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Geheimnis

ISSN 0259-7446 EUR 6,50 medien & Kommunikation in Vergangenheit und Gegenwart zeit Thema: Geheimnis Geheimnisse Geheim, verdrängt, unbekannt „Geheimnis gibt es im Archiv immer, weil vieles im Auge des Betrachters liegt“ Gute Nachrichten für die SED 2/2014 Jahrgang 29 m&z medien & 2/2014 zeit Inhalt Impressum Geheimnisse Medieninhaber, Herausgeber und Verleger: Motive, Strategien und Funktionen exklusiver Kommunikation Joachim Westerbarkey 4 Geheim, verdrängt, unbekannt Verein „Arbeitskreis für historische Kommunikationsforschung (AHK)“, Währinger Straße 29, 1090 Wien, ZVR-Zahl 963010743 http://www.medienundzeit.at © Die Rechte für die Beiträge in diesem Heft liegen beim „Arbeitskreis für historische Kommunikationsforschung (AHK)“ Herausgeberin: Gaby Falböck, Roland Steiner; Lücken von Öffentlichkeit: Worüber Medien gern schweigen – und warum sie das tun Host Pöttker Lektorat & Layout: Karina Auer, Diotima Bertel, Barbara Metzler, Irina Pöschl; Christina Krakovsky Redaktion Buchbesprechungen: 13 Gaby Falböck, Roland Steiner Redaktion Spezialbeitrag: Christian Schwarzenegger „Geheimnis gibt es im Archiv immer, weil vieles im Auge des Betrachters liegt“ Eine Debatte zum Thema Archive, Kommunikationsbarrieren und Geheimnisse zwischen Thomas Ballhausen (Filmarchiv Austria), Gabriele Fröschl (Österreichische Mediathek), Rudolf Jerábek (Archiv der Republik) und Kurt Schmutzer (ORF-Archiv). 31 Korrespondenten: Prof. Dr. Hans Bohrmann (Dortmund), Univ.-Prof. Dr. Hermann Haarmann (Berlin), Univ.-Prof. Dr. Ed Mc Luskie (Boise, Idaho), Univ.-Prof. Dr. Arnulf Kutsch (Leipzig), Prof. Dr. Markus Behmer (Bamberg), Prof. Dr. Rudolf Stöber (Bamberg) Druck: digitaldruck.at Druck- und Handelsgesellschaft mbH 2544 Leobersdorf, Aredstrasse 7 Versand: ÖHTB – Österreichisches Hilfswerk für Taubblinde und hochgradig Hör- und Sehbehinderte 1100 Wien, Werkstätte Humboldtplatz 7 Erscheinungsweise: Spezialbeitrag medien & zeit erscheint vierteljährlich in gedruckter und digitaler Form Nachwuchsförderpreis der FG Kommunikationsgeschichte der DGPuK: Preisträgerin Dissertation Bezugsbedingungen: Einzelheft (exkl. Versand): 6,50 Euro Doppelheft (exkl. Versand): 13,00 Euro Jahresabonnement: Österreich (inkl. Versand): 22,00 Euro Ausland (inkl. Versand auf dem Landweg): 30,00 Euro StudentInnenjahresabonnement: Österreich (inkl. Versand): 16,00 Euro Ausland (inkl. Versand auf dem Landweg): 24,00 Euro Info und Bestellung unter abo@medienundzeit.at Gute Nachrichten für die SED Medienlenkung in der DDR als politische Öffentlichkeitsarbeit Anke Fiedler 46 Bestellung an: medien & zeit, Währinger Straße 29, 1090 Wien oder über den gut sortierten Buch- und Zeitschriftenhandel ISSN 0259-7446 Rezensionen 59 1 Vorstand des AHK: Dr. Gaby Falböck (Obfrau), a.o. Univ.-Prof. Dr. Fritz Hausjell (Obfrau-Stv.), Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Duchkowitsch (Obfrau-Stv.), Mag. Christian Schwarzenegger (Obfrau-Stv.), Mag. Roland Steiner (Geschäftsführer), Barbara Fischer, Bakk. (Geschäftsführer-Stv.), Mag. Christina Krakovsky (Schriftführerin), Arne Sytelä (Schriftführerin-Stv.), Dr. Norbert P. Feldinger (Kassier), Katriina Janhunen, Bakk. (Kassier-Stv.), Mag. Bernd Semrad, Dr. Erich Vogl, Mag. Klaus Kienesberger, Dr. Johann Gottfried Heinrich m&z 2/2014 Editorial G eheimnisse sind ebenso wie – in deren Gefolge auftretende Phänomene – Gerüchte, gar Lügen ein die interpersonelle Kommunikation mit nicht unerheblicher Kraft antreibender Motor. Dennoch sind Geheimnisse – ebenso wie die daran gekoppelten kommunikativen, auch mediatisierten Ausprägungen – in der Kommunikations- wie auch der Medienkulturforschung eine unterbeleuchtete Materie. Anlässe sie wissenschaftlich zu analysieren und zu deuten, gibt es nicht nur aus historischer Perspektive, sondern auch jüngst einige: der (Medien-) Skandal um die Arbeitsweise des amerikanischen Geheimdienstes, geläufig unter dem Diktum der NSA-Affäre; die Verurteilung von Bradley E. Manning, der WikiLeaks Dokumente zugespielt haben soll; Debatten um das Phänomen „Whistleblower“ und politische Ränkespiele hinsichtlich des Verbleibs von Julian Assange oder Edward Snowden; die speziell in Österreich diskutierte Forderung nach Aufhebung des Amtsgeheimnisses und Einführung eines Transparenzgesetzes, geprägt in der Formel „Gläserner Staat statt gläserner BürgerInnen“, gerade hinsichtlich der Co-Finanzierung von Zeitungen durch staatliche Inserate. Nicht zuletzt die in regelmäßigen, meist anlassbezogenen Konjunkturen wiederkehrende Mahnung zum vorsichtigen Umgang mit Privatem in Sozialen Netzwerken und die damit einhergehende Problematik der im Zeitenlauf nicht vergessenden, räumlich entgrenzten digitalen Sphäre. All diese, sich im Grunde genommen um denselben Nukleus bewegenden Debatten waren Impetus für Medien & Zeit sich eben jenem Kern der Diskurse, dem Thema Geheimnis, zu widmen. Geheimes aufzudecken, sondern fordern es oft auch ein, werden denn dadurch erst Voraussetzungen bzw. Prozesse öffentlicher Meinung bereitet. Wird eine Gesellschaft durch Geheimnisse in ihrem Bestand bedroht, gibt es vermeintlich unrechtmäßig Verborgenes zu konstatieren, wird der demokratiepolitisch berechtigte Ruf nach dem Recht auf Wissen und Information laut. Intransparenz, Geheimhaltung und daraus resultierend Unvorhersehbarkeit sind schließlich auch Instrumente um Machtpositionen abzusichern und subtil Einfluss auszuüben. Zwischen diesen Begriffen des Privaten, des Nicht-Öffentlichen und des Öffentlichen oszillieren die beiden, diese Ausgabe von Medien & Zeit eröffnenden Beiträge. Joachim Westerbarkey und Horst Pöttker widmen sich innert einer theoretischen Auseinandersetzung dem Begriff Geheimnis und nehmen dabei zwei einander entgegenstehende Positionen ein. Jede für sich nachvollziehbar und logisch argumentiert, verdeutlichen sie einmal mehr die Ambivalenz, die dem Geheimnis innewohnt. Nach Westerbarkey sind Geheimnisse wünschenswert und nützlich, waren resultierend aus dem Umstand, dass Öffentlichkeit und Geheimnisse einander bedingen, wenngleich früher selbstverständlicher, schon immer existent. Soziale Masken hinter denen wir uns verbergen und gleichermaßen Rollenerwartungen erfüllen, sowie vielfältige Kommunikationsbarrieren, die uns den Zugang zu und die Aufnahme von Information verunmöglichen, bedingen Geheimnisse. Jedoch seien Geheimnisse und Intransparenz auch konstitutiv für Macht. Nicht zuletzt führt Westerbarkey aus, wie die auf das gegenwärtige Mediensystem stark einwirkenden Berufsfelder Werbung und PR durch ihre Strategie der „Ablenkung durch Hinlenkung“ zur Intransparenz beitragen und warum die Berufsrealität der JournalistInnen gleichfalls so manche Geheimnisse eben nicht enthüllt lassen muss. Auch Horst Pöttker argumentiert von den Prämissen des Journalismus als Beruf ausgehend. Dem Dortmunder Kommunikationswissenschaftler zufolge gehört es zur journalistischen Grundpflicht, Öffentlichkeit herzustellen und zutreffend, kritisch wie umfassend zu informieren. Dieses berufliche Selbstverständnis gelte es in der journalistischen Berufsausbildung ebenso zu vermitteln wie das nötige Rüst- bzw. Werkzeug für die Erfüllung dieses – in einer Geheimnisse bergen eine vielschichtige Ambivalenz in sich. In privaten Belangen haben sie ihre Berechtigung und Legitimität: Arztgeheimnis, Briefgeheimnis, Postgeheimnis, Beichtgeheimnis, für personenbezogene Daten gilt der Datenschutz und das Amtsgeheimnis. Wer mit einem Menschen privates Wissen teilt, zieht den anderen ins Vertrauen. Der Respekt vor dem Individuum wie die in manchen Berufen bedingte Pflicht zur Verschwiegenheit gebietet dieses Vertrauen auch nicht zu verletzen. In Angelegenheiten von öffentlichem Interesse erscheint das Recht auf Geheimnisse dagegen bereits weniger klar und unantastbar. Gerade JournalistInnen und PublizistInnen billigen wir nicht nur zu 2 m&z 2/2014 Kommunikationshistorikerin Anke Fiedler. Wir gratulieren! zunehmend unter wirtschaftliche Zwänge geratenden Medienbranche – hohen Anspruchs. In seiner Analyse ortet Pöttker sieben Ursachen, die das von ihm als „Lücken von Öffentlichkeit“ begriffene Geheimnis verursachen. Dennoch bzw. deshalb seien diese Lücken zu schließen – so Pöttkers Conclusio –, durch Recherche einerseits und durch das Regulativ der wissenschaftlichen Beobachtung andererseits. Das Archiv ist nicht nur die Rache der JournalistInnen an PolitikerInnen – um ein berühmtes Bonmot des für seine kritischen und unermüdlichen Fragen berühmten, leider schon verstorbenen Zeit im Bild-Anchormans Robert Hochner zu bedienen. Auch das öffentliche Archiv und darin wirkende Archivare und Archivarinnen verfügen über eine – nicht nur! – für die Wissenschaft überaus einflussreiche Position. Sie sind nicht nur mit der Verwaltung, Pflege und Bearbeitung ihrer Bestände befasst, sie moderieren mit dem Wissen um ihr Archivgut, durch den Hinweis auf verfügbare Materialien auch den wissenschaftlichen Diskurs. Um einen Blick in die alltägliche Praxis, das Selbstverständnis, die Arbeitsprozesse und nicht zuletzt das Verständnis von und Potenzial für Geheimnis aus der Sicht von ArchivarInnen zu erfahren, lud Medien & Zeit vier Vertreter-Innen großer öffentlicher Archive zur Debatte: Gabriele Fröschl (Österreichische Mediathek), Thomas Ballhausen (Filmarchiv Austria), Rudolf Jerábek (Archiv der Republik) sowie Kurt Schmutzer (ORF-Archiv) folgten unserer Einladung und boten im Rahmen einer Gruppendiskussion erhellende Einblicke in ihre sonst eher im Schatten stehende Berufspraxis. Auf dass Geheimnisse kommunikationswissenschaftlich zumindest hier ihre Belichtung finden, wünschen wir Ihnen eine spannende Lektüre, Geheimnisse werden stets auch mit geheimen, die eigene Position absichernden kommunikativen Strategien von MachtinhaberInnen assoziiert. Auf Diktaturen angewandt, sind Medienlenkung, Verlautbarungspflicht und Zensur übliche Instrumente totalitärer Herrschaftssysteme. Anke Fiedler fokussiert in ihrem Beitrag die diesbezügliche Praxis der DDR. Sie diskutiert dies fundierend auf einem theoretischen Ansatz, der in diesem Kontext kaum erprobt ist: Es sind Bausteine aus der PR-Forschung, die ihr dazu dienen die Medienlenkung der DDR unter einem neuen Blickwinkel betrachten. Medien & Zeit freut sich mit der Publikation dieses Beitrags nicht nur eine weitere Facette des Rahmenthemas beleuchten zu können, sondern auch den von der DGPuK-Fachgruppe „Kommunikationsgeschichte“ ausgezeichneten und von der „Springer Stiftung“ finanziell honorierten Aufsatz einer Jungwissenschaftlerin eine Plattform bieten zu können. Einmal pro Jahr wählt und prämiert die Fachgruppe aus den Einreichungen des an den wissenschaftlichen Nachwuchs adressierenden Calls ein Extended Paper. Im Rahmen der Ausschreibung für 2014 fiel die Wahl auf die Münchner Gaby Falböck & Roland Steiner 3 m&z 2/2014 Geheimnisse Motive, Strategien und Funktionen exklusiver Kommunikation Joachim Westerbarkey Universität Münster Abstract Eine unvermeidliche Begleiterscheinung von Öffentlichkeit ist Nichtöffentlichkeit, denn jede Öffentlichkeit schließt zugleich ein und aus, weil Kommunikation selektiv ist. Nichtöffentlichkeit resultiert außerdem aus alltäglichen Kommunikationsbarrieren und aus gezielter Geheimhaltung, also der Weigerung, anderen etwas mitzuteilen. Wird auch Geheimhaltung geheim gehalten, handelt es sich um reflexive Geheimhaltung, bei der die Absicht schwer nachzuweisen ist, und werden andere ins Vertrauen gezogen, entsteht ein kollektives Geheimnis bzw. eine diskrete Öffentlichkeit. Motive und Funktionen von Geheimhaltung sind ebenso ambivalent wie ihre Bewertung: Eigene Geheimnisse werden gewöhnlich positiv bewertet, fremde eher negativ. Kommunikativ werden Geheimnisse gern durch Täuschungen, Lügen, Ablenkung oder verbales Verwirrspiel geschützt und sie sind ein wichtiges Mittel zur Gewinnung von Macht, weil sie die eigene Berechenbarkeit erschweren. Deshalb werden z.T. beträchtliche Ressourcen darauf verwendet, eigene Geheimnisse zu sichern und fremde in Erfahrung zu bringen, und Experten werden damit beauftragt, Geheimhaltung gesellschaftlich akzeptabel zu machen. Dies geschieht u.a. durch wohldosierte Öffentlichkeitsarbeit, denn die Medien sind unverzichtbar, wenn man allgemeine Zustimmung braucht. In Zeiten technischer Überwachungssysteme und extensiver Sammlung und Verwertung persönlicher Daten wird die Legitimität von Geheimnissen freilich fragwürdig, zumal solche Praktiken häufig nicht bemerkt werden oder unklar bleibt, wer dahinter steckt. Damit erreichen Geheimnisse in der digitalen Welt eine neue gesellschaftliche Brisanz. rei zu immer mehr Öffentlichkeit nahe legen. Empirisch sind solche Thesen allerdings schwer zu überprüfen, denn Geheimnisse entziehen sich auch dem Forscherblick, solange sie bestehen. So bleibt es weitgehend bei Vermutungen und Hoffnungen, die zurück auf politische Ideen des 18. Jahrhunderts gehen und die zu einem zentralen demokratietheoretischen Postulat wurden, nämlich dem der vollständigen Transparenz von Verhältnissen und Vorgängen, die alle betreffen, also alle etwas angehen – eine attraktive Fiktion, die derzeit unter den Enthusiasten sozialer Netze wieder fröhliche Urstände feiert. Doch sie hat sich als Illusion erwiesen und ist wohl niemals zu verwirklichen. Außerdem handelt es sich damals wie heute um eine normative Gegenüberstellung, die Transparenz bevorzugt und Geheimhaltung diskreditiert und somit unterschlägt, Öffentlichkeit als normatives Konzept Immer, wenn Menschen zusammenkommen oder wenn sie sich mit Medien über Raum und Zeit hinweg verständigen, entsteht Öffentlichkeit. Doch bei all diesen Gelegenheiten wird auch immer vieles voreinander geheim gehalten. Dieser Befund scheint nur deshalb widersprüchlich zu sein, weil Öffentlichkeit und Geheimnis gewöhnlich als Gegensätze betrachtet werden, die sich wechselseitig ausschließen. So lautet eine verbreitete Hypothese: Je mehr Öffentlichkeit, desto weniger Geheimnisse – eine Annahme, die bereits hinter historischen Metaphern steckt, in denen vom finsteren Mittelalter und vom Licht der Aufklärung die Rede ist und die eine Entwicklung von notorischer Geheimniskräme- 4 m&z dass Geheimnisse durchaus wünschenswert und nützlich, ja lebensnotwendig sein können. Plausibler ist deshalb, URSACHE UÊ dass Geheimhaltung früher nicht häufiger, aber selbstverständlicher war, UÊ dass Geheimhaltung heute professioneller und globaler betrieben wird UÊ und dass Öffentlichkeit und Geheimnisse vielfältig miteinander verflochten sind und sich gegenseitig bedingen. 2/2014 ARGUMENT Geheimhaltung nicht wissen sollen Ignoranz nicht wissen wollen Inkompetenz nicht wissen können Tabuisierung nicht wissen dürfen TAB. 1: Ursachen und Gründe eingeschränkter Kommunikation Dementsprechend kann auch die Herstellung von Öffentlichkeit aus vielen Gründen scheitern: Es geschieht etwas und keiner sieht hin (Desinteresse), ein Zustand wird geleugnet (reflexiv geheim gehalten) oder Auskünfte darüber werden explizit verweigert (einfache Geheimhaltung), unter dem Siegel der Vertraulichkeit werden nur bestimmte Leute eingeweiht (Diskretion), ein Ereignis wird nur zum Teil bekannt gemacht (partielle Mitteilung) oder es wird offen, aber vergeblich darüber berichtet, weil dieses niemand zur Kenntnis nimmt (Ignoranz). Fasst man die genannten Möglichkeiten zusammen, ergibt sich folgendes Bild: Nichtöffentlichkeit als Normalität Eine Begleiterscheinung und Folge von Öffentlichkeit (gleichsam ihre Kehrseite) ist nämlich immer auch Nichtöffentlichkeit, denn jede Öffentlichkeit schließt de facto zugleich ein und aus, sei es thematisch, situativ oder sozial: Inklusion bedeutet Öffentlichkeit, Exklusion Nichtöffentlichkeit. Die jeweils verantwortlichen Kommunikationsbarrieren sind Ergebnisse unvermeidlicher oder aufgenötigter, unwillkürlicher oder gezielter Selektivität: Längst nicht alles ist für jeden zugänglich, man kann nicht überall dabei sein, Aufmerksamkeit ist knapp, jeder hat eigene Vorlieben, man kann, will oder darf nicht über alles reden was man weiß, man versteht nicht alles und manches Kommunikationsangebot wird abgelehnt, weil man sich nicht einmischen möchte, weil man sich nicht in der Lage sieht oder berechtigt glaubt, es anzunehmen, oder weil es unwichtig oder unglaubwürdig erscheint. So beruht jede Kommunikation auf Selektionen und Anschlussselektionen: Zuerst muss ich mich entscheiden, was ich wem wann und wo sage, und damit schließe ich schon die meisten Möglichkeiten aus; zweitens muss ich mich entscheiden, wie ich etwas sage, also welche Sprache, Kanäle und Medien ich benutze, und damit schließe ich wiederum zahlreiche Möglichkeiten aus; und drittens muss mein Adressat entscheiden, ob er mir zuhört und wie er mich versteht, ob er meine Mitteilung also ganz oder nur teilweise annimmt, und dieses hängt wiederum von seinen Motiven, Interessen, Fähigkeiten und vielem anderen ab. Scheitert ein Mitteilungsversuch, bleibt für andere der Inhalt ebenso verborgen wie alles, was ihnen nicht mitgeteilt wurde oder nicht mitgeteilt werden sollte. URSACHE GRUND Nichtteilnahme Abwesenheit Unaufmerksamkeit Desinteresse Geheimhaltung Auskunftsverweigerung vertrauliche Kommunikation Diskretion vergebliche Mitteilung Ignoranz TAB. 2: Ursachen und Gründe eingeschränkter Öffentlichkeit (Beispiele) Solche und andere Kommunikationsbarrieren sind an der Tagesordnung (vgl. Westerbarkey, 2013b, S. 30f; vgl. auch Badura, 1971): UÊ œÌˆÛ>̈œ˜>iÊ >ÀÀˆiÀi˜Ê ­ÜˆiÊ Ø`ˆ}ŽiˆÌÊ œ`iÀÊ Desinteresse) beeinträchtigen unsere Aufmerksamkeit, unsere Wahrnehmungen und unsere Kommunikationsbereitschaft. UÊ “œÌˆœ˜>iÊ >ÀÀˆiÀi˜Ê­â° °Ê˜}ÃÌʜ`iÀʘ̈«>thie) beruhen darauf, dass wir Unerfreuliches meiden oder andere nicht mögen. UÊ œ}˜ˆÌˆÛiÊ >ÀÀˆiÀi˜Ê ­˜Žœ“«iÌi˜âi˜®Ê Liiˆ˜trächtigen unsere Darstellungsmöglichkeiten und unser Verstehen (z.B. von Vorgängen oder Sprachen). UÊ -ˆÌÕ>̈ÛiÊ >ÀÀˆiÀi˜Ê ­â° °Ê 6iÀÃBՓ˜ˆÃÃiÊ œ`iÀÊ Folglich können nicht nur Geheimnisse Kommunikation verhindern, sondern auch Ignoranz, Inkompetenz und Tabus: 5 m&z 2/2014 Störungen) resultieren aus raumzeitlichen Entfernungen oder konkurrierenden Kommunikationsangeboten. UÊ -œâˆ>iÊ >ÀÀˆiÀi˜Ê ­ ˆV ÌâÕ}i ŸÀˆ}ŽiˆÌ®Ê i˜Ìstehen zwischen Angehörigen verschiedener Gruppen und Milieus und begünstigen Vorurteile und Diskriminierung. UÊ "À}>˜ˆÃ>̜ÀˆÃV iÊ >ÀÀˆiÀi˜ÊvØ Ài˜ÊâÕÀʘÌÀ>˜Ãparenz für Nichtmitglieder und Nichtexperten. UÊ /iV ˜ˆÃV iÊ >ÀÀˆiÀi˜Ê Liiˆ˜ÌÀBV ̈}i˜Ê `ˆiÊ Möglichkeit, bestimmte Medien zu nutzen. UÊ &Žœ˜œ“ˆÃV iÊ >ÀÀˆiÀi˜ÊLi}ؘÃ̈}i˜Êiˆ˜iÊ՘gleiche Verfügbarkeit von Medien. UÊ *œˆÌˆÃV iÊ >ÀÀˆiÀi˜ÊÀiÃՏ̈iÀi˜Ê>ÕÃÊ՘}iˆV iÀÊ Macht über Medienstrukturen und -inhalte. UÊ ,iV ̏ˆV iÊ >ÀÀˆiÀi˜ÊÈV iÀ˜ÊLiÃ̈““ÌiÊ,i`i‡]Ê Schweige- und Rezeptionsprivilegien und sollen z.B. den Staat oder die Jugend schützen. UÊ `iœœ}ˆÃV iÊ >ÀÀˆiÀi˜Ê LiÀÕ i˜Ê ۜÀÊ >i“Ê >ÕvÊ Weltanschauungen mit absolutem Wahrheitsanspruch. UÊ ՏÌÕÀiiÊ >ÀÀˆiÀi˜ÊÀiÃՏ̈iÀi˜ÊÃV ˆi~ˆV Ê>ÕÃÊ unterschiedlichen Werten, Normen und Gewohnheiten und erschweren eine interkulturelle Verständigung. auf Seiten der Adressaten, die gewöhnlich einen Großteil der täglichen Informationsangebote ignorieren müssen, wenn sie sich orientieren wollen. Da absichtliche Retention hüben und drüben zumeist schwer nachzuweisen ist, kann sie leicht abgestritten werden, falls sie nicht freimütig praktiziert wird. Wenn nämlich Geheimhaltung reflexiv geschieht, d.h. wenn jemand so tut oder vorgibt, er habe kein Geheimnis, dann ist es für Nichteingeweihte kaum möglich, einen Unterschied zu normalen Selektionsergebnissen zu erkennen. Eine vertrauliche Mitteilung ist wiederum eine Kombination von Mitteilung und Geheimhaltung, denn der Geheimnisträger erwartet von den durch ihn Eingeweihten Diskretion, also die Wahrung des nunmehr gemeinsamen Geheimnisses. Ein Verstoß gegen die erforderliche „Arkandisziplin“ ist ein schwerwiegender Vertrauensbruch und kann mit sozialen Sanktionen wie Meidung oder Ausschluss bestraft werden, denn wer als Mitglied einer verschworenen Gemeinschaft andere Mitglieder „verpfeift“ (whistleblower) oder sensible Organisationsinterna ausplaudert, gilt als illoyaler Nestbeschmutzer und Verräter (ähnlich wie der, der über Freunde oder gute Bekannte hinter deren Rücken „klatscht“, obwohl Klatsch zugleich zu den beliebtesten Alltagsgesprächen zählt; vgl. Westerbarkey, 2013a, S. 152f ). Dieses Risiko gehen übrigens ständig Doppelagenten ein, wenn keiner ihrer Auftraggeber weiß, dass sie auch für die andere Partei spionieren. Gruppengeheimnisse konstituieren also diskrete Öffentlichkeiten, die gleichsam hinter den Kulissen kommunizieren und Ausgeschlossene neugierig machen, aber auch ängstigen können, weil sie sich der Möglichkeit allgemeiner Kontrolle entziehen. Damit rivalisieren sie prinzipiell mit den Kontrollansprüchen politisch Mächtiger, die Geheimhaltungsprivilegien für sich reklamieren und diese gern damit begründen, das „Gemeinwohl“ zu vertreten. Geheimnisse: Definition und Varianten Aus kommunikationswissenschaftlicher Sicht beruht ein Geheimnis auf der Weigerung, anderen etwas Bestimmtes mitzuteilen, sei es situativ oder dauerhaft. Es ist also nicht einfach etwas, was niemand (oder noch niemand) weiß, also kein Rätsel oder Mysterium, sondern wenigstens einer weiß darum und verbirgt es vor wenigstens einem anderen. Aber auch kollektive Diskretion schützt Geheimnisse, z.B. familiäre: Man plaudert nicht „aus dem Nähkästchen“ und verrät sich nicht gegenseitig, sondern redet nur mit Insidern über Interna. Dagegen zählen jene „letzten Geheimnisse des Universums“ oder das „Geheimnis des Glaubens“ nicht dazu, sondern allenfalls dann, wenn es jemand gibt, der meint, sie entschlüsselt zu haben, dieses aber niemandem verrät. Geheimhaltung lässt sich deshalb nur auf der Ebene der Absichten identifizieren, denn im Ergebnis ist sie von anderen Auswahlprozessen kaum zu unterscheiden. Deshalb empfiehlt es sich, gezielte Geheimnisse von funktionalen zu unterscheiden: Im ersten Fall sollen bestimmte Dinge nicht bekannt werden, im zweiten Fall fallen sie alltäglichen Selektionsmechanismen zum Opfer, auch Ambivalenzen gezielter Geheimhaltung Wie jeder weiß, gibt es dunkle und süße Geheimnisse, erschreckende und verlockende; es gibt Geheimnisse zwischen Gegnern, Konkurrenten und Freunden, gesetzlich geschützte Staats- und Berufsgeheimnisse, esoterische Geheimbünde und Geheimtraining im Profisport, und es gibt literarische Pseudogeheimnisse, die für Spannung sorgen, aber eigentlich keine Geheimnisse 6 m&z sind, weil sie am Schluss der Geschichte gelüftet werden. Geheimnisse sind allgegenwärtig, ihre Vielfalt ist enorm und sie können entweder sehr attraktiv sein, weil sie ungeahnte Möglichkeiten suggerieren, oder sie können arge Befürchtungen beflügeln (vgl. Westerbarkey, 1991, S. 113; Westerbarkey, 1998, S. 100). Gründe, etwas geheim zu halten, gibt es viele, und ihre Bewertung ist gewöhnlich ambivalent: Man will sich oder andere schützen, man ist gehemmt oder man schämt sich, man will ungestört etwas Erfreuliches, Nützliches oder Schlimmes vorbereiten, man will eine Beziehung nicht aufs Spiel setzen, man beansprucht Exklusivität oder Macht, man misstraut anderen, man möchte ein Spiel spannend machen etc. Auch im Ergebnis sind Geheimnisse ambivalent: Sie behindern Kommunikation ebenso wie sie sie fördern, nämlich zum einen durch Ausschluss von Themen und Teilnehmern und zum andern durch die Provokation von Neugier oder Gerüchten, Einweihung oder Verrat; sie können uns beruhigen oder beunruhigen, faszinieren oder ängstigen, nützen oder schaden. Eigene Geheimnisse geben uns Sicherheit, während fremde uns verunsichern, und selbst für Machthaber sind sie zugleich verlockend und riskant, schaffen sie doch Vertrauen und Misstrauen, Gefolgschaft und Gegner, Partner und Konkurrenten, je nachdem, welche Interessen im Spiel sind. Durch Öffentlichkeit aber werden Geheimnisse längst nicht immer liquidiert, denn das wäre für viele Geheimnisträger peinlich oder sogar gefährlich und für viele Geheimnishändler kontraproduktiv, weil Geheimniskrämerei ein sehr lukratives Geschäft sein kann, nicht zuletzt für die Medien. Deshalb tun viele so, als hätten sie nichts zu verbergen, und weiß man die Möglichkeiten strategischer Kommunikation optimal zu nutzen, kann man andere auf diese Weise planmäßig täuschen. 2/2014 den. Dabei hat man mehrere Optionen (vgl. Sievers, 1974, S. 33f u. S. 84ff ): UÊ >˜ÊŽ>˜˜ÊÈV ÊÛiÀÃÌii˜]Êâ° °Ê­1˜®Õv“iÀŽsamkeit oder (Des)Interesse vortäuschen, Freude oder Zustimmung simulieren oder verdeckte Absichten durch Normalverhalten tarnen, um zu vermeiden, dass andere misstrauisch werden. UÊ >˜ÊŽ>˜˜ÊØ}i˜]ÊÜ>Ãʏ>ÕÌÊiœÀ}Ê-ˆ““iÊØLrigens sehr sozialverträglich sein kann, denn er schreibt über die Lüge: „So oft sie auch ein Verhältnis zerstören mag – solange es bestand, war sie doch ein integratives Moment seiner Beschaffenheit.“ (Simmel, 1968, S. 262) UÊ >˜ÊŽ>˜˜Ê>Li˜Ži˜]Ê>ÃœÊ`>ÃÊ/ i“>ÊÜiV Ãi˜Ê oder viel reden, ohne aus der Schule zu plaudern (denn hinter vielen Worten kann man sich bekanntlich gut verstecken). UÊ >˜Ê Ž>˜˜Ê ÛiÀ܈ÀÀi˜]Ê ˜B“ˆV Ê ÃˆV Ê }iâˆiÌÊ mehrdeutig oder widersprüchlich äußern, etwa durch vielsagende Anspielungen. In bestimmten Situationen und von bestimmten Berufsgruppen wird Irreführung sogar als Recht oder Pflicht betrachtet, etwa in Notlagen oder von Ärzten; bezeichnenderweise spricht man dann wohlwollend von Notlügen, barmherzigen Lügen oder white lies. Permanente Täuschung ist allerdings riskant, denn sie provoziert irgendwann Argwohn und Kontrollversuche. Listiger und subtiler sind daher Beihilfen zur Selbsttäuschung, wie wir sie z.B. in der Werbung finden. So kritisierte schon der Kulturpessimist Adorno: „Nicht nur fallen die Menschen [...] auf Schwindel herein, wenn er ihnen sei’s noch so flüchtige Gratifikationen gewährt; sie wollen bereits einen Betrug, den sie selbst durchschauen [...].“ (Adorno, 1972, S. 351) Geheimhaltung durch strategische Kommunikation Die ambivalente Bewertung gezielter Geheimhaltung erleichtert übrigens solche Täuschungen und Selbsttäuschungen, denn schließlich weiß jeder, dass taktvolle Diskretion hilft, andere zu schützen, und vielleicht plant ja jemand nur eine freudige Überraschung. Strategische Kommunikation wird überall und alltäglich praktiziert. Um attraktiv und erfolgreich zu sein, tragen wir sozial akzeptierte Masken, hinter denen wir uns zumindest partiell verbergen (vgl. Goffman, 1976, S. 62ff ). Je größer der Aufwand und je professioneller ihr Einsatz ist, desto undurchsichtiger sind sie, und sollen sie die Illusion des Natürlichen ermöglichen, müssen sie möglichst „hinter den Kulissen“ präpariert wer- Geheimhaltung durch Macht Bereits Max Weber war davon überzeugt, dass die meisten sozialen Organisationen versuchen, durch Geheimhaltung von Kenntnissen und 7 m&z 2/2014 Absichten Macht zu gewinnen und zu erhalten, denn ihr struktureller Vorteil wachse durch geheime Praktiken, um Ressourcen zu sichern, Handlungsspielräume zu erweitern oder Profitchancen zu mehren (vgl. Weber, 1985, S. 548 u. 572f ). Und da Ressourcen normalerweise knapp sind, also fast immer Konkurrenz besteht, dürfte wohl jede auf dauerhaften Bestand eingerichtete Herrschaft ein Stück weit Geheimherrschaft sein, selbst in demokratischen Gesellschaften, wo politische und administrative Geheimnisse eigentlich im Widerspruch zu allgemeinen Ansprüchen auf Transparenz und Partizipation stehen. Unsere Sprache hat übrigens diese Kultur bewahrt: Noch immer finden Sitzungen im Kabinett statt, Chefs haben Sekretärinnen und reifere Herren Geheimrats-Ecken. Konflikten unter politischen Partnern ist keine Transparenz vorgesehen: „‚Differenzen‘ im Bereich der Geheimdienste sollten über ‚bewährte private Kanäle‘ und nicht über die Medien beigelegt werden, sagte der Sprecher des Weißen Hauses, Joah Earnest.“ (AFP, 12./13.07.2014) Zudem werden möglichst unbemerkt immer mehr und immer aufwändigere Überwachungssysteme installiert, die die Betreiber und deren Klienten mit wertvollen Daten versorgen, die sie für ihre politischen oder wirtschaftlichen Zwecke nutzen können, weil sie nicht allen zu Verfügung stehen. Und um die Akzeptanz solcher Praktiken zu erhöhen, werden Experten für vertrauensbildende Maßnahmen und Imagepflege engagiert. Die Chance, andere zu kontrollieren und sich selbst der Kontrolle anderer zu entziehen, wächst also mit eigenen Ressourcen und Möglichkeiten, denn wer sich teure Fassaden, Spitzel und Kommunikationsexperten leisten kann, ist zweifellos im Vorteil. Frei nach Lenins Motto „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“ kann Geheimhaltung mithin sehr mächtig machen. Nach neueren Ansätzen beruhen Macht und Einfluss darauf, dass Einzelne, Gruppen oder Organisationen für einander unterschiedlich berechenbar sind. Damit bestätigen sie Webers Annahme, dass exklusives Wissen und Intransparenz konstitutiv für Macht sind, also für die Chance, andere zu kontrollieren und sich selbst der Kontrolle anderer zu entziehen. Macht resultiert also aus relativer Unberechenbarkeit. Weiß A mehr von B als B von A, ist B für A berechenbarer als umgekehrt. Macht hat folglich derjenige, dem es gelingt, hinter fremde Kulissen zu blicken und andere daran zu hindern, die eigenen zu durchschauen. Im Vorteil ist der weniger Berechenbare besonders dann, wenn er über genug Mittel verfügt, um hohe Informationsbarrieren aufzubauen, denn dahinter kann er z.B. verbergen, über welche Ressourcen er verfügt und wozu er sie verwendet. Außerdem kann er seine Motive und Pläne geheim halten und seine Entscheidungen durch vorgeschobene Gründe rechtfertigen, etwa durch ein allgemeines Interesse. Weniger Mächtige haben dann drei Optionen: Sie können Machthabern vertrauen (was riskant ist, aber am wenigsten anstrengend), sie können vorsichtig sein (also ihre eigenen Arkana schützen) oder sie können versuchen, durch Kontrolle von Mächtigen eine Machtbalance zu herzustellen. Deshalb werden enorme Anstrengungen unternommen, Macht kommunikationsstrategisch zu sichern und zu steigern: So dienen kostspielige Spitzelorganisationen wie Geheimdienste dazu, eigene Daten zu schützen, fremde auszuspionieren und den Gegner durch Zuspielen falscher Angaben zu täuschen. Viele ihrer Agenten arbeiten anonym, sind nur Insidern bekannt und selbst bei Masken der Macht Doch oft steckt hinter hohen Fassaden weniger, als es scheint. Um dieses zu verbergen, maskieren Machthaber ihre Schwächen gern reflexiv, d.h. sie tun so, als hätten sie keine. Reflexive Geheimhaltung erfordert freilich eine perfekte Tarnung, wenn sie nicht durchschaut werden soll, ein dicht gesponnenes Netz von Masken, Lügen und Ablenkungsmanövern, das von den Akteuren besondere Fähigkeiten verlangt und genau kalkulierte Handlungsstrategien erfordert, also eine hohe Selbstdarstellungskompetenz. Hier schlägt die Stunde besagter Kommunikationsexperten, also von PR-Beratern, Spin-Doctors oder Ghostwriters, die man metaphorisch auch „Maskenbildner“ nennen könnte. Das beste Argument, eigenen Geheimbereichen gesellschaftliche Legitimität zu verschaffen, ist die Behauptung, gemeinnützige Interessen oder gar „den öffentlichen Willen“ zu vertreten. Wer Macht hat und behalten möchte, muss daher zwar egoistisch handeln, aber Altruismus bekunden, um gesellschaftlich akzeptiert zu werden, denn sonst gedeihen Missgunst, Neid und Angst. Deshalb riet bereits Niccolò Machiavelli seinen adeligen Klienten: 8 m&z „Ein Fürst braucht also nicht alle [...] Tugenden zu besitzen, muß aber im Rufe davon stehen. Ja, ich wage zu sagen, daß es sehr schädlich ist, sie zu besitzen und sie stets zu beachten; aber fromm, treu, menschlich, gottesfürchtig und ehrlich zu scheinen, ist nützlich.“ 2/2014 reicht hier von symbolischer Politik im Sinne pseudopolitischer Aktivitäten über „runde Tische“ und Scheinkontroversen (wie dem Kanzlerduell) bis hin zum Arrangement medialer Fakes. UÊ -ˆiʎŸ˜˜i˜Ê“ˆÌÊiˆ}i˜i˜ÊiÃV ˆV Ìi˜ÊGeschichte machen: So werden angebliche Ahnen gefeiert, Erfolgsmythen konstruiert oder Flecken auf der historischen Weste retuschiert (z.B. die Zwangsarbeit von Kriegsgefangenen). Dabei wird Sprache zum Vehikel von Definitionsmacht (etwa durch Bezeichnungen wie das Dritte Reich) oder zum Werkzeug von Verschleierung (etwa durch Phrasen und Euphemismen) oder gar von Propagandalügen (wie der Dolchstoßlegende oder der Machtergreifung). Und weiter: „Auch wird es einem Fürsten nie an guten Gründen fehlen, um seinen Wortbruch zu beschönigen. [....] Denn die Menschen sind so einfältig und gehorchen so sehr dem Eindruck des Augenblicks, daß der, welcher sie hintergeht, stets solche findet, die sich betrügen lassen.“ (Machiavelli [1513], 1990, S. 87f ) Masken dienen immer der Beeinflussung anderer, ob im Theater, im Karneval oder im Alltag von Kosmetik und Contenance, und alle Masken erfüllen die gleichen Funktionen, nämlich verbergen durch zeigen, ablenken durch hinlenken, anziehen oder abschrecken. Dabei handelt es sich oft ebenfalls um reflexive Geheimhaltung, denn auch die Tatsache, dass man sich maskiert, wird häufig maskiert, oder mit anderen Worten: Die Maske wird als authentisches Selbst präsentiert, als ungeschminkte Wahrheit. Machthaber können dieses Manöver wiederum in verschiedenen Varianten inszenieren (vgl. Westerbarkey, 2005, S. 219f ): Imagepflege: Ablenkung durch Hinlenkung In jeder großen Organisation gibt es inzwischen eine eigene Pressestelle oder eben eine Abteilung für PR bzw. Öffentlichkeitsarbeit. Schon das Wörtchen -arbeit verrät hier, dass Strategien planmäßiger Außendarstellung oft auf dem Prinzip organisierter Nicht-Öffentlichkeit beruhen, also auch auf Geheimhaltung. Öffentlichkeitsarbeit muss nämlich stets als Ergebnis eines besonderen Bemühens verstanden werden, idealisierende Entwürfe der eigenen Wirklichkeit zu verbreiten. Funktional lenken die darauf spezialisierten Mitarbeiter durch ein möglichst attraktives Angebot positiver Botschaften von problematischen Aspekten ihrer Organisation ab. Dabei sind sie nachweislich umso erfolgreicher, je professioneller ihr Material zur Veröffentlichung präpariert ist, je besser sie also die Arbeitsweisen von Journalisten kennen und verwenden. Ablenkung durch Hinlenkung umfasst alle imagefördernden Maßnahmen, mit denen Vertrauen in soziale Organisationen gebildet und erhalten werden soll. Dabei kommt es darauf an, durch wohldosierte Botschaften diejenigen Organisationsaspekte zu veröffentlichen, die am besten dem Legitimationsbedarf der Entscheidungsträger dienen, oder es gilt, Personen statt Programme zu präsentieren, also durch Beziehungsofferten den Blick auf Strukturen zu verstellen (vgl. Westerbarkey, 2008, S. 187f ). Der Clou liegt aber darin, Selbstdarstellungen in journalistische Fremddarstellungen zu transformieren, damit das Publikum nicht merkt, dass es sich um PR handelt. Daher wird PR-Material gewöhnlich so formuliert und gestaltet, dass es UÊ -ˆiÊ ŽŸ˜˜i˜Ê ˆ ÀiÊ >V ÌÊ insgesamt maskieren, um harmlos, arglos oder gar ahnungslos zu erscheinen, also den Umstand, dass sie über überlegene Ressourcen verfügen, über geheimes Wissen, über kundige Berater, über hilfreiche Verbindungen, Organisationen, Techniken und Datenbänke. UÊ -ˆiÊ ŽŸ˜˜i˜Ê ˜ÕÀÊ LiÃ̈““ÌiÊ Aspekte ihrer Ressourcen und Machtstrukturen, Ziele und Programme, Methoden und Operationen maskieren, sei es durch Schönfärberei oder Personalisierung. So etwa werden Geschäftsberichte und Bilanzen frisiert, Misserfolge in Erfolge umgedeutet und Sündenböcke für Fehler gesucht und gefeuert, und laufend werden verharmlosende Neologismen in Umlauf gebracht, etwa Qualitätspakt, Sparpaket, Wachstumsbeschleunigungsgesetz, kriegsähnliche Zustände, Kollateralschaden oder „alternativlos“. UÊ -ˆiÊ ŽŸ˜˜i˜Ê Events inszenieren lassen, um die allgemeine Aufmerksamkeit von problematischen Aspekten abzulenken. Das Spektrum 9 m&z 2/2014 die Medien möglichst unverändert übernehmen können. Allerdings wissen das die meisten Journalisten und selbst wenn sie es schätzen, ist das Machtverhältnis zwischen PR und Medien einigermaßen ausbalanciert, denn sie sind füreinander hinreichend berechenbar. Doch ihr Publikum bleibt „außen vor“ und die Wahrscheinlichkeit, von diesem ertappt zu werden, ist ziemlich gering, denn Nichteingeweihte können Nachrichten und Berichte nur selten als PR-Produkte entlarven, zumal Journalisten nicht verpflichtet sind, ihre Quellen und Informanten zu nennen. Funktional wird journalistische Arbeit durch zwei weitere maßgebliche Faktoren beeinflusst, nämlich durch den Input der Pressestellen und Agenturen und durch berufsspezifische Entscheidungsprogramme und Arbeitsroutinen (vgl. auch Baerns, 1985; Fröhlich, 1992). Diese Kontexte beeinflussen jede Stufe der Informationsauswahl und -darstellung und der ständige Selektionszwang sorgt dafür, dass journalistische Angebote keine umfassenden und vollständigen Darstellungen sein können. So muss der Nachrichtenjournalist täglich eine enorme Fülle von Ereignissen auf ein paar Dutzend Themen reduzieren, um das Weltgeschehen auf wenigen Seiten oder in wenigen Minuten unterzubringen, wobei das Meiste seiner Schere zum Opfer fällt. Das hat gewöhnlich nichts mit gezielter Geheimhaltung zu tun, könnte unter brisanten Umständen aber durchaus darauf beruhen. Dies nachzuweisen, würde dem Publikum jedoch schwerfallen, denn für Leser, Hörer oder Zuschauer ist es fast unmöglich, den jeweiligen Konstruktionsprozess von Nachrichten zu rekonstruieren und im Ergebnis einen Unterschied zwischen Selektionsroutine und Geheimhaltung zu erkennen. Die Macht der Journalisten resultiert folglich nicht nur daraus, dass sie bei ihrer Arbeit über leistungsstarke Verbreitungsmittel von Botschaften verfügen, sondern dass sie auch darüber entscheiden, was auf die Tagesordnung gesellschaftlicher Gespräche kommen soll und was nicht und dass die Richtigkeit und Relevanz dieser Entscheidungen vom Publikum kaum zu überprüfen ist: Entweder es vertraut ihnen, oder es kann sich nicht aktuell informieren. Auch Medienmacht macht Geheimnisse Die Erfinder demokratischer Gewaltenteilung hatten Medienmacht eigentlich nicht vorgesehen, doch schon bald sprach man von der Presse als „vierter Gewalt“ und nach wie vor attestieren viele den Medien ein hohes Wirkungspotenzial, sei es im positiven oder negativen Sinne. Jedenfalls dürfte klar sein, dass Medien nicht außerhalb gesellschaftlicher Macht operieren, sondern stets „Teil des Problems“ sind, doch dabei spielen unterschiedliche Akteure mit unterschiedlichen Motiven, Möglichkeiten und Funktionen verschiedene Rollen (vgl. Luhmann, 1996, S. 53ff ). Eigentümer und Geldgeber Macht über die Medien haben zunächst einmal die, denen sie gehören, und dann erst die sogenannten Medienmacher, also die Produzenten von Inhalten, und schließlich die Lieferanten, Financiers und Kontrolleure der Medien. Letztere sind nicht selten erfolgreich bemüht, Medieninhalte durch Informationsverweigerung (also Geheimhaltung), wirtschaftliche Sanktionsdrohungen oder politischen Druck zu steuern, und das nicht nur in totalitären Systemen (diverse Beispiele dazu finden sich bei Chomsky, 2003). Entertainer Die besseren Geschäfte machen Medien allerdings mit Entertainern, weil ihr Versprechen von Spektakel, Spaß und Spannung auf breitestes Interesse stößt. Dabei spielen sogenannte „Geheimnisse“ als Aufmerksamkeitsfänger eine große Rolle, denn sie machen das Publikum besonders neugierig, auch (oder gerade weil) sie am Ende der Geschichten und Inszenierungen meistens gelüftet werden; die Zahl der Schriften, Hörspiele und Filme, die irgendein Geheimnis im Titel tragen, ist jedenfalls legendär. Nun könnte man glauben, dass damit wenig Macht ausgeübt werden kann, weil das doch alles fiktiv oder belanglos sei, doch um erfolgreich zu sein und zu bleiben, lassen sich viele Medienstars und ihre Manager nicht nur ungern in die Kar- Journalisten Idealiter sollen Journalisten eine laufende öffentliche Selbstbeobachtung der Gesellschaft im Hinblick auf allgemein wichtige Angelegenheiten ermöglichen. Doch auch sie haben Gründe und sogar das Recht, ihr Wissen zumindest partiell und temporär geheim zu halten – sei es, um ihre Informanten zu schützen, um vertrauliches Hintergrundwissen zu wahren oder um exklusiv recherchiertes Material so lange zu verbergen, bis sich eine lukrative Publikationsmöglichkeit bietet. 10 m&z ten schauen, sondern die Unterhaltungsindustrie leistet mit ihren kurzweiligen Traumwelten auch laufend besagte „Beihilfe zur Selbsttäuschung“. Daher sind ihre Illusionsmaschinen trotz aller Banalität und Trivialität durchaus mächtig, denn wir lassen uns von ihnen allzu gern von den ernsten Problemen unserer Welt ablenken. 2/2014 drücklich deren Schutz und Politiker fordern schärfere Strafgesetze gegen die Verwendung vertraulicher Quellen. Folglich bleibt fraglich, ob im digitalen Zeitalter per saldo mehr Geheimnisse gelüftet werden als zuvor, es sei denn, man rechnet all die Banalitäten hinzu, mit denen sich zahlreiche Zeitgenossen laufend im Netz prostituieren. Digitale Netze sind freilich eine Goldgrube für Datensammler und -händler aller Art, wobei oft unklar ist, wer dahinter steckt und in wessen Interesse es geschieht. Politiker verweisen hier gern auf die Aufgabe des Staates, seine Bürger vorsorglich zu schützen oder Verdächtige aufzuspüren, doch wer oder was schützt deren berechtigten Anspruch auf eine unversehrte Privatsphäre, wenn sie nicht einmal wissen, wer sie wann beobachtet und wozu ihre Daten wem dienen? Man muss kein Paranoiker sein, um die alltägliche (und z.T. sehr profitable) Beobachtung vieler durch wenige infrage zu stellen, zumal sie für die Beobachteten höchst intransparent ist. Wie bei einem Stadtbummel muss zwar jeder, der ein allgemein zugängliches Netz nutzt, damit rechnen, verdeckt beobachtet werden zu können, doch hinterlässt er nun erheblich mehr Spuren, die ihm im Zweifelsfall zum Verhängnis werden könnten. Doch weil das inzwischen jeder wissen kann, sollte er Geheimnisse, deren Schutz persönlich sehr wichtig ist, eben nicht digital zugänglich machen. Trotzdem wird im Internet pausen- und sorglos gemailt, geskypet, gebloggt, gechattet und getwittert, auch wenn das, was hier gezwitschert wird, gewöhnlich genau so viel oder so wenig mit dem Verrat von Geheimnissen zu tun hat wie das tägliche Schwätzchen am Gartenzaun. Und selbst wenn verschärft geklatscht wird, ist es sehr fraglich, ob dabei echte Geheimnisse gelüftet oder nur Gerüchte kolportiert werden. So behält die alte Fabel vom Hasen und Igel zwar auch online ihre Gültigkeit, denn der Wettlauf zwischen Diskretion und Investigation, zwischen Geheimhaltung und Veröffentlichung geht munter weiter. Doch geschieht dieses unter zunehmend bedenklichen Bedingungen, weil die Alltagsregel „Je dichter die Masken umso zudringlicher die Beobachter (und umgekehrt)“ immer mehr durch aufwändige technische Möglichkeiten außer Kraft gesetzt wird, die sich vor allem diejenigen zu Nutze machen, die genügend Macht und Geld haben. Werbeleute Schließlich zu den Werbeleuten, also zu einer Branche, die uns unentwegt und unverhohlen gezielt zu beeinflussen trachtet. Dabei blendet sie Negatives prinzipiell aus, bedient sich psychologisch fundierter Überredungsstrategien und nutzt (ähnlich wie die Unterhaltungsindustrie) „Geheimnisse“ gern als Aufmerksamkeitsfänger und Glücksversprechen, das angeblich durch den Erwerb der damit etikettierten Produkte und Dienstleistungen eingelöst wird. Die Macht der Werbung beruht letztlich darauf, dass Werbende ziemlich genau wissen, was wir wünschen, wir aber ihre Strategien und Tricks nicht hinreichend durchschauen, sondern sogar in Kauf nehmen, ein bisschen belogen zu werden. Wenn Werbung sich freilich nicht als solche zu erkennen gibt (wie z.B. beim Product Placement), operiert sie manipulativ, nämlich im Modus gezielter Täuschung und reflexiver Geheimhaltung. Neue Medien – alte Geheimnisse Wie es scheint, zerfällt die sogenannte „Informationsgesellschaft“ allmählich in unzählige Wissenssegmente mit wachsenden Unwissenheitshorizonten. Dank digitaler Medien prozessiert das Wissen innerhalb solcher Fragmente immer zuverlässiger und sicherer, zwischen den Fragmenten jedoch immer zufälliger und ungesicherter (vgl. Donk & Westerbarkey, 2009, S. 28ff ). Die konventionellen Massenmedien klinken sich zwar in dieses Netz ein, doch nutzen sie es primär dazu, ihre Publika durch Serviceangebote zu binden, und weniger investigativ zur Aufdeckung von Geheimnissen, denn dazu enthält es zu viele unseriöse und leichtfertige Quellen. Zwar könnten die Enthüllungen von Wikileaks darauf schließen lassen, dass Online-Kommunikation besonders geeignet ist, Geheimnisse zu liquidieren, doch schaffen solche Enthüllungen auch neue Konflikte und Kommunikationsbarrieren: Informanten werden öffentlich als Verräter angeprangert, Journalisten reklamieren nach- 11 m&z 2/2014 Bibliographie: Adorno, T. W. (1972). Résumé über Kulturindustrie [1967]. In: Prokop, D. (Hg.), Massenkommunikationsforschung. Konzerne, Macher, Kontrolleure. Bd. 1. Frankfurt am Main, S. 347-353. AFP (12./13.07.2014). US-Regierung verärgert über Berlin. In: Neue Westfälische, S. 1. Badura, B. (1971). Sprachbarrieren. Zur Soziologie der Kommunikation. Stuttgart-Bad Cannstatt. Baerns, B. (1985). Öffentlichkeitsarbeit oder Journalismus? Zum Einfluß im Mediensystem. Köln. Chomsky, N. (2003). Media Control. Wie die Medien uns manipulieren. Hamburg & Wien. Donk, A. & Westerbarkey, J. (2009). Politische Öffentlichkeit in der Mediengesellschaft: Fragmentierung, Desintegration und Depolitisierung. In: Bisky, L., Kriese, K. & Scheele, J. (Hg.), Medien – Macht – Demokratie. Berlin, S. 18-35. Fröhlich, R. (1992). Qualitativer Einfluß von Pressearbeit auf die Berichterstattung: Die »geheime Verführung« der Presse? In: Publizistik, 37 (1), S. 37-49. Goffman, E. (1976). Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag. München. Luhmann, N. (1996). Die Realität der Massenmedien. Opladen. Machiavelli, N. (1990). Der Fürst. (Il Principe [1513]) Frankfurt am Main. Sievers, B. (1974). Geheimnis und Geheimhaltung in sozialen Systemen. Opladen. Simmel, G. (1968). Das Geheimnis und die geheime Gesellschaft. In: Simmel, G., Soziologie. 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Das Geheimnis. Die Faszination des Verborgenen. Leipzig. Westerbarkey W. (Hg.) (2010). EndZeitKommunikation. Diskurse der Temporalität. Berlin. 12 m&z 2/2014 Geheim, verdrängt, unbekannt Lücken von Öffentlichkeit: Worüber Medien gern schweigen – und warum sie das tun Horst Pöttker TU Dortmund Abstract Das Geheimnis wird bereits von Georg Simmel 1908 als ethisch und funktional ambivalent gedeutet: Einerseits unentbehrlich für soziale Beziehungen und kulturelle Entwicklung, steht es andererseits individueller Selbstbestimmung und demokratischer Selbstregulierung von Gesellschaften entgegen. Diese zweite, problematische Seite des verborgen Bleibenden wird aus der Perspektive des Journalistenberufs und der ihn unterstützenden Journalistik analysiert. Zentrale Gesichtspunkte sind die Aufgabe, zutreffend und umfassend Öffentlichkeit herzustellen, und die journalistische Grundpflicht zum Publizieren. Aus dieser Perspektive werden sieben Gründe für Lücken von Öffentlichkeit analysiert: Druck von außen (z. B. Zensur), kulturelle Tabus, professionelle Routinen (z. B. Nachrichtenfaktoren), erzieherisches Selbstverständnis, Verstopfung von Kommunikationskanälen mit „junk news“ und die Selbstgenese des (Ver-)Schweigens. Am Ende werden Rechercheförderung und Initiativen, die auf medial vernachlässigte Themen hinweisen, als Möglichkeiten erwogen, um Lücken von Öffentlichkeit zu schließen. „Spezielles Wissen, das innerhalb eines bestimmten Personenkreises oder einer bestimmten Organisation oder Institution verbleiben soll (Amts-, Beicht-, Berufs-, Militär-, Postgeheimnis); auch Phänomen, das nicht erklärbar ist.“ (wissen.de) darf ein G. nicht ungerecht ausforschen. Wer es tut, vergreift sich an einer fremden Sache u. verletzt dadurch die (Verkehrs-)Gerechtigkeit. Auch die Klugheit fordert, daß man sich nicht zuviel mit den G.sen anderer belastet. (Hörmann, 1976) So definiert das Online-Lexikon wissen.de den Begriff Geheimnis. Noch bestimmter drückt es Karl Hörmann im Lexikon der christlichen Moral aus: Im theologischen Kontext findet sich aber auch noch eine andere Nebenbedeutung: „Dieses Wort beschreibt eine verborgene oder geheime Sache, die nur dem Urheber bekannt ist. In der Schrift steht es im Gegensatz zu der Offenbarung oder dem öffentlichen Handeln Gottes“ (www.bibelkommentare.de) „G. (secretum) nennt man eine verborgene od. zu verbergende Sache od. ein solches Wissen (Erfindung od. Tatsache). I. Das G. eines Menschen (des G.herrn) ist von seinen Mitmenschen zu achten. 1. Das Recht des Menschen darauf, daß sein G. gewahrt werde, gründet in der Bedeutung der Wahrung für sein Bestehen in der Gesellschaft u. für das Gemeinwohl. Eindringlich schildert die Hl. Schrift die nachteiligen Folgen des Verrates von G.sen für das Verhältnis der Menschen zueinander (Sir 27,16-21). 2. Die Pflicht der Achtung vor dem Recht des Menschen auf sein G. schließt in sich: a) Man 1. Perspektive: die journalistische Aufgabe Öffentlichkeit Am Begriff des Geheimnisses haftet die Vorstellung von Legitimität. Wer ein Geheimnis hütet, hat dafür Gründe, die oft auch für andere Menschen akzeptabel, in aller Regel jedenfalls nachvollziehbar, respektive verstehbar sind.1 Über die Dass Verstehen von Handlung(sweis)en nicht Gutheißen derselben bedeutet, sollte seit Max Weber in den Sozialwissenschaften selbstverständlich sein (vgl. Webers Schlüsseltext zu Erkenntnisinteresse und Methodologie der von ihm konzipierten „verstehenden Soziologie“ in Weber, 1966). 1 13 m&z 2/2014 Unantastbarkeit von Post- oder Beichtgeheimnis herrscht wohl Konsens, aber auch im Privaten lassen sich Beispiele für die Akzeptanz von Geheimnissen finden: So stößt die Praxis, Weihnachtsgeschenke zu verstecken, selbst bei neugierigen Kindern letztlich auf Zustimmung. Dass Journalisten verdeckt recherchieren, wenn es um anders nicht zu beschaffende Informationen von besonderem öffentlichem Interesse geht, erklärt die Berufsethik ausdrücklich für erlaubt.2 Wenn der Geheimdienst unseres Landes im Verborgenen nach Gefährdungen fahndet, finden wir das um unserer Sicherheit willen im Allgemeinen in Ordnung. Zweifel beziehen sich allenfalls darauf, dass er sich dabei in den Besitz unserer eigenen legitimen Geheimnisse bringt.3 Diese Konnotation von Legitimität oder Funktionalität des Geheimnis-Begriffs ins Zentrum der Analyse zu rücken ist fraglos eine lohnende kommunikationswissenschaftliche Aufgabe, der sich dieses Themenheft von medien & zeit u. a. widmet. Georg Simmel hat ihr sogar kulturhistorischen Glanz verliehen. Geheimhaltung für Andere zwar nachvollziehbar, aber eben nicht akzeptabel ist. Wenn Räuber ihre Beute in geheimen Verstecken deponieren, Korruption oder Drogenhandel sich im Verborgenen vollziehen und Diktatoren ihre Widersacher in dunklen Verliesen foltern lassen, verstehen wir zwar, warum sie das im Verborgenen tun, aber es herrscht Einigkeit in der Ablehnung solcher finsteren Machenschaften. Gerade im Wissen über diese gesellschaftliche Reaktion werden sie ja im Schutz des Geheimen verübt.4 Eine weitere Nebenbedeutung ist klarer. Man kann auch von sich aus etwas nicht wissen, im Unbekannten lassen, nicht wahrhaben wollen. Im Falle dieses Vor-sich-selbst-Verbergens verbietet es sich, von Geheimnis zu sprechen, setzt der Begriff doch eine Trennung von Subjekt und Objekt des Verbergens voraus. Stattdessen bietet sich der Begriff der Verdrängung an. Eine normative Ambivalenz gegenüber dem Phänomen zeigt sich freilich auch hier: Wir akzeptieren, dass Verdrängung notwendig ist, um den Alltag bestehen zu können. Man kann nicht jeden Augenblick an Auschwitz denken, so wünschbar das wäre, um die Opfer nicht zu vergessen und Ähnliches in Zukunft auszuschließen. Wir lehnen Verdrängung aber auch ab, wenn sie dazu dient, eigene, individuell oder kulturell bedingte Schuld zu leugnen und auf andere Individuen oder Kulturen zu projizieren. „Die Absicht des Verbergens nimmt eine ganz andre Intensität an, sobald ihr die Absicht der Entschleierung gegenübersteht. Dann entsteht jenes tendenziöse Verstecken und Maskieren, jene sozusagen aggressive Defensive gegen den Dritten, die man erst eigentlich als Geheimnis bezeichnet. Das Geheimnis in diesem Sinne, das durch negative oder positive Mittel getragene Verbergen von Wirklichkeiten ist eine der größten Errungenschaften der Menschheit; gegenüber dem kindischen Zustand, in dem jede Vorstellung sofort ausgesprochen wird, jedes Unternehmen allen Blicken zugänglich ist, wird durch das Geheimnis eine ungeheure Erweiterung des Lebens erreicht.“ (Simmel, 1958, S. 272) Schließlich: Nicht alles Dunkle, Unerkannte, Nicht-Thematisierte ist geheim. Denn eine weitere Nebenbedeutung des Begriffs vom Geheimen und Verborgenen (abgeleitet vom transitiven Verb verbergen) impliziert ein mehr oder weniger aktives Subjekt. Dieses hat am Geheimhalten bzw. Verbergen Interesse (weshalb wir es verstehen können) und trägt dafür Verantwortung. Darüber hinaus gibt es auch Probleme, die nicht deshalb unbekannt sind, weil sie absichtlich geheim gehalten werden, sondern weil sie z. B. zu entfernt, zu kompliziert oder zu langweilig sind um Interesse zu finden. In manchen Fällen, z. B. bei einem Desinteresse an den Privatangelegenheiten Daneben gibt es allerdings – nicht nur aus theologischer Sicht – noch eine andere Nebenbedeutung, die z. B. das Kompositum Geheimniskrämerei auf harmlose Weise akzentuiert. Sie wird durch Beispiele anschaulich, bei denen die zu den Identitäten von Kriminellen, die US-Netzwerke angriffen.“ Dagegen der kritische: „Neun von zehn Menschen, deren Kommunikation die NSA überwacht, sind unverdächtig: Laut Washington Post werden dennoch intimste Details über ihr Leben gespeichert. (...) Sexbeichten, Fotos von Frauen, die in Unterwäsche posieren, ärztliche Unterlagen, Babyfotos – all das hat die NSA im Rahmen ihrer Überwachung von Kommunikationsinhalten (...) abgefangen und gespeichert.“ (Beuth, 2014). 4 Es ist wohl auch diese normative Ambivalenz, die – neben der Hauptbedeutung des Verborgenen – zum Numinosen, „Geheimnisvollen“ des Begriffs vom Geheimnis beiträgt. In Richtlinie „4.1 – Grundsätze der Recherchen“ der Publizistischen Grundsätze (Pressekodex) des Deutschen Presserats heißt es: „Verdeckte Recherche ist im Einzelfall gerechtfertigt, wenn damit Informationen von besonderem öffentlichen Interesse beschafft werden, die auf andere Weise nicht zugänglich sind.“ 3 In den öffentlichen Äußerungen zur NSA-Affäre gibt es meistens einen affirmativen und einen kritischen Tenor nebeneinander. Der affirmative lautet, es gebe in dem von der NSA gesammelten Material „Dokumente, die aufschlussreiche geheimdienstliche Erkenntnisse bereithielten: Enthüllungen über ein geheimes Atomprojekt im Ausland etwa, Informationen über das doppelte Spiel eines vermeintlichen Verbündeten sowie 2 14 m&z anderer, erscheint uns das berechtigt, ja geboten. Bei anderem, z. B. einer Gleichgültigkeit gegenüber humanitären Katastrophen in anderen Weltgegenden, trifft diese Haltung auf Unbehagen und fordert Kritik heraus. Auch beim nicht intendierten Unbekannten herrscht also eine Ambivalenz von zuerkannter und bezweifelter Legitimität. Wo die Grenze zwischen legitim und illegitim, Zustimmung und Ablehnung gegenüber dem Unbekannten verläuft, ist von Epoche zu Epoche, von Kultur zu Kultur und von Beruf zu Beruf verschieden. 2/2014 gehinderten gesellschaftlichen Kommunikation, die wir Öffentlichkeit nennen (vgl. Habermas, 1962/1990; Schneider, 1966; Splichal, 2002; Pöttker, 2005; Peters, 2007; Gerhardt, 2012). Sie ermöglicht dem Einzelnen, Kenntnisse von Gegebenheiten zu erlangen, die jenseits seiner unmittelbaren Wahrnehmung liegen. Sie ist eine notwendige Bedingung dafür, dass moderne Gesellschaften gewahr werden, welche Probleme sie zu verarbeiten haben, damit sie keine zerstörerische Sprengkraft entwickeln. Die beiden Funktionen hängen zusammen, denn Information ist nötig für kundige Partizipation und kundige Partizipation ist nötig für soziale Selbstregulierung. Auch diese Idee hat Georg Simmel bereits 1908 in seinem Essay über das Geheimnis als Prinzip der Demokratie formuliert: Die folgenden Überlegungen gelten nicht nur dem Geheimgehaltenen, sondern auch dem – vor allem kulturell – Verdrängten und nicht zuletzt dem nicht intendierten, nur aus seinen Bedingungen erklärbaren Un„Alle Demokratie wird bekannten. Sie wenden Komplexe Gesellschaften müsdie Publizität für den sich allerdings nicht den sen sich im Interesse ihrer Selbst- an sich wünschenswerten beiden Seiten möglicher Zustand halten, von der regulierungsfähigkeit darauf Beurteilungen zu, sonGrundvorstellung aus: dern nur dem Illegitimen, verlassen können, dass Journadaß jeder diejenigen ErDysfunktionalen, Verwerflistinnen und Journalisten ihre eignisse und Verhältnisse, lichen des Unbekannten. die ihn angehen, auch Öffentlichkeitsaufgabe erfüllen Grund dafür ist die hier kennen solle – da dies eingenommene Fachperwollen [...] und auch erfüllen die Bedingung davon ist, spektive der Journalistik daß er über sie mit zu bekönnen. und damit des Jourschließen hat; und jedes Mitwissen enthält auch nalistenberufs. Dessen schon die psychologische Anreizung, mittun zu konstitutive Aufgabe ist, die komplexe Welt der wollen.“ Moderne zutreffend, unerschrocken, fair und (Simmel, 1958, S. 277) umfassend transparent zu machen. Es gilt das Geheimgehaltene, Verdrängte und Unbekannte ans Letztlich steckt hinter dem Prinzip von ÖffentLicht zu bringen, wo nicht andere Gründe – z. B. lichkeit die Idee der Aufklärung, dass Missständer Schutz der Privatsphäre – das verbieten. Die de vor allem im Verborgenen gedeihen und das Journalistik nennt das die Öffentlichkeitsaufgabe Nützliche und Sinnvolle die Kenntnis der Allgedes Journalismus. Im Folgenden ist deshalb nicht meinheit nicht zu scheuen braucht. mehr vom Geheimen, Verdrängten und Unbekannten die Rede, sondern zusammenfassend von In modernen Gesellschaften muss Öffentlichkeit Lücken von Öffentlichkeit. hergestellt werden, denn fortgeschrittene DiffeZunächst sei aber die Öffentlichkeitsaufgabe des renzierung und Parzellierung bringt eine Vielzahl Journalistenberufs etwas näher erläutert. von sozio-kulturell gegebenen Kommunikations2. Öffentlichkeit und Journalismus barrieren mit sich, die es durch gezielte Informationsbeschaffung und weite Informationsverbreitung kommunikativ zu überbrücken gilt. Die In den hoch komplexen, stark parzellierten GeKulturleistung des Journalismus besteht darin, sellschaften der Moderne reicht das unmittelbar Arbeitstechniken zu entwickeln, die Recherche erworbene Erfahrungswissen nicht mehr aus, und Distribution optimieren, um die Aufgabe, damit Individuen ihr Leben auf der Höhe der Öffentlichkeit herzustellen, möglichst effektiv Kulturentwicklung gestalten und sich kundig zu erfüllen. Öffentlichkeit herstellen heißt: Für an sozialen Selbstregulierungsmechanismen wie optimale Unbeschränktheit der gesellschaftlichen Demokratie, Recht oder Markt beteiligen könKommunikation und optimale Transparenz der nen. Hier bedarf es daher einer Sphäre der ungesellschaftlichen Verhältnisse zu sorgen, in praxi: 15 m&z 2/2014 willen zunächst auch täten. So handeln Geheimdienste, Intriganten und andere an Machtlogiken Orientierte. Im journalistischen Öffentlichkeitdiskurs geht es dagegen um rasche Zugänglichkeit möglichst vieler richtiger und wichtiger Informationen für möglichst viele, idealiter alle Teilnehmenden der Kommunikationsgemeinschaft.6 einem möglichst großen und vielfältigen Publikum möglichst viele richtige und wichtige Informationen zu vermitteln. Komplexe Gesellschaften müssen sich im Interesse ihrer Selbstregulierungsfähigkeit darauf verlassen können, dass Journalistinnen und Journalisten ihre Öffentlichkeitsaufgabe erfüllen wollen, weil sie sich ihrer bewusst sind, und auch erfüllen können, weil die Bedingungen ihrer Arbeit – Ausbildung, Bezahlung, rechtliche und politische Rahmenbedingungen, technische und organisatorische Ressourcen usw. – dies gestatten. Das auf die Öffentlichkeitsaufgabe konzentrierte Wollen und Können wird auch journalistische Professionalität genannt (vgl. Pöttker, 2010). Eine weitere Konsequenz der Grundpflicht zum Publizieren ist, dass das Übergehen von Themen, das Schweigen und Verschweigen im Zweifel ein stärkerer Verstoß gegen das journalistische Berufsethos ist als das Veröffentlichen von Überflüssigem oder eo ipso Schädlichem. Die so genannte „Medienethik“ setzt aber meistens gerade an Letzterem an (vgl. Schicha & Brosda, 2010). Damit sind wir bei den Lücken von Öffentlichkeit angelangt. Im Folgenden soll anhand von Beispielen gezeigt werden, welche Gründe zu Öffentlichkeitslücken führen (können). Dabei zeichnet sich eine Typologie der Ursachen von zu schwacher Thematisierung in den Medien ab, wobei die journalistische Vernachlässigung eines relevanten Themas selbstverständlich mehrere der hier idealtypisch und ohne Anspruch auf Vollständigkeit unterschiedenen Gründe haben kann. Weil über die Relevanz von Informationen wiederum nur in einem Prozess unbeschränkter gesellschaftlicher Kommunikation entschieden werden kann, gibt es für Journalisten eine Grundpflicht zum Publizieren, pragmatisch: zu umfassender Berichterstattung. Sie entspricht in etwa der ärztlichen Grundpflicht zum Heilen. Das heißt: Ähnlich wie ein Arzt nicht konkret begründen muss, warum er einen Patienten versorgt, muss ein Journalist nicht konkret begründen können, warum er etwas veröffentlicht. Ärzte müssen jedoch unter Umständen, z. B. in der Triage-Situation oder bei erbetener passiver Sterbehilfe, unter Abwägung konkurrierender Pflichten und Rechte begründen können, warum sie Patienten nicht versorgen. Ähnlich müssen Journalisten unter Abwägung konkurrierender Gesichtspunkte begründen können, warum sie etwas nicht veröffentlichen. Denn es gibt ja andere Pflichten, die die professionelle Grundpflicht zum Publizieren begrenzen und im Einzelfall übertrumpfen können. Möglicherweise existieren Gründe, die zum Verzicht auf eine Veröffentlichung zwingen. Solche Gründe liegen nicht zuletzt im Bereich der Menschenrechte (Schutz der Privatsphäre) und der Moral (vgl. Pöttker, 2013b). 3. Zensur und andere äußere Barrieren Beim Thema Lücken von Öffentlichkeit hat man es meistens mit historischen Beispielen zu tun, lässt sich doch über aktuelle Probleme, die nicht öffentlich werden, eben weil sie unbekannt sind, wenig sagen. Deshalb ist man auf Rückblicke angewiesen. Rückblicke auf Fälle in denen das nicht öffentlich Gewordene letztendlich doch an den Tag gekommen ist. Wo sich aus der Grundpflicht zum Publizieren der Drang zum Aufdecken von Geheimnissen speist, darf es Journalisten nicht darum gehen, das Aufgedeckte danach selbst geheim zu halten,5 so gern sie das um der Exklusivität ihrer „Geschichten“ Im Ersten Weltkrieg wusste die deutsche Generalität spätestens im Sommer 1916, dass die Niederlage des Heeres unvermeidlich war und sich allenfalls hinauszögern ließ. Die Militärzensur sorgte jedoch dafür, dass die Bevölkerung davon nichts erfuhr (vgl. Koszyk, 2010). Diese Lücke von Öffentlichkeit hat nicht nur die Dolchstoßlegende möglich gemacht. Ihre Folgen reichen bis zur NSHerrschaft und ihren Menschheitsverbrechen. Es sei denn, Grundrechte und -regeln wie der Schutz der Privatsphäre oder das gesetzliche Verbot von Landesverrat stehen dem entgegen und werden durch das öffentliche Interesse am Aufgedeckten nicht übertrumpft. 6 Der Widerspruch zwischen Öffentlichkeitsgebot und Ex- klusivitätsinteresse ist einer der Reibungspunkte, an denen journalistische Professionalität und kommerzielles Kalkül sich trotz grundsätzlicher Übereinstimmungen zwischen publizistischer und ökonomischer Sphäre – z. B. dem gemeinsamem Interesse an großem Publikum – partiell widersprechen. 5 16 m&z 2/2014 gesichts des Abwanderns von Werbung ins Internet7 tendenziell ihre zentrale Bedeutung für die Finanzierung von Journalismus verliert, gibt es weitere Methoden um partikulare Wirtschaftsinteressen in Medien durchzusetzen. Dazu gehören verdeckte Lobby-Zirkel wie die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft in Deutschland oder PR-Kampagnen, die sich vornehmlich an Journalisten als Adressaten und Zwischenträger ihrer Botschaften wenden. Ziel ist es, sich deren Zugang zum Publikum und deren Glaubwürdigkeit zu borgen.8 Die alljährlich vom Project Censored veröffentlichte Liste mit 25 vom US-Journalismus vernachlässigten Themen macht deutlich, dass es hier vor allem um Lücken der Öffentlichkeit geht, die auf von außen einwirkende Einflüsse zurückgehen. Die ersten zwölf der Top-Themen des – mittlerweile historischen – Jahres 2011 waren: Sie ist ein klassisches Beispiel dafür, dass nicht nur das Berichtete, etwa über skandalöse Verfehlungen von Prominenten und Politikern, beträchtliche Folgen haben kann, sondern auch das verborgen Gebliebene und kulturell Verdrängte. Und sie zeigt die verheerenden Auswirkungen, die ein Versagen von Öffentlichkeit als Ressource von sozialer Selbstregulierung haben kann. Sie ist aber auch ein Beispiel für einen Grund des Mangels an Öffentlichkeit, auf den der Begriff der Geheimhaltung wegen der aktiven Rolle eines interessierten Subjekts noch einigermaßen zutrifft. An Zensur wird oft zuerst gedacht, wenn vom Problem versagender Selbstregulierung wegen mangelnder Transparenz die Rede ist. Die Väter und Mütter der deutschen Verfassung von 1949 haben sie deshalb grundsätzlich ausgeschlossen: „Eine Zensur findet nicht statt“, heißt es in Art. 5 GG. PROJECT CENSORED 2011 Zensur ist ein Faktor, der von außen, in diesem Fall von der politischen Exekutive, auf Medien und Journalismus einwirkt, um bestimmte, in der Regel für die gerade Herrschenden unbequeme, weil ihre Herrschaft delegitimierende Informationen aus der Öffentlichkeit fernzuhalten. Ein seit 1978 existierendes US-Projekt, das auf Lücken der Öffentlichkeit hinweist, nennt sich Project Censored. Der Name impliziert, dass Zensur der einzige Grund dafür sei, dass Journalistinnen und Journalisten bestimmte Themen nicht recherchieren und an den Tag bringen. Dabei setzt das von Sozialwissenschaftlern an der Sonoma State University betriebene Projekt selbst überwiegend an von außen auf Medien einwirkenden Faktoren an, die weniger mit politischen als mit Wirtschaftsinteressen zusammenhängen. Im Vordergrund steht das Interesse von Industrie-, Handels- und Dienstleistungskonzernen an ungefährdetem Gewinn. Bei Medien setzen Wirtschaftsunternehmen solche Interessen traditionell vor allem durch selektive Vergabe bzw. Entzug von Anzeigenaufträgen durch. Neben dieser Lenkungsmethode, die an- (www.projectcensored.org) 1. Global Plans to Replace the Dollar 2. US Department of Defense is the Worst Polluter on the Planet 3. Internet Privacy and Personal Access at Risk 4. ICE Operates Secret Detention and Courts 5. Blackwater (Xe): The Secret US War in Pakistan 6. Health Care Restrictions Cost Thousands of Lives in US 7. External Capitalist Forces Wreak Havoc in Africa 8. Massacre in Peruvian Amazon over US Free Trade Agreement 9. Human Rights Abuses Continue in Palestie 10. US Funds and Supports the Taliban 11. The H1N1 Swine Flu Pandemic: Manipulating Data to Enrich Drug Companies 12. Cuba Provided the Greatest Medical Aid to Haiti after the Earthquake An diesen Beispielen wird deutlich, dass sich eine Trennung von politischer Zensur und ökonomischer Lenkung zwecks vorbeugender Abschir- Dort können Anzeigen wegen der Zielgruppengenauigkeit des One-to-some-Kommunikations-Modus sowie der Gebräuchlichkeit von Suchmaschinen auch ohne einen redaktionellen Teil und die entsprechenden Kosten ihre Adressaten finden. 8 Zu den wichtigsten PR-Kompetenzen gehört daher das Wissen über journalistische Arbeitsweisen, vor allem die Kenntnis, worauf Journalistinnen und Journalisten ihre Aufmerksamkeit richten. Manche meinen deshalb, Journalistenausbildung auf wissenschaftlicher Grundlage, die sich am Leitbild distanzier- ter Professionalität orientiert, bereite auf eine PR-Tätigkeit sogar besser vor als viele der neuen PR-Studiengänge. Und ein Protagonist der Öffentlichkeitsarbeit wie Klaus Kocks vertritt die Ansicht, die PR-Branche müsse einen Teil ihrer beträchtlichen Ressourcen für Maßnahmen verwenden, die den in die Krise geratenen Journalismus erhalten helfen, weil ihr ohne ihn die Glaubwürdigkeit und damit das Publikum abhanden komme. Kocks benutzt dafür das Bild vom Parasiten, der an der Erhaltung der Wirtspflanze ein existentielles Interesse hat. 7 17 m&z 2/2014 mung der Öffentlichkeit gegen heikle Themen kaum aufrechterhalten lässt. Staat und Wirtschaft haben sich mittlerweile zum Konglomerat eines politisch-ökonomischen Komplexes verbunden. Rezipientinnen und Rezipienten, nicht nach Ungereimtheiten in der medialen Überlieferung von Informationen fragen. Dies fällt besonders leicht, wenn die ungereimte oder unvollständige Überlieferung mit vorherrschenden Weltbildern und Vorurteilen übereinstimmt. Das Bemühen, Pressefreiheit und Öffentlichkeit gegen Maßnahmen des politisch-ökonomischen Komplexes und andere von außen auf den JourDieser Aspekt berührt eine zweite Kategorie von nalismus einwirkende Beschränkungen zu verteidiGründen für die Vernachlässigung von Themen gen, schafft allerdings auch ein günstiges Klima für (-komplexen). Diese Gründe hängen ebenfalls Verschwörungstheorien. mit dem gesellschaftGerhard Wisnewski gibt lichen Kontext zusamJournalismus ist durchaus in Das andere Jahrbuch mit men, manifestieren sich der Lage, Missstände wirksam dem Untertitel „verheimaber nicht als Druck von licht, vertuscht, vergessen. außen, sondern wohnen aufzudecken und ÖffentlichWas (…) nicht in der Zeials kulturelle Selbstverkeit als Impuls für gesellschafttung stand“ heraus, das ständlichkeiten auch dem liche Selbstregulierung zu in Buchhandlungen und (Unter-)Bewusstsein von Kiosken an der Kasse liegt. Journalisten inne und schaffen. Hier wird insinuiert, Terkönnen deren professiororakte wie die Anschläge nelles Handeln prägen. vom 11. September 2001 oder die Massenmorde vom 22. Juli 2011 in Oslo und auf Utøya seien 4. Tabus und kulturelle auf Machenschaften von Geheimdiensten und Selbstverständlichkeiten Polizei zurückzuführen, um die vermeintlich vorgeschobenen Urheber dieser Attentate wie Anders Zunächst wieder ein Beispiel, das – auch wenn Behring Breivik samt ihrer bizarren Überzeues erst vor wenigen Jahren ins Licht der Öffentgungen verteufeln zu können. Dadurch würden lichkeit geraten ist – als historisch gelten kann. „Ideologien“ wie der Multikulturalismus in den Im Januar 2010 wurde ein Brief vom Rektor Rang der öffentlichen Meinung, gegen die sich des Berliner Canisius-Kollegs, Klaus Mertes kein Widerspruch zu artikulieren wage, erhoben SJ, bekannt. Darin entschuldigte sich der Jesu(vgl. Wisnewski, 2012, S. 217-237). it bei den betroffenen Jahrgängen wegen zahlreicher Fälle sexuellen Missbrauchs an Kindern Wisnewskis Unterstellung, solche Terrorakte und Jugendlichen in seiner Einrichtung. Damit würden von großen Organisationen geplant, bezweckte er nicht zuletzt, „dass das Schweium die kulturelle Hegemonie von Ideologien zu gen gebrochen wird“.10 Bekanntlich kam es in sichern, ist nicht nur abstrus. Sie ist für einen der Folge in den Medien zu einer Welle immer „Enthüllungsjournalisten“ (Umschlagtext) auch neuer Enthüllungen von Missbrauchsfällen. Anunprofessionell, weil sie nicht dem empirischen fangs im Rahmen der katholischen Kirche, dann Wahrheitsbegriff des modernen Journalismus auch von reformpädagogischen Einrichtungen folgt, sondern nur die Frage cui bono? gelten wie der Odenwald-Schule, weniger berichtet lässt. Sie verwendet damit ein Wahrheitskritewurde über den vermutlich häufigsten Tatort der rium, das die Angelsachsen common sense und „normalen“ Familie. Die Zahl der Zeitungs- und wir Deutsche und Österreicher in unserer NeiZeitschriftenartikel, Hörfunk- und Fernsehbeigung zu biologistischen Kategorien gesunden träge und journalistischen Online-Produkte zu Menschenverstand nennen.9 In einem allerdings dieser Problematik in den kommenden Wochen ist Wisnewski zuzustimmen: Manche Lücken und Monaten war Legion.11 der Öffentlichkeit bestehen nur, weil wir, die Zur Begründung der Unbrauchbarkeit dieses Wahrheitskriteriums im Journalismus vgl. Pöttker, 1998, S. 224f. 10 Abgerufen von http://www.welt.de/vermischtes/article 6014879/So-entschuldigt-sich-der-Rektor-fuer-den-Missbrauch.html; Zugriff am 01. 08. 2014. Solche plötzlich anschwellenden und dann wieder abebbenden Themen-Konjunkturen werden von der Kommunikations- und Medienforschung seit langem kritisch beobachtet (vgl. z. B. Otto, 2001). 9 11 18 m&z 2/2014 An diesem Beispiel zeigt sich, dass der Journalismus durchaus in der Lage ist, Missstände wirksam aufzudecken und Öffentlichkeit als Impuls für gesellschaftliche Selbstregulierung zu schaffen. Die katholische Kirche wie die Odenwald-Schule sehen sich seitdem zu Maßnahmen veranlasst, die über individuelle Schuldeingeständnisse hinausgehen. Sie nehmen die Verantwortung der Institutionen wahr, indem sie sowohl eine psychische Entschädigung der Opfer sichern als auch Maßnahmen setzen, um Wiederholungen zu verhindern. Gleichzeitig erhob sich aber auch seitens der Kirche eine Kritik an den Medien: Diese richtet sich vor allem darauf, dass die Darstellung von Missbrauchsfällen im katholischen Bereich quantitativ überproportional und qualitativ überdramatisiert sei. Im Fokus steht also einmal mehr das vermeintlich zu viele und verzerrte Öffentlichmachen.12 Auf die Idee, die Frage zu stellen, warum sich die beruflichen Öffentlichmacher erst so spät der Problematik angenommen haben, ist die Medienschelte der kirchlichen und auch der reformpädagogischen Einrichtungen13 nicht gekommen. Dabei liegen die Missbrauchsfälle doch bereits Jahrzehnte zurück. Um diese Missstände rechtzeitig zu enthüllen, wären nicht einmal investigative Recherchen notwendig gewesen. Einzelne Opfer, aber auch Verantwortliche von Institutionen wie Rektor Mertes haben früh versucht, Medien auf die Problematik des sexuellen Missbrauchs hinzuweisen. Bereits 1999 ist in der Frankfurter Rundschau auf Veranlassung betroffener ehemaliger Schüler der Odenwald-Schule sogar ein entsprechender Artikel des Autors Jörg Schindler erschienen (vgl. Schindler, 1999) – ohne journalistische Resonanz. Oft wird gefragt, warum ausgerechnet im Frühjahr 2010 die Welle der medialen Aufmerksamkeit hochgebrandet ist. Man kann die Frage auch umdrehen: Woran liegt es, dass die Medien solange geschwiegen haben, obwohl das Thema Missbrauch etliche Nachrichtenwertfaktoren – Schaden, Negativismus, Sexualität oder Elite-Institutionen – in Kombination erfüllt. Nicht nur der extrem konservative, dann bald von seinem Amt zurückgetretene Augsburger Bischof Walter Mixa hat sofort in einem Interview mit der Augsburger Allgemeinen gemeint: „Wir haben in den letzten Jahrzehnten gerade in den Medien eine zunehmende Sexualisierung der Öffentlichkeit erlebt, die auch abnorme sexuelle Neigungen eher fördert als begrenzt.“ (Abgerufen von http://www.welt.de/vermischtes/ article6423525/Bischof-Mixa-gibt-sexueller-RevolutionMitschuld.html; Zugriff am 02. 08. 2014). Auch der Regensburger Erzbischof Ludwig Müller, seit 2012 Chef der vatikanischen Glaubenskongregation, hat die Kirche bereits am Passionssonntag 2010 mit dem Rückenwind der üblichen Medienschelte gegen die Enthüllungen in Schutz zu nehmen versucht: „Zu Unrecht wird von interessierter Seite der Vorwurf erhoben, die Verantwortlichen für die Personalführung hätten ohne Rücksicht auf die Opfer systematisch diese Vergehen vertuscht. Dieser Desinformation, die mit bekannten Vorurteilen gegen die katholische Kirche agiert, trete ich als Bischof mit aller Entschiedenheit entgegen. Es ist meine Pflicht, den vielen katholischen Christen, die ihrer Kirche treu verbunden sind, Mut zu machen. In der Stunde der Bedrängnis sorgt sich jeder Hirte um die Schafe. Das Heulen der Wölfe schreckt mich nicht.“ Dieses Hirtenwort wurde vom katholischen Online-Dienst Christliches Forum als mutiger Schritt gegen das „unfaire Verhalten vieler Medien“, die angeblichen Exzesse einer „hysterischen Medienschlammschlacht“ und die „antikirchliche Jagdmeute“ gelobt. (Abgerufen von http://charismatismus.wordpress. com/2012/07/12/medienkritik-von-erzbischof-gerhard-lmuller-das-heulen-der-wolfe-schreckt-mich-nicht/; Zugriff am 01.08. 2014). 13 Ähnlich wie die zitierten Bischöfe meinte auch der Nestor der Reformpädagogik, Hartmut von Hentig, am Ende seiner öffentlichen Verteidigung gegen journalistische Behauptungen, er habe etwas vom notorischen Missbrauch an der Odenwaldschule gewusst oder sei daran beteiligt gewesen: „Die aufgeblähte pornografische Berichterstattung, die Schwammigkeit der Anschuldigungen (‚mindestens 8 Lehrer, mindestens 33 oder 100 oder 1000 Fälle’ – ohne Angabe, wem tatsächlich welche Art von Tat zugerechnet werden kann) und die arglistige anhaltende Verdächtigung meiner Person und meines Werkes beschädigen den deutschen Journalismus. Ich habe früh für eine gerichtliche Aufklärung der Fälle plädiert [...]: damit es nicht so hysterisch zugehe wie vor dem Tribunal der Medien.“ (von Hentig, 2014). Die Vermutung liegt sehr nahe, dass das lange Schweigen mit kulturellen Tabus zusammenhängt. Sexualität ist nicht nur ein bewährter, weil in der menschlichen Natur verankerter Aufmerksamkeitsfaktor für „soft news“, sondern auch ein in der abendländisch-christlichen Tradition tendenziell tabuisierter Lebensbereich. Über diesen spricht man offiziell nicht gern – inoffiziell zwar gern und oft, aber lieber verklausuliert. Noch in den 1950er Jahren wurden Schülerinnen und Schüler im Biologie-Unterricht anhand der Paarung entfernter Verwandter aus dem Tier- oder gar Pflanzenreich „aufgeklärt“. Beim Missbrauch kommt hinzu, dass es sich um eine auch rechtlich scharf geächtete Form von Sexualität handelt. Damit will – jedenfalls öffentlich – niemand etwas zu tun haben. Auch Journalistinnen und Journalisten wurde qua Primärsozialisation dieses Tabu so eingesenkt wie allen anderen Mitgliedern westlicher Gesellschaften. Die katholische Kirche und erst recht die Odenwald-Schule hätten kaum die Macht gehabt, dieses Thema durch äußeren Druck auf den Journalismus aus den Medien fernzuhalten. Aber das Tabu offen über Pädophilie zu reden und der Fratze dieser Realität ins Auge zu blicken, noch 12 19 m&z 2/2014 dazu im Zusammenhang mit angesehenen Institutionen wie der Kirche und den Reformschulen, hat hier über Jahrzehnte eine Lücke von Öffentlichkeit entstehen und andauern lassen. Dass sie 2010 endlich geschlossen werden konnte, mag auch damit zu tun haben, dass viele Täter mittlerweile ihr Leben oder jedenfalls ihren Einfluss auf ihre früheren Opfer verloren hatten. Der Hauptgrund ist aber wohl, dass das Tabu sich mit den abstoßenden Seiten der Sexualität zu befassen, infolge fortschreitender Enttabuisierungstendenzen in der Postmoderne an Geltung verloren hat. sollten selbstverständliche Überzeugungen bei sich selbst wie im Kollektiv infrage stellen. 5. Nachrichtenwertfaktoren und andere professionelle Routinen Die Initiative Nachrichtenaufklärung (INA) publiziert jährlich eine Top-Ten-Liste der in den Medien am meisten vernachlässigten Themen. Erstellt wird diese Liste von einer aus Journalisten und Kommunikationswissenschaftlern zusammengesetzten Jury. Das Thema, das bei der Gründung der INA im Jahre 1997 an der Spitze stand, war von der mittlerweile verstorbenen Kommunikationswissenschaftlerin Hertha Sturm vorgeschlagen worden: Im Zuge postmoderner Entwicklungen können allerdings an die Stelle traditioneller Tabus auch neue kollektive Überzeugungen, etwa im Bereich des ökologischen Verhaltens oder des Diskriminierungsschutzes,14 treten. Deren Wirksamkeit als öffentliche Kommunikationsbarrieren beruht darauf, dass kaum jemand ihnen zu widersprechen wagt. Elisabeth Noelle-Neumann hat diesen Mechanismus der Konformitätsbildung Die Schweigespirale (vgl. Noelle-Neumann, 1980) genannt. Diese kann fraglos real existierende Probleme der Aufmerksamkeit von Journalisten und damit der Öffentlichkeit entziehen. Dafür hat sich der Begriff der political correctness eingebürgert (vgl. Joffe, Maxeiner, Miersch & Broder, 2007), der aus professioneller journalistischer Sicht informelle Kommunikationsverbote meint, die es zu überwinden gilt. Unter der Oberfläche von political correctness, der Formulierungen verfallen, ist noch eine tiefere Schicht selbstverständlicher Überzeugungen und Tabus zu ahnen. Über diese lässt sich wenig sagen, eben weil sie selbstverständlich sind. Ob der feste Glaube an Demokratie, Menschenrechte und individuelle Selbstbestimmung als Begriffe, die die Diskurse der westlichen Gesellschaften grundieren, gegenüber bestimmten Realitäten und Problemen blind macht, werden erst spätere Kohorten sagen können. Schon heute ist aber sicher: Wenn kulturelle Tabus und kollektive Grundüberzeugungen Ursachen dafür sind, dass sich Lücken von produktiver Öffentlichkeit bilden oder fortbestehen, dann gehört es zur journalistischen Professionalität diese Tabus zu überwinden. Professionelle Öffentlichmacher „1. Die Demokratie der 3,8 Prozent. 3,8 % - dies ist der Anteil der Personen, die, bezogen auf die wahlberechtigte Gesamtbevölkerung der Bundesrepublik Deutschland, Mitglieder in politischen Parteien sind. Das bedeutet zum einen, dass die politischen Geschicke in unserem Land von einer Minderheit, die in Parlamenten und Regierungen vertreten ist, geleitet werden (was für repräsentative Demokratien ganz normal ist). Zum anderen rekrutieren sich jedoch aus diesem schmalen Personenreservoir nicht nur die Parlamente und Regierungsmannschaften, sondern auch die Inhaber von Leitungspositionen in nahezu allen Behörden (von Arbeitsämtern, Zollverwaltungen, Fachministerien bis zu Anstalten des öffentlichen Rechts).“15 Zu fragen woran es liegt, dass dieses Problem im öffentlichen Diskurs nach wie vor nicht präsent ist, führt ins Herz der journalistischen Professionalität. Die Routinen und paradoxerweise sogar die auf seine Aufgabe zugeschnittenen Arbeitstechniken des „Berufs zur Öffentlichkeit“ (vgl. Pöttker, 2010) können nämlich selbst zu Faktoren werden, die zur Vernachlässigung relevanter Themen in den Medien führen. Zur journalistischen Öffentlichkeitsaufgabe gehört nicht nur gründliche Recherche und richtige Darstellung relevanter Themen, sondern auch mit diesen Inhalten ein möglichst großes Publikum zu erreichen. Genau genommen ist Information kein Gegenstand, sondern ein kommunika- Angeblich zum Zweck des Diskriminierungsschutzes hat in Deutschland und anderen Ländern das grundsätzliche Verbot, die Zugehörigkeit von Straftätern zu „schutzwürdigen Minderheiten“ zu nennen, sogar in den Pressekodex Eingang gefunden.(vgl. Pöttker, 2013b, 2002). Im österreichischen Pressekodex gibt es ein ähnlich starres Formulierungsverbot nicht (vgl. auch Koszyk, 1992). 15 Abgerufen von http://www.derblindefleck.de/top-themen/ top-themen-1997/; Zugriff am 12. 08. 2014. 14 20 m&z tiver Vorgang. Journalistinnen und Journalisten antizipieren daher, was die Aufmerksamkeit des potentiellen Publikums auf sich zieht. Seit Walter Lippmanns Studie über Die öffentliche Meinung aus den 1920er Jahren (vgl. Lippmann, 1922, dt. Lippmann, 1990) wird systematisch darüber nachgedacht, nach welchen Kriterien das Publikum und infolgedessen Journalisten ihre Aufmerksamkeit zuteilen. Und seit den 1960er Jahren gibt es auch eine empirische Forschung zu diesen Nachrichtenwertfaktoren, die von dem Friedensforscher Johann Galtung in den 1960er Jahren forciert wurde. Ziel war es, Journalisten dafür zu sensibilisieren, dass sie ihre Berichterstattung zu sehr auf spektakuläre, aber wenig relevante Gegenstände richten (vgl. Galtung & Ruge, 1965). Lippmann identifizierte vier Nachrichtenwertfaktoren, nämlich Nähe (proximity), Prominenz (big names), Überraschung (oddity) und Konflikt (controversy). Winfried Schulz, der der deutschen Nachrichtenwertforschung in den 1970er Jahren Impulse gab, sortierte die Nachrichtenfaktoren nach sechs Dimensionen: Zeit (Dauer, Thematisierung); Nähe (räumliche, politische, kulturelle, existenzielle); Status (regionale und nationale Zentralität, persönlicher Einfluss, Prominenz); Dynamik (Überraschung, Komplexität); Valenz (Konflikt, Kriminalität, Schaden, Erfolg); Identifikation (Personalisierung, Ethnozentrismus) (vgl. Schulz, 1976). Je mehr dieser Faktoren ein Thema kombiniert, desto größer seine Chance, von Journalisten aufgegriffen und öffentlich gemacht zu werden. 2/2014 teimitgliedern in öffentlichen Ämtern wird seit jeher kritiklos hingenommen.16 Nicht zuletzt aus der routinierten Orientierung an den Nachrichtenwertfaktoren im journalistischen Alltag ist zu erklären, dass die Demokratie der 3,8 Prozent in den Medien kaum zum Thema gemacht wird, obwohl das Problem zweifellos eine engagierte öffentliche Auseinandersetzung verdiente.17 Professionalität kann also offenbar ein Grund sein, warum Journalistinnen und Journalisten ihre berufliche Aufgabe, unerschrocken und umfassend Öffentlichkeit herzustellen, nur unvollkommen erfüllen. Wenn man allerdings unter Professionalität eine konsequente Orientierung an der Öffentlichkeitsaufgabe versteht, dann umfasst sie die Pflicht, nicht nur Tabus und selbstverständliche Überzeugungen, sondern auch das journalistische „Handwerk“18 immer wieder infrage zu stellen. Selbstkritische Skepsis wird in der gegenwärtigen Krise des Journalismus (vgl. Barelt-Kircher et al, 2010; Pöttker, 2013a) möglicherweise dadurch beflügelt, dass der Beruf sich ohnehin grundlegend verändern muss. Ein Jahrhundert lang war die Nachrichtenfunktion sein Lebenselixier. Doch deren dominante Bedeutung verblasst (vgl. Stephens, 2014). Der Journalismus bekommt, das Tempo der Informationsvermittlung betreffend, in der digitalen Medienwelt zahlreiche und starke Konkurrenz. Er muss sich deshalb auf andere Funktionen besinnen. Zu denen gehört etwa auch das bisher nachrangig gewertete Orientierungsangebot für das Publikum. Damit sind das Durchleuchten von Verhältnissen und Informationen über partiell unverstandene Lebensbedingungen von Rezipientinnen und Rezipienten gemeint. Also mehr Wissenschafts- und Umweltberichterstattung, mehr Geschichtsjournalismus, mehr Berichte über Zivilprozesse und weniger Nachrichten über Urteile der Strafjustiz usw (vgl. Pöttker, 03.01.2012). Wenn sich die Fixierung auf Ereignisse lockert, werden Nachrichtenfaktoren im journalistischen Arbeitsalltag ohnehin an Bedeutung verlieren. Dass Nachrichtenfaktoren auch eine Kehrseite haben, liegt auf der Hand. Indem sie Aufmerksamkeit generieren, führen sie bei Themen, die nur wenige oder gar keine dieser Kriterien erfüllen, Unaufmerksamkeit herbei (vgl. Vock, 2007). Offenbar gehört die Demokratie der 3,8 Prozent zu diesen Themen. Da 96 Prozent der Bevölkerung keiner Partei angehören, ist für den größten Teil des Publikums Nähe nicht gegeben; auf prominente Personen lässt es sich schlecht beziehen. Von politischer Prominenz wird man kaum erwarten können, dass sie sich von den Parteien fernhält. Überraschung bietet das Thema nicht, es handelt sich um eine seit langem existierende Disproportionalität. Und Konflikt ist damit erst recht nicht verbunden, denn das Übergewicht von Par- Mit Orientierungsfunktion kann im Hinblick auf die Öffentlichkeitsaufgabe nicht der volkspädagogische Zeigefinger gemeint sein. Journalistinnen und Journalisten sind keine Erzieher. Ein solches Journalisten müssten Konflikte hier von sich aus hervorrufen, was nicht zum traditionellen Selbstbild des unbeteiligten Beobachters passt. 17 Dass hier auch äußerer Druck der Parteien eine Rolle spie- len kann, soll nicht ausgeschlossen werden. 18 Ein oft gebrauchter Begriff, der zu Missverständnissen einlädt: Journalismus ist mehr Kopf- als Handwerk – oder sollte es jedenfalls sein! 16 21 m&z 2/2014 auch seinem oft reklamierten Selbstverständnis nach darauf spezialisiert ist problematische Zustände transparent zu machen und die Allgemeinheit über Missstände und Gefahren zu informieren, damit die Probleme bearbeitet, die 6. Volkspädagogik und Gefahren abgewendet werden können – auch von Weltbildvermittlung dem durch die Öffentlichkeit dazu angehaltenen Staat? Hätte ein wachsamer Journalismus die öfWenngleich die betreffende Thematisierungslüfentliche Fahndung, die Bundesanwaltschaft und cke noch nicht beseitigt ist, zeigt auch das folBundeskriminalamt im Dezember 2011 starteten, gende Beispiel, dass wir sie und ihre Folgen erst nicht schon längst in Gang setzen müssen? Hätim Nachhinein erkennen. Dies ist geradezu tyte er nicht längst die ineffektive Kooperation von pisch für vernachlässigte Themen. Bundes- und Landesbehörden aufdecken und Gemeint ist die Existenz eines brutalen, u. a. zu die Reform der PolizeistSerienmorden an Mirukturen einfordern müsgranten bereiten rechtWenn Journalistinnen und Joursen?21 sterroristischen Unternalisten sich als Erzieher vergrunds in Deutschland, Die Teilblindheit des der durch ein politisches stehen und sich gemeinsam mit Journalismus gegenUmfeld von Neonazis beder (Kommunal-)Politik für das über Neonazismus und schützt und versorgt wird. Wohl ihrer Gemeinde oder ihrer Rechtsterrorismus hat Die Öffentlichkeit, aber nichts damit zu tun, dass auch die Geheimdienste Nation verantwortlich fühlen, die Journalistinnen und und die Kriminalpolizei können Lücken der ÖffentlichJournalisten selbst rechte haben davon erst durch keit entstehen. Affinitäten hätten. Abgedas zufällige Auffliegen sehen von einschlägigen der Zwickauer Terrorzelle Blättern wie der National-Zeitung oder der Jungen im November 2011 erfahren. Meistens werden Freiheit ist das Gegenteil der Fall, wie die Mainsolche Fehler – zutreffend – als Versagen der für zer Schule der Kommunikationswissenschaft seit Strafverfolgung und Verfassungsschutz zustänJahrzehnten nicht müde wird festzustellen (vgl. digen Staatsorgane betrachtet. Der Präsident Kepplinger, 1979; Donsbach, 1982). Aber gerades Bundesamts für Verfassungsschutz, Heinz de weil Journalisten eher linke oder links-liberale Fromm, hat im Juli 2012 eine „schwere Niepolitische Einstellungen haben, ergibt sich ein derlage der Sicherheitsbehörden“ eingeräumt.19 Problem im Hinblick auf einen professionellen Bundeskanzlerin Angela Merkel hat sich auf eiUmgang mit dem Thema Rechtsextremismus. ner öffentlichkeitswirksamen Trauerfeier für die Einerseits ist es angesichts der Geschichte ihres Mordopfer bei deren Angehörigen entschuldigt. Landes verständlich, wenn deutsche Journalisten sich auch in ihrem beruflichen Handeln mögAber geht die Ignoranz gegenüber dem Rechtslichst weit von den Menschheitsverbrechen des terrorismus und seinem sozio-politischen NährNS-Regimes distanzieren und durch ihre Berichtboden nicht auch auf ein Versagen jenes Berufs erstattung Neonazismus und Rechtsextremismus zurück, der laut Bundesverfassungsgericht,20 aber Selbstverständnis würde ebenfalls zu Lücken von Öffentlichkeit führen, wie ein weiteres Beispiel zeigt. Abgerufen von http://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2012/39747584_kw27_nsu_do/209000; Zugriff am 03. 08. 2014. 20 In seinem Urteil zur Spiegel-Affäre vom 5. 8. 1966 hat das BVG diese Aufgabe von Medien und Journalismus am Beispiel der Verteidigungspolitik festgehalten. Dem Interesse der militärischen Führung an Geheimhaltung sei gegenüberzustellen, so heißt es da, „das sich aus dem demokratischen Prinzip ergebende Anrecht der Öffentlichkeit an der Information und Diskussion der betreffenden Fakten; hierbei sind auch die möglichen heilsamen Folgen einer Veröffentlichung in Rechnung zu stellen. So kann etwa die Aufdeckung wesentlicher Schwächen der Verteidigungsbereitschaft trotz der zunächst damit verbundenen militärischen Nachteile für das Wohl der Bundesrepublik auf lange Sicht wichtiger sein als die Geheimhaltung.“ (Abgerufen von www.servat.unibe.ch/ dfr/bv020162.html; Zugriff am 03. 08. 2014). 21 In der medienkritischen Online-Publikation vocer ist am 01. 10. 2012 einer der wenigen Artikel zum Versagen des Journalismus in der NSU-Affäre erschienen (vgl. Fuchs, 2012). Im deutschsprachigen Blätterwald findet sich nur ein einziger, von der Autorin Miriam Bunjes am 13. 06. 2006 im damals noch existierenden NRW-Teil der tageszeitung (taz) veröffentlichter Bericht, der vor dem Auffliegen des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) im November 2011 immerhin über den von Angehörigen eines Opfers angesprochenen Verdacht informiert hat, die Mörder könnten aus der rechtsextremen Ecke kommen (vgl. http://www.taz.de/1/archiv/print-archiv/printressorts/digiartikel/?ressort=hi&dig=2 006%2F06%2F13%2Fa0023 &cHash=1e898a583d; Zugriff: 03. 08. 2014). 19 22 m&z bekämpfen wollen. Andererseits kann diese mehr am Einfluss auf das Publikum als am Herstellen von Transparenz orientierte und daher wenig professionelle Haltung auch dazu führen, dass dem Publikum Informationen über das Ausmaß des Rechtsextremismus und die typischen Denk- und Handlungsweisen von Neonazis vorenthalten werden. 2/2014 keit, auch gegenüber dem was der Staat hier zu leisten hätte. Eine volkspädagogische Haltung von Journalisten gegenüber Rechtsextremismus und -terrorismus setzt fort, was die Alliierten in den ersten Nachkriegsjahren an Entnazifizierung und Umerziehung ins Werk gesetzt haben und damals wohl auch notwendig war. Bundespräsident Theodor Benedikt Reichel und Malte Wicking haben in Heuß hat freilich schon in den 1950er Jahren voreiner Inhaltsanalyse von zwei Regionalzeitungen geschlagen, Hitlers programmatisches Buch Mein in West- und Ostdeutschland (Kölner Stadt-AnKampf in kritisch kommentierter Ausgabe wieder zeiger, Mitteldeutsche Zeitung) festgestellt, dass auf den Markt zu bringen (vgl. Maser, 1966). DaRechtsextremisten in deren Berichterstattung mit die Deutschen verstehen lernen, wie es zum kaum zu Wort kommen. NS-Regime kommen Obwohl es im Posteinkonnte, und damit sie sich Eine Lücke von Öffentlichkeit gang der Zeitungen an gegen dessen brutale, aber geht auf das alliierte Verbot Briefen mit entspreauch verführerische Ideochenden Äußerungen logie wappnen könnten. zurück, nationalsozialistische nicht mangelt, fehlt der Die Regierung des FreiSymbole zu zeigen, und die O-Ton auch in den pustaats Bayern hat von ihinfolge dieses Verbots von der blizierten Leserbriefen. ren Urheberrechten an Ganz überwiegend wird diesem Buch aus volkspäFreiwilligen Selbstkontrolle der über Rechtsextremismus dagogischen Gründen bis Filmwirtschaft (FSF) verlangten nur im Zusammenhang heute keinen aktiven GeSchnittauflagen für Spielfilme mit Gegendemonstratibrauch gemacht. Das hat onen und -maßnahmen eine Lücke von Öffentder NS-Zeit. berichtet (vgl. Reichel lichkeit entstehen lassen, & Wicking, 2010). Und deren schädliche Folgen Birte Penshorn hat in einer Studie mit ähnlicher möglicherweise erkennbar werden, wenn das Fragestellung durch Interviews mit Redakteuren Copyright ab 2016 erloschen sein wird. Möglivon Regionalzeitungen in Dortmund gezeigt, cherweise stellen viele Leser dann fest, dass Hitlers dass solche auslassende Selektion von LeserbrieBuch nicht einfach, wie ohne Textkenntnis gern fen und Nachrichten auf die Furcht der Blattmakolportiert, nur eine „Hetzschrift“ ist, bei der das cher zurückgeht, dem Thema Rechtsextremismus Böse aus jeder Zeile lugt (vgl. Pöttker, 2013c). zu viel Raum zu gewähren und Rechtsextremen eine „Plattform“ zu bieten. Nicht zuletzt kann Eine ähnlich verursachte Lücke von Öffentlichauch Rücksicht auf das Image der Stadt eine Rolle keit geht auf das alliierte Verbot zurück, nationalspielen (vgl. Penshorn, 2009). Hier wird deutlich: sozialistische Symbole zu zeigen, und die infolge Wenn Journalistinnen und Journalisten sich als dieses Verbots von der Freiwilligen Selbstkontrolle Erzieher verstehen und sich gemeinsam mit der der Filmwirtschaft (FSF) verlangten Schnittaufla(Kommunal-)Politik für das Wohl ihrer Gemeingen für Spielfilme der NS-Zeit. Wenn man diese de oder ihrer Nation verantwortlich fühlen, könFilme aus der Produktion der von Goebbels übernen Lücken von Öffentlichkeit entstehen. Diese wachten deutschen Filmwirtschaft schon zeigt, helfen der Gesellschaft dabei sich über ihre Prodann sollte man es mit den ursprünglich sichtbleme hinwegzutäuschen und erschweren deren baren Hakenkreuzen tun, damit das Publikum Bearbeitung. Wenn das Publikum nie zu lesen beweiß, wann diese oberflächlich harmlos wirkende kommt, was Rechtsextreme an die Zeitung schreiUnterhaltung entstanden ist. ben, wenn ihm rechtsextreme Gewalt nur in der Verpackung politischer und kultureller Vorsorge 7. Überforderung von serviert wird, dann kann es sich eben den NatiRecherchekapazitäten onalsozialistischen Untergrund (NSU) und seine Mordtaten nicht vorstellen. In weiterer KonseZu den vier genannten Gründen für die Vernachquenz fehlt es ihm an entsprechender Wachsamlässigung von Themen kommen weitere struktu- 23 m&z 2/2014 lungsdynamik der sich weiter ausdifferenzierenden und technisierenden Weltgesellschaft erfordert, dass sich Journalisten in allen Ressorts und Problembereichen ständig neues Sachwissen aneignen (können). Andernfalls wird es bei wichtigen Themen zunehmend zu Lücken von Öffentlichkeit kommen. Schaut man sich gegenwärtig in den Medien um, scheint dies der Fall zu sein: Je komplizierter ein Problem, desto höher ist das Risiko, dass es nicht aufgegriffen wird. Der Journalismus in der ökonomischen Krise wird oft oberflächlicher. In der Politik führt das u. a. dazu, dass weniger über gesellschaftliche Zusammenhänge und politische Programme berichtet wird als über persönliche Verfehlungen von Politikern. Letztere lassen sich leichter recherchieren und beurteilen als beispielsweise die europäische Finanzpolitik angesichts von Staatsschulden und Euro-Krise. In Deutschland hat es in den letzten Jahren auf Druck von journalistischen Medien Rücktritte zahlreicher Politiker gegeben. Aber wann ist zuletzt ein Politiker wegen seiner Politik zurückgetreten und nicht wegen einer plagiierten Doktorarbeit, einer Liebesaffäre mit einer Minderjährigen oder einer Falschaussage im Parlament über einen privaten Immobilienkredit? relle Bedingungen öffentlicher Lücken. Für diese empfiehlt es sich allerdings mehr von einer Systematik als von Beispielen auszugehen. Zu den Ursachen mangelnder Öffentlichkeit, die ähnlich wie das Fehlen von Nachrichtenwertfaktoren auch an den Themen selbst liegen, gehört Hyperkomplexität. Diese überfordert mitunter Journalisten sowohl bei der Recherche als auch bei der verständlichen Darstellung. Gerade seriöse Journalisten, denen es auf Richtigkeit, Vollständigkeit und Solidität ihrer Produkte ankommt, wagen sich selten an komplizierte Zusammenhänge heran. Meist ist schon von vornherein erkennbar, dass sich mit den gegebenen Ressourcen an Zeit und Geld kaum etwas Substantielles herausfinden lässt. In diese tendenziell gemiedene Zone gehören z. B. problematische Entwicklungen in Hochtechnologie oder Ökologie, bei denen es ebenso schwierig wie wichtig wäre die Folgen alltäglichen Konsumverhaltens abzuschätzen.22 Der Medizinberichterstattung, die kaum vermeiden kann, dass Rezipientinnen und Rezipienten aus ihr Ratschläge ablesen, kommt eine enorme Verantwortung zu. Dieser könnte sie nur gerecht werden, wenn die betreffenden Journalisten selbst so viel von Medizin und ihrer Forschung verstünden, um verlässliche neue Heilverfahren von Scharlatanerie unterscheiden zu können. Der Pressekodex,23 der verbietet, beim Publikum unberechtigte Ängste oder Hoffnungen zu schüren, genügt hier nicht. Wenn man nicht zumindest eine elementare medizinische Ausbildung erfahren hat, lässt man als gute Journalistin oder guter Journalist lieber die Finger von solchen Themen – von den notwendigen Ressourcen für gründliche Recherche ganz zu schweigen. Das führt zur Vernachlässigung solcher Themen gerade in einer Zeit, in der der Journalismus infolge des Rückgangs von Anzeigeneinnahmen und Auflagen in eine Situation geraten ist, in der Mittel für Recherche und Ausbildung zunehmend schrumpfen werden. Was für Hochtechnologie, Ökologie und Medizin gilt, betrifft ähnlich auch andere Problembereiche, nicht zuletzt Wirtschaft und Politik. Die Entwick- 8. Verstopfung der Kommunikationskanäle mit Informationsmüll Wenn man von der Vernachlässigung von Problemen in den Medien spricht, setzt das eine Unterscheidung von gesellschaftlich wichtigen und weniger wichtigen Themen voraus. Das Project Censored publiziert nicht nur jährlich die Liste von 25 in den Medien zu kurz gekommenen Problemen. Die Initiative erstellt auch eine ebenso lange Liste von überflüssigen Neuigkeiten („junk news“), die die öffentlichen Kommunikationskanäle verstopfen und die Aufnahmekapazität des Publikums überfordern. Wichtigeres wird dagegen nicht selten allenfalls am Rande berichtet und wahrgenommen. In der Top-Ten-Liste der INA, die öffentlich zu kurz gekommene Probleme Vgl. den hohen Anteil technologischer oder ökologischer Themen an den Top-Ten-Listen vernachlässigter Themen der Intitiative Nachrichtenaufklärung (INA) seit 1997 (Abgerufen von http://www.derblindefleck.de; Zugriff am 05.08.2014). Zum Problem mangelnder Interaktion mit Institutionen infolge der Zeitverzögerung von Folgen alltäglicher Handlung(sweis)en und den sich daraus ergebenden Regulierungsdefiziten vgl. Pöttker, 1997. Ziffer 14 der Publizistischen Grundsätze des Deutschen Presserats lautet: „Medizin-Berichterstattung – Bei Berichten über medizinische Themen ist eine unangemessen sensationelle Darstellung zu vermeiden, die unbegründete Befürchtungen oder Hoffnungen beim Leser erwecken könnte. Forschungsergebnisse, die sich in einem frühen Stadium befinden, sollten nicht als abgeschlossen oder nahezu abgeschlossen dargestellt werden.“ 22 23 24 m&z 2/2014 So hat es Der Spiegel in seiner Ausgabe Nr. 50 vom 08. 12. 1997 zugespitzt. Vermutlich fand die Redaktion die Wendung witzig, weil die Leiterin der konkurrierenden Journalistenschule Gruner + Jahr an der Tagung beteiligt war.24 Gleichwohl hat sich das Nachrichtenmagazin, das seit der nach ihm benannten Affäre (vgl. Pöttker, 2012) als „Sturmgeschütz“ der Demokratie und des investigativen Journalismus gelten möchte, damit über ein Problem lustig gemacht, das und jeden professionellen Journalisten beunruhigen muss. Und es hat eine seltene Gelegenheit verpasst, diesem Problem wenigstens publizistisch zu Leibe zu rücken. Selten sind solche Gelegenheiten, weil das Schweigen, das Nicht-öffentlich-werden, selbst eine Ursache dafür ist, dass Lücken von Öffentlichkeit bestehen (können). Sie soll hier als letzte erwähnt werden, auch wenn das selbstverständlich oder komisch erscheinen mag (vgl. Pöttker, 1999). Das Verschwiegene, nicht öffentlich Gewordene setzt sich aus sich selbst heraus fort, weil es anders als das zu viel, verzerrt oder falsch Berichtete keinen Anlass gibt, es zu kritisieren oder überhaupt darüber zu sprechen. Auch deshalb muss das gar nicht Berichten, das (Ver-)Schweigen für den Beruf, dessen Aufgabe das Herstellen von Öffentlichkeit ist, als besonders schweres Vergehen gegen publizistische Professionalität gelten. In den Diskussionsrunden eines internationalen, von Sozialwissenschaftlern aus West- und Mitteleuropa, Nordamerika und Russland betriebenen Projekts zur Bedeutung von Medien für interkulturelle Integrationsprozesse in Migrationsgesellschaften, tauchte eine Frage auf, bei der die beteiligten Wissenschaftler aus dem Fach Journalistik sich deutlich von den anderen Teilnehmern unterschieden. Während letztere sich einig waren, dass eine diskriminierende, negative Stereotypen bedienende Berichterstattung am schädlichsten sei, hielten die beiden Journalismusforscher es für noch problematischer, wenn Migranten und ethnische Minderheiten in den Medien gar nicht vorkommen (vgl. Round Table Discussion, 2009). Kenneth Starck von der University of Iowa begründete das mit einer Metapher: Das Gegenteil von Liebe sei nicht Hass, sondern Gleichgültigkeit. Der sachliche Grund für diese Position, welche für ein berufsorientiertes Fach charakteristisch ist, ist die erwähnte journalistische Grundpflicht zum Publizieren. Sie muss auch deshalb gelten, weil das NichtPublizieren sich selbst in potenzierender Weise zur Folge hat. aufführt, über die Journalisten exklusiv berichten könnten, rangierte 2012 an erster Stelle: der Umstand, dass deutsche Richter jährlich etwa 100 Millionen Euro Einnahmen aus Prozessauflagen unkontrolliert an staatliche und gemeinnützige Einrichtungen verteilen. An zweiter Stelle rangierte das Geschäft mit der Abschiebepraxis, bei dem die europäische Grenzpolizei Frontex lukrative Großaufträge für Sammelabschiebungen an Fluglinien und andere private Firmen vergibt. Thema Nummer drei war der Widerspruch im UN-Welternährungsprogramm, das einerseits Kleinbauern in der Dritten Welt unterstützen soll, andererseits aber bei Großkonzernen einkauft, die Lebensmittel zu günstigeren Preisen anbieten. Relevanz wohnt Themen nicht objektiv inne, sondern wird von Journalistinnen und Journalisten und vor allem vom Publikum subjektiv zugeschrieben. Dennoch dürfte Einigkeit darüber herzustellen sein, dass es sich bei diesen in den Medien wenig behandelten Themen um Probleme handelt, die mehr öffentliche Aufmerksamkeit verdienten als etwa die folgenden Nachrichten: Estelle, 18 Monate alte Enkelin des schwedischen Königs Carl Gustaf, feiert das 40-jährige Thronjubiläum des Großvaters; TV-Star Adele Neuhauser hatte eine schwere Kindheit, weil sie mit vier Jahren aus dem sonnigen Griechenland ins wolkige Wien umziehen musste; oder: Präsident Uli Hoeneß und Sport-Vorstand Matthias Sammer vom Fußballclub Bayern München streiten sich über die Strategie, mit der man Kritik an der prominenten Mannschaft äußern sollte. Auch dieses Zuviel kann ein Grund für Lücken von Öffentlichkeit sein. Die sogenannten junk news stammen alle vom selben Titelblatt der auflagenstärksten Zeitung Europas, dem deutschen Boulevard-Blatt Bild vom 16. September 2013. Dies zeigt auch, dass für das Verstopfen der Kommunikationskanäle nicht nur die (Boulevard-) Journalisten, sondern auch die von ihnen bedienten Leserinnen und Leser verantwortlich sind. 9. Das Schweigen über das Schweigen „Das Zitat. Silentium. ‚Vom Schweigen über das Schweigen’ – ‚Gesprächs’-Thema auf einer medienwissenschaftlichen Tagung in Siegen am 9. Dezember“ Abgerufen von http://www.spiegel.de/spiegel/print/ d-9276391.html; Zugriff am 07.08.2014. 24 25 m&z 2/2014 ständliche Grundüberzeugungen und traditionelle Selbstbilder, nicht zuletzt sogar gegen professionelle Routinen (vgl. Pöttker, 2007). Auch Journalistinnen und Journalisten recherchieren von Natur aus nicht gern und müssen sich deshalb eine zweite, professionelle Natur antrainieren. Dabei mag ihnen das listige Überwinden äußerer Hindernisse noch leichter fallen als das selbstkritische Überwinden innerer Barrieren. Aber Journalisten, die sich konsequent an der Aufgabe Öffentlichkeit orientieren, können ihr Recherchepotential gezielt stärken: Es gilt sich gegen äußere Hindernisse wie die notorische Unterfinanzierung der Recherche in Medienbetrieben zu stemmen. Die Bildung von Interessensverbänden ist diesem Ziel ebenso dienlich wie die individuelle Entwicklung des Recherchewillens auch gegen innere Widerstände. 10. Was lässt sich gegen (Ver-)Schweigen tun? Zensur, Tabus, Nachrichtenfaktoren, volkspädagogisches Selbstverständnis, Hyperkomplexität, „junk news“ und Schweigen über das Schweigen – sieben Gründe, warum Journalisten ihre Grundpflicht zum Publizieren systematisch verletzen. Sieben Ursachen für das Entstehen der Lücken von Öffentlichkeit. Aber was lässt sich dagegen tun? Zunächst sei noch einmal betont: Lücken von Öffentlichkeit lassen sich nur schwer füllen, denn über das Geheime, Verdrängte oder einfach nur Unbekannte lässt sich kaum diskutieren, eben weil es nicht öffentlich geworden ist. Das Schweigen zeugt sich fort. Auch deshalb sind Maßnahmen gegen das Verletzen der journalistischen Grundpflicht zum Publizieren eine Sisyphusarbeit. Im Grunde genommen ist das Herstellen von Öffentlichkeit überhaupt eine Sisyphusarbeit (vgl. Pöttker, 2008), weil Journalisten davon ausgehen müssen, dass das Publikum wenig Interesse an Unvertrautem und Neuem hat. Menschen wollen mit sich selbst in Einklang bleiben, streben nach kognitiver und emotionaler Konsonanz (vgl. Festinger, 2012) und recherchieren deshalb von Natur aus nicht gern. Was Initiativen und Organisationen zur Überwindung äußerer Hindernisse betrifft, lässt sich neben dem Project Censored in den USA auf das netzwerk recherche (nr) in Deutschland hinweisen. Auch wenn sich das nr gegen Vorwürfe verteidigen muss, unter dem bis 2011 amtierenden Vorsitzenden Thomas Leif durch die publizistische Schonung von Sponsoren und die unrechtmäßige Verwendung von Fördergeldern seine eigenen Prinzipien verletzt zu haben (vgl. Holland-Letz, 2006; Wiegand, 2011). Das nr stemmt sich nicht nur gegen den Einfluss politischer und wirtschaftlicher Partikularinteressen auf den Journalismus, sondern auch gegen die Unterausstattung investigativer Aktivitäten in den Medien. Außerdem kümmert es sich um Rechercheaus- und -weiterbildung sowie Unterrichtsmaterial dazu,25 wobei die Vermittlung von erlernbaren Techniken im Zentrum steht. Aber auch die Aufgabe der Ärzte, das Leben ihrer Patienten zu erhalten, lässt sich nicht ad infinitum erfüllen. Jede Patientin und jeder Patient muss irgendwann sterben. Wenn wir zum Arzt gehen erwarten wir trotzdem, dass er professionell genug ist, um sich konsequent an der Aufgabe seines Berufs zu orientieren. Wir wollen ihm in dieser Hinsicht vertrauen können. Ähnlich muss die Gesellschaft sich darauf verlassen können, dass Journalisten sich konsequent auf die Aufgabe Öffentlichkeit konzentrieren. Es gilt ein Optimum an individueller Selbstbestimmung und gesellschaftlicher Selbstregulierung zu ermöglichen. Für Sisyphusaufgaben ist nicht nur charakteristisch, dass sie unerfüllbar sind, sondern auch, dass man sie nicht lassen kann. Damit kann sich Rechercheaus- und -weiterbildung freilich nicht begnügen. Sie sollte ihren Fokus auf die berufliche Grundeinstellung von (angehenden) Journalistinnen und Journalisten richten. Ziel ist die Vermittlung der Einsicht, dass die Bereitschaft zur Recherche der natürlichen Selbstbestätigungsneigung in einem lebenslangen Prozess der persönlichen Emanzipation, der sozialen Selbstreflexion und der beruflichen Sozialisation abgetrotzt werden muss. Genau betrachtet erfordert das Füllen von Öffentlichkeitslücken nichts anderes als das Herstellen von Öffentlichkeit überhaupt: Entschlossene und findige Recherche – nicht nur gegen äußere Widerstände wie Geheimhaltung und Zensur, sondern auch gegen innere Barrieren wie Tabus, scheinbar selbstver- Wie kaum ein anderes professionelles Problem ist das Füllen von Öffentlichkeitslücken durch Recher- Eine Zusammenstellung findet sich bei http://rechercheinfo.de/handouts-recherche-kann-man-lernen/; Zugriff am 07.08.2014. 25 26 m&z 2/2014 befreien, dass von Journalisten bisher vernachlässigte Themen trotz des sich fortzeugenden Schweigens in den öffentlichen Diskurs gelangen. Er braucht dazu Anstöße und Hilfen von außen, nicht zuletzt von der ihn stützenden Wissenschaft. che eine ständige Herausforderung für die journalistische Berufsethik. Sie erfordert bewusste (Selbst-) Erziehung zur Offenheit auch gegenüber Themen, die einem gegen den Strich gehen. Diese Offenheit, die für das Herstellen von Öffentlichkeit unerlässlich ist, müssen Journalistinnen und Journalisten trainieren, bis sie zur zweiten Natur geworden ist. Dabei können sie von der Wissenschaft lernen, der traditionell die Rolle des Tabubrechers zufällt. Die Methodologie der empirischen Sozialforschung stellt einen Kasten mit Kontrollwerkzeugen bereit, die alle dem Zweck dienen, Forscherinnen und Forschern daran zu hindern, nur das festzustellen was sie feststellen möchten. Viele der in der sozialwissenschaftlichen Methodologie diskutierten Probleme und gut begründeten Einsichten lassen sich auf die journalistische Recherche übertragen. Die Nähe von Sozialforschung und journalistischer Recherche – naheliegend ist der Begriff Sozialrecherche – ist ein wichtiges Argument, warum Journalistenaus- und -weiterbildung von Universitäten besorgt werden sollte.26 Deshalb prüft die Initiative Nachrichtenaufklärung (INA) Hinweise auf vernachlässigte Themen, die von außen an sie herangetragen werden. Dies geschieht zunächst in wissenschaftlichen Rechercheseminaren mit Hilfe von Experten und Datenbanken. Ermittelt wird, ob diese Themen triftig, also recherchierbar und außerdem tatsächlich in den Medien vernachlässigt sind. Nur Vorschläge, die dieser Prüfung standhalten, werden der Jury aus Wissenschaftlern und Journalisten zur Entscheidung über die Top-Ten-Liste vorgelegt. Das Ziel der INA ist, Journalisten dazu anzuregen, triftige und relevante, aber bisher vernachlässigte, also exklusive Themen aufzugreifen und die Berichterstattung darüber zu intensivieren. Bei der INA ist man sich bewusst, dass dadurch strukturelle Gründe für Öffentlichkeitslücken wie die oben erläuterten nicht verschwinden. Aber sie liefert ein Beispiel, wie das Sisyphusproblem des öffentlichen (Ver-)Schweigens zwar nicht gelöst, aber angegangen werden kann.27 Schließlich: Um Lücken von Öffentlichkeit zu schließen, braucht auch der Journalismus selbst etwas, für dessen Entstehen er anderen gegenüber verantwortlich ist – öffentliche Kritik. Letztlich wird er es nicht von sich aus schaffen, die Recherche so von ihren diversen äußeren und inneren Fesseln zu Als Fachliteratur dazu vgl. Klammer, 2005. Journalisten, die im Sommerloch und anderen EreignisFlauten nach exklusiven Themen suchen, finden die Top- Ten-Listen der Jahre 1997 bis 2013 auf der INA-Homepage: http://www.derblindefleck.de/top-themen/; Zugriff am 08.08.2014. 26 27 27 m&z 2/2014 Bibliographie: Bartelt-Kircher, G. et al. (2010). Krise der Printmedien: Eine Krise des Journalismus? Berlin, New York. Beuth, P. 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Seit 2013 nimmt er Lehraufträge an den Universitäten Wien und Hamburg wahr und pflegt Kooperationen mit den russischen Universitäten Rostov a. D., St. Petersburg und Stavropol. Aktuelle Publikationen: Pöttker H. & Vehmeier A. (2013). Das verkannte Ressort. Probleme und Perspektiven des Lokaljournalismus. Wiesbaden: Springer VS Pöttker H. & Kiesewetter C. (Hg.) (2011). Wann beginnt der Journalismus? medien & zeit, 26 (2). Wien: Verein „Arbeitskreis für historische Kommunikationsforschung (AHK)“ Pöttker H. & Toepser-Ziegert G. (Hg.) (2010). Journalismus, der Geschichte schrieb. 60 Jahre Pressefreiheit in der Bundesrepublik Deutschland. (= Dortmunder Beiträge zur Zeitungsforschung, Bd. 65) Berlin, New York: De Gruyter Pöttker H., Kurz J., Müller D., Pötschke J. & Gehr M. (Hg.) (2010). Stilistik für Journalisten. Lehrbuch. 2., erw. u. überarb. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften Pöttker H. & Geißler R. (Hg.) (2010). Medien und Integration in Nordamerika. 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HAUSJELL: Meine erste Frage dient dazu die Dimensionen, die sie zu verwalten und organisieren haben, wechselseitig kennenzulernen. Wie lassen sich diese Bestände am besten beziffern? Wie kann man sich die Größenordnung der Archive vorstellen: Wie viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wirken im Archiv? Und eine andere Größenordnung: Mit wievielen Besucherinnen und Besuchern haben sie es monatlich im Archiv zu tun? Aus welcher Klientel, welchen Personengruppen setzen sich diese Besucher zusammen? chiv bietet ein vielfältiges Betätigungsfeld. Wieviele Benutzer das Archiv täglich konsultieren, kann ich nicht so genau sagen. Der Großteil ist natürlich aus dem aktuellen Bereich. Das sind ungefähr 120 bis 150 Anfragen, die aus diesem Bereich kommen. Ein paar Mitarbeiter betreuen längerfristig Projekte und sind ständig damit befasst. Dazu kommen noch Kunden von außerhalb. Dazu zählen kommerzielle Kunden der ORF Enterprise, nicht-kommerzielle Projekte, auch Studierende und Lehrende. SCHMUTZER: Das ORF Archiv verwaltet momentan ca. 600.000 Programmstunden, also das gesamte ORF Programm, das seit 1955 angefallen ist. Dazu noch ein paar Sonderbestände wie das Historische Archiv, also im Wesentlichen Filmmaterial vor 1955, im vergleichsweise relativ kleinen Maßstab von ca. 1000 Stunden. Der Bestand steigt natürlich ständig angesichts von – mit Sport Plus – vier ORF-Programmen täglich 24 Stunden lang. Wir haben den gesamten Fernsehprogramm Output des ORF zu verwalten. Damit sind täglich 70 Mitarbeiter in verschiedenen Arbeitsgruppen beschäftigt. Da geht es zuerst einmal um das Erschließen des Programms, Beschlagwortung und Einarbeitung ins Archivsystem, Auswertung von Drehmaterialien und Mutterbändern. Und natürlich die Betreuung des tagtäglichen Fernsehbetriebs: In den aktuellen Journaldiensten werden die Redakteure des Hauses betreut. Dazu kommt noch die Produktionsbetreuung in der wir längerfristige Produktionen oft über Monate hinweg begleiten. Die Unterstützung reicht bis hin zu kleineren Arbeitsgruppen, wie das Audioarchiv für Musik und Geräusche. Also das gesamte Ar- HAUSJELL: Ich erinnere mich, dass der ehemalige Leiter des ORF-Archivs, Peter Dusek, den Anteil der Archivbilder an aktuellen Produktionen mit einer zweistelligen Zahl bezifferte. Ich glaube er sprach von 12 oder 17 Prozent. SCHMUTZER: Genaue Zahlen hab ich jetzt nicht präsent, aber das Archiv steckt in vielen Details der Berichterstattung drin. Vieles wird nicht neu gedreht, sondern kommt aus dem Archiv. Beginnend bei Sujetbildern oder Hintersetzern in der Zeit im Bild-Sendung. Die Mitarbeit des Archivs am aktuellen Programm ist relativ groß. HAUSJELL: Frau Fröschl, wie sieht es diesbezüglich in der Österreichischen Mediathek aus? FRÖSCHL: Die Österreichische Mediathek bewahrt ca. 500.000 Träger in ihren Beständen. Ich würde schätzen dass es ca. 2 Millionen Aufnahmen sind. Ein Träger entspricht ja nicht immer einer Aufnahme. Die österreichische Mediathek, ehemals noch Phonothek benannt, wurde 1960 gegründet. Der Name erklärt auch ein wenig die 31 m&z 2/2014 HAUSJELL: Thomas Ballhausen, wie sehen die Eckdaten beim Filmarchiv Austria aus? Zusammensetzung des Bestandes. Wir sammeln einerseits retrospektiv und schneiden andererseits aktuelles Rundfunk- und Fernsehprogramm mit. Was für ein Archiv vielleicht etwas ungewöhnlich ist: Wir übernehmen nicht nur Material, sondern erstellen auch welches. In den 70er und 80er Jahren gab es im Audiobereich diesbezüglich mehr Engagement. Damals gab es eigene Aufnahmeteams des Archivs, die bei Lesungen und Diskussionsveranstaltungen mit dabei waren und mitgeschnitten haben. Mitte der 90er Jahre wurde das „Institut für den wissenschaftlichen Film“, der ÖWF aufgelöst. Die Bestände sind in die österreichische Phonothek gekommen und mit diesen Beständen auch ein Teil der Mitarbeiter. Ab diesem Zeitpunkt gab es ein Videoteam und es wurden ab Ende der 90er, Anfang der 2000er Jahre auch Videoquellen erstellt. Beide Schienen sind für uns mittlerweile nicht mehr aktiv. Die Erstellung von Quellenmaterialien beschränkt sich bei uns nun auf wissenschaftliche Projekte. Zur Zeit läuft etwa ein großes Projekt, bei dem wir Oral History Material, also lebensgeschichtliche Interviews erstellen. Dabei gibt es keinen speziellen thematischen Fokus. Unser Stammpersonal setzt sich aus 21 Mitarbeitern zusammen. Meist sind es aber mehr, abhängig von der Zahl der Drittmittelprojekte, die gerade laufen. Derzeit existieren fünf Drittmittelprojekte, weshalb insgesamt 27 Mitarbeiter beschäftigt werden. Interessant ist vielleicht noch die Frage, wie sich die Sammlung generiert. Der jährliche Zuwachs beträgt ca. 20.000 Stück. Der größte Teil des Neuzugangs setzt sich aus Schenkungen von Privatpersonen zusammen. Dazu kommen noch Überlassungen aus Institutionen, die ihr AV-Material bei uns einlagern, da sie selbst Probleme haben ihr AV-Material zu spielen. Bei den Benutzern liegt unser Fokus auf Wissenschaft und Bildung. Prinzipiell sind sämtliche unserer Archivbestände frei zugänglich und frei benutzbar. Es gibt nur ganz wenige, die gesperrt sind. Das sind meistens Bestände, die die Übergeber aus persönlichen Gründen für einige Zeit sperren möchten. Grundsätzlich ist der gesamte Archivbestand für Benutzer öffentlich und kostenfrei zugänglich. Dies entspricht unserem Selbstverständnis und unserem Hauptfokus. Wir dienen mit unseren Archivmaterialien aber auch Rundfunk- und Fernsehproduktionen sowie Film- und kommerziellen Filmproduktionen. In einem solchen Fall wird das Archiv auch kommerziell geführt. Aber das ist nicht unsere Hauptaufgabengebiet. BALLHAUSEN: Das Filmarchiv Austria wurde 1955 gegründet und es fungiert als Filmarchiv für das nationale audiovisuelle Erbe – und weit darüber hinaus. Man muss unterscheiden zwischen Kernbeständen, sprich den analogen Beständen, inzwischen ergänzt durch digitale, neue Mastermaterialien. Analog haben wir eine Sammlung von mehr als 250.000 Filmdosen. Das übersetzt sich natürlich auch nicht in Filmtitel, die in diesem Fall mit mehr als 70.000 angegeben werden können. Darüberhinaus gibt es Materialien, die ebenfalls eine Sende- bzw. Weiterverwendungstauglichkeit haben, Masterbänder oder digitale Equivalente. Dazu kommen große Bestände, die die Filmbestände thematisch rahmen, wie etwa Filmprogramme, Filmplakate und dergleichen mehr. Ich bin für die Koordination des Studienzentrums im Filmarchiv Austria verantwortlich. Meine Abteilung fungiert somit als eine unserer Schnittstellen zwischen den sehr heterogenen Archivbeständen und der Öffentlichkeit. Pro Tag haben wir es mit ca. 60 Anfragen zu tun. Das sind nicht nur Besucher vor Ort, sondern es sind auch Anfragen, die via Mail usw. eintreffen. Diese Anfragen, inklusive der Benutzer vor Ort, kommen zu etwa in 60 Prozent aus einem akademischen Hintergrund. Die restlichen 40 Prozent entfallen auf Privatpersonen, Journalisten, unterschiedliche Interessen. Auch wir stellen unsere Dienste der Öffentlichkeit beginnend bei der Recherche bis zur Unterstützung bei der Entwicklung von Forschungsfragen kostenlos zur Verfügung. Davon zu unterscheiden sind freilich klassische Lizenzfälle bei Film- und Fernsehproduktionen. Die gibt es bei uns auch. Im Studienzentrum gibt es ergänzend dazu etwa 30.000 klassische Printpublikationen, hinzu kommen mehr als eine Million Aktenseiten, Nachlässe, Zeitungsausschnittsammlungen und inzwischen auch digitale Quellen. Das stellen wir unseren Nutzerinnen und Nutzern zur Verfügung. Die Abteilung im Studienzentrum ist verhältnismäßig klein. Hier arbeitet ein engagiertes Team aus drei Personen. Im gesamten Archiv arbeiten, unter Einreichung aller Teilzeitkräfte, ca. 40 Personen. Es gibt einen großen Bereich der Technik. Die Aufarbeitung ist teilweise auch bei uns projektgebunden, läuft oft auch über Drittmittelprojekte. Die eigentliche Vermittlungsarbeit passiert über einen vergleichsweise kleinen Personalbestand. 32 m&z HAUSJELL: Rudolf Jerábek, das Archiv der Republik und damit das größte Archiv. Wie schaut es dort aus? 2/2014 Metadaten enthalten um einen Sachbegriff oder eine Person zu einer Aktenzahl zuzuordnen. Das ist aus Sicht der Behörde durchaus verständlich. Die Aktenproduzenten gaben damals etwa 15 bis 30 Jahre alte Aktenbestände ab. Man behielt sich die Karteien und damit das Zuordnungssystem, konnte so klar erkennen welche Akten sich schon im Archiv befinden und wo man diese, bei Bedarf wieder anfordern kann. Diese Praxis wurde dann leider ein Dauerzustand. Speziell in der sogenannten KIS (Kanzleiinformationssystem, Anm. Red.)-Zeit, in der es analoge Akten in Papierform gab, die Verwaltung der Metadaten allerdings durch das elektronische Kanzleiinformationssystem erfolgte. Damit ergab sich ein technisches Problem: Es wäre lange Zeit gar nicht möglich gewesen, diese Daten ins System des Archiv der Republik zu überspielen. JERÁBEK: Ein Teil davon ist die – wie es archivwissenschaftlich so schön heißt – einzige lebende Abteilung des österreichischen Staatsarchivs und ist zuständig für das gesamte Bundesschriftgut vom Höchstgericht – mit Einschränkungen, weil die eigentlich ein eigenes Archiv führen, aber inzwischen auch wie der Verwaltungsgerichtshof ins Staatsarchiv abgeben – bis zu den Bundesschulen, Gymnasien, Bezirksgerichten und sogar den Polizeiinspektionen, sprich Polizeidienststellen. Natürlich nimmt das Staatsarchiv nicht alles Bundesschriftgut auf, sondern nur das überregional bedeutsame und das von den zentralen Stellen. Von den Statistiken her kann ich schwer auf die Abteilung „Archiv der Republik“ runterbrechen. Laut derzeitiger Angabe auf der Homepage handelt es sich im Staatsarchiv insgesamt um 183 Laufkilometer Akten mit 107 Mitarbeitern. Im Vergleich zu Archiven ähnlicher Größenordnung sind wir personell völlig unterausgestattet. Pro Jahr haben wir ca. 3000 bis 4000 Benutzer. In Spitzenzeiten sitzen gleichzeitig 80 Leute im Besuchersaal. Die Arbeit ist sehr vielfältig. Auch im Vergleich zu den „alten“ Abteilungen. Dort hat man eben keinen Kontakt mehr zu den Aktenproduzenten und auch nicht zu jenen, die die Aktenpläne erstellen. Zur Zeit existiert das Projekt der Einrichtung eines digitalen Langzeitarchivs und die Digitalisierung von Akten-Datenbänken. Auf uns kommt natürlich auch der sogenannte ELAK zu, der dauerhaft archiviert werden soll. HAUSJELL: Gibt’s ein ähnliches Problem im Filmarchiv Austria? BALLHAUSEN: Ich würde sagen es gibt ähnliche Herausforderungen, nicht zuletzt weil wir permanent sammeln. Es gibt natürlich retrospektiv ausgerichtete Sammlungstätigkeit, Repatriierungen usw. Auf der anderen Seite gilt es auch aktuelle Produktionen, Schenkungen, Ankäufe und dergleichen aufzuarbeiten. Es gibt immer einen Bestand mehr der angeschaut gehört, der aufgearbeitet werden müsste. Das ist wohl auch ein Prozess der nicht aufhören wird. HAUSJELL: Frau Fröschl, sie haben auch schon zustimmend geschmunzelt. Wie stellt sich das in der Österreichischen Mediathek dar? HAUSJELL: Die nächste Frage ist wahrscheinlich fast ein wenig redundant. Ich möchte das aber noch ein Stück nachschärfen. Gibt es Bestände, die noch einer Sichtung und Archivierung harren? Angesichts der soeben angesprochenen niedrigen Personaldecke. Gibt es Bestände, die sie gerne schon viel früher aufgearbeitet hätten? FRÖSCHL: Ja, das ist wohl medienimmanent. Es trifft für sehr viele Bestände zu, dass man wünscht, man könnte sie mehr in die Tiefe aufarbeiten. Das Medium – etwa ein Tonband – erschließt sich nicht. Wenn ich das Tonband sehe, kann ich nicht einmal sagen wie viele Stunden auf dem Tonband drauf sind, geschweige denn was auf dem Tonband alles drauf ist. Wenn es nicht ordentlich beschriftet ist, kann ich den Inhalt nicht feststellen, d.h. ich muss es mir anhören. Um die Bestände wirklich anzuhören fehlt in der alltäglichen Archivarbeit die Zeit. Um wirklich ganz tief in die Bestände hineinzugehen, braucht es spezieller Projekte. Wir hatten ein Projekt bzw. drei Folgeprojekte, die sich der Aufarbeitung der ORF Hörfunkjournale gewidmet haben. Im Zuge dessen war es den Mitarbeitern möglich JERÁBEK: Die gibt es gewiss. Im Archiv der Republik denke ich etwa an das Militärgerichtsarchiv der Monarchie. Die Karteien, die diese Akten erschließen, sind im Zweiten Weltkrieg verloren gegangen. Man hat natürlich begonnen das Material nachzuarbeiten, ist aber bei einem kleinen Prozentsatz der Bestände stecken geblieben. Das Problem besteht darin, dass die Akten ans Archiv abgegeben werden, aber nicht die dazugehörigen Findmittel. Es fehlen die Kanzleimittel, die die 33 m&z 2/2014 sich die gesamten Journale anzuhören und die entsprechenden Metadaten zu gewinnen. Das ist allerdings ein Zeitaufwand, den wir im normalen Archivbetrieb nicht leisten können. Die Aufarbeitung eines Jahrzehnts Mittagsjournal bedeutet auch 3000 Stunden „Anhörzeit“ oder – anders ausgedrückt – 3 Jahre Arbeit für zwei Mitarbeiter. Und wahrscheinlich gäbe es selbst da noch den Wunsch mehr in die Tiefe zu gehen um eine einfachere Benützung des Materials zu gewährleisten. ge Zeit sehr wenig geschehen. Die Abteilungen haben ihr eigenes Ablagesystem entwickelt, ihre Ordner einfach irgendwo gelagert und für uns gilt es nun alles zu organisieren und zu erschließen. Diese Aufgabe ist uns erst in letzter Zeit zugefallen. Ursprünglich bestand der Job darin das Fernseh-Archiv zu bearbeiten. Man muss noch dazusagen, dass es nicht nur das Fernseharchiv im ORF-Zentrum gibt. Es existieren mehrere Archive, konkret das Radioarchiv, die Archive in den Bundesländern und dazu zählen auch die dazugehörigen Papierarchive. Das alles wächst jetzt langsam zusammen. Geleitet wird es vom ORF Fernseharchiv, das die Richtlinienkompetenz innehat und seit neuestem „Multimediales Archiv“ genannt wird. HAUSJELL: Im großen ORF Archiv gibt es ganz sicher auch große Bestände, die unbearbeitet sind. SCHMUTZER: Im ORF Archiv gibt es durchaus auch Bestände wo man sich wünschen würde, dass die Erschließung besser wäre. Wir haben allerdings keine Bestände mehr, die übers Archivsystem überhaupt nicht auffindbar wären. D.h. wir haben es geschafft das gesamte Archivmaterial ins Archivsystem zu integrieren, freilich mit unterschiedlichem Erschließungsgrad. Für uns gibt es derzeit zwei große Herausforderungen: Die eine besteht darin, dass wir für den laufenden Betrieb, für den aktuellen Dienst und den semiaktuellen Magazinbereich, die Bearbeitung tagesaktuell und sehr genau machen müssen. Der Rest des Programms wird innerhalb weniger Tage erschlossen. Die Aufgabe besteht nicht nur darin zu beschlagworten, sondern auch das Material digital verfügbar zu machen, also ins Archivsystem einzuspeisen. Damit wird das Material für die Redakteure als Rechercheinstrument und Ansichtsquelle benützbar. Die zweite große Herausforderung besteht in der Bewältigung des Problems der Haltbarkeit vieler Datenträger. Es gilt also unseren gesamten Archivbestand zu digitalisieren. Diese Aufgabe stellt sich aus den aktuellen Produktionsnotwendigkeiten. Darüberhinaus müssen wir auch schauen, dass unsere Altbestände nicht verrotten. Es handelt sich also um einen ständigen Bearbeitungs- und Umkopierungsprozess. HAUSJELL: Nachdem wir nun den größeren Rahmen abgesteckt haben, kommen wir zum Kernthema dieses medien & zeit Heftes. Öffentlichkeit und Geheimnis werden typischerweise als Gegensätze betrachtet, die sich wechselseitig ausschließen – folgt man etwa Joachim Westerbarkey. Anders formuliert: Je mehr Öffentlichkeit desto weniger Geheimnis. Auf die archivarische Perspektive umgelegt, handelt es sich vielleicht auch – oder besser mehr um Öffentlichkeit und Nicht-Öffentlichkeit. Diese Nicht-Öffentlichkeit resultiert auch aus Kommunikationsbarrieren. Im archivarischen Kontext scheinen folgende Kommunikationsbarrieren zu existieren: UÊ rechtliche Barrieren (Stichwort Persönlichkeitsschutz, Rezeptionsprivilegien), UÊ technische Barrieren (sprich die Möglichkeit die Speichermedien zu nutzen und technischen Zugang zum Material zu haben), UÊ situative Barrieren (Desinteresse am Material resultierend aus gesellschaftlichen Debatten die laufen und aus Themenkonjunkturen, die es gibt und nicht gibt). Stimmen sie dieser Einschätzung aus ihrer Erfahrung zu? Sehen sie in ihrer Praxis noch andere Barrieren? BALLHAUSEN: Ich würde dem prinzipiell zustimmen. Ich glaube, dass sich die genannten Barrieren unterschiedlich stark gewichten. Ich würde noch eine Generationsbarriere ansprechen. Ich denke, das ist eine reale Problematik, resultierend aus einem überkommenem Archivverständnis, demzufolge man manche Archivbestände der Öffentlichkeit nicht zugänglich macht. Es gibt ein großes, ethisches Manko in manchen Eigenverständnissen. Genaugenommen ist man ja ein HAUSJELL: Stichwort Wiederverwendung alter Materialien. Es besteht ja auch die Problematik, dass das Papierarchiv – inklusive aller Verträge, Rechte etc. – nicht erschlossen ist. SCHMUTZER: Das ist ein Arbeitsbereich, der ganz aktuell auf uns zukommt. Wir arbeiten schon länger daran das Dokumentenarchiv zu strukturieren und aufzuarbeiten. Diesbezüglich ist lan- 34 m&z 2/2014 Civil Servant, ein Diener des Materials und der formulierten Unterstellungen werden oft geÖffentlichkeit. Die Aufgabe besteht darin logimacht. Tatsache ist allerdings, dass man sich an stisch zu moderieren. Das kann mitunter anstrendie nunmehr vorhandenen rechtlichen Grundlagend sein, aber es ist notwendig. Deshalb muss gen halten muss. man von dem Missverständnis wegkommen, dass Ein Fall ist sehr unangenehm, resultiert allerdings alle Benutzer per se dumm sind oder eine Gefahr aus unseren eingeschränkten personellen Kapafür die Bestände darstellen. Ich glaube, es ist eine zitäten. Wenn ein unverhältnismäßiger VerwalHerausforderung der Archive das zu moderieren tungsaufwand entsteht, müssen wir die Akten und dafür eine Rahmung zu finden. nicht vorlegen, selbst dann wenn das AktenmaAuf der anderen Seite geht es auch um Privileterial zur Benützung freigegeben wäre. Konkret gien. Oft spielt das Missverständnis mit hinein, kommt es dazu nur, wenn das Material ganz exdass man das Archivgut als das Privatvergnügen trem schlecht oder gar nicht erschlossen ist und bzw. den Privatbesitz betrachtet. Es geht nicht wir für eine Anfrage Tage lang suchen müssten um mich als Archivar. Philosophisch gesehen um überhaupt einmal rauszufinden, ob etwas da sollte dieses Bewusstsein ist. So das Material ereigentlich ab dem heilischlossen ist, funktioniert Genaugenommen ist man ein gen Augustinus gelten: Es die Arbeit sehr gut. Civil Servant, ein Diener des geht um eine andere, gröStichwort liberal: Wir haMaterials und der Öffentlichkeit. ben etwa keine Auflage ßere Aufgabe und nicht um das eigene Ego. Aus personenbezogene Dameiner Sicht müsste man da noch einhaken und ten nicht herzugeben. Der Schutz generiert sich konkret handeln. Gut wäre etwa ein „Code of allein aus der für alle geltenden europäischen Conduct“, der nicht nur auf dem Papier existiert, Menschenrechtskonvention. Schließlich will sondern tatsächlich umgesetzt wird. Ich begebe niemand, dass die eigenen Daten, sobald sie im mich diesbezüglich immer wieder in Debatten. Es Archiv landen – nach fünfzehn oder auch nach geht nicht nur um das Material, sondern auch um zehn Jahren – für alle Leute freigegeben sind. Ich den Dienst an der Öffentlichkeit. Für uns gilt es war vor einigen Tagen bei einer Sitzung im Inneneine intellektuelle Logistik zu gewährleisten. Daministerium, wo beschlossen wurde, dass an und bei sehe ich sehr wohl einen generativen Sprung. für sich rechtlich zu löschende Daten mit ArchiEs braucht ein moderneres Verständnis vom Arvgutqualität auch ans Archiv übergeben werden chiv als Institution, Haltung und Denkansatz. sollten. Dabei ist genau festgeschrieben, was die Polizeiinspektionen laut Gesetz zu löschen haben. HAUSJELL: Herr Jerábek das Archiv der Republik Die Fristen sind drei, fünf, manchmal sieben Jahstand ja auch immer wieder in Kritik für Nichtre. Trotzdem wird überlegt, was kommt dennoch Öffentlichkeit zu sorgen oder sorgen zu müssen. Im ins Archiv. Der Zugriff des Produzenten ist dann internationalen Vergleich bestanden oft lange Archinicht mehr möglich. Früher war es so, dass der vsperren für Materialien. Wie sehen sie das jetzt? Aktennutzer auf alles was er ins Archiv geschickt hat Zugriff hat. Mittlerweile ist das nicht mehr so, JERÁBEK: Diesen Vorwurf kann ich im internatiowürde es doch den Sinn dieses Löschungszwanges nalen Vergleich eigentlich nicht als gerechtfertigt unterlaufen. Auch das wird ganz genau eingesehen. 1985-86 gab es die Grundsatzgrenze, dass halten. Damit sind die Daten also als zukünftige Akten mit Ende des Dritten Reichs eingefroren Geschichtsquellen im öffentlichen Besitz, werden wurden. Damals gab es den Schutz über 30 bzw. allerdings nicht einmal der Behörde zugänglich 40 Jahre hinaus, danach wurde es auf 30 Jahre regemacht, weil es vom Gesetz so vorgesehen ist. duziert. Auch im internationalen Vergleich gelten Die personenbezogenen Daten, die man im Benunmehr sehr liberale Handhabungen der öffentnützersaal vorgelegt bekommt, dürfen erst zehn lichen Akten. Öffentlich und auch im öffentJahre nach dem Tod der betroffenen Person veröflichen Besitz sind alle Akten, aber manche halt fentlicht werden. Es gibt keine Strafbestimmung noch nicht zugänglich. dazu, aber es existieren zivilrechtliche Ansprüche. Ich weiß nicht, warum sich der Kollege als OmHergegeben werden die Akten 100 Jahre nach der budsmann der Benutzer geriert hat. Vielleicht Geburt oder sofort nach dem Tod, wenn der Inresultieren die Überlegungen auch aus einem halt 30 Jahre zurückliegt. Das Letztere bezeichnet schlechten Gewissen. Aufs Staatsarchiv treffen man als Sachaktenlaufschutzfrist. Im deutschen diese überhaupt nicht mehr zu. Die von ihnen Außenamt beträgt die Schutzfrist für Personalak- 35 m&z 2/2014 ten 130 Jahre. Der Akt wird also erst 130 Jahre nach der Geburt oder 30 Jahre nach dem Tod vorgelegt. In Frankreich und Großbritannien existieren teilweise ganz unglaublich lange Schutzfristen. eigene Gesetze. All das haben wir nicht. Freilich hätten wir auch niemals das Personal dazu einen Schwärzungsvorgang vorzunehmen. Das ist hierzulande oft ein Problem, dass in manchen Akten nicht nur Informationen über die Hauptperson veröffentlicht würden, sondern auch andere in die Causa Involvierte und möglicherweise noch lebende Personen. Das kann besonders bei Kriminalakten und bei Opfern dieser kriminellen Handlungen ein Problem werden. Da gibt es einen Kriminalakt aus den 70er Jahren, der ist ca. 30 Zentimeter hoch. Es handelt sich um einen Mord an einem Mann mit einer Autobombe in einer niederösterreichischen Kleinstadt mit bis heute ungeklärtem Hintergrund. Weil man damals auf Motivsuche war und dabei der Frage nachging: Wer hat das getan?, hat man immer weitere Kreise gezogen. Dieser Akt kann in hundert Jahren hochinteressant werden, beinhaltet er doch ein Schlaglicht auf die sozialen Strukturen und auf die örtliche Kultur dieser Kleinstadt. Da erfährt man Dinge wie, wer betrügt wen mit wem? Angesichts der Suche nach dem Motiv denkt man eben alles durch: Eifersucht, Habgier, bis hin zu den individuellen Interessen wie auch jenen des Pfarrers. Da ist alles in einer solchen Weise aufgearbeitet, dass man es als Sozialstudie vielleicht einmal gebrauchen kann. Der Akt ist der Akt – nennen wir ihn Oskar Pimpelhuber – ermordet an dem und dem Tag. Das Ableben der Hauptperson ist also vierzig Jahre her, deswegen ist der Akt allerdings nicht frei. Die enthaltenen Akten von den Missbrauchsopfern, vergewaltigten Kindern, Ehebrechern, Ehestörern – die leben alle noch. Das kann man unmöglich aus der Hand geben. Daher gibt’s dann die Rücksichtnahme auf den Datenschutz über die für den Sachakt geltenden Schutzfristen hinaus. Würden wir alle Akten auf personenbezogene Daten hin überprüfen und sonst nicht vorlegen, dann gäbe es fast keine Akten aus der neueren Zeit für die Benutzer. Im Prinzip wird der Benutzer mit ins Geheimnis genommen. Und das ist das einzige Mal, dass ich das Wort Geheimnis in den Mund nehmen werde, denn ein Geheimnis gibt es im österreichischen Staatsarchiv eigentlich nicht. Wenn man Akten vorgelegt bekommt und darin Angaben über noch lebende Personen findet, liegt es in der Verantwortung des Benutzers was er damit anstellt. Er wird dabei quasi vom Staatsarchiv durch die Teilnahme am Datenschutzgesetz unterstützt, indem wir eben nicht alles wahllos vorlegen. Grundsätzlich ist die Handhabung aber sehr liberal und wir haben bisher keine Probleme HAUSJELL: Ich meinte ursprünglich den internationalen Vergleich mit den USA und Großbritannien. Da hatten wir hierzulande bis in die 80er Jahre vergleichsweise eine sehr lange Sperrfrist. JERÁBEK: Das ist ein anderes Problem. Siegermächte behandeln Verliererakten natürlich sehr liberal. So wie bei der Übergabe der Akten des „Berlin Document Center“ keinerlei Aktenschutz gegenüber Lebenden gegolten hat. Es gab die Auflage an das Deutsche Bundesarchiv, dass hier die deutschen Normen nicht angewendet werden dürfen. Mit den Akten zu den eigenen Taten sind die Briten und Amerikaner weniger liberal. HAUSJELL: Ein Teil der Akten ist ja nach wie vor gesperrt. JERÁBEK: Und wenn man Unterlagen bekommt, sind die Streichungen derart umfangreich, dass man nachher kaum mehr weiss als vorher. Dafür haben wir im Archiv der Republik keinen Apparat und keine Normen. Dazu kurz ein Beispiel: Ich war vor zwei Jahren in Dresden bei der Stasiaktenbehörde und konnte im Gespräch mit einer Kollegin einige sehr interessante Dinge erfahren. Diese Behörde wurde 1990 eingerichtet und verfügt ab die 160 Kilometer Akten. 2012 waren dort 1600 Mitarbeiter beschäftigt. D.h. pro Mitarbeiter waren 100 Meter zu bewältigen. Im Vergleich dazu: Im Archiv der Republik haben wir pro Mitarbeiter 1700 Meter Akten. Aber wir haben einen durchaus ähnlichen Erschließungsbedarf durch die bereits genannten aktengeschichtlichen Umstände. Der enorme Bedarf an personellen Kapazitäten resultiert aus der Form der Auskunft aus den Stasiakten. Es wird nämlich nicht etwa eine Prosa aus den Akten kondensiert, sondern eine Kopie der Akten vorgelegt. Den Prozess kann man sich folgendermaßen vorstellen: Zuerst sucht man die Akten, dann werden sie kopiert, dann gelesen und alles was nicht weitergegeben werden darf geschwärzt. Danach werden die geschwärzten Kopien noch einmal kopiert, man könnte mit Raffinesse ja vielleicht doch etwas lesen. Diese Unterlagen bekommt der Benützer in die Hand. Die Vorschriften für diesen Vorgang umfassen viele Seiten und gründen auf 36 m&z gehabt, inzwischen auch kaum mehr wegen Nicht-Vorlegung. Die Beschwerde lautete öfter: Warum wird etwas zurückgehalten als warum wird etwas hergegeben? Abgesehen von den Benutzern, die kommen und sich weigern den Benützerbogen auszufüllen. Schließlich hätte man dann einen Akt über sie. Sie wollen zwar die Akten sehen, aber sie wollen keine Angaben über sich machen. Das ist natürlich auch ein wichtiger Aspekt: Jeder – auch jeder Journalist – will natürlich möglichst viele Quellen, aber die Quellen über sich selbst, die will er natürlich nicht offen sehen. Inzwischen ist die Akzeptanz in allen von ihnen angesprochenen Bereichen im Staatsarchiv sehr groß. Es gibt natürlich die alten Archivare und das sind wohl jene, die sie vorher angesprochen haben, auch kaum mehr. Das waren Archivare, die nicht einmal den Kollegen die Tricks wie man etwas findet, verraten haben. 2/2014 Waltz ist vielleicht nicht einmal ausgewertet oder auch nicht einmal im Nachspann eines Filmes genannt. Erst retrospektiv kommt man dann darauf: Da muss es irgendwo einen Tatort gegeben haben in dem Christoph Waltz eine Nebenrolle gespielt hat. Und dann erst ist ein Geheimnis gelüftet. Es kommt auch immer auf den Blick ins Archiv an was geheim ist und was nicht. Dass die ORF Archivare Geheimnisse hüten, das hat sich auch geändert. Das Selbstverständnis hat sich auch dadurch geändert, dass das ORF Archiv zunächst ein Archiv für die Redakteure war und nun ein Archiv einer Stiftung öffentlichen Rechts ist und damit auch unter das Bundesarchivgesetz fällt. Damit ist das Archiv öffentlich zugänglich und es gilt sich auch dementsprechend zu verhalten. Die größten Barrieren sind sicher technischer Natur. Das betrifft zum Teil auch die Verfügbarkeit von Materialien, wo – wie schon angesprochen – der Erhaltungszustand etc. eine Rolle spielen kann. Eine andere Barriere sind die rechtlichen Fragen, wobei die Außenstelle, die wir seit gut drei Jahren an der Zeitgeschichte betreiben, ein gutes Beispiel dafür ist wie wir damit umgehen. An sich halten wir Schutzfristen eigentlich nicht ein, weil man an der Außenstelle ja das gesamte ORF Programm bis zum heutigen Tag sichten kann. Unsere Rechtsabteilung war auch der Meinung, dass das geht und wir Schutzfristen für diese Art von Sichtung nicht einzuhalten brauchen. Das liegt darin begründet, dass das ORF Programm ja schon öffentlich ist. Nachdem alles was dort gesagt wurde, bereits öffentlich ist, gibt es auch kein Problem wenn man das für eine Sichtung für wissenschaftliche Zwecke zugänglich macht. Das betrifft allerdings nur das tatsächlich veröffentlichte Material, also die ausgestrahlten Sendungen des ORF. Das betrifft aber nicht Drehmaterialien, die wohl im Archiv sind, aber nicht zugänglich sind aus urheberrechtlichen und Datenschutzgründen. Nicht zuletzt geht es auch darum das Redaktionsgeheimnis der ORF-Redakteure, das im Redakteurstatut verankert ist, zu wahren. BALLHAUSEN: An der Stelle möchte ich ganz kurz ergänzen. Ich glaube, die Generationsbarriere ist nicht immer einem biologischen Alter geschuldet. Mit Gewissen haben Sie, geschätzter Kollege, einen richtigen Punkt angesprochen, aber es ist nicht das schlechte Gewissen. Sondern Gewissen verstanden als etwas Positives, als Haltung der Verantwortung. Dass es auch darum geht jede, freilich Medientypus unterschiedliche rechtliche Rahmenbedingung mitzudenken und mitzukommunizieren, da bin ich ganz bei Ihnen. Das trifft bei uns genauso zu, zum Beispiel im Kontext der Frage: Warum gibt es Verbotsfilme? Das ist ja immer wieder ein Debattenfall. Aber diese Rahmungen sind notwendig und hilfreich. Und Geheimnis: Ich meine, dass es dabei nicht zuletzt um interne Findmittel, um die Aufarbeitung der Quellen geht. Um Dinge, die für den Benutzer vielleicht gar nicht so wichtig sind. HAUSJELL: Was sind die größten Barrieren, wenn wir an das ORF Archiv denken? SCHMUTZER: Kurz zum Thema Geheimnis: Ich glaube Geheimnis gibt es im Archiv immer, weil vieles einfach im Auge des Betrachters liegt. Zumindest sag ich das fürs ORF Archiv. Wir können auch mit unseren guten Standards niemals alle Materialien so auswerten, dass nie wieder jemand überrascht ist, was man drinnen findet. Zum Teil ist es ja auch eine Frage der Suche und eine Frage der Zeit bis Dinge relevant und interessant werden. Eine Jugendrolle von Christoph HAUSJELL: Da würden sich manche die Drehmaterialien von Am Schauplatz sehr gerne anschauen. Dass der ORF damals ja aus genau diesen Gründen nicht herausgegeben hat. SCHMUTZER: Prinzipiell lautet die Übereinkunft bei jedem Interview des ORF auch, dass das was als veröffentlicht herausgegeben wird, als akkordiert betrachtet wird. Dass die Inhalte, die nebenher gesagt werden, nicht veröffentlicht werden. 37 m&z 2/2014 Daher gibt es eine prinzipielle Sperre für Drehgitalisierten Materialien. Die Archive geben also materialien. implizit auch eine Richtung vor, welche MateriWir sind – wie bereits gesagt – dabei unseren alien in den wissenschaftlichen Diskurs geworfen Bestand nach und nach zu digitalisieren. Wenn werden, weil sie eben online benutzbar sind. Wir wir den Gesamtbestand digital haben wollen, bemühen uns sehr, viele Quellen online zur Verdann ist das ein Zehn-Jahres-Projekt. Wenn wir fügung zu stellen, aber daran hindern uns vielfach diese Digitalisierung durchführen, dann heißt die bekannten rechtlichen Barrieren. das auch, dass in der Außenstelle immer mehr Das Geheimnis im Archiv ist natürlich auch für nicht nur in den Metadaten verfügbar ist, sonuns als Mitarbeiter gegeben. Auch wir wissen dern dass sie auch gesichtet werden können. Auf nicht, was auf den Bändern drauf ist. Die Gediesem Weg versuchen wir einen Schritt der Öffheimnisse zu entdecken ist also nicht nur das nung zu machen. So man etwa keinen Zugang Privileg der wissenschaftlichen Nutzung, sondern zur Außenstelle hat, sprich kein Mitarbeiter oder auch unseres bei der Aufarbeitung. Studierender der UniverEs gibt auch Geheimnisse, sität Wien ist, ist es auch die wir den Übergebern Das Geheimnis im Archiv wird möglich das ORF Archiv unserer Materialien selbst sehr stark auch durch die am Küniglberg mit den anvertrauen. D.h., dass Ansichtsplätzen zu benutwir den Übergebern auch Benutzer selbst geschaffen. Ich zen. Darüber hinaus kann die Möglichkeit geben sehe eine Tendenz dahingeman das ORF Programm zu bestimmen, wie ihr hend, dass vor allem jene Medi- Material genutzt werden auch auskopieren. Diese Variante ist allerdings en genutzt werden, die digitali- soll. Wir kommen da in mit Kosten verbunden dieselbe Richtung, die siert vorliegen. und mag deshalb für den auch vom Staatsarchiv einen oder anderen eine geschildert wurde. Wir Barriere sein. haben zum Beispiel ein Interviewprojekt laufen bei dem wir sehr lange und ausführliche lebensgeHAUSJELL: Wie stellt sich die Einschätzung der Barschichtliche Interviews sammeln. Wir überlassen rieren aus der Sicht der Österreichischen Mediathek es dabei den Interviewten in welcher Form ihr dar? Material zur Verfügung gestellt wird. Wir fragen nach ob es online gestellt werden soll, ob es vor FRÖSCHL: Ich würde dem was Kollege Schmutzer Ort verfügbar sein darf, ob es anonymisiert werfür das ORF-Archiv gesagt hat, zustimmen: Es den soll oder der reale Name in den Metadaten gibt vor allem technische Barrieren. Wir können weitergegeben werden kann. Seit einem Jahr läuft etwa in unseren Benutzerräumlichkeiten nicht ein weiteres Projekt bei dem es darum geht prisämtliche Abspielgeräte für sämtliche Medien akvates Material von Leuten auf dem gefährdeten tuell halten. Bestimmte Materialien sind deshalb Format Video zu sammeln. Es sind also Hochauch schwerer zugänglich. Sie können benutzt zeiten, Geburtstagsfeiern, private Dokumentatiwerden, aber sie müssen vorher noch bearbeitet onen, die da aufgenommen wurden. Auch hier werden. Zum Beispiel müssen wir manche Mabestimmen die Übergeber wie das Material zur terialien digitalisieren bevor wir sie weitergeben. Verfügung gestellt werden soll. Für das Material Damit wird der Benutzungsvorgang verzögert, gelten natürlich die bekannten rechtlichen Barriaber es macht ihn nicht unmöglich. eren. Aber zusätzlich zur rechtlichen VerantworDas Geheimnis im Archiv wird sehr stark auch tung gibt es auch eine ethische Verantwortung der durch die Benutzer selbst geschaffen. Ich sehe eine Archive. Wir raten den Leuten auch was man wie Tendenz dahingehend, dass vor allem jene Mezur Verfügung stellen kann. Nicht alles was zur dien genutzt werden, die digitalisiert vorliegen. Online-Nutzung freigegeben wurde, ist aus meiDiese Entwicklung resultiert aus dem gewohnten ner Sicht auch dafür geeignet. Manchen Leuten Umgang mit Medien. Alle Medien, die nicht diist gar nicht bewusst, was sie da mit so manchen gital verfügbar sind, auch wenn sie durch Metaprivaten Aufnahmen öffentlich machen würden. daten gut erfasst sind, bei uns im Archiv vorliegen Auch wenn Leute sehr intime Details aus ihrem und damit genauso benutzbar wären, treten in die Leben, aber nicht nur aus ihrem, sondern auch zweite Reihe. Das trifft auch für universitäre und jenem der Familie und der dörflichen Umgebung studentische Nutzung zu. Der Fokus liegt auf dierzählen, dann braucht es aus meiner Sicht ethi- 38 m&z 2/2014 JERÁBEK: Freilich dem anderen. Eine weitere Barriere ist mir noch eingefallen. Auch dabei geht es um die Benützbarkeit von Medien, die eine HAUSJELL: Sie sprechen da etwas ein, das im KonHürde sein kann. Zugegebenermaßen gibt es text der öffentlichen Debatte um die Tätigkeit von Studenten, die für ihre Diplomarbeit oder DisGeheimdiensten, um die Sammlung aller möglichen sertation Akten aus den 30er Jahren anschauen Daten aktuell ist. Spüren sie da eine geänderte Senund selbst zugeben: Ich berücksichtige nur das sibilität im Archiv, konkret mit Daten, die man eher Maschinengeschriebene. Oft findet man auf den der Privatsphäre zuspricht. Hat sich das aus ihrer Akten handgeschriebene Vermerke, Konzepte Sicht, im Vergleich von vor ein paar Jahren, gewanoder Verbesserungen in Kurrentschrift. Das kann delt? man dann entweder gar nicht lesen oder man nimmt sich nicht die Zeit dazu. Angesichts der FRÖSCHL: Ja. Beide Projekte sind vor und nach der Verschulung der Universität ist natürlich auch der NSA-Affäre gelaufen und wir stellen eine deutZeitdruck größer. Ich habe für meine Dissertatiliche Zunahme beim Nein zur Online-Verwenon noch sehr lange brauchen dürfen. Aber es ist dung fest. Auch der Wunsch nach Anonymisieauch das Handwerkszeug, das immer mehr verlorung wird ganz stark geäußert. Daran müssen wir ren geht. Es erfolgt der Schrei nach Lesehilfe oder uns freilich halten, sonst würden wir das Material sogar der strategische Wechsel des Arbeitsthemas natürlich nicht bekomin eine Zeit in der das Mamen. Es ist auch so, dass terial leichter fassbar ist. Was nicht im Netz ist, wir in unserer Arbeit nicht Diese Tendenz ist immer interessiert die Leute oft schon nur auf die Jetztzeit abmehr zu beobachten. zielen. Benutzer sind für Obwohl alles an verfüggar nicht mehr. uns nicht nur Menschen, barem Aktenmaterial vordie jetzt gerade leben, gelegt wurde, bleibt also sondern es können auch künftige Generationen, ein Geheimnis weil der Benutzer nicht in der Benutzer in 100, 150 Jahren sein. Dann sind die Lage ist die Schrift zu lesen. Das kann man vielSchutzfristen gefallen. Dann ist das Material in leicht noch verstehen, wenn jemand eine merojedem Fall interessant und deshalb kann man mit wingische Schrift aus dem 8. Jahrhundert im dadiesen Einschränkungen relativ gut leben. maligen Latein lesen soll, aber eine Kurrentschrift aus den 30ern und damit aus der Zeit in die er HAUSJELL: Vor diesem Hintergrund hat sich diesbesich eingearbeitet hat. Das sollte er sich schon erzüglich auch im Staatsarchiv etwas geändert oder ist arbeiten. der diesbezügliche Umgang stabil? HAUSJELL: Das sehe ich auch so. Es ist aber auch JERÁBEK: Ich würde sagen stabil. Ich war auch zu noch eine interessante Barriere, dass das Vermögen unsensibel um eine breitgefächerte HaltungsändeInformationen zu rezipieren, zunehmend mit der rung zu bemerken. Die Wahrnehmung erschöpft Distanz der Jahre abnimmt. Da hat sich nichts sich eher in Witzchen wie: „Da bekomm ich den geändert an den Akten, den Archiven, der VerfügAkt nicht, aber die NSA weiss eh alles.“ Auch barkeit, sondern es haben sich die Fähigkeiten der wir fragen bei der NSA an, wenn wir den Akt Nutzer gewandelt. nicht finden. Die helfen uns dann zuverlässig aus. Unsere sogenannte „Informationsgesellschaft“ splittet [lacht]. Nein ernsthaft: Die Debatte ist vielleicht die Gesellschaft in immer mehr Wissenssegmente auf. zu aktuell, zu sehr in die Zukunft gerichtet: Was Innerhalb dieser Segmente wird das Wissen immer passiert dereinst mit von der NSA abgeschöpften spezialisierter einerseits und umfangreicher andeAkten? Werden sie öffentlich gemacht? rerseits. Außerhalb dieser Segmente wird die Kluft Andererseits: Wenn es soweit kommt, dass wir der Unwissenheit dagegen immer größer. Ist die alle eine Google-Brille mit Gesichtserkennung Digitalisierung und damit die leichtere Online-Vertragen und im gleichen Moment in dem ich mein fügbarkeit von Beständen für sie eine Strategie um Gegenüber anschaue auch über Namen, Alter, dieser Entwicklung gegenzusteuern oder wird diese Beruf, Vorlieben und Kaufverhalten informiert Tendenz davon unberührt bleiben? werde, dann ist eh schon alles egal. JERÁBEK: Es ist schon angesprochen worden, dass HAUSJELL: Dann muss man die Brille wieder einmal das Ins-Netz-Stellen die wissenschaftlichen Konabnehmen. junkturthemen fördert, mitbestimmt, von andesche Barrieren. Manche Dinge sollten einfach ein Geheimnis bleiben. 39 m&z 2/2014 ren vielleicht ablenkt und natürlich auch eine Vorauswahl trifft. Was nicht im Netz ist, interessiert die Leute oft auch schon gar nicht mehr. Dahinter steckt der naive Glaube, dass die gesamten 180 Kilometer Aktenlauflänge des Staatsarchivs in den letzten 15 Jahren einfach so ins Netz gehüpft wären. Das geht ja nicht. Es ist eine Riesenarbeit selbst digital vorhandene Dateien einzuspeisen. Erst recht die Dateien in den Computer zu klopfen. Die Kehrseite der Medaille demonstrieren die ach so liberalen Amerikaner in der der National Records Agency. Sie geben Dinge ganz gezielt ins Netz. Vermeintlich handeln sie liberal, tatsächlich sind es aber Akten bei denen immer die anderen die Deppen sind. raus ableiten lässt. Da kommen natürlich verschiedene Dinge zusammen. Die Institution, die das Ganze übernimmt, tritt dann auch als Information-Broker auf und verfügt damit auch über die Deutungshoheit. Auch Aspekte des Rechtlichen kommen noch hinzu. Das heißt, welche Form der Diskurskonjunktur wird dadurch auch möglich und welchem Diskurs dient man sich auch an. Das trifft auf eine mangelnde medienübergreifende Quellenkompetenz auf Benutzerseite. Diese wird immer wieder deutlich. Bei Film als Sonderfall ist zu bedenken, dass wenige rechtefrei sind. Die Online-Verfügbarkeit bedingt einen langwierigen, komplexen Prozess zur Klärung der Intellectual Property Rights. Auf der anderen Seite ist das zur Verfügung Stellen für kurz- oder mittelfristige Perspektiven gut. Aber es führt dazu, dass man in eine andere Konjunktur eintritt, nämlich immer wieder neu zu konvertieren. Für die langfristige Erhaltung von Film ist das analoge Material einfach nicht zu verabschieden. In digitaler Form ist die Langzeitarchivierung aus meiner Perspektive noch nicht zufriedenstellend umsetzbar. In diesen Aspekten werden das Diskursive, die verschiedenen Motivationen dahinter und die tägliche Handhabung miteinander verkoppelt. HAUSJELL: Also eine gezielte Politik Informationen ins Netz zu stellen, von denen man möchte, dass sie von der Forschung auch wahrgenommen werden. Weil die Reise nach Washington in die National Archives, die ist ja ein Stück aufwendiger. Sie muss nicht zuletzt finanziert werden. Natürlich wünschen wir uns alle in der Forschung, dass möglichst vieles online verfügbar ist. Gleichzeitig: Wer jemals ein Archiv von Innen gesehen hat, weiss, dass es das wahrscheinlich nie spielen wird. Oder ist die vollständige Digitalisierung für sie denkbar? HAUSJELL: Die Digitalisierung der Bestände kostet. Wie sehen sie die Perspektiven in Richtung möglicher neuer Barrieren finanzieller Art. Die jüngere Generation erwartet sich, dass Inhalte die digital verfügbar sind, auch kostenlos angeboten werden. Diese Kultur kennen wir. Aber die Institutionen könnten ja auch sagen: Wenn die Benutzer immer mehr digital benutzen wollen, dann gibt es dafür halt entsprechende Benutzungskosten. Ist das ein Weg der aus ihrer Sicht in Zukunft stärker beschritten werden wird? JERÁBEK: Kommt darauf an wer das Ganze inszeniert. Wenn eine ökonomische Gewalt wie Google Books dahinter steht, dann kann auch so ein Output produziert werden. Wenn solche Interessen dahinter stehen, wäre alles machbar. HAUSJELL: Welche Interessen könnten dahinter stehen, das was sie im Archiv der Republik haben komplett zu digitalisieren? JERÁBEK: Dass man das Archiv privatisiert. Der Staat erspart sich die Kosten für das Personal und Sonstiges. Die Firma, die übernimmt, verkauft dann gegen entsprechende Gebühren die Akteneinsicht und Ausdrucke etc. übers Netz. So könnte das funktionieren. Das wäre dann genau jene Tendenz, die wir seit dem Durchschlagen des Neoliberalismus in der Verwaltung haben. Wenn so ein Vorhaben Gewinnaussicht verspricht, ist die Gefahr, dass so etwas auch passiert, ständig da. SCHMUTZER: Also bei uns ist die Digitalisierung notwendig, weil es der Produktionsprozess erfordert. Auch wenn es andere Formen der Langzeitarchivierung gäbe. Ich glaube allerdings nicht, dass jemals das gesamte Archiv digitalisiert wird. Wir werden sicher auch immer Filmbestände bei uns haben. Im Hinblick auf die Haltbarkeit sind nicht die Filmbestände das große Problem, sondern die Magnetaufzeichnungsbänder der 60er, 70er und 80er Jahre. Die halten einfach nicht länger als 20 bis 30 Jahre und müssen deshalb kopiert und digitalisiert werden. Filme überdauern schon länger. Die vollständige Digitalisierung sehe ich – wie gesagt – nicht. Irgendwann wird man sich die Frage BALLHAUSEN: Die wirtschaftliche Motivation würde ich auch als potentielle Gefahr sehen, dass man – wie es so schön heißt – Institutions in Enterprises verwandelt. Das ist eine Problematik, die sich da- 40 m&z stellen, inwieweit es sich auszahlt Altbestände und Bestände, die nur selten benützt werden, durch die Maschinerie durchzuschleusen. Da das ORFArchiv wie auch das Filmarchiv aus urheberrechtlichen Gründen nie wirklich online gehen wird, wird auch die Benützung des Archivs bestehen bleiben. Auch die Außenstelle am Institut für Zeitgeschichte ist ja kein Online-Zugang, sondern ein Blick in unser Archivsystem. Das Archiv als Institution mit den Archivaren als Personen des Wissens und Geheimnisträger wird weiter bestehen bleiben. Ich habe eher das Gefühl, dass You Tube und Google, die Rezeptionsmentalität prägt. Nur was im Netz vorhanden ist, existiert wirklich. Damit werden Erwartungshaltungen an Archive geschürt, die nicht wirklich einlösbar sind. 2/2014 archivierung, die bestimmt auch die Digitalisierungsstrategie. Ich vermute, dass es in Fernsehstationen ähnlich ist, dass nicht unendlich viel Geld verfügbar ist und deshalb eine Strategie verfolgt werden muss. HAUSJELL: Weil das Schlüsselwort Geld gefallen ist: Max Weber zum Beispiel hat postuliert, dass die meisten sozialen Organisationen versuchen, durch Geheimhaltung von Kenntnissen und Absichten Macht zu gewinnen und zu erhalten, denn daraus wachse ihr struktureller Vorteil. Durch die finanzielle Förderung von Archiven – sei es durch staatliche Mittel oder durch die Vergabe von Forschungsgeldern zur Aufarbeitung und Pflege der Bestände – steuert die Politik das Wissen der Öffentlichkeit. Wie würden sie die diesbezügliche Politik – angesichts von Wirtschaftskrise und knapper Budgets – beschreiben? Stehen sie aufgrund der finanziellen Situation gewissermaßen alle in einem Konkurrenzverhältnis zueinander? Oder ist die Lage eher durch den Begriff der Kooperation zu bezeichnen? FRÖSCHL: Digitalisierung ist auch für uns nicht gleich Online-Stellen. Es ist wirklich materialabhängig, da geb ich Thomas Ballhausen völlig recht. Für Film ist die Notwendigkeit zu digitalisieren nicht so stark gegeben, wie etwa für Videoformate. Für manche unserer Bestände kann ich ganz klar sagen: Wenn wir sie nicht jetzt bis zu einer gewissen Zeit digitalisieren, ist das Material weg. Die Digitalisierungsstrategie ist immer auch eine Strategie der nachträglichen Ausscheidung von Medienarchiven. Eines kann ich ganz klar sagen: Wir werden nicht den gesamten Bestand der Österreichischen Mediathek digitalisieren können. Das heißt mit unserer Digitalisierungsstrategie entscheiden wir auch darüber was für künftige Generationen tatsächlich noch an Material vorhanden sein wird und was nicht. Das ist sicher auch immer eine Form des Geheimnisses des Archivs. Weil ich als Nutzer nicht weiß, welche Strategien dahinter stecken. Diese Hintergründe werden schließlich nicht öffentlich gemacht. Es wäre deshalb sinnvoll diese Überlegungen offenzulegen. Bei der Debatte um die Digitalisierung wird auch immer die Realität der digitalen Langzeitarchivierung übersehen. Bei uns ist es über Projekte immer noch möglich gewisse Bestände zu digitalisieren und aufzuarbeiten. Bei Audio bin ich danach mit relativ geringen, bei Video dagegen mit sehr großen Datenmengen konfrontiert. Und digitale Langzeitarchivierung heißt ja nicht, dass ich einmal in ein bestimmtes Format digitalisiere und dann bleibt das so. Das bedeutet, dass ich beständig migrieren muss, dass ich relativ große Speicher dafür benötige und die Institutionen dafür mit relativ hohen Kosten belastet werden. Die Tatsache der Möglichkeit der digitalen Langzeit- SCHMUTZER: Dass das ORF-Archiv für den aktuellen Betrieb notwendig ist und dass es jederzeit zur Auskunft rasch bereit stehen muss, hat zur Folge, dass das Archiv geschätzt und gefördert wird. Für spezielle Projekte wie etwa die Langzeitsicherung müssen wir immer wieder um das Geld kämpfen. Die Arbeit des Archivs ist – auch im ORF – kein Selbstläufer. Wir müssen uns nicht Legitimieren, da es im Gesamtzusammenhang des ORF klar ist. Aber wir müssen immer wieder unter Beweis stellen, dass eine finanzielle Ausdünnung des Archivs unmittelbare Folgen auf die Qualität des Programms haben könnte. Zur Finanzierung gehört auch dazu, dass der ORF zum Teil gebührenfinanziert ist und die andere Hälfte des Budgets verdienen muss. Dazu gehört eben auch, dass wir als Archiv unsere Leistungen vor allem an externe Kunden verrechnen. Dazu zählen nicht nur kommerzielle, sondern auch nicht-kommerzielle Kunden. Wir versuchen durch moderate Preisgestaltung den Zugang für Wissenschaft und Studenten möglichst leistbar zu halten. Aber wir müssen einen Anteil an den Technikkosten verrechnen, um all die anstehenden Aufgaben bewältigen zu können. FRÖSCHL: Ja, die Berechtigung des Archivs beruht sicherlich einerseits auf gesetzlichen Grundlagen. Wir sind das nationale Archiv für Audio und Video und für uns gilt ein Bundesgesetz. Finanziell sieht es so aus: Wir sind Teil des Technischen 41 m&z 2/2014 Museums. Alle Bundesmuseen, alle Bundestheater leiden darunter, dass die Basisabgeltung nicht erhöht wird. Defacto sieht es für uns deshalb auch so aus, dass wir weniger Personal und weniger budgetäre Mittel zur Verfügung haben. Wir versuchen den Ausgleich durch Drittmittelprojekte zu schaffen. D.h. wir reichen Wissenschaftsprojekte ein um Bestände aufzuarbeiten, was mit unseren normalen Kapazitäten nicht leistbar wäre. Dabei passt man sich natürlich gewissen wissenschaftlichen Konjunkturen an. Also wir trachten danach Themen einzureichen, die eine höhere Wahrscheinlichkeit haben auch bewilligt zu werden. Die kommerzielle Verwertung ist bei uns schwierig, weil wir – wahrscheinlich ähnlich wie beim Filmarchiv – nicht die Rechte am Material besitzen. Dies trifft für über 90 Prozent des bei uns liegenden Archivmaterials zu. Die Ausnahme bildet Material, das mittlerweile rechtefrei ist. Das ist in einem audiovisuellem Archiv aber nur ein geringer Anteil des Materials. Für alle anderen Inhalte wäre die rechtliche Verwertung relativ kompliziert zu klären, denn da hängt ein Rattenschwanz an Rechteinhabern dran. Für die Benutzung etwas zu verrechnen entspricht derzeit noch nicht unserem Selbstverständnis. Ich hoffe, dass das auch noch lange so bleiben wird. Ich glaube auch nicht, dass so eine Maßnahme die Rettung des Archivs bedeuten würde. So lange man die Nutzungsgebühren in einem einigermaßen moderaten Bereich hält, würden sie nicht die Kosten für die Digitalisierung, die Langzeitarchivierung etc. tragen. in wirtschaftlichen Parametern gemessen werden kann und soll. JERÁBEK: Zur Zeit der Besiedelung des neuen Archivs in Erdberg waren wir 147 Leute. Das ist 25 Jahre her. In der Zwischenzeit sind dutzende Kilometer an Akten hereinbekommen, die nicht erschlossen sind und wir sind nur noch etwa 100 Mitarbeiter. Früher hat man sich durch Praktikanten beholfen, die das auch für ihr Studium benötigt haben und die unsererseits nur unfallversichert wurden. Heute geht das nicht mehr, da man die Praktikanten bezahlen muss und uns dafür das Geld fehlt. Per se dient das Gesetz dazu, dass Privatfirmen und Banken Praktikanten nicht als gratis Kräfte für unangenehme Arbeit engagieren. Grundsätzlich ist der audiovisuelle Bereich wohl eher einer, bei dem die Benutzer nachvollziehen können, dass man etwas dafür zahlen muss. Audiovisuelle Materialien sind attraktiver, auch fürs Netz. Da haben wir eben das Laufbild oder wenigstens das Geräusch und die Musik. Akten dagegen sind sehr unattraktiv, das ist Flachware. Das schlimmste ist, wenn uns vorgeschlagen wird, es wie die Nationalbibliothek zu machen. Ja wir haben eben keinen Prunksaal von Fischer von Erlach. Wir sind weitestgehend auf traditionelle staatliche Finanzierung angewiesen. Es gibt oft kein Verständnis dafür, warum man für dieses oder jenes Gebühren einhebt. Akzeptanz findet nur die pauschal kostende Benutzerkarte. Anders verhält es sich mit dem sogenannten Rechercheangebot ohne Erfolgsgarantie. Da kann man sicher nicht die Kostenwahrheit nach drei ergebnislosen Stunden, mit einer Gebühr von ca. 35 Euro pro 30 Minuten, einfordern. Von Seiten des Kriegsarchivs gab es jetzt auch erstmals EU-Projekte. Die Abwicklung solcher internationaler Projekte ist derart kompliziert und schwierig, dass die anfallenden Personalkosten für die vierteljährlichen Berichte und die Buchhaltung usw. so hoch waren, dass kaum Gewinn übrig blieb. Man kann freilich froh sein, dass es Ergebnisse gibt und das Ganze ein Nullsummenspiel war. Im Deutschen Bundesarchiv zählt auch das Drucken und Aufarbeiten von Editionen zur Aufgabe des Archivs. Dafür werden wechselnd Akademiker in Vollzeit abgestellt, die nach Editierung des einen Bandes oder nach zwei Jahren wieder etwas anderes machen. Bei uns passiert so etwas über Vereine, die sehr stark ans Staatsarchiv angebunden sind. Die Österreichische Gesellschaft für historische Quellenstudien hat gemeinsam BALLHAUSEN: Es gibt auf jeden Fall die Notwendigkeit einen nicht unwesentlichen Teil des Budgets zu erwirtschaften. Sei es durch eigene Projekte, Editionen, durch Drittmittelprojekte, die schon angesprochen wurden. Man darf ja nicht vergessen, was uns dahingehend gesamteuropäische Studien deutlich machen: Von 100 Euro, die die öffentliche Hand investiert, entfallen 97 Euro auf die Förderung neuer Produktionen und drei Euro auf die langfristige Erhaltung und Digitalisierung ebendieser Produktionen. Insgesamt sehe ich eher die Kooperation im Vordergrund und weniger das klassische Konkurrenzszenario. Die Auswertung mit kommerziellen Partnern ist natürlich ein Faktor für uns. Wo wir über die Rechte verfügen, tun wir das auch sehr erfolgreich. Die Benutzung im Studienzentrum ist möglichst kostenfrei. Wir versuchen diesbezüglich auf die Zugänglichkeit zu setzen und damit eine Form von Notwendigkeit des Archivs zu demonstrieren, die nicht immer 42 m&z mit dem Vorgängerverein ca. 40 Bände Editionen gemacht. Andere Archive machen das im staatlichen Auftrag. Bei uns war derartiges schon damals nicht möglich. Diese Form der Drittmittelfinanzierung hat bis vor kurzem funktioniert, wird wahrscheinlich bald auch nicht mehr gehen. Wenn man nicht unter den von den Geldgebern proklamieren Mainstream fällt, ist es sehr schwer etwas aufrecht zu erhalten. 2/2014 Das macht dann nicht mehr der Wissenschafter, sondern es macht das Archiv selbst. Anscheinend ist es auch für Wissenschafter manchmal schwierig zu unterscheiden: Was ist die Deutung der Quelle und was ist die Quelle selbst? Ich finde diesen Aspekt der Funktionen und Aufgaben des Archivs interessant. Freilich gibt es ganz unterschiedliche Archivtypen. Es stellt sich die Frage ob der Begriff Archiv auch auf alle diese Institutionen zutrifft. In unserem Fall ist es so, dass die Aufnahme von Materialien ins Archiv nach keinerlei Automatismus erfolgt. Es gibt Archive bei denen das ganz klar ist. Bei uns ist es aber eher eine Sammlung. Angesichts dessen wird wohl auch die Frage nach der Macht des Archivs in einem anderen Kontext gesehen. Wie setzt sich überhaupt die Sammlung des Archivs zusammen? Welche Stücke kommen überhaupt rein? SCHMUTZER: Wir sind wohl alle aus Archiven, denen öffentliche Gelder zur Verfügung stehen. Ich finde es aber trotzdem nicht unanständig Benutzungsgebühren einzuheben. Ein Archiv aufzubauen, zu erhalten und zu pflegen kostet soviel an Ressourcen und Geld, dass ich es für vertretbar halte für die Benutzung einen kleinen Beitrag zu kassieren. HAUSJELL: Wir haben noch eine Schluss Fragerunde. Es gibt gezielte Geheimnisse und es gibt funktionale Geheimnisse. Im ersten Fall geht es darum, dass bestimmte Inhalte nicht bekannt werden sollen. Bei den funktionalen Geheimnissen gibt es mehrere Gründe, etwa die Konzentration auf bestimmte Themen, Trends, Themenkonjunkturen auch gezielte Forschungsförderung oder das Erschließen bestimmter Quellenbestände durch Publikationen. Archive können diesbezüglich auch mitsteuern, sei es durch Eventisierung, Ausstellungen, Veranstaltungen. Das ist freilich einfacher wenn man einen Prunksaal hat, braucht aber trotzdem Ressourcen. Sehen sie das als eine mögliche Strategie auf Bestände, die bisher nicht wahrgenommen wurden, aufmerksam zu machen? Braucht es dazu Mäzene? Braucht es interessierte Medien über die Interesse geweckt werden kann? Reicht es sich mit den Lehrenden an den Unis kurzzuschließen und durch Angebot eines Seminars zu einem bestimmten Thema die Aktenbestände zu erschließen? Braucht es so etwas überhaupt nicht aus ihrer Sicht? BALLHAUSEN: Ich muss der Kollegin auf jeden Fall zustimmen. Ich glaube, es braucht ein Bündel an Maßnahmen und viel an Eigenaktivität um auf die Bestände aufmerksam zu machen. Hier beginnen die sehr unterschiedlichen Aspekte eines Archivs zu greifen. Ein Großteil der Arbeit im Archiv ist ja unsichtbar. Und erst wenn sie nicht mehr funktioniert, wird es klar, dass da etwas nicht geklappt hat. Es gilt auch für diese unsichtbare Arbeit zu sensibilisieren, darauf aufmerksam zu machen was die Archive hier unter nicht immer einfachen Bedingungen leisten. Für Film als relativ junge Kunstform gilt es zusätzliches Interesse zu schüren. Grundsätzlich ist jedenfalls großes Interesse spürbar, auch für Film als historische Quelle, die man gleichwertig wie traditionelle Quellentypen wahrnimmt. JERÁBEK: Ich glaube, es wird erwartet, dass man sich präsentiert und auf etwas aufmerksam macht oder zu einem Konjunkturthema etwas beiträgt. Wenn wir als Staatsarchiv nicht auf unsere Bestände zu Propaganda im Ersten Weltkrieg, als Ausstellung und auch via Webausstellung, aufmerksam gemacht hätten, hätten wir uns berechtigter Kritik ausgesetzt. Schließlich sind wir der wichtigste Aktenbewahrer, nicht nur der militärischen Operationen, sondern auch des Sozialgeschichtlichen. Man konnte dabei auch bemerken, dass das Personal dadurch erheblich belastet wird, wenn man keine zusätzlichen Kräfte abstellen kann. Es reicht nicht, dass für einen Webauftritt Techniker arbeiten, es braucht auch Facharchivare, die das Ganze prüfen. Archive sind sicher FRÖSCHL: Ja braucht es schon. Wir nutzen das Internet um auf bestimmte Bestände hinzuweisen und dazu einzuladen damit zu arbeiten. Interessant finde ich, dass mit dieser Tendenz bestimmte Bestände der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen, immer auch eine Deutung verbunden ist. Das Archiv als Institution stellt bekanntermaßen die Quellen zur Verfügung. Die Frage ist, inwieweit auch die Deutungshoheit über diese Quellen beim Archiv liegt. Wenn man die Quellen in einer Art Edition veröffentlicht, interpretiert man sie mit und stellt diese Quellen in einen Kontext. 43 m&z 2/2014 durchsuchbaren Objekte. Dazu kommen auch noch sich wandelnde Vorstellungen der Öffentlichkeit. Natürlich muss ich Herrn Jerábek auch zustimmen. Man würde sich berechtigter Kritik aussetzen, würde man wichtiges Material zu einer Debatte zurückhalten und sich damit aus dem Diskurs herausnehmen. hinsichtlich der Anerkennung hinter Museen und Bibliotheken anzusiedeln. Bund und Länder zahlen immer noch gerne die sich niemals selbst erhaltende Staatsoper. Die Archive werden dem gegenüber etwas stiefmütterlich behandelt. FRÖSCHL: Es ist wahrscheinlich auch so, dass man sich immer an eine interessierte Öffentlichkeit wendet. Ich gehe mal davon aus, dass auch in der Staatsoper eine interessierte Öffentlichkeit sitzt, aber nicht nur. Archive fallen nicht in diesen Sektor der Freizeitgestaltung, wie es bei Museen, Theatern, bei Bibliotheken schon weniger, der Fall ist. Archive werden sich immer auf diese interessierte Öffentlichkeit beschränken und in diesem Kontext ist auch die Öffnung im Internet zu sehen. Es ist nicht so, dass nur weil ich etwas ins Internet stelle, Millionen von Besuchern, die sich vorher nie für Hörfunkjournale interessiert haben, jetzt plötzlich gesteigertes Interesse daran haben. Es ist nicht so, dass die Bestände, die man präsentiert, plötzlich auf eine Benutzerschaft treffen, die enorm explodiert und ansonsten niemals ins Archiv gehen würde. Wenn ich nicht ein bestimmtes Interesse habe, gehe ich nicht hin um ein Archiv zu benutzen. Durch die Kommunikation via Internet ändert sich nicht so riesig viel an diesen Rahmenbedingungen. SCHMUTZER: Ich seh das so ähnlich, nämlich dass das Interesse am Archiv als Ganzes ein eingeschränktes ist. Wir haben als ORF mehrere Angebote nach Außen, wir haben die TV-Thek, wir haben Themenarchive, die längere Zeit online stehen. Beim Archiv als Ganzes findet man eher weniger Leute, die interessiert sind und einen bestimmten Anspruch mitbringen. Dieser Gruppe geht es darum das Archiv als Ganzes zu nutzen. Dabei geht es nicht nur um ein Video, sondern um eine thematische Recherchen. Dieser Kreis ist deutlich kleiner und den erreicht man mit dem online Stellen, mit diesen Fenstern nach Außen, sonst nicht. Zum Thema Kooperationen: So etwas wäre für uns auch wichtig. Es gibt in den letzten Jahren einzelne Projekte, die sich mit dem ORF Programm beschäftigen, aber da gäbe es sicher noch mehr zu tun. Eine Anregung durch Lehrveranstaltungen wäre sicher sehr hilfreich. Wir versuchen durch Ferialpraktikanten, Teile unserer Bestände aufzuarbeiten. Ziel ist eben nicht nur die aktuellen Sendungen, sondern auch die historischen Bestände zu integrieren und das gestaltet sich als sehr zeitaufwändig. Aber wie gesagt: Es kann immer noch besser werden im Archiv. BALLHAUSEN: Man muss zwischen den Strategien und Möglichkeiten der Vermittlung unterscheiden. Wir haben an Europeana und daran gekoppelten Projekten indirekt als auch direkt mitarbeiten dürfen und haben deshalb guten Einblick in die Situation. Bewegtbilder werden etwa zehnmal häufiger frequentiert, es gibt eine höhere Verweildauer usw. Innerhalb von Europeana repräsentieren die audiovisuellen Angebote einen relativ geringen Prozentsatz dieser gesamten HAUSJELL: Ich denke das war ein schönes Schlusswort und damit bedanke ich mich fürs Gespräch. 44 m&z Thomas BALLHAUSEN, Filmarchiv Austria, Mag., Thomas Ballhausen wurde 1975 in Wien geboren und lebt ebenda, wo er Literaturwissenschaft, Deutsche Philologie und Philosophie studierte. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Filmarchiv Austria, Autor und Lehrbeauftragter u. a. an der Universität Wien und am Mozarteum. Ballhausen nahm 2013 als Autor an den Tagen der deutschsprachigen Literatur, besser bekannt als Bachmann Preis, teil. Internationale Tätigkeit als Kurator und Vortragender, Redakteur der Popkultur-Zeitschrift skug, Mitglied im Arbeitskreis für historische Kommunikationsforschung. Er wirkt seit 2001 im Studienzentrum des Filmarchivs Austria und damit an der Schnittstelle zwischen den Sammlungen des Filmarchivs und der Öffentlichkeit. Gabriele FRÖSCHL, Leitung Österreichische Mediathek, Mag. Dr., geboren 1969, studierte Geschichte, Wirtschafts- und Sozialgeschichte und Soziologie in Wien, Doktoratsstudium Geschichte. Seit 1999 in der Österreichischen Mediathek, einer Außenstelle des Technischen Museums Wien. Mitarbeit am Projekt der Digitalisierung und Langzeitarchivierung von audiovisuellen Medien mit dem Schwerpunkt Metadatenerfassung, Benutzung, Internetprojekte, wissenschaftliche Projekte. Seit 2011 Leitung der Österreichischen Mediathek. Ab 2006 wirkt sie auch im Bereich der Ausbildung u. a. als Lektorin an der Fachhochschule Eisenstadt für Informationsberufe und Lektorin im Lehrgang „Library and Information Studies“ der Österreichischen Nationalbibliothek sowie der Universitätsbibliothek Wien. Seit 2010 Lektorin am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien mit dem Schwerpunkt Quellenkunde audiovisueller Medien in der Geschichtswissenschaft. Fröschl ist auch Vorsitzende der maa – Medien Archive Austria. Rudolf JERÁBEK, Archiv der Republik, Dr., 1956 in Wien geboren, Studium der Geschichte und Kunstgeschichte an der Universität Wien, Promotion 1983. Seit Mai 1985 als Vertragsbediensteter im Österreichischen Staatsarchiv tätig, von 1985 bis 1988 in der Abteilung Allgemeines Verwaltungsarchiv. Während dieser Zeit betreute er als Referent die Bestände Hofkanzlei, Polizeihofstelle, k. k. Ministerium des Innern, Bundeskanzleramt, Handelsministerium, NS-Akten, Justizhofstelle, k. k. Justizministerium, Bundesministerium für Justiz und NS-Dienststellen. Im Zuge der Übersiedlung der Teilarchive in das zentrale Archivgebäude in Wien-Erdberg wurde Dr. Jerábek 1988 dem neu gegründeten Archiv der Republik zur Dienstleistung zugeteilt. Von nun an war er Leiter der Bestandsgruppe „BKA/Inneres/Justiz“, in der die sehr umfangreichen und sensiblen Akten des Bundeskanzleramtes, des Bundesministeriums für Inneres und des Bundesministeriums für Justiz zusammengefasst sind. Seit 1988 ist Dr. Jerábek Stellvertreter des Direktors des Archivs der Republik. Zahlreiche Publikationen zum Staatsarchiv und dessen Bestände wie zur Sicherung der Archivalien. Er erhielt das österreichische Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich. Kurt SCHMUTZER, Multimediales Archiv des ORF, Dr., 1967 in Waidhofen/Ybbs geboren, Studium der Geschichte und Kunstgeschichte an der Universität Wien und Ausbildungskurs für Historische Hilfswissenschaften am Institut für Österreichische Geschichtsforschung. Promotion 2008. Nach Praktika im Wiener Stadtund Landesarchiv und im Haus-, Hof- und Staatsarchiv (Hofkammerarchiv), arbeitet er seit 1992 im ORF als Redakteur und Gestalter in der Abteilung „Multimediales Archiv“. Kurt Schmutzer ist für die ORF-Archivaußenstelle an der Fachbibliothek des Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien zuständig. 45 2/2014 m&z 2/2014 Spezialbeitrag: Nachwuchsförderpreis der FG Kommunikationsgeschichte der DGPuK: Preisträgerin Dissertation Anke Fiedler wurde für Ihre Dissertation 2014 mit dem erstmals vergebenen Nachwuchsförderpreis der Fachgruppe Kommunikationsgeschichte der DGPuK ausgezeichnet. Dieser Aufsatz stellt die Arbeit und ihre zentralen Befunde vor. Gute Nachrichten für die SED Medienlenkung in der DDR als politische Öffentlichkeitsarbeit1 Anke Fiedler Université libre de Bruxelles Abstract In diesem Aufsatz geht es um ein Thema, das eigentlich schon längst beforscht erschien: die Medienlenkung in der DDR. Bis auf Propagandatheorien und Lenins Formel vom „kollektiven Propagandisten, Agitator und Organisator“ bietet die Literatur bis dato allerdings wenig Erklärungsansätze, wie Anleitung und Kontrolle der DDR-Medien funktioniert haben und wie sich diese vor allem veränderten. Mit einem theoretischen Ansatz aus dem Bereich der Public Relations soll daher ein neuer Blick auf das Medienlenkungsgefüge der DDR gerichtet werden. Die Untersuchung wird dabei von der These geleitet, dass weniger ideologische Maxime die tägliche Lenkung und Kontrolle der Medien beeinflusst haben als vielmehr die aktuellen Interessen der DDR-Führung. Entscheidend war in erster Linie, dass nichts an die Öffentlichkeit gelangte, was diesen Interessen schaden und dem Westen Munition liefern konnte. Vor dem Hintergrund der politischen Großwetterlage wandelten sich nicht nur die Interessen der SED, sondern entsprechend auch der Lenkungsapparat und die Lenkungspraxis. D ie DDR ist ein offenes Buch. Während die Sperrfrist für das Archivgut bundesdeutscher Behörden in der Regel 30 Jahre beträgt, wurde ein großer Teil der DDR-Archivalien bereits Anfang der 1990er Jahre der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Die Überführung der Akten von Partei und Staat in das Bundesarchiv und ihre rasche Erschließung mündeten in einen „spektakulären Boom der zeithistorischen DDR-Forschung und einen stetig wachsenden Strom einschlägiger Veröffentlichungen“, der im Jahr 2009 einen vorläufigen Höchststand erreichte (Jessen, 2010, S. 1056). Die Aufarbeitung der DDRMedienstrukturen steht dem in nichts nach: Mit Handbüchern und Sammelbänden zur deutschdeutschen Mediengeschichte (vgl. u.a. Pürer & Raabe, 2007; Wilke, 1999), historischen und systematischen Analysen zu einzelnen Medienangeboten in der DDR (vgl. u.a. Bösenberg, 2004) oder einer Vielzahl an (auto-)biografischen Werken über die Karrierewege von Journalisten und Funktionären (vgl. u.a. Schütt, 2009; Fensch, 2003) lässt sich mühelos jedes Literaturverzeichnis zum Thema DDR-Medien füllen. Warum also, möchte man da fragen, braucht es diesen Beitrag zur Medienlenkung in der DDR – dazu geschrieben von einer Autorin, die in den „alten Bundesländern“ aufgewachsen ist, sich nur noch Dieser Aufsatz basiert auf der im Böhlau-Verlag veröffentlichten Dissertation: Fiedler, A. (2014). Medienlenkung in der DDR. Köln. 1 46 m&z 2/2014 schemenhaft an den Fall der Mauer erinnert und Dienststellenleiter des Gesamtdeutschen Instituts eigentlich gar nicht wissen kann, wie es wirklich und wechselte nach dessen Abwicklung ins Bungewesen ist? desarchiv Berlin. Obwohl er dort im Wortsinn an Historische Forschung würde ihren Namen der Quelle saß, änderte sich der Duktus in Holznicht verdienen, wenn sie sich nicht immer wieweißigs Arbeiten zur DDR-Mediengeschichte der aus ihrer gegenwärtigen Position heraus neu selbst nach dem Mauerfall nur unwesentlich (vgl. bestimmen müsste. Ralph Jessen erklärt diesen Agde, 2003; Meyen, 2002): Presse, Hörfunk und selbstreflexiven Zugang zur Geschichte mit dem Fernsehen der DDR seien gekennzeichnet gewe„Verfallsrisiko“ von zeithistorischem Wissen, sen von „Monotonie“ (Holzweißig, 1983, S. 15), das stets vom Deutungshorizont der jeweiligen „Desinformation“ (ebd., 1997, S. 106) und „UniGegenwart abhängt (Jessen, 2010, S. 1052). In formität“ (ebd., 2002, S. 10). diesem Beitrag wird argumentiert, dass das „UrNicht unproblematisch ist hier seine Nähe zum teil“ über das DDR-Mediensystem gefällt worden Gegenstand: Jens Hüttmann hat die Geschichte ist, als dieser Deutungshorizont noch von Mauer und Entwicklung der bundesdeutschen DDRund Stacheldraht versperrt wurde (vgl. HolzweiForschung nachgezeichnet und herausgefunden, ßig, 1983; ders., 1989; Blaum, 1985; Geserick, dass „der biografische Faktor bis heute zentral 1989). Dieses Urteil oder (genauer gesagt) zeithifür das Feld der DDR-Forschung“ bleibe, auch storische Wissen über das wenn „die lebensgeMedienlenkungssystem schichtliche BetroffenHistorische Forschung würde der DDR, das dem Konheit am Forschungsgeihren Namen nicht verdienen, text des Kalten Krieges genstand DDR“ mit den entsprungen ist, wurde Generationswechseln abwenn sie sich nicht immer wienur sehr ungenügend in genommen habe. Diese der aus ihrer gegenwärtigen der jüngeren Vergangen„lebensgeschichtliche BePosition heraus neu bestimmen heit hinterfragt, obwohl troffenheit“ verleite dazu, „langfristige Prozesse hi„die eigenen historischen müsste. storischen Wandels und Erfahrungen in die Spraübergreifende Zusammenhänge oft erst aus gröche wissenschaftlicher Forschung zu übersetzen“ ßerer zeitlicher Distanz zu erkennen sind“ (Jessen, (Hüttmann, 2008, S. 43, 389). 2010, S. 1052). Das Verfallsrisiko bringt es mit Die zweite Annahme ist eng mit der ersten versich, dass viele Aspekte des DDR-Mediensystems knüpft: Die Vermutung liegt nahe, dass vor allem durch die heutige Brille anders zu deuten und zu in den 1990er Jahren kaum Interesse daran bebewerten sind als noch vor einem Vierteljahrstand, das Bild zu DDR-Medien zu differenziehundert. In diesem Beitrag wird daher danach ren. Die Einsetzung einer Enquete-Kommission gefragt: Wie funktionierte die Medienlenkung in 1992 zur „Aufarbeitung von Geschichte und der DDR? Welche Mechanismen entschieden daFolgen der SED-Diktatur in Deutschland“ und rüber, ob eine Nachricht in die Medien gelangte die Übernahme vieler ostdeutscher Zeitungen und wie sie dort gedeutet wurde? Und hat sich die durch westdeutsche Verlagshäuser beförderten ein Medienlenkung im Laufe der Jahrzehnte veränMeinungsklima, das einer konstruktiven Auseidert – und wenn ja, wie und warum? nandersetzung mit dem DDR-Journalismus von Diesen Fragen liegen drei zentrale Annahmen Beginn an feindlich gesonnen war. Während sich zugrunde: Erstens wird hier davon ausgegangen, ehemalige Redakteure der DDR-Medien anfangs dass die schnelle Öffnung der Partei- und Staatsnoch bereitwillig als Zeitzeugen befragen ließen archive die DDR-Geschichtsschreibung zwar be(vgl. u.a. Schubert, 1992), war das Verhältnis im schleunigt hat, aber gleichzeitig auch begünstigte, Laufe der 1990er Jahre zunehmend von Misstraudass zuvor gezeichnete Stereotype in kürzester en geprägt (vgl. Meyen & Fiedler, 2011). Zeit mit Aktenmaterial „belegt“ werden konnten Die aufgezeigte Problematik dürfte drittens und – ohne systematische Analyse mit der gebotenen letztens eine Erklärung dafür liefern, dass bislang zeitlichen Distanz. Beim Blick in die Literatur nur wenig Versuche unternommen wurden, das zum Thema DDR-Medienlenkung drängt sich DDR-Mediensystem vor dem Hintergrund eines vor allem ein Name in den Vordergrund: Guntheoriegeleiteten Bezugsrahmens zu analysieren. ter Holzweißig, geboren 1939 in Aue (Sachsen). Stattdessen wird in der Regel pauschal von „ProAls promovierter Historiker war er unter anderem paganda“ gesprochen oder auf die marxistisch-levon 1982 bis Ende 1991 Berliner Abteilungs- und ninistische Pressetheorie verwiesen, die aber jede 47 m&z 2/2014 Presseamtes beim Vorsitzenden des Ministerrates. Neben diesem Aktenmaterial sind Zeitzeugen die zweite wichtige Quelle. Zwischen Juli 2009 und Juli 2010 wurden insgesamt 31 teilstandardisierte Leitfadeninterviews mit ehemaligen DDR-Redakteuren und Funktionären aus dem Lenkungsapparat geführt (vgl. Meyen & Fiedler, 2011), die auch Fragen zur Anleitung und Kontrolle der Medien, zu redaktionellen Spielräumen oder zur Lenkungspraxis abdeckten. Bei der Auswahl der Befragten spielte außer den Kategorien Vielfalt (Generationszugehörigkeit, Geschlecht, Ressort) vor allem die Position (möglichst weit oben in der Hierarchie) eine Rolle, da Qualifikationsniveau, Reflexionsvermögen und der Überblick an der Spitze normalerweise am größten sind und auch dort die Regeln gemacht werden, die den Redaktionsalltag bestimmen. Befragt wurden unter anderem Günter Schabowski, der ab 1968 bereits stellvertretender Chefredakteur beim SED-Zentralorgan Neues Deutschland (ND) war und später als PolitbüroMitglied (ab 1984) zum innersten Führungszirkel der Partei gehörte, Hans Modrow, der 1971 bis 1973 die Abteilung Agitation im ZK der SED leitete, Arnolf Kriener und Günter Böhme (beide Mitglieder der Agitationskommission) sowie Kulturchef Christoph Funke und der stellvertretende Chefredakteur Werner Fahlenkamp, beide vom LDPD-Zentralorgan Der Morgen. Ist die Quelle Zeitzeuge ohnehin immer problematisch (weil die Erinnerung durch die Interessen der Gegenwart und den Wunsch nach Legitimation verzerrt wird) (vgl. Welzer, 2000), verstärkt sich dieser Zweifel bei Befragungen von DDR-Eliten, weil diese nicht nur um ihren Platz in der Geschichte kämpfen, sondern auch gegen die öffentliche Stigmatisierung. Für die vorliegende Untersuchung spricht, dass sie Quellen kombiniert (die Aktenüberlieferungen konnten zum Teil auch in die Interviews eingebracht werden) und dass sie sehr unterschiedliche Zeitzeugen einbezieht. für sich das „große theoretische Defizit“ (Scharf, 1988, S. 37) kaum zu schließen vermögen. Nicht nur die systematische Analyse der Medienlenkungsstrukturen der DDR wird in diesem Aufsatz daher eine zentrale Rolle spielen, sondern auch ein theoretischer Richtungswechsel: Medienlenkung wird hier nicht mit Propagandatheorien erklärt, sondern mit dem Konzept der „politischen Öffentlichkeitsarbeit“, die mit Klaus Mertens Definition von Public Relations als „Differenzmanagement zwischen Fakt und Fiktion durch Kommunikation über Kommunikation in zeitlicher, sachlicher und sozialer Perspektive“ (Merten, 2008, S. 55) verstanden wird. Diese theoretische Herangehensweise soll helfen, Anleitungsprozesse im SED-Medienapparat besser nachzuvollziehen, weil sie von der ideologiezentrierten Sichtweise von Propagandatheorien abrückt und Medienlenkung stattdessen als Interessenpolitik der DDRFührung begreift, die sich analog zur aktuellen politischen und wirtschaftlichen Großwetterlage änderte. Bevor jedoch auf das theoretische Konzept näher eingegangen wird, sollen zunächst die Quellen vorgestellt werden, auf denen der vorliegende Beitrag aufbaut. Im Anschluss daran wird Mertens Definition von politischer Public Relation diskutiert und sein Konzept dem Propagandabegriff gegenübergestellt. Im vierten und letzten Teil dieses Beitrags werden die Ergebnisse dann zu Thesen verdichtet, die entlang der PR-Theorie das Medienlenkungssystem der DDR beschreiben, einordnen und bewerten. Quellen Die vorliegende Untersuchung stützt sich neben der einschlägigen Literatur auf zwei wesentliche Quellen: Akten und Zeitzeugen. Im ersten Schritt wurden Archivalien aus dem Bundesarchiv in Berlin ausgewertet, die Aufschluss über Medienlenkungsstrukturen in der DDR geben konnten, zum Beispiel personelle Beziehungen, Anleitungsund Kontrollmechanismen, Anleitungswege sowie die Medienarbeit der SED-Chefs und ihrer Agitationssekretäre. Hierbei handelte es sich um rund 900 Akten, unter anderem aus den Beständen des Politbüros und Sekretariats des Zentralkomitees der SED, der beiden Büros von Walter Ulbricht und Erich Honecker, der Abteilung Agitation und Agitationskommission sowie des Theoretischer Hintergrund: Medienlenkung als politische Öffentlichkeitsarbeit Der Forschungsstand zu DDR-Medien zeigt, dass Propagandatheorien bis auf wenige Ausnahmen (vgl. u.a. Boyer, 2005; Friedrich, 2010) eine Monopolstellung in der Beschreibung von DDR-Mediengeschichte einnehmen. Dass sich die vorliegende Untersuchung nicht in diesen Kanon einreiht, erklärt sich vor diesem Hintergrund 48 m&z 2/2014 nicht von selbst. Studien, die mit Propagandakonsie waren genau wie die DDR-Medien Teil der zepten arbeiten, stellen die DDR-Medienpolitik Öffentlichkeit (vgl. Meyen, 2011). in der Regel in den Generalverdacht der ideoloDer letzte Punkt erscheint erklärungsbedürftig, gischen Orthodoxie, ohne Blick auf strukturelle da sich die beiden Begriffe „DDR“ und „ÖffentVeränderungen im Mediensystem und ohne eine lichkeit“ in der Literatur in aller Regel beißen. empirische Analyse der Medieninhalte (vgl. u.a. Propagandatheorien blenden aus, dass gerade Bytwerk, 1999). Holzweißig schreibt, dass Lendie DDR-Medien bei der politischen Orientieins Glaubensdogmen bis zum Ende der DDR rung im Alltag helfen mussten und zugleich auch „sakrosankt“ geblieben seien; die Strukturen der eingeschränkt Rückschlüsse auf Ziele der SEDAnleitung und Kontrolle wertet er folgerichtig als Führung zuließen, weil sowohl im Inland als auch konstant (Holzweißig, 1997, S. 9-11). im Ausland bekannt war, dass Presse, Funk und Ohne den Impuls der Ideologie wären die komFernsehen der DDR gelenkt und kontrolliert munistische Bewegung und ihre Instrumentawurden (vgl. Meyen, 2003). Wer mehr über den lisierung in Politik und offiziellen Standpunkt Medien in der Tat nicht der SED erfahren wollte, Die DDR-Führung musste nicht nachzuvollziehen. Blickt der musste die Tagespresnur ihren Machtanspruch manman allerdings über diese aufschlagen oder die sen Tellerrand hinaus, gels demokratischer Wahlen ge- Aktuelle Kamera einschalbleiben viele Fragen often, weil hier nicht nur rade über öffentliche Kommufen: Warum zum Beispiel die Interpretation der nikation legitimieren, sondern erinnern sich Journalisten SED von geschichtlicher, an Phasen, in denen es auch die Teilung der Nation und politischer und geselloffener zuging, und an schaftlicher Wirklichkeit den allgegenwärtigen SystemZeiten, in denen die Pozu finden war, sondern litik die Zügel besonders im Grunde auch das, was wettstreit mit der Bundesrepustraff hielt (vgl. Meyen & die DDR im Innersten blik, die wirtschaftlich davonFiedler, 2011)? Wenn die zusammenhielt. Martin eilte und damit die Illusion einer Sabrow spricht in diesem Medien von Gleichförmigkeit in Sprache und Zusammenhang von einer Überlegenheit des Sozialismus Inhalt gekennzeichnet „Konsensdiktatur“. Die im Fundament erschütterte. waren (wie PropagandaDDR-Medien vermittheorien suggerieren), telten einen „gleichsam warum haben dann die DDR-Bürger eine Zeivorpolitischen Wahrnehmungs- und Wertungstung wie das Neue Deutschland überhaupt erst in rahmen“, in dem „die herrschende Ideologie ihre die Hand genommen? Die (vielleicht) wichtigste eigentliche Wirkung überhaupt erst entfalten Frage lautet: Konnte sich die DDR als „moderkonnte“ (Sabrow, 1999, S. 91). Ob ein Ereignis ner Industriestaat“ mit „Spitzenposition“ im Ostin die Medien des Landes gelangte und wie es block (Benz, 2010, S. 145) einen Verzicht – man dort gedeutet wurde, entschieden aber nicht markönnte sogar sagen: einen Totalausfall der Medien xistische oder leninistische Prinzipen, sondern nach demokratisch-normativen Wertmaßstäben – vielmehr die aktuellen Interessen der SED. Die tatsächlich leisten, wie in der Literatur zu PropaDDR-Führung musste nicht nur ihren Machtanganda behauptet wird? spruch mangels demokratischer Wahlen gerade Diese Argumentationskette lässt sich weiter ausüber öffentliche Kommunikation legitimieren, bauen, wenn man die Rolle der Westmedien mitsondern auch die Teilung der Nation und den alldenkt. Die SED-Führung konnte zwar direkt auf gegenwärtigen Systemwettstreit mit der BundesRedaktionen und Inhalte der heimischen Medien republik, die wirtschaftlich davoneilte und damit zugreifen. Allerdings mussten Presse und Funk die Illusion einer Überlegenheit des Sozialismus immer gegen die Konkurrenz aus der Bundesreim Fundament erschütterte (vgl. Lindenberger, publik ankämpfen, auf die man keinen Zugriff 2009, S. 208). Die Massenmedien der DDR hatte. Natürlich gab es deshalb trotzdem keinen sollten der Parteiführung in diesem Kampf der offenen Meinungsmarkt in der DDR, aber die Systeme nicht nur unterstützend zur Seite stehen, Westmedien lieferten dennoch „frei Haus“ eine sondern auch die jeweils gültige Interessenpolitik andere Sicht der Dinge auf die Welt und stellten der SED transportieren. daher nicht nur eine Art Korrektiv dar, sondern Daher wird die Medienlenkung in der DDR in 49 m&z 2/2014 und Fiktionen war. Kommunikationsmanager müssen in zwei Dimensionen gleichzeitig optimieren: Es geht nicht um die wahrheitsbezogene Darstellung von Sachverhalten, sondern um deren situational bedingte Anpassung, allerdings ohne die Glaubwürdigkeit zu riskieren Das zeitliche Differenzmanagement spiegelt eine der Grundweisheiten der Public Relations wider, die lautet, „dass es eine richtige Zeit gibt, Dinge zu sagen und zu tun, aber eben auch eine falsche Zeit“. Hier muss die Frage daher lauten: Wie hat die SED-Führung die zeitliche Dimension „professionalisiert“ und „perfektioniert“, um tatsächlich eine politische Öffentlichkeitsarbeit zum jeweils richtigen Zeitpunkt (unter Umständen: sofort) garantieren zu können? Mit dem sozialen Differenzmanagement kann hingegen beschrieben werden, wie das Netz aus Lenkungsinstitutionen auf Partei- und Staatsebene für die notwendige Differenzierung der Kommunikation nach Zielgruppen im In- und Ausland sorgte (ebd., S. 4854). diesem Aufsatz als „politische PR“ der Führung des Landes verstanden, die mit Merten als „Differenzmanagement zwischen Fakt und Fiktion durch Kommunikation über Kommunikation in zeitlicher, sachlicher und sozialer Perspektive“ definiert wird (Merten, 2008, S. 55f.). Da die kommunistische Ideologie stets wie eine Folie im Hintergrund mitlief, entsprachen diese „Fakten“ aber nicht zwangsläufig objektiven Wahrheiten, sondern bereits reproduzierten Wirklichkeiten. Wenn der Begriff nicht paradox wäre, könnte man von „subjektiven Fakten“ sprechen. Die Ideologie half dabei, das Geschehene zu deuten, einzuordnen, auszuwählen und schließlich für die Fiktion aufzubereiten. Wenn man so will, war das Differenzmanagement zwischen Fakt und Fiktion im Grunde die Differenzbildung zwischen einer reproduzierten Wirklichkeit und einer Konstruktion dieser reproduzierten Wirklichkeit. Die Aufgabe von PR-Fachleuten liegt laut Merten „nicht in der strikt wahrheitsbezogenen Darstellung von Sachverhalten“, sondern in deren „situational bedingter Anpassung“. PR-Manager (oder hier: DDR-Journalisten und Medienfunktionäre) sind „professionelle Konstrukteure fiktionaler Wirklichkeiten“. Merten beschreibt diese Konstruktion als das durchgehende Bestreben, „Sachverhalte stets in positiver Tönung“, also letztlich „unter Dehnung von Wahrheit und Wahrhaftigkeit, darzustellen“. Das Ziel lautet, „die Öffentlichkeit über Täuschungen zu täuschen“, um „Images von Personen, Unternehmen, Ereignissen oder Ideen“ verändern zu können (ebd., S. 5155). Seine Definition ist zwar an die Mediengesellschaft gebunden. Die Ursprünge der Nutzung von Fiktionen (die bei ihm für alle Medien konstitutiv ist) liegen aber „tausende Jahre zurück, nämlich beim ersten kommunikativen Modus, der Propaganda“. Der Vorteil an Mertens Ansatz gegenüber anderen PR-Definitionen ist das darin enthaltene Prinzip der Differenzbildung, die „das Hantieren mit großen Flexibilitäten und hohen Komplexitäten erlaubt“ (ebd., S. 55f.). Das heißt, dass Medienlenkung in der DDR nicht als statischer Zustand begriffen wird (wie bei Propagandatheorien), sondern als durchaus flexibler und dynamischer Prozess. Bringt man Mertens Theorie mit der Medienlenkung zusammen, dann lässt sich für das sachliche Differenzmanagement resümieren, dass insbesondere die außenpolitische Lage der maßgebliche Faktor für die Differenzbildung zwischen Fakten Ergebnisse: DDR-Medienlenkung im Wandel Die Aufsatzform erlaubt nur eine schlaglichtartige Zusammenfassung und Auswahl der wichtigsten Ergebnisse, die hier zu Thesen verdichtet werden: These 1: Da die DDR-Medienlenkung an den aktuellen Interessen der SED ausgerichtet werden musste, veränderten sich auch die Lenkungsstrukturen im Laufe der Jahrzehnte entsprechend der „politischen Großwetterlage“: Personen kamen und gingen, einzelne Lenkungsinstanzen lösten sich entweder komplett in Luft auf oder wurden zur Makulatur. Diese These lässt sich am besten anhand der Westkommission und der Agitationskommission erklären, ursprünglich zentrale Gremien im Lenkungsgefüge, die sich im Laufe der Jahrzehnte in völlig unterschiedlicher Weise entwickelten. Ausschlaggebend hierfür waren drei politische Zäsuren: erstens der Bau der Mauer am 13. August 1961, zweitens die Anerkennungswelle im Zuge der Verabschiedung des Grundlagenvertrags 1972/73 und drittens die zunehmende Importverschuldung der DDR ab Anfang der 1980er Jahre vor dem Hintergrund der aufkeimenden Reformbewegungen in den osteuropäischen Ländern. Der politische Kontext blieb vor und nach den Ereignissen relativ konstant, so dass vier Pha- 50 m&z sen die Interessenpolitik der DDR-Führung und damit auch die Medienlenkungskurve bestimmten. Die erste Phase des Staatsaufbaus und der Ostintegration konzentrierte sich vor allem auf die innenpolitische Stabilisierung durch eine radikale ideologische Abgrenzung von der BRD und die Herausstellung der engen Verbundenheit mit der Sowjetunion. In diesen Zeitraum fällt auch die Gründung der beiden Kommissionen: Schon im Februar 1949 richtete das Politbüro die Westkommission ein, die nicht nur die Westarbeit der einzelnen Abteilungen im Zentralkomitee sowie der Nationalen Front und (Massen-)Organisationen koordinieren, sondern zugleich auch „die teils offene, teils konspirative politisch-ideologische Arbeit mittels der West-KPD“ führen sollte (Kubina, 1998, S. 415f ). Auch die Agitationskommission taucht erstmals 1949 in Protokollen des Kleinen Sekretariats des Zentralkomitees auf, laut denen das Gremium auf Basis „der Weisungen des Politbüros“ die Linie der Agitation „für Partei, Massenorganisationen, Verwaltungen, Presse, Funk, Film“ erarbeiten sollte.2 Beide Kommissionen waren von Beginn an als Expertengremien gedacht mit jeweils haupt- und ehrenamtlichen Mitgliedern, die für die allgemeine Medienstrategie und inhaltliche Vorgaben für Presse und Funk in Form von Argumentationsanweisungen verantwortlich zeichneten. Ihre Hochphase hatten die Kommissionen in den 1950er Jahren unter Führung des ZK-Agitationssekretärs Albert Norden. Der Mauerbau läutete nicht nur die nächste Zäsur ein, die sich durch die innenpolitische Konsolidierung der DDR auszeichnete, sondern auch das Ende der Westkommission, der mit dem Eisernen Vorhang quasi der Nährboden entzogen wurde, weil das Feindbild West immer unwichtiger wurde. Bereits am 19. August 1961, nur sechs Tage nach der Schließung der Grenze, beschwerte sich Hans Rentmeister, Sekretär der Kommission, bei Albert Norden darüber, dass ein Hinweis zu einem Beschluss des Parteivorstandes der SPD von Horst Sindermann, Leiter der ZK-Abteilung für Agitation, „als zu abstrakt und unbedeutend abgetan“ worden sei.3 Ähnliche Vorfälle häuften sich von nun an, wie Archivakten belegen. Rentmeister ließ man mit seinen Belangen einfach auflaufen. Ein Jahr nach dem Mauerbau wurde er 2/2014 von seiner Funktion als Sekretär der Kommission entbunden. Das politische Sterben der Westkommission war offensichtlich gewollt. Im Oktober 1964 berichtete Werner Lamberz, hauptamtliches Mitglied der Agitationskommission und ab 1967 Nachfolger von Norden als ZK-Sekretär für Agitation: „Seit vier Monaten geht von der Westkommission keinerlei Initiative für die Entwicklung der politischen Argumentation und Polemik in der DDR-Presse gegenüber der Bonner Politik aus“. Die Mitglieder würden „seit Monaten nicht mehr an den Argumentationsbesprechungen der Agitationskommission teilnehmen“.4 Im Juni 1965 wurde die ZK-Westabteilung zur maßgebenden Institution in der Arbeit nach Westdeutschland ernannt, die Westkommission musste ihre Richtlinienkompetenz abgeben und existierte fortan nur noch als beratendes Organ. Für die Medienlenkung wurde sie danach bedeutungslos. Die Entwicklung der Agitationskommission vollzog sich in einer auffälligen Analogie zum Untergang der Westkommission, aber das Ergebnis war ein anderes. Das Gremium verlor ab Mitte der 1960er Jahre zunehmend an Einfluss, da die SED-Führung den Kontrollanspruch über die Medien im verstärkten Maße für sich allein beanspruchte. Erst ging es „nur“ um die diplomatischen Beziehungen zu den sogenannten „jungen Nationalstaaten“ in Afrika und Asien. Mit der dritten politischen Zäsur, die mit der Schließung des Grundlagenvertrags 1972 eingeleitet wurde (dem der UNO-Beitritt der DDR 1973 und die Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte von Helsinki 1975 folgten), vollzog sich dann ein grundlegender Wandel in dem Gremium: Die Gängelung der Medien durch die Parteispitze wurde mehr und mehr zum Regelfall, weil man nicht riskieren wollte, die frisch geknüpften, diplomatischen Beziehungen mit Frankreich, den USA, Großbritannien und vielen weiteren westlichen Staaten durch eine negative Berichterstattung zu belasten. Nimmt man die überlieferten Protokolle als Maßstab, dann dürfte die Kommission höchstens noch in den ersten beiden Jahren unter Lamberz’ Führung annähernd wie bei Norden funktioniert haben. Bruno Wagner, Mitglied des Gremiums, Anlage Nr. 3, Protokoll Nr. 3/49 der Sitzung des Kleinen Sekretariats der SED, 7. Februar 1949, in: SAPMO-BArch, DY 30/J IV 2/3/3, Bl. 12. 3 Rentmeister an Norden, 19. August 1961, in: SAPMO- BArch, DY 30/IV 2/2.028/11, Bl. 113f. 4 Zur Mitarbeit der Westkommission, 13. Oktober 1964, in: SAPMO-BArch, DY 30/IV A 2/2.028/49, Bl. 171. 2 51 m&z 2/2014 These 2: Die politischen Zäsuren beeinflussten auch die Medienlenkungspraxis, die sich zunehmend von einer Nachzensur unter Walter Ulbricht in eine Vorzensur unter Erich Honecker wandelte. Der Lenkungsapparat wurde mit dem Machtwechsel in der SED immer hierarchischer, mit dem Generalsekretär an der Spitze der Lenkungspyramide. klagte bereits im Juni 1967 darüber, „daß die Kommission über wichtige Gesetze und Verordnungen erst aus dem ND erfährt“.5 Horst Pehnert, als Chefredakteur der Jungen Welt von 1966 bis 1971 ehrenamtliches Kommissionsmitglied, sprach im Zeitzeugeninterview von einem „Placebo“: Die Kommission habe „nicht mehr das gemacht, was sie machen sollte. Aktuelle Fragen aufarbeiten und dazu Argumente entwickeln“ (Pehnert, 2011, S. 165). Die Kontrolle über die Medienlenkung konzentrierte sich zunehmend bei einer Handvoll Funktionäre im Apparat. Während die wöchentliche Planarbeit unter Norden und Ulbricht das A und O war, spielte diese bei Werner Lamberz kaum noch eine Rolle. Stattdessen arbeitete man fast ausschließlich mit Halbjahresplänen, die das politisch-ideologische Konzept der Agitationskommission mit den Interessen der SED-Führung auf lange Sicht synchronisieren sollten. Während Lamberz noch ausdrücklich betonte, dass die Agitationskommission ein beratendes Organ der Parteiführung sei („sie wirkt koordinierend, trifft aber keine Entscheidungen“6), wurde unter seinem Nachfolger Joachim Herrmann, 1978 von Honecker in das Amt des Agitationssekretärs gehievt, auch dieses letztes Überbleibsel aufgeweicht. „Da wurde kein Gedanke mehr gefordert“, erzählte Arnolf Kriener, von 1985 bis 1989 in der Kommission zuständig für den Bereich Landwirtschaft (Kriener, 2011, S. 96). Die wirtschaftliche Krise im Ostblock und die einsetzenden Reformbewegungen, kennzeichnend für die vierte und letzte Phase, verschärften die Situation im Lenkungsapparat zusätzlich. Die Treffen mit allen haupt- und ehrenamtlichen Kommissionsmitgliedern fanden unter Herrmann jeden Dienstag nach der Politbürositzung statt und wurden so zu einer direkten Relaisstation für die Anweisungen aus dem Machtzentrum an die Medien umgebaut. Die Funktion der hauptamtlichen Mitarbeiter beschränkte sich in erster Linie darauf, als Schaltzentrale zwischen Herrmann, den anderen zuständigen ZK-Sekretären und den Journalisten zu agieren. Aus der ursprünglichen Idee eines proaktiven „Braintrusts“ (Kriener, 2011, S. 96) war unter Joachim Herrmann eine reaktive Schnittstelle zwischen ZK-Apparat und Medien geworden. Die These wird nicht nur durch den Bedeutungsverlust der beiden Kommissionen gestützt, sondern auch durch Zeitzeugen und die Akten aus den Büros der beiden Ersten Sekretäre. „Wir haben das getan, was zur Befriedigung der obersten Etage nötig war, und hatten sonst völlige Freiheit“, erzählte zum Beispiel Arnolf Kriener über seine ersten Jahre als ND-Redakteur in der UlbrichtÄra. Dennoch sei man gut beraten gewesen, Die Welt, den Tagesspiegel, den Kurier und den Telegraf regelmäßig zu lesen. Ulbricht „hatte nach dem Krieg festgelegt, dass das die wichtigsten Zeitungen des Klassenfeindes sind“ (Kriener 2011, S. 94f.). Der SED-Chef soll, so sein Büromitarbeiter Werner Micke, auch nur ein einziges Mal in der Redaktion des Zentralorgans gewesen sein – „zu einer Parteiversammlung“. Zwar habe er die Zeitung gelesen „und hier und da auch kritisiert“. In der Redaktion sei davon aber wenig angekommen (Micke, 2011, S. 134). Die Akten belegen, dass sich der Parteichef nicht täglich in die aktive Medienarbeit seines Zentralorgans einmischte (was bei Erich Honecker später Regel werden sollte). Zumindest lassen sich die dokumentierten Fälle an einer Hand abzählen. Aber er kritisierte durchaus (vor allem die elektronischen Medien), und dann mitunter auch sehr heftig. Im Juli 1961 meldete beispielsweise Norden an Sindermann, dass sich Ulbricht „heute beim Mittagessen sehr über die gestrige Sendung des Schwarzen Kanals mit Schnitzler“ aufgeregt habe, „und zwar über jene Stelle, wo Schnitzler den Friedensvertrag auf obszöne Weise diskreditiert“. Ulbricht drängte darauf, „dass mit den Genossen des Fernsehfunks und insbesondere mit Schnitzler selbst darüber gesprochen wird“.7 Erst Honecker machte die Medienarbeit zur Chefsache. Bereits als kommender Mann mischte er hinter den Kulissen mit und ließ sich dann als Generalsekretär sogar ADN-Meldungen, den Sendeablauf der Aktuellen Kamera und den Sei- Protokoll der Sitzung der Agitationskommission, 22. Juni 1967, in: SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/2.106/4, Bl. 28-30. 6 Protokoll der Sitzung der Agitationskommission am 22. Juni 1967, in: SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/2.106/4, Bl. 28-30. 7 Norden an Sindermann, 11. Juli 1961, in: SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/2.028/33, Bl. 131f. 5 52 m&z 2/2014 „Beiß nicht in die Hand, die dich füttert“, besagt ein Sprichwort. Mit der zunehmenden Abhängigkeit von westlichen Importen und Krediten verstummte auch die Kapitalismuskritik. In der Honecker-Ära verloren Anweisungen zur BRD dann massiv an Bedeutung (mehr als 25 Prozent Rückgang!). In den 1980er Jahren hatte der Regierungschef in erster Linie mit dem Krisenherd zu Hause zu kämpfen: Fast zwei Drittel aller Anweisungen drehten sich in den letzten beiden Jahrzehnten um das eigene Land (vgl. Fiedler & Meyen, 2010). Was aber bekam der DDR-Bürger zu Gesicht, als er seine Tageszeitung aufschlug? Nicht viel Überraschendes. Inhaltsanalysen zu den vier DDRZentralorganen Neues Deutschland, Junge Welt, Der Morgen und Neue Zeit zeigen, dass vor dem Mauerbau sehr viel über die Bundesrepublik berichtet wurde, der Anteil nach 1961 aber kontinuierlich sank, um erst Ende der 80er Jahre wieder leicht zuzunehmen. Analog zum Ausbau der diplomatischen Beziehungen nahm die Berichterstattung über die anderen nicht-sozialistischen Staaten zu. In der Anerkennungsphase wurde außerdem über kein Land so häufig berichtet wie über die Sowjetunion. Erst in den Krisenjahren 1980 bis 1989 sanken die Werte schließlich wieder auf fünf Prozent ab. Gorbatschow wollte man dann doch nicht so viel Aufmerksamkeit schenken wie Leonid Breschnew. Auch die Berichterstattung über den Westen veränderte sich in allen Zeitungen nahezu deckungsgleich – in Form einer Abwärtskurve. Während die vier Zentralorgane in der Phase nach der Staatsgründung besonders negativ berichteten (allen voran das Neue Deutschland und die Junge Welt, Schlusslicht ist der Morgen), wurde der Ton bereits nach dem Bau der Mauer versöhnlicher und pendelte sich schließlich in der Anerkennungsphase auf einem konstanten Level ein (vgl. Fiedler, 2011). tenspiegel des ND vorlegen, um die wichtigsten Nachrichten, meist aus Politik und Wirtschaft, in seinem Sinne zu beeinflussen. Manchmal wartete Joachim Herrmann mit den Seitenspiegeln bis tief in die Nacht, „wenn der Generalsekretär zur Jagd war. Ohne diesen Anruf war sich der Sekretär nicht sicher, ob wir alles richtig gemacht haben“, berichtete Günter Böhme, der nicht nur Mitglied der Agitationskommission, sondern auch „bei Joachim Herrmann der Mann für das ND“ war (Böhme, 2011, S. 123). Dass Gunter Holzweißigs These von einer „Zensur ohne Zensor“ (2002, S. 1f ) die Medienlenkung in der DDR nur sehr unzulänglich beschreibt, hat schon Jost-Arend Bösenberg in seiner Studie zur Aktuellen Kamera betont: „In der DDR existierte vielmehr eine Zensur mit umgekehrter Methode, nämlich der Freigabe von zuvor mit festgelegtem Tenor gefertigten und gefilterten Informationen.“ (Bösenberg, 2004, S. 160) These 3: Mit den politischen Zäsuren änderten sich nicht nur Tenor und Fokus der Argumentationsanweisungen aus dem Lenkungsapparat, sondern folgerichtig auch die Berichterstattung der DDRMedien. Dass die politische Großwetterlage Einfluss auf das Differenzmanagement in sachlicher Dimension genommen hat, verdeutlicht etwa eine Inhaltsanalyse der überlieferten Argumentationsanweisungen: Während die Ulbricht-Jahre eindeutig von Hinweisen zur DDR und BRD dominiert wurden (Stichwort: Abgrenzung nach dem Mauerbau), legte sich der Fokus der gelenkten Berichterstattung in den Jahren unter der Führung von Erich Honecker auch auf andere Regionen, wie die westeuropäischen Staaten oder Polen (vor dem Hintergrund der Krise Anfang der 1980er Jahre). Auch die „jungen Nationalstaaten“ bedachte man häufiger mit Anweisungen als noch zu Walter Ulbrichts Zeiten. Offenbar sah die SED-Spitze im Zuge der internationalen Anerkennung höheren Kontrollbedarf, um keine politischen oder wirtschaftlichen Partner zu verprellen (zumal im Ausland bekannt war, dass die DDR-Medien gelenkt wurden). Dies spiegelte sich auch im Tenor der Direktiven wider: Während in der Ära Ulbricht mehr als 30 Prozent der Fernschreib-Telegramme mindestens eine negative Aussage zum nicht-sozialistischen Ausland enthielten (der Großteil davon betraf die BRD), kam dies unter Erich Honecker nur noch in rund acht Prozent der Fälle vor. These 4: Auch wenn die SED-Führung die zeitlichen Abläufe im Lenkungsapparat im Laufe der Jahrzehnte optimierte, konnte sie nur bei den Themen über den Zeitpunkt der Veröffentlichung bestimmen, über die der Westen mit Sicherheit keine Informationen hatte. Sobald die Medien der Bundesrepublik oder des restlichen (nicht-sozialistischen) Auslands DDR-kritische Meldungen lancierten, war die SED-Führung zu einer Reaktion gezwungen – sei es durch prompte Disziplinarstrafen im Lenkungsapparat oder durch eine sofortige Gegenreaktion in den eigenen Medien. 53 m&z 2/2014 Die politische Öffentlichkeitsarbeit „zum richtigen Zeitpunkt“ hing von einer wesentlichen Einflussgröße ab: der Verkürzung der Lenkungswege. Die Kommissionen, in denen zum Teil stundenlang über einzelne Argumentationsanweisungen debattiert wurde, und Fernschreibtelegramme als Überbringer dieser Direktiven wurden auch deshalb schrittweise abgeschafft, weil der Zeitgewinn immer mehr in den Vordergrund rückte. Eine Optimierung der Lenkungspraxis stellte (aus Sicht der SED) die direkte Anleitung durch den Generalsekretär dar, dessen Anweisungen in den 1970er und 1980er Jahren fast nur noch über das Telefon oder in mündlichen Argumentationssitzungen (den „Donnerstags-Argus“) verbreitet wurden. Eine schnelle Reaktion wurde dann gefordert, wenn der Westen negativ über die DDR berichtete. Das lag nicht nur am Empfang von bundesrepublikanischen Fernseh- und Hörfunkprogrammen auf ostdeutschem Territorium. Die „Strategen des Kalten Krieges“ kämpften ebenso um die „Hirne und Herzen der Bürgerinnen und Bürger des jeweils anderen Lagers“, wie auch darum, die „Legitimität und Lebensfähigkeit des gegnerischen Machtblocks zu untergraben“ (Lindenberger, 2006, S. 11f ). Der (vermutete) Einfluss des Westfunks spiegelte sich in der gesamten Informationspolitik der DDR-Führung wider, so dass man ohne Übertreibung sagen kann, dass auch die Medien der Bundesrepublik die Medienlenkung in der DDR „gelenkt“ haben. Die Strategien im Umgang mit den Westmedien wurden im Laufe der Jahre immer ausgefeilter. Vor allem Programmstrukturen und Sendezeiten mussten immer wieder an die Konkurrenz der Bundesrepublik angepasst werden, um das wachsende Unterhaltungsbedürfnis der eigenen Bevölkerung zu stillen (vgl. Meyen, 2003). In der Abteilung Agitation entwickelte man Kampagnen gegen konkrete Sendungen oder Meldungen der Westmedien. Hans Modrow, in den 1970er Jahren Leiter der ZK-Abteilung für Agitation, sagte im Interview, dass das Fernsehen für Erich Honecker „am allerwichtigsten“ gewesen sei. Lamberz habe jeden Abend vor einem Apparat gesessen, Je wichtiger die Informationen waren, desto schneller verbreiteten sie sich im Zentralkomitee, beispielsweise im Vorfeld des Besuchs von Bundeskanzler Helmut Schmidt in der DDR: „Lieber Genosse Honecker! Anliegend schicke ich zu Deiner Kenntnis die erste Kommentierung unserer beiden Kommentare zur Erklärung Schmidts aus dem Deutschlandfunk von heute früh. Die westlichen Agenturen gehen ebenfalls darauf ein, worüber im Laufe des Tages informiert wird“, meldete Joachim Herrmann im April 1981.8 Die eng beschriebene, dreiseitige Transkription der kompletten Sendung im Deutschlandfunk (Ausstrahlung um 7:35 Uhr) lag bereits vormittags auf dem Schreibtisch des Generalsekretärs. Obwohl die DDR-Medien in Technik und Qualität hinterherhinkten – und damit auch in der Meinungsführerschaft, da immer die Gefahr bestand, dass das Programm im Konkurrenzkanal bunter, aktueller oder informativer war – gab es natürlich trotzdem Bereiche, bei denen die SED das zeitliche Differenzmanagement unabhängig von der Westkonkurrenz bestimmen konnte, etwa in der Lokalberichterstattung und auch weitgehend in Fragen der Innenpolitik. Hier hatten die DDRBürger und selbst die akkreditierten Westkorrespondenten (die erst ab Anfang der 1970er Jahre ihre Arbeit aufgenommen hatten) nur begrenzten Informationszugang und Einblick in interne Abläufe. These 5: Die DDR-Medien konnten vor allem dort ihr individuelles Erscheinungsbild entfalten, wo sowohl die aktuellen Interessen der SED als auch der Westen eine untergeordnete Rolle spielten, etwa im Sport, in der Lokalberichterstattung oder in der Kultur. Inhaltsanalysen zeigen, dass tatsächlich die Teile der Medien besonders uniform waren, die auf den Westen zugeschnitten wurden: vor allem der Politik- und Wirtschaftsbereich (vgl. Fiedler, 2011). Warum die Idee einer gleichförmigen Berichterstattung in den DDR-Medien dennoch nicht aufgehen konnte, lässt sich mit der PR-Theorie leicht erklären. „Public Relations begins at home“, lautet ein viel zitierter Leitsatz in der Literatur. Die Mitarbeiter einer Organisation oder eines Unternehmens (die sogenannte „interne Öffentlich- „wo er alle vier Programme sehen konnte. Unten die beiden Westsender, oben von uns das erste und das zweite. Man konnte aber auch die ARD nach oben holen“. (Modrow, 2011, S. 42) Herrmann an Honecker, 10. April 1981, in: SAPMOBArch, DY 30/IV 2/2.037/5, Bl. 146. 8 54 m&z 2/2014 differenzierte Betrachtung der Medienstrukturen paradoxerweise sogar eher verzögerte. Das Pauschalurteil der Propaganda ist ebenso wenig haltbar wie die Formel von der „Zensur ohne Zensor“, die in der Literatur ohne Überprüfung immer weiter kolportiert wurde. Es hat sich gezeigt, dass die politische Öffentlichkeitsarbeit der SED, die hier mit Klaus Merten als keit“) sind „eine der wichtigsten Dialoggruppen der PR“. Nur zufriedene Mitarbeiter können als glaubwürdige „Multiplikatoren“ für die Ziele des Unternehmens in der externen Öffentlichkeit werben. Eine PR nach innen muss deshalb „die Identifikation der Mitarbeiter mit der Organisation unterstützen und den kontinuierlichen Dialog zwischen Management und Mitarbeitern ermöglichen.“ (Grupe, 2011, S. 179f ) „Differenzmanagement zwischen Fakt und Fiktion durch Kommunikation über Kommunikation in zeitlicher, sachlicher und sozialer Perspektive“ (Merten, 2008, S. 55) Auch die Medien der DDR wollten der Bevölkerung theoretisch das bieten, was den Menschen zur persönlichen Zufriedenheit verhalf: Entspannung durch einen guten Film, Hintergrundmusik bei der Arbeit oder eine interessante Lektüre (vgl. Meyen, 2003). Die Organe der kleinen Blockparteien beispielsweise sollten „den unterschiedlichen Teilen des Mittelstandes […] ein spezifisches Bündnisangebot“ unterbreiten und mussten schon deshalb Handwerker, Selbstständige, Bauern oder kirchlich gebundene Leser wenigstens in Teilen ihrer Zeitungen anders ansprechen als die SED-Blätter (Matysiak, 2005, S. 479). „Der Morgen hatte ein gutes Ansehen. Nicht zuletzt wegen des Kulturteils“, erzählte Werner Fahlenkamp, stellvertretender Chefredakteur im Zeitzeugengespräch (Fahlenkamp, 2011, S. 267). Das lag auch daran, dass die Zeitungen der LDPD „viele begabte Theaterkritiker“ hatten. definiert wurde, in allen drei Dimensionen sehr stark von äußeren Einflussfaktoren abhing. Das sachliche Differenzmanagement änderte sich analog zur gegenwärtigen (außen-)politischen Situation. Medienlenkung war also nicht statisch, sondern flexibel und elastisch. Mit dem zunehmenden Bedeutungsverlust des Westens nach dem Bau der Mauer wurde auch die Westkommission als spezielles Lenkungsgremium für die Arbeit nach Westdeutschland abgeschafft. Die Agitationskommission verlor in dem Moment an Einfluss, als die außenpolitische Verantwortung wuchs und sich zugleich schleichend das „System Honecker“ etablierte. Die Differenz zwischen Fakt und Fiktion wurde im Laufe der Jahrzehnte mit Blick auf außenpolitische Beziehungen zwar kleiner (man wollte den Westen nicht verprellen!), über die Wohnungsprobleme, leeren Regale und Glasnost fanden die Leute trotzdem (und gerade deswegen) nichts in den Medien. Damit konnte die SED zwar das Bild eines solventen, autarken Staates in Richtung Westen aufrechterhalten, die eigene Bevölkerung wurde dagegen in der Medienberichterstattung mit einer völlig unrealistischen Wirklichkeitskonstruktion vor den Kopf gestoßen. Das konsequente Ausschalten aller negativen Meldungen oder Gegenstimmen, die dem Westen Munition liefern konnten, hatte eine ganze Zeitlang auch auf Rezipientenseite stabilisierende Wirkung. Auch wenn die Bevölkerung wusste, dass die Medien durch die SED gelenkt wurden, und obwohl bestimmte Informationen Rückschlüsse auf Absichten der Führung zuließen, war es trotzdem erst Ende der 1980er Jahre möglich, eine kritische Öffentlichkeit herzustellen, die weite Teile der Bevölkerung erreichen konnte. Das öffentliche Eingestehen von Fehlern hätte das politische System der DDR verwundbar gemacht. Das Differenzmanagement der SED hat zwar erlaubt, neue Schulden beim Westen machen zu „Jede Theaterkritik sollte spätestens am zweiten Tag nach der Premiere erscheinen, wenn wir da eine Kulturseite hatten. Wenn heute manche Westkollegen meinen, wir hätten immer auf das ,Neue Deutschland‘ warten müssen, dann ist das eindeutig Quatsch“, berichtete auch der ehemalige Kulturchef der Zeitung, Christoph Funke. „Wir hatten manchmal den Text schon im Blatt, wenn die SED gerade beschlossen hat, dass über diese Aufführung nichts geschrieben wird.“ (Funke, 2011, S. 272, 275) Zusammenfassung und Fazit Dieser Beitrag wird das Wissen über die Medienlenkung in der DDR mit Sicherheit nicht revolutionieren. Aber es dürfte deutlich geworden sein, dass die (zu?) schnelle Öffnung der Partei- und Staatsarchive der DDR die Verbreitung gängiger Klischees nicht nur begünstigte, sondern eine 55 m&z 2/2014 können. Es trug aber letzten Endes dazu bei, dass die DDR-Führung jegliche Glaubwürdigkeit in der Bevölkerung verlor, weil die Neuverschuldung über ein Medienbild erkauft werden musste, dass in keiner Weise mehr der Realität entsprach. Dass eine solche Einengung des Kommunikationsraums einer Gesellschaft, auch den „innovationsfördernden gesellschaftlichen Meinungsstreit“ im Keim erstickte, wurde von der SED-Führung bis zuletzt nicht erkannt (Gibas, 1998, S. 64). Wenn man so will, liegt hier der inhärente Wider- spruch von sozialistischen Medien: Auf der einen Seite mussten Presse und Funk das „Erwerbsziel“ bedienen: den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft, die Schaffung eines „neuen Menschen“ über Bildung und Aufklärung. Auf der anderen Seite ging es stets um die Erfüllung des PR-Ziels: dem Westen keine Blöße zu geben und sich als Staat zu präsentieren, der wirtschaftlich auf Augenhöhe mit dem kapitalistischen Ausland stand: die Quadratur des Kreises. 56 m&z 2/2014 Bibliographie: Agde, G. (2003). Holzweißig, Gunter: Die schärfste Waffe der Partei. Eine Mediengeschichte der DDR. Köln. Abgerufen von http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2003-2-129, Zugriff am 24.05.2014. Benz, W. (2010). 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In: BIOS – Zeitschrift für Biographieforschung und Oral History, 13(1), S. 51-63. Wilke, J. (Hg.) (1999). Mediengeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Bonn. Anke FIEDLER 2000-2006 Studium der Kommunikationswissenschaft, Soziologie und Psychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) und Université Panthéon-Assas Paris II, 2006-2008 Projektassistenz UNESCO Irak Büro in Amman, 2009-2013 wissenschaftliche Mitarbeiterin und Promotionsstipendiatin an der LMU München, 2012 Promotion zum Dr. phil mit einer Dissertation zur Medienlenkung in der DDR (erschienen 2014 im Böhlau Verlag), seit 2014 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Université libre de Bruxelles (ULB). Aktuelle Publikationen: Meyen, M. & Fiedler, A. (2013). Wer jung ist, liest die Junge Welt. Die Geschichte der auflagenstärksten DDR-Zeitung. Berlin Fiedler, A. & Meyen, M. (2011). Fiktionen für das Volk. DDR-Zeitungen als PR-Instrument. Münster; Meyen, M. & Fiedler, A. (2011). Die Grenze im Kopf. Journalisten in der DDR. Berlin. 58 m&z 2/2014 Rezensionen Theory von Glaser und Strauss, deren Potenzial für die Technik- und Medienforschung auch in einem eigenen, abschließenden Kapitel erörtert wird. TANJA CARSTENSEN & CHRISTINA SCHACHTNER & HEIDI SCHELHOWE & RAPHAEL BEER (HG.): Digitale Subjekte. Praktiken der Subjektivierung im Medienumbruch der Gegenwart. Bielefeld, transcript Verlag 2014, 300 Seiten. Das Hauptkapitel „Arbeitsalltag im Internet“ (TU Hamburg-Harburg) widmet sich dem genannten Teilprojekt „webbasierte Erwerbsarbeit“ mittels digitaler Technologien. Dabei wurden junge Menschen zwischen 22 und 30 Jahren aus den Bereichen Online-Journalismus, Webdesign, Social Media-Beratung und Programmierung mittels Leitfadeninterviews befragt. Auffälliges Merkmal war dabei vor allem die „Entgrenzung“ sowohl zwischen Erwerbsarbeit und freizeitorientierten Lebensbereichen, als auch zwischen Öffentlichkeit und Privatsphäre. Gerade die Herausforderung „Grenzziehung“ wurde dabei ganz unterschiedlich bewältigt: So gibt es neben dem Muster des „Genussvollen Grenzverwischers“ (S. 43), der die neuen Herausforderungen gewinnbringend und spielerisch für sich nutzen kann, auch noch andere Muster wie „Sehnsüchtige Mehrarbeit“ (S. 48), „kontrolliert-strategisches Grenzmanagement“ (S. 51), „Umgang mit Entgrenzung als Belastung“ (S. 55) oder „Pragmatische Abgrenzung“ (S. 61). Keineswegs sind die genannten Berufsfelder für alle TeilnehmerInnen gleichermaßen befriedigend: Wie konstituieren sich Subjekte in Zusammenhang mit Digitalen Medien und neuen Technologien? Konkreter gefragt, welche Lebenswirklichkeiten verändern, welche Subjektentwürfe gestalten und welche Praktiken entwickeln junge Menschen während ihres Heranreifens und ihrer Berufstätigkeit im Umfeld von Internet und neuen Computertechnologien? Welche Dynamiken menschlichen Seins entstehen dabei? Diesen Fragen widmete sich das interdisziplinäre Verbundprojekt „Subjektkonstruktion und digitale Kultur“ (SKUDI), das in vier Teilprojekten von ForscherInnen der TU Hamburg-Harburg, der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, der Universität Bremen und der Universität Münster durchgeführt wurde, und dessen Ergebnisse die Basis für das vorliegende Buch bilden. Beteiligt waren dabei WissenschaftlerInnen aus den Bereichen Soziologie, Medienwissenschaften, Philosophie, Politikwissenschaft, Informatik, Kulturwissenschaft und Gender Studies. Im Fokus der Untersuchungen stehen Elf- bis 32-Jährige, deren Persönlichkeitsentwicklung erstmals von Anfang an in Interaktion mit Digitalen Medien stattgefunden hat. Ebenso vielfältig wie sie, sind auch die sie umgebenden gesellschaftlichen Umbrüche und Herausforderungen: Globalisierung, Transnationalisierung und Prekarisierung. „Während manche Umgangsweisen entwickeln können, mit denen sie den Wandel genießen und teilweise sogar aktiv mitgestalten können, erfordert es von Anderen viel Selbstdisziplinierung, die richtigen Umgangsweisen zu finden; wieder Andere sind erschöpft und angestrengt…“ (S. 70) Die Untersuchung verschiedener „technischmedialer Verhaltensschauplätze“ (S. 16) wurde auf die Projektpartner aufgeteilt: Die Hamburger Gruppe untersuchte den Schauplatz „Webbasierte Erwerbsarbeit“, in Klagenfurt wurde die „Kommunikation in virtuellen Öffentlichkeiten“ erforscht, in Bremen stand das „Lernen in Interaktion mit technischen Artefakten“ auf der Agenda und in Münster erfolgte die Auseinandersetzung „Formen und Inhalte des Subjekts“. Bei letzterer handelt es sich um eine Theoriearbeit, die jeweils mit den mittels qualitativer Methoden gewonnenen Ergebnissen der drei erstgenannten Projekte in Beziehung gesetzt wurde. Verbindender methodischer Rahmen war dabei die Grounded Auch strukturelle Ungleichheiten sind bemerkenswert: etwa, dass (meist männliche) Programmierer stark nachfragt werden, während offenbar kommunikative und künstlerische Berufsfelder eine deutlich niedrigere Bewertung erfahren. Die hohen Anforderungen, um in der Branche mithalten zu können, machen aber „auch den Druck und die Ausschlüsse deutlich, die produziert werden, betrachten wir diese Berufe in Relation zur Gesamtgesellschaft.“ (S. 71) Das Hauptkapitel „Kommunikationsort Internet“ basiert auf dem Teilprojekt „Kommu- 59 m&z 2/2014 nikation in virtuellen Öffentlichkeiten“. Das Klagenfurter Team wählte 24 Netzdiskussionen und unterzog sie einer Netzanalyse, wobei neben deutschsprachigen auch englischsprachige Netzwerke aus den USA, Kanada und der arabischen Region untersucht wurden. 33 AkteurInnen von elf bis 32 Jahren wurden in Folge ausgewählt, um mit ihnen thematisch strukturierte Interviews zu führen. Zur Gewinnung zusätzlicher Daten wurden die ProbandInnen auch noch gebeten ihre Aussagen mit ein oder zwei Zeichnungen zu ergänzen. Auf der Basis dieser Daten wurde eine Typologie kommunikativer Praktiken entwickelt (die sich in der Praxis auch überschneiden können): Bei den „Praktiken des Formwandels“ (S. 100) fungiert der Cyberspace z.B. als Bühne für den Wandel vom Kind zum jungen Erwachsenen oder von einer Außenseiterin zur selbstbewussten Frau. Ein weiteres Beispiel ist die Auseinandersetzung mit dem Gender-Thema in der arabischen Welt, wo zwischen muslimischen Mädchen und Jungen online über Vorstellungen von „Männlichkeit“ diskutiert wird. „Praktiken der Selbstinszenierung“ (S. 105) dienen hingegen nicht der Ich-Suche, sondern der Selbstpräsentation – sowohl privat, als auch beruflich. Praktiken des Grenzmanagements zwischen verschiedenen Öffentlichkeiten und privaten und öffentlichen Räumen dienen als „Antwort auf strukturelle Entgrenzungen“ (ebd.). Das Gegenteil stellen „Praktiken der Grenzüberschreitung“ (S. 119) dar, z.B. Tabubrüche im Arabischen Frühling, oder rollenbezogene Grenzüberschreitungen. Unterschieden werden auch noch „Praktiken des Handelns und Verkaufens“ (S. 128), sowie „Spiel- und Spaßpraktiken“ (S. 129) wie etwa Kommunikationsspiele oder Comics. Gedeutet werden diese Strategien als, „Versuche […] Kohärenz im eigenen Leben herzustellen“ (S. 147). Dabei, so das Fazit, sei das Internet keineswegs ein Paradies. „Uneindeutigkeit, Differenzen und Widersprüche zu leben ist nicht nur befreiend, sondern auch anstrengend.“ (ebd.) Dabei war von Interesse „wie die Jugendlichen sich in Beziehung zu den digitalen Artefakten setzen, wie sie mit ihnen kommunizieren und interagieren und welchen Grad an Autonomie sie ihnen zusprechen.“ (S. 156) Im Zuge der beobachteten Interaktionsverläufe konnten auch in diesem Projekt mehrere „Subjekttypen“ konstruiert werden: so etwa das „professionelle Subjet“ (S. 187), das sich, ähnlich dem „genussvollen Grenzverwischer“ aus der Arbeitsweltgruppe, mit dem technischen Umfeld gut und kreativ verbindet. Eigene Ideen werden dabei „mit Verwertungsgedanken und Marktlogiken verknüpft“ (S. 188). Demgegenüber steht ein „emanzipatorisches Subjekt“ (S. 190), das auch Selbstoptimierung betreibt, „jedoch nicht vorrangig, um gesellschaftlichen und beruflichen Anforderungen zu entsprechen, sondern um sich selbst zu entfalten und persönliche Freiheiten zu etablieren.“ (S. 190) Weniger erfolgreich nutzen können die neuen Techniken das sogenannte „zertifikationsorientierte Subjekt“ (S. 193), welches nur nach Feedback strebt, das „desinteressierte Subjekt“ (S. 195), welches Interaktionen als unnütz erlebt, das – in Anlehnung an Levi-Strauss sogenannte – „Bricolage-Subjekt“ (S. 198), das improvisierend mit den Artefakten umgeht, und letztlich das „ambivalente Subjekt“ (S. 200), welches den eigenen Kompetenzen nicht vertraut. Ein weiteres Hauptkapitel diskutiert entsprechend dem Teilprojekt „Formen und Inhalte des Subjekts“ der Universität Münster die Frage, inwieweit das Subjekt frei ist oder durch die Gesellschaft gemacht bzw. beschränkt wird. „Denn, wenn oben postuliert wurde, insbesondere auch bei den Neuen Medien käme es darauf an, was die Subjekte daraus machen, muss geklärt werden, ob sie denn überhaupt selbstbestimmt etwas daraus machen können.“ (S. 254) Im Hauptkapitel/Teilprojekt „Lernen in Interaktion mit Digitalen Medien“ geht es um Subjektkonstruktionen in Zusammenhang mit Lernen anhand „algorithmischer Welten“ (S. 156). Kern dieses Projekts der Universität Bremen waren verschiedene digitale Installationen: etwa „der Schwarm“ (S. 163), kleine auf den Boden projizierte Lichtpunkte, die mit BeobachterInnen interagieren, oder Bausteine zum Herstellen von kleinen Robots. Dabei spannt Autor Raphael Beer einen gewaltigen Bogen von Descartes, Hume, Kant, Husserl, Hobbes, Locke und Rousseau bis zu Adam Smith, Marx, Durkheim, Nietzsche, Horkheimer & Adorno, Bourdieu, G. H. Mead und Habermas. Letztlich wird auch noch die Hirn- 60 m&z 2/2014 forschung Wolf Singers gestreift und diesem die Philosophie Sartres gegenübergestellt. Ein Fazit Beers: Mensch verdiente er eine eigene, aus publizistischer Sicht gefaßte Biographie.“ (S. 701f ) „Mit Sartre und Habermas gibt es auf der anderen Seite gewichtige Hinweise darauf, dass der Prozess der Aufklärung zwar nicht unbedingt vollendet ist, aber auch keineswegs abgebrochen.“ (S. 263) Haackes Anregung ging ins Leere des Faches; niemand von uns entdeckte diesen glänzenden Publizisten – und damit mehr: einen Protagonisten des anderen, des demokratischen Deutschland. Offensichtlich ist die Geschichtswissenschaft für solche Phänomene notorisch sensibler. Und so ist es nun der Inhaber einer Juniorprofessur Europäische Aufklärung an der Universität Potsdam, Iwan-Michelangelo D ’Aprile, der zwar nicht die Biographie (dafür mangle es an Quellen), aber doch eine umfassende Studie und Briefdokumentation vorlegt, in deren Mittelpunkt Buchholz steht. D ’Apriles Ausgangsthese ist, dass die Zeitgeschichtsschreibung um 1800 zwar nicht neu erfunden wird, aber doch eine grundlegend veränderte Qualität gewinnt. Als Quellen für diese Innovationen entdeckt er Journalisten und deren Geschichtsschreibung, denn die „Grenzen zwischen akademischer Geschichtsschreibung und Journalismus (sind) um 1800 fließend“. Er identifiziert – elementar für die Berufsgeschichte des Journalismus, aber bisher kaum beachtet – einen Das vorliegende Werk zeigt vielerlei facettiert, dass es sich bei den vielfach sogenannten „Digital Natives“ keineswegs um eine homogene Gruppe handelt, sondern dass es auch hier – nicht zuletzt abhängig von Milieus und Herkunft – im Zuge der verschiedenen Anpassungsprozesse GewinnerInnen und VerliererInnen gibt. Ein wichtiges Buch zum Begreifen digitaler Kulturen, wobei die gewonnenen Typologien für weitere Forschungen durchaus anschlussfähig erscheinen. Erik Bauer, Wien IWAN-MICHELANGELO D ’APRILE: Die Erfindung der Zeitgeschichte. Geschichtsschreibung und Journalismus zwischen Aufklärung und Vormärz. Mit einer Edition von 93 Briefen von Friedrich Buchholz an Johann Georg Cotta 1805-1833. Berlin, Akademie Verlag 2013, 438 Seiten. „neuen Autorentypus [...]: den JournalistenHistoriker, der zumeist vom Schreiben lebt, <hauptberuflich> als Redakteur oder Journalist tätig ist, häufig bewusst Universitätsprofessuren ausschlägt und Ämter und Würden erst auf der Basis seiner Popularität als Journalist erhält.“ (S. 9) Ein Kurt Bahrs legte 1907 über ihn eine Dissertation des Titels Ein preussischer Publizist (17681843) vor; in der einschlägigen presse- und journalismusgeschichtlichen Literatur finden sich nur zufällig einige Zeilen: Friedrich Buchholz ist – anders als seine journalistischen Zeitgenossen Friedrich von Gentz (1764-1832) oder Heinrich Heine (1797-1856) – gründlich vergessen. Wenn man diesen ersten Eindruck allerdings überprüft, führt einen Wikipedia zu einem verblüffenden Fund: für die Neue deutsche Biographie (Bd. 2, Berlin, Behaim-Bürkel, 1955) hat Wilmont Haacke einen Eintrag über Paul Ferdinand Friedrich, Publizist, 5.2.1768 (Alt-Ruppin) – 24.2.1843 (Berlin) beigesteuert (abrufbar über die Digitale Bibliothek in München). Der kurze Text endet so: Die gängige Bezeichnung für diese Personen ist „Zeitschriftsteller“ – neben Buchholz zählt der Autor z.B. auch Ernst Ludwig Posselt (17631804), Karl Ludwig Woltmann (1770-1817), Paul Usteri (1768-1831), Heinrich Zschokke (1771-1848) und „viele weitere“ dazu. Wenn ein Aufklärungsforscher das so sieht, verweist er fraglos auf beklagenswerte Forschungsdefizite einer genuinen Kommunikationsgeschichtsschreibung und schlägt dieser geradezu ein Forschungsprogramm vor – deshalb oben dieses lange Zitat! Seine eigene Analyse, die über 200 Seiten des schön ausgestatteten Buches ausmacht, handelt eher von „Geschichtsschreibung“ als von „Journalismus“ und lädt so zur anders gewichtenden Fortsetzung des ersten Kapitels („Journalisten als Historiker“) ein. Besonders herausfordernd dabei müsste eigentlich sein, dass „Historiker-Journalisten im frühen 19. Jahrhundert ein europaweites Phäno- „B. war ein glänzender Publizist. (...) Ähnlich wie sein Gegner Gentz wird er höchst verschiedenartig beurteilt. Als Stilist, als Politiker, als 61 m&z 2/2014 men sind“ (S.20f.). Hier liegen noch unbeachtete Wurzeln der Verberuflichung des Journalismus, nach denen die Journalismus-Forschung ja immer wieder sucht. D ’Aprile spricht von „erstaunlichen europäischen Journalistenkarrieren dieser Zeit“ (S.5 3). Parallel damit ging eine initiative verlegerische Pflege der populären Geschichtsschreibung einher; diese Tradition hält bis heute an, nun multimedial und durch eigenständige investigative Rechercheleistungen beglaubigt. Dank der Akademisierung gibt es ja nicht wenige studierte Historiker im Journalismus, die also für eine eindrucksvolle Kontinuität stehen. Mit dem hier ausgebreiteten Gedanken v.a. von Friedrich Buchholz verbinden sich immer wieder Lektüreerlebnisse, wie sie der historisch Interessierte genießt und an anders Orientierten schmerzlich vermisst: So vieles, was eben erfunden erscheint, gehört längst zu den gesicherten historischen Beständen. So findet man in dieser Geschichte des 19. Jahrhunderts höchst anschauliche Spuren der Ausbildung von demokratischem Staat, Gesellschaft, Öffentlichkeit, Zensur und Medien. Im zweiten Teil des Buches, der akribisch sorgfältigen Edition von über 90 Briefen, die Friedrich Buchholz an seinen Verleger Cotta zwischen 1805 und 1833 schrieb, wird das ganz lebendig. Dieser erweist sich nicht nur als ein geistreicher Schreiber, sondern auch als ein hellsichtiger Analytiker der Gesellschaft. So leuchtet ein, dass er schon vor Jahrzehnten von Hans H. Gerth in die Entstehungsgeschichte der Soziologie eingereiht wurde. Ein immer wieder sich aufdrängender Stoßseufzer angesichts dieser Korrespondenz: Wie lange brauchen Gesellschaften, um zu lernen, was von intellektuell trainierten Köpfen längst durchdacht und in den Diskursen vielfältiger Netzwerke geklärt ist? Das Lesevergnügen an diesen Briefen macht aber auch ihr journalistischer Duktus aus – so, wenn Buchholz über den Suizid von H. von Kleist und „Madame Vogel“ berichtet. Der Band ist also einerseits Analyse und andererseits Edition in dokumentarischer Absicht. Welche Fülle da an Material geborgen und an Erkenntnissen gewonnen wurde, das macht einem noch einmal das umfassende Quellenverzeichnis (S. 391-409) und das Literaturverzeichnis (S. 410-431) klar. Letzteres kritisch musternd, drängen sich zwei Beobachtungen auf: Diese Arbeit resultiert offensichtlich aus befruchtenden Zusammenhängen und Umgebungen an der Universität Potsdam, wo auch Frank Bösch lehrt. Zusammen mit vielen einschlägigen Titeln zeich- net sich da ein ertragreiches Interesse an Kommunikationsgeschichte innerhalb der universitären Geschichtsforschung ab, das in der historischen Kommunikationswissenschaft zu wenig beachtet wird – ausweislich der üblichen Zitationsriten. Umgekehrt gilt das aber ebenso: D ’Aprile etwa kennt in diesem Buch keinen Otto Groth, nicht Walter Hömbergs für sein Thema einschlägige Dissertation Zeitgeist und Ideenschmuggel. Die Kommunikationsstrategie des Jungen Deutschland (Stuttgart 1975), nicht das dreibändige, voluminöse Standardwerk des gerade an journalistischen Formen interessierten Literaturhistorikers Friedrich Sengle (1909-1994): Biedermeierzeit (Stuttgart 1971, 1972, 1980), nicht die Pressegeschichten von Margot Lindemann und Kurt Koszyk oder die Bücher zur Zeitschriftengeschichte von Wilmont Haacke (1911-2008). Zugegeben: Jeder Geschichtsforschung ist immanent, dass sie nicht (mehr) überblickbare Massen an wissenschaftlich gewonnenem Wissen produziert. Aber andererseits löst gerade dieses Fach immer wieder auf oft glanzvolle Weise den Anspruch auf große Werke, auf Gesamtdarstellungen ein. Warum kann es nicht, so wie es eine mehrbändige Deutsche Gesellschaftsgeschichte (Hans-Ulrich Wehler) gibt, eine – am besten gleich: europäische – Kommunikationsgeschichte geben? Solche Synthesen sind offensichtlich möglich, wenn sich die diversen Geschichtswissenschaften mehr als bisher und systematischer wechselseitig wahrnehmen. Wolfgang R. Langenbucher, Wien/München MONIKA DOMMANN: Autoren und Apparate. Die Geschichte des Copyrights im Medienwandel. Frankfurt am Main, S. Fischer 2014, 427 Seiten. Monika Dommann liefert mit ihrem mehr als 400 Seiten Umfang starken Werk einen mit 71 Abbildungen garnierten historischen Abriss über 200 Jahre Verwertungspraxis- und -theorie zwischen Werkschöpfer und Werknutzer in dem transatlantischem Raum USA, Deutschland, Frankreich und Großbritannien. Die Erkenntnis lässt sich, in positiver Konnotation, kurz halten: Intermediäre, also Zwischenhändler, traten in den vergangenen Centurien einen erfolgreichen Feldzug gegen die Anbieter-Nachfrager-Beziehung an und sorgten im Ergebnis – vielleicht – für die im 21. Jahrhundert erkennbare Entfremdung in der Beziehung 62 m&z zwischen Künstler und Publikum, geht es um eine monetäre Anerkennung für den Austausch und Verbreitung von Werkkopien. Diese Konsequenz stellt Dommann anhand der Beispielsachverhalte Fotokopie und Musikaufnahme nach. Die Zeitreise durch das Urheberrecht ist geprägt von technologischen Disruptionen, die Ende des 20. Jahrhunderts in Multimedialität geradezu zerfließen. Der bisweilen philosophisch gehaltene Text Dommanns ist nach der rechtsgeschichtlichen Einleitung in drei Hauptkapitel (Schrift und Aufzeichnung, Verwertungsagenturen und Forschungsmaterialien sowie Privatkopien und Universalnormen) mit zwei anschließenden Epilogen (Rechtsgeschichten des technischen Medienwandels und bibliographischer Essay) gegliedert. Vervollständigt wird die Publikation mit Dank, Anmerkungen, Bibliographie (S. 368-409!), Abbildungsnachweis und Abkürzungsverzeichnis sowie einem Register. 2/2014 ungleich schärfere Dimension der Vergütungssystematik erlangt. Widerrechtliches Kopieren und der, im Zweifel, daraus folgenden Verfügbarkeit von Server-verteilten Werkkopien kann als Fluch (unkontrollierte Verbreitung und publikumsfeindliche Programme des Digital Rights Management) und Segen (Verlängerung der Alternativen zur Publikumsansprache) gleichermaßen in Dommanns Darstellung hineingedacht werden. Die Rezeption eröffnet eine stringent und integral ausgerichtete (rechts-)geschichtswissenschaftliche Dokumentation inklusive der maßgeblichen technologischen Entwicklung von Verbreitungs-, Vervielfältigungs- und Speichermedien. Dadurch unterbleiben – aus der Perspektive des Rezensenten – leider Entwürfe für eine Lösung des durch die Digitalisierung unter erneuten Druck geratenen Urheberrechts modernen Verständnisses mit einer temperierten Balance zwischen Urheber und Publikum (wie jüngst in Großbritannien erreicht; „digitale Privatkopie“1). Das Pendel zwischen Ökonomisierung und kultureller Verantwortung der an einem Austausch beteiligten Akteursgruppen wird nicht nur einerseits durch intransparente und umstrittene Handelsabkommen wie ACTA (Anti-Counterfeiting Trade Agreement) oder TTIP (Transatlantic Trade and Investment Partnership) in Schwingungen versetzt. Andererseits im Kern um ein gesellschaftspolitisches Verständnis der Adressaten für Kunst und Kultur, nicht der genauso exklusiven wie nicht mehrheitsfähigen Zirkel anspruchsvollen Connaisseure, sondern denen eines in ganzer Breite zu verstehenden Bürgertums, das nicht nur mit dem Merkmal der Vertragsfreiheit ausgestattete Urheber geistiger Schöpfung in bedrückender Freiheit hinterlässt, sondern ebenso weite Teile des redaktionell verankerten, gemeinen Medienbetriebs vor die hartnäckige Herausforderung einer letztlich doch notwendigen Monetarisierung von Kulturgütern stellt. Hier funktioniert es häufig im Einklang der Vertragspartner, direkter Natur oder indirekter (beispielsweise Kinolangfilm), dort reiben sich andere untereinander und gegeneinander auf (beispielsweise Zeitungsverlage). Konstant und sichtbar bleiben unter Dommanns Licht die prozessualen Schritte: der Technologie folgt die Ökonomie, folgt die Konsumtion, folgt die Politik, folgt das Recht. Die Kreation befindet sich Das Copyright steht unter politischem wie auch gesellschaftlichem Druck. Dieses Einflussmoment stellt sich nicht nur im Medienwandel qua Digitalisierung und nur in diesem Themenbereich dar, sondern ist ein Phänomen des Medienbetriebes gemeinhin. Der von Dommann identifizierte Einstieg mit dem im 18. Jahrhundert erdachten und im 19. Jahrhundert etablierten Urheberrecht weist in kurzer Folge auf den Konflikt zwischen Kultur- und Wirtschaftsgütern hin, der kreatives Schaffen als „Arbeit“ definiert und den Eintritt in das unternehmerische Handeln vollzieht. Ein „digitaler Moment“ bezeichne in Dommanns Reflektion eine Zäsur, die Immanenz des Medienwandels. McLuhans „The Gutenberg Galaxy“ dient auch hier als willkommene Inspiration für die Darstellung von Umbrüchen und neuen Balancezuständen zwischen pragmatischtechnischer Auswertung von tangiblen Rechten und poetisch-aufklärerischen Zugängen geistiger Werkschöpfer. Dass die Autorin ihre Einlassungen lediglich bis in die 1980er Jahre dokumentiert und verarbeitet (der Kern des Buches liegt in den drei Hauptkapiteln und rund 230 Seiten), sich nur einen Ausblick auf die Gegenwart erlaubt, ist offenbar ihrer Linie als Historikerin geschuldet. Die Sachlage hat sich mit dem in die gesellschaftliche Mitte gerückten Kommunikationskanal „Internet“ bereits eine neue Dimension, Vgl. Krempl, S. (2014): Privatkopie wird legal in Großbritannien. In: heise.de. Abgerufen von http://heise.de/-2280923, Zugriff am 31.07.2014. 1 63 m&z 2/2014 trotz alledem am Anfang und doch irgendwie dazwischen auf der Strecke, verordnet sie sich nicht ein kalkulatorisches Kalkül. sorin für Romanische Sprach- und Kulturwissenschaft an der Universität Passau und Direktorin des dortigen Instituts für Interkulturelle Kommunikation, liegen die Vorträge nun auch schriftlich vor. Im Mittelpunkt stehen Fragen danach, inwieweit das interkulturelle Kommunikationspotential digitaler Medien ausgeschöpft wird; wie virtuelle Grenzüberschreitungen tradierte Verhaltensweisen beeinflussen und welche Rückwirkungen eine sich im Internet herausbildende, neue Kultur auf den nicht-virtuellen Alltag hat. In den 23 Beiträgen kommt zwar keine wirklich multikulturelle (zumindest, wenn es nach dem im Band vertretenen Kulturverständnis geht), dafür aber eine multidisziplinäre AutorInnenschaft zu Wort: neben der Kommunikationswissenschaft, Literatur-, Medien- und Sprachwissenschaften ist auch die Rechtswissenschaft, die Wirtschaftsinformatik, die Ethnologie, die Geographie sowie die Psychologie vertreten. Gegliedert ist das Werk in drei Teile. Kritik und gleichzeitiges Verständnis an dem vorliegenden Werk muss an den Einlassungsdimensionen Musik und Fotokopie vermerkt werden. Einerseits beanspruchen diese Felder eine spezifische Berücksichtigung, andererseits kann die Aufteilung in verschiedene Anwendungsgebiete der in der Digitalisierung vorherrschenden Multimedialität von durch Kreativität geschaffenen Werken nicht gerecht werden. Das Konvergenzparadigma des Medienwandels qua Digitalisierung verlangt nach einer Berücksichtigung, eröffnet damit gleichzeitig neue politische Arenen. Die Balance zwischen Kreativen, Verwertungsvertretern, Konsumenten, Technologien und dem politischen Weg zu neuen gesellschaftlichen Konsensen für ein akzeptierfähiges Urheberrecht bleibt unklar und wird – ganz der Entwicklung entsprechend – den expliziten Akteuren nach ihren eigenen Agenden selbst überlassen. Ein mit viel Faktenwissen und kluger Auslegung und Zusammenfassung von vielfältigen, interdisziplinär ausgewählten Quellen versehenes Werk wie das vorliegende wird den Weg in die Spitzen der politischen Arena zur Neugestaltung finden. Ein Lesen sei allen an der Kreativwirtschaft teilhabenden Protagonisten bzw. Kollektiven zur Stärkung der Auswertungsdurchsetzung, als auch antagonistischen Agenten empfohlen. Zentrales Element des mittlerweile vielfach rezensierten Werkes Monika Dommanns Autoren und Apparate. Die Geschichte des Copyrights im Medienwandel ist in den Aushandlungen, Kompromissen, Anspruchsstellungen der Urheber. Und die Bibliographie. Den Abschnitt Identität und Persönlichkeit eröffnet Alois Moosmüller mit seinen Ausführungen zur Bedeutung virtueller sozialer Netzwerke für die Akkulturation und Identitätskonstruktion von MigrantInnen. Der Ethnologe geht davon aus, dass Identität von MigrantInnen nicht aus ihrer Heimat mitgebracht, sondern in der Ankunftsgesellschaft in Auseinandersetzung mit der neuen Lebenssituation hergestellt wird. Digitalen Diasporas kommen dabei verschiedene Funktionen zu: so erhalten MigrantInnen in der NetzCommunity jene Anerkennung, die ihnen die Mehrheitsgesellschaft verwehrt; können sich im Austausch mit anderen versichern, mit ihrer Situation nicht allein zu sein; haben die Möglichkeit familiäre Gefühle gegenüber in verschiedenen Ländern lebenden Familienangehörigen, kulturelle Besonderheiten sowie Bindungen an die Heimat aufrecht zu erhalten; erlangen neue Perspektiven auf ihr Herkunftsland und vieles mehr. Digital Memories widmet sich Birgit Neumann. Anhand exemplarischer Online-Projekte zu den Anschlägen auf zivile und militärische Gebäude in den USA vom 11. September 2001 setzt sie sich mit den Jan Krone, St. Pölten URSULA REUTNER (HG.): Von der digitalen zur interkulturellen Revolution. Baden-Baden: Nomos 2012, 499 Seiten. Der digitale Wandel hält Einzug in unser Leben und verändert dieses mitsamt unseren Kommunikations- und Interaktionsformen nachhaltig. Vor dem derart konstatierten Hintergrund fand im Sommer 2011 an der Universität Passau das Kolloquium Von der digitalen zur interkulturellen Revolution statt. Mit dem gleichnamigen Sammelband, herausgegeben von Ursula Reutner, Profes- „Veränderungen, die das Web 2.0 für die Konzeption wie auch für Manifestationsformen des kulturellen und kommunikativen Gedächtnisses mit sich bringt“ (S. 17) auseinander. Darüber hinaus zeigt sie auf, wie 64 m&z es durch die zunehmende erfahrungsspezifische Darstellung von Einzelschicksalen zu einer Individualisierung der Kollektiverinnerung kommt. An Stelle der repräsentativen Kollektivvergangenheit wird nun die individuelle Erfahrung erinnert. Schließlich eignet sich der 11. September als Ausgangspunkt für die Beschäftigung mit transkultureller Erinnerung. Diesbezüglich stellt die Anglistin fest: 2/2014 der Möglichkeiten interkultureller, virtueller Zusammenarbeit unterschiedlich optimistisch sind und teils sogar unterschiedliche Zuschreibungen an die amerikanische Kultur vornehmen, muss sich der/die LeserIn hier auf einige Redundanzen einstellen. So ähneln sich die herausgearbeiteten Herausforderungen wie auch die Ratschläge, wie diese zu meistern sind: Kommunikation ist der Schlüssel zum Erfolg. Querverweise zwischen den Beiträgen fehlen indes vollkommen. Im einzigen nicht-deutschsprachigen Beitrag des Bandes präsentieren die Wirtschaftsinformatiker Franz Lehner und Christian Warth die Ergebnisse ihrer action research zu Wissenstransfer von einem deutschen zu einem indischen Unternehmensstandort. Nach einem Überblick über den Forschungsstand kommt es zur Darstellung eines Wissensmanagementprojektes der Universität Passau und eines Automobilzulieferers. Innerhalb diesen konnten die Autoren unterstützende Maßnahmen herausarbeiten, die sich in einer ersten Evaluation bewährt haben. Hier zeigt sich, wie akademisches Wissen in der Praxis angewandt werden kann. „Die Transkulturalität der Erinnerung unter dem Vorzeichen der (digitalen) Globalisierung zieht indes keine Einebnung kultureller Differenz nach sich, sondern geht im Gegenteil mit der Produktion kultureller Differenz einher.“ (S. 96) An transkulturelleren Erinnerungsorten wird also keine Deterritorialisierung, sondern vielmehr die Bedeutung der Lokalisierung sichtbar. Neben weiteren Beiträgen umfasst der Abschnitt außerdem Daniela Pietrinis Beschäftigung mit der sprachlichen Konstruktion der virtuellen Freundschaft. Am Beispiel des italienischen Webforums Luglioline 2007 – Le mamme di luglio, das dem Erfahrungsaustausch rund um Mutterschaft dient, arbeitet sie folgende Merkmale der Cyberfreundschaft heraus: überbetonter Gefühlsausdruck; häufige Verwendung von Diminutiven und Kosewörtern; inhaltliche Kommunikation gerät im Vergleich zu der phatischen Kommunikation in den Hintergrund; sprachliche Konstruktion der Gruppenzugehörigkeit beispielsweise auch über einen internen Jargon des Forums und ständige Thematisierung der (Cyber-)Freundschaft. Als interkulturelle Freundschaft kann die Cyberfreundschaft insofern gefasst werden, als das gemeinsam Erlebte im Vordergrund steht und in der Lage ist kulturelle Differenzen zu überbrücken. Mit einem kreativen Zugang leitet Dirk Heckmann den Abschnitt Zensur und Selbstzensur ein. Anhand des Beatle-Songs A day in the life führt er aus, wie unser Alltag – vom Aufstehen bis zum Feierabend – ein digital bestimmter geworden ist. Vor dieser Folie diskutiert der Jurist die rechtlichen Implikationen des gläsernen Menschen. Mit dem Ansatz des Smart Privacy Managements wird eine mögliche rechtliche Lösung vorgestellt. So sollen NutzerInnen smarter Technologien nachvollziehen können, welche Daten erhoben werden und wen diese erreichen. Zudem soll AnwenderInnen geholfen werden, die Privatsphäre schützende Einstellungen vorzunehmen. Begleitet werden sollte dies außerdem von vertrauensbildenden Maßnahmen, die etwa durch eine Zertifizierung oder durch die Bereitstellung eines Beschwerdemanagements gesetzt werden können. Zu einem, den Titel des Sammelbandes bejahenden Schluss kommt der letzte Beitrag: Ja, die digitale Revolution ermöglicht eine interkulturelle Revolution, stellt Daniela Wawra fest, nachdem sie sich mit Webdiskursen zu Multikulturalismus auseinandersetzt. Hierfür behandelt sie australische und indische Webkommentare ebenso wie bildliche Diskurse zu Multikulturalismus aus Großbritannien, den USA, Deutschland, Indien, Australien und Kanada. Dass Multikulturalismus kein feststehendes Konzept ist, sondern Der zweite Abschnitt Teams und Kollektive ist stark von der Auseinandersetzung mit deutsch/ österreichisch-amerikanischen virtuellen Teams geprägt. Drei Beiträge legen ihren Schwerpunkt auf diese Form der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, die im Zuge der Flexibilisierung von Arbeitsabläufen und -verhältnissen, der Dezentralisierung von Unternehmen und Produktionsstätten sowie der internationalen Vernetzung von Unternehmen an Bedeutung gewinnt. Obwohl sich die Beiträge mit unterschiedlichen Teams – zwei davon arbeiten im Kontext der Automobilbranche, eines übt sich im Rahmen eines Seminars an interkultureller Zusammenarbeit – beschäftigen, in ihren Einschätzungen 65 m&z 2/2014 Das Werk bietet zwar interessante Einblicke in ein breites Forschungsfeld, inwiefern diese Einblicke der/dem LeserIn inhaltlich jedoch zusagen wird vor allem von dem jeweiligen Kulturverständnis abhängig sein. länderspezifisch aufgefasst und umgesetzt wird zeigt sich allein durch die, im Beitrag wiedergegebenen, offiziellen Multikulturalismus-Definitionen der jeweiligen Staaten. Der vorliegende Sammelband bietet einen guten Überblick über die Vielfalt der Thematik. Aus medienhistorischer Perspektive interessant ist auch, dass einige AutorInnen die Eigenschaften digitaler Medien nicht als etwas vollkommen Neues feiern, sondern durchaus Rückbezüge auf nicht-digitale Medien ziehen. Kritisch betrachtet werden muss jedoch das angewandte Kulturverständnis: Obwohl die Herausgeberin selbst anmerkt, dass durch Grenzziehungen hervorgebrachte und geschützte Kulturräume im Rahmen der Globalisierung zunehmend an Bedeutung verlieren und eine kulturelle Hybridisierung zu beobachten ist, herrscht, mit wenigen Ausnahmen, im Sammelband doch ein recht verkürzter Kulturbegriff vor, der Kulturen anhand von geographischen oder sprachlichen Kriterien definiert. Die Gleichsetzung von geographischem Raum und Kultur wird beispielsweise deutlich, wenn Ursula Reutner und Sebastian Schubach in ihrem Beitrag zu kulturspezifischen Ästhetik im Internet die Nachbarländer Deutschland und Frankreich als Forschungskontext wählen und diesbezüglich festhalten: Barbara Metzler, Wien MICHEL FOUCAULT: Schriften zur Medientheorie. Ausgewählt und mit einem Nachwort von Bernhard J. Dotzler. Berlin: Suhrkamp 2013, 334 Seiten. „Foucault war kein Medienwissenschaftler. Die Auswahl vorstehender Schriften und verschriftlichter mündlicher Äußerungen hat auch nicht zum Ziel, ihn nachträglich für diese ungewisse Disziplin zu vereinnahmen – so sehr ihre Ungewissheit, als Auszeichnung begriffen, ihm womöglich zugesagt hätte und jedenfalls dem intellektuellen Habitus seiner Hinterlassenschaft entspricht.“ (S. 319) Dies schreibt der Regensburger Medienwissenschaftler Bernhard J. Dotzler zu Beginn seines Nachworts zur vorliegenden Textsammlung. Disziplinär war der französische Denker bekanntlich Philosoph. So lässt Dotzler den Band auch statt mit einem erwartbaren Vorwort mit dem kurzen Gespräch „[Statt eines Vorworts:] Worüber denken Philosophen nach?“ von 1975 beginnen, in dem Foucault wunderbar unspektakulär über sein Zeitungslesen, das seinerzeit schlecht gemachte Fernsehen in Frankreich und die Neugierde an der Malerei Auskunft erteilt. Dotzler betont zu Recht Foucaults Disziplinlosigkeit, in dem er ihn hier, will man denn überhaupt Zuordnungen vornehmen, als Historiker, Diskursanalytiker, Essayist, Journalist und Gesprächspartner auftreten lässt bzw. zeigt. Diese Multiperspektivität, die im Grunde, und so hat es laut Dotzler auch Foucault selbst immer wieder beschrieben, einen Interessierten am Tagesgeschehen zeigt, an dem, was um uns herum passiert, was wir sind, was in der Welt geschieht, bedeutet eine faszinierende, mal hoch abstrakte und theoretische, mal ganz konkrete und beispielhafte Beobachtung von Gesellschaft. Diese Mischung hat den Stelleninhaber eines Lehrstuhl für die Geschichte der Denksysteme am Pariser „Collège de France“ für alle möglichen Diskurse bis heute so herausfordernd und gleichzeitig anschlussfähig gemacht, so eben auch für Medien-, „Sollten sich hier Unterschiede ausmachen lassen, so ist davon auszugehen, dass kulturell weiter voneinander entfernte Räume mindestens ebenso stark divergieren.“ Bei anderen Beiträgen kann darüber hinaus eine gewisse Kulturalisierung ausgemacht werden: Verhalten wird dann auf eine zugeschriebene kulturelle Zugehörigkeit zurückgeführt, ohne dass andere Einflussfaktoren beachtet werden. Dies ist beispielsweise der Fall wenn Christoph Barmeyer und Alan Gazolajew den Fakt, dass russische Gäste bei der Bewertung eines Berliner Hotels die Größe und Beschaffenheit der Kleiderschränke bemängeln darauf zurückführen, dass in der russischen „Kultur“ gerne im Ausland eingekauft wird. Dass dieses „im Ausland einkaufen“ einer finanziell bessergestellten Schicht vorbehalten bleibt und insofern nicht als kulturspezifisch bezeichnet werden kann, wird dabei nicht reflektiert. Festgehalten werden muss auch, dass sich der Sammelband, und dies wird bereits durch die Beschlagwortung des auf dem Cover abgebildeten Globus deutlich, größtenteils auf den globalen Norden beziehungsweise Westen beschränkt. 66 m&z 2/2014 und zitiert ihn dementsprechend im Nachwort: Kultur- und Kommunikationswissenschaft(en). Foucaults Ordnung der Dinge (dt. 1971), Archäologie des Wissens (dt. 1973) oder seine Antrittsvorlesung Ordnung des Diskurses (dt. 1974) sind zu einer Art reflektierten Stopp-Schildern für zahlreiche Forschende geworden, um innezuhalten, kritisch durchzuatmen und behutsam weiterzuschreiten. Gerade in einem Zeitalter der intensiven Ausdifferenzierung von Medientechnologien und -angeboten also wirkt es absolut abgebracht, dass Dotzler hier knapp 40 kürzere Texte Foucaults versammelt hat, die weniger ein Glossar als vielmehr ein wildes Archiv an Ideen und Pfaden durch Foucaults und so unseren medienkulturellen Alltag ergeben: „‚Die Verwendung eines Buches steht in enger Verbindung mit der Lust, die es bereiten kann, aber ich begreife das, was ich tue, überhaupt nicht als ein Werk‘ [...], sagt er ums eine wie ums andere Mal: Keines seiner Bücher liefere ‚eine allgemeine Methode, die für andere oder für mich definitiv gültig wäre. Was ich geschrieben habe, sind keine Rezepte, weder für mich noch für sonst jemand. Es sind bestenfalls Werkzeuge – und Träume.‘“ (S. 320) Dennoch zieht sich Foucault keinesfalls aus der Verantwortung, ganz im Gegenteil wirken etwa seine Ausführungen zu Heterotopien wie Appelle an ein motiviertes Publikum, um es mit Dotzler zu sagen: „Der Band versammelt erstmals all jene (kürzeren) Texte, in denen Foucault die Entstehung und den Wandel der heutigen Medienkultur beleuchtet.“ (S. 2) „Kraft und Gegenkraft heißt demgemäß die Matrix der Medientheorie Foucaults. Ob Wort oder Bild, ob Rede, Malerei, Photographie oder Film, ob Zeitung oder Fernsehen, stets ist da die Machtausübung der Medien einerseits wie die Möglichkeit andererseits, ‚Widerstandspunkte‘ zu setzen, also selber Macht auszuüben, womöglich einen Kommunismus des Bilds wieder ins Recht zu setzen, jedenfalls Gedächtnis und Gegengedächtnis zu sein, Erinnerung und Vergessen.“ (S. 330) Dabei umfasst das Spektrum inhaltlich die Kapitel Diskurs, Malerei/Photographie, Kino, Information, Medienmacht und Coda. Überlegungen zur Malerei von Manet oder photogenen Malerei stehen hier neben Diskussionen um das populäre Gedächtnis in Bezug auf Kino und Film aus Frankreich, neben unerwartet aktuellen Gedanken zu Politik und Medien („Die iranische Revolte breitet sich mittels Tonbandkassetten aus“) oder einer Hommage an Pierre Boulez. Formal wurden bewusst sehr heterogene Textgattungen ausgewählt, die eben die Vielschichtigkeit von Foucaults Wirken auch im Zusammenhang mit und in den Medien belegen: Zeitschriftenartikel, Gespräche (v.a. mit Medienschaffenden selbst, also Journalisten, Regisseuren etc.), Gedanken, Essays, BeinaheParodien (Der maskierte Philosoph), die hauptsächlich im Original in Dits et Écrits erschienen und die hier chronologisch angeordnet sind. Diesen Gedankenspielen zu folgen, macht, man muss es so unwissenschaftlich sagen, schlichtweg erkenntnisreichen Spaß, auch ohne profundere Kenntnisse der damaligen französischen Gesellschaft. Ganz im Gegenteil: Durch diese kurzen Texte von und mit Foucault lernt man etwas über die medienkulturellen (Macht-)Verhältnisse eines Frankreichs vor allem der 1970er Jahre und damit auch immer wieder über das Europa oder die Vereinigten Staaten und die Welt kennen. Dotzler erwähnt Foucaults im Wissen um seine Kritik an Diskursmächten nicht überraschende Abneigung gegenüber einem Werk, einer methodisch-methodologischen Rezeptur für anschließende Studien Foucaults frühes Augenmerk auf die Dynamik der Medien macht ihn für Dotzler neben Marshall McLuhan zu einem der wichtigsten frühen Beobachter einer immer umfassenderen Medienkulturgesellschaft, Dotzler paraphrasiert hier McLuhan, um das zentrale Analyse-Motto Foucaults originell festzuhalten und zunächst nicht vermutete Analogien herzustellen: „Der Diskurs ist die Botschaft.“ (S. 322) Und weiter: „Ohne auf Medientheorie abzuzielen, hat Foucault also jedenfalls den lingualen – oder eben: diskursiven – Medienbereich genuin medientheoretisch konzipiert.“ (S. 322) So beobachtet und beurteilt Foucault in der vorliegenden Textsammlung eben dann das Kino und Fernsehen als Agenten des populären Gedächtnisses (ein aktuell und bezogen auch auf das Internet absolut virulentes Thema nicht nur unter Geschichtsforschenden), das Fernsehen als Zeiteinteilung, Taktung, Tagesstrukturierung (alltagsstrukturelle Mächte, wie sie die Cultural 67 m&z 2/2014 keit bei Foucault durchaus Methode. Situativ die Medieneffekte, die ihn beschäftigen; situativ seine Einlassungen. Impulsiv der Inhalt der Medien, wo immer er sie bespricht; impulsiv diese die Medien da und dort aufblitzen lassenden Besprechungen selber. [...] Worüber denken Philosophen nach? ‚[...] das Kräfteverhältnis‘ [...] antwortete Foucault auf diese Frage nach der Philosophie seiner Philosophie.“ (S. 8, 329f ) Studies immer wieder berücksichtigen) und Medien als Regierungsmächte. Dotzler bezeichnet Foucault als „Historiker und Philosoph der Vernetzung“ (S. 323), der sich tatsächlich schon vor 30-40 Jahren auf diverse Art und Weise mit Netzen von Ideen auseinandergesetzt hat und dabei in seiner Herangehensweise dem wiederum von McLuhan konstatierten Mosaik nicht unähnlich scheint: „Daher, so darf man vielleicht unterstellen, hat die Art der punktuellen Medienaufmerksam- Christoph Jacke, Paderborn 68 m&z 69 2/2014