Kuppeln und Türme
Der Suva-Neubau und das Hochhaus Schönbühl:
zwei Beispiele für die Kontroversen um die Luzerner Stadtsilhouette 1
Martino Stierli
Inhalt
Monumentalbauten im Luzerner Stadtbild
Erste Regungen eines Denkmalbewusstseins
Der Suva-Neubau 1912 –1915
Der Wettbewerb um den Neubau
Frühe Kritik
Streitpunkt Kuppel
Das Hochhaus Schönbühl 1956 –1968
Städtebau am Stadtrand
Auftritt Alvar Aaltos
Die Rolle des Innerschweizer Heimatschutzes
Landschaftsschützerische Aspekte
Ausblick
Abb. 1 Älteste Abbildung
von Luzern. Spiegelung der
seitenverkehrten Ansicht
aus der «Kronica von der loblichen Eydtgnoschaft … » von
Petermann Etterlin, um 1507.
Während Jahrhunderten präsentierte sich das Bild
der europäischen Stadt als eine geschlossene Einheit:
Eingefasst von einer Befestigungsmauer wurde die
kompakte städtische Bebauung nur von wenigen, auf
Fernwirkung ausgerichteten Sakralbauten überragt.
So ergibt sich auch in den Stadtdarstellungen von den
frühen Grafiken des 15. Jahrhunderts bis zu den Ansichten und Veduten des 18. Jahrhunderts ein immer
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wiederkehrendes Muster, auch wenn diese Darstellungen oftmals ebenso sehr auf mentalen und imaginierten Bildern beruhten wie auf tatsächlich gebauten
Orten (Abb. 1).2 Dies wandelte sich erst im Zeichen
der Industrialisierung in der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts. Die veränderten wirtschaftlichen und
gesellschaftlichen Verhältnisse forderten eine ganze
Reihe neuer profaner Bautypen, die fortan die Silhouetten der Städte massgeblich mitbestimmten, darunter etwa Regierungs- und Postgebäude, aber auch
Infrastrukturbauten wie Bahnhöfe und Bauten für
den Tourismus.
Monumentalbauten im Luzerner Stadtbild
In Luzern verhielt sich dies nicht anders. Für die
Fernwirkung waren hier besonders die an nördlicher
Hanglage situierten Museggtürme der Stadtmauer
sowie die Doppeltürme der ausserhalb des eigentlichen Befestigungsrings gelegenen Hofkirche lange
Zeit bestimmend (Abb. 2 ). Wie andernorts wurde
auch hier der Stadtumbau im Zeichen der neuen
1 Für die Unterstützung der Recherche zum Suva-Neubau bin ich
Markus Trüeb, Luzern, zu grossem Dank verpflichtet. Karin Gimmi, Zürich, hat mir auf grosszügige Weise Einblick in ihre Archivrecherchen zu Alvar Aalto und den Luzerner Hochhaus-Diskussionen gegeben. Auch ihr gebührt mein herzlicher Dank. – Eine
abweichende Fassung dieses Beitrags ist erschienen unter: Stierli
Martino, «Heimatschutz und Hochhäuser: kein Widerspruch», in:
Heimatschutz/Sauvegarde 103 ( 2008 ), Nr. 2, S. 6 –10.
2 Siehe u. a. Behringer Wolfgang/Roeck Bernd (Hg.), Das Bild der
Stadt in der Neuzeit 1400 –1800, München 1999.
1
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2
Zeit und der Anforderungen des Fremdenverkehrs
schnell betrieben.3 Seit Mitte des 19 . Jahrhunderts
etwa wurde der Abbruch der Stadtmauer systematisch vorangetrieben, bevor der Stadtrat 1864 beschloss, dem Raubbau an historischer Bausubstanz
Einhalt zu gebieten und die Museggmauer «als Zierde der Stadt fort[zu]erhalten».4 Argumentiert wurde dabei allerdings nicht mit denkmalpflegerischen
Gesichtspunkten, sondern vielmehr mit handfesten
wirtschaftlichen Interessen. Allmählich setzte sich das
Bewusstsein durch, dass ein intaktes Stadtbild dem
Fremdenverkehr in der Stadt förderlich sein würde.
Dieser Logik gehorchte nicht nur die Verschonung
der krönenden Stadtmauer, sondern in den folgenden Jahrzehnten auch etwa der Bau einer eigentlichen
städtischen Schaufassade zum See hin, die auf den
Blick der zahlenden Besucher ausgerichtet wurde.5
Zu den bestehenden historischen Baudenkmälern trat nun aber in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine ganze Reihe profaner Monumentalbauten hinzu, die das Weichbild der Stadt fortan
massgeblich mitbestimmten. Für die Tourismusstadt
Luzern charakteristisch war dabei die Vorreiterrolle
des Hotelbaus.6 Einen Anfang hatte bereits 1845 der
«Schweizerhof» gemacht, bevor es nach dem Bebauungsplan von 1865 zu einem eigentlichen Hotelbauboom am neu angelegten Schweizerhofquai sowie im
Bahnhofgebiet kam. Für das Stadtbild beziehungsweise die Fernwirkung von besonderer Bedeutung
war in diesem Zusammenhang, dass im letzten Viertel des Jahrhunderts mit der Dachkuppel ein höhenwirksames Bauglied zum prägenden Bauelement
arrivierte, das bis anhin dem Sakral- und – man denke an das Berner Bundeshaus ( 1894 –1902 ) – dem
politischen Repräsentationsbau vorbehalten gewesen
war. Für den Hotelbau fand sich dafür im 1875 am
Brienzersee eröffneten «Grand Hotel Giessbach» ein
erstes Vorbild. In Luzern machte 1882 die Klosterkuppel von Léon Higonnets Casino und Kursaal den
34
Auftakt. Mit gehöriger Verzögerung antwortete Arnold Cattani 1897 beim Erweiterungsbau des Hotels
Du Lac am Reussufer mit der zweiten grossen Hotelkuppel Luzerns, die das Stadtbild bis zum Abbruch
des Hotels 1948 entscheidend prägte. Einen näher
liegenden Bezugspunkt bildete für Cattani freilich
die mächtige Kuppel des neuen Bahnhofsgebäudes,
das 1896 in unmittelbarer Nachbarschaft fertig gestellt worden war (Abb. 3 ). Eine weitere, auf Fernwirkung angelegte Dachkuppel folgte 1906 mit dem
Hotel Palace (Abb. 4 ). Obschon all diese Bauten teils
massiv in das bestehende Stadtbild eingriffen, blieben
öffentliche Kontroversen dazu weitgehend aus. Beim
Bahnhofneubau hatte sich zwar erstmals Widerstand
geregt, als die neu sich formierenden «Heimatschutz»Kreise den Grossbau als «Emporkömmling ohne Rasse»7 anprangerten. Man störte sich jedoch weniger an
der Höhenentwicklung der Kuppel und ihrer Auswirkung auf die Stadtsilhouette als vielmehr am «internationalen Stil» dieser Architektur, der sie etwa mit
dem Portalgebäude der Pariser Weltausstellung von
1878 verband (Abb. 5 ).
Erste Regungen eines Denkmalbewusstseins
Vor dem Hintergrund der tiefgreifenden Folgen dieser neuen Monumentalbauten für das Luzerner Stadtbild mag es erstaunen, dass ästhetischer Nutzen und
Siehe insbesondere: Wyss Beat, Luzern, in: INSA . Inventar der
neueren Schweizer Architektur, Bd. 6, hg. von der Gesellschaft für
Schweizerische Kunstgeschichte, Bern 1991, S. 378 – 426 ; von Moos
Stanislaus, «Nicht Disneyland». Luzern zwischen Vandalismus,
Wiedergutmachung und Special Effects, in: ders., Nicht Disneyland. Und andere Aufsätze über Modernität und Nostalgie, Zürich
2004, S. 55 – 75.
4 Stadtratsprotokoll, 20. Oktober 1864, fol. 325 (zitiert nach: Wyss
1991, S. 384 ).
5 Vgl. Wyss 1991, S. 379.
6 Siehe Flückiger-Seiler Roland, Hotelträume zwischen Gletschern
und Palmen. Schweizer Tourismus und Hotelbau 1830 –1920, Baden 2001, S. 76 f., 135 –137, 145 –147 und passim.
7 Zitiert nach: Wyss 1991, S. 388.
3
Abb. 2 Panorama Luzerns
von der Fluhmatt auf Hofquartier, Museggmauer
und Fröschenburg. Tapetenmalerei von David Alois
Schmid aus Schwyz, zwischen
1854 und 1858 (Historisches
Museum Luzern, HMLU 9312 ).
Abb. 3 Luzern, linkes Seeufer
mit den Dachkuppeln des
Bahnhofs von 1896 und
des Hotels du Lac von 1897.
Aufnahme um 1897 von
Photoglob (Kant. Denkmalpflege, Luzern).
Abb. 4 Luzern, Grand Hotel
Palace. Erbaut von Heinrich
Meili-Wapf, 1904 – 06.
Abb. 5 Paris, Portalgebäude
der Weltausstellung, 1878.
3
Schaden dieser Bauten kaum Gegenstand öffentlicher Debatten gewesen zu sein scheinen. Ohnehin
war der Denkmalschutzgedanke – und damit auch
die Frage des Erhalts des historisch ererbten städtischen Weichbilds – bis zum Ende des 19 . Jahrhunderts hier wie anderswo kaum entwickelt. Bekanntlich war noch 1825 das spätgotische Hertensteinhaus
mit seinen Fresken von Hans Holbein d.Ä. und d.J.
abgebrochen worden. Zwar verpuffte der sich regende
4
Widerstand ungehört; immerhin aber entwickelten
sich in der Folge im Umfeld der Kunstgesellschaft erste Ansätze eines Denkmalschutzgedankens.8 In diesem
Zusammenhang ist auch die Entscheidung ein paar
Jahrzehnte später zu sehen, die Museggtürme zu erhalten, obschon hier wohl handfeste ökonomische
Aspekte im Zeichen des Fremdenverkehrs letztlich
den Ausschlag gaben. Erst um die Jahrhundertwende
begann sich mit der Formierung der HeimatschutzBewegung der Denkmalschutzgedanke in der öffentlichen Wahrnehmung und Diskussion fest zu etablieren; ein Bemühen, das 1913 mit einem Heimatschutzartikel im städtischen Baugesetz eine offizielle Würdigung erfuhr. Darin wurde die Exekutive ausdrücklich
verpflichtet, «die Ausführung von Bauten, die dem
Orts-, Strassen- oder Landschaftsbild, dem Flussoder Seeufer zur offenbaren Unzierde gereichen würden, zu untersagen.»9 Damit wurden nicht nur historische Einzelbauten, sondern ausdrücklich auch der
Schutz des ererbten Stadtbildes als Ganzes angesprochen und zum Gegenstand öffentlichen Interesses erklärt. Kurz zuvor, ab 1912, hatte sich die Debatte um
diese Frage an einem weiteren monumentalen Neubau entzündet, der das Luzerner Stadtbild fortan
massgeblich prägen sollte: der Hauptsitz der Schweizerischen Unfall-Versicherungsanstalt (Suva). Die
Auseinandersetzung um eine intakte Stadtsilhouette
lässt sich bis heute verfolgen, was weiter unten am
Beispiel eines prominenten Hochhausprojekts aus
den 1960er-Jahren exemplarisch gezeigt wird.
Vgl. Wyss 1991, S. 386.
Baugesetz für die Stadt Luzern, Art. 6 (Gesetze, Dekrete und Verordnungen für den Kanton Luzern, Bd. 9, S. 489 ; zitiert nach: Wyss
1991, S. 503 ).
8
9
5
35
Der Suva-Neubau 1912 – 1915
Für die Frage des Stadtbildschutzes zu Beginn des 20.
Jahrhunderts war der geplante Neubau des Hauptsitzes der Suva in Luzern (Abb. 2 und 7 ) ein eigentlicher Kristallisationspunkt, kam er doch einem massiven Eingriff in die bestehende Stadtsilhouette gleich.
Nachdem auf Betreiben des Bundesrats bereits 1890
eine Kranken- und Unfallversicherung in der Verfassung verankert worden war, nahm das Stimmvolk
1912 im zweiten Anlauf ein entsprechendes Bundesgesetz an, das zur Gründung der Suva führte.10 Provisorisch nahm die Anstalt ihren Betrieb zunächst
von Zürich aus auf, bevor man im Oktober 1912 – im
Sinne einer vorübergehenden Lösung – in das Luzerner Zunfthaus zu Schneidern übersiedelte. Luzern
hatte nur unter grösstem Einsatz seine Interessen auf
nationaler Ebene behaupten können, nachdem der
Sitz des Schweizerischen Landesmuseums an Zürich
gegangen war. Der Hauptsitz der Suva stellte somit
eine Art Entschädigung dar. Hatte sich Luzern gegen
konkurrierende Städte einmal durchgesetzt, entbrannte an der Reuss zwischen den einzelnen Quartiervereinen bald ein Wettstreit um den künftigen
Standort des neu zu errichtenden Grossbaus. Innert
kurzer Zeit trafen bei der Suva nicht weniger als 17
Offerten für mögliche Grundstücke und Liegenschaften ein.11 Offenbar erhoffte man sich von der neuen
Bundesanstalt allenthalben nicht nur einen Prestigegewinn, sondern auch handfeste ökonomische Vorteile für das eigene Quartier.
Nach eingehender Prüfung der eingereichten
Vorschläge verblieben zwei Bauplätze in der engeren
Auswahl: das Gelände des barocken Landsitzes Fluh-
7
36
6
matt sowie das Areal des ehemaligen Gaswerkes am
Standort der heutigen Zentral- und Hochschulbibliothek. Die Suva gab daraufhin ein Gutachten in
Auftrag, in dem sich der Verfasser, der Zürcher Architekt Robert Weideli, für die Fluhmatt aussprach,
da diese mit ihrem «dominierenden Plateau […] für
den Neubau eines öffentlichen Gebäudes als ideal bezeichnet werden [dürfe]». Unter Verweis auf seine
Heimatstadt fügte er dem hinzu: «Ein Monumentalgebäude auf der Fluhmatt errichtet, kann für Luzern
im Stadtbilde eine ähnliche Rolle spielen wie das
Polytechnikum in Zürich.»12 (Abb. 6 ) Es ist bezeichVgl. dazu und im Folgenden: Rüesch Edgar, Das Ringen um den
Standort der SUVA , in: Hochwacht und Hof. 100 Jahre Quartierverein Hochwacht Luzern. Beiträge zur Geschichte eines stadtluzernischen Quartiers, Luzern 1975, S. 159 –166 ; Brunner Thomas,
Schweizerische Unfallversicherungsanstalt SUVA . Die Baugeschichte des Hauptsitzes auf der Fluhmatt Luzern, erstellt im Auftrag der
Bauabteilung der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt, Luzern o. J. (Typoskript Suva-Archiv Luzern).
11 Eine Liste sämtlicher an die Suva gerichteter Angebote findet
sich bei Brunner [o. J.], S. 7.
12 Zitiert nach: Brunner [o. J.], S. 9 f.
10
Abb. 6 Zürich, Hauptbahnhof
mit Gottfried Sempers Polytechnikum im Hintergrund.
Aufnahme 1882 (Baugeschichtliches Archiv Zürich).
Abb. 7 Luzern, Hauptsitz der
Suva vor Alpenpanorama.
Offizielle Festpostkarte zum
XIII . Schweiz. Arbeiter-Sängerfest in Luzern, 1925, vom
Emil-Goetz-Kunstverlag ( SALU ,
F2 a/Fluhmattstrasse 1).
Abb. 8 Zürich, Kollegiengebäude (Hauptgebäude)
der Universität. Erbaut von
Karl Moser, 1911–14 (Archiv
gta, ETH Zürich).
Abb. 9 Luzern, Wettbewerbsprojekt für den Suva-Neubau, von Otto und Werner
Pfister (Schweizerische
Bauzeitung, 3. Januar 1914 ).
8
nend, dass der Gutachter hier also mit dem Stadtprospekt und damit mit einem ästhetischen Gesichtspunkt argumentierte. Mit Sempers Polytechnikum
und mehr noch mit der soeben fertig gestellten Universität hatte Zürich jüngst eine über der Altstadt
thronende Stadtkrone erhalten (Abb. 8 ), und Luzern
sollte mit dem Suva-Neubau die Gelegenheit erhalten, es der Limmatstadt im Wettstreit der Vororte der
alten Eidgenossenschaft gleich zu tun. Am 1. Oktober
1913 erwarb die Suva das Fluhmatt-Areal mit knapp
15’000 Quadratmetern Land, zwei Wohn- und einem
Nebengebäude sowie einer Scheune für Fr. 425’000.–.
Der Wettbewerb um den Neubau
Der nächste Schritt bestand darin, für den geplanten
Neubau, der 5000 Quadratmeter Bruttofläche und
Platz für 145 Beamte bieten sollte, einen geeigneten
Architekten zu finden. Aus dem von der Bauherrschaft 1913 veranstalteten Wettbewerb resultierten
dreissig Projekte, aus denen die Jury das Projekt
«Wahrzeichen» der Gebrüder Otto und Werner Pfister aus Zürich zum Sieger kürte und es zur Ausführung empfahl (Abb. 9 ). Nachdem am 30. April 1914
die Baubewilligung erteilt worden war, wurde der
Bau mit einigen Modifikationen gegenüber der ursprünglichen Eingabe in Angriff genommen und
nach weniger als zwei Jahren Bauzeit im Dezember
1915 bezogen.
Das Wettbewerbsprogramm und die in der
«Schweizerischen Bauzeitung» publizierten Überlegungen des Preisgerichts erlauben es, Rückschlüsse
auf den damaligen Stand der Architekturdiskussion
zu ziehen. Die im Vorfeld geäusserten Erwartungen
an den Neubau als Sitz einer Bundesanstalt liessen
die Forderung nach einer monumentalen und repräsentativen Anlage erwarten. Im Protokoll der Sitzung
des Verwaltungsrats der Suva vom 28./ 29. Mai 1914
ist zu dieser Frage indes zu lesen: «Die Instanzen sind
der Meinung, dass ein der Aufgabe & Zweckbestimmung entsprechendes, aber nicht luxuriöses oder palastähnliches Gebäude erstellt werden sollte […]. Für
die Disposition des Baues wird im Wesentlichen nur
die zweckmässige, Sonne, Licht und Luft zugängliche
Gruppierung der Nutzräume und ihre gute Verbindung unter sich massgebend sein; auch der Ratssaal
wird nicht zwingend einen entscheidenden Einfluss
auf die Gestaltung des Hauses beanspruchen.»13 Licht,
Luft und Sonne und ein Bekenntnis zur Funktionalität der räumlichen Anordnung – beinahe fühlt man
sich hier an die Grundsätze des Neuen Bauens erinnert. Aus heutiger Sicht mag daher erstaunen, dass
ein so offenkundig auf Fernwirkung programmierter
Entwurf wie derjenige der Gebrüder Pfister das Rennen machte. Die Jury jedoch erkannte darin keinen
Widerspruch – ganz im Gegenteil. In ihrem Bericht
begründete sie ihre Wahl unter anderem mit folgenden Worten: «Ferner wird grosses Gewicht auf die
Bestimmung des Programms gelegt, dass möglichst
wenig Räume der Sonne entbehren. Auch wird kurzen Verbindungen der Räume unter sich und der
Möglichkeit der Abtauschung derselben grosse Wichtigkeit beigemessen. Erwünscht wäre eine weitgehende Auflösung der Fensterwand mittelst schmaler
Pfeiler, um möglichste Freiheit in der Disponierung
und Möblierung der Räume zu sichern.»14 Immerhin
13
14
Zitiert nach: Brunner [o. J.], S. 11.
Schweizerische Bauzeitung 63 ( 3.1.1914 ), S. 7.
9
37
Abb. 10 Luzern, Grundriss
des Wettbewerbsprojekts
für den Suva-Neubau, von
Otto und Werner Pfister, 1913
( SALU , B3.31/ A1.51/1914 ).
Abb. 11 Luzern, modifiziertes
Wettbewerbsprojekt für den
Suva-Neubau, von Otto und
Werner Pfister. Projektmontage von Arnold Bringolf, April
1914 ( SALU , F2a/Fluhmattstrasse 1).
Abb. 12 Luzern, Wettbewerbsprojekt für den SuvaNeubau. Ansicht der Stirnseite mit Lift vom Niveau der
Zürichstrasse, von Otto und
Werner Pfister (Schweizerische Bauzeitung, 3. Januar
1914 ).
Abb. 13 Hammetschwandlift
am Bürgenstock. Ansichtskarte, von Emil Goetz, Luzern,
ca. 1905 (Verkehrshaus der
Schweiz, Luzern, VA - 47413 ).
10
11
nennt der Jurybericht dann doch noch die «für das
Stadtbild wertvolle Lage und Gestaltung» des Projekts als weiteres für die Wahl ausschlaggebendes Kriterium.15
Der Entwurf der Gebrüder Pfister, den die Jury
mit diesen Worten kommentierte, sah eine Vierflügelanlage vor, die sich um einen zentralen Innenhof
gruppierte (Abb. 10 ). Mit dieser Disposition lehnten
38
sich die Architekten typologisch an den Klosterbau
mit Kreuzgang oder an barocke Spitalbauten an, bei
denen sich häufig Kuppeln finden.16 Die Büroräume
sind allesamt einbündig angeordnet und weisen,
dem Gebot nach grösstmöglicher Besonnung gehorchend, zu den Aussenseiten des Gebäudes hin. Bestimmendes Element des Entwurfs ist zweifellos der
mächtige turmartige Abschluss des Gebäudes, der
12
von einer nicht minder imposanten Kuppel bekrönt
wird (Abb. 11). Die Wirkung dieses dominanten Elements im Stadtbild unterstrichen die Architekten in
ihrem Entwurf, indem sie den Baukörper ganz an den
östlichen Rand der Liegenschaft rückten (Abb. 12 ).
Der Turm erhebt sich im Projekt direkt an der Felswand zum Löwenplatz und erreicht dadurch eine ins
Dramatische gesteigerte Betonung der Vertikalen.
Die Erschliessung vom Strassenniveau sollte
durch einen Liftschacht erfolgen, der der Felswand
vorgelagert war und dem Benutzer somit einen spektakulären Blick auf die zu Füssen liegende Stadt gewährt hätte. Vergleichbar kühne Lösungen hatte es
im näheren Umfeld bekanntlich schon früher gegeben; die Standseilbahn zum Château Gütsch (1884 )
gehört ebenso dazu wie der Hammetschwandlift am
Bürgenstock ( 1905 ; Abb. 13 ). Die Architekten rechneten ganz bewusst mit der visuellen Verführungskraft ihres Projekts und kommentierten dazu in der
Beschreibung ihres Wettbewerbsbeitrags: «Um die
ganze Gebäudeanlage wirksam & markant zu gestalten, ist der turmartige Gebäudekörper über die Strasse gestellt.»17 Abgesehen von der spektakulären Inszenierung des Stadtbildes von oben besass die von
den Architekten vorgeschlagene Disposition weitere
Vorzüge. Durch die Situierung des Neubaus an der
Felskante konnte der Abbruch der bestehenden Barockbauten auf der Fluhmatt umgangen und die lineare Erweiterung der Anlage zum rückwärtigen Bereich des Geländes in späteren Bauetappen offen gehalten werden.
Frühe Kritik
Es waren nicht primär funktionale oder stilistische
Gesichtspunkte, die die weitere Diskussion um das
Projekt prägten, sondern der geplante Turm mitsamt
seiner mächtigen Kuppel und deren Auswirkungen
auf das Stadtbild. Bereits bei der Veröffentlichung
der Wettbewerbsergebnisse am 3. Januar 1914 waren
in der «Schweizerischen Bauzeitung» diesbezüglich
kritische Stimmen zu vernehmen: «Ganz unbeteiligte Architekten von anerkannter Urteilsfähigkeit
sind der Ansicht, das schöne Stadtbild von Luzern
mit seinen altehrwürdigen Wahrzeichen der Museggtürme und der Hofkirche bedürfe gar keiner neuen
Dominante, es sei im Gegenteil ein Gebot des Taktes,
sich dem Bestehenden in Bescheidenheit und Mässigung unterzuordnen durch möglichst unauffällige
Anordnung der Baumassen am westlichen Teil des
für offene Bauweise bestimmten grünen Hügels der
Fluhmatt».18 Das am selben Ort abgedruckte Urteil
des Preisgerichts hob demgegenüber, wie erwähnt,
die gute Situierung und Gestaltung des Baus hervor
und relativierte einzig in Bezug auf die Kuppel, dass
deren Ausgestaltung «noch des weitern Studiums»
bedürfe.19
Die in der Fachpresse angeführte Kritik am Pfister-Projekt brachte lediglich auf den Punkt, was vorab durch den lokalen Blätterwald gerauscht war. Insbesondere in der bürgerlichen Presse hatten sich
Stimmen zu Wort gemeldet, die dem zweitplatzierten
Projekt der Berner Architekten Joss & Klauser den
Vorzug gaben (Abb. 14 ), und zwar unter ausdrücklichem Verweis auf das (angeblich) bedrohte Stadtbild. So war im «Vaterland» vom 2. Dezember 1913
zur Wettbewerbseingabe der Gebrüder Pfister zu lesen: «Das beigegebene Übersichtssbild vom See aus
macht in der Tat Eindruck. Doch erscheint der massige Turm allzu protzig. Von der Zürichstraße aus
aber muß er geradezu erdrückend wirken.» Und in
Bezug auf die Situierung des Baus ganz im Osten des
zur Verfügung stehenden Geländes spricht die gleiche Quelle von einem «Mangel an Rücksichtnahme
auf die nähere Umgebung […]. Man vergleiche z.B.
Vgl. dazu auch das Urteil Dominique von Burgs in ihrer Dissertation zu den Gebrüdern Pfister: «Mit Ausnahme des Suva-Baus
in Luzern ( 1914 /15 ) standen die verwaltungstechnischen und administrativen Arbeitsabläufe stets im Zentrum der Planungen»
(von Burg Dominique, Gebrüder Pfister. Architektur für Zürich
1907– 1950, Sulgen/Zürich 2000, S. 206 ).
16 Für den Hinweis auf die barocke Spitalarchitektur danke ich
Frau Dr. Claudia Hermann herzlich.
17 Zitiert nach: Brunner [o. J.], S. 14 f.
18 Schweizerische Bauzeitung 63 ( 3. 1.1914 ), S. 5. – Es ist interessant, dass die «Schweizerische Bauzeitung» die Ergebnisse des Wettbewerbs direkt neben einem Beitrag Karl Ernst Osthausens zur
«Entwicklung des künstlerischen Sehens im Städtebau» veröffentlichte, fast so, als sollten die abgedruckten Abbildungen zu den
Wettbewerbsprojekten den theoretischen Text Osthausens illustrieren (siehe Schweizerische Bauzeitung 63 [ 17.1.1914 ], S. 32 ).
19 Schweizerische Bauzeitung 63 ( 3.1.1914 ), S. 7.
15
13
39
das zweitprämiierte Projekt, wie sich das gewiß auch
monumentale Gebäude an das Gelände anschmiegt,
wie es die Umgebung und besonders das künftige
hübscheste Villenquartier Luzern neben sich auch
noch zur Geltung kommen lässt, während das hohe
Gebäude des erstpämiierten Projekts den landschaftlichen Reiz des so malerisch hinter der Musegg ansteigenden Allenwindenhügels wie mit einem Schlag
vernichtet.»20 (Abb. 15 ).
15
Während im Vorfeld des Wettbewerbs die verschiedenen Quartiere noch eifrig um den künftigen
Suva-Hauptsitz gebuhlt hatten, stiess das Siegerprojekt nun bei den direkt Betroffenen, denen der geplante Turm die Aussicht auf Stadt und Landschaft
16
40
14
faktisch versperrte, auf deutlich weniger Gegenliebe.
Der Protest kam anlässlich einer Versammlung des
Quartiervereins Hochwacht am 13. Dezember 1914
zum Ausdruck.21 Diese Entwicklung kommentierte
die sozialdemokratische Tageszeitung «Der Demokrat» nicht ohne Häme. Ohne eindeutig für das Pfister-Projekt Stellung zu beziehen, warf der Artikel den
«bedrohten Villenbesitzern» eine widersprüchliche
Haltung und überdies einen fehlenden Sinn für die
übergeordneten Interessen der gesamten Stadt vor.22
Allen Versuchen der Gegner zum Trotz, die Bauherrschaft zu beeinflussen, entschied sich der Verwaltungsrat der Suva in seiner Sitzung vom 21./ 22.
Januar 1914 für die Ausführung des erstprämierten
Projekts der Gebrüder Pfister. Allerdings erzwang der
geologisch instabile Untergrund an der Felskante die
Verschiebung des gesamten Bauprojekts um zwölf
Meter nach Westen. Der Turm sollte nun nicht mehr
direkt über, sondern neben der Fluhmattstrasse zu
liegen kommen. (Abb. 16 ). Diese Verschiebung Richtung Westen bedingte allerdings den Abbruch des barocken Landsitzes Fluhmatt. Das «Luzerner Tagblatt»
bemerkte dazu, diese Änderung werde «von den Be20
21
22
Vaterland, 2.12.1913.
Der Demokrat, 14. Dezember 1913.
Der Demokrat, 15. Dezember 1913.
Abb. 14 Luzern, Wettbewerbsprojekt für den SuvaNeubau, von Joss & Klausner
Architekten (Schweizerische
Bauzeitung, 3. Januar 1914 ).
Abb. 15 Luzern, Wettbewerbsprojekt für den SuvaNeubau, von Otto und Werner
Pfister. Projektmontage von
Arnold Bringolf, 22. April 1914
( SALU , F2a/Fluhmattstrasse 1).
Abb. 16 Luzern, überarbeitetes Wettbewerbsprojekt für den Suva-Neubau mit gegenüber der
Fluhmattstrasse zurückversetztem Baukörper, von
Otto und Werner Pfister, 1914
( SALU , F2a/Fluhmattstrasse 1).
Abb. 17 Luzern, Suva-Hauptsitz. Erbaut 1914 /15 von Otto
und Werner Pfister. Aufnahme
von Altstadt aus, von Josef
Brun, Luzern, 1990 ( SALU , F2a/
Fluhmattstrasse 1 ).
17
wohnern der Fluhmattstraße und des Fluhmattquartiers […] begrüßt werden, da ihnen dadurch wenigstens nicht alle Aussicht verbaut wird.»23 Denkmalpflegerische Bedenken waren offenbar keine zu gewärtigen. Trotz dieses erzwungenen Eingeständnisses
in Bezug auf die Situierung des Turmbaus ging die
Kampagne einzelner Quartierbewohner gegen das
Pfister-Projekt vorerst weiter; sie hofften darauf, die
Baubewilligung durch den Stadtrat noch verhindern
zu können. Im «Luzerner Tages-Anzeiger» vom 24.
April 1914 wurde ein Schreiben abgedruckt, in dem
der Verfasser argumentierte, der turmartige Baukörper mit einer Höhe von 26.5 Metern verstosse in
mehrfacher Hinsicht gegen das Baugesetz. Argumentiert wurde neuerlich mit dem Stadtbild: «Man
zeichne […] das projektierte Gebäude mit richtigen
Verhältnissen in ein Stadtbild ein! Sofort wird klar,
daß der projektierte Bau eine entschiedene Störung
des frontalen Stadtbildes darstellt. Musegg und Hof
werden im Bilde zurückgedrängt, das Quartier Fluhmatt-Zürichstraße wird vorgeschoben, und zwar in
einer durchaus unharmonischen, unausgeglichenen
Weise. Man betrachte sodann das Projekt vom Löwenplatz aus! Welch’ Ungetüm türmt sich da über der Zürichstraße auf, wie übermächtig lastet der sog. Turm
auf den Häusern des am Fuße des Felsens liegenden Stadtteils!» Abschliessend appellierte der Autor
des Briefs an den Heimatschutz: «Uns scheint, es sei
Aufgabe der Heimatschutzvereinigung und des Verschönerungsvereins, das Projekt einer nähern Prü-
fung zu unterziehen und mit Energie für die Wahrung
des Stadt-, Landschafts- und Straßenbildes einzutreten.»24 Die gleiche Zeigung zitierte darauf am folgenden Tag aus einem Vortrag des Präsidenten des Quartiervereins Hochwacht: «Auch vom Standpunkte des
Heimatschutzes aus muß dieser massige Kuppelbau
verworfen werden, da nach Ansicht kompetenter
Fachmänner durch diesen das Landschaftsbild verhunzt werde.»25
Streitpunkt Kuppel
Aus diesem Grund sah sich der Stadtrat genötigt, in
Zusammenhang mit der Baubewilligung auf die Diskussion um Kuppel und Turm einzutreten (Abb. 17 ).
In der offiziellen Stellungnahme wurde nun aber die
neue Dominante im Stadtbild ausdrücklich begrüsst:
«In der Eingabe des Quartiervereins Hochwacht wird
[…] bemerkt, die Kuppel sei nicht ‹notwendig›. Es
liegt auf der Hand, daß diese Auffassung nur in sehr
relativem Sinne Recht behalten kann. Schließlich
kann aus Utilitätsgründen fast jedes Bauwerk der
architektonischen Ausschmückung und reichen Ausgestaltung entbehren, wie gerade bei den […] Hotelbauten die Kuppeln nicht absolut ‹notwendig› gewesen wären, auch nicht beim Bahnhof. Und doch
dienten gerade diese Kuppeln einem bestimmten
Zwecke: sie mußten den Bauten den Charakter des
23
24
25
Luzerner Tagblatt, 2. Januar 1914.
Luzerner Tages-Anzeiger, 24. April 1914.
Luzerner Tages-Anzeiger, 25. April 1914.
41
19
18
Monumentalen verleihen [ … ]. Luzern wird es zu
schätzen wissen, wenn für die Anstalt ein Gebäude
geschaffen wird, das auch in seiner Erscheinung ein
würdiges Denkmal eidgenössischen Brudersinns darstellt und nebenbei zur Zierde der Stadt gereicht.»26
Tatsächlich hatten in Luzern, wie die angeführten
Beispiele gezeigt haben, bereits verschiedene Architekten die Kuppel zur monumentalen Überhöhung
öffentlicher bzw. öffentlich zugänglicher Bauten eingesetzt. Mit ihrer Höhe, insbesondere aber mit ihrem
massigen Turm-Unterbau indes übertraf die PfisterKuppel alles bisher in Luzern Dagewesene (Abb. 18 ).
Dennoch erschien dem Stadtrat die Pfister’sche Lösung als durchaus angemessen, und zwar spezifisch
als symbolischer Ausdruck «eidgenössischen Brudersinns». Spätestens mit dem Bau des Mittelteils des
Bundeshauses zwischen 1894 und 1902 war die Kuppel zu einem architektonischen Nationalsymbol der
Schweiz geworden, und als solches fand sie bekanntlich noch 1991 in Mario Bottas Festzelt zur 700-JahrFeier der Eidgenossenschaft einen späten, nur mehr
zeichenhaft-ephemeren Nachhall (Abb. 19 ).27
Der Bezug zur schweizerischen Nationalikonografie muss allerdings insofern relativiert werden, als
für den Suva-Bau mit seiner charakteristischen Verbindung von Turmform und Kuppel das wenig zuvor fertig gestellte Kollegiengebäude (Hauptgebäude; Abb. 8 ) der Universität Zürich von Karl Moser als
direktes Vorbild gedient haben dürfte, zumal Otto
Pfister von 1904 bis 1906 in Mosers Karlsruher Archi42
tekturbüro gearbeitet hatte. Zweifellos strebten die
Gebrüder Pfister mit ihrem Luzerner Projekt eine vergleichbare Wirkung an.28
Trotz ihres Bezugs zur nationalen Architektursymbolik blieb die Kuppel umstritten. Der Forderung
des Wettbewerbs-Preisgerichts entsprechend, wurde
sie während der Bauphase abgeändert, dabei aber
sogar noch leicht erhöht. Überdies war ihr im ursprünglichen Projekt eine Kuppelfigur aufgesetzt. In
der endgültigen Ausführung umfasst der entstandene Kuppelraum ein ungewöhnlich grosses Volumen,
beeindruckt aber auch durch die aufwändige Holzkonstruktion mit gebogenen Bindern (Abb. 20 ). In
der Nachkriegszeit schien die Kuppel endgültig der
Ungnade anheim zu fallen. Nach der Fertigstellung
des Erweiterungsbaus von August Boyer ( 1953 – 55 )
beantragte ein Verwaltungsratsmitglied 1955 , die
Entfernung der Kuppel zu prüfen, da diese das Landschaftsbild verunstalte. In Zusammenhang mit dem
Neubau Max Zieglers ( 1963 – 68 ) avancierte der profilierte Kunsthistoriker und Preisrichter Linus Birchler zum ausgesprochenen Gegner der Kuppel. Die
Anlehnung an die Universität Zürich erschien ihm
aus aktueller Sicht als Fehlgriff, da der Turm die
Stadtsilhouette in ungebührlicher Weise beherrsche,
weswegen er alternativ den Bau einer Aussichtsterrasse vorschlug. In Anspielung an die nationale Symbolik prägte Birchler auch die wenig schmeichelhafte
Formel von Luzerns «missratenem Kapitol». Gegenposition bezog Hanspeter Rebsamen 1965 in einem
Artikel in der «Schweizerischen Bauzeitung», in dem
Zitiert nach: Rüesch 1975, S. 166 ; Brunner [o. J.], S. 29 f.
Vgl. von Moos 2004, S. 125 –127, 134.
28 Diese Auffassung wird von Dominique von Burg geteilt: «Die
für das Frühwerk von Curjel & Moser besondere Variierung des
Jugendstils in Form von schweren, abgewalmten Dächern, grob
bearbeiteten Hausteinen und etwas aufgedunsen wirkenden Formen, wie sie am Universitätsgebäude ( 1911 –1914 ) von Karl Moser
in Erscheinung tritt, findet im Frühwerk der Gebrüder Pfister einen Widerhall […] am Suva-Gebäude» (von Burg 2000, S. 71).
26
27
Abb. 18 Vergleichende
Kuppelstudien zum SuvaNeubau in Luzern, von Otto
und Werner Pfister, 1914
( SALU , B3.31/ A83 ).
Abb. 19 Bellinzona, Festzelt
von Mario Botta. Aufnahme
1991 anlässlich der 700-JahrFeier der Schweizerischen Eidgenossenschaft im äusseren
Hof des Castelgrande.
mit längsrechteckigem Grundriss – projektierte. Aufgrund seiner Lage ging es dabei nicht so sehr um
die Frage der Einpassung in das historische Stadtbild
und die bestehende Silhouette, als vielmehr um landschaftsschützerische Aspekte. Dies umso mehr, als
das Wohnhochhaus auf einem Grundstück in unmittelbarer Nähe zum Ufer des touristisch wertvollen Vierwaldstättersees gebaut werden sollte.29
Abb. 20 Luzern, Kuppelkonstruktion des Suva-Hauptsitzes. 1914 /15 von Otto und
Werner Pfister. Aufnahme
Niklaus Hinder, Luzern, 1915
( SALU , F2a/Fluhmattstrasse 1).
Abb. 21 Übersichtsplan
der Gemeinde Luzern, 1933
( SALU , E2b/ 007 ).
Städtebau am Stadtrand
20
er den Suva-Hauptsitz mitsamt Kuppel als ein Stück
städtebaulicher und architektonischer Tradition Luzerns wertete. Heute kann das Gebäude als Repräsentant des «nationalen Bauens» um 1910 gelten.
Das Hochhaus Schönbühl 1956 –1968
Die Diskussionen um den Suva-Neubau wiederholten sich einige Jahrzehnte später unter veränderten
Vorzeichen, als der weltbekannte finnische Architekt
Alvar Aalto in den frühen 1960er-Jahren für das peripher gelegene Schönbühl-Quartier ein Scheibenhochhaus – im Unterschied zu einem Turmhochhaus
Die Liegenschaft Schönbühl, südlich des Tribschenhorns noch auf Stadtluzerner Gebiet gelegen, befand
sich seit Ende des 17. Jahrhunderts mit einem Unterbruch von rund neunzig Jahren ständig im Besitz der
Familie von Schumacher, der das Anwesen als Sommerlandsitz diente. Zum Gegenstand städtebaulicher Planung wurde das Areal erstmals 1933 im so
genannten «Übersichtsplan der Gemeinde Luzern»
(Abb. 21). Darin wurden das Schönbühl und die angrenzenden Gebiete als Reservezone im Sinne eines
Grüngürtels ausgewiesen, die frühestens ab 1970 zur
Überbauung freigegeben werden sollten. Schon bald
aber wurde die weitsichtige Planung von der rasanten Entwicklung überholt: Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte auch südlich des Tribschenhorns eine
rege Bautätigkeit ein, und das vormals ländliche Gebiet machte mehr und mehr einer städtischen Besiedlung Platz. Nachdem bereits 1946 ein erster Bebauungsplan das Grundstück miteinbezogen hatte,
legte die Besitzerfamilie 1954 einen eigenen Vorschlag
vor. Die Familie von Schumacher verfolgte dabei das
Ziel, das Schönbühl nicht der spekulativen Bebauung
zu opfern, sondern eine einheitliche und qualitativ
hochwertige Gesamtüberbauung zu realisieren.
Wenig später präsentierten die Architekten Otto
und Rudolf Schärli einen Entwurf für das benachbarte Matthof-Grundstück nach dem Muster der
«differenzierten Bebauung», die in Architektenkreisen in diesen Jahren propagiert wurde. Dementsprechend sah ihr Bebauungsprojekt eine Reihe unterschiedlicher Haustypen vor und brachte erstmals die
Idee eines zwölfgeschossigen Hochhauses ins Spiel.
Für das Schönbühl präsentierten die Architekten einen vergleichbaren Entwurf, der jedoch nicht weiter
verfolgt wurde (Abb. 22 ). Von nun an aber stand an
dieser Stelle der Bau eines (Scheiben-)Hochhauses
zur Diskussion. Dazu entspann sich am 17. Dezember 1956 im städtischen Parlament eine hitzige Debatte, in der landschaftsschützerische Aspekte im
Vordergrund standen. Während kritische Stimmen
Die Baugeschichte des Aalto-Hochhauses sowie die Luzerner
Hochhaus-Diskussionen rund um das Schönbühl sind exemplarisch aufgearbeitet in: Gimmi Karin, Schönbühl, Aalto und Luzern, in: Jokinen Teppo/Maurer Bruno (Hg.), Alvar Aalto und die
Schweiz, Zürich 1998, S. 135 –155. – Zum Matthofgebiet vgl. Mugglin Beat, Die Bodenpolitik der Stadt Luzern (Beiträge zur Luzerner
Stadtgeschichte, Bd. 9 ), Luzern 1993, S. 259 – 267.
29
21
43
22
von einem «Bauklotz» sprachen, der das Panorama
beeinträchtigen würde, argumentierten die Befürworter mit den Interessen des für Luzern vitalen
Fremdenverkehrs und wiesen darauf hin, dass Feriengäste durchaus auch an moderner Architektur Gefallen fänden.30 Den kritischen Stimmen zum Trotz
stellte sich der Quartierverein Unterlachen-Tribschen im Januar 1957 mehrheitlich hinter den Bebauungsplan. Im selben Jahr versuchte die Luzerner
Sektion des Schweizerischen Werkbunds unter der
Führung des Kunsthistorikers Xaver von Moos mehrmals vergeblich, den Architekten Werner M. Moser
für ein Referat zum Thema Hochhaus und Städtebau
nach Luzern zu holen. Moser gehörte zu den wichtigsten Verfechtern der so genannt «differenzierten
Bebauung» in der Schweiz und hatte mit einem 1949
publizierten Artikel die Diskussion um das Hochhaus im städtischen Wohnquartier landesweit aufs
Tapet gebracht.31 Darin stellte er mit seinem Konzept der Mischsiedlung im städtischen Randgebiet
eine Alternative sowohl zur grassierenden «Verhüselung» als auch zur als monoton empfundenen Zeilenbauweise zur Diskussion. Sein Konzept der Misch-
23
44
siedlung sah das Nebeneinander einer ganzen Reihe
verschiedener Haustypen vom Reihenhaus bis zum
Turmhochhaus vor, wie es etwa in einem Projekt von
Haefeli, Moser, Steiger für eine Siedlung in Prilly
bei Lausanne zur Anwendung kam (Abb. 23 ). Der
Schärli-Plan und die weiteren Planungen für das
Schönbühl waren zweifelsohne an diesem Konzept
orientiert.
In eine nächste Phase trat die Diskussion, als
die Familie von Schumacher in Absprache mit den
Behörden 1961 einen privaten Wettbewerb unter
fünf Architekturbüros veranstaltete. Die Urheber
der beiden bestplatzierten Projekte, Max Wandeler
und Eduard Renggli, wurden in der Folge mit der
gemeinsamen Weiterentwicklung ihrer Ideen beauftragt. Der daraus resultierende Bebauungsplan wurde 1963 genehmigt. Die Presse war voll des Lobs. Das
«Luzerner Tagblatt» etwa titelte am 3. Mai 1963 : «Die
Parksiedlung Schönbühl ist gut geplant» und hob
insbesondere die «städtebauliche Gesamtkonzeption» der Anlage hervor (Abb. 24 ). Neben einer Anzahl gestaffelter Zeilenbauten sah das Projekt zwei
Hochhäuser vor. Mit dem Plan Wandeler/Renggli
sollte das Schönbühl-Quartier überdies ein eigenes
Einkaufszentrum erhalten, womit erstmals von der
Idee einer reinen Wohnsiedlung abgerückt wurde.
Auftritt Alvar Aaltos
Für die konkrete Gestaltung des Wahrzeichens der
geplanten Überbauung beabsichtigte die Bauherrschaft, einen renommierten Architekten beizuziehen.
Dieser wurde ihr durch den bekannten Schweizer
Architekten Alfred Roth in der Person Alvar Aaltos
vermittelt. Der Finne legte im Frühling 1965 sein Projekt vor, das dem schliesslich ausgeführten Bau weitgehend entspricht (Abb. 25 – 26 ). Hatte der Plan von
Wandeler und Renggli noch zwei Punkthochhäuser
vorgesehen, so projektierte Aalto ein einziges Hochhaus, das mit seinem charakteristischen, auf Belichtung und Alpenpanorama abgestimmten Fächergrundriss nicht nur deutlich breiter war als die
Vgl. Gimmi 1998, S. 141.
Moser Werner M., Das vielgeschossige Mietshaus im neuen städtischen Wohnquartier, in: Werk 36 ( 1949 ), Nr. 1, S. 3 – 22.
30
31
Abb. 22 Luzern, Modell der
Schönbühl-Siedlung von
Otto und Rudolf Schärli, 1956
(Luzerner Neueste Nachrichten, 18. Jan. 1957 ).
Abb. 23 Prilly bei Lausanne,
Projekt für eine Siedlung von
Haefeli, Moser, Steiger, 1945.
Modellansicht von Westen
(Archiv gta, ETH Zürich).
24
Abb. 24 Luzern, Projekt für
die Siedlung Schönbühl von
Max Wandeler und Eduard
Renggli, 1963 (Vaterland,
3. Mai 1963 ).
Abb. 25 Luzern, Zentrum
und Hochhaus Schönbühl.
Erbaut von Alvar Aalto
mit Alfred Roth, 1965 – 68.
Abb. 26 Luzern, Grundriss
des Normalgeschosses im
Hochhaus Schönbühl, von
Alvar Aalto, 1966 – 68.
vorgesehenen einzelnen Türme, sondern auch um einige Stockwerke höher. Mit der eigenwilligen Grundrissdisposition lehnte sich Aalto an seinen eigenen
Entwurf für das Wohnhochhaus «Neue Vahr» ( 1959 –
62 ) in Bremen an. Nachdem das Baugesuch im September 1965 ausgesteckt worden war, entbrannte
deswegen wiederum eine heftige Diskussion. Aufgrund der Verletzung der genehmigten Parameter
war im Grossen Stadtrat in Bezug auf Aaltos Entwurf
von einer «die Sicht verdeckende[n] Wand» die
Rede, die sich zusammen mit dem bereits bestehenden Hochhaus auf der benachbarten Liegenschaft
Matthof zu einer Mauer addiere.32 Wie beim SuvaHauptsitz wurde im Quartier vorab die Frage kontrovers diskutiert, ob und wem das vorgesehene Hochhaus die Sicht auf die Landschaft verstelle. Einen
weiteren Diskussionspunkt bildete die Frage, wie sich
das um einige Stockwerke erhöhte Projekt zur Horizontlinie verhielt und inwiefern das Landschaftsbild
von ausgesuchten Blickpunkten durch das Projekt beeinträchtigt würde.
Rolle zu, zumal die angesprochenen Streitpunkte die
zentralen Interessen der Vereinigung betrafen. Im
Falle des Suva-Baus auf der Fluhmatt waren die Exponenten des Heimatschutzes von den Gegnern des
Bauprojekts verschiedentlich zu einer kritischen Stellungnahme aufgefordert worden. Während man den
Bahnhofsneubau von 1896 noch scharf angegriffen
hatte, hielt man sich in diesem Fall mit einem negativen Urteil zurück, obschon doch das Pfisterprojekt
einen ähnlich massiven Eingriff in das Stadtbild bedeutete wie der neue Bahnhof. Im Protokoll der Jahresversammlung des Innerschweizer Heimatschutzes, des so genannten «Bots», von 1913 ist von der
Sache überhaupt nur am Rande die Rede: «Zum
Schlusse stimmte die Versammlung gerne dem Wunsche zu, es möchte das Verwaltungsgebäude der
schweiz. Unfallversich. Anstalt auf die weitausschauende Fluhmatt über der Musegg zu stehen kommen.
Lieber ein charakteristischer Monumentalbau mit
hübschen Vorgärten als ein Gemisch von Bauten in
32 Stadtarchiv Luzern, Akten der Baudirektion, Protokoll des Grossen Stadtrates von Luzern, 18.10.1965.
33 Staatsarchiv Luzern, PA 472 /1, Archiv des Innerschweizer Heimatschutzes, Protokollband: Vorstandssitzungen und Jahresbot
1907 –1938, S. 107.
Die Rolle des Innerschweizer Heimatschutzes
Sowohl bei den Diskussionen um den Suva-Hauptsitz als auch bei jenen zum Hochhaus Schönbühl fiel
dem Innerschweizer Heimatschutz eine prominente
Abb. 26
25
45
allen möglichen und unmöglichen Stilarten.»33 Die
Angelegenheit wurde im folgenden Jahr nochmals
angesprochen: «Der Obmann hat sich bemüht, dass
das Gebäude auf dem Fluhmattareal erstellt werde,
damit dieser schöne Punkt nicht der Privatspekulation anheim falle und durch event. unschöne Bauten
das Stadtbild von Luzern ungünstig beeinflusst werde. Die Fluhmatt wurde als Bauplatz gewählt und
in der nachfolgenden Konkurrenzausschreibung der
Heimatschutzstandpunkt im Programm festgelegt.
Gegen das 1. prämierte Projekt wurde von Privaten
und einem Quartierverein Sturm gelaufen und unsere Vereinigung um Unterstützung angegangen. Der
Vorstand lehnte diese Zumutung mit der Begründung ab, dass wir die Vertretung von Privatinteressen
ablehnen.»34
Während man sich im Falle des Bahnhofsneubaus am «internationalen Stil» seiner Architektur gestört hatte – in der Tat stand dafür ja unter anderem
das Portalgebäude der Pariser Weltausstellung von
1878 Pate – konnte sich der Heimatschutz mit dem
baukünstlerischen Programm des Suva-Hauptsitzes
offenbar problemlos identifizieren. Obschon der
Heimatschutz sich erst um die Jahrhundertwende
formierte, wurzelte seine Ideologie doch ganz im
19. Jahrhundert und war dadurch ein Kind des national gesinnten Zeitgeists. Der Suva-Bau eignete sich
mit seiner Kuppel als Referenz an die Ikonografie
nationaler Repräsentation somit in hervorragender
Weise zur Indienstnahme durch die Verfechter eines
bundesstaatlichen Baustils, die sich in der Heimatschutzbewegung versammelt hatten. Das Bauwerk
war ihnen daher trotz des eklatanten Massstabsprungs
Ausdruck eines erneuerten, national gesinnten Architekturverständnisses. Damit rückte die Problematik
des Eingriffs in die Stadtsilhouette ebenso in den
Hintergrund wie der Abbruch eines bedeutenden
Zeugen barocker Architektur. Die programmatische
Bedeutung, die der Heimatschutz dem Gebäude als
Beitrag zur nationalen Erneuerung der Baukunst beimass, wurde offensichtlich höher gewichtet als die
Frage der Verträglichkeit mit dem Bestand.
Landschaftsschützerische Aspekte
Auch beim Schönbühl-Hochhaus sah sich der Heimatschutz angesichts der exemplarischen Bedeutung
des Projekts für die weitere Stadtentwicklung und der
kontroversen Debatten, die darüber geführt wurden,
zu einer Stellungnahme veranlasst. Zwar hatten sich
die ideologischen Positionen seit der Gründerzeit inzwischen deutlich verschoben; gleichwohl gelangte
die Vereinigung auch in diesem Falle letztlich zu einer positiven Beurteilung, in der nun andere Argumente den Ausschlag gaben. Im März 1966 gab der
damalige Obmann der Innerschweizer Sektion, Jürg
Scherrer, beim national bekannten Architekten Jakob
46
Zweifel ein Gutachten in Auftrag, welches das Hochhaus-Projekt Aaltos aus Sicht des Heimatschutzes
einer kritischen Prüfung unterziehen sollte. Zweifel
bot sich als Experte in dieser Frage in zweifacher Hinsicht an: Zum einen durfte man von ihm in seiner
Funktion als Obmann der Glarner Sektion erwarten,
die Anliegen des Heimatschutzes angemessen zu vertreten; zum anderen hatte er sich in der Schweizer
Architekturszene bereits als Urheber von HochhausBauten einen Namen gemacht, darunter etwa dem
Schwesternhaus des Zürcher Kantonsspitals.
Zweifel hatte das zur Diskussion stehende Areal
aufgrund früherer Besuche in Luzern als offene Wiesenfläche in Erinnerung, die den Blick auf den See
und das Alpenpanorama freigab. Nun aber stellte er
fest, «daß die große, arenaförmige Landschaft südlich
des Wagner Museums inzwischen stark überbaut
war».35 Dabei fand Zweifel «Hochbauten verschiedenster Art» vor, weshalb ein optischer Gesamteindruck ohnehin nicht mehr zu erzielen sei.36 Weil
Zweifel in der Fernsicht keine erhebliche Beeinträchtigung des Stadt- und Landschaftsbildes feststellte,
ging es für ihn nicht mehr um die Frage des Hochhauses an und für sich, sondern nur noch um eine
Beurteilung der architektonischen Qualität des Aalto-Projekts (Abb. 27 ). Hier überwogen aus seiner
Sicht Aspekte der guten Proportionierung, der Fassadengestaltung und der Grundrissdisposition gegenüber den Bedenken in Bezug auf die Grösse und Höhe
des Projekts, so dass er zu einer positiven Beurteilung
des Bauvorhabens gelangte und dieses dem Innerschweizer Heimatschutz zur Zustimmung empfahl.
Ohne dass der Innerschweizer Heimatschutz vorab
kontaktiert worden war, legte die Eidgenössische
Natur- und Heimatschutz-Kommission Anfang September 1966 eine Art Gegengutachten vor, das Walter Henne, der Obmann des Schaffhauser Heimatschutzes, verfasst hatte. Zwar teilte Henne Zweifels
Einschätzung bezüglich der fehlenden Einheitlichkeit
des bereits bestehenden baulichen Umfelds weitgehend und sprach polemisch vom «Eindruck einer
Musterkollektion verschiedenster Haustypen». In Bezug auf Aaltos Projekt kam er aber zu einer gegenteiligen, ablehnenden Beurteilung. Insbesondere kritisierte Henne die «unstatthafte Amplifikation des
Bauvolumens gegenüber dem genehmigten Bebau34 Staatsarchiv Luzern, PA 472 /1, Archiv des Innerschweizer Heimatschutzes, Protokollband: Vorstandssitzungen und Jahresbot
1907 –1938, S. 111, Trakt. 8.
35 Zitiert nach: Zweifel Jakob, Zum Alvar Aalto Hochhaus im
Schönbühl, Luzern, in: URL : http://www.alvar-aalto.de/bulletin/
bulletin93.htm ( 10. Mai 2007 ).
36 Archiv gta, ETH Zürich, Nachlass Werner M. Moser, Zweifel Jakob, Beurteilung der Projekteingabe für ein Hochhaus in Tribschen/Schönbühl Luzern. Planeingabe von Prof. Alvar Aalto, verfasst im Auftrag des Innerschweizer Natur- und Heimatschutzes,
28. März 1966.
kommission vom 30. September 1966, dass man das
Gutachten nicht mehr habe berücksichtigen können,
da man die Baubewilligung bereits Anfang Juni erteilt habe. Zugleich äusserte der Baudirektor Kritik
am uneinheitlichen Auftreten des Heimatschutzes,
das nicht nur in den politischen Gremien, sondern
auch in der Öffentlichkeit für Verwirrung und Unmut gesorgt habe. So zitierte Ronca aus den «Luzerner Neuesten Nachrichten» vom 24. September 1966 :
«Abschliessend bliebe noch festzuhalten, dass sich
insgesamt vier verschiedene Heimatschutzorganisationen um das Hochhaus-Projekt bemühen. Die eidgenössische Natur- und Heimatschutzkommission,
der Innerschweizer Heimatschutz, der Luzerner Naturschutzbund und die Naturschutzkommission der
Naturforschenden Gesellschaft Luzern. Etwas mehr
Koordination in dieser Hinsicht wäre sehr wünschenswert. Man denke sich nur in die Lage der städtischen
und kantonalen Behörden hinein, für die ein allseits
befriedigender Entscheid bald einmal unmöglich
wird.»38 Die nicht vorgängig abgesprochene Intervention der Eidgenössischen Kommission stiess nicht
nur den Behörden sauer auf, auch der Innerschweizer Heimatschutz fühlte sich durch dieses Vorgehen
desavouiert. In einem Brief an den Präsidenten der
Eidgenössischen Kommission vom 11. Januar 1967
machte der Obmann seinem Ärger Luft. Nicht nur
habe man das «Gegengutachten» «mit Befremden registriert»; auch habe man dieses als «Rückenschuss»
für die Sektion empfunden, zumal die unterschiedlichen Stellungnahmen der verschiedenen Instanzen in
der Öffentlichkeit gegeneinander ausgespielt worden
seien. «Dass solche Vorkommnisse dem Gedanken
des Natur- und Heimatschutzes in unserer Region
nicht förderlich sind, dürfte klar sein.»39
27
Abb. 27 Luzern, Hochhaus
Schönbühl, Ansicht der
Hauptfassade. Erbaut von
Alvar Aalto, 1966 – 68.
ungsplan» und argumentierte, dass das Gebäude zusammen mit dem bereits bestehenden Hochhaus
Matthof in einer eigentlichen «Sperrgeste» resultieren würde, «so dass ein grosser Teil des dahinter liegenden Quartiers statt der See- und Bergperspektive
enorme Hauswände vor sich hat»; das Quartier werde durch den Bau «architektonisch tyrannisiert».
Insgesamt befürchtete Henne einen «massiven Eingriff in die landschaftlichen Gegebenheiten» und die
Schaffung eines Präjudizes, das nicht nur regional,
sondern gar auf nationaler Ebene unerwünschte Folgen zeitigen könne. Vom Luzerner Regierungsrat forderte Henne daher «die längst fällige Verordnung
zum Schutze des Vierwaldstättersees», die fortan eine
«derart rücksichtslose Art hypertrophischer Bauprojektierung» verhindern sollte.37
Hennes Urteil hatte auf den weiteren Verlauf der
Projektierung keinen Einfluss mehr. Der städtische
Baudirektor Hans Ronca bedauerte in seiner Replik
an die Eidgenössische Natur- und Heimatschutz-
Ausblick
Nachdem Hochhaus-Neubauten in der Schweiz seit
Mitte der 1970er-Jahre weitgehend selten geworden
waren, hat der Bautypus in den letzten Jahren eine eigentliche Renaissance erfahren. Ob sie die bestehenden Stadtbilder nachhaltig verändern werden, bleibt
zurzeit ebenso offen wie die Frage, was für Konsequenzen die aktuelle Weltwirtschaftskrise für die
zahlreichen ehrgeizigen Bauprojekte in den Schwei-
37 Archiv gta, ETH Zürich, Nachlass Werner M. Moser, Henne
Walter, Bericht über das Hochhausprojekt Schönbühl in Luzern,
eingereicht im Namen der Eidgenössischen Natur- und Heimatschutzkommission, 5. September 1966.
38 Stadtarchiv Luzern, B 3.29 /A 301.1, Bebauungspläne + Schönbühl 1943 – 78, Brief von Dr. Hans Ronca, Direktor der Baudirektion der Stadt Luzern, an die Eidgenössische Natur- und Heimatschutzkommission, 30. September 1966.
39 Archiv gta, ETH Zürich, Nachlass Werner M. Moser, Brief des
Obmanns der Sektion Innerschweiz des Heimatschutzes an Dr. U.
Dietschi, Präsident der Eidgenössischen Natur- und Heimatschutzkommission, 11. Januar 1967.
47
zer Städten zeitigen werden. Mit dem am 30. November 2008 von den Stimmberechtigten genehmigten
Projekt für eine neue Sportarena auf der Allmend,
das neben dem Stadion zwei Wohntürme vorsieht,
scheinen die Zeichen für hohe Häuser zumindest in
Luzern weiterhin günstig. Dass solche Bauten im Bereich der Altstadt erbaut werden könnten, ist weithin
undenkbar und kaum erwünscht. Dagegen setzt sich
mehr und mehr auch in Kreisen des Denkmal- und
Heimatschutzes die Erkenntnis durch, dass Hochbauten von architektonisch überdurchschnittlicher
Qualität in den grossmassstäblich konzipierten Neubau- und Verdichtungsquartieren durchaus willkommene Wahrzeichen mit Fernwirkung und urbaner
Ausstrahlung darstellen können.
Abkürzung
SALU Stadtarchiv Luzern
Abbildungsnachweis
Archiv gta, ETH Zürich, Nachlass Werner M. Moser
(KM 33 –1908 –1-F.AUG-2 bzw. gta 100 –0197 )
8, 23
Aus: Gimmi Karin, Schönbühl, Aalto und Luzern, in:
Jokinen Teppo/Maurer Bruno (Hg.), ‹Der Magus
des Nordens›. Alvar Aalto und die Schweiz, Zürich 1998,
S. 135 –155
22, 25, 26, 27
Baugeschichtliches Archiv Zürich
6
Historisches Museum Luzern
2
Kant. Denkmalpflege Luzern
3, 4
Aus: Reinle Adolf, Die Kunstdenkmäler des Kantons Luzern.
Bd. II, Basel 1953, Abb. 4
1
Aus: Schweizerische Bauzeitung, 3. Jan. 1914, S. 6 f., 11
(Verkehrshaus der Schweiz Luzern)
9, 12, 14
Stadtarchiv Luzern
7, 10, 11, 15, 16, 17, 18, 20, 21
Aus: Vaterland, 3. Mai 1963
(Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern)
24
Verkehrshaus der Schweiz Luzern
13
Aus: von Moos Stanislaus, Nicht Disneyland, Zürich 2004,
S. 127
19
Adresse des Autors
Dr. Martino Stierli
Universität Basel
eikones – NFS Bildkritik
Rheinsprung 11
4051 Basel
48