Psychotherapie im Dialog 3• 2015
Joachim Küchenhoff
Die Suche nach dem Subjekt im psychotischen Erleben
In der psychoanalytisch fundierten Psychotherapie geht es darum
das Subjekt zu finden, dort wo es sich äußert, ohne sich selbst
vertreten zu können. Dabei ist das Subjekt nicht nur im unbewussten
Erleben aufzuspüren. Manches Handeln, z. B. Selbstverletzungen,
manche Wahrnehmungen, z.B. das Hören von Stimmen, können
als Akt verstanden werden, der dazu dient, Subjektivität überhaupt
herzustellen. Zu fragen ist stets, ob im Symptom, im scheinbaren
Defizit, selbst ein Ausdruck verborgener Subjektivität, die nicht gelebt
werden kann, und ein Versuch der Subjektkonstituierung enthalten sind.
Verstehende Psychopathologie
Karl Jaspers hat zugleich auch die Grenzen
des Verstehens definiert. Sie liegen freilich
Der Sinn des Symptoms und die Grenzen des Sinns Karl Jaspers hat den Begriff
„Verstehende Psychopathologie“ (Jaspers
Funktionalität psychotischer Symptome So ist es konsequent, dass Stavros
nicht fest; um den Sinn und die Grenzen des
Mentzos sich mit eigenen Ansätzen von der
Sinns muss in einer verstehenden Psychopa-
OPD distanziert hat. Mentzos (2009) betont
thologie immer neu gerungen werden.
die Funktionalität psychischer Störungen:
1973) geprägt. Diese geht über die Beschrei-
Er begreift psychische Vorgänge nicht als
bung psychischer Auffälligkeiten hinaus und
determinierte Prozesse, sondern versteht
erfasst die lebensgeschichtliche Verwurze-
Die Frage nach dem Sinn eines Symptoms ist
lung der Leiden ebenso wie den persönlichen
zugleich die Frage, ob in der Krankheit sich
Ziel hin orientiert. Außerdem geht er da-
Sinngehalt der Symptomatik. Die anthropo-
auch die Subjektivität des psychotisch kran-
von aus, dass die Konfliktlösungen für be-
logische Psychiatrie, die Daseinsanalyse, die
ken Menschen äußert.
stimmte Krankheitsformen charakteristisch
sie finalistisch, also auf ein bestimmtes
Gestaltpsychologie oder die Strukturdyna-
sind, nicht die Konflikte selbst. Wenn aber
mik wollten später psychotische Störungen
der Modus der Abwehr entscheidend für
in ihrer Sprachstruktur, ihrer Dynamik, ihrer
die Entstehung eines psychischen Leidens
Verbindung zur Persönlichkeit und ihrer Veränderung der Daseinsvollzüge verstehen. Sie
sind fast in Vergessenheit geraten; nur die
Der subjektive Sinn in der
Psychose – psychoanalytische
Modelle
ist, gestaltet ein Teil der Persönlichkeit die
Krankheitssymptome mit – die also nicht
Zerfallsprodukte sind, Splitter eines Selbst
oder einer Persönlichkeit.
psychodynamischen Ansätze sind lebendig
geblieben. Diese haben deshalb – so meine
andernorts formulierte These (Küchenhoff
Strukturdiagnostik
2001) – in Bezug auf die verstehende Psycho-
sierte Psychodynamische Diagnostik (Ar-
Durch die funktionale und die abwehrdy-
pathologie eine Statthalterfunktion:
beitskreis OPD 2014) beschreibt in der
namische Analyse psychotischer Symptome
Die Operationali-
▶ In ihrem Bemühen, Sinn und Nichtsinn
Strukturachse das desintegrierte Niveau der
kommt das Subjekt des Kranken zwingend
der psychotischen Erlebnisformen aus-
Persönlichkeit, das der psychotischen Struk-
in den Blick.
zumessen und mit Biografie und Bezie-
tur weitgehend entspricht. So hilfreich sie
hungserleben zu verbinden, mahnen
ist, so bleibt sie defizitorientiert – das Wort
die psychodynamischen Ansätze an die
„Desintegration“ zeigt dies an. Beschrieben
verschütteten Anliegen einer ehedem
wird der Zerfall des Selbst; das Subjekt wird
Freud hatte in seiner Arbeit zu D. P. Schreber
breiter abgestützten verstehenden Psy-
auf diese Weise nicht sichtbar.
die Entstehung des Wahns als Abwehr auf
chopathologie.
Wunschabwehr in der Psychose
Schon
dem Weg der Projektion von verpönten ho-
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Ein psychoanalytischer Zugang
Psychotherapie im Dialog 3• 2015
Aus der Praxis
mosexuellen Wunschregungen zu verstehen
die Wirklichkeit behandelt, dann fällt
versucht (Freud 1911, S. 299f). Freud macht
die Differenz zwischen Wort und Sache
Kommunikative Psychopathologie und
Positivierung Wohl niemand hat die
(noch) keine grundlegende Differenz zwi-
dahin, und ein Konkretismus entsteht.
Suche nach dem psychotischen Subjekt so
schen Neurose und Psychose, er macht ei-
Gleichviel: Aus dem Zerfall der Sprache
konsequent ins Zentrum der eigenen The-
nen Abwehrvorgang für den psychotischen
ein Versuch der Kommunikation!
rapiekonzeption gestellt wie mein verehrter Vorgänger in Basel, Gaetano Benedetti
Containing und subjektiver Sinn
Viel-
(Küchenhoff 2012). Er hat Psychopathologie
ges Ich voraus, eine Kraft, die an der Gestal-
leicht aber ist die Subjektivität, ist das, was
nicht als reine Deskription verstanden. Psy-
tung des psychotischen Erlebens mitwirkt.
die Persönlichkeit des Kranken beherrscht
chopathologie verbindet vielmehr die Welt-
Freud beschreibt die resultierenden Formen
und bestimmt, ja gar nicht bei ihm selbst,
entwürfe des Patienten, sein Erleben und die
als Variationen eines propositionalen Satzes:
nicht in seinem Erleben, sondern im Erle-
klinische Symptomatik. Sie wird zur Lehre
„Immerhin bleibt es merkwürdig, dass die be-
ben der Anderen auffindbar. Das war der
von den Ausdrucksformen der Subjektivität
kannten Hauptformen der Paranoia alle als
große Schritt, den Melanie Klein und nach
unter den Bedingungen schweren psycho-
Widersprüche gegen den einen Satz ‚ich [ein
ihr Wilfred Bion gegangen sind, mit der Be-
sozialen Leidens und von den Möglichkeiten
Mann] liebe ihn [einen Mann]‛ dargestellt
schreibung der projektiven Identifizierung,
ihrer sukzessiven therapeutischen Umwand-
werden können, ja, dass sie alle möglichen
mit der Beschreibung der Verlagerung von
lung. Die Grundhaltung des Therapeuten
Formulierungen dieses Widerspruches er-
nicht integrierbaren Erlebnisfragmenten in
wird als „Positivierung“ bezeichnet. Das
schöpfen.“ Ein propositionaler Satz aber ist
den Anderen.
Symptom wird so verstanden, dass sich in
ein Aussagesatz, der ein Subjekt der Aussage
▶ Containing heißt, dass am Ort des Ande-
ihm die Subjektivität des Patienten verdich-
notwendig voraussetzt. Bei Freud ist dieses
ren das Subjekt bewahrt werden kann,
tet; je schwerer krank der Patient ist, um so
Subjekt fraglos vorhanden.
wenn es außer sich ist, wenn also das ei-
mehr wird das Symptom zum letzten Ort, an
gene Erleben es nicht mehr vermag, die
dem sich Subjektivität äußern kann.
Worte als Brücken zum Objekt.
Freud
befasst sich bald mit den Unterschieden
divergierenden, ambitendenten Erlebnisseiten zu beherbergen.
zwischen Neurose und Psychose: „Bei der
„Kommunikative Psychopathologie“ versteht
Schizophrenie, … , muss uns der Zweifel auf-
Und das geht ja nur, weil es in der Entwick-
Pathologie nicht als Anzeichen einer zerstör-
tauchen, ob der hier Verdrängung genannte
lung nicht anders abläuft, dass – nach Bion
ten Innenwelt, sondern als Mitteilung. Wer
Vorgang überhaupt noch etwas mit der Ver-
– die „Reverie“ der Mutter es vermag, sich
sich so einlässt, bleibt nicht auf der Seite des
drängung bei den Übertragungsneurosen
träumerisch ahnungsvoll dem inneren Er-
objektiven Beobachters; er teilt seine Subjek-
gemein hat. … Aber der Fluchtversuch des
leben des Infans zu nähern, es beschreibbar
tivität mit dem Patienten, bildet ein „Über-
Ichs, der sich in der Abziehung der bewuss-
und dann dem in die Sprache hineinwach-
gangssubjekt“ mit ihm.
ten Besetzung äußert, bleibt immerhin als
senden Kleinkind fassbar werden zu lassen.
das Gemeinsame bestehen.“ (Freud 1915,
Aus der Einfühlung der Mutter wird eine
S. 300f). Freud beschreibt den Fluchtversuch
seelische Instanz; die Instanzen der eigenen
als „Einziehung der Triebbesetzung von den
Persönlichkeit, die der Verarbeitung von Er-
Stellen …, welche die unbewusste Objektvor-
fahrungen dienen, stammen vom Anderen
Das Symptom verstehen
stellung repräsentieren“. Dem Fluchtversuch
(Bion 1990, S. 147). Die psychotische Des-
Anhand von klinischen Beispielen soll nun
antwortet das Bestreben, in die mit ande-
integration führt an diese interpersonalen
gezeigt werden, wie die verborgene Subjek-
ren geteilte Welt zurückzukehren, die auch
Ursprünge des Subjektes zurück.
tivität gefunden werden kann.
Verdrängungsakt gehört, sondern den ersten
In der Therapie muss es um die Einbindung
Auch wenn die Triebpsychologie nicht mehr
der Herstellungs- oder Heilungsversuche dar-
der Erfahrung gehen, indem der Therapeut
als umfassender Erklärungsansatz taugt, so
stellt … . Diese Bemühungen wollen die verlo-
erst stellvertretend für den Kranken Erfah-
ist es doch – gerade bei den Menschen, die
renen Objekte wiedergewinnen.“
rungen verarbeitet, damit in einem 2. Schritt
chronische Wahnformen entwickeln, ohne
▶ Die Worte sind die Brücken zu den
der Kranke nicht nur die Erfahrungsinhalte,
dass ihr Denken und ihre kommunikative
durch Besetzungsentzug verlorenen
sondern auch die Verarbeitungsfunktion
Fähigkeit wesentlich beeinträchtigt wäre –
Objekte. Aber sie sind Brücken, die in
selbst übernimmt.
eine Welt der Sprache ist, dergestalt „dass
Das Subjekt im Wahn
die Besetzung der Wortvorstellung nicht zum
die Irre führen können. Werden sie wie
wichtig, nach den nicht gelebten Bereichen
von Sexualität und Aggressivität zu suchen,
die in den Wahninhalten nur verdreht und
projiziert sich äußern können.
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Mechanismus verantwortlich. Das setzt aber
wieder ein in irgendeiner Weise wirkkräfti-
Psychotherapie im Dialog 3• 2015
Eine 62 Jahre alte Frau leidet an einer
paranoiden Symptomatik, die sich auf ihren
Das Subjekt in den Worten
Wenn es richtig ist, dass die Sprache der
das und nur das, also nichts Neues berichten
Kranken nicht nur einfach Anzeichen der
wolle. Daraufhin schaut er mich wieder kurz an
Fragmentierung enthält, sondern auch ein
und berichtet etwas Neues, nämlich dass er sich
Ehemann bezieht. Sie lebt mit dem tyrannis
Ort sein kann, in dem sich die Subjektivi-
schon längst im Zustand der Auflösung befinde;
chen Partner seit Jahrzehnten zusammen. Sie
tät, ein Stück der zu schützenden persön-
weil die Augenlinsen sich auflösten, sehe er nicht
kann sich ihm gegenüber nicht behaupten und
lichen Eigenheitssphäre verbirgt, so gilt es,
mehr richtig, nur Bläschen. Da der ganze Körper
schluckt hinunter, was sie ihm gern entgegen
in einer besonderen Weise zuzuhören, was
von diesen Bläschen durchwirkt sei, weil er gar
schleudern möchte. Etwa alle 2 Jahre mobilisiert
uns die Patienten sagen können. Da die ei-
kein Fleisch mehr habe, sei er ohnehin schon
sie einen wiederkehrenden Wahn. Dann ist sie
genen Resonanzräume, die eigenen assozi-
nicht mehr am Leben, ich solle ihn daher in Ruhe
überzeugt davon, dass der Ehemann ihr nach
ativen Möglichkeiten des Kranken so ein-
lassen. Ich frage nach den Bläschen, die er als
dem Leben trachtet; er hat sich mit einem
geschränkt sind, muss der Therapeut umso
CO2Bläschen beschreibt. Herr X ist Chemiker;
Kumpanen verbündet, sie hört ihren Gesprächen
mehr Phantasieräume zur Verfügung stellen.
mit dem Wort Bläschen teilt er mir mit, dass er
zu, die Andeutungen, ja Absprachen enthalten,
Weil die Repräsentationen kaum vernetzt
sehr wohl realisiert, dass sich in seinem Körper
die zum Ziel haben, sie zu beseitigen. Was bringt
sind in einer der willkürlichen Verfügung
aufgrund der Herzinsuffizienz zu viel CO2 ansam
das labile Gleichgewicht immer neu durchein
des Kranken unterstellten Struktur, muss
melt und dass die Herzerkrankung lebensbed
ander? Auslösend wirken nicht traumatische,
das Wiederanknüpfen von psychischen Ver-
rohlich ist. Er teilt mir aber auch mit, dass er
sondern im Gegenteil hoffnungsfrohe Mo
bindungen im Therapeuten entstehen.
nicht am Leben sein möchte, dass sich das Le
mente. Wenn sie Nähe spüren möchte, sexuelle
Wünsche entwickelt, kommt sie mit diesen
ben, das er seit vielen Jahren führt, kaum lohnt.
Fallbeispiel
nicht zurecht. Auf wen sollte sie die Wünsche
Jedenfalls höre ich das aus den Schilderungen
der bläschenhaften Auflösung des Körpers
richten? Auf ihren Mann? Dann geraten sie in
Herr X leidet seit über 30 Jahren an einer
heraus. Ich teile ihm mit, was ich höre – und
einen nicht vermittelbaren Widerspruch zu den
chronischen Schizophrenie. Er hat zugleich
wieder schaut er mich an, sagt dazu nur, dass es
Hassgefühlen, die sie wegen seiner Dominanz
ein schweres Herzleiden, das er aber ignoriert
wichtig sei, die Gedanken zusammenzuhalten
über Jahrzehnte angesammelt hat. Auf einen
und das unbehandelt bleibt. Herr X spricht fast
und wichtige Gedanken zu denken, nicht die
anderen Mann? Davor schützt sie das innere
nie, und wenn, dann betont er, dass er völlig
täglichen Nichtigkeiten, und dass er deshalb das
Arbeitsmodell der unterwürfigen Frau, das Tabu,
gesund sei. Er lebt zurückgezogen, kann seit
Gespräch abzuschließen gedenke. Zum ersten
das über ihrer Selbstentfaltung liegt. Was hilft
fast 30 Jahren seinem Beruf eines Chemikers
Mal reicht er mir die Hand.
ihr in der Therapie? Sie lässt sich durchaus ein
nicht mehr nachgehen. Der Kontakt mit ihm ist
auf die deutende vorsichtige Entfaltung dieser
anstrengend, weil Herr X gar nicht kommuni
Zusammenhänge im Gespräch, meint, dass ich
zieren will. Wenn er mit mir spricht, passen seine
Das Subjekt in der Negativität
recht haben könnte – aber sie stellt sogleich klar,
Worte haargenau in das (schlechte) Schema
Was negativ erscheint oder als negativ be-
dass die Realität unumstößlich sei. Ich habe sie
eines Dialogs zwischen einem Anstaltspsychiater
wertet wird, kann sich als destruktiv, aber
erreicht, und zugleich weist sie mich zurück. Sie
und einem chronischen Patienten. Als ich ihm
durchaus auch als produktiv erweisen. Kli-
braucht die Wahngewissheit, weil die Erkenntnis
das sage, schaut er mich an. Er schaut immer
nisch ist es wichtig, beide Möglichkeiten
der eigenen Wünsche sie völlig überfordert.
nur dann auf, wenn er überhaupt in Kom
in Betracht zu ziehen. Die Suche nach der
Aber da ist eine Mitpatientin, die an den Folgen
munikation treten mag. Das macht es auch
Subjektivität des Kranken gilt selbst dann,
einer Multiplen Sklerose und einer schweren
wieder leicht, weil immer offensichtlich wird,
wenn diese sich nur in der radikalen Grenz-
Depression leidet und mit der sie sich solidari
wann er sich denn überhaupt auf ein Gegenüber
ziehung, in der Desobjektalisierung (Green
siert. Mit ihr lebt sie auf, da spielt der Wahn gar
einlassen kann oder will. Er bestätigt meine
1983) oder in der Zerstörung von Verbin-
keine Rolle mehr, er verliert sich. Die Mitpatien
Aussage insofern, als er mir entgegenschleu
dungen (Bion 1959) zeigen kann. So kann
tin ringt um ihre durch die Multiplen Sklerose
dert, dass sich in dem Gespräch seit 25 Jahren
z. B. die Negativsymptomatik im Rahmen
beschnittene Weiblichkeit, und im Austausch
nichts verändert habe (ich kenne ihn nicht),
eines schizophrenen Residuums für den
mit ihr befasst sich die Patientin mit ihrem
alles sei immer das Gleiche und daher überflüs
Therapeuten aussagekräftig werden, wenn
Identitätsgefühl als Frau, ohne die eigenen
sig angesichts der wirklich wichtigen und
er in einem scheinbar offensichtlichen De-
Möglichkeiten zu überspannen.
entscheidenden Dramen in der Welt. Er deutet
fekt eine Negation, ein „Nein-Sagen“ hört
seine kosmologischen Untergangsfantasien an,
(Küchenhoff 2013). Es mag erst einmal kon-
die ausführlich in der Krankengeschichte als
traintuitiv erscheinen, wenn die Reduktion
Wahnsystem beschrieben und mir bekannt sind.
der gedanklichen Vielfalt und der Initiative
Ich sage ihm daraufhin, dass er mir aber genau
als produktive Negativität angesehen wird,
aber es gibt klinische Evidenzen, die die Hy-
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Fallbeispiel
Psychotherapie im Dialog 3• 2015
Aus der Praxis
pothese stützen. Wenn der Kranke in einer
ist und von denen die psychiatrische Fach-
Beziehungswelt aufgewachsen ist, in der
so viel schwacher als der Wunsch, Container der
sprache, oder zumindest der Alltagsslang
keine Grenzen gewahrt wurden, dann kön-
verleugneten elterlichen Emotionen zu sein. Die
voll ist.
nen der Verlust der Fantasie und die Ver-
psychotische Negativsymptomatik erscheint als
werfung vieler Gedanken wie ein Schutz-
verzweifelte Kompromissbildung. Es ist, als sagte
Emotionales Engagement
schild durch Sprachlosigkeit erscheinen, wo
er damit: „Ich bleibe den Eltern erhalten, ich bin
sicht muss sich mit dem emotionalen Enga-
andere Abgrenzungen versagt haben.
nur noch bei ihnen“, aber auch: „Ich ziehe mich
gement der Therapeutin oder des Therapeu-
von den Eltern zurück und bin für sie, wie für alle
ten verbinden. Psychoanalytische Therapie
Fallbeispiel
anderen, unerreichbar.“
Die Rück-
lebt davon, dass der Therapeut nicht nur
sein Denken und Wissen, sondern seine
Ein besorgter Vater meldet seinen 25 Jahre
Die therapeutische Haltung in
der Psychosenpsychotherapie
Leidenschaft, seine Bereitschaft sich emotional zu involvieren, seine eigene Affektivi-
eines Kollegen, der eine beginnende Schizo
phrenie diagnostiziert hat. Die Eltern kommen
setzt. Das bedeutet aber auch, dass er seine
Respekt und Rücksicht
Die beschriebe-
tät dem Patienten zur Verfügung stellt.
mit dem Patienten. Dieser ist freundlich, hat aber
nen Rückzugsorte zu erkennen und zu ver-
kein Anliegen, er leidet nicht. Er bestätigt, dass
stehen verlangt eine spezifische psychoana-
Arbeit in und an der Beziehung
er seit 2 Jahren, kurz vor dem möglichen Ende
lytische Haltung und Technik. Respekt oder
der analytischen Therapie gilt, dass die Auf-
seines Studiums, nicht mehr zur Uni gegangen
Rücksicht sind die Grundlage aller psycho-
merksamkeit des Therapeuten sich auf alle
ist, dass er auch zuhause nichts tut, sondern im
dynamischen Arbeit mit psychotisch kran-
Aspekte der therapeutischen Beziehung zu
Bett liegt. Die Sorgen, ebenso wie die Behand
ken Menschen. Sie äußern sich zunächst
richten hat – auch in der Psychosentherapie.
lungsmotivation, liegen ganz bei den Eltern, so
darin, dass die Selbst- und Fremdverborgen-
Dort ist das aber besonders schwer zu reali-
scheint es. Aber sie entstehen auch in mir: Im
heit der psychotischen Subjektivität aner-
sieren. Wenn der Therapeut ein Gespür ent-
dem Familiengespräch folgenden Erstgespräch
kannt wird – sie muss nicht gleich beseitigt
wickeln will, was für die Persönlichkeit des
allein mit dem Sohn rührt er mich sehr an, ich
werden.
In je-
Kranken hier und jetzt, im konkreten Mo-
empfinde ein starkes Mitgefühl mit dem jungen
ment der therapeutischen Begegnung zent-
Mann. Die Eltern hatten viel über ihn gesprochen,
ral ist, kann er nicht von vornherein wissen,
aber auffallend wenig über sich selbst. Sie hatten
Wenn es gute Gründe für den radikalen
die Fragen nach ihrer eigenen Ehe abgewehrt. Als
Rückzug, für die Flucht ganz auf die Seite
kann, ob es die Worte des Patienten sind,
der Patient und ich nun etwas ratlos im Gespräch
des Anderen gibt, dann kann eine treffsiche-
die ihm auffallen, ob das Subjekt sich nicht
zusammensitzen, frage ich ihn, ob mein
re Interpretation nicht nur eine Chance, son-
im Sprechen, sondern im Handeln anzeigt,
Wunsch, ihn zu unterstützen, auch ein Wunsch
dern für den Kranken auch eine Gefahr sein.
ob es darum geht, die Symptome selbst als
ob er seiner Gegenübertragung vertrauen
sei, der ihn selbst bewegen könnte, aber nicht be
seine Garanten aufzufassen usw. Er muss in
wegen dürfe. Zu meiner eigenen Überraschung
einem oft ungesicherten, unübersichtlichen
Rahmen so offen wie möglich bleiben.
versteht er mich: Er bekommt Tränen in die
In jeder Phase der Behandlung sind immer
Augen. Ich frage ihn nach den Anfängen seiner
die Grenzen zu respektieren, die der Kranke
Beschwerden: Er habe nach dem Abitur schon
in irgendeiner Form aufgebaut hat – auch
eine Krise gehabt. Auf mein Nachfragen erwähnt
bei der Formulierung von Deutungen. Das,
Das aber verlangt Denk- und Erlebensfrei-
er, dass er befürchte, die Familie verliere sich.
was der Therapeut an eigenen Gedanken
räume, die ja in der Behandlung oft nicht
Während der Schulzeit habe er den Spitznamen
dem Patienten zur Verfügung stellt, muss
garantiert sind, wenn diese unter Zeitdruck,
„Familienseelsorger“ gehabt. Bei ihm haben sich
gerade dann, wenn er Worte und Symbo-
als Akut- und Notfalltherapie, in einem un-
die Mutter und der Vater – getrennt voneinander
le ergänzt, wenn er versucht, die Welt der
klaren psychiatrischen Setting, an dem vie-
– ausgesprochen. Er war das Sprachorgan einer
inneren Bilder und Repräsentationen zu
le Personen mitwirken, stattfinden muss.
Spielräume im therapeutischen Handeln-
sprachlosen Welt, der Container aller Emotionen
erweitern oder zusammenzufügen, tastend,
Umso mehr müssen solche „belüfteten Räu-
in der Familie. Es blieb kein Platz mehr für eine
auslotend vorgetragen werden, als Angebo-
me“ (Green 1975) immer neu hergestellt
eigenständige Entwicklung. An ihre Stelle tritt ein
te in einem Möglichkeitsraum, ja, auch als
werden, damit der Therapeut seine Gedan-
allzu fertiges Größenselbst: „Ich bin der Retter
Spiel.
ken, Fantasien und Gegenübertragungen belüften und beflügeln kann. Diese „belüfteten
meiner Eltern“. Und doch fühlt er sich heraus
gefordert, erwachsen und selbständig zu werden.
Respekt meint schließlich auch, den Ab-
Räume“ sind auch immer Zeiten des Inne-
Aber dieser Wunsch nach einem eigenen Weg ist
wertungen entgegenzuarbeiten, die sich so
haltens und des Atemholens.
schnell einstellen, vor denen niemand gefeit
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alten Sohn zur Konsultation an; ich erhalte
– mit Einverständnis des Sohns – den Vorbefund
unbewusste Rezeptivität und Resonanz ein-
▶ Belüftete Räume, Zeiten des Durchatmens – wenn sie nicht im Behandlungsrahmen garantiert sind, müssen sie um
so mehr in der ungehinderten Reflexionsarbeit der Supervision eröffnet
werden. Sie ist in der therapeutischen
Arbeit mit psychotisch kranken Menschen unverzichtbar.
Fazit
Psychoanalytisch fundierte Psychotherapie
bei psychotischen Störungen nimmt die
psychopathologischen Symptome nicht nur
als Anzeichen gestörter Funktionen wahr,
sondern als Ausdrucksformen, in denen
sich die Subjektivität des Patienten anzeigt.
Der Therapeut entwertet sie daher nicht,
sondern respektiert die mit ihnen verbundene Leistung und ist offen dafür, in scheinbaren Defiziten u. U. einen subjektiven Sinn
zu entdecken. Das verlangt emotionales
Engagement in der therapeutischen Beziehung, die nur dann möglich ist, wenn sie
durch Freiräume, z. B. in der Supervision,
abgestützt ist.
Prof. Dr. med.
Joachim Küchenhoff
Psychiatrie Baselland
Bienentalstr.7
CH4410 Liestal
joachim.kuechenhoff@
unibas.ch
geb. 1953, Facharzt für
Psychiatrie, Facharzt für
Psychosomatische Medizin
und Psychotherapie, Psychoanalytiker (IPA); ärztlicher
Direktor der Erwachsenenpsychiatrie der Psychiatrie
BaselLand, Professor für Psychotherapie und Psych
iatrie an der Universität Basel; Arbeitsschwerpunkte:
Psychotherapie schwerer seelischer Störungen,
Körpererleben und Psychosomatik, interdisziplinäre
Forschung in Kulturwissenschaften, Literaturwissen
schaften, Philosophie und Psychoanalyse.
Interessenkonflikt
Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Beitrag online zu finden unter
http://dx.doi.org/10.1055/s-0041-102237
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