf zivile und militärische Gebäude
in den USA vom 11. September 2001 setzt sie
sich mit den
Jan Krone, St. Pölten
URSULA REUTNER (HG.): Von der digitalen zur interkulturellen Revolution.
Baden-Baden: Nomos 2012, 499 Seiten.
Der digitale Wandel hält Einzug in unser Leben
und verändert dieses mitsamt unseren Kommunikations- und Interaktionsformen nachhaltig.
Vor dem derart konstatierten Hintergrund fand
im Sommer 2011 an der Universität Passau das
Kolloquium Von der digitalen zur interkulturellen
Revolution statt. Mit dem gleichnamigen Sammelband, herausgegeben von Ursula Reutner, Profes-
„Veränderungen, die das Web 2.0 für die Konzeption wie auch für Manifestationsformen des
kulturellen und kommunikativen Gedächtnisses
mit sich bringt“
(S. 17)
auseinander. Darüber hinaus zeigt sie auf, wie
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es durch die zunehmende erfahrungsspezifische
Darstellung von Einzelschicksalen zu einer Individualisierung der Kollektiverinnerung kommt.
An Stelle der repräsentativen Kollektivvergangenheit wird nun die individuelle Erfahrung erinnert. Schließlich eignet sich der 11. September als
Ausgangspunkt für die Beschäftigung mit transkultureller Erinnerung. Diesbezüglich stellt die
Anglistin fest:
2/2014
der Möglichkeiten interkultureller, virtueller Zusammenarbeit unterschiedlich optimistisch sind
und teils sogar unterschiedliche Zuschreibungen
an die amerikanische Kultur vornehmen, muss
sich der/die LeserIn hier auf einige Redundanzen
einstellen. So ähneln sich die herausgearbeiteten
Herausforderungen wie auch die Ratschläge, wie
diese zu meistern sind: Kommunikation ist der
Schlüssel zum Erfolg. Querverweise zwischen den
Beiträgen fehlen indes vollkommen.
Im einzigen nicht-deutschsprachigen Beitrag des
Bandes präsentieren die Wirtschaftsinformatiker
Franz Lehner und Christian Warth die Ergebnisse ihrer action research zu Wissenstransfer von
einem deutschen zu einem indischen Unternehmensstandort. Nach einem Überblick über den
Forschungsstand kommt es zur Darstellung eines
Wissensmanagementprojektes der Universität
Passau und eines Automobilzulieferers. Innerhalb
diesen konnten die Autoren unterstützende Maßnahmen herausarbeiten, die sich in einer ersten
Evaluation bewährt haben. Hier zeigt sich, wie
akademisches Wissen in der Praxis angewandt
werden kann.
„Die Transkulturalität der Erinnerung unter
dem Vorzeichen der (digitalen) Globalisierung
zieht indes keine Einebnung kultureller Differenz nach sich, sondern geht im Gegenteil mit
der Produktion kultureller Differenz einher.“
(S. 96)
An transkulturelleren Erinnerungsorten wird also
keine Deterritorialisierung, sondern vielmehr die
Bedeutung der Lokalisierung sichtbar.
Neben weiteren Beiträgen umfasst der Abschnitt
außerdem Daniela Pietrinis Beschäftigung mit der
sprachlichen Konstruktion der virtuellen Freundschaft. Am Beispiel des italienischen Webforums
Luglioline 2007 – Le mamme di luglio, das dem Erfahrungsaustausch rund um Mutterschaft dient,
arbeitet sie folgende Merkmale der Cyberfreundschaft heraus: überbetonter Gefühlsausdruck;
häufige Verwendung von Diminutiven und Kosewörtern; inhaltliche Kommunikation gerät im
Vergleich zu der phatischen Kommunikation in
den Hintergrund; sprachliche Konstruktion der
Gruppenzugehörigkeit beispielsweise auch über
einen internen Jargon des Forums und ständige
Thematisierung der (Cyber-)Freundschaft. Als interkulturelle Freundschaft kann die Cyberfreundschaft insofern gefasst werden, als das gemeinsam
Erlebte im Vordergrund steht und in der Lage ist
kulturelle Differenzen zu überbrücken.
Mit einem kreativen Zugang leitet Dirk Heckmann den Abschnitt Zensur und Selbstzensur ein.
Anhand des Beatle-Songs A day in the life führt
er aus, wie unser Alltag – vom Aufstehen bis zum
Feierabend – ein digital bestimmter geworden ist.
Vor dieser Folie diskutiert der Jurist die rechtlichen Implikationen des gläsernen Menschen.
Mit dem Ansatz des Smart Privacy Managements
wird eine mögliche rechtliche Lösung vorgestellt.
So sollen NutzerInnen smarter Technologien
nachvollziehen können, welche Daten erhoben
werden und wen diese erreichen. Zudem soll AnwenderInnen geholfen werden, die Privatsphäre
schützende Einstellungen vorzunehmen. Begleitet werden sollte dies außerdem von vertrauensbildenden Maßnahmen, die etwa durch eine
Zertifizierung oder durch die Bereitstellung eines
Beschwerdemanagements gesetzt werden können.
Zu einem, den Titel des Sammelbandes bejahenden Schluss kommt der letzte Beitrag: Ja,
die digitale Revolution ermöglicht eine interkulturelle Revolution, stellt Daniela Wawra fest,
nachdem sie sich mit Webdiskursen zu Multikulturalismus auseinandersetzt. Hierfür behandelt
sie australische und indische Webkommentare
ebenso wie bildliche Diskurse zu Multikulturalismus aus Großbritannien, den USA, Deutschland,
Indien, Australien und Kanada. Dass Multikulturalismus kein feststehendes Konzept ist, sondern
Der zweite Abschnitt Teams und Kollektive ist
stark von der Auseinandersetzung mit deutsch/
österreichisch-amerikanischen virtuellen Teams
geprägt. Drei Beiträge legen ihren Schwerpunkt
auf diese Form der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, die im Zuge der Flexibilisierung
von Arbeitsabläufen und -verhältnissen, der Dezentralisierung von Unternehmen und Produktionsstätten sowie der internationalen Vernetzung von Unternehmen an Bedeutung gewinnt.
Obwohl sich die Beiträge mit unterschiedlichen
Teams – zwei davon arbeiten im Kontext der
Automobilbranche, eines übt sich im Rahmen
eines Seminars an interkultureller Zusammenarbeit – beschäftigen, in ihren Einschätzungen
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Das Werk bietet zwar interessante Einblicke in ein
breites Forschungsfeld, inwiefern diese Einblicke
der/dem LeserIn inhaltlich jedoch zusagen wird
vor allem von dem jeweiligen Kulturverständnis
abhängig sein.
länderspezifisch aufgefasst und umgesetzt wird
zeigt sich allein durch die, im Beitrag wiedergegebenen, offiziellen Multikulturalismus-Definitionen der jeweiligen Staaten.
Der vorliegende Sammelband bietet einen guten Überblick über die Vielfalt der Thematik.
Aus medienhistorischer Perspektive interessant
ist auch, dass einige AutorInnen die Eigenschaften digitaler Medien nicht als etwas vollkommen
Neues feiern, sondern durchaus Rückbezüge auf
nicht-digitale Medien ziehen. Kritisch betrachtet werden muss jedoch das angewandte Kulturverständnis: Obwohl die Herausgeberin selbst
anmerkt, dass durch Grenzziehungen hervorgebrachte und geschützte Kulturräume im Rahmen
der Globalisierung zunehmend an Bedeutung
verlieren und eine kulturelle Hybridisierung zu
beobachten ist, herrscht, mit wenigen Ausnahmen, im Sammelband doch ein recht verkürzter
Kulturbegriff vor, der Kulturen anhand von geographischen oder sprachlichen Kriterien definiert.
Die Gleichsetzung von geographischem Raum
und Kultur wird beispielsweise deutlich, wenn
Ursula Reutner und Sebastian Schubach in ihrem
Beitrag zu kulturspezifischen Ästhetik im Internet
die Nachbarländer Deutschland und Frankreich
als Forschungskontext wählen und diesbezüglich
festhalten:
Barbara Metzler, Wien
MICHEL FOUCAULT: Schriften zur Medientheorie. Ausgewählt und mit
einem Nachwort von Bernhard J.
Dotzler. Berlin: Suhrkamp 2013, 334
Seiten.
„Foucault war kein Medienwissenschaftler. Die
Auswahl vorstehender Schriften und verschriftlichter mündlicher Äußerungen hat auch nicht
zum Ziel, ihn nachträglich für diese ungewisse
Disziplin zu vereinnahmen – so sehr ihre Ungewissheit, als Auszeichnung begriffen, ihm womöglich zugesagt hätte und jedenfalls dem intellektuellen Habitus seiner Hinterlassenschaft
entspricht.“
(S. 319)
Dies schreibt der Regensburger Medienwissenschaftler Bernhard J. Dotzler zu Beginn seines
Nachworts zur vorliegenden Textsammlung. Disziplinär war der französische Denker bekanntlich
Philosoph. So lässt Dotzler den Band auch statt
mit einem erwartbaren Vorwort mit dem kurzen
Gespräch „[Statt eines Vorworts:] Worüber denken Philosophen nach?“ von 1975 beginnen, in
dem Foucault wunderbar unspektakulär über sein
Zeitungslesen, das seinerzeit schlecht gemachte Fernsehen in Frankreich und die Neugierde
an der Malerei Auskunft erteilt. Dotzler betont
zu Recht Foucaults Disziplinlosigkeit, in dem er
ihn hier, will man denn überhaupt Zuordnungen
vornehmen, als Historiker, Diskursanalytiker, Essayist, Journalist und Gesprächspartner auftreten
lässt bzw. zeigt. Diese Multiperspektivität, die im
Grunde, und so hat es laut Dotzler auch Foucault
selbst immer wieder beschrieben, einen Interessierten am Tagesgeschehen zeigt, an dem, was um
uns herum passiert, was wir sind, was in der Welt
geschieht, bedeutet eine faszinierende, mal hoch
abstrakte und theoretische, mal ganz konkrete und
beispielhafte Beobachtung von Gesellschaft. Diese
Mischung hat den Stelleninhaber eines Lehrstuhl
für die Geschichte der Denksysteme am Pariser
„Collège de France“ für alle möglichen Diskurse
bis heute so herausfordernd und gleichzeitig anschlussfähig gemacht, so eben auch für Medien-,
„Sollten sich hier Unterschiede ausmachen lassen, so ist davon auszugehen, dass kulturell weiter voneinander entfernte Räume mindestens
ebenso stark divergieren.“
Bei anderen Beiträgen kann darüber hinaus eine
gewisse Kulturalisierung ausgemacht werden:
Verhalten wird dann auf eine zugeschriebene kulturelle Zugehörigkeit zurückgeführt, ohne dass
andere Einflussfaktoren beachtet werden. Dies ist
beispielsweise der Fall wenn Christoph Barmeyer
und Alan Gazolajew den Fakt, dass russische Gäste
bei der Bewertung eines Berliner Hotels die Größe
und Beschaffenheit der Kleiderschränke bemängeln darauf zurückführen, dass in der russischen
„Kultur“ gerne im Ausland eingekauft wird. Dass
dieses „im Ausland einkaufen“ einer finanziell bessergestellten Schicht vorbehalten bleibt und insofern nicht als kulturspezifisch bezeichnet werden
kann, wird dabei nicht reflektiert.
Festgehalten werden muss auch, dass sich der
Sammelband, und dies wird bereits durch die Beschlagwortung des auf dem Cover abgebildeten
Globus deutlich, größtenteils auf den globalen
Norden beziehungsweise Westen beschränkt.
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und zitiert ihn dementsprechend im Nachwort:
Kultur- und Kommunikationswissenschaft(en).
Foucaults Ordnung der Dinge (dt. 1971), Archäologie des Wissens (dt. 1973) oder seine Antrittsvorlesung Ordnung des Diskurses (dt. 1974) sind
zu einer Art reflektierten Stopp-Schildern für
zahlreiche Forschende geworden, um innezuhalten, kritisch durchzuatmen und behutsam
weiterzuschreiten. Gerade in einem Zeitalter der
intensiven Ausdifferenzierung von Medientechnologien und -angeboten also wirkt es absolut
abgebracht, dass Dotzler hier knapp 40 kürzere
Texte Foucaults versammelt hat, die weniger ein
Glossar als vielmehr ein wildes Archiv an Ideen
und Pfaden durch Foucaults und so unseren medienkulturellen Alltag ergeben:
„‚Die Verwendung eines Buches steht in enger
Verbindung mit der Lust, die es bereiten kann,
aber ich begreife das, was ich tue, überhaupt
nicht als ein Werk‘ [...], sagt er ums eine wie
ums andere Mal: Keines seiner Bücher liefere
‚eine allgemeine Methode, die für andere oder
für mich definitiv gültig wäre. Was ich geschrieben habe, sind keine Rezepte, weder für mich
noch für sonst jemand. Es sind bestenfalls Werkzeuge – und Träume.‘“
(S. 320)
Dennoch zieht sich Foucault keinesfalls aus der
Verantwortung, ganz im Gegenteil wirken etwa
seine Ausführungen zu Heterotopien wie Appelle
an ein motiviertes Publikum, um es mit Dotzler
zu sagen:
„Der Band versammelt erstmals all jene (kürzeren) Texte, in denen Foucault die Entstehung
und den Wandel der heutigen Medienkultur
beleuchtet.“
(S. 2)
„Kraft und Gegenkraft heißt demgemäß die
Matrix der Medientheorie Foucaults. Ob Wort
oder Bild, ob Rede, Malerei, Photographie oder
Film, ob Zeitung oder Fernsehen, stets ist da die
Machtausübung der Medien einerseits wie die
Möglichkeit andererseits, ‚Widerstandspunkte‘
zu setzen, also selber Macht auszuüben, womöglich einen Kommunismus des Bilds wieder
ins Recht zu setzen, jedenfalls Gedächtnis und
Gegengedächtnis zu sein, Erinnerung und Vergessen.“
(S. 330)
Dabei umfasst das Spektrum inhaltlich die Kapitel Diskurs, Malerei/Photographie, Kino, Information, Medienmacht und Coda. Überlegungen
zur Malerei von Manet oder photogenen Malerei
stehen hier neben Diskussionen um das populäre
Gedächtnis in Bezug auf Kino und Film aus Frankreich, neben unerwartet aktuellen Gedanken zu
Politik und Medien („Die iranische Revolte breitet sich mittels Tonbandkassetten aus“) oder einer
Hommage an Pierre Boulez. Formal wurden bewusst sehr heterogene Textgattungen ausgewählt,
die eben die Vielschichtigkeit von Foucaults Wirken auch im Zusammenhang mit und in den Medien belegen: Zeitschriftenartikel, Gespräche (v.a.
mit Medienschaffenden selbst, also Journalisten,
Regisseuren etc.), Gedanken, Essays, BeinaheParodien (Der maskierte Philosoph), die hauptsächlich im Original in Dits et Écrits erschienen
und die hier chronologisch angeordnet sind.
Diesen Gedankenspielen zu folgen, macht, man
muss es so unwissenschaftlich sagen, schlichtweg
erkenntnisreichen Spaß, auch ohne profundere
Kenntnisse der damaligen französischen Gesellschaft. Ganz im Gegenteil: Durch diese kurzen
Texte von und mit Foucault lernt man etwas über
die medienkulturellen (Macht-)Verhältnisse eines
Frankreichs vor allem der 1970er Jahre und damit auch immer wieder über das Europa oder die
Vereinigten Staaten und die Welt kennen. Dotzler
erwähnt Foucaults im Wissen um seine Kritik an
Diskursmächten nicht überraschende Abneigung
gegenüber einem Werk, einer methodisch-methodologischen Rezeptur für anschließende Studien
Foucaults frühes Augenmerk auf die Dynamik
der Medien macht ihn für Dotzler neben Marshall McLuhan zu einem der wichtigsten frühen
Beobachter einer immer umfassenderen Medienkulturgesellschaft, Dotzler paraphrasiert hier
McLuhan, um das zentrale Analyse-Motto Foucaults originell festzuhalten und zunächst nicht
vermutete Analogien herzustellen: „Der Diskurs
ist die Botschaft.“ (S. 322) Und weiter:
„Ohne auf Medientheorie abzuzielen, hat
Foucault also jedenfalls den lingualen – oder
eben: diskursiven – Medienbereich genuin medientheoretisch konzipiert.“
(S. 322)
So beobachtet und beurteilt Foucault in der vorliegenden Textsammlung eben dann das Kino
und Fernsehen als Agenten des populären Gedächtnisses (ein aktuell und bezogen auch auf
das Internet absolut virulentes Thema nicht nur
unter Geschichtsforschenden), das Fernsehen
als Zeiteinteilung, Taktung, Tagesstrukturierung
(alltagsstrukturelle Mächte, wie sie die Cultural
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keit bei Foucault durchaus Methode. Situativ
die Medieneffekte, die ihn beschäftigen; situativ
seine Einlassungen. Impulsiv der Inhalt der Medien, wo immer er sie bespricht; impulsiv diese
die Medien da und dort aufblitzen lassenden
Besprechungen selber. [...] Worüber denken Philosophen nach? ‚[...] das Kräfteverhältnis‘ [...]
antwortete Foucault auf diese Frage nach der
Philosophie seiner Philosophie.“
(S. 8, 329f )
Studies immer wieder berücksichtigen) und Medien als Regierungsmächte. Dotzler bezeichnet
Foucault als „Historiker und Philosoph der Vernetzung“ (S. 323), der sich tatsächlich schon vor
30-40 Jahren auf diverse Art und Weise mit Netzen von Ideen auseinandergesetzt hat und dabei
in seiner Herangehensweise dem wiederum von
McLuhan konstatierten Mosaik nicht unähnlich
scheint:
„Daher, so darf man vielleicht unterstellen, hat
die Art der punktuellen Medienaufmerksam-
Christoph Jacke, Paderborn
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