Riegler, A. (2005) Konstruierte oder konstruierende Seele? Gedanken zum Seelebegriff aus
kognitiv-konstruktivistischer Perspektive. In: Peschl, F. (ed.) Die Rolle der Seele in der
Kognitionswissenschaft und der Neurowissenschaft. Auf der Suche nach dem Substrat der
Seele. Königshausen und Neumann: Würzburg, pp. 215–230.
Konstruierte oder konstruierende Seele?
Gedanken zum Seelebegriff aus kognitiv-konstruktivistischer
Perspektive
Alexander Riegler
Gemäß des Konstruktivismus sind wir die Konstrukteure unserer eigenen Welt
und nicht durch eine externe Realität determiniert. Seine am meisten konsistente
Formulierung, der Radikalen Konstruktivismus (RK), behauptet, dass wir unsere
Erfahrung nicht transzendieren können. Deshalb macht es wenig Sinn zu sagen,
dass sich unsere Konstruktionen den Strukturen einer externen Realität annähern. Was sind die Konsequenzen einer derartigen Sichtweise? Können wir sie
benutzen, um kognitive Artefakte zu bauen – eine Möglichkeit, der Freizügigkeit philosophischer Spekulationen über Wahrheit und Wirklichkeit zu entrinnen?
Der vorliegende Beitrag soll die Grundzüge des RK darstellen, sofern dies
bei seiner Heterogenität möglich ist. Fragen werden behandelt wie etwa: Sind
unsere Konstruktionen arbiträr? Wie können wir miteinander reden, wenn unsere Kognition organisationell abgeschlossen ist, wie es der RK behauptet? Und
schließlich die für mich interessanteste Frage: Wer macht wirklich die Konstruktionen? Zeichnet dafür eine Seele verantwortlich?
Konstruktivismus
Auf den ersten Blick scheint es nicht ersichtlich, was der Konstruktivismus zum
Thema Seele beizutragen hätte. Er behauptet bekanntlicherweise, dass das Individuum seine Welt konstruiert. „Schön und gut“, werden Sie vielleicht denken,
„aber die Welt ist doch nicht konstruiert, sie ist doch bereits da!“ und zur Bestätigung auf den Tisch klopfen. Wie komme ich also dazu zu schreiben, dass wir
unsere Welt konstruieren? Und was hat die Seele damit zu tun? Für die Antwort
muss ich etwas Anlauf nehmen.
Zunächst sind da die Resultate von kognitionspsychologischen Forschungen, wie die von Jean Piaget (1974), der sich mit dem „Aufbau der Wirklichkeit
im Kind“ ja recht ausführlich in seiner langen wissenschaftlichen Karriere auseinandergesetzt hat. Ein Kleinkind weiß zunächst recht wenig mit all den perzeptiven Eindrücken anzufangen, die es nach seiner Geburt umgibt. Gesichter sind
wohl eher lustige oder bedrohliche Farbflecke, und Stimmen Geräusche der unbekannten Art. Ja nicht einmal, dass es sich um Farben oder Geräusche handelt,
ist dem Kind bewusst. Erst durch Prinzipien der Assimilation und Akkommoda-
1
tion baut das Kind im Laufe seiner Ontogenese eine Sammelsurium von – wie es
Piaget genannt hat – Schemata auf, anhand derer neue Eindrücke klassifiziert
(assimiliert) werden können. Sind Eindrücke zu fremd, werden sie entweder gar
nicht wahrgenommen oder geben Anlass zu akkommodierendem Handeln, d.h.
bestehende Schemata werden etwas „verbogen“, um auch die neuen Eindrücke
richtig einordnen zu können. Mit jedem dieser Aktionen wird ein weiteres
Stückchen Wirklichkeit konstruiert, denn nur was in Schemata gefasst werden
kann, kann auch wahrgenommen bzw. als Handlung geäußert werden.
So spricht Piaget auch von vier Phasen der kognitiven Entwicklung. Zuerst
kommt die Phase der senso-motorischen Intelligenz, in der Kontrolle über motorische Bewegungen erlangt und Erfahrungen mit physischen Objekten gesammelt wird. Danach kommt das Stadium der intuitiven oder präoperativen Intelligenz, in der Denken wie ein Film ohne Flexibilität abläuft und in der erste
sprachliche Fähigkeiten erworben werden. Die dritte Phase ist die des Denkens
in konkreten Operationen und des freien Gebrauchs von abstrakten Größen wie
Relationen und Zahlen. Schließlich erreicht man die vierte und letzte Phase des
Denkens in formal-logischen Operationen, in der abstrakte Dinge und hypothetisch-deduktives Denken verwendet wird. Kurzum, es werden stets komplexere
Schemata konstruiert.
Die Quintessenz dieser Auffassung konstruktivistischer Tätigkeit wurde
von Glasersfeld (1989) in zwei zentralen Prinzipien festgehalten. Das, man
könnte sagen „psychologische“ Prinzip drückt, ganz in Anlehnung an die kognitionspsychologischen Einsichten von Piaget, aus, dass Erkenntnis nicht übertragen, sondern konstruiert wird. Das zweite, „epistemologische“ Prinzip besagt,
dass Erkenntnis Ausdruck des Strukturierens von Erfahrungen ist, und nicht das
Entdecken einer zugrunde liegenden Realität widerspiegelt.1
Soweit so gut, werden Sie vielleicht sagen, dieses Konzept des Konstruierens ist einsichtig und vor allem scheint es auf die uns umgebenden Realität abzuzielen. Nimmt das Kind beispielsweise eine falsche Assimilation eines gefährlichen Gegenstandes vor, dann wird es ja sehr schnell spüren, dass das ein Fehler
war. In dieser Hinsicht stellt das konstruierte Wirklichkeitsgebäude eine voranschreitende Adaptierung an die Realität dar. Stückchen für Stückchen wird daran
gebastelt und gefeilt, um der Realität immer besser entsprechen zu können.
Nimmt man ein Messer wahr, so weicht man diesem am besten aus, sieht man
hingegen Schokolade, so geht man am besten noch einen Schritt näher heran.
1
2
Im Original: „knowledge is not passively received but actively built up by the cognizing
subject” und „the function of cognition is adaptive and serves the organization of the experiential world, not the discovery of ontological reality. (Glasersfeld 1989, p. 182)
Radikaler (oder auch Vollständiger oder Konsequenter) Konstruktivismus
Diese Sichtweise ist auch ganz unproblematisch, wäre da nicht ein kleines lästiges neurophysiologisches Detail, das die ganze Angelegenheit etwas trübt, oder
besser gesagt, verzerrt.
Stellen Sie sich vor, der Herausgeber einer Zeitung schickt seinen besten
Reporter in ein weit entferntes Land, um sich dort umzusehen und einen Artikel
für die Zeitung zu verfassen. Der Reporter kommt zurück und beginnt zu erzählen: „So groß … so schnell … so viel“. Aber er sagt nicht, was so groß, so
schnell oder so viel ist. Was wird sein Redakteur von solchen unspezifischen
Aussagen halten? In jedem Fall ist der Redakteur in guter Gesellschaft, denn
auch sein Gehirn, so wie menschliche Gehirne im allgemeinen, steht vor demselben Problem. Jedes Mal, wenn etwas berührt, gesehen oder sonst wahrgenommen wird, verraten die Nervenimpulse dem Gehirn partout nicht, was denn die
Sinnesrezeptoren am anderen Ende der Leitung gespürt oder gesehen oder wie
auch perzeptiert haben. Alles was aus der Sicht des kognitiven Apparates hereinkommt sind diese scheinbar wirren, in ihrer Intensität wohl variierenden aber ansonsten uniformen Signale aus allen Ecken und Enden.
Was bedeutet das für unseren Kontext? Zunächst erscheinen damit Aussagen wie „Ein Messer wird wahrgenommen“ oder „man sieht ein Stück Schokolade“ als zu vereinfachende und vielleicht auch verfälschende Abkürzungen. Es
ist denn letztlich erst das Gehirn, welches eintreffende unspezifische Nervensignale in einer Weise interpretiert, die es glauben lässt, ein Messer oder Schokolade
zu wahrzunehmen. Zum zweiten bedeutet dies, dass das kognitive (Nerven-)
system organisationell geschlossen ist.
Zentrales Postulat des RK/VK/KK
Organisationelle Geschlossenheit (Foerster 1981; Maturana & Varela 1980) bedeutet, dass im betreffenden System nur „hauseigene“ Signale verwendet werden.
Es treten keine „Messer-“ oder „Schokoladensignale“ auf, sondern bloß die vom
Nervensystem generierten elektro-chemisch weitergeleiteten Nervenimpulse.2
Wenn wir Abb. 1 betrachten, dann erscheint es uns natürlich selbstverständlich, dass der Elefant den Sinneseindruck (sei er nun visuell oder taktil oder olfaktorisch) verursacht hat, und damit das Signal eben ein „Elefantensignal“ ist.
Aus der Sicht dessen, der „innen“ sitzt und diese Signale verarbeiten muss, nämlich des Gehirns, sieht die Sachlage aber gar nicht so aus, denn es ist ausschließ-
2
Das ist natürlich etwas vereinfacht gesprochen, aber wir brauchen uns an dieser Stelle nicht
mit den neurophysiologischen Details und Varianten beschäftigen.
3
“außen”
“innen”
Abb. 1: Die organisationelle Geschlossenheit des kognitiven Apparates aufgrund der
Unspezifität der Nervensignale.
lich auf die „nichtssagenden“ Nervensignale angewiesen.3 In anderen Worten,
das Nervensystem, oder wenn man will, der kognitive Apparat, ist ein geschlossenes Netzwerk von interagierenden Neuronen, so dass jede Änderung des Zustandes relativer Aktivität einer Gruppe von Neuronen einhergeht mit der Änderung des Zustandes relativer Aktivität einer anderen oder derselben Gruppe von
Neuronen. So haben es Maturana und Varela (1980) ausgedrückt. Dieses, wie ich
es nenne, Zentrale Postulat des Radikalen, oder vielleicht auch besser gesagt: Vollständigen oder Konsequenten Konstruktivismus (Riegler 2001b), hat zur Folge,
dass wir keine Aussagen darüber treffen können, ob die individuelle Weltkonstruktion sich einer Realität annährt oder nicht. „Aber natürlich können wir sagen, ob sich ein Individuum richtig oder falsch ‚weiterkonstruiert‘ hat“, werden
Sie vielleicht einwerfen wollen. Das stimmt insofern, als Sie „richtig“ und
„falsch“ an Ihre eigene Weltkonstruktion knüpfen. Denn auch für den Beobachter gilt im KK, dass er oder sie die Welt konstruiert. Deshalb heißt diese Variante
des Konstruktivismus auch „radikal“ oder „vollständig“. Sie wendet das Grundpostulat konsequent an, sie macht keinen Unterschied zwischen beobachtetem
und beobachtenden System. Weshalb sollten wir auch plötzlich einen Unterschied einführen, der bewirken würde, dass eines der Systeme privilegiert ist gegenüber dem anderen? Gehen wir davon aus, dass beide Nervensysteme haben,
dann sind auch diese Systeme organisationell geschlossen, haben also keinen
Zugriffmöglichkeit auf den „wirklichen“ Ursprung der generierten elektrochemischen Nervensignale.
3
4
Selbst ein Computer hat es besser, der beispielsweise über die Tastatur Signale empfängt,
die er weiterverarbeiten soll. Hier wird sehr wohl die Information kodiert, was das Signal
ausgelöst hat, z.B. das Drücken der Enter-Taste, das die Eingabe von Daten abschließen
soll.
Epistemologische Folgerung
Damit ergibt sich auch die Epistemologische Folgerung, dass wir jene oft und
zumindest implizit stets angenommene absolut-objektive Realität weder bestätigen noch ablehnen können. Es ist schlichtweg unmöglich, über deren „wahren“
Charakter etwas auszusagen. Kant hatte sich so darüber geärgert, dass es der Philosophie nie gelungen sei, die idealistischen Angriffe auf den Realitätsbegriff ein
für alle Mal abzuwähren. Und Heidegger meinte ja bekanntlicherweise dazu, dass
der eigentliche Skandal darin besteht, dass die Philosophie es immer wieder versucht hat. Es ist gerade diese Besessenheit mit der Epistemologie, die der Philosophie eigentlich nicht übermäßig gut getan hat. In diesem Punkt muss man mit
Searle (1999) übereinstimmen, der sagt, dass „the biggest single obstacle to progress of a systematic theoretical kind has been the obsession with epistemology“.
Die Frage, was denn Wirklichkeit und Wissen ist, ist gemäß der angeführten Argumente sinnlos. Viel interessanter ist da schon die Frage nach dem Wie erwerben wir Wissen, wie konstruieren wir?4
Methodologische Folgerung
Zunächst aber möchte ich noch auf zwei weitere essentielle Prinzipien des KK
hinweisen. Die Methodologische Folgerung besagt, dass Erklärungen aufgrund der
organisatorischen Geschlossenheit des kognitiven Apparates notwendigerweise
zirkulär sind und nicht an einem außerhalb liegenden Referenzpunkt
anknüpfen können. In einem formal-logischen System verhält sich die Sache anders. Hier werden von vornherein Axiome eingeführt, die als Wirklichkeitskriterien dienen, so dass beliebige Aussagen in dem System als wahr erkannt
werden können, die sich aus den Axiomen ableiten lassen. Was sind aber „unsere“ Axiome, wie können wir feststellen, ob ein Gedanke, den jemand hat, oder
eine Aussage, die jemand macht, richtig und wahr ist? Diese Menge von Axiomen ist – oder besser: wäre – nichts anderes als die absolute-objektive Wirklichkeit, die wir aus der Perspektive des KK zwar nicht widerlegen aber eben (leider)
auch nicht bestätigen und damit nicht als Richter über wahr und falsch heranziehen können. Was bleibt ist die Möglichkeit, eine Aussage als wahr anzuerkennen, wenn sie nicht im Widerspruch mit anderen, bereits akzeptierten Aussagen
steht. Idealerweise sollte sie auch in Zusammenhang mit anderen Aussage zu
bringen sein und nicht isoliert dastehen (das Kriterium der Kohärenz), andernfalls fällt es allzu leicht, eine x-beliebige Aussage zu treffen, die keiner anderen
Aussage zuwider läuft. Was wir damit vorliegen haben, ist system-relatives Wis-
4
Das impliziert, dass kognitionswissenschaftliche Theorien und empirische Befunde auf
dem Gebiet des Wissenserwerbs und Lernens für den KK eine wichtige Rolle spielen.
5
sen, was auf den ersten Blick etwas mager klingt, aber das nur deshalb, weil wir
den Umfang unseres Erfahrungsnetzwerkes zu sehr unterschätzen.5
Postulat der Einschränkung von Konstruktionen
Schließlich ist noch ein wichtiger Punkt zu besprechen, der die Beliebigkeit von
Konstruktionen betrifft (Riegler 2001b). Oft wird argumentiert, dass der KK
nicht stimmen kann, weil, träfe er zu und wir konstruierten tatsächlich unsere
Welt, uns nichts davon abhalten würde Beliebiges zu konstruieren. Wir könnten
beispielsweise konstruieren, dass wir durch verschlossene Türen gehen können,
wenn wir das nur wollten. Um zu begreifen, dass dieses Argument ins Leere
führt, müssen wir uns zunächst vergegenwärtigen, dass Erfahrungen, die ja die
Grundlage der Weltkonstruktionen sind, sequentiell-historisch gemacht werden.
Ein Erlebnis reiht sich an ein anderes, bereits zuvor gemachtes. Das geschieht
vermittels Prozessen, wie sie von Piaget Assimilation und Akkommodation (siehe oben) genannt wurden. Das heißt, Erlebnisse referieren zueinander. Eine neue
Erfahrung steht in Relation zu einer älteren, sei es im positiven Sinn, dass sie einen ähnlichen und damit unterstützenden Fall darstellt, sei es im negativen Sinn,
dass sie einer früheren Erfahrung widerspricht. In Folge entsteht ein hierarchisches Netzwerk von wechselseitigen Abhängigkeiten, in dem Komponenten
den Kontext für eine weitere Komponente festlegen.6
Diese wechselseitige Abhängigkeit bedeutet, dass einzelne Teile dieses Erfahrungsnetzwerkes nicht isoliert betrachtet werden können. So besteht ein Zusammenhang zwischen dem Konzept eines festen Hindernisses und dem Konzept des sich Fortbewegens. Dadurch legen sich die Komponenten in dem
Netzwerk gegenseitige Beschränkungen auf. Wir können das mit einer Analogie
illustrieren (Riegler 2001a). Stellen wir uns das Netzwerk von Transportmöglichkeiten vor, in dem verschiedene Arten der Fortbewegung zur Verfügung stehen: zu Fuß gehen, mit dem Auto fahren usw. Mit dem Auto können wir nur
solche Punkte erreichen, die durch das Straßennetzwerk miteinander verbunden
sind. Zu Fuß sind auch dazwischenliegende Punkte (schwer zugängliche Plätze
wie Berggipfeln etc.) erreichbar, aber nur, wenn sie innerhalb einer gewissen Entfernung liegen. Die grundlegende Komponente in beiden Fällen ist das Transportmittel, das die Erreichbarkeit von Zielen einschränkt. Willkür ist nicht möglich, da verschiedene Transportmittel eine unterschiedliche Flexibilität und
Geschwindigkeit aufweisen. Auf ähnliche Weise ist unser kognitives Erfahrungsnetzwerk ebenfalls keineswegs willkürlich. Es folgt den Einschränkungen oder
„Kanalisationen“ (Waddington führte dieses Konzept 1942 in der Genetik ein),
5
6
6
Wir dürfen nicht vergessen, dass der einzige Zugang zu unseren Gedächtnisinhalten über
das Kurzzeitgedächtnis führt, und dieses hat eine sehr begrenzte Kapazität.
Das ist natürlich kein starres Netzwerk, so dass sich Kontexte fortlaufend verändern.
die ihm aufgrund der wechselseitigen Abhängigkeiten auferlegt sind. Ältere, zuvor gemachte Erfahrungen dienen als Bausteine für neue Erfahrungen, eingeschlagene Pfade des Konstruierens sind nur schwer, wenn überhaupt veränderbar.
Dass man konstruieren kann, was man nur will, wird damit zur Illusion, die
dadurch entsteht, dass ein Bestandteil des Netzwerkes aus seinem Zusammenhang gerissen wird. Das ist so, also würden wir glauben, dass die Natur in Zukunft einmal Schweine mit Flügeln hervorbringen wird. Sie werden vielleicht sagen, „Ja, warum eigentlich nicht?“, nur aus evolutionsbiologischer Sicht ist das
extrem unwahrscheinlich. Nicht, dass ein derartiges fliegendes Schwein einen
Evolutionsvorteil gegenüber den nichtfliegenden Artgenossen hätte. Aber die
Abgestimmtheit der internen physiologischen Strukturen während früher Entwicklungsstadien des Schweines spricht dagegen, dass notwendige Veränderungen in den Erbanlagen des Schweines nicht nur Flügel wachsen lassen, sondern
auch noch dabei die oben erwähnte Abgestimmtheit der abermillionen strukturellen Details erhalten (Riedl 1977). Gleichwohl Mutationen auftreten, die die
Gattung Schwein mit flügelähnlichen Strukturen ausstatten würden, scheitert es
doch mit Sicherheit immer am Aspekt der Abstimmung der neuen Strukturen
mit den alten. In analoger Weise können wir nicht so einfach die Idee des sich
Fortbewegens von der Idee fester Hindernisse trennen, obgleich auf einer Metaebene wir darüber phantasieren und so tun können, als ob Eigenschaften von
miteinander in Beziehung stehenden Komponenten unabhängig sind.
Nun ist es so, dass in gewissen Fällen das Abändern von Konstruktionen
manchmal leichter und manchmal schwieriger ist. Eher einfach können Konstruktionen revidiert werden, wenn es sich um abstrakt-intellektuelle Dinge
handelt, wie etwa mathematisches Problemlösen. Hier können eingefahrene Lösungsansätze neu überdacht werden und somit das Lösen eines Problems ermöglichen, das mit einem vorhergehenden Ansatz unlösbar erschien. In der Psychologie ist das allgemein als der Set-Effekt (Duncker 1935) bekannt, eine Art
mentale Faulheit, die einmal eingeschlagene und erfolgbringende Lösungsansätze
das Denken so dominierend werden lässt, dass alternative Lösungswege überhaupt nicht mehr wahrgenommen werden. Wie erwähnt kann man solchen „eingefahrenen“ Konstruktionen relativ leicht wieder entweichen, indem z.B. eine
„Nachdenkpause“ eingelegt wird. Bereits etwas schwieriger zu verändern sind
Konstrukte, die zwischenmenschliche Probleme betreffen. Diese Probleme haben eine längere Geschichte und beinhalten daher mehr Faktoren, die es zugleich
zu verändern gilt. Die Familientherapie von Paul Watzlawick (Watzlawick,
Weakland & Fisch 1974) beispielsweise zielt darauf ab, alternative Konstruktionen für die Betroffenen zu finden („reframing“), um die alten Probleme verschwinden zu lassen. Konstruktionen, die noch älter sind und/oder mehr voneinander abhängige Faktoren beinhalten, wie etwa Raumvorstellungen, die wir
sehr früh entwickeln, lassen sich praktisch nicht verändern. Damit wird es aber
auch unmöglich für uns, unsere Konstrukte so abzuändern, dass wir durch ge-
7
schlossene Türen gehen können. Üblicher Weise machen wir eine äußere Realität für diese Einschränkung verantwortlich. Beispielsweise schlägt selbst die Glasersfeldsche Variante des Konstruktivismus (Glasersfeld 1989) den Begriff der
Viabilität vor, der essenziell vom Einwirken einer Realität abhängt und damit eigentlichen den Postulaten 1 und 2 widerspricht, da er versucht eine Erklärungskomponente einzubringen, die auf eine externe absolute Realität referiert. Der
KK hingegen betont, dass wir die Gründe doch eher in unseren Konstrukten und
deren einschränkenden Beziehungen untereinander suchen sollten.7
Das Bild, das ich soweit gezeichnet habe, ist folgendes. Das Individuum
konstruiert die Wirklichkeit aus den Erfahrungen, die es macht. Ob diese Erfahrungen eine äußere Realität widerspiegeln, ja ob die äußere Realität überhaupt
besteht oder nicht, ist unentscheidbar. Der kognitive Apparat, der das Konstruieren vornimmt, hat auch nur unspezifisches Nervensignale zu seiner Verfügung. Aus seiner Sicht ist es dann auch unerheblich, woher die Signale stammen,
obgleich nichts gegen das Konstrukt spricht, eine äußere Realität aus praktischen
Gründen anzunehmen (und damit gleichzeitig die Tätigkeit des Philosophen mit
der Frage „Was ist Realität?“ zu erschweren). Weiters werden die Konstrukte angeordnet in einem hierarchischen Netzwerk, dessen Bestandteile voneinander
abhängen. Die daraus entstehende Kanalisierung von zukünftigen Konstruktionsmöglichkeiten macht willkürliche Konstruktionen praktisch unmöglich:
Auch als Konstruktivist kann man nicht durch verschlossene Türen gehen.
Soweit scheint in diesem Bild kein Platz für eine Seele zu sein, denn wir sind
die Konstrukteure unserer Welt. Können wir aber diese Behauptung aufrecht erhalten, oder wer konstruiert hier tatsächlich?
Konstruieren wir oder wählen wir aus?
Die Antwort auf die Frage nach der Identität des Konstrukteurs könnte vielleicht aus der neurophysiologischen Ecke kommen. Eines der Forschungsschwerpunkte in der Neurophysiologie sind die neuronalen Korrelate von Bewusstsein („neural correlates of consciousness“), die seit Beginn der 1990er Jahre
vehement ins Zentrum des Forschungsinteresses gerückt sind. Schon seit langem
bemühte man sich um einen Brückenschlag zwischen dem subjektiven Erleben
und objektiv messbaren Größen. Spezifisch geht es um Fragen wie: Sind Willensakte durch bewusste Beschlüsse initiiert? Können physiologische Resultate
mit der Ansicht vereinigt werden, dass der freie Wille für unser Tun verantwortlich zeichnet?
7
8
Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass ein Vorschlaghammer oder eine ähnlich destruktive Gerätschaft das Problem der verschlossenen Tür löst, ohne in Widerspruch zu
dem hier besprochenen Postulat zu geraten, denn auch das Konzept ‚Hammer‘ ist eingefügt in das Netzwerk unserer Erfahrungen.
Das waren auch die Fragen, die sich Benjamin Libet stellte (vgl. Nørretranders 1994). In den 1960ern hatte er die Gelegenheit gehabt bei Operationen des
befreundeten Neurochirurgen Bertram Feinstein Experimente mit dessen Patienten anzustellen, bei denen die Schädeldecke entfernt wurde und die die Operation bei Bewusstsein mitverfolgen. Wie bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts
bekannt, kann durch Reizung des motorischen Kortex mit elektrischen Impulsen
bei Patienten Empfindungen und sogar Bewegungen ausgelöst werden. Hierbei
macht es einen Unterschied, was man reizt. Bestimmte assoziative motorische
Abschnitte des Kortex lösen Bewegungen aus zusammen mit dem subjektiven
Eindruck, dass die Bewegung gewollt wurde. Bei Reizung subkortikaler motorischer Areale hingegen kann man eine Bewegung auslösen ohne einhergehendes
Wollen. Jene subkortikalen Bereiche scheinen also dem Bewusstsein entzogen zu
sein.
Wie Libet ebenfalls herausfand, müssen die Reize etwa eine halbe Sekunde
andauern, um von den Patienten bemerkt zu werden. Alles kürzere bleibt für das
Bewusstsein unbemerkt („subliminal“). Eine Stimulation der Haut wird allerdings praktisch sofort nach 20 ms wahrgenommen. Libet – und auch wir – fragte
sich, warum so ein gewaltiger Unterschied zwischen der sich Bewusstwerdens einer Reizung des Kortex und der der Haut besteht. Er baute daraufhin eine Versuchsanordnung, die ihm erlaubte, beide Empfindungen zu vergleichen. Der
Kortex des Patienten wurde so gereizt, dass die eine Hand ein Prickeln verspürte, während die Haut der anderen Hand direkt stimuliert wurde. Das Überraschende für Libet war nun, dass zwischen der Reizung des Kortex und der der
Hand eine halbe Sekunde verstreichen musste, damit der Patient beide Stimulation als gleichzeitig empfand. Wurde die Haut vor dieser halben Sekunde stimuliert, dann spürte der Patient diesen Reiz vor dem Prickeln in der anderen Hand,
das durch Reizung des Kortex ausgelöst wurde, obwohl die Hautstimulation
nach der des Kortex vorgenommen wurde. Unter der Annahme, dass das sich
Bewusstwerden eines Reizes etwa eine halbe Sekunde Verarbeitungszeit im Gehirn erfordert, schloss Libet aus diesem Experiment, dass bewusstes Erleben von
Ereignissen in der Zeit zurückprojiziert wird. Dadurch erscheint es subjektiv so,
dass der Stimulus sofort wahrgenommen wird. Die Verarbeitung der künstlichen
Kortexstimulation und der natürlichen Hautreizung benötigen jeweils eine halbe
Sekunde, nur unterliegt die Reizung des Kortex nicht dem zeitlichen Zurückversetzen, da sie kein Erleben als vielmehr das direkte Eingreifen in die elektrischen
Schaltkreise des Gehirns darstellt, die nicht der „Zensur“ üblicher Nervenbahnen
durch andere Gehirnzentren ausgeliefert sind.
Nach dem Tod des Chirurgen Feinstein setzte Libet seine Arbeit auf andere
Weise fort und machte sich dabei die Vorarbeiten von Hans Kornhuber und Lüder Deeke zunutze. Sie hatten Mitte der 1960er Jahre herausgefunden, dass
gewollte Handlungen von einem zuvor auftretenden elektrischen negativen Potential im Kortex begleitet werden. Dieses durch EEG messbare „Bereitschaftspotential“ startet eine halbe bis eineinhalb Sekunden vor dem eigentlichen korti-
9
kalen Motorsignal. Da es auch auftritt, wenn man sich Bewegung nur vorstellt,
der motorische Kortex also nicht aktiviert wird, muss es den Entschluss zur Bewegungsausführung widerspiegeln und nicht die eigentliche Bewegungssteuerung durch den Kortex. Wenn die Vorbereitung einer Bewegung so lange dauert,
wann wird der Plan gefasst, damit überhaupt zu beginnen, und wer beschließt
das?
Libet wählte folgende Versuchsanordnung, um drei essentielle Zeitpunkte
miteinander korrelieren zu können: Der Beginn B des Bereitschaftspotentials;
der Moment E, an dem sich die Versuchsperson zu einer bewussten Handlung
entschließt; und der Zeitpunkt H, an dem die Handlung einsetzt, gemessen mittels Elektromyogramm (EMG). Damit die Wahrscheinlichkeit maximiert wird,
dass die Handlung tatsächlich eine spontane Willkürhandlung ist, musste sie so
einfach wie möglich gehalten werden. Libet forderte die Versuchspersonen also
auf, spontan einen Finger zu krümmen bzw. einen Arm zu beugen. Dieser Moment H ist durch die elektrische Aktivität der Hand bestimmbar. Der Zeitpunkt
B wird durch eine EEG-Messung ermittelt. Um aber E messen zu können, war
es nötig auf die auf Wilhelm Wundt zurückgehende ‚Komplikationsuhr‘ zurückzugreifen, die sich seit längerem in der experimentellen Psychologie bewährt
hat. Die Uhr bestand aus einem auf einem Bildschirm rotierenden Punkt, der für
eine Umdrehung 2.56 s benötigt. Die Versuchspersonen brauchten sich lediglich
die Stellung des Punktes merken, an dem sie den Entschluss fassten.8
Nach statistischem Ausmitteln ergab sich folgendes Resultat. H – E =
200 ms, aber H – B = 550 ms. Somit setzt der Entschluss zur Handlung, wie zu
erwarten ist, vor der Handlung, aber nach dem Auftreten des Bereitschaftspotentials ein (siehe Abb. 2). Das Bewusstsein merkt erst nach 350 ms, dass das
(unbewusst arbeitende) Gehirn damit begonnen hat, die „bewusst beschlossene“
Handlung vorzubreiten. Wolfgang Prinz (1996) hat das Ergebnis Libets so
kommentiert: „Wir tun nicht, was wir wollen, sondern wir wollen, was wir tun“.
Um übrigens auszuschließen, dass die Rückdatierung von Sinnesreizen der
Grund dafür ist, dass das Bereitschaftspotential B vor dem willentlichen Entschluss E auftritt, wird eine Kontrollstimulation K der Haut durchgeführt, die
subjektiv 50ms vor der Reizung erscheint. Die Ergebnisse selbst wurden in der
Zwischenzeit von vielen anderen direkt oder indirekt bestätigt, wie etwa von
Keller & Heckhausen (1990) und Haggard & Eimer (1999).
Trotz dieser überraschenden Erkenntnis glaubte Libet den freien Willen retten zu können aufgrund der folgenden Beobachtung. Brechen die Versuchpersonen eine beschlossene Handlung ab, dann zeigt sich trotzdem ein Bereitschaftspotential. Somit erscheint es dem mit Verzögerung informierten Bewusstsein
möglich zu sein, einer begonnenen Handlung gegen zu steuern, mit einem Veto
8
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Dass diese Methode zu genauen Ergebnissen führt, konnte Libet dadurch beweisen, dass
sie bei Kontrollstimulationen der Haut präzise Messungen erlaubt.
H
Bv
B
E
K
–1000
–500
–200
0 ms
Abb. 2: Abfolge von Bereitschaftspotential (B), bewusstem Entschluss (E) und einsetzender Handlung (H), sowie die Kontrollstimulation (K) der Haut. Bei vorgeplanter
Handlung beginnt das Bereitschaftpotential bereits früher (Bv). Nach Libet (1989).
zu belegen. Das Bild, das sich daraus ergibt, ist das eines selbstständig arbeitenden und sich dem Bewusstsein entziehenden Gehirnmaschinerie, die ständig
Handlungen initiiert, die vom Bewusstsein vor der tatsächlichen Ausführung
ausgewählt werden.
Ein derartiges Szenario erinnert natürlich an Sigmund Freunds Konzept des
Unbewussten, wodurch der Verstand des Menschen nicht „Herr im eigenen
Haus ist“. Wie in Freuds Pferd-Reiter Analogie, demgemäß das Pferd (das „Es“)
bestimmt, wohin es sich mit dem Reiter (dem „Ich“) bewegt, so erscheint auch
in Libets Interpretation das Bewusstsein und der freie Wille dem Pferd „Unbewusstsein“ ausgeliefert zu sein.
Wer konstruiert?
Gemäß Gerhard Roth (Haynes et al. 1998; Roth 2001) aber es könnte noch bedrohlicher für den freien Willen aussehen. Der Teil des Kortex nämlich, der die
höchste Instanz der Handlungsplanung darstellt, steht unter dem Einfluss subkortikaler Areale, die sich dem Bewusstsein entziehen. Er kann nur über Basalganglien auf die für die motorische Steuerung zuständige Großhirnrinde zugreifen. Die Basalganglien üben eine bewertende Funktion aus und stehen ihrerseits
wieder unter dem Einfluss weiterer limbischer Systeme. Damit scheint der VetoMöglichkeit des Bewusstseins weitere Schranken auferlegt zu sein, da auch sie
letzten Endes unter dem Einfluss des limbischen Systems steht. Gemäß Roth ist
das limbische System ein Bewertungssystem, das aufgrund von Erfahrungen
schnelle reflexartige, aber unflexible Antworten zu vielen Problemen parat hat
und dadurch rasch in eingeübten Situationen reagieren kann (siehe auch Riegler
2001a). Diese Problemlösungen sind in Form von kompakten Neuronennetz-
11
werken implementiert, die das Resultat wiederholten Einübens sind. Was sich
zunächst als neues Problem präsentierte, wofür keine fertigen Rezepte zur Verfügung standen, und das nur über den Umweg des integrierenden flexibel aber
langsam arbeitenden Bewusstseins angegangen werden konnte, wird durch Anlegen neuer kortikaler Netzwerke zum eingeschliffenen Routinefall, der am besten
ohne Bewusstsein bewältigt wird. Damit wird das Bewusstsein zum Hilfsmittel
des unbewussten Bewertungssystems, das nur für komplizierte neue Situation
gebraucht wird.
Parallelen zum Seele-Begriff
Wie es nun tatsächlich um das Bewusstsein bestellt ist, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, da die Experimente von vielen vehement kritisiert werden (siehe
etwa Gomes 1998; van de Grind & Lokhorst 2000). Diese Kritiken beziehen sich
vor allem auf die Folgerungen, die Libet aus seinen Experimenten zieht, aber
auch auf die dem Experimentaufbau zugrunde liegende Annahmen, wie etwa die
Rolle des Bereitschaftspotentials.
Aber auch Gomes muss trotz seiner Kritik bekennen: „I believe we can
agree with Libet’s conclusion that voluntary acts are nonconsiously initiated“
(Gomes 1999, p. 59) Das ist auch alles, was wir von Libet’s Experimenten als
empirische Bestätigung wollen. Es geht hier schließlich um die Frage, wer konstruiert.
Mit dieser Einsicht eröffnen die Resultate und Interpretationen von Libet
und Roth eine neue Perspektive auf die Rolle der Seele. Ich möchte an dieser
Stelle nicht die Idee vertreten, dass eine metaphysische Seele letzten Endes alles
antreibt. Viel interessanter scheint es, das Konzept der Seele, so wie es im Verlaufe der Geschichte vertreten wurde, im Zusammenspiel der kognitiven Konstrukteure wiederzufinden. Und tatsächlich bestehen viele Parallelen zwischen
dem traditionsbeladenen Seelenbegriff und dem bisher Gesagten, so dass es
lohnt, auf diese Parallelen etwas genauer einzugehen.
Vereinfachend gesagt wird der Begriff der Seele verwendet, um das zu bezeichnen, was uns von einem Stein unterscheidet, also die Gesamtheit kognitiver
und emotionaler Funktionen. Der Körper lebt nur scheinbar, denn er wird von
der in ihm wohnenden Seele angetrieben, ähnlich wie ein Fahrzeug nur scheinbar
„lebt“ und sich bewegt, wenn sich ein Fahrer darin befindet.9 Trifft es zu, dass
9
12
Diese vitalistische Interpretation der Seele, die bis ins 19. Jahrhundert und darüber hinaus
vor allem in populären Deutungen der Seele vorherrschte, hatte bereits Ernst Haeckel beunruhigt. Er schrieb 1899 über diese Anschauung, „daß zwar ein Theil der LebensErscheinungen auf physikalische und chemische Vorgänge zurückzuführen sei, daß aber
ein anderer Theil derselben durch eine besondere, davon unabhängige Lebenskraft (Vis vitalis) bewirkt werde. […] Nicht allein die Seelenthätigkeit selbst, die Sensibilität der Nerven und die Irritabilität der Muskeln, sondern auch Vorgänge der Sinnesthätigkeit, der
das limbisch-emotionelle System der Konstrukteur unserer Wirklichkeit ist,
dann können wir diese vitalistische Definition der Seele hier dingfest machen.
Die Seele ist dem Bewusstsein transdendent, aber zugleich der Antrieb des Lebendigen. Die Unangreifbarkeit der Seele durch das Bewusstsein findet sich beispielweise auch bei David Hume, demzufolge grundsätzlich nur Perzeptionen
wie Eindrücke und Vorstellungen, aber niemals die Seele selbst Gegenstand des
Bewusstseins sein können (Hume 1978, Buch I, Sect. VI.). Genau das ist es, was
die Ausführungen von Libet und Roth zusammen implizieren: ein dem Bewusstsein entzogener Konstrukteur.
Umschreiben wir die Seele als individuelle Erlebnisgeschichte des Menschen, d.h. seine persönliche Identität und die Gesamtheit aller seiner Erlebnisse,
so finden wir auch hier das unbewusst arbeitende limbische System wieder. Wie
wir oben besprochen haben, ist ja eine der zentralen Aussagen des RK, dass wir
aufgrund unserer Erfahrungen konstruieren.
In der Antike findet sich Platons Beschreibung der Seele als „Autokinesis“,
die Selbstbewegung im Sinne von Selbststeuerung. Dieses Konzept kann verglichen werden mit dem unbewussten Konstruieren des Gehirns, das den Reiter,
das Ich- Bewusstsein, bestimmt. Platon meinte „Seele also leitet alles am Himmel, auf der Erde und im Meer durch die ihr eigenen Bewegungen“ (Platon,
Nomoi, 10. Buch, 897 a). Damit ist auch verständlich, dass für Platon der
Mensch das Maß aller Dinge ist, da sich in der menschlichen Seele seit Urzeiten
universale Grundsätze oder Gedanken finden, nämlich die Bewertungskriterien,
die der unbewusst arbeitende kognitive Apparat aufgestellt hat. Schließlich konstruiert das unbewusste Gehirn nicht bloß Verhaltensstrategien. Gemäß des KK
konstruiert es die Wirklichkeit, der wir als bewusster Beobachter beiwohnen und
als objektiv-absolut attribuieren.
Es ist auch Platon, der sagt, dass das Verstehen nicht aus den Sinnen
kommt, sondern aus der Seele emporsteigt, eben aus dem unbewussten Konstrukteur kommt und sich als Instanz eines Gedanken manifestiert. Platon führt
aus, dass diese Ideen hinter den einzelnen Gedanken das Wesen, die substantielle
Wirklichkeit sind, die als Archetyp allen Dingen gemeinsam sind. Die Ideen sind
im menschlichen Geist nicht nur Gedanken. Sie sind unabhängig vom bewussten
Denken. Dieses ewig durchdringenden Wesen liegt allen Dingen zu Grunde. Aus
der Perspektive, wie sie hier vertreten wird, scheinen die Ausführungen Platons
kompatibel, denn das, was sich dem Bewussten entzieht, muss folglich als unabhängig und unveränderlich erscheinen und von Veränderungen der Erscheinungswelt unberührt sein.
Schließlich finden wir einen Hinweis auf den konstruktiv(istisch)en Charakter der Seele bei den Stoikern. Für sie gleicht die Seele bei der Geburt einer
unbeschriebenen Tafel, in die sich Wahrgenommenes wie ein Abdruck in Wachs
Fortpflanzung und Entwicklung erschienen allgemein so wunderbar und in ihren Ursachen
so räthselhaft, daß es unmöglich sei, sie auf einfache physikalische und chemische Naturprozesse zurückzuführen“ (Haeckel 1899, Kapitel 3).
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eindrückt und so Vorstellungen hervorruft. Von diesen bleiben in der Seele Erinnerungsbilder zurück, die durch Verknüpfung zu Erfahrungen werden.
Schluss
Oft wird die Seele dem Körperlichen gegenübergestellt, etwa in Form des Bewusstseins und der Denkkraft. Oft wird aber auch ihre Existenz geleugnet. Das
trifft ganz besonders für das wissenschaftliche Gebiet zu, wo das Konzept der
kaum noch Verwendung findet. Thomas Metzinger (1996) hält das endgültige
Aus für die Seele für sehr wahrscheinlich, sobald die Forschung die neuronalen
Korrelate von Bewusstsein vollständig herausfindet: „Theorien, die sich noch an
diesem Begriff orientieren, würden dann genauso irrational erscheinen wie die
[…] Theorie, nach der sich die Sonne um die Erde dreht. Das könnte dazu führen, dass Leute, die […] hartnäckig mit altmodischen Begriffen wie dem der
‚Seele‘ operieren, genauso verlacht werden wie Leute, die heute noch im Ernst an
Ptolemäus’ Weltbild glauben“.
Wie bereits erwähnt, denke ich nicht, dass es noch Sinn hat, den Platz der
Seele zu suchen, wenngleich behauptet werden könnt, dass bei den 100 oder
mehr Billionen Synapsen des neuronalen Systems genug Platz ist, um eine Seele
darin unterzubringen – oder eine naturwissenschaftliche Erklärung zu finden.
Gerade der KK betont, dass Konsistenz und Kohärenz ausschlaggebende Kriterien sind, und nicht der Bezug zu einer absoluten Wahrheit.
Danksagung
Diese Arbeit wurde von der Österreichischen Akademie der Wissenschaft im
Rahmen eines APART Stipendiums unterstützt.
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