QUELLEN
A ndreas Fickers
U P D AT E F Ü R D I E H E R M E N E U T I K
Geschichtswissenschaft auf dem Weg
zur digitalen Forensik?
»[…] wenn ›die Quelle‹ die Reliquie historischen Arbeitens ist – nicht nur Überbleib
sel, sondern auch Objekt wissenschaftlicher Verehrung –, dann wäre analog ›das
Archiv‹ die Kirche der Geschichtswissenschaft, in der die heiligen Handlungen des
Suchens, Findens, Entdeckens und Erforschens vollzogen werden.«1 Achim Landwehr
wirft in seinem geschichtstheoretischen Essay den Historikern ihren »Quellen
glauben« vor – diese Kritik ließe sich im digitalen Zeitalter leicht auf die Heilsverspre
chen der Apostel der »Big Data Revolution« übertragen.2 Zwar regen sich mittlerweile
vermehrt Stimmen, die den »Wahnwitz« der digitalen Utopie in Frage stellen,3 doch
wird der öffentliche Diskurs weiterhin von jener Revolutionsrhetorik dominiert, 4
die standardmäßig als Begleitmusik neuer Technologien ertönt.5 Statt in der intellek
tuell wenig fruchtbaren Dichotomie von Gegnern und Befürwortern, »First Movers«
und Ignoranten zu verharren, welche die Landschaft der »Digital Humanities« ein
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Achim Landwehr, Die anwesende Abwesenheit der Vergangenheit. Essay zur Geschichtstheorie, Frankfurt a.M. 2016, S. 180.
Siehe stellvertretend Viktor Mayer-Schönberger/Kenneth Cukier, Big Data. A Revolution That Will
Change How We Live, Work and Think, Boston 2013; dt.: dies., Big Data. Die Revolution, die unser
Leben verändern wird. Übersetzung aus dem Englischen von Dagmar Mallett, München 2013.
Siehe etwa Evgeny Morozov, To Save Everything, Click Here. The Folly of Technological Solutionism,
New York 2013; dt.: ders., Smarte neue Welt. Digitale Technik und die Freiheit des Menschen. Aus dem
Englischen von Henning Dedekind und Ursel Schäfer, München 2013; Shoshana Zuboff, Das Zeitalter
des Überwachungskapitalismus. Aus dem Englischen von Bernhard Schmid, Frankfurt a.M. 2018.
Rob Kitchin, The Data Revolution. Big Data, Open Data, Data Infrastructures and Their Consequences,
London 2014.
Andreas Fickers, »Neither good, nor bad, nor neutral«. The Historical Dispositif of Communication
Technologies, in: Martin Schreiber/Clemens Zimmermann (Hg.), Journalism and Technological Change.
Historical Perspectives, Contemporary Trends, Frankfurt a.M. 2014, S. 30-52.
Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 17 (2020), S.
© Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 2020 | ISSN 1612-6033 (Print), 1612-6041 (Online)
DOI:
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ANDREAS FICKERS
wenig überspitzt auch heute noch kennzeichnet, ist das Ziel dieses Beitrages eine
praxeologische Reflexion, die den Einfluss von digitalen Infrastrukturen, digitalen
Werkzeugen und digitalen »Quellen« auf die Praxis historischen Arbeitens zeigen
möchte. Ausgehend von der These, dass ebenjene digitalen Infrastrukturen, Werk
zeuge und »Quellen« heute einen zentralen Einfluss darauf haben, wie wir Geschichte
denken, erforschen und erzählen, plädiert der Beitrag für ein »Update« der klassi
schen Hermeneutik in der Geschichtswissenschaft. Die kritische Reflexion über die
konstitutive Rolle des Digitalen in der Konstruktion und Vermittlung historischen
Wissens ist nicht nur eine Frage epistemologischer Dringlichkeit,6 sondern zentraler
Bestandteil der Selbstverständigung eines Faches, dessen Anspruch als Wissenschaft
sich auf die Methoden der Quellenkritik gründet.
Schon 2006 stellten Daniel Cohen und Roy Rosenzweig fest, dass alle Historiker,
auch wenn sie sich selbst nicht als »digitale« Forscher verstünden, in ihrer Arbeits
praxis längst zu solchen geworden seien.7 Im letzten Jahrzehnt hat sich dieser Trend
weiter verstärkt: Die massenhafte Retrodigitalisierung analoger Quellenbestände hat
uns vom »Age of Scarcity« ins »Age of Abundance« (Cohen/Rosenzweig) katapultiert.
Kein Historiker kann heute die phänomenale Transformation negieren, welche die
Flut an retrodigitalisierten wie digital entstandenen »Quellen« für die Geschichtswis
senschaft bedeutet. 8 Wir haben es aber nicht nur mit einem quantitativen Phänomen
zu tun, sondern die Arbeit mit Digitalisaten oder »Metaquellen« stellt Historiker vor
epistemologische Herausforderungen, die im Zuge einer digitalen Hermeneutik für
die Geschichtswissenschaft reflektiert werden müssen.9 Die digitale Quellenkritik –
oder besser: geschichtswissenschaftliche Datenkritik – nimmt einen zentralen Stel
lenwert in dieser digitalen Hermeneutik ein. Letztere geht aber darüber hinaus, indem
sie den gesamten Arbeits bzw. Forschungsprozess einbezieht, der sich von der Frage
stellung über die Informationssuche, Analyse, Interpretation bis zur Repräsentation
und Darstellung neuen historischen Wissens erstreckt.10 In allen Phasen des geschichts
wissenschaftlichen Arbeitens greifen digitale Infrastrukturen und Werkzeuge wie
OnlineBibliotheks oder Archivkataloge, Webbasierte Datensätze und Suchalgorith
men sowie Soft und Hardware zur Datenbearbeitung und Repräsentation aktiv in den
Denk und Handlungsprozess historischer Sinnbildung ein.
6 Toni Weller (Hg.), History in the Digital Age, London 2013.
7 Daniel Cohen/Roy Rosenzweig, Digital History. A Guide to Gathering, Preserving, and Presenting the
Past on the Web, Philadelphia 2006.
8 Ian Milligan, History in the Age of Abundance? How the Web Is Transforming Historical Research,
Montreal 2019, S. 14.
9 Siehe hierzu auch Andreas Fickers, Digitale Metaquellen und doppelte Reflexivität, in: H-Soz-Kult,
26.1.2016, URL: <https://www.hsozkult.de/debate/id/diskussionen-2954>.
10 Zum Konzept der digitalen Hermeneutik siehe die Website des Doktorandenkollegs »Digital Hermeneutics and History« an der Universität Luxemburg (<https://dhh.uni.lu>) sowie Andreas Fickers,
Hermeneutics of In-Betweenness: Digital Public History as Hybrid Practice, in: Serge Noiret/Mark
Tebeau (Hg.), Handbook Digital Public History, Berlin 2021 (in Vorbereitung); Andreas Fickers/Tim
van der Heijden, Inside the Trading Zone: Thinkering in a Digital History Lab, in: Digital Humanities
Quarterly 14 (2020) (im Erscheinen).
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Digitale Hermeneutik: Die Verbindung kritischer Reflexion historischer Praxis und der Einübung
praktischer »Skills« im Sinne einer »Digital Literacy«
(Grafik: Ghislain Sillaume, Luxembourg Centre for Contemporary and Digital History, 2019)
Trotz der Omnipräsenz des Digitalen zeichnet sich die historische Praxis aber durch
Hybridität aus: »Klassische« oder »traditionelle« Formen der Recherche (offline) –
etwa in analogen Archiv und Bibliotheksbeständen – gehen Hand in Hand mit Online
Recherchen; die Annotation von Texten oder Bildquellen mit Bleistift oder Kugel
schreiber gehört ebenso zum Repertoire wie die Kommentierung oder das »Taggen«
digitaler Datenbestände. »Hybridity is the new normal« – so brachte es der niederlän
dische Historiker Gerben Zaagsma auf den Punkt.11 Gerade diese Hybridität stellt
aber eine methodologische und epistemologische Doppelbelastung für die aktuelle
Geschichtswissenschaft dar, weil neben erlernten und etablierten wissenschaftlichen
Methoden und Standards auch der Umgang mit neuen Techniken, Begriffen und
Konzepten kritisch angeeignet werden muss. Sich in dieser Übergangsphase oder
»Trading Zone« zwischen unterschiedlichen »Communities of Practice« und episte
mologischen Traditionen (etwa zwischen Geistes und Computerwissenschaften
oder Data Sciences) zu bewegen erfordert ein erhöhtes Maß an Selbstreflexivität
sowie die Bereitschaft, sich in kritischhermeneutischer Tradition mit der Realität
11 Gerben Zaagsma, On Digital History, in: Low Countries Historical Review 128 (2013) H. 4, S. 3-29,
hier S. 15.
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geschichtswissenschaftlicher Praxis im digitalen Zeitalter auseinanderzusetzen. 12
In der Spannung zwischen dem Vertrauten und dem Fremden, im »Dazwischen« liegt
laut HansGeorg Gadamer der eigentliche Ort der Hermeneutik.13 Genau in diesem
Zwischenfeld von analoger und digitaler Geschichts und Archivwissenschaft ist mei
nes Erachtens auch der Ort der digitalen Hermeneutik.14
1. Ontologische Wandlungen:
Von »Quelle« zu »Dokument« zu »Daten«
Die Durchsetzung akademischer Geschichtsschreibung gegen Ende des 19. Jahr
hunderts beruhte im Wesentlichen auf drei Glaubenssätzen: erstens dem Ideal der
Objektivität, zweitens der Originalität dokumentarischer Quellen und drittens dem
professionellen Habitus von akademisch ausgebildeten Historikern (anfangs prak
tisch ausschließlich Männern).15 Noch heute bilden diese drei Elemente das Funda
ment des epistemologischen Selbstverständnisses geschichtswissenschaftlicher For
schung – die problematische Metapher der »Quelle« hat nichts von jenem Pathos
verloren, das seit den Zeiten des europäischen Humanismus im Aufruf »ad fontes«
mitschwingt.16 Die wahrheits und wirklichkeitsverbürgende Funktion der »Quelle«
ist bis heute weitgehend unangetastet, obwohl wissenschaftstheoretischer Konsens
darüber besteht, dass eine »Quelle« immer nur in einem abbildhaften oder repräsenta
tiven Wirkungszusammenhang zur historischen Realität stehen kann, nie aber in
einem ursächlichen.17 »Quellen« haben also immer doppelten Verweischarakter:
einmal auf das in ihnen zum Ausdruck Kommende, zum anderen auf den Entstehungs
und Produktionskontext. Die Kunst der Auslegung der »Quelle« entwickelte sich aus
gehend von textexegetischen Interpretationstechniken der Theologie Schritt für Schritt
zur Kernkompetenz geschichtswissenschaftlichen Arbeitens und damit zum Dreh und
Angelpunkt der historischen Hermeneutik, wie sie etwa von Johann Gustav Droysen
in seinen Vorlesungen zur Historik Mitte des 19. Jahrhunderts dargelegt wurde.18
12 Max Kemman, The Trading Zones of Digital History, phil. Diss. Universität Luxemburg 2019.
13 Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik [1960],
Tübingen 2010, S. 300.
14 Zur digitalen Hermeneutik als »Hermeneutics of In-Betweenness« oder »Hermeneutics of Screwing Around« siehe Stephen Ramsey, Reading Machines. Toward an Algorithmic Criticism, Urbana 2011;
ders., Hermeneutics of Screwing Around; or What You Do with a Million Books, in: Kevin Kee (Hg.),
Pastplay. Teaching and Learning History with Technology, Ann Arbor 2010, S. 111-120.
15 Andreas Fickers, Entre vérité et dire du vrai. Ein geschichtstheoretischer Grenzgang, in: ders. u.a. (Hg.),
Jeux Sans Frontières. Grenzgänge der Geschichtswissenschaft, Bielefeld 2018, S. 29-40.
16 Uwe Barrelmeyer, Geschichtliche Wirklichkeit als Problem. Untersuchungen zu geschichtstheoretischen
Begründungen historischen Wissens bei Johann Gustav Droysen, Georg Simmel und Max Weber,
Münster 1997.
17 Sabine Büttner, Tutorium Arbeiten mit Quellen, in: historicum-estudies.net, URL: <http://www.
historicum-estudies.net/etutorials/tutorium-quellenarbeit/?L=1>.
18 Johann Gustav Droysen, Historik. Historisch-kritische Ausgabe von Peter Leyh, Stuttgart 1977.
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Quellenkritik als historische Methode schlechthin etablierte sich spätestens mit
Werken wie Ernst Bernheims »Lehrbuch der historischen Methode« (1889) oder
CharlesVictor Langlois’ und Charles Seignobos’ »Introduction aux études histo
riques« (1897) – auch wenn beide durchaus unterschiedliche wissenschaftsphiloso
phische Positionen vertraten.19 Parallel zur Professionalisierung und methodologischen
Standardisierung der Geschichtswissenschaft entstand auch die moderne Archiv
wissenschaft, die sich – im Bestreben einer Abgrenzung von Bibliotheken und Museen
sowie einer Emanzipation von der aufstrebenden Geschichtswissenschaft – mit der
Entwicklung des Provenienzprinzips eine eigene Methodik gab.20 Die Idee des Archivs
als gewachsene Einheit, in der einzelne »Dokumente« oder »Records« wie ein leben
diger und gegliederter Organismus verstanden werden sollten, wurde 1898 erstmals
von den niederländischen Archivaren Samuel Muller, Johan Feith und Robert Fruin
in einem Handbuch publiziert, welches nach der Übersetzung ins Deutsche, Franzö
sische und Englische den archivwissenschaftlichen Diskurs Westeuropas über Jahr
zehnte prägte.21
Auch wenn sich Geschichts und Archivwissenschaft im 20. Jahrhundert zuneh
mend getrennt und arbeitsteilig entwickelten, werden zentrale Konzepte und profes
sionelle Standards in beiden Disziplinen heute gleichermaßen grundlegend durch
die Entwicklung digitaler Infrastrukturen und Techniken herausgefordert. Digitale
Quellenkritik – hier verstanden im Sinne einer geschichtswissenschaftlichen Daten
kritik – als Teil der digitalen Hermeneutik muss sich deshalb sowohl mit den archiv
als auch den geschichtswissenschaftlichen Fragen beschäftigen, welche sich durch
veränderte Logiken der Speicherung, neue Heuristiken des Suchens sowie Methoden
der Analyse und Interpretation von Digitalisaten aufdrängen. Betrachtet man Digita
lisate als die zentralen »epistemischen Objekte« archiv wie geschichtswissenschaft
licher Forschung im digitalen Zeitalter, dann gilt es die Konsequenzen der ontologi
schen und begrifflichen Wandlung von »Quellen« zu »Dokumenten« zu »Daten« auf
ihre erkenntnistheoretischen Implikationen zu hinterfragen. Der problematische
Begriff der »Quelle« wurde schon erwähnt. Auch der Begriff des »Dokuments« (im
Englischen »Record«) ist keineswegs neutral, sondern vielmehr Ausdruck jener Selek
tions, Bewertungs, Indexierungs und Ordnungslogiken, welche archivalischen
Arbeitsprozessen zugrunde liegen. »Documents as evidence are ontological entities
whose evidentiary origins lie in their belonging to taxonomic or indexical regimes or
19 Siehe Rolf Torstendahl, The Rise and Propagation of Historical Professionalism, London 2015; Arthur
Alfaix Assis, Schemes of Historical Method in the Late 19th Century: Cross-References between
Langlois and Seignobos, Bernheim, and Droysen, in: Luiz Estevam de Oliveira Fernandes/Luísa
Rauter Pereira/Sérgio da Mata (Hg.), Contributions and Comparative History of Historiography. German
and Brazilian Perspectives, Frankfurt a.M. 2015, S. 105-126.
20 Siehe Christian Keitel, Zwölf Wege ins Archiv. Umrisse einer offenen und praktischen Archivwissenschaft, Stuttgart 2018, S. 17.
21 Samuel Muller/Johan Feith/Robert Fruin, Handleiding voor het oordenen en beschrijven van archieven,
Groningen 1898; dt.: dies., Anleitung zum Ordnen und Beschreiben von Archiven. Für deutsche Archivare bearbeitet von Hans Kaiser. Mit einem Vorwort von Wilhelm Wiegand, Leipzig 1905.
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to looser discursive or conversational regimes«, so der Professor für Informations
und Bibliothekswissenschaften Donald E. Day.22 Werden im Zuge von Retrodigitali
sierungsmaßnahmen aus Archivdokumenten Digitalisate, so findet ein erneuter onto
logischer Wandel statt, der das Konzept des »Originals« aus epistemologischer Sicht
weise problematisch macht. Aber auch »digital born«Daten sind keineswegs statisch,
sondern zeichnen sich durch ihre relationale und dynamische Natur aus.
2. Geschichtswissenschaftliche Datenkritik:
Integrität, Authentizität und Historizität von Daten
Der Glaube, dass uns eine historische »Quelle« einen privilegierten oder »authenti
schen« Zugang zur Vergangenheit eröffne, ist genauso naiv wie der Glaube an die
Neutralität von Daten. »Raw data is an oxymoron«, so hat es der amerikanische Wissen
schaftshistoriker Geoffrey Bowker schon 2005 auf den Punkt gebracht. 23 »Data are
always already ›cooked‹ and never entirely ›raw‹«, so schlussfolgern auch die Medien
und Literaturwissenschaftlerinnen Lisa Gitelman und Virginia Jackson in der Ein
leitung zu einem maßgeblichen Sammelband, der Bowkers Perspektive aufgreift.24
Daten – seien sie »big« oder »small«, strukturiert, semistrukturiert oder unstruktu
riert, quantitativ oder qualitativ, primär, sekundär oder tertiär – sind immer schon das
Resultat eines Prozesses, dem bestimmte Erkenntnisinteressen, kategoriale Entschei
dungen und methodologische Prämissen zugrunde liegen.25 Die Wissenschafts und
Technikhistoriker Bruno Strasser und Paul Edwards argumentieren in ihrem Aufsatz
»Big Data Is the Answer... But What Is the Question?« überzeugend, dass etwas als
»Daten« zu bezeichnen gleichbedeutend mit einem zeitgebundenen normativen Akt
der Bedeutungszuschreibung ist: »To attach the label ›data‹ to something is to place
that thing specifically in the long chain of transformations that moves from nature to
knowledge; this act of categorization marks a particular moment in time when some
one thought some inscription or object could serve to ground a knowledge claim.«26
Geschichtswissenschaftliche Datenkritik muss also nicht nur danach fragen, ob
digitale Metaquellen integer sind, sondern immer auch die Historizität der elektroni
schen Datenträger und Formate reflektieren. Historische »Quellen« oder »Dokumente«
22 Donald E. Day, Indexing It All. The Subject in the Age of Documentation, Information, and Data,
Cambridge 2014, S. 5.
23 Geoffrey Bowker, Memory Practices in the Sciences, Cambridge 2005, S. 183.
24 Lisa Gitelman/Virginia Jackson, Introduction, in: Lisa Gitelman (Hg.), »Raw Data« is an Oxymoron,
Cambridge 2013, S. 2.
25 Zur unterschiedlichen Konzeptionalisierung von Daten siehe Kitchin, Data Revolution (Anm. 4),
S. 27-47, und Christine L. Borgman, Big Data, Little Data, No Data. Scholarship in the Networked
World, Cambridge 2015.
26 Bruno J. Strasser/Paul N. Edwards, Big Data Is the Answer… But What Is the Question?, in: Osiris
32 (2017), S. 328-345, hier S. 329f.
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in digitaler Form müssen genau wie ihre »analogen« Verwandten auf ihre Provenienz
untersucht werden; überhaupt behalten die traditionellen Fragen der historischen
Quellenkritik auch für digitale Objekte selbstverständlich ihre Gültigkeit. Die »ge
schichtete« oder »verteilte Materialität« digitaler Objekte,27 d.h. ihre intrinsische Ver
wobenheit mit Hard und SoftwareUmgebungen, die ihre Speicherung, Darstellung,
Analyse und Wiederverwendbarkeit erst möglich machen, erfordern aber eine informa
tionstechnische Erweiterung des Handwerkszeugs und der Kompetenzen der Geschichts
wissenschaft. Auch wenn das Konzept des »Originals« bei Digitalisaten aufgrund der
dynamischen Konsistenz digitaler Objekte nicht mehr sinnvoll ist, stellt sich auch bei
ihnen die Frage nach ihrer Authentizität – und besonders nach ihrer Integrität.
Wie Pascal Föhr in seiner Dissertation zur digitalen Quellenkritik systematisch aus
geführt hat, ist es geboten, zwischen historischer und informationstechnischer Authen
tizität zu unterscheiden. Während der historische Authentizitätsbegriff die prozesshafte
Überprüfung der »Wahrheit«, »Echtheit« oder »Faktizität« von Überlieferungen aus der
Vergangenheit meint (Authentizität wird also erst durch den Akt der Authentifizierung
erzeugt),28 erfolgt die Bestimmung des Authentischen in der Informationswissenschaft
durch die Überprüfung der Integrität von Daten.29 Die informationstechnische Integrität
digitaler Daten umfasst die Unversehrtheit des Bitcodes sowie die »semantische Korrekt
heit«, das heißt, dass der reale und der modellierte Sachverhalt identisch sein müssen.
Beschädigungen des Bitcodes auf dem Transportweg (z.B. während eines Speicher oder
Kopierprozesses) führen unweigerlich zu einem Informationsverlust und verletzen so die
Integrität des »Dokuments«.30 Laut Matthew Kirschenbaum, Professor für digitale Wis
senschaft an der Universität von Maryland, bedeutet jeder Speicherprozess aus foren
sischer Perspektive eine digitale Manipulation: »One can, in a very literal sense, never
access the ›same‹ electronic file twice, since each and every access constitutes a distinct
instance of the file that will be addressed and stored in a unique location in computer
memory. […] Access is thus duplication, duplication is preservation, and preservation is
creation – and recreation. That is the catechism of the .txtual condition, condensed and
consolidated in operational terms by the click of a mouse button or the touch of a key.«31
Bei der Speicherung oder der Migration großer Datensätze ist die Überprüfung
der informationstechnischen Integrität technisch komplex und erfordert den Einsatz
spezialisierter Software. Gerade diese Wissens und Kompetenzverlagerung von der
27 Siehe Jean-François Blanchette, A Material History of Bits, in: Journal of the American Society for
Information Science and Technology 62 (2011), S. 1042-1057, sowie Johanna Drucker, Performative
Materiality and Theoretical Approaches to Interface, in: Digital Humanities Quarterly 7 (2013), URL:
<http://www.digitalhumanities.org/dhq/vol/7/1/000143/000143.html>.
28 Siehe hierzu die Beiträge in Martin Sabrow/Achim Saupe (Hg.), Historische Authentizität, Göttingen 2016.
29 Pascal Föhr, Historische Quellenkritik im digitalen Zeitalter, phil. Diss. Universität Basel 2018, S. 189
(die Buchausgabe ist unter demselben Titel erschienen, Glückstadt 2019).
30 Siehe Corinne Rogers, Authenticity of Digital Records: A Survey of Professional Practice, in: Canadian
Journal of Information and Library Science 39 (2015), S. 97-113.
31 Matthew Kirschenbaum, The .txtual Condition: Digital Humanities, Born-Digital Archives, and the
Future Literary, in: Digital Humanities Quarterly 7 (2013), URL: <http://www.digitalhumanities.org/
dhq/vol/7/1/000151/000151.html>, paragraph 16.
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historischkritischen Methode zu computer und informationswissenschaftlichen
Verfahren bei der Bestimmung von Datenintegrität führt zu Bruchbildungen in den
»Kontrollzonen« archiv oder geschichtswissenschaftlicher Institutionen und Diszi
plinen.32 So wie die Herausbildung der historischen Hermeneutik als Spiegel der Ver
wissenschaftlichung des Faches Geschichte im 19. Jahrhundert gelesen werden kann,
muss die aktuelle Debatte um »Beglaubigungs und Verbürgungskategorien«33 authen
tischer Speicherung, Wiedergabe und Nutzung von digitalen historischen Infor
mationen als Professionalisierungsdiskurs gedeutet werden, in dem Archive und
Geschichtsforschung grundlegende Kriterien und Konzepte wissenschaftlicher Praxis
neu ausloten und verhandeln. Die authentifizierende Autorität archivalischer Institu
tionen steht dabei genauso zur Debatte wie die kritische Kompetenz der Geschichts
wissenschaft beim Umgang mit Digitalisaten.34
Neben der informationstechnischen Integrität von Daten gilt es auch die inhaltliche
Integrität zu überprüfen, das heißt, ob der Aussagegehalt von kopierten oder migrier
ten Datensätzen identisch ist. Kleinere Manipulationen auf der informationstechni
schen Ebene müssen nicht notgedrungen zu Veränderungen des dargestellten Inhalts
(der »Aussage«) führen. Es bietet sich vor allem bei der Reproduktion digitaler histo
rischer »Quellen« oder »Dokumente« an, hier statt von inhaltlicher besser von
Darstellungsintegrität zu reden. Dazu zählt auch das Problem, dass alle digitalen
Nutzungsumgebungen einen Einfluss auf die Darstellung bzw. digitale Rekonstruk
tion von Daten haben. Was als »digitale Quelle« auf dem Computerbildschirm oder
dem Smartphone abgebildet wird, ist immer das Resultat einer digitalen Recodierung
und Rekontextualisierung, die der Soft wie Hardware der Nutzertechnologien ein
geschrieben sind. »When working with digital objects it’s essential to remember that
what they look like on the screen is a performance«, so der Leiter der Abteilung
»Digital Content Management« der Library of Congress in Washington D.C., Trevor
Owens.35 InterfaceKritik ist darum ein zentraler Bestandteil der digitalen Hermeneu
tik; dies gilt besonders für die Arbeit mit Webarchiven.
Abgesehen von dem vor allem für zukünftige zeithistorische Forschungen essen
tiellen Problem, dass das Leitmedium des 21. Jahrhunderts bisher nur extrem lücken
haft archiviert wird, haben wir es bei Webarchiven mit einem speziellen digitalen
Konglomerat zu tun, welches Niels Brügger als »reborn digital medium« beschreibt.36
32 Carl Lagoze, Big Data, Data Integrity, and the Fracturing of the Control Zone, in: Big Data & Society
1 (2014), S. 1-11, hier S. 6.
33 Susanne Knaller, Ein Wort aus der Fremde. Geschichte und Theorie des Begriffs Authentizität, Heidelberg 2007, S. 22.
34 Eine interessante Plattform zur Diskussion des Verhältnisses zwischen Archiven und Geschichtswissenschaft im digitalen Zeitalter bietet das Projekt »Le goût de l’archive à l’ère numérique« von
Caroline Muller und Frédéric Clavert: <http://www.gout-numerique.net>.
35 Trevor Owens, Digital Sources & Digital Archives: The Evidentiary Basis of Digital History, in: David
Staley (Hg.), A Companion to Digital History, New York 2020 (in Vorbereitung); Manuskriptfassung
unter <https://doi.org/10.31235/osf.io/t5rdy>, dort S. 6.
36 Niels Brügger, The Archived Web. Doing History in the Digital Age, Cambridge 2018, S. 6.
UPDATE F ÜR D IE HE RME N E UTIK
Ein Screenshot der Website des Portals »Zeitgeschichte-online« vom 30. August 2004, wie
sie in der Ansicht der »Wayback Machine« (siehe Anm. 38) des privaten »Internet Archive«
»wiedergeboren« wird
Mit der Funktion »Timestamps« kann man sichtbar machen, wie die Algorithmen der »Wayback Machine« die Darstellung der Website rekonstruieren und dabei zu unterschiedlichen
Zeiten gemachte »Captures« nutzen, um die Website möglichst komplett erscheinen zu
lassen. Einige Bilder stammen dabei aus »Captures«, die mehr als zwei Jahre zeitlichen
Unterschied zum »Original« aufweisen, somit in keinster Weise eine integre und authentische Wiedergabe der Website bieten, wie sie am 30. August 2004 aussah. Selbst die Wiedergabe der originalen Website konnte je nach benutztem Browser unterschiedlich aussehen.
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Das World Wide Web ist ein Medium, das sich durch eine komplexe Struktur aus
zeichnet (sichtbare und unsichtbare Textebenen, Hyperlinks und fragmentierte Infor
mationseinheiten). Diese dynamische und relationale Architektur des WWW ist dafür
verantwortlich, dass wir es beim Wiederaufrufen archivierter Webpages mit digitalen
Wiedergeburten zu tun haben, deren informationstechnische, inhaltliche wie darstel
lerische Integrität auf multiple Weise korrumpiert sind. Eine archivierte und »wieder
geborene« Webpage ist immer das Resultat einer doppelten Transformation: Sowohl
die Archivierung (etwa durch die Benutzung von »Webcrawling Software«37) als auch
die Wiederaktivierung (zum Beispiel durch die »Wayback Machine«38) greifen aktiv in
die semantische Ordnung und visuelle Repräsentation der relationalen Datenbestände
ein und machen so klassische Prinzipien der Archivwissenschaft wie »respect des
fonds« und »respect de l’ordre« obsolet.39
3. Müssen zukünftige Historiker zu digitalen Forensikern
ausgebildet werden?
Trotz Massendigitalisierung, omnipräsenten digitalen Forschungsinfrastrukturen
und OnlineFachkommunikation unterscheiden sich die epistemologischen Kulturen
der Computer und der Geschichtswissenschaft früher wie heute fundamental; daran
dürfte sich auch in Zukunft wenig ändern. 40 Dennoch erfordert die hybride Praxis
archiv und geschichtswissenschaftlicher Arbeit ein Umdenken in der Ausbildung
zukünftiger Historiker und Archivare. Die heutige Lehre muss ein Bewusstsein für
die epistemologischen und methodologischen Implikationen schaffen, welche die
Herstellung und Nutzung (d.h. implizit auch KoKonstruktion und Manipulation)
digitaler Daten für die historische Forschung bedeuten. Das Arbeiten mit digitalen
Objekten erfordert ein Grundverständnis der dynamischen, relationalen und fragilen
37 Eine praxisorientierte Beschreibung dieser Technik und ihrer Implikationen für die digitale Quellenkritik findet sich bei Milligan, History in the Age of Abundance? (Anm. 8), Kapitel 6: »The (Practical)
Historian in the Age of Big Data«, S. 213-235.
38 Bei der »Wayback Machine« handelt es sich um eine Online-Suchmaschine für die Durchforstung
des »Internet Archive«, einer privat finanzierten Initiative zur Archivierung des World Wide Web, die
1996 gegründet wurde und derzeit über 400 Milliarden Webpages archiviert. Siehe <https://archive.
org/web/>. Vgl. auch Valérie Schafer, De la Wayback Machine à la bibliothèque: les différentes saveurs
des archives du Web…, in: La Gazette des archives 253 (2019) H. 1, URL: <http://orbilu.uni.lu/
bitstream/10993/39110/1/Article%20SCHAFER%20.pdf>.
39 Jefferson Bailey, Disrespect des Fonds: Rethinking Arrangement and Description in Born-Digital
Archives, in: Archive Journal, June 2013, URL: <https://www.archivejournal.net/essays/disrespectdes-fonds-rethinking-arrangement-and-description-in-born-digital-archives/>. Die dynamische und
relationale Struktur digitaler Datenbestände gilt aber nicht nur für Webarchive, sondern – aus forensischer Perspektive – auch für digitale Bestände im Offline-Modus. Siehe hierzu Thorsten Ries, The
rationale of the born-digital dossier génétique: Digital forensics and the writing process with examples
from the Thomas Kling Archive, in: Digital Scholarship in the Humanities 33 (2018), S. 391-424.
40 Siehe Kemman, Trading Zones of Digital History (Anm. 12).
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Screenshot der Lernplattform zur Quellenkritik im digitalen Zeitalter (»Ranke.2«)
am Luxembourg Centre for Contemporary and Digital History (C 2DH)
Natur von Daten als »epistemischen Objekten« der historischen Forschung. 41 Histori
ker müssen lernen, algorithmisch zu denken: »to think about how code might operate,
how digital objects are created and stored, and to realize the human dimensions behind
programming languages. Decisions are never neutral, and historians will need to be
equipped to evaluate the tools and platforms they use.« 42
Genau dies ist das Ziel der Lernplattform für digitale Quellenkritik »Ranke.2«, die
am Luxembourg Centre for Contemporary and Digital History entwickelt wurde und
kontinuierlich ausgebaut wird. 43 Die Plattform bietet Studierenden wie professionel
len Historikern die Möglichkeit, sich in unterschiedlichen thematischen Modulen
mit zentralen Fragen der geschichtswissenschaftlichen Datenkritik bzw. digitalen
Quellenkritik auseinanderzusetzen. Neben dem Ziel, Studierende und Lehrende für
41 Zum Konzept des »epistemischen Objekts« in der Wissenschaftsgeschichte siehe Hans-Jörg Rheinberger, Historische Epistemologie zur Einführung, Hamburg 2007.
42 Milligan, History in the Age of Abundance? (Anm. 8), S. 241.
43 Siehe <https://ranke2.uni.lu>.
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die wichtige Thematik zu sensibilisieren – was in allen Lektionen durch kurze, ani
mierte Videos und Quizformate geschieht –, sind problemorientierte Module für den
Unterrichtskontext im BA und MANiveau ausgelegt. Sie bieten Lehrmaterialien,
Übungen und Onlineverweise, welche die unterschiedlichen Dimensionen der digi
talen Quellenkritik am Beispiel unterschiedlicher Quellengattungen oder Datensätze
systematisch problematisieren. Zurzeit bietet die Lernplattform fünf thematische Mo
dule an; weitere sind in Arbeit. Diese sollen künftig vor allem in Zusammenarbeit
mit Partnern realisiert werden, die ihre spezifische Expertise (z.B. einer bestimmten
Quellengattung) einbringen können. 44
Sich als Historiker mit den Chancen und Herausforderungen der geschichts
wissenschaftlichen Datenkritik zu beschäftigen ist nicht länger eine Option, sondern
eine Notwendigkeit. Historiker müssen nicht zu digitalen Forensikern (im Sinne von
technischen Datenspezialisten) mutieren. 45 Aber ohne ein systematisches Trainieren
alter und neuer Kernkompetenzen im Sinne einer digitalen Hermeneutik lassen sich
Fragen von Evidenz und Transparenz der Wissenschaft auch in der Historiographie
nicht glaubhaft diskutieren; es geht somit um die Legitimität des Faches als kritische
Wissenschaft.
Prof. Dr. Andreas Fickers
Université du Luxembourg | Luxembourg Centre for Contemporary and Digital History
Maison des Sciences Humaines
11, Porte des Sciences | 4366 Esch-Belval | Luxembourg
E-Mail: andreas.fickers@uni.lu
44 Wer Interesse an der Mitentwicklung eines Lehrmoduls hat, möge sich bitte an den Autor wenden.
45 Zum Begriff der »digitalen Forensik« und seiner Bedeutung in der Geschichtswissenschaft siehe
Matthew Kirschenbaum/Richard Ovenden/Gabriela Redwine (with research assistance from Rachel
Donahue), Digital Forensics and Born-Digital Content in Cultural Heritage Collections. Council on
Library and Information Resources, Washington, D.C. 2010, URL: <https://www.clir.org/pubs/reports/
pub149/>.