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Sprechen und Verstehen

2014

Demokratisches Denken und Handeln auf "Herrschaft durch die Sprache" zu reduzieren, verkennt die Tatsache, dass Demokratie mehr ist, als sich sprachlich zu aussern und zurechtzufinden.

Meinung und Debatte 10.01.14 / Nr. 7 / Seite 18 / Teil 01 ! NZZ AG Sprechen und verstehen Sprache ist alles andere als ein selbständiger Code. Von Klaas Willems In seinem Gastbeitrag «Demokratie, Sprache und Wissen» (NZZ 18. 12. 13) hebt Erich Ortner wie folgt an: «Demokratie heisst Sprachherrschaft.» Der Verfasser meint, dass Demokratie «eigentlich Sprach- und nicht Volksherrschaft heissen» müsste. Demokratisches Denken und Handeln auf «Herrschaft durch die Sprache» zu reduzieren, verkennt nun aber die Tatsache, dass Demokratie mehr ist, als sich sprachlich zu äussern und zurechtzufinden. Die Idee einer «Sprachherrschaft» ist einem archaischen Denken verpflichtet, das nicht nur die Rolle von Mehr- und Anderssprachigkeit in demokratischen Gesellschaften verkennt, sondern auch diejenigen wie ein Schlag ins Gesicht treffen muss, die entweder (noch) keinen gesellschaftlich tragfähigen Sprachgebrauch entwickelt haben (z. B. Bedürftige, Kinder) oder aus unterschiedlichen Gründen nie entwickeln werden (z. B. Behinderte). In einem nächsten Schritt bezieht sich der Verfasser auf Gottlob Freges bekannte Unterscheidung zwischen «Sinn» und «Bedeutung», die er missverständlich als «Schema» und «Begriff» paraphrasiert. Er entwickelt den bizarren Gedanken, dass eine Sprache ein Begriffssystem mit einer «epistemischen Autorität» sei, das auf Begriffen und Regeln basiere, nach denen jene Begriffe zu Sätzen verbunden würden. Einerseits ist eine Sprache aber alles andere als ein selbständiger Code. Andererseits wird in Sätzen vieles miteinander verbunden, auf keinen Fall aber Fregesche Bedeutungen. Was an Inhalten in Sätzen steckt, ist ja nicht dasjenige, worüber Menschen mittels der Sätze sprechen – das eine findet sich in der Sprache, das andere in der aussersprachlichen «Welt». Alle Angehörigen einer Sprachgemeinschaft haben laut dem Verfasser des Gastbeitrags das Recht, sich an der «Überarbeitung und Neufassung von Sprachregeln zu beteiligen». Sein Hauptanliegen ist aber, zu zeigen, dass dies ein ITSystem schneller, sicherer und konsistenter machen könnte als die Menschen selber mit ihren natürlichen Sprachen. Eine sehr eigenwillige These: Erstens wird jede Sprache jeden Tag unablässig von sprechenden Individuen, die zu sehr verschiedenen Gruppen einer Sprachgemeinschaft gehören, geschaffen – Überarbeitungen und Neufassungen von Sprachregeln sind höchstens das tote Machwerk kontrollierender Instanzen, die nicht akzeptieren können oder wollen, dass Sprache «im jedesmaligen Sprechen» (Humboldt), wozu Dissens wesensmässig gehört, kreiert wird. Zweitens verwechselt der Verfasser das Sprachsystem, das dem Sprechen nicht so sehr zugrunde liegt, als ihm vielmehr in der Aktivität des Sprechens selbst unablässig erwächst, mit den Produkten von Diskursen. Diese Produkte sind die «Texte», die dialogisch erzeugt werden, wenn Sprecher die phonologischen, semantischen und syntaktischen Strukturen eines Sprachsystems, das einzelsprachspezifisch ist, realisieren. Sie sind Produkte des freien menschlichen Geistes, ja der menschlichen Freiheit par excellence – Freiheit, die ständig über alles sprachsystematisch Vorgeprägte hinausgeht und insofern Menschen im Gespräch miteinander den Weg weist, über das, was bereits gesagt und gedacht wurde, hinauszugehen. Nicht wider Erwarten träumt der Verfasser von einem IT-System (er plädiert für eine sogenannte Orthosprache), das «als die verantwortliche Autorität» im Hintergrund wirke, im Klartext: sein Unwesen treibt, ohne dass jemand diese Orthosprache auch nur «sprechen oder gar komplett beherrschen» müsse. Ich plädiere dafür, dass viele Menschen möglichst viele Sprachen so gut wie möglich beherrschen, keinem einzigen IT- System trauen und selber – als freie Individuen, für die IT vor allem nicht mehr als ein nützliches Mittel ist – für ihr Denken und Handeln Verantwortlichkeit übernehmen. ............................................................................................................................. Klaas Willems ist Professor für Linguistik an der Abteilung für Allgemeine Sprachwissenschaft der Universität Gent, Belgien.