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KANTS GRUNDLEGUNG ÜBER DEN BÖSEN WILLEN.
EINE KOMMENTARISCHE INTERPRETATION
VON GMS 457, 25-458, 5
Dieter Schönecker
K
ant vertritt im dritten Abschnitt der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten1 die
folgende These: «ein freier Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetzen [sind]
einerlei. Wenn also Freiheit des Willens vorausgesetzt wird, so folgt die Sittlichkeit
samt ihrem Prinzip daraus durch bloße Zergliederung ihres Begriffs» (447, 6). Diese
These – ich nenne sie Kants Analytizitätsthese – besagt, dass der intelligible Wille dann
und nur dann frei ist, wenn er ein moralisch guter Wille ist.2 Daraus resultiert direkt
ein großes Problem: Denn wenn eine Person kraft ihres intelligiblen Willens dann
und nur dann frei handelt, wenn sie moralisch handelt, dann kann eine solche Person
nicht unmoralisch handeln; es gibt dann keine Möglichkeit zum Bösen.
Diese Implikation der Kantischen Freiheitstheorie wurde früh gesehen und bemängelt.3 Zugleich wurde versucht, Kants Freiheitstheorie wie überhaupt die ganze
Deduktion aus GMS iii umzudeuten, um diese Implikation zu vermeiden; doch das
ist hermeneutisch nicht akzeptabel. Zugleich ist es aber auch unbefriedigend, die Implikation von der Unmöglichkeit des Bösen einfach zu behaupten, ohne sie genau
am Text zu belegen. Ich möchte mich daher mit einer Stelle beschäftigen (457, 25-458,
5), die, wenn ich recht sehe, noch nicht mit einer genauen Analyse gewürdigt worden ist und die belegt, dass Kant zwar vielleicht, wie er behauptet, mit dem Begriff
der Freiheit einen Schlüssel zur Erklärung der Autonomie des Willens haben mag,
dass er einen Schlüssel zur Erklärung der Heteronomie des Willens aber nicht anzubieten hat.
Ich beginne mit einer Erinnerung (i) an den argumentativen Auf bau von GMS iii;
das ist wichtig, weil es ja um die Freiheit als Ermöglichungsgrund des Bösen gehen
soll, und die Freiheit im Verhältnis zum moralischen Gesetz ist das zentrale Thema
von GMS iii. Danach präsentiere ich einen kurzen Überblick über und eine Einführung in die Begriffe und Stellen, die für das Thema dieses Aufsatzes relevant sind (ii).
1 Alle einfachen Angaben in Klammern, z.B. «(447, 6)», beziehen sich auf die Paginierung der Grundlegung
zur Metaphysik der Sitten in der Akademieausgabe (AA iv); Textgrundlage ist die von Bernd Kraft und Dieter Schönecker besorgte Ausgabe im Felix Meiner Verlag, Hamburg 1999.
2 Ich habe diese Interpretation entwickelt in D. Schönecker, Kant: Grundlegung III. Die Deduktion des kategorischen Imperativs, Freiburg-München, Alber, 1999. Textgenauer begründet wird sie in Idem, ‘A free will and a
will under moral laws are the same’: Kant’s concept of autonomy and his thesis of analyticity in Groundwork III, in Kants
Conception of Autonomy, ed. O. Sensen, Cambridge University Press, 2012. Zu Kants Freiheitsbegriff vgl. auch
Idem, Kants Begriff transzendentaler und praktischer Freiheit. Eine entwicklungsgeschichtliche Studie, unter Mitarbeit
von S. Buchenau, D. Hogan, Berlin, de Gruyter, 2005.
3 Vgl. die Hinweise bei P. Guyer, Problems with freedom: Kant’s argument in Groundwork III and its subsequent
emendations, in Kant's Groundwork of the Metaphysics of Morals. A Critical Guide, ed. J. Timmermann, Cambridge, Cambridge University Press, 2009, S. 176-202 (Guyer zitiert übrigens 457,25-458,5, interpretiert sie aber
nicht).
«studi kantiani» · xxiv · 2011
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dieter schönecker
Dann werde ich die besagte Stelle (457, 25-458, 5), von der ich meine, dass sie Kants
Problem besonders deutlich werden lässt, kommentarisch interpretieren (iii).1
1. Struktur und Argumentation von GMS iii
Die zentrale Frage, die in GMS iii beantwortet wird – «Wie ist ein kategorischer Imperativ möglich?» (453) –, wird schon sehr früh (ab 417) als Leitfrage des ganzen Buches formuliert. In der Sek. 5 führt Kant aus, warum die Frage, wie die reine praktische Vernunft eine tatsächliche bewegende Kraft ausübt, nicht beantwortet werden
kann; und insoweit kann die Frage nach der Möglichkeit des kategorischen Imperativs also nicht beantwortet werden. Beantwortet werden dagegen die Frage nach der
Geltung des moralischen Gesetzes als eines kategorischen Imperatives für sinnlichvernünftige Wesen und die Frage nach der Voraussetzung dieses Gesetzes, der Möglichkeit der Freiheit.
Üblicherweise hat man Kants Argument so rekonstruiert: Ein freier Wille ist ein
Wille unter dem sittlichen Gesetz (Sek. 1); Freiheit muss als Eigenschaft des Willens
aller vernünftigen Wesen und damit auch als Eigenschaft des menschlichen Willens
vorausgesetzt werden (Sek. 2-3); also ist der menschliche Wille unter dem sittlichen
Gesetz, er ist also dem kategorischen Imperativ unterworfen. – Ein großes Problem
dieser Interpretation besteht aber darin, dass dann die «Deduktion» (454, 21) des kategorischen Imperativs spätestens mit der Sek. 3 beendet wäre. Denn die erste Prämisse wird in der Sek. 1 bewiesen; die zweite Prämisse wird spätestens in Sek. 3 begründet, und folglich wäre die Antwort auf die Frage, wie ein kategorischer
Imperativ möglich ist, bereits gegeben, bevor Kant die Sek. 4, deren Überschrift jene
Frage ist und in der man die Antwort und Deduktion findet, überhaupt beginnt. Hinzu kommt, dass Kant am Ende der Sek. 1 ausdrücklich sagt, es bedürfe zunächst «noch
einiger Vorbereitung» (447), die ja dann in den Sek. 2 und 3 erfolgt, so dass diese Sektionen ihrerseits nicht die Deduktion selbst enthalten können; erst am Ende der Sek.4
wird dann ja auch die «Richtigkeit dieser Deduktion» (454, 21) behauptet.
Von entscheidender Bedeutung ist das Verständnis dessen, was ich Kants Analytizitätsthese (Sek. 1) nenne: ‹ein freier Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetzen sind
einerlei›. Kants These, dass unter der Voraussetzung der Freiheit des Willens das moralische Gesetz »durch bloße Zergliederung» (447, 9) – also im Sinne der Fußnote zur
Synthetizität des KI2 analytisch – aus dem Begriff des freien Willens folgt, und dass der
kategorische Imperativ dennoch ein synthetischer Satz ist, erscheint nur sinnvoll, wenn
der Wille, von dem in der Analytizitätsthese die Rede ist, der Wille in noumenaler
Perspektive ist, und wenn infolgedessen das Gesetz, von dem die Analytizitätsthese
handelt, nicht der kategorische Imperativ ist, sondern das moralische Gesetz. Kant
macht hier einmal mehr die Idee eines vollkommenen Willens zur Folie seiner Argu1 Zur kommentarischen Interpretation vgl. D. Schönecker, Textvergessenheit in der Philosophiehistorie, in
Kant verstehen/Understanding Kant. Über die Interpretation philosophischer Texte, hrsg. von D. Schönecker, T.
Zwenger, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 20042, S. 159-181 und G. Damschen, D. Schönecker, Selbst philosophieren. Ein Methodenbuch, Berlin, de Gruyter, 2012).
2 In dieser Fußnote (420, 29-35) stellt Kant den perfekten Willen dem sinnlich-vernünftigen Willen gegenüber und fasst dabei das moralischen Gesetz insofern als analytischen Satz, als er das Wollen einer Handlung
aus dem Wollen eines perfekten Willens «analytisch ableitet»; der analytisch-moralische Satz ist also deskriptiv, nicht präskriptiv.
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mentation. Kants Analytizitätsthese besagt demnach: Freiheit als das Vermögen, ganz
von selbst etwas hervorzubringen, muss als Kausalität wie jede Kausalität ein Gesetz
haben, und da durch den negativen Freiheitsbegriff Naturgesetzlichkeit ausgeschlossen ist, und da zudem keine andere Gesetzlichkeit in Frage kommt, ist Freiheit die «Eigenschaft des Willens, sich selbst ein Gesetz zu sein» (447, 1); dieses Gesetz ist das moralische Gesetz (aber nicht als kategorischer Imperativ).
Der nächste Schritt in Kants Gedankengang (Sek. 2) ist ein transzendentales Argument: Jedes vernunftbegabte Wesen muss sich als denkendes Wesen für spontan und
damit für transzendental frei halten, weil sonst der mit jedem Aktus des Denkens –
auch mit dem, der den Determinismus behauptet – unvermeidlich erhobene Geltungsanspruch unmöglich ist; der Aktus des Denkens ist ein Aktus der Spontaneität,
und Spontaneität beinhaltet transzendentale Freiheit. Und weil es «doch am Ende nur
eine und dieselbe Vernunft sein kann, die bloß in der Anwendung unterschieden sein
muss» (391, 27), muss die denkende Vernunft «folglich» (448, 18) auch «als praktische
Vernunft» (448, 18) frei sein.
Mit der Sek. 2 ist noch nicht bewiesen, dass der Mensch sich als ein vernünftiges Wesen denken darf. Unbewiesen ist bis dahin auch die Geltung des moralischen Gesetzes
als eines kategorischen Imperativs für menschliche Wesen. So hält Kant zu Beginn der
Sek. 3 ausdrücklich fest, er sei hinsichtlich der Frage, «woher das moralische Gesetz verbinde» (450), noch «um nichts weiter gekommen» (449). Denn selbst wenn Freiheit als
Eigenschaft des Willens aller vernünftigen Wesen vorausgesetzt werden muss, folgt
daraus nicht die Gültigkeit des kategorischen Imperativs für sinnlich-vernünftige
Wesen, weil das mit jener Freiheit direkt verbundene Gesetz nur das moralische
Gesetz als analytischer Satz ist. Der kategorische Imperativ ist aber ein synthetischer
Satz, d.h. ein Satz, der für sinnlich-vernünftige Wesen mit einem Sollen verbunden ist.
Genau an dieser Stelle entsteht der berühmte und umstrittene Verdacht auf eine
«Art von Zirkel» (450). Kant spricht auch von der bloßen «Erbittung eines Prinzips»
(453), was seine Übersetzung des logischen Terminus «petitio principii» ist. Doch für
Kant ist eine petitio principii kein circulus in probando. Der Zirkelverdacht besteht daher nicht darin, dass wir frei sind, weil wir dem moralischen Gesetz unterworfen sind,
und dass wir dem moralischen Gesetz unterworfen sind, weil wir frei sind.1 Das Problem besteht darin, wegen der »Wichtigkeit» (450) des moralischen Gesetzes die Freiheit nur «um des sittlichen Gesetzes willen» (453) anzunehmen, ohne sie eigens zu beweisen sowie in dem Missverständnis, dass sich aus der Freiheit des menschlichen
Willens die Gültigkeit des moralischen Gesetzes als eines kategorischen Imperativs
als direkte «Folge» (453, 13) ableiten ließe. Kant begegnet dem Zirkelverdacht, indem
er in Anknüpfung an das Argument aus der Sek. 2 die Freiheit des menschlichen Willens über die «reine Selbsttätigkeit» (452, 9) von Verstand und Vernunft beweist (also
ohne dabei auf die Gültigkeit des Sittengesetzes zu rekurrieren). Als ein «vernünftiges, mithin zur intelligiblen Welt gehöriges Wesen» (452, 31) ist der Mensch «als Intelligenz das eigentliche Selbst» (457, 34), und sofern der Mensch nur in dieser noumenalen Perspektive betrachtet wird, ist das moralische Gesetz in der Tat eine direkte
‹Folge› seiner Freiheit: «Denn jetzt sehen wir, dass, wenn wir uns als frei denken, so
1 Vgl. dazu D. Schönecker, Die ‚Art von Zirkel‘ im dritten Abschnitt von Kants ‚Grundlegung‘, «Allgemeine
Zeitschrift für Philosophie», xxii, 1997, S. 189-202.
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versetzen wir uns als Glieder in die Verstandeswelt und erkennen die Autonomie des
Willens, samt ihrer Folge, der Moralität; denken wir uns aber als verpflichtet, so betrachten wir uns als zur Sinnenwelt gehörig und doch zugleich zur Verstandeswelt gehörig» (453, m. H.). Die Frage nach der Möglichkeit des kategorischen Imperativs als
Frage nach dessen Geltung ist also auch am Ende der Sek. 3 noch immer nicht beantwortet. Dieser Beweis ist Aufgabe der abschließenden Deduktion und damit der Sek.
4. Für unseren Kontext ist besonders wichtig, dass Kant in der Sek. 3 vor allem den
Unterschied zwischen der Verstandeswelt als der Welt der Dinge an sich und der Sinnenwelt als der Welt der Erscheinungen einführt; ich setze diese Unterscheidung als
bekannt voraus (komme aber auch noch einmal darauf zurück).
Kant wiederholt in Sek. 4 zunächst noch einmal die Analytizitätsthese aus Sek. 1,
wonach ‹ein freier Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetzen einerlei› sind: «Als
bloßen Gliedes der Verstandeswelt,» – und das heißt: als Wesen, das ausschließlich frei
und vernünftig handelt – «würden also alle meine Handlungen dem Prinzip der Autonomie des reinen Willens vollkommen gemäß sein» (453, 25). Die Deduktion erfolgt
dann in einem einzigen Satz (453, 31-452, 5), der außerordentlich schwer interpretierbar ist, aber folgendermaßen rekonstruiert werden kann: ‹Weil aber die Verstandeswelt den Grund der Sinnenwelt enthält, weil sie mithin auch den Grund der Gesetze
der Sinnenwelt enthält, weil sie also in Ansehung meines Willens, der ganz zu ihr gehört, unmittelbar gesetzgebend ist und weil sie also auch in Ansehung meines Willens als eine Verstandeswelt gedacht werden muss, die den Grund der Sinnenwelt und
den Grund der Gesetze derselben enthält, so werde ich mich als ein Wesen, das sich
zugleich als Glied der Verstandeswelt (Intelligenz) und als Glied der Sinnenwelt betrachtet, dem Gesetze der Verstandeswelt, mithin der Vernunft, die in der Idee der
Freiheit das Gesetz der Verstandeswelt enthält, und also der Autonomie des Willens
unterworfen erkennen und folglich die Gesetze der Verstandeswelt für mich als Imperative und die diesem Prinzip gemäßen Handlungen als Pflichten ansehen müssen.›
– Auch an einer späteren Stelle wird deutlich, dass Kant in der Tat mit der ontischen
Superiorität der Verstandeswelt argumentiert, wenn er schreibt, dass das moralische
Gesetz «für uns als Menschen gilt, da es aus unserem Willen als Intelligenz, mithin
aus unserem eigentlichen Selbst entsprungen ist; was aber zur bloßen Erscheinung gehört, wird von der Vernunft notwendig der Beschaffenheit der Sache an sich selbst untergeordnet» (461, 2). Kants Deduktion des kategorischen Imperativs lässt sich also folgendermaßen zusammenfassen: Der Mensch verfügt über das Vermögen der Vernunft,
das als epistemisches Vermögen eine Form reiner Selbsttätigkeit ist. Als ein solches
Wesen muss der Mensch sich als Intelligenz und damit als Glied der Verstandeswelt
betrachten, das zugleich auch seinen Willen als frei verstehen muss. Da mit dieser
Freiheit das Sittengesetz analytisch verbunden ist, erkennt auch der Mensch, wenn
und sofern er sich als ein solches Wesen begreift, die Autonomie und das moralische
Gesetz als Gesetz seines vernünftigen Wollens. Und da die Verstandeswelt und damit
auch der Wille als Glied dieser intelligiblen Welt der Sinnenwelt ontisch übergeordnet sind, gilt das Gesetz jener Welt (das Sittengesetz) auch als Gesetz (als kategorischer Imperativ) für Wesen, die zugleich Glieder der Sinnenwelt und der Verstandeswelt sind. Kraft des Unterschiedes zwischen der intelligiblen Welt und der Sinnenwelt
vermag Kant das Sollen, das im kategorischen Imperativ enthalten ist, als ein eingeschränktes eigenes Wollen zu verstehen.
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kants grundlegung über des bösen willen.
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2. Das Böse in der Grundlegung : Ein Überblick und eine Einführung
2. 1. Das Böse in der GMS: Ein kurzer Überblick über die Kontexte
Kant offeriert in der GMS, wie man weiß, eine ausführliche Theorie des guten Willens. Das gilt sowohl für den Begriff selbst (GMS i) wie auch für die Freiheit, die einen
solchen guten Willen möglich macht (GMS iii). Ein entsprechendes Pendant für den
bösen Willen fehlt: Kant analysiert weder eigens den Begriff des bösen Willens noch
hat er, wie wir zeigen wollen, eine Theorie dazu, wie Freiheit und das Böse sich zueinander verhalten.
Das heißt aber nicht, dass das Böse nicht thematisch wäre. So ist schon im Kontext
des Begriffs des guten Willens in GMS i indirekt vom bösen Willen «eines Bösewichts»
(394, 10) die Rede. Eben ein solcher «Bösewicht» (454, 21) taucht unmittelbar nach der
Deduktion des KI wieder auf, und dort spricht Kant dann auch ausdrücklich von einem «bösen Willen» (455, 5, m. H.); auf diese Stelle werde ich gleich etwas genauer eingehen. Sie zeigt, dass Kant den guten Willen als Glied der Verstandeswelt und den bösen Willen als Glied der Sinnenwelt begreift.
Abgesehen von den wenigen Stellen, in denen Kant explizit den Ausdruck ‹Böses›
(bzw. Varianten davon) gebraucht,1 spricht Kant verstreut über die ganze GMS immer
wieder von den «Neigungen», die er, wenn auch nicht in solch systematischer Weise
wie in der Kritik der praktischen Vernunft,2 unter die «Selbstliebe» (z. B. 401, 28) als
«mächtiges Gegengewicht gegen alle Gebote der Pflicht» (405, 5) subsumiert; außerdem skizziert Kant am Ende von GMS i die Theorie einer «natürliche[n] Dialektik» (405,
13), mit der er plausibel machen will, wie es trotz aller grundlegenden sittlichen Einsicht der gemeinen Menschenvernunft zu einem falschen Verständnis der Ethik und
damit auch zu bösen Handlungen kommen kann.3
Ein dritter wichtiger Kontext für das Verständnis des Bösen ist der Begriff der Heteronomie, den Kant in den beiden letzten Unterkapiteln von GMS ii entfaltet. Darunter fasst Kant einerseits jeden Willen, der nicht durch das moralische Gesetz
bestimmt wird wie auch diejenigen Ethiken, die, anders als Kants Ethik der Autonomie, in Bezug auf irgendein «Objekt» (441, 8) die Richtigkeit von Handlungen
bestimmen.
2. 2. Das Böse in der GMS: Eine Einführung
Versuchen wir jetzt, den Begriff des Bösen etwas genauer zu fassen. Der moralische
Wert einer Handlung setzt sich aus zwei Elementen zusammen: Aus der formalen
(legalen) Qualität der Handlungsweise selbst, und aus der Gesinnung, die der Handlung zugrunde liegt. Die formale Qualität kann laut GMS i zweifach sein: Handlungen sind demnach entweder pflichtmäßig oder pflichtwidrig. Die bloße Pflichtmäßigkeit macht eine Handlung nicht gut; es muss der gute Wille hinzutreten, und das
1 Vgl. 393, 11; 394, 9; 3394, 10; 402, 37; 404, 3; 419, 25; 437, 7; 454, 21; 455, 5.
2 Vgl. Von den Triebfedern der reinen praktischen Vernunft, in der KpV.
3 Vgl. D. Schönecker, The Transition from Common Rational to Philosophical Rational Moral Knowledge in the
Groundwork, in Kant's Moral and Legal Philosophy, eds. K. Ameriks, O. Höffe, Cambridge, Cambridge University Press, 2009, S. 93-122.
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ist bei sinnlich-vernünftigen Wesen die Gesinnung (das Motiv), aus Pflicht zu handeln, d.h. aus Achtung vor dem moralischen Gesetz.1 Nun identifiziert Kant an einer Stelle die formale Eigenschaft der Pflichtwidrigkeit mit dem Bösen;2 aber woraus
resultiert das Böse eines bösen Willens? Zwei Antworten kommen in Frage: Erstens
darin, den Neigungen zu folgen; zweitens in der bewussten Missachtung des moralischen Gesetzes. In der GMS beschäftigt Kant sich nur mit dem ersten Fall: Ein Wille ist böse, der sich in seiner Maximenbildung und Willensbestimmung von seinen
Neigungen beeinflussen lässt. Schon ein solcher Akt bedeutet insofern eine Missachtung gegenüber dem moralischen Gesetz, als ein solcher böser Wille nicht aus Achtung vor dem moralischen Gesetz handelt. Eine tiefergehende, genuine Missachtung
des moralischen Gesetzes würde aber darin bestehen, das moralische Gesetz um der
Missachtung willen (und nicht zwingend aus Neigung) zu missachten; diese Möglichkeit teuflischer Maximenbildung wird von Kant in der GMS – im Unterschied zur
Religionsschrift – nicht erwogen,3 und sie soll uns hier auch nicht weiter beschäftigen.
In gewisser Hinsicht sind also die Neigungen die Quelle des Bösen; aber eben nur
in gewisser, und zwar materialer Hinsicht: Gäbe es diese Neigungen nicht, würde der
Mensch, da er als Ding an sich Intelligenz mit einem guten Willen ist, das Gute wollen. Doch der Mensch muss sich zu diesen Neigungen verhalten, so dass zwar die Neigungen die eine Quelle des Bösen sind, des Menschen zulassendes Verhalten zu ihnen
aber die andere. Und dann ist es eben die Frage, ob ein solches Verhalten als freies Verhalten zu denken ist. Genau diese Problematik tritt bereits an zwei Passagen zutage,
die vor unserer noch zu interpretierenden Stelle liegen: Zum einen in den erwähnten
zwei Unterkapiteln zur Heteronomie, zum anderen in der besagten Stelle zum ‹Bösewicht› und seinen ‹bösen Willen›.
Dort, wo Kant den Begriff der Heteronomie einführt (am Ende von GMS ii),
schreibt er: «Der Wille gibt alsdenn sich nicht selbst, sondern das Objekt durch sein Verhältnis zum Willen gibt diesem das Gesetz» (441, 6, m. H.); und etwas später schreibt
Kant: «der Wille gibt sich nicht selbst, sondern ein fremder Antrieb gibt ihm […] das
Gesetz» (444, 25, m. H.). Autonomie ist Selbstbestimmung durch das moralische Gesetz als ein selbst gegebenes Gesetz; Heteronomie wäre demnach Fremdbestimmung
durch ein fremdes Gesetz. Kant unterscheidet verschiedene Formen von Heteronomie, worauf ich nicht eingehen will; ihnen gemeinsam ist aber jedenfalls der Gedanke, dass der Wille durch etwas, das nicht ihm selbst entspringt, bestimmt wird. Das
Problem des Bösen läge dann auf der Hand: Wird der Wille durch das moralische Gesetz bestimmt, ist er frei. Wird er durch etwas anderes bestimmt (paradigmatisch:
durch Neigungen und das Streben nach Glückseligkeit), dann ist er fremdbestimmt
und nicht frei; er gibt dann ‹sich nicht selbst› das Gesetz, sondern etwas anderes gibt
ihm dieses. Nun könnte man (vielleicht mit Kant) erwidern, dass zwar in der Tat in
heteronomen Handlungen der Wille durch etwas anderes (ein ‹Objekt›, einen ‹fremden Antrieb›) bestimmt wird, er sich aber bestimmen lässt und sich insofern auch
1 Die Frage, ob objektiv pflichtwidrige Handlungen aus Pflicht geschehen können, wird von Kant vermutlich verneint (vgl. 397); sachlich gesehen ist das problematisch.
2 Vgl. 402, 36: «Denn wenn ich von dem Prinzip der Pflicht abweiche, so ist es ganz gewiß böse»; etwas später allerdings (404, 3) wird das Böse vom Pflichtwidrigen noch einmal unterschieden.
3 Die Formulierung «für sich selbst als böse» (419, 24) ist nicht im Sinne einer teuflischen Maxime zu verstehen.
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kants grundlegung über des bösen willen.
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dann selbst bestimmt, wenn er Neigungen seine Handlungen bestimmen lässt. Der
Mensch kann sich, so die Erwiderung, zu Neigungen in eine bewusste und selbstbestimmte Relation setzen, er kann sich zu ihnen verhalten: Er kann sich so zu den Neigungen verhalten, dass er ihnen keinen Einfluss auf seine Maximenbildung einräumt;
oder er kann sich so zu ihnen verhalten, dass er ihnen einen Einfluss gewährt. Aber
in beiden Fällen ist es der Mensch, der die Entscheidung trifft; und diese Entscheidung
ist eben ein Akt der Selbstbestimmung. Daher schreibe Kant auch, so die Erwiderung,
dass «nun das Objekt vermittelst der Neigung […] den Willen bestimmen [mag], so bestimmt sich der Wille niemals unmittelbar selbst durch die Vorstellung der Handlung,
sondern nur durch die Triebfeder» (444, 5, m.H., Kants Hervorhebung getilgt). Selbst
wenn also der Wille durch ein Objekt bestimmt wird, so lässt er sich doch von ihm
bestimmen und bestimmt insofern ‹sich selbst›.
Doch eine textuelle Beobachtung und eine systematische Frage drängen sich sofort
auf. Erstens schreibt Kant direkt im Anschluss an diese eine Stelle (444, 5), dass das,
wodurch der Wille etwa im Falle der Neigungen bestimmt wird, zwar «in meinem
Subjekt» (444, 13) ist. Aber es gehört dies im engeren Sinne zur «Natur des Subjekts»
(444, 18; 444, 27, m.H.), so dass Kant schreibt, dass bei heteronomen Handlungen «eigentlich die Natur das Gesetz» (444, 21) gibt. Diese ‹Natur› begreift Kant aber als (Teil
der) Sinnenwelt, in der es keine Freiheit gibt. Zweitens stellt sich die systematische
Frage: Wer genau lässt denn die Neigungen den Willen bestimmen? Ist es der intelligible Wille als Glied der Verstandeswelt, dann stehen wir vor dem Problem, dass dieser Wille von Kant nur als frei und eo ipso moralisch handelnd gedacht wird. Ist es
aber der Wille als Glied der Sinnenwelt, dann ist dieser Wille unfrei und auch unfrei
in dem Akt, sich bestimmen zu lassen. Wenn wir gleich zu der zentralen Stelle kommen, werden wir sehen, dass Kant aus diesem Dilemma nicht herausfindet.
Dass es sich in der Tat um ein Dilemma handelt, wird auch schon bei der Bösewicht-Stelle im Kontext der Deduktion des KI deutlich. Eine genaue Analyse ist hier
nicht möglich, schon deshalb, weil diese Stelle nicht nur für unsere Thematik von Belang ist, sondern auch für die Frage, wie überhaupt die ganze Deduktion zu verstehen ist. Hier möchte ich nur auf folgende Überlegung Kants aufmerksam machen:
Selbst ein Bösewicht wünsche sich, so Kant, statt seines bösen Willens einen guten.
Einen guten Willen versteht Kant – und mit ihm angeblich der ‹Bösewicht› – aber als
Glied der Verstandeswelt; und dieser gute Wille als intelligibler und damit freier Wille ist ein Wille «der für seinen bösen Willen, als Gliedes der Sinnenwelt, nach seinem eigenen Geständnis das Gesetz ausmacht, dessen Ansehen er kennt, indem er es übertritt. Das moralische Sollen ist also eigenes notwendiges Wollen als Gliedes einer
intelligiblen Welt und wird nur sofern von ihm als ein Sollen gedacht, als er sich zugleich wie ein Glied der Sinnenwelt betrachtet» (455, 4, m. H.). Wieder tut sich das Dilemma und damit die Frage auf: Wie kann der böse Wille als ‹Glied der Sinnenwelt›
frei sein, wenn doch nur, was Glied der Verstandeswelt ist, frei sein kann? Und wenn
die Antwort auf diese Frage darin besteht, dass der intelligible Wille die Neigungen
zulässt, wie ist dieses Zulassen-der-Neigungen zu denken? Damit können wir zu unserer Stelle übergehen, die sich genau mit eben dieser Frage beschäftigt, sie allerdings,
wie wir sehen werden, nicht beantworten kann.
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3. Das Böse als Nachsicht gegenüber Neigungen:
Eine Analyse von GMS 457, 25-458, 5
Der böse Wille des ‹Bösewichts›, so haben wir gesehen, wird von Kant ausdrücklich
als ‹Glied der Sinnenwelt› charakterisiert. Der Parallelbegriff zu diesem Begriff der Sinnenwelt ist der Begriff der Verstandeswelt. Dort, wo Kant diese Begriffe einführt (Sek.
3), meint er damit ohne Zweifel den klassischen Unterschied von Ding an sich (Verstandeswelt) und Erscheinung (Sinnenwelt). In Bezug auf Handlungen spezifiziert
Kant dies als «zwei Standpunkte, daraus es [das vernünftige Wesen] sich selbst betrachten und Gesetze des Gebrauchs seiner Kräfte, folglich aller seiner Handlungen
erkennen kann» (452, 25). Einer dieser Standpunkte, so fährt Kant fort, ist der Standpunkt des vernünftigen Wesens, «sofern es zur Sinnenwelt gehört, unter Naturgesetzen (Heteronomie)» stehend. Der andere Standpunkt ist derjenige der Verstandeswelt:
«Als bloßen Gliedes der Verstandeswelt, würden also alle meine Handlungen dem
Prinzip der Autonomie des reinen Willens vollkommen gemäß sein; als bloßen Stücks
der Sinnenwelt, würden sie gänzlich dem Naturgesetz der Begierden und Neigungen, mithin der Heteronomie der Natur gemäß genommen werden müssen» (453, 27, m. H.).
Schon damit wird deutlich, dass Kant den Begriff der Heteronomie und damit auch
den Begriff des ‹bösen Willens› in einer Weise benutzt, die überhaupt keine andere
Wahl zu lassen scheint, als das Wollen des Bösen als unfreie Handlung zu verstehen;
unfrei, weil durch Naturgesetze determiniert.
Die Stelle, die ich genauer analysieren möchte, befindet sich in der Sek. 5 von GMS
iii, in der Kant noch einmal den Unterschied von Verstandes- und Sinnenwelt thematisiert. Als Glied der «Verstandeswelt» (451, 18) nennt Kant den Menschen «Intelligenz» (457, 9); als Glied der «Sinnenwelt» (451, 18) ist der Mensch «Phänomen» (457, 13).
Als Glied der Verstandeswelt ist der Mensch «Ding oder Wesen an sich selbst» (457, 18)
und «eigentliche[s] Selbst» (461, 4); als Glied der Sinnenwelt ist er nur «Ding in der Erscheinung» (457, 16). Nachdem Kant diesen Grundgedanken auf mehreren Seiten in
Sek. 5 entfaltet hat, schließt er einen Absatz an, der auf die Möglichkeit zum Bösen
eingeht, und den ich jetzt analysieren möchte. In ihm taucht der gleiche Grundgedanke erneut auf, allerdings mit einem deutlichen Bezug zur Möglichkeit des Bösen:
[1] [a] Daher kommt es, dass der Mensch sich eines Willens anmaßt, der nichts auf seine Rechnung kommen läßt, was bloß zu seinen Begierden und Neigungen gehört, und [b] dagegen
Handlungen durch sich als möglich, ja gar als notwendig denkt, die nur mit Hintansetzung aller Begierden und sinnlichen Anreizungen geschehen können. [2] [a] Die Kausalität derselben liegt in ihm als Intelligenz und in den Gesetzen der Wirkungen und Handlungen nach
Prinzipien einer intelligiblen Welt, [b] von der er wohl nichts weiter weiß, als dass darin lediglich die Vernunft und zwar reine, von Sinnlichkeit unabhängige Vernunft das Gesetz gebe,
[c] imgleichen, da er daselbst nur als Intelligenz das eigentliche Selbst (als Mensch hingegen
nur Erscheinung seiner selbst) ist, jene Gesetze ihn unmittelbar und kategorisch angehen, [d]
sodass, wozu Neigungen und Antriebe (mithin die ganze Natur der Sinnenwelt) anreizen, den
Gesetzen seines Wollens als Intelligenz keinen Abbruch tun kann, [e] so gar, dass er die ersteren nicht verantwortet und seinem eigentlichen Selbst, d.i. seinem Willen nicht zuschreibt,
[f] wohl aber die Nachsicht, die er gegen sie tragen möchte, wenn er ihnen, zum Nachteil der
Vernunftgesetze des Willens, Einfluß auf seine Maximen einräumte.
(457, 25)
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kants grundlegung über des bösen willen.
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Dieser Absatz, nur zwei Sätze, mag auf den ersten Blick nicht besonders schwierig
scheinen, und vielleicht ist das der Grund, weshalb es von ihm bisher auch keine genaue Analyse gibt. Auf den zweiten und dritten Blick aber hat dieser Absatz es in sich.
Zergliedern wir den Text, indem wir seine Hauptaussagen identifizieren und dabei
zunächst von den logischen Bezügen abstrahieren, sofern sie begründenden Charakter haben (also vom «Daher» in [1a]], vom «da» in [2c] und «sodass» in [2d]). Im ersten
Satz [1] lautet die erste Aussage:
(1a) Der Mensch maßt sich einen Willen an, der nichts auf seine Rechnung kommen lässt, was
bloß zu seinen Begierden und Neigungen gehört.
Worauf sind ‹der› und ‹seine› bezogen? Die Antwort darauf kann aus grammatischsprachlichen Gründen nur lauten: auf den Willen. Aber worauf ist das zweite Possessivpronomen ‹seinen› bezogen: wieder auf den ‹Willen› oder auf den eingangs genannten ‹Menschen›? Müssen wir also so lesen:
(1a1) Der Mensch maßt sich einen Willen an, der (also dieser Wille) nichts auf seine (also des
Willens) Rechnung kommen lässt, was bloß zu seinen, des Willens, Begierden und Neigungen
gehört.
Oder müssen wir so lesen:
(1a2) Der Mensch maßt sich einen Willen an, der (also dieser Wille) nichts auf seine (also des
Willens) Rechnung kommen lässt, was bloß zu seinen, des Menschen, Begierden und Neigungen gehört.
Zu wem gehören also die ‹Begierden und Neigungen›? Rein grammatisch ist diese
Frage, glaube ich, nicht zu beantworten. Wenn wir uns gleich Satz [2] zuwenden, werden wir sehen, dass, vielleicht entgegen dem ersten Eindruck, nur die zweite Lesart
(1a2) die richtige sein kann. Doch auch unabhängig von [2] wird aufgrund einer einfachen sachlichen Überlegung deutlich, dass diese zweite Lesart zu bevorzugen ist:
Der Wille, den zu besitzen der Mensch sich anmaßt, ist ein Wille, der eine bestimmte Sache nicht ‹auf seine Rechnung kommen lässt›; etwas ‹nicht auf seine Rechnung kommen lassen›, das bedeutet: etwas nicht verantworten, nicht verantwortlich sein für etwas, nicht dafür zur Verantwortung gezogen werden können. Da es aber nun
offenkundig keinen rechten Sinn ergäbe, wenn der Wille etwas nicht verantwortete,
das zu ihm gehörte (also eben die ‹Begierden und Neigungen›), kann nur Lesart (1a2)
die richtige sein. Damit erhalten wir als rekonstruierte Aussage von (1a):
(1a)* Der Mensch maßt sich einen Willen an, der die Begierden und Neigungen, die zum Menschen gehören, nicht verantwortet.
Schon dass der Mensch sich einen Willen ‹anmaßt›, zeigt, dass es nur um den Willen
als Glied der Verstandeswelt gehen kann. Manchmal spricht Kant sogar so, dass der
Ausdruck «Wille» für die Verstandeswelt reserviert ist, z. B. am Anfang von Sek. 4:
«Das vernünftige Wesen zählt sich als Intelligenz zur Verstandeswelt, und bloß als eine zu dieser gehörige wirkende Ursache nennt es seine Kausalität einen Willen» (453,
17); daher spricht Kant kurz vor unserem Absatz auch nicht einfach nur von einer ‹Intelligenz›, sondern von einer «Intelligenz mit einem Willen, folglich mit Kausalität begabt» (457, 11, m.H.).
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Ich komme bei Satz [2] noch einmal darauf zurück, was die Rede von der ‹Verantwortung› in (1a)* eigentlich bedeutet. Betrachten wir jetzt (1b). Problematisch ist hier
vor allem der Bezug des Reflexivpronomens ‹sich› in der Formulierung ‹… und dagegen Handlungen durch sich als möglich, ja gar als notwendig denkt …›. Vor dem
Hintergrund von (1a) würde man erwarten, dass durch den Willen, zu dem die Begierden und Neigungen ja gerade nicht gehören, auch die Handlungen möglich und
notwendig sind, ‹die nur mit Hintansetzung aller Begierden und sinnlichen Anreizungen geschehen können›; nennen wir solche Handlungen kurz ‹moralische› Handlungen – in [2f] nennt Kant sie auch «Vernunftgesetze des Willens» (458, 4) –. Dann
müsste aber konsequenterweise nicht «der Mensch» (457, 25), sondern das «der» (ebd.)
auch grammatisch als dasjenige Subjekt begriffen werden, das ‹denkt›. Die Aussage
wäre demnach:
(1b1) Der Wille denkt Handlungen durch sich als möglich, ja gar als notwendig, die nur mit
Hintansetzung aller Begierden und sinnlichen Anreizungen geschehen können.
Doch abgesehen davon, dass es etwas eigenartig wäre, dass der Wille sich etwas sound-so ‹denkt›, scheint es sprachlich natürlicher, den ‹Menschen› vom Beginn des Satzes als dasjenige auch grammatische Subjekt zu begreifen, das sich etwas so-und-so
‹denkt›; aufgrund der Konjunktion «und» (457, 27) vor [1b] ist dies vielleicht sogar
sprachlich zwingend. Das ergäbe dann folgende Lesart:
(1b2) Der Mensch denkt Handlungen durch sich als möglich, ja gar als notwendig, die nur mit
Hintansetzung aller Begierden und sinnlichen Anreizungen geschehen können.
Demnach ist es zwar der Wille, durch den moralische Handlungen möglich werden.
Aber der Mensch maßt sich einen solchen Willen an, und daher ‹denkt› er auch moralische Handlungen ‹durch sich› als möglich; der Wille gehört demnach zum Menschen, und insofern denkt der Mensch moralische Handlungen als ‹durch sich› möglich. In diesem ersten Satz unterscheidet Kant also den von Begierden und Neigungen
freien Willen vom Menschen und ‹seinen (also des Menschen) Begierden und Neigungen›; andererseits identifiziert er geradezu den Menschen mit diesem Willen. Damit erhalten wir als rekonstruierte Aussage:
(1b)* Der Mensch denkt moralische Handlungen durch sich als möglich und notwendig.
Insgesamt ergibt dies folgende Rekonstruktion des ersten Satzes:
(1)* Der Mensch maßt sich einen Willen an, der die Begierden und Neigungen, die zum Menschen gehören, nicht verantwortet, und er (der Mensch) denkt durch diesen Willen moralische Handlungen als durch sich möglich und notwendig.
Ergänzend sei noch gesagt, dass das «dagegen» (457, 25) der Gegenüberstellung derjenigen Handlungen, die auf der Grundlage von ‹Begierden und Neigungen› erfolgen,
und den moralischen Handlungen dient (also den Handlungen, die eben, nur mit
Hintansetzung aller Begierden und sinnlichen Anreizungen geschehen können›).
Aber wer oder was leistet diese ‹Hintansetzung› der Neigungen?
Auf diese entscheidende Frage komme ich gleich zurück. Betrachten wir jetzt zunächst Satz [2]. Rekonstruieren wir zunächst wieder die Aussagen als solche. Das
«derselben» (457, 29) bezieht sich zurück auf die «Handlungen» (457, 27) in (1b), die wir
als moralische Handlungen identifiziert haben; das «ihm» (457, 30) ebenso wie das »er»
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kants grundlegung über des bösen willen.
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(457, 31) kann sich aufgrund des Kontextes nur auf den ‹Menschen› aus (1a) beziehen.
Ersetzen wir noch den Ausdruck der ‹intelligiblen Welt› mit dem von Kant häufiger
gebrauchten Ausdruck der ‹Verstandeswelt›, so erhalten wir zunächst:
(2a) Die Kausalität der moralischen Handlungen liegt im Menschen als Intelligenz und in den
Gesetzen der Wirkungen und Handlungen nach Prinzipien der Verstandeswelt.
Das passt zu dem, was bisher gesagt wurde: Durch den Willen denkt sich der Mensch
als Intelligenz zugehörig zur Verstandeswelt.
Auch der nächste Satz bereitet zumindest grammatisch keine Schwierigkeiten.
Vereinfachen können wir ihn außerdem dadurch, dass wir von einem für die Sek. 5.
wichtigen Thema – der Begrenztheit unseres Wissens von der Verstandeswelt – abstrahieren, weil es für die Frage nach der Möglichkeit des Bösen keine Rolle spielt. Wir
abstrahieren also von der Wendung «von der er wohl nichts weiter weiß» (457, 31) und
erhalten so:
(2b) In der Verstandeswelt gibt lediglich die reine, von Sinnlichkeit unabhängige Vernunft das
Gesetz.
(Ich komme weiter unten darauf zurück, worin diese ‹Unabhängigkeit› der Vernunft
besteht.) Der nächste Teilsatz [2c] fährt fort mit einem ‹imgleichen›, was soviel bedeutet wie ‹ebenso›. Es ist unklar, worauf genau sich das bezieht: darauf, dass ‹jene
Gesetze ihn unmittelbar und kategorisch angehen›? Oder darauf, dass der Mensch
weiß, dass jene Gesetze ihn unmittelbar und kategorisch angehen? Sachlich ist dies
aber nicht entscheidend, und da wir schon bei (2b) vom Aspekt des Wissens abstrahiert haben, wollen wir dies auch hier tun. Es geht also darum, dass ‹jene Gesetze ihn
unmittelbar und kategorisch angehen›. Mit ‹jenen Gesetzen› können grammatisch
nur die ‹Gesetze› aus (2a) gemeint sein; in (2b) ist zwar im Singular von ‹Gesetz› die
Rede, aber gemeint ist in beiden Fällen das gleiche, nämlich das moralische Gesetz
(oder eben die moralischen Gesetze). Eine Teilaussage von (2c) lautet also:
(2ci) Die moralischen Gesetze gehen den Menschen unmittelbar und kategorisch an.
In (2c) wird aber zugleich die Begründung geliefert, warum das so ist (‹da›, 457, 33).
Dabei bezieht sich das ‹daselbst› (457, 34) ebenso wie das vorangegangene ‹darin› (457,
32) auf die Verstandeswelt. Abstrahiert man zunächst wieder von der Begründungsbeziehung, so lautet die Aussage:
(2cii) In der Verstandeswelt ist der Mensch nur als Intelligenz das eigentliche Selbst.
In (2c) wird in Klammern aber auch noch ergänzt: «[…] (als Mensch hingegen nur Erscheinung seiner selbst)». Zunächst müssen wir zwei Deutungen dieses Satzes ausschließen, die eine klarerweise, die andere etwas weniger klar. Klar ausschließen kann
man die vermeintlich elliptische Aussage, dass der Mensch ‹daselbst›, also in der Verstandeswelt Erscheinung seiner selbst ist; denn die Verstandeswelt ist ja gerade definiert als die Welt der Dinge an sich, als die Welt, sofern die Dinge nicht als Erscheinungen in Erwägung gezogen werden. Eine zweite falsche Deutung können wir nur
in Abgrenzung zur richtigen ausschließen. Der Gegenbegriff zum Begriff der Verstandeswelt ist der Begriff der Sinnenwelt; dieser taucht zwar erst in [2d] auf, muss
aber hier [2c] schon mitgedacht werden. Die Aussage lautet demnach, dass der
Mensch in der Sinnenwelt nur Erscheinung seiner selbst ist. Aber was bedeutet ‹sei-
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ner selbst›? Klarerweise kann die Aussage nicht sein, dass der Mensch in der Sinnenwelt nur Erscheinung seiner selbst als Mensch ist. Vielmehr lautet die Aussage, dass
der Mensch auch, wie es im Absatz vorher heißt, ein «Phänomen in der Sinnenwelt»
(457, 13) ist, und dies im Unterschied zu dem ‹eigentlichen Selbst›, das er als Intelligenz
mit einem Willen, also als Glied der Verstandeswelt ist. Was als Mensch erscheint, ist
das menschliche Wesen als Intelligenz; die Aussage lautet also:
(2ciii) In der Sinnenwelt ist der Mensch nur Erscheinung seiner selbst (d.h. seiner) als Intelligenz.
Dennoch ist auszuschließen – und das wäre die besagte zweite falsche Deutung –,
dass «Mensch» ein Ausdruck ist, der sich allein auf das erscheinende Selbst bezöge, so
dass das eigentliche Selbst «Intelligenz», das erscheinende Selbst »Mensch» hieße.
Auch im Fortgang des Satzes wollen wir den Aspekt der logischen Folgerung zunächst ignorieren. In [2d] stecken wieder mehrere Aussagen. Zunächst identifiziert
Kant hier, wie schon mehrmals vorher in der GMS,1 die schon in [2a] erwähnten ‹Neigungen› mit der Sinnenwelt; er identifiziert sie damit in dem Sinne, dass solche Neigungen zur Sinnenwelt gehören, aber nicht zur Verstandeswelt. Das passt genau zu
der zentralen Stelle in Sek. 4, wo Kant «Begierden und Neigungen, als zur Sinnenwelt
gehörig» beschreibt (453, 24), und zwar in Abgrenzung zur Verstandeswelt, so dass Begierden und Neigungen ausschließlich zur Sinnenwelt gehören. Halten wir das fest:
(2di) Begierden und Neigungen gehören nur zur Sinnenwelt.
Von diesen Begierden und Neigungen heißt es dann in (2d) weiter, dass sie den Gesetzen seines Willens keinen Abbruch tun. Da das Possessivpronomen «seines» (457,
37) wie auch schon die vorherigen diversen Pronomina nur auf den ‹Menschen› bezogen sein können, lautet die Aussage also:
(2dii) Begierden und Neigungen tun den Gesetzen des Wollens des Menschen als Intelligenz
keinen Abbruch.
Semantisch bedeutet ‹keinen Abbruch tun› zunächst: nicht schädigen, nicht beeinträchtigen. Aber was soll es bedeuten, dass die Begierden und Neigungen die Gesetze des Wollens des Menschen als Intelligenz nicht beeinträchtigen bzw. nicht schädigen? Mit diesen Gesetzen, die Kant kurz danach in [2f] auch «Vernunftgesetze des
Willens» (458, 4) nennt, sind ohne Zweifel wieder die moralischen Gesetze gemeint.
Fragen wir also noch einmal: Was bedeutet es, dass die Begierden und Neigungen die
moralischen Gesetze nicht beeinträchtigen bzw. schädigen? Ich sehe zunächst zwei
mögliche Lesarten: Erstens könnte Kant mit dieser Formulierung nur den apriorischkategorischen Grundgedanken seiner radikal anti-subjektivistischen Ethik zum Ausdruck bringen: Moralische Gesetze gelten völlig unabhängig von Begierden, Neigungen und Antrieben (sagen wir hier und im Folgenden kurz: Neigungen). Stimmt
das, dann lautet die Aussage (2dii):
(2dii)* Moralische Gesetze als Gesetze des Wollens des Menschen als Intelligenz gelten völlig
unabhängig von Neigungen.
1 Vgl. 453, 24; 453, 28; 454, 27-455, 7.
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kants grundlegung über des bösen willen.
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Diese, sagen wir: einfache Lesart wird auch dadurch bestätigt, dass im nächsten Gedanken noch eine Steigerung des Gedankens präsentiert wird; [2e] beginnt ja mit »sogar» (458, 1). Auf die zweite Lesart von (2dii) komme ich zurück; schauen wir zunächst
auf [2e]. Dabei fällt auf, dass Vorländer in seiner Ausgabe das «erstere» aus [2e] (457,
1) zu ‹ersteren› korrigiert. Offenkundig will er durch diesen Plural den Bezug zu den
vorher erwähnten ‹Neigungen und Antrieben› herstellen; belässt man es bei dem Singular, kann ‹erstere› sich nur auf die ‹Sinnenwelt› beziehen. Die Variante der Originalausgaben ist nicht überzeugend, zumal etwas später wieder ein Plural gebraucht
wird («ihnen», 458, 3), so dass die Vorländersche Variante zwingend scheint; ich folge
also der Rekonstruktion Vorländers. Das eigentliche Problem in [2e] besteht jedoch
im Bezug des neuerlichen Pronomens «er» (458, 1): Man hat nämlich, so scheint es,
keine andere Wahl, als es wieder auf den ‹Menschen› zu beziehen, so dass der erste
Teil der Aussage [2e] lautet:
(2ei) Der Mensch verantwortet nicht die Neigungen.
Natürlich erinnert dieser Satz direkt an [1a], den wir so rekonstruiert haben: Der
Mensch maßt sich einen Willen an, der die Begierden und Neigungen, die zum Menschen gehören, nicht verantwortet ((1a)*). Wenn aber demnach die Neigungen zum
Menschen gehören, wie kann Kant dann behaupten, dass der Mensch die Neigungen
nicht verantwortet? Wenn sie zu ihm, dem Menschen, gehören, dann verantwortet
er sie auch. Um diesen Widerspruch zu vermeiden, müssen wir also ergänzend lesen:
(2ei)* Der Mensch als Intelligenz verantwortet nicht die Neigungen.
Und in der Tat ist diese Aussage identisch mit der Aussage in [1a]: Der intelligible Wille (der Wille als Glied der Verstandeswelt) ist nicht verantwortlich für die Neigungen;
und diese Aussage [1a] wiederum deckt sich genau mit dem, was auch im zweiten Teil
von [2e] ausgesagt wird:
(2eii) Der Mensch als Intelligenz schreibt die Neigungen seinem eigentlichen Selbst, d.i. seinem Willen, nicht zu.
Damit haben wir insgesamt drei Formulierungen, die, so meine ich, alle den gleichen
Gedanken zum Ausdruck bringen und den wir jetzt zusammenfassend deuten können. Der intelligible Wille lässt die Neigungen nicht auf seine Rechnung kommen [1a];
der Wille verantwortet nicht die Neigungen [2e]; dem Willen werden die Neigungen
nicht zugeschrieben [2e]. Neigungen, so sagte Kant schon in Sek. 4, sind «Erscheinungen» (453, 24), also nur «zur Sinnenwelt gehörig» (453, 24). Da der intelligible Wille
aber zur Verstandeswelt gehört, und nur zu dieser, gehören er und die Neigungen
zwei verschiedenen Welten an: Die Neigungen gehören zur Sinnenwelt, sie gehören
also nicht zum intelligiblen Willen. Der intelligible Wille als solcher hat keine Neigungen, und er will auch nichts, wozu Neigungen ihn pflichtwidrig antreiben. Bestätigt wird dies auch dadurch, dass laut (2b) ‹in der Verstandeswelt lediglich die reine,
von Sinnlichkeit unabhängige Vernunft das Gesetz gibt›. Diese ‹reine, von Sinnlichkeit unabhängige Vernunft› ist die praktische Vernunft, die in ihrer Gesetzgebung von
allen Neigungen abstrahiert; allerdings ist diese ‹Unabhängigkeit› der reinen praktischen Vernunft sowohl im Sinne eines principium diiudicationis wie auch eines principium executiponis zu verstehen.
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Vor diesem Hintergrund lässt sich dann aber auch (2dii) anders lesen. Wir hatten
gefragt, was es eigentlich bedeutet, dass Begierden und Neigungen den Gesetzen des
Wollens des Menschen als Intelligenz keinen Abbruch tun, sie also nicht beeinträchtigen oder beschädigen. In der ersten Lesart sagt Kant damit aus, dass moralische Gesetze als Gesetze des Wollens des Menschen als Intelligenz völlig unabhängig von
Neigungen gelten (2dii)*. Aber vielleicht soll damit zum Ausdruck gebracht werden,
dass das Wollen dieser Gesetze, dass also das moralische Wollen des Willens als Glied
der Verstandeswelt durch diese Neigungen nicht beeinträchtigt wird; und das scheint
sehr gut zu [2e] zu passen. Die zweite, etwas raffiniertere Lesart von [2d] lautet also:
(2dii)** Begierden und Neigungen beeinträchtigen nicht das Wollen des Menschen als Intelligenz.
Schön und gut, möchte man sagen. Aber wenn das stimmt, wenn also die moralischen Gesetze und (bzw. oder) deren Wollen nicht durch die Neigungen beeinträchtigt wird; und wenn außerdem stimmt, dass der Mensch als Intelligenz die Neigungen nicht verantwortet und sie seinem eigentlichen Selbst nicht zuschreibt – wer ist
denn dann verantwortlich für die Handlungen, die sich aus diesen Neigungen ergeben und die pflichtwidrig sein können und es auch oft genug sind; wer ist verantwortlich für die bösen Handlungen? Erst jetzt, mit dem Schlussteil des ganzen Absatzes [2f], kommt die Passage, die dieses Problem der Möglichkeit des Bösen
aufwirft. Doch tut sie dies immerhin in aller Schärfe. Vorher wurde gesagt, dass der
Mensch als Intelligenz nicht die Neigungen «verantwortet» (457, 1), und dass der
Mensch die Neigungen seinem eigentlichen Selbst, d.i. seinem Willen, nicht «zuschreibt» (457, 2). Daran schließt sich durch ein «wohl aber» (457, 3) der Teilsatz [2f] an.
Wir haben oben schon darauf hingewiesen, dass die Neigungen als Material eine
Quelle des Bösen ausmachen; und dass als zweite Quelle noch das akzeptierende Verhalten zu diesen Neigungen hinzutreten muss, also eben die «Nachsicht» (458, 3), die
darin besteht, den Neigungen ‹Einfluss auf seine Maximen einzuräumen›. Die entscheidende Frage lautet: Wer trägt diese ‹Nachsicht› gegenüber den Neigungen, wer
hat den ‹Einfluss› dieser Neigungen auf die Maximenbildung zu verantworten? Es bereitet große Mühe, diese Frage zu beantworten. Und das liegt daran, dass Kant selbst
große Mühe hat, diese Frage zu beantworten.
Bevor wir uns nun [2f] zuwenden, wollen wir noch kurz die gesamte Passage in der
rekonstruierten, aber nun sprachlich als Einheit formulierten Fassung wiedergeben.
Die bisher ausgelassenen logischen Beziehungen der Aussagen untereinander, sofern
sie begründend sind, gebe ich dabei interpretiert in eckigen Klammern wieder:
(1a) «Daher» [d.h. weil der Mensch – wie im Absatz vorher ausgeführt – zwischen sich als Ding
an sich und als Erscheinung unterscheidet] maßt der Mensch sich einen Willen an, der die Begierden und Neigungen, die zum Menschen gehören, nicht verantwortet, und er (der Mensch)
denkt durch diesen Willen moralische Handlungen als durch sich möglich und notwendig.
(1b) Die Kausalität dieser moralischen Handlungen liegt im Menschen als Intelligenz und in
den Gesetzen der Wirkungen und Handlungen nach Prinzipien der Verstandeswelt. (2b) In der
Verstandeswelt gibt lediglich die reine, von Sinnlichkeit unabhängige Vernunft das Gesetz.
(2ci) Die moralischen Gesetze gehen den Menschen unmittelbar und kategorisch an, [«da», also weil] (2cii) der Mensch in der Verstandeswelt nur als Intelligenz das eigentliche Selbst ist
(2ciii), in der Sinnenwelt hingegen ist der Mensch nur Erscheinung seiner selbst (d.h. seiner)
als Intelligenz. (2di) Begierden und Neigungen gehören nur zur Sinnenwelt. (2dii)** [«sodass»,
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kants grundlegung über des bösen willen.
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d.h. weil die moralischen Gesetze den Menschen unmittelbar und kategorisch angehen, gilt:]
Begierden und Neigungen beeinträchtigen nicht das Wollen des Menschen als Intelligenz.
(2ei)* Der Mensch als Intelligenz verantwortet nicht die Neigungen. (2eii) Der Mensch als
Intelligenz schreibt die Neigungen seinem eigentlichen Selbst, d.i. seinem Willen, nicht zu.
Nun aber zu [2f]. Zunächst: Greift das ‹wohl aber› in [2f] das ‹verantwortet› auf oder
das ‹zuschreibt›? Wird also die ‹Nachsicht› (458, 3) ‹verantwortet› oder ‹zugeschrieben›? Diese Frage lässt sich nicht klar beantworten. Man könne meinen, dass dies kein
Problem sei, weil derjenige oder dasjenige, der oder das etwas verantwortet, zugleich
derjenige oder dasjenige ist, der oder dem etwas zugeschrieben wird und umgekehrt.
Aber so einfach ist es nicht: Wird nämlich die besagte Nachsicht ‹zugeschrieben›,
dann muss, da in [2e] das ‹zuschreibt› sich auf den Willen bezog, aus Gründen der Parallelität die Nachsicht wohl dem Willen zugeschrieben werden;1 wird dagegen die
Nachsicht ‹verantwortet›, dann ist es – parallel zum Menschen, der laut [2e] ‹die ersteren (scil. Neigungen und Antriebe) nicht verantwortet› – der Mensch, der die besagte Nachsicht ‹verantwortet›. Aber, und damit sind wir bei der zweiten Frage: Ist
der ‹Mensch› das Subjekt des Satzes oder der ‹Mensch als Intelligenz›? Ist es also der
Mensch, der etwas ‹verantwortet› bzw. zuschreibt, oder der ‹Mensch als Intelligenz›?
Diese Frage hängt direkt mit einer weiteren Frage zusammen und kann ohne diese
nicht beantwortet werden. Diese dritte Frage ist die entscheidende: Worauf bezieht
sich das in 458, 3 zweimal gebraucht Pronomen «er»? Auf den Menschen, oder den
Menschen als eigentliches Selbst, d. h. auf den Willen?
Dass dies alles andere als klar ist, beweist auch ein Blick auf die englischen Übersetzungen. So
übersetzt Mary Gregor [2e-f] folgendermaßen: «indeed, he does not hold himself accountable
for the former or ascribe them to his proper self, that is, to his will, though he does ascribe to
it the indulgence he would show them if he allowed them to influence his maxims to the detriment of the rational laws of his will.» Danach wäre es ‹er›, der Mensch (‹he›), der dem Willen (‹his will›) die Nachsicht zuschreibt (‹ascribe›), die ‹er›, der Mensch (‹he›), gegen die Neigungen tragen möchte, wenn ‹er›, der Mensch (‹he›), ihnen Einfluss auf seine Maximen
einräumte. Aber das ist widersprüchlich: Man kann nicht dem Willen die ‹Nachsicht› zuschreiben, dann aber dem Menschen das ‹Einräumen des Einflusses›, denn in diesem ‹Einräumen› besteht ja gerade jene ‹Nachsicht›. In der neuen, von Jens Timmermann überarbeiteten
Ausgabe der Gregor-Übersetzung scheint mir das besser übertragen zu sein: «[…]; even to the
extent that he does not answer for the former or attribute them to his actual self, i.e. to his
will, as opposed to the lenience he would show them if he conceded to them influence on his
maxims to the disadvantage of the rational laws of his will» (Mary Gregor, Jens Timmermann, Groundwork of the Metaphysics of Morals. A German-English Edition, ed. and transl. by M.
Gregor, J. Timmermann, Cambridge, Cambridge University Press 2011). Ähnlich wie Gregor
übersetzt auch Lewis W. Beck, Immanuel Kant. Foundations of the Metaphysics of Moral and
What is Enlightenment? Transl., with an Introduction, by L. W. Beck, Indianapolis, The BobbsMerrill Company, Inc., 1959: «He does not even hold himself responsible for these inclinations
and impulses or attribute them to his proper self, i.e., his will, though he does ascribe to his
will the indulgence which he may grant to them when he permits them an influence on his maxims to the detriment of the rational laws of his will» (m. H.). Allen W. Wood, Immanuel
Kant: ‚Groundwork of the Metaphysics of Morals, ed. and transl. by A. W. Wood, New Haven-Lon1 Allerdings müsste dann das erste ‹er› in 458, 3 (‹… die er gegen sie tragen möchte … ›) durch das Demonstrativpronomen ‹dieser› ersetzt werden.
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don, Yale University Press, 2002 stellt die beiden möglichen Lesarten nebeneinander: «[…] his
will, although he does ascribe to it the indulgence that it would like to bear toward them, if,
to the disadvantage of the rational laws of the will, he were to concede them influence on its
maxims.» Und «[…] his will, though he does ascribe to himself the indulgence he would like
to bear toward them if, to the disadvantage of the rational laws of the will, he were to concede them influence on his maxims.»
Erwägen wir nun die Interpretationsmöglichkeiten von (2f ). Dabei steht das Problem, so meine ich, klar vor Augen. Der Mensch, so sagt Kant zu Beginn unseres Absatzes, maßt sich einen Willen an, der die Begierden und Neigungen, die zum Menschen gehören, nicht verantwortet, und er denkt dadurch (durch diesen Willen)
moralische Handlungen als durch sich möglich und notwendig. Die Kausalität dieser
moralischen Handlungen liege im Menschen als Intelligenz und in den moralischen
Gesetzen der Verstandeswelt. Nur in dieser Verstandeswelt sei der Mensch als Intelligenz das eigentliche Selbst; in der Sinnenwelt sei der Mensch dagegen nur Erscheinung seiner selbst, d.h. seiner als Intelligenz. Die Begierden und Neigungen gehören
nur zur Sinnenwelt und sie tun, so Kant in [2d], den Gesetzen des Wollens des Menschen als Intelligenz keinen Abbruch. Was das genau heißt, ist nicht klar; in einer Lesart bedeutet es, das die Begierden und Neigungen das Wollen des Menschen als Intelligenz nicht beeinträchtigen, und das scheint auch zum Gesamttenor der Passage
wie überhaupt von GMS iii gut zu passen. Aber wie sollen wir dann die zentrale Frage beantworten, wer die ‹Nachsicht› gegenüber den Neigungen trägt, und wer den
Einfluss dieser Neigungen auf die Maximenbildung zu verantworten hat? Es scheint
zunächst nur zwei Möglichkeiten zu geben: Erstens, der sinnliche Wille als Glied der
Sinnenwelt trägt die Nachsicht und daher die moralische Verantwortung; zweitens,
der intelligible Wille trägt diese Nachsicht. Betrachten wir dies im Detail.
Ad 1) Der sinnliche Wille als Glied der Sinnenwelt trägt die Nachsicht und daher die moralische Verantwortung.
In dieser Lesart muss [2f] folgendermaßen rekonstruiert werden:
(2fia) Der Mensch schreibt dem sinnlichen Willen die Nachsicht zu, die er (der sinnliche Wille) gegen die Neigungen tragen möchte, wenn er (der sinnliche Wille) ihnen (den Neigungen),
zum Nachteil der moralischen Gesetze, Einfluss auf seine (des sinnlichen Willens) Maximen
einräumte.
oder:
(2fib) Der Mensch schreibt dem sinnlichen Willen die Nachsicht zu, die er (der sinnliche Wille)
gegen die Neigungen tragen möchte, wenn er (der sinnliche Wille) ihnen (den Neigungen),
zum Nachteil der moralischen Gesetze, Einfluss auf seine (des Menschen) Maximen einräumte.
Doch diese Lesart scheint von vorneherein überhaupt keinen Sinn zu ergeben, weil
der sinnliche Wille als Glied der Sinnenwelt den Naturgesetzen unterliegt und daher
negativ wie positiv unfrei ist. Der sinnliche Wille ist das Zentrum der Volitionen, die
von Neigungen bestimmt sind; von ihm geht das Material des Bösen aus. Will man
das Verhalten zu diesem Material – also die ‹Nachsicht›, die gegenüber den Neigungen ausgeübt wird – als Akt der Freiheit verstehen, kann diese Nachsicht nicht vom
sinnlichen Willen ausgehen, weil dieser per definitionem unfrei ist.
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kants grundlegung über des bösen willen.
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Ad 2) Der intelligible Wille trägt die Nachsicht
In dieser Lesart muss [2f] folgendermaßen rekonstruiert werden:
(2fiia) Der Mensch schreibt dem intelligiblen Willen die Nachsicht zu, die er (dieser intelligible
Wille) gegen die Neigungen tragen möchte, wenn er (dieser intelligible Wille) ihnen (den Neigungen), zum Nachteil der moralischen Gesetze, Einfluss auf seine (des intelligiblen Willen)
Maximen einräumte.
oder:
(2fiib) Der Mensch schreibt dem intelligiblen Willen die Nachsicht zu, die er (dieser intelligible
Wille) gegen die Neigungen tragen möchte, wenn er (dieser intelligible Wille) ihnen (den Neigungen), zum Nachteil der moralischen Gesetze, Einfluss auf seine (des Menschen) Maximen
einräumte.
Prima facie scheint nur diese Lesart überhaupt Aussicht auf Erfolg haben zu können;
denn wenn man böse Handlungen als freie Handlungen verstehen will, dann muss ihre Quelle in der Verstandeswelt lokalisiert werden, in der allein es Freiheit gibt. Doch
widerspricht diese Lesart (in beiden Varianten) nicht nur allem, was Kant in diesem
Absatz über das Verhältnis dieses Willens zu den Neigungen sagt; Kant sagt ja in [1a]
ausdrücklich, dass der intelligible Wille die Begierden und Neigungen nicht verantwortet. Eine solche Interpretation widerspräche auch zahlreichen anderen Stellen aus
GMS iii, in denen Kant diesen Willen thematisiert. Erinnern wir uns an den oben
schon skizzierten «Bösewicht» (454, 21) aus der Sek. 4. Von ihm sagt Kant, dass er sich
«mit einem Willen, der von Antrieben der Sinnlichkeit frei ist, […] in Gedanken in eine
ganz andere Ordnung der Dinge versetz[t], als die seiner Begierden im Felde der Sinnlichkeit» (454, 30, m. H.). Der Bösewicht sei sich, so Kant, «eines guten Willens bewusst
[…], der für seinen bösen Willen, als Gliedes der Sinnenwelt, nach seinem eigenen
Geständnis das Gesetz ausmacht» (455, 4). Und weiter: «Das moralische Sollen ist also
eigenes notwendiges Wollen als Gliedes einer intelligiblen Welt und wird nur sofern
von ihm als ein Sollen gedacht, als er sich zugleich wie ein Glied der Sinnenwelt betrachtet» (455, 7). Der intelligible Wille selbst kann also jene Nachsicht nicht tragen;
denn dieser Wille als Glied der intelligiblen Welt und eigentliches Selbst will ja das
Gute, es ist ja sein Gesetz, sein ‹eigenes notwendiges Wollen als Gliedes einer intelligiblen Welt› – wieso sollte er als solcher Nachsicht gegenüber den Neigungen zeigen?
Man könnte erwidern, dass Kant sehr wohl noch weiß, was er in [1a] oder auch in
[2b] und [2f] über die Unabhängigkeit der Vernunft und des Willens von Neigungen
gesagt hat; und dass er gerade deshalb in [2f] ja auch mit einem ‹wohl aber› beginnt:
Dem intelligiblen Willen können zwar nicht die Neigungen zugeschrieben werden,
d.h. der intelligible Wille will nichts, was im Streben der Neigungen liegt, ‹wohl aber›
kann ihm die ‹Nachsicht› zugeschrieben werden. Doch wie müssen wir uns diesen
Akt der Nachsicht denken? Wer genau vollzieht ihn? Darauf gibt Kant überhaupt keine Antwort, und vor dem Hintergrund seiner Analytizitätsthese ist auch nicht zu erkennen, wie die Antwort ausfallen könnte. Zwar könnte man argumentieren, dass
der negative Aspekt der Freiheit in einem Akt der Nachsicht insofern erhalten bleibt,
als die Neigungen selbst nicht zum intelligiblen Willen gehören, und die grundsätzliche Unabhängigkeit von solchen Neigungen dadurch unbeschadet bleibt, dass
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dieter schönecker
Nachsicht geübt wird. Doch spätestens beim positiven Aspekt der Freiheit bräche
(2fiia) zusammen: Denn Freiheit ist ja nicht gesetzlos, sondern eine «Kausalität nach
unwandelbaren Gesetzen» (446, 20); Freiheit ist für Kant auf keinen Fall einfach nur
unbestimmte, zufällige Wahlfreiheit. Aber was wäre dann das Gesetz, auf dessen
Grundlage die Nachsicht ausgeübt würde?
Eine dritte Interpretationsmöglichkeit besteht darin, dass der Mensch die Nachsicht trägt und daher auch die moralische Verantwortung:
(2fiii) Der Mensch schreibt sich die Nachsicht zu, die er gegen die Neigungen tragen möchte,
wenn er ihnen (den Neigungen), zum Nachteil der moralischen Gesetze, Einfluss auf seine
Maximen einräumte.
Das scheint mir, unter einer Voraussetzung, sachlich zunächst die beste Interpretation von (2f ) zu sein, auch wenn sie sprachlich das «wohl aber» zu Beginn von [2f] nicht
erklären kann. Fragt man nämlich, worauf das «seine» (458, 4) sich bezieht, dann fragt
man, wessen Maximen dem besagten Einfluss der Neigungen unterliegen: Ist von den
Maximen des Menschen die Rede oder von den Maximen des Willens? Nun können
zwar Maximen mit dem moralischen Gesetz übereinstimmen, so dass ein objektives
Prinzip (das moralische Gesetz) zugleich ein subjektives Prinzip sein kann. Aber – und
das wäre jene Voraussetzung – man könnte vielleicht argumentieren, dass der intelligible Wille als solcher keine Maximen hat, sondern nur Gesetze; erst recht, so könnte man nach dem eben Gesagten feststellen, hat er keine Maximen, die irgendwie
durch Neigungen beeinflusst wären. Solche Maximen hat nur der Mensch als Glied der
Verstandes- und der Sinnenwelt. Nun spricht Kant ja auch wiederholt davon, dass der
Mensch Glied der Verstandeswelt und der Sinnenwelt ist. Aber wir erfahren in der
GMS nichts, und zwar überhaupt nichts, dazu, wie genau dieses Verhältnis zu denken
ist, wenn es um die Möglichkeit des Bösen geht. Es soll zwar der entscheidende Gedanke darin bestehen, «dass wir den Menschen in einem anderen Sinne und Verhältnisse denken, wenn wir ihn frei nennen, als wenn wir ihn, als Stück der Natur, dieser
ihren Gesetzen für unterworfen halten, und dass beide nicht allein gar wohl beisammen bestehen können, sondern auch als notwendig vereinigt in demselben Subjekt
gedacht werden müssen» (456, 18). Aber Kant sagt fast nichts dazu, wie genau wir uns
diese ‹Vereinigung› denken sollen.1
Wie oben schon bemerkt, findet man, wenn ich recht sehe, zumindest in den einschlägigen
Kommentaren zur GMS zu unserer Stelle fast gar nichts: So wird sie von (bzw. in) Christoph
Horn, Corinna Mieth, Nico Scarano, Kommentar zu: Immanuel Kant. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Frankfurt/M., Suhrkamp, 2007, S. 105-313), Christoph Horn, Dieter
Schönecker (Hgg.), Groundwork for the Metaphysics of Morals, Berlin, de Gruyter, 2006; William David Ross, Kant’s Ethical Theory. A Commentary on the ‚Grundlegung zur Metaphysik der
Sitten‘, Oxford, Clarendon Press, 1954, Klaus Steigleder, Kants Moralphilosophie. Die Selbstbezüglichkeit reiner praktischer Vernunft, Stuttgart-Weimar, Metzler, 2002, Sally Sedgwick,
Kant's Groundwork of Metaphysics of Morals. An Introduction. Cambridge, Cambridge University Press, 2008, Robert P. Wolff, The Autonomy of Reason. A Commentary on Kant’s ‘Groundwork of the Metaphysic of Morals’, New York, Harper & Row, 1973) gar nicht kommentiert und
1 Eine Analyse des für diese Thematik ebenfalls maßgeblichen § 3 der Tugendlehre würde zeigen, dass das
Problem der GMS auch in diesem Spätwerk noch virulent ist. Für eine genaue Analyse vgl. D. Schönecker,
Kant über die Möglichkeit von Pflichten gegen sich selbst (Tugendlehre §§ 1-3), in Kant als Bezugspunkt philosophischen
Denkens, hrsg. von H. Busche, A. Schmitt, Würzburg, Königshausen & Neumann, 2010, S. 235-260.
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kants grundlegung über des bösen willen.
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von Herbert James Paton, Der kategorische Imperativ. Eine Untersuchung über Kants Moralphilosophie, Berlin, de Gruyter, 1962, und Jens Timmerman, Kant’s Groundwork of the Metaphysics
of Morals. A Commentary, Cambridge, Cambridge University Press, 2007 so gut wie gar nicht;
außerdem scheint sich Timmermann der Problematik der Bezüge nicht bewusst zu sein, wenn
er paraphrasiert «that man […] has a will that lets nothing stick to it […] that merely belongs
to his inclinations» (m.H.). Friedrich Kaulbach, Immanuel Kants, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten‘. Interpretation und Kommentar, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft,
1988, S. 159 f., geht kurz auf die Stelle ein, problematisiert sie aber kaum. Gerold Prauss,
Kant über Freiheit als Autonomie, Frankfurt am Main, Klostermann, 1983, diskutiert die Stelle
mehrmals (S. 20, 34 f., 57 und 121), aber nicht im Detail (obwohl das darin zum Ausdruck kommende sachliche Problem für ihn zentral ist). Auch Henry Allison, Kant’s Theory of Freedom,
Cambridge, Cambridge University Press, 1990, geht trotz der offenkundigen Bedeutung der
Stelle für seine ‚Incorporation thesis‘ nicht auf sie ein.1
Letztlich lässt sich das ganze Problem des Bösen in der GMS auf die Schwierigkeit zurückführen, dass Kant den Menschen sowohl als Glied der Verstandeswelt wie auch
als Glied der Sinnenwelt versteht; dass er den freien Willen des Menschen als Glied
der Verstandeswelt und seinen bösen Willen als Glied der Sinnenwelt begreift; und
dass er aber niemals auch nur zu erklären versucht, wie denn nun das Verhältnis dieser beiden ‹Willen› zueinander und ihr jeweiliges Verhältnis zur ganzen Person zu verstehen ist. Natürlich ist der Mensch für Kant nur eine Person. Aber er bedient sich des
Unterschiedes zwischen Verstandeswelt und Sinnenwelt auf eine Weise, die eine ontologische Differenz zwischen diesen ‹Welten› einbringt, die mit der transzendentalepistemologischen Differenz zwischen Ding an sich und Erscheinung nichts mehr zu
tun hat. Sollte aber die Unterscheidung zwischen Ding an sich und Erscheinung tatsächlich eine epistemologische sein (was sie, glaube ich, im ursprünglichen Kontext
der Kritik der reinen Vernunft auch ist), dann kann sie nicht mehr leisten, was sie leisten soll, nämlich die Zuordnung von Autonomie zur Verstandeswelt und von Heteronomie zur Sinnenwelt.
Wie wir gesehen haben schreibt Kant dort, wo er den Begriff der Heteronomie einführt, dass in heteronomen Handlungen der Wille ‹sich nicht selbst› bestimmt, sondern die Neigungen den Willen bestimmen. Doch wer lässt dies zu? Wer übt die
‹Nachsicht› aus? Darauf hat Kant keine Antwort, oder jedenfalls keine Antwort, die
irgendwie überzeugend oder auch nur kohärent wäre.
Abstract
Kant maintains in the Groundwork that a free will is a morally determined will, and vice versa.
That leads to the urgent question of how evil actions are supposed to be thought of as free.
The thesis of the present article is that Kant indeed does not have an answer to that in the
Groundwork. This is proven through a close analysis of a significant passage from the third
section of the Groundwork (457, 25-458, 5) that has been almost completely neglected so far. The
present kommentarische Interpretation shows that Kant understands free will as intelligible good
will; his attempt to explain evil actions through the indulgence toward inclinations fails because it remains unclear who or what shows such indulgence, and that has to remain unclear
under the presuppositions of Kant's theory of freedom.
1 Ich kann hier nichts diskutieren, wie sich das zu Allisons «Incorporation-thesis» (H. E. Allison, Kant’s
Theory of Freedom, Cambridge, Cambridge University Press, 1990) verhält; die zentrale Stelle dafür ist die Religionsschrift (AA vi 23 f.).
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