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Deutscher Idealismus (I): Immanuel Kant
Kants Ontologie entzieht sich einem direkten Zugriff. In der Ontologie dreht es sich
bekanntlich um die Klärung der Grundstruktur der Wirklichkeit. Doch gerade diese Frage
übertritt in Kants Kritizismus die Schranke der Erkenntnis.
Das heißt nicht, dass die Frage nach dem Sein ohne Antwort bleibt. Kants
Transzendentalphilosophie schließt nicht jede mögliche Befragung des Seins aus, sondern
die über die Erkenntnisgrenzen hinausgehende Variante. Allerdings erzeugt diese
Einschränkung das Problem, dass sich das Aufgabengebiet der Ontologie verschiebt. Die
Grundstrukturen können nur dann innerhalb der vom Kritizismus gezogenen Grenzlinien
bleiben, wenn sie als Bedingungen möglicher Erfahrung dienen. Somit wird in Kants Kritik
letztlich die Metaphysik neu entworfen—sie soll zum Kanon der Denkformen, zu einer
Transzendentalwissenschaft des a priori werden. Das heißt nicht nur, dass die kritische
Betonung des Kognitiv-Formalen die Metaphysik in die Nähe der Epistemologie und der
Logik rücken will, sondern mehr noch, dass die Ontologie, der Kern der Metaphysik, zur
„Analytik des Verstandes“ reduziert wird (KrV A246-247/B303). Was in der traditionellen
Ontologie die Grundstrukturen der Wirklichkeit waren, verwandelt sich in Kants Kritik zur
Kategorientafel der reinen Verstandesbegriffe (KrV A82/B108). Das wirft natürlich die Frage
auf, was in diesem kantischen Neuentwurf von einer Ontologie, die ihren Namen verdient,
eigentlich noch übrig bleibt.
11.1
Zensur und Spinozismus: die Politisierung
der Ontologie
Wenn man also in Kants Werk nach Ontologie im eigentlichen Sinne sucht, dann wird man
nur außerhalb der kritischen Periode fündig, und zwar in der frühen Naturphilosophie sowie
im Opus Postumum, dem unvollendet gebliebenen Spätwerk. Doch dabei stößt man auf ein
weiteres Hindernis: Anstelle eines Systems findet man nur Hinweise. Im Spätwerk ist der
Grund dafür klar: der intendierte Übergang von den metaphysischen Anfangsgründen zur
Physik blieb unvollendet. Im Frühwerk sind die Gründe für den Mangel an System
komplexer und teils werkimmanent, teils kontextabhängig. Die Ontologie, die sich anhand
der Schriften von 1747 bis 1756 rekonstruieren lässt, ist von einer Art, die nicht ohne Risiko
war. Ein Adjektiv für eine derartige Seinsbestimmung ist ‚freigeistig’. Politisch einflussreiche
Christen, wie die Pietisten, benützten dieses Wort als Schmähung. Inhaltlich bedeutete es
das Gleiche wie ‚spinozistisch’—einen ganzheitliche, dynamische und prozesshafte
Seinsbegriff betreffend, mit besonderer Rücksicht auf die von Leibniz, Wolff, und Bilfinger
diskutierten Ideen aus China (Perkins 2004, 128-157; Albrecht 1985, ix-lxxxix).
Die Stigmatisierung des Spinozismus endete in der Spätaufklärung. Erst mit dem
Pantheismusstreit von F. H. Jacobi und M. Mendelssohn, der 1783 begann, und der immer
mehr Geistesgrößen mit einbezog, einschließlich Herder und Kant selbst, wurde
Spinozismus salonfähig (Beiser 1987, 44-48). Sich als Spinozist zu outen war in der
Goethezeit kein Wagnis mehr. Im Jahr 1794, als man über das Thema freier reden konnte,
bezeichnet Kant den Spinozismus als „metaphysische Sublimierung“ des chinesischen
Pantheismus, insbesondere des Taoismus (8:335.25-36).
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Doch bis dahin, und schon seit 1680, war die öffentliche Reaktion negativ. Bis zum
Pantheismusstreit blieb Spinozismus für Akademiker ein Berufsrisiko; ein Stigma, welches
Marginalisierung bis hin zu rechtlichen Repressalien nach sich zog. Im besten Fall nahm das
die Form der Selbstzensur an, wie bei E. W. v. Tschirnhaus, der 1692 einen Ruf als Curator
an die Universität Halle ablehnte und sich auf sein Landgut zurückzog, um dort das
chinesische Porzellan nachzuerfinden und mit Freunden pantheistische Schriften druckte.
Oder es konnte zum Skandal ausufern, wie im Falle Wolffs, der sich nach seiner
Prorektoratsrede über die chinesische Ethik 1721 auf Betreiben der Theologen 1723
genötigt sah, in das schwedische Besitztum Marburg zu flüchten. Dass Wolff, mit Bilfingers
Hilfe, dort angekommen der Ausgabe der Rede 1726 ein Vorwort mit einem Argument für
die Selbstentfaltung des Seins beifügte (vgl. Wolff 1985, 7), konnte seine Rückkehr nur
verzögern.
Bis zur Jahrhundertmitte lockerte sich die Repression allmählich. Das zeigt der Fall von C. G.
Fischer, Professor für Naturphilosophie in Königsberg. Fischer hatte orientalische Sprachen
und Theologie studiert. Er ruinierte sich seinen Ruf mit einer evolutionären Ontologie,
weswegen er 1725 von der Universität entlassen, der Stadt verwiesen, und vom Staat ins
Exil gezwungen wurde. Der Lehrstuhl für Naturphilosophie wurde gestrichen. 1737 durfte
er zurückkehren, wurde aber nicht rehabilitiert; das Lehrverbot blieb gültig. Als er 1743 mit
einem neuerlichem Argument in Buchform für die Selbstentfaltung des Seins wieder einen
Skandal lostrat, passierte allerdings wenig. Er wurde vom Eucharist ausgeschlossen und das
Buch wurde indiziert — aber ansonsten geschah ihm nichts (Kuhn 2001, 19-20).
Als Kant dort anfing, wo Wolff, Bilfinger und Fischer aufgehört hatten, war die Zensur
soweit abgemildert, dass seine erstes Buch Wahre Schätzung der lebendigen Kräfte trotz
diverser Hinweise auf eine freigeistige Ontologie vom Universitätszensor 1747 nicht
beanstandet wurde. Allerdings wurde Kant am Lehrstuhl für Metaphysik und Logik nicht zur
Magisterprüfung zugelassen, sodass er 1748 die Universität ohne Abschluss verließ. Nach
dem Tod des Lehrstuhlinhabers M. Knutzen 1750 setzte er sein Studium 1754 fort und
schloss es 1755 mit einer anderen Magisterarbeit ab.
Das feindselige Klima für spinozistische Ontologien veranlasste Kant, seine freigeistigen
Ideen naturwissenschaftlich zu kaschieren, sich knapp auszudrücken oder es bei
Anspielungen zu belassen. Das ist der werkimmanente Grund für die unscheinbare
Behandlung der Seinsfrage: Kants Ontologie ist in Abhandlungen zu Fragen der Dynamik,
Astrophysik und Kosmologie teils versteckt, teils verstreut.
Die dialektische Selbstschöpfung der Wirklichkeit beschreibt Kant in seinem zweiten Buch
Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels, welches er 1755 anonym
veröffentlichte. 1756 habilitierte er sich mit Metaphysicae cum geometria junctae usus in
philosophia naturali, cuius specimen I. continet Monadologiam Physicam („Der Nutzen der
mit Geometrie verbundenen Metaphysik in der Naturphilosophie, dessen erste Probe die
physische Monadologie enthält“). Nach der Habilitation bewarb sich um den Lehrstuhl für
Metaphysik und Logik. Doch er war unvorsichtig gewesen: Er hatte die anonyme
Naturgeschichte mit dem Titel Kosmogonie in einem unter eigenem Namen publizierten
Zeitungsaufsatz 1754 angekündigt (1:191.4-8). Mittels einer Annonce eines Buchhändlers,
Naturgeschichte des Magister Kants sei nun erhältlich, wurde er 1756 der Autorschaft
überführt. Nun war wieder ein Skandal da: Der Verleger ging seiner Kreditwürdigkeit
verlustig und meldete Bankrott an; die ausgelieferten Bücher saßen in einem Lager fest,
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und das Lager brannte nieder. Kants Lehrstuhlbewerbung wurde nicht nach Berlin
weitergereicht. So arbeitete der Freigeist weiterhin als Bibliothekar und Privatdozent. Fast
ein Jahrzehnt später bot ihm die Universität 1764 einen Lehrstuhl an — allerdings in
Dichtkunst. Kant lehnte ab, wohl auch, um nicht zum Gespött der Kritiker zu werden. Die
Zensur hatte sich gelockert, aber eine Karriereschädigung war zu verzeichnen. 1770 reichte
er eine Inauguraldissertation ein, in der er zwischen Denk- und Sinnesstrukturen
unterscheidet, was von seinen Lesern als Abschwören der rationalen Ontologie verstanden
wurde und ihn für den Lehrstuhl in Metaphysik und Logik qualifizierte. Das war der erste
Schritt zum Kritizismus und Kants Abschied von der Ontologie.
11.2
Polaritätsprinzip und Auswicklung der
Natur: Kants Seinsbegriff
Der kritische Kant münzt die Ontologie in eine Verstandesanalytik um und behandelt die
Seinsfrage formal. Im Gegensatz dazu geht der frühe Kant, der vorzeitige Schulabgänger,
der anonym schreibende Freigeist, welcher nur eine Professur in Poetik aber keine in
Philosophie verdient, die Seinsfrage material an. In der vorkritischen Ontologie wird das
Sein als Stoff bestimmt, wobei zu beachten ist, dass dieser wiederum energetisch und
evolutionär gedeutet wird. Energetisch-evolutionäres Sein ist stets Prozess und damit
zeitgebunden. Die Grundstruktur des Wirklichen ist nicht ewig-konstant, denn das Wirkliche
verwandelt sich im Lauf der Zeit so stark, dass auch die Grundstruktur wechselt. In einem
Aufsatz 1754 spricht Kant vom „Proteus der Natur“ (1:212.15); dem „allgemeinen
Weltgeist“ (1:211.39) und der „Auswickelung der Natur“ (1:201.21-22; vgl. Naturgeschichte
1:226.8).
Trotz wechselnder Grundstruktur lässt sich ein bleibendes dynamisches Wesen des Seins
bestimmen. Gleich im ersten Abschnitt der Schätzung nennt er es die „Entelechie“ und
verweist auf Leibniz, der außer Aristoteles der einzige der Philosophen (der „Weltweisen“)
gewesen sei, der „dieses Rätsel“ begriffen habe (1:17.14-18). Kurioserweise paraphrasiert
§1 der Schätzung eine Satzfolge in Leibniz’ Discours sur la Theologie naturelle des Chinois
(1715/1716) (vgl. Li u. Poser, 2002, 71). Dieses Werk zitiert Kant aber nicht und verweist
statt dessen auf Leibniz’ Specimen Dynamicum (1695). Die Entelechie, die im Stoff liegende
Macht, die dessen Entwicklung und Ausformung vorantreibt, ist das ewig gleiche Wesen des
Seins. Die erste von diesem Wesen erzeugte Grundstruktur des Wirklichen ist „eine
wesentliche Kraft,“ die dem Körper „sogar noch vor der Ausdehnung zukommt“ (§ 1,
1:17.21-22).
Am Anfang allem Wirklichen ist also reine Kraft. Sie hat die Eigenschaft, „außer sich zu
wirken“ (§ 4, 1:19.5). Sie strahlt aus. Das ursprüngliche Sein breitet sich zum Feld aus. Das
ausgebreitete Feld erzeugt die Ausdehnung (§ 9, 1:23.5-10). Die „Eigenschaften der
Ausdehnung, mithin auch die dreifache Abmessung derselben“ gründen in den
Eigenschaften der Kraft (§ 10, 1:24.5-9). Kant benützt hier das photometrische
Abstandsgesetz, das Kepler 1604 entdeckt hatte. Wenn Kraft nach außen wirkt, nimmt ihr
ausgestrahltes Quantum im umgekehrten Verhältnis zum Quadrat der Weiten ab. Der
Druckabfall in der Kraftausstrahlung in der Zeit ist also derart, dass das ausbreitende Feld
sich dreidimensional ausdehnt. So entsteht laut Wahre Schätzung § 9-10 die zweite
Grundstruktur: ein zeitgebundener Raum.
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Im zeitgebundenen Raum verortet sich das Energiefeld zu Kraftpunkten. Die ausstrahlende
Urkraft verdünnt sich nicht nur; sie vervielfältigt sich zu Verortung. Obwohl Kant das Prinzip
der Polarität nicht beim Namen nennt, ist es aus seiner Seinslehre nicht wegzudenken: In
ihrer Veräußerlichung entzweit sich die Kraft gleichsam zu Kraftquelle und Feld; in der
Ausbreitung des Feldes entzweit sie sich zu Verortung und Netzwerk; und in der Verortung,
wie wir des weiteren sehen werden, entzweit sie sich in Zurückstoßungs- und
Anziehungskraft. Kant schreibt, dass die Kraft im Raum „Lagen“ und „Orte” erzeugt, die
dann wiederum miteinander in Beziehung drehen und damit „äußerliche Verknüpfungen”
bilden (§7, 1:22.5-7).
Mit Entzweiung und Vervielfältigung beginnt die dritte strukturelle Stufe der dynamischen
Auswicklung: die Materie. Wie der Stoff aus den energetischen Verortungen des
zeitgebundenen Raumfeldes entsteht, legt Kant in Monadologia dar. Schon in Wahre
Schätzung § 10 überlegt er, dass das quadratische Abstandsgesetz zufällig sein müsse; in
unserem Universum schafft es zwar ein dreidimensionales Kontinuum, aber
höherdimensionale Räume sind denkbar, wenn man z.B. ein kubisches Abstandsgesetz
annimmt (1:24.19-30). In Monadologia führt er diesen Gedanken weiter und verbindet ihn
mit der Schlussfolgerung der Wahren Schätzung (§ 163), dass das Wesen der Kraft zwei
Aspekte habe (1:181.2-28). Wie der Titel des Buches besagt, ist Wahre Schätzung der
lebendigen Kräfte ein Beitrag zur Bestimmung energetischer Phänomene in der Mechanik.
„Lebendige Kraft“ ist ein Begriff der leibnizschen Dynamik und die Wurzel dessen, was man
in der Physik als kinetische Energie bezeichnet. Das Antonym „tote Kraft“ kommt aus der
kartesianischen Kinematik und war die Vorform des Impulses. Die „wahre Schätzung“
kombiniert Descartes und Leibniz, Impuls und Energie (§ 163, 1:181.2-28). Das Wesen der
Kraft ist also für Kant eine Art Impulsenergie.
Was diese vorgeschlagene Schlichtung das Kräftestreits für die Ontologie bedeutet, bedarf
einer Erklärung. Inspiration für seine salomonische Lösung der Kontroverse zwischen
Kartesianern und Leibnizianern zieht Kant aus dem Werk Bilfingers. Wenn zwei
entgegengesetzte Parteien ebenbürtig seien, so schreibt er, müsse die Wahrheit in „einem
gewissen Mittelsatz“ liegen (§ 20, 1:32.5-13). Es bleibt ungesichert, wie weit man hier
zwischen den Zeilen lesen soll. Auf der einen Seite verweist Kant auf einen Aufsatz
Bilfingers zur Kräftemessung, was Sinn macht und unverfänglich ist. Auf der anderen Seite
hatte jener, bevor er 1728 über Dynamik schrieb, sich schon einen Namen als Sinologe
gemacht: 1726 edierte er Wolffs Chinarede, wie erwähnt, und 1724 legte er Buch zur
chinesischen Moralphilosophie vor. Eines der in Bilfingers Specimen exzerpierten Klassiker
ist das Buch von Mitte und Maß (zhongyong 中庸). Das Ideal der Goldenen Mitte, das im
Prinzip der Polarität von Yin und Yang (yinyang 陰陽) gründet, war in der Wolffschen Schule
spätestens seit dem von Leibniz zitierten Traité (1701) von Longobardi bekannt. Longobardi
und Leibniz benennen Yin-Yang auch als ‚Taikie’ (Polaritätsprinzip; taiji 太極). Longobardi
beschreibt dieses Prinzip der sich selbst entfaltendenden Wirklichkeit im Kapitel „Über die
Wissenschaft der Vergangenheit; d. h., wie die Welt laut der Chinesen erschaffen und
erzeugt worden ist“ (Longobardi 2002, 124-126).
Fest steht, in Kants Ontologie ist Sein an sich Kraft, und Kraft an sich ist gleichermaßen
voneinander entzweit und ineinander verschränkt. In seiner Dissertation über
Erkenntnisprinzipien der Seinsstruktur, Principium primorum cognitionis metaphysicae nova
dilucidatio („Neue Erleuchtung der ersten Prinzipien metaphysischer Erkenntnis“ 1755),
entwickelt Kant das Polaritätsmotiv weiter. So argumentiert er in Dilucidatio (Prop. 1-3)
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gegen das traditionelle Primat des Satzes der Identität: Laut Kant ist der Widerspruch das
erste und binäre Prinzip des Seins, da Widerspruch zugleich positiv und negativ ist und
deswegen Wirkliches wie Nichtwirkliches begründen kann (Prop. 2, 1:389.3-6 u. 18-32). Der
Widerspruch muss daher der zu kurz gegriffenen Identität vorangestellt werden (Prop. 3,
1:390.30-32). Mit dem Primats des Widerspruchs wird Dialektik zum ontologischen
Grundprinzip.
Konkret heißt das für die dritte Stufe der Seinsauswicklung — der in Monadologia
beschriebenen Bildung der Materie — dass der Stoff sich nicht nur an den verorteten
Netzwerkpunkten des Energiefeldes entwickelt, sondern als solche Verortungen anhebt.
Das Sein, nun ausgedehnt, verortet sich in seinem Feld in Kraftpunkte, die wiederum jeder
für sich nach außen wirken, allerdings auf binäre Art. Kant setzt zwei entgegengesetzte und
dialektisch verschränkte Grundkräfte fest. Die eine Strahlung ist repulsiv, die stark anhebt
aber rasch abnimmt, im umgekehrten Verhältnis zur dritten Potenz ihrer Weite vom
Kraftpunkt (Prop. 10, 1:484.30-33). Die andere Strahlung ist attraktiv, die schwach beginnt
aber langsam abnimmt, im umgekehrten Verhältnis zum Quadrat ihrer Weite (1:484.34-39).
Die Verschränkung beider Kräfte bläht eine Energieblase um den Kraftpunkt auf. Kant nennt
diese Energieblase ‚Handlungskugel’ (sphaera activitatis; Prop. 7, 1:481.9),
‚Ausdehnungsquantum’ (quantitas extensiva ; 1:481.37), oder ‚Handlungsumwelt’ (ambitus
activitatis, ibid.). Die Oberfläche dieses Bläschens ist diejenige Weite, an der sich Repulsion
und Attraktion die Waage halten (Prop. 10, 1:484.40-1:485.4). Innerhalb des Bläschens
dominiert Repulsion, dient als Widerstandskraft, und macht das Bläschen undurchdringlich
(Prop. 8-9, 1:482.4-483.30). Außerhalb der Oberfläche überwiegt Attraktion, bringt das
Bläschen mit anderen in Kontakt und setzt so eine Ordnung von Seiendem zusammen,
einen Bläschenschaum.
Die Energiebläschen sind die Bausteine der Dinge. Sie sind elementar. Die ihnen
vorhergehenden Punkte sind geometrisch unteilbar. Die aus den Punkten strahlenden
Bläschen sind allerdings ontologisch unteilbar, und deshalb besteht jeder Körper aus einer
endlichen Zahl einfacher Elemente (Prop. 4 Coroll., 1:479.35-36). Die ontologische
Unteilbarkeit liegt darin begründet, dass die Kraftpunkte ihre Bläschen (spatioli) als
Handlungskugeln bestimmen (Prop. 6, 1:480.36-39). Wie wir gesehen haben, wird die
Handlungskugel mit einer Zurückstoßungskraft aufgebläht, deren Quantum in der dritten
Potenz zur Entfernung vom Zentrum abnimmt. Die Anziehungskraft breitet sich im
umgekehrten Verhältnis zur zweiten Potenz ihrer Weiten aus und schafft, wie wir gesehen
haben, den dreidimensionalen Raum. Da sich Repulsion in der dritten Potenz ausbreitet,
schafft sie einen höherdimensionalen Raum. Höherdimensionale Kontinua sind im
dreidimensionalen Raum unteilbar. Die Ursache für die Bläschen ist dynamischer Natur,
aber der Grund für ihre Unteilbarkeit ist ihre vom Normalraum strukturelle
Verschiedenheit. Das ist Kants „physikalische Monadologie“. Für frühere Generationen von
Ideenhistorikern war das müßige Spekulation, aber heute ist die Ähnlichkeit mit Modellen
der Stringtheorie unverkennbar. Kants höherdimensionale Energiebläschen nehmen
begrifflich die Calabi-Yao Räume als kleinste Mannigfaltigkeiten voraus.
11.3
Zusammenfassung
So führt Kant aus, wie die Grundstruktur des Seienden sich aus dem Sein herauswickelt und
eine Wirklichkeit mit Energie, Zeit, Raum, und Materie erzeugt. Nachdem er in
Monadologia die Feinstruktur des Seienden dargelegt hat, beschreibt er in Naturgeschichte
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die Ordnung des Seins im Großen. Vom Bläschenschaum der Materie zu Partikeln ist es nur
ein Schritt. Kant beginnt mit der Annahme, dass die im zeitgebundenen Raum verorteten
Kraftfelder nun Partikel ausgestreut haben, die einen Nebel bilden. Voltaire zitierend, prahlt
er, „gebt mir nur Materie, ich will euch eine Welt daraus bauen“ (1:229.10-11). In der Folge
beschreibt er seine berühmte Nebularhypothese, deren Allgemeingültigkeit für Sonnen,
Planetensysteme und Spiralgalaxien heutzutage als erwiesen gilt. Wie sich im Einzelnen
aufgrund des Widerstreits von Anziehungs- und Abstoßungskräften sich der Teilchennebel
zur Gaswolke verdichtet; die Wolke sich zusammenzieht, zu rotieren beginnt, abflacht,
ihren Kern verdichtet, erhitzt, und zur Sonne entflammt—und wie sich die Scheibe um die
Sonne in Bänder teilt, die Bänder klumpig werden, und Planeten entstehen: all das geht
über die Ontologie hinaus und verweist auf die Astrophysik.
Obwohl Naturgeschichte sich an Newtons Mechanik anlehnt, läuft sie auf deren religiös
fragwürdige Verallgemeinerung hinaus. Wissenschaftlich begründet, politisch korrekt und
theologisch hinnehmbar war Newtons Anwendung der Mechanik auf den Raum. Freigeistig
jedoch ist Kants Schritt von Raum zur Raumzeit. Mit diesem Schritt erklärt er die
Auswicklung des Seins von Chaos zur Komplexität. Die Welt schafft sich selbst, durch Kraft,
die sich in Anziehung und Zurückstoßung entzweit und im Raum Stoff bildet, sammelt,
verdichtet und, derart gefügt, entfaltet. Kants zeitliche Erweiterung der Mechanik läuft auf
die „Auswickelung der Natur“ (1:226.8) hinaus, wobei ‚Auswicklung’ die Eindeutschung des
Begriffs evolutio ist.
Als Abschluss der Seinslehre sei noch darauf verwiesen, dass Kant die natürliche
Auswicklung trotz des Hinweischarakters der Darstellung konsequent verteidigt. Jeden
Denkschritt der Seinsentfaltung versucht er entweder nachzuweisen oder zumindest zu
bestimmen — so erzeugt Kraft Raum; Raum, Materie; und Materie, Welten. Das
‚dazwischen’ von Sonnenstrahlung und Planetenoberfläche erzeugt Leben (Nat.gesch. II.7,
1:312.4, 314.3-10, 317.7-12). Leben erzeugt Geist (II.7, 1: 318.17-18 und III, 1:352.34353.4.). Das Ganze des Seienden ist evolutionär vernetzt (1:365.10-12). Das Sein entzweit
sich zum Widerstreit, dessen Dialektik das All schöpft, aus Chaos Komplexität schmiedet
und diese wieder ins Wirrwarr stürzt (II.7, 1:319.19-320.2). Sein entfaltet sich zyklisch, von
Ordnung zu Chaos, von Chaos zu Ordnung. Es west als „Phönix der Natur“ (1:321.13).
Wollte man Kants Ontologie auf einen Nenner bringen, dann bietet sich Dynamik sowie
Dialektik an, doch letztlich ist Sein Evolution. Für den Mensch ist der Vektor des Seins
sittlich maßgebend. So verweist die vorkritische Ontologie auch im Kritizismus auf ein
Daseinsziel: den Fortschritt.
Literatur
Mit Ausnahme der Kritik der reinen Vernunft (1781/1787), die nach der Erstausgabe zitiert
wird (1. Druck 1781 „A“; rev. u. erweit. Auflage 1787 „B“), verweisen Angaben zu Kants
Werken auf Bandnummer, Seitenzahl und Zeile der Akademieausgabe.
Albrecht, Michael: Einleitung. In: Wolff 1985.
Beiser, Frederick. The Fate of Reason: German Philosophy from Kant to Fichte. Cambridge,
Mass., 1987.
Bird, Graham: A Companion to Kant. Oxford 2006.
Kuhn, Manfred. Kant’s Teachers in the Exact Sciences. In: Eric Watkins (Hg): Kant and the
Sciences. Oxford 2001.
Li, Wenchao/Poser, Hans (Hg). Leibniz: Discours sur la Theologie naturelle des Chinois
[1715/1716]. Frankfurt 2002.
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Longobardi, Nicolas: Traité sur quelques points de la religion des Chinois [1701]. In: Li/Poser
2002.
Perkins, Franklin: Leibniz and China. Cambridge, Mass. 2004.
Schönfeld, Martin: Kant’s early dynamics. In: Bird 2006, 40-60.
Schönfeld, Martin: Kant’s early cosmology. In: Bird 2006, 61-84.
Wolff, Christian: Rede über die praktische Philosophie der Chinesen [1726]. Hamburg 1985.
Martin Schönfeld
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