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Kants Ontologie

2019, Handbuch der Ontologie, ed. J. Urbich and J. Zimmer; Stuttgart: Metzler

Chapter. Kant's early ontology is a philosophy of natural emergence and evolution.

11 Deutscher Idealismus (I): Immanuel Kant Kants Ontologie entzieht sich einem direkten Zugriff. In der Ontologie dreht es sich bekanntlich um die Klärung der Grundstruktur der Wirklichkeit. Doch gerade diese Frage übertritt in Kants Kritizismus die Schranke der Erkenntnis. Das heißt nicht, dass die Frage nach dem Sein ohne Antwort bleibt. Kants Transzendentalphilosophie schließt nicht jede mögliche Befragung des Seins aus, sondern die über die Erkenntnisgrenzen hinausgehende Variante. Allerdings erzeugt diese Einschränkung das Problem, dass sich das Aufgabengebiet der Ontologie verschiebt. Die Grundstrukturen können nur dann innerhalb der vom Kritizismus gezogenen Grenzlinien bleiben, wenn sie als Bedingungen möglicher Erfahrung dienen. Somit wird in Kants Kritik letztlich die Metaphysik neu entworfen—sie soll zum Kanon der Denkformen, zu einer Transzendentalwissenschaft des a priori werden. Das heißt nicht nur, dass die kritische Betonung des Kognitiv-Formalen die Metaphysik in die Nähe der Epistemologie und der Logik rücken will, sondern mehr noch, dass die Ontologie, der Kern der Metaphysik, zur „Analytik des Verstandes“ reduziert wird (KrV A246-247/B303). Was in der traditionellen Ontologie die Grundstrukturen der Wirklichkeit waren, verwandelt sich in Kants Kritik zur Kategorientafel der reinen Verstandesbegriffe (KrV A82/B108). Das wirft natürlich die Frage auf, was in diesem kantischen Neuentwurf von einer Ontologie, die ihren Namen verdient, eigentlich noch übrig bleibt. 11.1 Zensur und Spinozismus: die Politisierung der Ontologie Wenn man also in Kants Werk nach Ontologie im eigentlichen Sinne sucht, dann wird man nur außerhalb der kritischen Periode fündig, und zwar in der frühen Naturphilosophie sowie im Opus Postumum, dem unvollendet gebliebenen Spätwerk. Doch dabei stößt man auf ein weiteres Hindernis: Anstelle eines Systems findet man nur Hinweise. Im Spätwerk ist der Grund dafür klar: der intendierte Übergang von den metaphysischen Anfangsgründen zur Physik blieb unvollendet. Im Frühwerk sind die Gründe für den Mangel an System komplexer und teils werkimmanent, teils kontextabhängig. Die Ontologie, die sich anhand der Schriften von 1747 bis 1756 rekonstruieren lässt, ist von einer Art, die nicht ohne Risiko war. Ein Adjektiv für eine derartige Seinsbestimmung ist ‚freigeistig’. Politisch einflussreiche Christen, wie die Pietisten, benützten dieses Wort als Schmähung. Inhaltlich bedeutete es das Gleiche wie ‚spinozistisch’—einen ganzheitliche, dynamische und prozesshafte Seinsbegriff betreffend, mit besonderer Rücksicht auf die von Leibniz, Wolff, und Bilfinger diskutierten Ideen aus China (Perkins 2004, 128-157; Albrecht 1985, ix-lxxxix). Die Stigmatisierung des Spinozismus endete in der Spätaufklärung. Erst mit dem Pantheismusstreit von F. H. Jacobi und M. Mendelssohn, der 1783 begann, und der immer mehr Geistesgrößen mit einbezog, einschließlich Herder und Kant selbst, wurde Spinozismus salonfähig (Beiser 1987, 44-48). Sich als Spinozist zu outen war in der Goethezeit kein Wagnis mehr. Im Jahr 1794, als man über das Thema freier reden konnte, bezeichnet Kant den Spinozismus als „metaphysische Sublimierung“ des chinesischen Pantheismus, insbesondere des Taoismus (8:335.25-36). 1 Doch bis dahin, und schon seit 1680, war die öffentliche Reaktion negativ. Bis zum Pantheismusstreit blieb Spinozismus für Akademiker ein Berufsrisiko; ein Stigma, welches Marginalisierung bis hin zu rechtlichen Repressalien nach sich zog. Im besten Fall nahm das die Form der Selbstzensur an, wie bei E. W. v. Tschirnhaus, der 1692 einen Ruf als Curator an die Universität Halle ablehnte und sich auf sein Landgut zurückzog, um dort das chinesische Porzellan nachzuerfinden und mit Freunden pantheistische Schriften druckte. Oder es konnte zum Skandal ausufern, wie im Falle Wolffs, der sich nach seiner Prorektoratsrede über die chinesische Ethik 1721 auf Betreiben der Theologen 1723 genötigt sah, in das schwedische Besitztum Marburg zu flüchten. Dass Wolff, mit Bilfingers Hilfe, dort angekommen der Ausgabe der Rede 1726 ein Vorwort mit einem Argument für die Selbstentfaltung des Seins beifügte (vgl. Wolff 1985, 7), konnte seine Rückkehr nur verzögern. Bis zur Jahrhundertmitte lockerte sich die Repression allmählich. Das zeigt der Fall von C. G. Fischer, Professor für Naturphilosophie in Königsberg. Fischer hatte orientalische Sprachen und Theologie studiert. Er ruinierte sich seinen Ruf mit einer evolutionären Ontologie, weswegen er 1725 von der Universität entlassen, der Stadt verwiesen, und vom Staat ins Exil gezwungen wurde. Der Lehrstuhl für Naturphilosophie wurde gestrichen. 1737 durfte er zurückkehren, wurde aber nicht rehabilitiert; das Lehrverbot blieb gültig. Als er 1743 mit einem neuerlichem Argument in Buchform für die Selbstentfaltung des Seins wieder einen Skandal lostrat, passierte allerdings wenig. Er wurde vom Eucharist ausgeschlossen und das Buch wurde indiziert — aber ansonsten geschah ihm nichts (Kuhn 2001, 19-20). Als Kant dort anfing, wo Wolff, Bilfinger und Fischer aufgehört hatten, war die Zensur soweit abgemildert, dass seine erstes Buch Wahre Schätzung der lebendigen Kräfte trotz diverser Hinweise auf eine freigeistige Ontologie vom Universitätszensor 1747 nicht beanstandet wurde. Allerdings wurde Kant am Lehrstuhl für Metaphysik und Logik nicht zur Magisterprüfung zugelassen, sodass er 1748 die Universität ohne Abschluss verließ. Nach dem Tod des Lehrstuhlinhabers M. Knutzen 1750 setzte er sein Studium 1754 fort und schloss es 1755 mit einer anderen Magisterarbeit ab. Das feindselige Klima für spinozistische Ontologien veranlasste Kant, seine freigeistigen Ideen naturwissenschaftlich zu kaschieren, sich knapp auszudrücken oder es bei Anspielungen zu belassen. Das ist der werkimmanente Grund für die unscheinbare Behandlung der Seinsfrage: Kants Ontologie ist in Abhandlungen zu Fragen der Dynamik, Astrophysik und Kosmologie teils versteckt, teils verstreut. Die dialektische Selbstschöpfung der Wirklichkeit beschreibt Kant in seinem zweiten Buch Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels, welches er 1755 anonym veröffentlichte. 1756 habilitierte er sich mit Metaphysicae cum geometria junctae usus in philosophia naturali, cuius specimen I. continet Monadologiam Physicam („Der Nutzen der mit Geometrie verbundenen Metaphysik in der Naturphilosophie, dessen erste Probe die physische Monadologie enthält“). Nach der Habilitation bewarb sich um den Lehrstuhl für Metaphysik und Logik. Doch er war unvorsichtig gewesen: Er hatte die anonyme Naturgeschichte mit dem Titel Kosmogonie in einem unter eigenem Namen publizierten Zeitungsaufsatz 1754 angekündigt (1:191.4-8). Mittels einer Annonce eines Buchhändlers, Naturgeschichte des Magister Kants sei nun erhältlich, wurde er 1756 der Autorschaft überführt. Nun war wieder ein Skandal da: Der Verleger ging seiner Kreditwürdigkeit verlustig und meldete Bankrott an; die ausgelieferten Bücher saßen in einem Lager fest, 2 und das Lager brannte nieder. Kants Lehrstuhlbewerbung wurde nicht nach Berlin weitergereicht. So arbeitete der Freigeist weiterhin als Bibliothekar und Privatdozent. Fast ein Jahrzehnt später bot ihm die Universität 1764 einen Lehrstuhl an — allerdings in Dichtkunst. Kant lehnte ab, wohl auch, um nicht zum Gespött der Kritiker zu werden. Die Zensur hatte sich gelockert, aber eine Karriereschädigung war zu verzeichnen. 1770 reichte er eine Inauguraldissertation ein, in der er zwischen Denk- und Sinnesstrukturen unterscheidet, was von seinen Lesern als Abschwören der rationalen Ontologie verstanden wurde und ihn für den Lehrstuhl in Metaphysik und Logik qualifizierte. Das war der erste Schritt zum Kritizismus und Kants Abschied von der Ontologie. 11.2 Polaritätsprinzip und Auswicklung der Natur: Kants Seinsbegriff Der kritische Kant münzt die Ontologie in eine Verstandesanalytik um und behandelt die Seinsfrage formal. Im Gegensatz dazu geht der frühe Kant, der vorzeitige Schulabgänger, der anonym schreibende Freigeist, welcher nur eine Professur in Poetik aber keine in Philosophie verdient, die Seinsfrage material an. In der vorkritischen Ontologie wird das Sein als Stoff bestimmt, wobei zu beachten ist, dass dieser wiederum energetisch und evolutionär gedeutet wird. Energetisch-evolutionäres Sein ist stets Prozess und damit zeitgebunden. Die Grundstruktur des Wirklichen ist nicht ewig-konstant, denn das Wirkliche verwandelt sich im Lauf der Zeit so stark, dass auch die Grundstruktur wechselt. In einem Aufsatz 1754 spricht Kant vom „Proteus der Natur“ (1:212.15); dem „allgemeinen Weltgeist“ (1:211.39) und der „Auswickelung der Natur“ (1:201.21-22; vgl. Naturgeschichte 1:226.8). Trotz wechselnder Grundstruktur lässt sich ein bleibendes dynamisches Wesen des Seins bestimmen. Gleich im ersten Abschnitt der Schätzung nennt er es die „Entelechie“ und verweist auf Leibniz, der außer Aristoteles der einzige der Philosophen (der „Weltweisen“) gewesen sei, der „dieses Rätsel“ begriffen habe (1:17.14-18). Kurioserweise paraphrasiert §1 der Schätzung eine Satzfolge in Leibniz’ Discours sur la Theologie naturelle des Chinois (1715/1716) (vgl. Li u. Poser, 2002, 71). Dieses Werk zitiert Kant aber nicht und verweist statt dessen auf Leibniz’ Specimen Dynamicum (1695). Die Entelechie, die im Stoff liegende Macht, die dessen Entwicklung und Ausformung vorantreibt, ist das ewig gleiche Wesen des Seins. Die erste von diesem Wesen erzeugte Grundstruktur des Wirklichen ist „eine wesentliche Kraft,“ die dem Körper „sogar noch vor der Ausdehnung zukommt“ (§ 1, 1:17.21-22). Am Anfang allem Wirklichen ist also reine Kraft. Sie hat die Eigenschaft, „außer sich zu wirken“ (§ 4, 1:19.5). Sie strahlt aus. Das ursprüngliche Sein breitet sich zum Feld aus. Das ausgebreitete Feld erzeugt die Ausdehnung (§ 9, 1:23.5-10). Die „Eigenschaften der Ausdehnung, mithin auch die dreifache Abmessung derselben“ gründen in den Eigenschaften der Kraft (§ 10, 1:24.5-9). Kant benützt hier das photometrische Abstandsgesetz, das Kepler 1604 entdeckt hatte. Wenn Kraft nach außen wirkt, nimmt ihr ausgestrahltes Quantum im umgekehrten Verhältnis zum Quadrat der Weiten ab. Der Druckabfall in der Kraftausstrahlung in der Zeit ist also derart, dass das ausbreitende Feld sich dreidimensional ausdehnt. So entsteht laut Wahre Schätzung § 9-10 die zweite Grundstruktur: ein zeitgebundener Raum. 3 Im zeitgebundenen Raum verortet sich das Energiefeld zu Kraftpunkten. Die ausstrahlende Urkraft verdünnt sich nicht nur; sie vervielfältigt sich zu Verortung. Obwohl Kant das Prinzip der Polarität nicht beim Namen nennt, ist es aus seiner Seinslehre nicht wegzudenken: In ihrer Veräußerlichung entzweit sich die Kraft gleichsam zu Kraftquelle und Feld; in der Ausbreitung des Feldes entzweit sie sich zu Verortung und Netzwerk; und in der Verortung, wie wir des weiteren sehen werden, entzweit sie sich in Zurückstoßungs- und Anziehungskraft. Kant schreibt, dass die Kraft im Raum „Lagen“ und „Orte” erzeugt, die dann wiederum miteinander in Beziehung drehen und damit „äußerliche Verknüpfungen” bilden (§7, 1:22.5-7). Mit Entzweiung und Vervielfältigung beginnt die dritte strukturelle Stufe der dynamischen Auswicklung: die Materie. Wie der Stoff aus den energetischen Verortungen des zeitgebundenen Raumfeldes entsteht, legt Kant in Monadologia dar. Schon in Wahre Schätzung § 10 überlegt er, dass das quadratische Abstandsgesetz zufällig sein müsse; in unserem Universum schafft es zwar ein dreidimensionales Kontinuum, aber höherdimensionale Räume sind denkbar, wenn man z.B. ein kubisches Abstandsgesetz annimmt (1:24.19-30). In Monadologia führt er diesen Gedanken weiter und verbindet ihn mit der Schlussfolgerung der Wahren Schätzung (§ 163), dass das Wesen der Kraft zwei Aspekte habe (1:181.2-28). Wie der Titel des Buches besagt, ist Wahre Schätzung der lebendigen Kräfte ein Beitrag zur Bestimmung energetischer Phänomene in der Mechanik. „Lebendige Kraft“ ist ein Begriff der leibnizschen Dynamik und die Wurzel dessen, was man in der Physik als kinetische Energie bezeichnet. Das Antonym „tote Kraft“ kommt aus der kartesianischen Kinematik und war die Vorform des Impulses. Die „wahre Schätzung“ kombiniert Descartes und Leibniz, Impuls und Energie (§ 163, 1:181.2-28). Das Wesen der Kraft ist also für Kant eine Art Impulsenergie. Was diese vorgeschlagene Schlichtung das Kräftestreits für die Ontologie bedeutet, bedarf einer Erklärung. Inspiration für seine salomonische Lösung der Kontroverse zwischen Kartesianern und Leibnizianern zieht Kant aus dem Werk Bilfingers. Wenn zwei entgegengesetzte Parteien ebenbürtig seien, so schreibt er, müsse die Wahrheit in „einem gewissen Mittelsatz“ liegen (§ 20, 1:32.5-13). Es bleibt ungesichert, wie weit man hier zwischen den Zeilen lesen soll. Auf der einen Seite verweist Kant auf einen Aufsatz Bilfingers zur Kräftemessung, was Sinn macht und unverfänglich ist. Auf der anderen Seite hatte jener, bevor er 1728 über Dynamik schrieb, sich schon einen Namen als Sinologe gemacht: 1726 edierte er Wolffs Chinarede, wie erwähnt, und 1724 legte er Buch zur chinesischen Moralphilosophie vor. Eines der in Bilfingers Specimen exzerpierten Klassiker ist das Buch von Mitte und Maß (zhongyong 中庸). Das Ideal der Goldenen Mitte, das im Prinzip der Polarität von Yin und Yang (yinyang 陰陽) gründet, war in der Wolffschen Schule spätestens seit dem von Leibniz zitierten Traité (1701) von Longobardi bekannt. Longobardi und Leibniz benennen Yin-Yang auch als ‚Taikie’ (Polaritätsprinzip; taiji 太極). Longobardi beschreibt dieses Prinzip der sich selbst entfaltendenden Wirklichkeit im Kapitel „Über die Wissenschaft der Vergangenheit; d. h., wie die Welt laut der Chinesen erschaffen und erzeugt worden ist“ (Longobardi 2002, 124-126). Fest steht, in Kants Ontologie ist Sein an sich Kraft, und Kraft an sich ist gleichermaßen voneinander entzweit und ineinander verschränkt. In seiner Dissertation über Erkenntnisprinzipien der Seinsstruktur, Principium primorum cognitionis metaphysicae nova dilucidatio („Neue Erleuchtung der ersten Prinzipien metaphysischer Erkenntnis“ 1755), entwickelt Kant das Polaritätsmotiv weiter. So argumentiert er in Dilucidatio (Prop. 1-3) 4 gegen das traditionelle Primat des Satzes der Identität: Laut Kant ist der Widerspruch das erste und binäre Prinzip des Seins, da Widerspruch zugleich positiv und negativ ist und deswegen Wirkliches wie Nichtwirkliches begründen kann (Prop. 2, 1:389.3-6 u. 18-32). Der Widerspruch muss daher der zu kurz gegriffenen Identität vorangestellt werden (Prop. 3, 1:390.30-32). Mit dem Primats des Widerspruchs wird Dialektik zum ontologischen Grundprinzip. Konkret heißt das für die dritte Stufe der Seinsauswicklung — der in Monadologia beschriebenen Bildung der Materie — dass der Stoff sich nicht nur an den verorteten Netzwerkpunkten des Energiefeldes entwickelt, sondern als solche Verortungen anhebt. Das Sein, nun ausgedehnt, verortet sich in seinem Feld in Kraftpunkte, die wiederum jeder für sich nach außen wirken, allerdings auf binäre Art. Kant setzt zwei entgegengesetzte und dialektisch verschränkte Grundkräfte fest. Die eine Strahlung ist repulsiv, die stark anhebt aber rasch abnimmt, im umgekehrten Verhältnis zur dritten Potenz ihrer Weite vom Kraftpunkt (Prop. 10, 1:484.30-33). Die andere Strahlung ist attraktiv, die schwach beginnt aber langsam abnimmt, im umgekehrten Verhältnis zum Quadrat ihrer Weite (1:484.34-39). Die Verschränkung beider Kräfte bläht eine Energieblase um den Kraftpunkt auf. Kant nennt diese Energieblase ‚Handlungskugel’ (sphaera activitatis; Prop. 7, 1:481.9), ‚Ausdehnungsquantum’ (quantitas extensiva ; 1:481.37), oder ‚Handlungsumwelt’ (ambitus activitatis, ibid.). Die Oberfläche dieses Bläschens ist diejenige Weite, an der sich Repulsion und Attraktion die Waage halten (Prop. 10, 1:484.40-1:485.4). Innerhalb des Bläschens dominiert Repulsion, dient als Widerstandskraft, und macht das Bläschen undurchdringlich (Prop. 8-9, 1:482.4-483.30). Außerhalb der Oberfläche überwiegt Attraktion, bringt das Bläschen mit anderen in Kontakt und setzt so eine Ordnung von Seiendem zusammen, einen Bläschenschaum. Die Energiebläschen sind die Bausteine der Dinge. Sie sind elementar. Die ihnen vorhergehenden Punkte sind geometrisch unteilbar. Die aus den Punkten strahlenden Bläschen sind allerdings ontologisch unteilbar, und deshalb besteht jeder Körper aus einer endlichen Zahl einfacher Elemente (Prop. 4 Coroll., 1:479.35-36). Die ontologische Unteilbarkeit liegt darin begründet, dass die Kraftpunkte ihre Bläschen (spatioli) als Handlungskugeln bestimmen (Prop. 6, 1:480.36-39). Wie wir gesehen haben, wird die Handlungskugel mit einer Zurückstoßungskraft aufgebläht, deren Quantum in der dritten Potenz zur Entfernung vom Zentrum abnimmt. Die Anziehungskraft breitet sich im umgekehrten Verhältnis zur zweiten Potenz ihrer Weiten aus und schafft, wie wir gesehen haben, den dreidimensionalen Raum. Da sich Repulsion in der dritten Potenz ausbreitet, schafft sie einen höherdimensionalen Raum. Höherdimensionale Kontinua sind im dreidimensionalen Raum unteilbar. Die Ursache für die Bläschen ist dynamischer Natur, aber der Grund für ihre Unteilbarkeit ist ihre vom Normalraum strukturelle Verschiedenheit. Das ist Kants „physikalische Monadologie“. Für frühere Generationen von Ideenhistorikern war das müßige Spekulation, aber heute ist die Ähnlichkeit mit Modellen der Stringtheorie unverkennbar. Kants höherdimensionale Energiebläschen nehmen begrifflich die Calabi-Yao Räume als kleinste Mannigfaltigkeiten voraus. 11.3 Zusammenfassung So führt Kant aus, wie die Grundstruktur des Seienden sich aus dem Sein herauswickelt und eine Wirklichkeit mit Energie, Zeit, Raum, und Materie erzeugt. Nachdem er in Monadologia die Feinstruktur des Seienden dargelegt hat, beschreibt er in Naturgeschichte 5 die Ordnung des Seins im Großen. Vom Bläschenschaum der Materie zu Partikeln ist es nur ein Schritt. Kant beginnt mit der Annahme, dass die im zeitgebundenen Raum verorteten Kraftfelder nun Partikel ausgestreut haben, die einen Nebel bilden. Voltaire zitierend, prahlt er, „gebt mir nur Materie, ich will euch eine Welt daraus bauen“ (1:229.10-11). In der Folge beschreibt er seine berühmte Nebularhypothese, deren Allgemeingültigkeit für Sonnen, Planetensysteme und Spiralgalaxien heutzutage als erwiesen gilt. Wie sich im Einzelnen aufgrund des Widerstreits von Anziehungs- und Abstoßungskräften sich der Teilchennebel zur Gaswolke verdichtet; die Wolke sich zusammenzieht, zu rotieren beginnt, abflacht, ihren Kern verdichtet, erhitzt, und zur Sonne entflammt—und wie sich die Scheibe um die Sonne in Bänder teilt, die Bänder klumpig werden, und Planeten entstehen: all das geht über die Ontologie hinaus und verweist auf die Astrophysik. Obwohl Naturgeschichte sich an Newtons Mechanik anlehnt, läuft sie auf deren religiös fragwürdige Verallgemeinerung hinaus. Wissenschaftlich begründet, politisch korrekt und theologisch hinnehmbar war Newtons Anwendung der Mechanik auf den Raum. Freigeistig jedoch ist Kants Schritt von Raum zur Raumzeit. Mit diesem Schritt erklärt er die Auswicklung des Seins von Chaos zur Komplexität. Die Welt schafft sich selbst, durch Kraft, die sich in Anziehung und Zurückstoßung entzweit und im Raum Stoff bildet, sammelt, verdichtet und, derart gefügt, entfaltet. Kants zeitliche Erweiterung der Mechanik läuft auf die „Auswickelung der Natur“ (1:226.8) hinaus, wobei ‚Auswicklung’ die Eindeutschung des Begriffs evolutio ist. Als Abschluss der Seinslehre sei noch darauf verwiesen, dass Kant die natürliche Auswicklung trotz des Hinweischarakters der Darstellung konsequent verteidigt. Jeden Denkschritt der Seinsentfaltung versucht er entweder nachzuweisen oder zumindest zu bestimmen — so erzeugt Kraft Raum; Raum, Materie; und Materie, Welten. Das ‚dazwischen’ von Sonnenstrahlung und Planetenoberfläche erzeugt Leben (Nat.gesch. II.7, 1:312.4, 314.3-10, 317.7-12). Leben erzeugt Geist (II.7, 1: 318.17-18 und III, 1:352.34353.4.). Das Ganze des Seienden ist evolutionär vernetzt (1:365.10-12). Das Sein entzweit sich zum Widerstreit, dessen Dialektik das All schöpft, aus Chaos Komplexität schmiedet und diese wieder ins Wirrwarr stürzt (II.7, 1:319.19-320.2). Sein entfaltet sich zyklisch, von Ordnung zu Chaos, von Chaos zu Ordnung. Es west als „Phönix der Natur“ (1:321.13). Wollte man Kants Ontologie auf einen Nenner bringen, dann bietet sich Dynamik sowie Dialektik an, doch letztlich ist Sein Evolution. Für den Mensch ist der Vektor des Seins sittlich maßgebend. So verweist die vorkritische Ontologie auch im Kritizismus auf ein Daseinsziel: den Fortschritt. Literatur Mit Ausnahme der Kritik der reinen Vernunft (1781/1787), die nach der Erstausgabe zitiert wird (1. Druck 1781 „A“; rev. u. erweit. Auflage 1787 „B“), verweisen Angaben zu Kants Werken auf Bandnummer, Seitenzahl und Zeile der Akademieausgabe. Albrecht, Michael: Einleitung. In: Wolff 1985. Beiser, Frederick. The Fate of Reason: German Philosophy from Kant to Fichte. Cambridge, Mass., 1987. Bird, Graham: A Companion to Kant. Oxford 2006. Kuhn, Manfred. Kant’s Teachers in the Exact Sciences. In: Eric Watkins (Hg): Kant and the Sciences. Oxford 2001. Li, Wenchao/Poser, Hans (Hg). Leibniz: Discours sur la Theologie naturelle des Chinois [1715/1716]. Frankfurt 2002. 6 Longobardi, Nicolas: Traité sur quelques points de la religion des Chinois [1701]. In: Li/Poser 2002. Perkins, Franklin: Leibniz and China. Cambridge, Mass. 2004. Schönfeld, Martin: Kant’s early dynamics. In: Bird 2006, 40-60. Schönfeld, Martin: Kant’s early cosmology. In: Bird 2006, 61-84. Wolff, Christian: Rede über die praktische Philosophie der Chinesen [1726]. Hamburg 1985. Martin Schönfeld 7