aus: Sprache und Literatur, Jg. 42, H. 107, 2011
Jens Schröter
Maßstäbe und Medien. Ein kurzer Diskussionsbeitrag.
Im Heft 4/2010 der Sprache und Literatur zur Akteur-Netzwerk-Theorie (im Folgenden
ANT) sind zwei Aufsätze erschienen, einer von Erhard Schüttpelz, einer von Tristan
Thielmann, zu denen ich hier einen kurzen Diskussionsbeitrag liefern möchte. Die Frage,
um die sich beide Aufsätze drehen, ist die des Maßstabs. Einer der zentralen Thesen der
ANT lautet: „Maßstab ist die Leistung der Akteure selbst.“1 Das soll heißen: Kategorien
wie ‚Makro‘ und ‚Mikro‘ (und vielleicht ‚Meso‘) werden von der ANT nicht als a priori
gegeben, sondern als Effekt der Netzwerkbildung von menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren angesehen.2 Schüttpelz’ erste These ist, dass es sich dabei nicht bloß um
eine grundlegende Frage der Soziologie handelt, der die ANT eine neue Antwort gegeben
habe, sondern dass diese Frage auch für die Medienwissenschaft (was immer diese auch
genau sei) von zentraler Relevanz ist. Zunächst ähnlich hat schon Marshall McLuhan
bemerkt, die „‚Botschaft‘ jedes Mediums oder jeder Technik [sei] die Veränderung des
Maßstabs, Tempos oder Schemas, die es der Situation des Menschen bringt“.3 Schüttpelz’ zweite These ist dabei (offenbar in Differenz zu McLuhan), die ANT habe die „universale Annahme“4 formuliert, es gälte für alle Medien ein Maßstab. Diese zweite These
ist es, die Thielmann, wenn ich richtig verstehe, in seinem Aufsatz kritisiert – auch wenn
er wahrscheinlich die erste These für richtig halten würde, dass die Frage nach dem Maßstab eine zentrale Frage für die Medienwissenschaft ist. Im Folgenden möchte ich versuchen, einige der Fragen und Einwände zu diskutieren, auf die ich während der Lektüren
gestoßen bin.
Schüttpelz’ These von einem Maßstab für alle Medien als „echte medienanthropologische Einsicht“5 der ANT scheint auf Folgendes zu zielen: „Zwischen menschlichen und
nicht-menschlichen Wesen bestimmen Erblickbarkeit und Handhabbarkeit, Auge und
Hand (und alle weiteren Organe und Sinnesorgane) den Maßstab der Interaktion mit.“6
Dieser eine Maßstab
„besteht weder aus der Exteriorisierung menschlicher Handlungen noch aus der menschlichen Interiorisierung mechanischer Abläufe, sondern fordert eine mögliche Somatisierbarkeit von Abläufen
und Verknüpfungen; und der Maßstab für diese Somatisierungen liegt nicht in einer anthropomorphen Gestalt der Abläufe, sondern in der ganzen Heterogenität und Verformbarkeit der Verknüpfung
zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Wesen.“7
Es scheint also darum zu gehen, keine Vorgängigkeit der menschlichen Sinne als Ursprung oder Muster von Extensionen, die dann die ‚Medien‘ genannt werden, anzuneh1
2
3
4
5
6
7
Latour (2007), S. 319.
Vgl. Callon/Latour (2006 [1981]).
McLuhan (1994 [1964]), S. 22/23. Hervorhebung, J.S. Im englischen Original spricht McLuhan von „scale“.
Schüttpelz (2009), S. 79.
Schüttpelz (2009), S. 84.
Schüttpelz (2009), S. 87.
Schüttpelz (2009), S. 88.
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men. Dies wäre auch nur eine Wiederholung der Position McLuhans. Vielmehr müssen
alle „Interface[s]“8 menschliche Sinne adressieren können und zwar, um es nochmal zu
sagen, nicht so, dass diese in ihren Potentialen vorausgesetzt werden. Vielmehr sie sind
selbst ‚verformbar‘ und können sich anpassen – es kommt in diesem Sinne zu einer KoKonstruktion oder Ko-Konstitution von NutzerInnen und Medientechnologien.9 Letztlich stellt sich aber immer wieder prozessual eine Kompatibilität von menschlichen und
nicht-menschlichen Akteuren, ein „Maßstab zwischen Sinnesorganen, Gliedmaßen und
Artefakten“10 her. Insofern gibt es einen Maßstab.11 Dies ist überzeugend. Thielmanns
Gegenargument, es gäbe heute nicht eine Größe von Displays, sondern vielmehr z.B. die
Differenzen von großen Public Viewing-Displays und kleinen Handy-Displays12 widerlegt dieses Argument in keiner Weise. Auch und gerade der Verweis, dass mittels „Zoom
tiefer liegende Datenschichten“ erschlossen werden könnten, ist kein Gegenargument.
Dies beweist ja nur, dass jedes zunächst noch so ungreifbares und unanschauliches Wissen auf den anthropometrischen Maßstab gebracht werden muss, um wahrnehmbar und
verhandelbar zu sein.13 Auch die kleineren (Handy), als auch die größeren (Public Viewing) Displays müssen letztlich an menschliche Akteure anschlussfähig bleiben. Ein Handydisplay mag kleiner sein, aber es bleibt im Bereich menschlicher Wahrnehmung, im
Millimeterbereich wäre es schlicht nicht mehr (ohne Lupe) zu erkennen und mithin sinnlos, selbst wenn es relativ noch ausreichend aufgelöst wäre.14 Es gibt meines Erachtens
dennoch ein Problem mit Schüttpelz’ Argument:
1. Schüttpelz betont den ‚universalen‘ Charakter der Beobachtung, dass alle medientechnologischen Aktanten an menschliche Aktanten ankoppelbar, ‚somatisierbar‘15 sein müssen. Aber: Wenn es sich dabei um eine – was plausibel ist – universal gültige These
handeln sollte, welche Differenzierung erlaubt sie? Denn sie gälte ja für alle Medien, alle
Medienprodukte, alle Inhalte, alle Rezeptionsweisen etc. Ebenso wie ähnlich universelle
Thesen z.B. der frühen Apparatus-Theorie oder neuerer neuro-biologistischer Medienanthropologie gälte sie immer. Was immer gilt, kann immer vorausgesetzt werden und muss
also nicht eigens berücksichtigt werden. Gerade weil die „Maßstabs-These“16 universal
ist, liefert sie keine Werkzeuge, um die historischen und kulturellen Differenzen beschreiben, die für eine kulturwissenschaftliche Beschreibung von Medien konstitutiv sind.
Welchen Zweck kann also die Maßstabsfrage überhaupt für die Medienforschung haben?
Schüttpelz hat nun die Idee, diesen einen ‚anthropometrischen‘ Maßstab aller Medien
mit dem „Maßstabswechsel in [...] Medien“17 zu konfrontieren. Letzterer ist das, was man
vielleicht zuerst mit McLuhans Sentenz, nach der die ‚Botschaft‘ jedes Mediums oder
8
Schüttpelz (2009), S. 83.
Vgl. Oudshoorn/Pinch (2005).
10
Schüttpelz (2009), S. 84.
11
Ich verstehe nicht, warum Thielmann (2009), auf S. 92 schreibt: „Auf einen Meso-Maßstab zielt Schüttpelz
jedenfalls nicht“. Der eine anthropometrische Maßstab von Schüttpelz ist – wenn man die Größenordnung des
Menschen zwischen dem Mikroskopierbaren (Mikro) und dem Teleskopierbaren (Makro, vgl. Schüttpelz 2009, S.
82) verortet – natürlich ein Meso-Maßstab.
12
Vgl. die Abbildung in Thielmann (2009), S. 92, die ein Bild Monets auf einem Handy als Mikro, das Bild im
Museum als Meso und das gleiche Bild auf einem T-Shirt als Makro einstuft.
13
Thielmann (2009), S. 104.
14
Sehr große Displays hingegen können durch einen Wechsel des Standpunktes noch wahrnehmbar bleiben, in
diesem Fall ist die „Größe des Maßstabs [...] abhängig vom jeweiligen Standpunkt“, Thielmann (2009), S. 93 und
auch S. 97.
15
Schüttpelz (2009), S. 88.
16
Schüttpelz (2009), S. 80.
17
Schüttpelz (2009), S. 87.
9
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jeder Technik [...] die Veränderung des Maßstabs‘ sei, assoziiert. Man kann hier – natürlich – auch an Benjamin denken, der in seiner berühmten Formulierung vom OptischUnbewußten, das die Fotokamera eröffnen würde, schrieb:
„Es ist ja eine andere Natur, welche zur Kamera als welche zum Auge spricht; anders vor allem so,
daß an die Stelle eines vom Menschen mit Bewußtsein durchwirkten Raums ein unbewußt durchwirkter tritt. Ist es schon üblich, daß einer, beispielsweise, vom Gang der Leute, sei es auch nur im
groben, sich Rechenschaft gibt, so weiß er bestimmt nichts mehr von ihrer Haltung im Sekundenbruchteil des ‚Ausschreitens‘. Die Photographie mit ihren Hilfsmitteln: Zeitlupen, Vergrößerungen
erschließt sie ihm. Von diesem Optisch-Unbewußten erfährt er erst durch sie, wie von dem Triebhaft-Unbewußten durch die Psychoanalyse. Strukturbeschaffenheiten, Zellgewebe, mit denen Technik, Medizin zu rechnen pflegen – all dieses ist der Kamera ursprünglich verwandter als die stimmungsvolle Landschaft oder das seelenvolle Porträt. Zugleich aber eröffnet die Photographie in
diesem Material die physiognomischen Aspekte, Bildwelten, welche im Kleinsten wohnen, deutbar
und verborgen genug, um in Wachträumen Unterschlupf gefunden zu haben, nun aber, groß und
formulierbar wie sie geworden sind, die Differenz von Technik und Magie als durch und durch historische Variable ersichtlich zu machen.“18
Der Maßstabswechsel in den Medien bedeutet, das Kleine größer, das Große kleiner, das
Langsame schneller, das Schnelle langsamer, das Ferne näher und das allzu Nahe ferner
zu machen, so dass alles am Ende auf einem Display, einem Interface oder einen Stück
Papier von menschlichen Akteuren betrachtet, inspiziert und diskutiert werden kann. Latour schreibt, dass die „Nanometer von lebenden Zellen“ dann beginnen „etwas zu bedeuten, wenn die Nanometer auf einem vergrößerten Elektronenfoto der Zelle zentimeterlang geworden sind, das heißt, wenn das Auge sie in dem gewohnten Maßstab und
Abstand sehen kann“.19 Schüttpelz spricht ausdrücklich vom „Maßstabswechsel – sei es
er gehe nach unten, etwa ins Mikroskopische, sei es er gehe nach oben, ins Panoptische
und Teleskopische“.20 Seine einleuchtende These ist nun, dass alle diese Maßstabswechsel durch das „‚Bottleneck‘ des einen Maßstabs“ müssen, der dann als „Infra-Maßstab“21
zu bezeichnen wäre. Die Maßstabswechsel in den Medien bringen alles auf den einen
Maßstab.
Schüttpelz fragt nun, wie eine Neubeschreibung „neue[r] und alte[r] Medien [...], die
der These vom ‚einen Maßstab‘ schlagend widersprechen, etwa das Kino und das Theater“ aussehen könnte.22 Daraus folgt die – meines Erachtens – äußerst interessante Frage,
wie „‚das Medium‘ gemacht“23 wird. Was heißt das genau? Schüttpelz’ Kommentare sind
nur als ganz vorläufige Skizze gemeint und sollten daher nicht überbelastet werden, aber
es stellen sich einige Fragen:
Wieso widersprechen Kino und Theater eigentlich (scheinbar) der These vom ‚einen
Maßstab‘? Zunächst leuchtet dies ja gar nicht ein, denn selbstverständlich bleiben beide
in Hinsicht auf die Größe der Präsentation oder ihre Geschwindigkeit an menschliche
Sinne angepasst bzw. passen sich die Sinne (oder genauer: bestimmte Routinen kognitiver Verarbeitung) an die neuen Präsentationsformen an, wie man etwa beim Kino das
18
Benjamin (1977 [1936/1939]), S. 36. Hervorhebung, J.S.
Latour (2009), S. 133/134. Vgl. auch ebd., S. 130: „Ganz gleich, ob sie [= die Objekte, J.S.] nah oder fern
sind, unendlich groß oder klein, unendlich alt oder jung, sie alle gelangen [durch die immutable mobiles, J.S.] zu
so einem Maßstab, dass sie ein paar Männer oder Frauen [...] von der Anschauung her beherrschen können:“
20
Schüttpelz (2009), S. 82.
21
Schüttpelz (2009), S. 86. Vgl. Latour (2007), S. 319-328.
22
Schüttpelz (2009), S. 87.
23
Schüttpelz (2009), S. 87.
19
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Prinzip der Montage verstehen lernen muss. Ist also gemeint, Schüttpelz legt dies explizit
nahe, dass Theater und Kino die diskutierten ‚Maßstabswechsel‘ organisieren können?
Was hieße das genau? Hier scheinen sich mehrere Aspekte zu überlagern, die man im
Detail noch differenzierter untersuchen müsste:
• Beim Kino könnte man im Anschluss an Benjamin (und McLuhan) an die Wechsel der
Einstellungsgrößen oder ggf. Zeitdehnung und -stauchung denken, was aber wiederum nicht (oder nur in sehr anderer Form) zum Theater zu passen scheint.24
• Oder geht es darum, dass beide Medien (wie aber natürlich auch die Literatur) narrativ, diegetisch und eben mithilfe einer Reihe ‚kleiner Kästen‘, also technologischen
Arrangements für die jeweils die Somatisierbarkeit gilt (z.B. Souffleuse) eine ‚Welt‘25
organisieren können, die uns durch das ‚kleine‘ (oder nicht ganz so kleine) Fenster der
Leinwand, der Bühne, der Buchseite zugänglich wird? Eine Welt, die wir wahrnehmen, mit der wir aber nicht interagieren können – wie Schüttpelz’ Rede von der Trennung von ‚Interaktionsraum und Wahrnehmungsraum‘ in Bezug auf Kino und Theater
nahe legt.
• Oder geht es doch eher um den „große[n] Wahrnehmungsraum“26, also darum, dass
Kino und Theater ein ‚globales Massenpublikum‘ (Makro) mobilisieren und adressieren? Dies scheint auch gemeint zu sein, wenn Schüttpelz zum Schluss die ‚Verschickungsräume‘ der Telekommunikation anspricht und das Diktum Latours erwähnt,
jedes globale Netz bliebe an allen Punkten lokal.27 Übertragen auf den ‚Verschickungsraum‘ des Internets z.B. würde das bedeuten: Das Netz ist zwar global und
insofern ‚makro‘, an jedem einzelnen „Computer-Interface“28 aber muss es dem anthropometrischen Maßstab genügen, um Nutzer lokal anzuschließen. Und die Forderung wäre, durch „Forschungen ‚vor Ort‘ und ‚in situ‘“29 eben diesen Aufbau des
Großen aus einzelnen Verkettungsschritten zu rekonstruieren.
Aber gerade dieser letzte Hinweis auf die Telekommunikationen und darauf, dass sie an
jedem Punkt lokal bleiben und insofern dem anthropometrischen Maßstab unterliegen,
wirft ein weiteres Problem auf.
2. Denn die ‚universale Annahme‘ des einen Maßstabs bleibt „auf unverschämte und
geradezu unschickliche Weise“30 anthropozentrisch – und die Kritik, die daran jetzt folgt
ist kein schicklicher oder schicker Versuch, den Menschen erneut verschwinden zu lassen, wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand, sondern der Hinweis auf ein Problem. Denn
Schüttpelz meint mit ‚anthropozentrisch‘ wesentlich jene Thesen, nach denen Medientechnologien als Extensionen des Menschen zu verstehen seien (McLuhan in der Folge
von Kapp, Freud, Gehlen etc.). Was ist aber mit Kompatibilitäten (‚Maßstäben‘), wo es
um die Vernetzung zwischen nicht-menschlichen Akteuren geht? Wir kennen aus unserem Alltag dieses Problem, in vielen professionellen Bereichen ist es riesig: Es gibt Bereiche der Konnexion zwischen differenten Medientechnologien (auf Tagungen häufig:
24
Das Theater kennt z.B. die Teichoskopie, die Mauerschau, wodurch ein Schauspieler eine größere Welt
evozieren kann.
25
Vgl. Schüttpelz (2009), S. 86, wo er von der „Welt eines Mediums (mitsamt seiner möglichen Referenz)“
spricht.
26
Schüttpelz (2009), S. 87.
27
Vgl. Thielmann (2009), S. 104.
28
Schüttpelz (2009), S. 83.
29
Schüttpelz (2009), S. 86.
30
Schüttpelz (2009), S. 87.
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diejenige zwischen Computern und Beamern; sonst verschiedene Software-Formate;
verschiedene Netz-Protokolle etc.), wo der anthropometrische Maßstab nicht die geringste Rolle spielt. Zwischen Rechner und Beamer können „Erblickbarkeit und Handhabbarkeit, Auge und Hand (und alle weiteren Organe und Sinnesorgane) den Maßstab
der Interaktion“31 nicht bestimmen. Dennoch können Medien als Netzwerke menschlicher und nicht-menschlicher Akteure – wie gerade das schon genannte Internet als heutiger Musterfall der Telekommunikation – nur dann funktionieren, wenn auch die nichtmenschlichen Akteure, z.B. Medientechnologien (oder Bauteile in Medientechnologien)
miteinander (um Schüttpelz’ Begriff zu benutzen) ‚interagieren‘ können. Sie müssen z.B.
die gleichen zeitlichen Maßstäbe oder Protokolle teilen. Wenn die nicht-menschlichen
Akteure nicht miteinander kommunizieren können, sprechen wir oft von Störung – spätestens mit digitalen Technologien ist das unabweisbar geworden.32 Daher ist die These
des einen ‚anthropometrischen Maßstabes‘ für die Vernetzung menschlicher und nichtmenschlicher Akteure problematisch – weil die Vernetzung nicht-menschlicher mit nichtmenschlichen Akteuren und damit deren eigene ‚Infra-Maßstäbe‘ komplett herausfallen.33 Dabei wird diese nicht-menschliche Vernetzung bei Latour ausdrücklich
symmetrisch zu Vernetzung mit menschlichen Akteuren behandelt, wie das folgende
Schema aus einem Text von ihm und Madeleine Akrich unter der Bezeichnung ‚Automatismus, Maschine‘ aufs Deutlichste zeigt (Schüttpelz spricht nur über die Punkte ‚Schnittstelle‘ und ‚Einwirkung‘).
Abb. 1 Schema der syntagmatischen Assoziation menschlicher und nicht-menschlicher
Akteure.34
Eine an der ANT orientierte Analyse müsste also – ganz im Einklang mit dem Symmetrieprinzip der ANT35 – menschliche und nicht-menschliche Maßstäbe berücksichtigen.
Schüttpelz spricht nur vom „Raum der Interaktion von menschlichen und nicht-mensch31
Schüttpelz (2009), S. 87.
Vgl. zur Störung Kümmel/Schüttpelz (2003) und in Bezug auf digitale Technologien spezieller Kümmel
(2002). Gerade in der ANT spielen technische Störungen immer wieder eine zentrale Rolle vgl. z.B. Latour (2007),
S. 70 und 139. Im hier diskutiertem Text von Schüttpelz aber werden Störungen nur als die eines Piloten, der mit
einem Interface umgeht, also als Kopplung Mensch – Nicht-Mensch, erwähnt (2009, S. 82).
33
Latour (2007), S. 54 zu den eigenen ‚Metasprachen‘ der Akteure, denen die ANT durch Anwendung einer
behutsamen ‚Infrasprache‘ zu folgen habe.
34
Akrich/Latour (2006 [1992]), S. 404.
35
Vgl. Latour (1995).
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lichen Wesen“ bzw. von einem „Raum, der durch die menschliche Interaktion gebunden
wird“.36 Thielmann hat also recht, wenn er Schüttpelz’ Fixierung auf den einen Maßstab
kritisiert, aber das Gegenargument sollte sich nicht auf die Existenz verschieden großer
Displays stützen, denn das bleibt noch immer allein auf die menschlichen Akteure und
ihre Interaktion mit nicht-menschlichen Akteuren bezogen. Vielmehr müsste es zu bedenken geben: Es gibt z.B. intertechnische Protokolle37, temporale Skalen38 u.v.m. –
manchmal ganz schlicht: die Steckerbuchsen, bei denen ohne Adapter kein Weiterkommen ist. Obwohl auch Stecker und Buchsen angelegentlich als männlich/weiblich
beschrieben werden, wäre es meines Erachtens überzogen hier noch einen ‚anthropometrischen Maßstab‘ in Schüttpelz’ Sinne walten zu sehen. Das gälte nur dann, wenn z.B.
eine Buchse so beschaffen sein müsste, dass man sinnvoll einen Finger hineinstecken
und damit etwas erreichen könnte. Fragen drängen sich auf: Wird in an der ANT orientierten Studien (und damit ist nicht Latour selber gemeint) oftmals die technische ‚Metasprache‘ der nicht-menschlichen Akteure und ihre Genealogie, die ihr So-Sein präzisierbar macht39 zuwenig berücksichtigt? Und zeigt sich darin nicht erneut die, schon lange
von Friedrich Kittler beklagte, Technikvergessenheit der Kulturwissenschaft? Würde
Schüttpelz’ These, der eine Maßstab sei nicht nur ein „Spezifikum der [...] neuzeitlichen
Kulturtechniken und Medien“40, sondern schon immer gültig gewesen, dadurch nicht
widerlegt, insofern erst die digital-technologischen Akteure (im engeren Sinne) miteinander ‚interagieren‘ können?41 Schließlich: Steht die ‚universale Annahme‘ des einen
Maßstabs nicht eklatant gegen die Grundannahmen der ANT, „da sie behauptet, es gebe
nichts, was rein universal“42 ist und jede universelle Annahme mithin eine Metasprache
ist, die die Sprachen der Akteure überschreibt und auslöscht?
3. Ein Ergebnis von Schüttpelz’ Überlegungen ist die Frage, „wie ‚das Medium‘
gemacht“43 wird. Es müsste ohne Bevorzugung der Schnittstellen NM-M und M-NM
untersucht werden, wie menschliche und nicht-menschliche Akteure vernetzt werden,
„um die Welt eines Mediums (mitsamt seiner möglichen Referenz)“44 aufzubauen. Ob
Schüttpelz’ sehr knappe Ausführung am Beispiel des (analogen) Kinos – „Im Falle des
Kinos: durch die Filmaufnahmen mit einer Kamera, über die Entwicklung des Films
zum Schneidetisch, in der Filmrolle und zum Kinoprojektor“45 – zu überzeugen vermag, sei hier dahingestellt, insofern es einfach trivial zu sein scheint, dass das Kinoerlebnis Filmaufnahmen, Entwicklung, Schneidetisch, Filmrollen und Projektoren voraussetzt.46
Das Interessante an dieser Frage für die Medienforschung ist und bleibt aber, dass
‚die Medien‘ (wie bei Schüttpelz in Anführungszeichen) nicht mehr schlicht vorausge36
Schüttpelz (2009), S. 87.
Vgl. Galloway (2004).
38
Vgl. Volmar (2009) als Sammelband, in dessen Beiträgen Medien-Zeiten jenseits jedes anthropometrischen
Maßstabs untersucht werden.
39
Vgl. Latour (2007), S. 140 zur Notwendigkeit der genealogischen Rekonstruktion von Technologien.
40
Schüttpelz (2009), S. 84.
41
Mac-User kennen noch AppleTalk…
42
Koch (2009), S. 6.
43
Schüttpelz (2009), S. 87.
44
Schüttpelz (2009), S. 86.
45
Schüttpelz (2009), S. 87.
46
Und diese Produktionsbedingungen wurden z.B. von der Apparatus-Theorie ja bereits recht ausführlich untersucht, vgl. u.a. den Sammelband von Geser/Riesinger (2003). Es wäre eigens zu zeigen, welchen Fortschritt
demgegenüber eine an der ANT orientierte Betrachtung leisten kann.
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setzt werden als Gegenstand, sondern selbst die Prozesse ihrer Hervorbringung untersucht werden – was auch reflexiv zur Befragung der Medienwissenschaft als eines solchen Ortes der Produktion von Medien führen müsste. Schüttpelz hat auch in anderen
Texten in diese Richtung gedeutet: So stellt „Latours Vorgehensweise – wie im Grunde
die gesamte neuere wissenschaftshistorische und organisationsethnographische Forschung – die Frage, ob man die Einteilung in Einzelmedien nicht für viele zukünftige
Betrachtungen ganz fallenlassen sollte, um sie durch die vergleichende Betrachtung von
sehr viel kleinteiligeren medialen ‚Übersetzungsketten‘ zu rekonstruieren und neu zu
sortieren“.47
Es kann beobachtet werden, dass es in ‚der‘ Medienwissenschaft solch eine Tendenz
von sehr verschiedenen Positionen aus gibt: Neben Schüttpelz’ an der ANT orientierten
Überlegungen gibt es z.B. die Medienmorphologie von Rainer Leschke, die konstatiert,
dass „die Medien rapide an struktureller Orientierungsleistung verloren haben“48 und
daher den Medienbegriff tendenziell durch den Formbegriff zu ergänzen oder substituieren sucht: Es „kann nicht mehr auf Einzelmedien, sondern nur noch auf mediale Formen
als universelle Größe reflektiert werden“.49 Schließlich gibt es ein neues Buch von Claus
Pias, das unter dem paradigmatischen Titel Was waren Medien? ebenfalls eine Absetzbewegung vom Medienbegriff anzuzeigen scheint.50
Möglicherweise bietet die Beschäftigung mit der ANT einen Ausweg aus der steril
gewordenen Diskussion um die Frage ‚was ein Medium ist‘ – indem sie sie durch diejenige nach spezifischen Situationen ersetzt, in denen ein Medium in der Vernetzung
menschlicher und nicht-menschlicher Akteure gemacht wird. Ein aktuell im DFGSchwerpunktprogramm 1505 diskutierter Begriff könnte hier auch anschließbar sein –
‚Mediatisierung‘, insofern der Shift vom Medium zu Mediatisierung51 den performativen
Charakter der „‚Priorität der Operationsketten‘ vor den durch sie gestalteten Größen, und
zwar vor allen beteiligten Größen, seien diese Artefakte, Personen und Zeichen, oder
technische Objekte, Praktiken und Wissensformen“52 unterstreicht.
47
Schüttpelz (2006), S. 93.
Leschke (2010), S. 7
49
Leschke (2010), S. 302. Ich habe auf diese Vergleichbarkeit verschiedener Ansätze hinsichtlich der Bemühung um eine Überwindung der Einzelmedien bzw. der Neufassung des Medienbegriffs schon andernorts – und in
einem Text, der sich ebenfalls um die Frage nach dem Maßstab drehte – hingewiesen (Schröter 2009, S. 80).
Thielmann (2009, S. 92; er zitiert dabei Callon/Latour 2006 [1981], S. 78) hat diese Stelle, wie mir scheint, missverstanden: „Bewegt sich Erhard Schüttpelz somit in der Tradition der ‚‚Medienmorphologie‘, die die Formen
‚mittlerer Größe‘ in den Mittelpunkt rückt‘, wie Jens Schröter an anderer Stelle feststellt? Nein: ‚Isomorphie bedeutet nicht, dass alle Akteure dieselbe Größe haben, sondern dass es a priori keinen Weg gibt, die Größe festzulegen.‘“ Ich behaupte natürlich nicht, Schüttpelz stünde in der ‚Tradition‘ von Leschkes Medienmorphologie und
nicht einmal, beide seien sich in einer Fokussierung auf ‚Formen mittlerer Größe‘ einig, sondern nur und allein,
dass in – ausdrücklich – „sehr verschiedenen theoretischen Diskussionen“ (Schröter 2009, S. 80) ein Weg zur
Überwindung des Diskurses der ‚Einzelmedien‘ gegenwärtig offenbar gesucht wird. Ich hätte mir hier mehr Sorgfalt beim Zitieren gewünscht, denn nur so kann eine Diskussion auch funktionieren. Es gibt noch eine weitere
Stelle (Thielmann 2009, S. 96/96), wo mein Text ebenfalls sinnentstellt zitiert wird; es ging mir 2009 nur darum,
dass in der ‚Medienästhetik‘ Formen mittlerer Größe eine zentrale Rolle spielen, das war ausdrücklich nicht als
generelle Aussage über eine Tendenz der ANT gemeint.
50
Vgl. Pias (2010).
51
Vgl. Martin-Barbero (1993).
52
Schüttpelz (2006), S. 91.
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