Husserl Studies 10: 65-80, 1993.
© 1993 KluwerAcademic Publishers. Printed in the Netherlands.
Passives Noema und die analytische Interpretation
LUIS ROMAN RABANAQUE
University of Buenos Aires, Argentina
1. Einleitung
FOllesdal ist zuzustimmen, wenn er sagt, dal3 das Noema bei Husserl einen
der grundlegenden Begriffe der Ph~inomenologie darstellt und seine richtige
Auslegung fiJr die gesamte phanomenologische Unternehmung von
zentraler Bedeutung ist. Zugleich rief die Interpretation, die F¢llesdal
beztiglich des Noema gegeben hatte, eine lebhafte Polemik hervor. Die
Kritik, die man an seiner Position ge~ibt hat, kann in zwei Punkten zusammengefaBt werden: Einerseits wird kritisiert, dab F¢llesdals Interpretation
dem Kontext der Husserlschen Texte, besonders der Logischen Untersuchungen und der Ideen I, nicht gerecht wird. So entdeckt Lenore
Langsdorf bei F¢llesdal unausgesprochene Voraussetzungen tiber die
Beziehung des Bewul3tseins auf seinen Gegenstand; Mary Jeanne Larrabee
stellt fest, dab F¢llesdals Vorgehen der Ph~inomenologie selbst fremd ist,
weil er ihre eigenttimliche Methode nicht in Betracht zieht, und Robert
Sokolowski ftihrt eine Unterscheidung ein zwischen der Reflexion, die auf
die Bedeutungen der Sprache, und derjenigen, die auf die Noemata gerichtet ist. 1 Andererseits wird bemerkt, dab F¢llesdal Husserls Texte unvollstfindig bzw. einseitig, jedoch nicht g~inzlich falsch ausgelegt hat. Diese
entgegenkommende Haltung nehmen u.a. Donn Welton, Robert Solomon
und Hubert Dreyfus ein, welche, wenn auch sehr unterschiedlich, die
Annahme vertreten, die Charakterisierung des Noema als Fregeschen Sinn
passe in den Rahmen der statischen, nicht aber der genetischen
Ph~inomenologie.~
Die erstgenannte Art der Kritik wurde bereits in zahlreichen Abhandlungen vorgetragen. Mit der vorliegenden Arbeit wollen wir hingegen auf die
Beziehung aufmerksam machen, die zwischen den Thesen F¢llesdals und
einigen Ausftihrungen der genetischen Ph~aomenologie Husserls besteht.
Bekanntlich grtindet Follesdal seine Auffassung fast ausschliel31ich auf die
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Phanomenologie der Ideen und auf eine kleine Anzahl unver6ffentlichter
Husserlscher Manuskripte. Unseres Erachtens hat er dabei die Beschrankungen der Analysen der Ideen I tibersehen, die Husserl selbst in
seinem sp~iteren Werk zu tiberwinden versuchte. Auch wenn es m6glich
w~ire, von auffallenden ,~hnlichkeiten (striking similarities) zwischen dem
noematischen Sinn und dem Sinn nach Frege zu sprechen, werden solche
Ahnlichkeiten relativiert oder sogar eliminiert, wenn man Husserls Auffassung der passiven Konstitution der Wahrnehmung in Betracht zieht.
In einem neuen Artikel hat F¢llesdal seine Position wiederholt, wobei er
seine alten Thesen ohne wesentliche Anderungen verteidigt. Er faBt das
Grundlegende seiner Interpretation in bezug anf drei der zw61f im alten
Artikel dargestellten Behauptungen zusammen. Diese Thesen seien
"besonders beliebte Angriffspunkte" gegen seine Auffassungen vom
Noema gewesen: Nach These 1 stellt das Noema eine Verallgemeinerung
des Bedeutungsbegriffs auf das Gebiet aller Akte dar, also "eine intensionale (intensional mit 's') Entit~it". These 4 geht von der Behauptung aus,
das Noema des Aktes sei nicht der Gegenstand, worauf der Akt gerichtet
sei. These 8 lautet: "Noemata sind abstrakte Entit~tten". 3
Wie schon frtiher liefert F¢llesdal auch hier Beweismaterial, das sowohl
systematisch als auch textgetreu seine Behauptungen sttitzt. Zugleich
bedauert er, dab es seinen Gegnem an Textbeweisen mangle. Nach wie vor
ftihrt er ftir seine eigene Position Zitate an, die vorwiegend dem dritten
Abschnitt der Ideen I entstammen. Im folgenden werden wir LIberlegungen
anstellen, die von einem systematischen Gesichtspunkt her eine Neubewertung der an Frege sich orientierenden Auffassung vom Noema veranlassen
und vom Gesichtspunkt der Textinterpretation gegen F¢llesdals Auffassung
vom BewuBtseinskorrelat Stellung beziehen.
Wit tibemehmen die Unterscheidung zwischen drei Begriffen von
Noema, die Rudolf Bernet in bezug auf Husserls Vorlesungen fiber Logik
und Erkenntnistheorie (1907) und tiber Bedeutungslehre (1908) getroffen
hat: Noema als jewe~liges Korrelat eines Aktes, als identischer Sinn, der in
der lJbereinstimmung jeweiliger Sinne auftaucht, und als Gegenstand
selbst, d.h. als ideell identischer Pol mannigfaltiger noematischer Sinne. 4
Hiervon ausgehend m6chten wir zeigen, dab in der genetischen
Phfinomenologie 1. das jeweilige Aktkorrelat ein passives Noema ist, das
von der Wahrnehmung selbst erzeugt wird, d.h. es ist nicht eine
"intensionale" Entitfit im Sinne Freges, die keine Verbindung mit der
Zeitlichkeit besitzt - im Gegenteil ist dieses Noema wesentlich zeitlich
gegeben; dab 2. die noematischen Sinne synthetische Vollztige sind, die
sich auf das passiv Konstituierte griinden, so dab es sich hier nicht um
"abstrakte" Entit~iten handelt, wie Fcfllesdal meint, und dab schlieglich 3.
die Struktur des Horizonts wesentlich dem Sinn zugeh6rt, wo das wirklich
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Gegenw/irtige auf ein System m6glicher Gegenwartigungen verweist, die
einen die Wahmehmung leitenden Stil bestimmen. Diese Struktur besitzt
ihrerseits einen teleologischen Charakter, indem die Sinne in einem
Identit~itspol (Objekt) zusammenlaufen, der als "Idee im Kantschen Sinn"
zum Korrelat geh6rt und vom Noema nicht zu trennen ist. Daraus ergibt
sich eine Auffassung beziiglich des Noema, nach der der noematische Sinn
wie ein komplexes Netz von intentionalen Verweisungen und keineswegs
wie eine in einem platonischen Universum bestehende Entit/it fungiert,
wobei auch die friihere Annahme der Logischen Untersuchungenrevidiert
wird, nach der ein Sinn (Bedeutung) immer die Vereinzelung einer
allgemeinen Spezies ist (vgl. Hua XIX/1,105).
Ein Schwerpunkt der Interpretation F¢llesdals lautet dennoch (F¢llesdal
wiederholt ihn in seinem neuen Artikel), dab Husserl selbst behauptet, das
Noema sei eine Verallgemeinerung des Bedeutungsbegriffes (Hua V, 89).
Wir werden zun~ichst diesen Punkt kurz diskutieren, bevor wir auf den Kem
unserer Darlegung eingehen.
2. Das Problem der Verallgemeinerung des Bedeutungsbegriffes
Nach F¢llesdal streitet Hussefls Behauptung, dab das Noema eine
Verallgemeinerung des Begriffs der Bedeutung hinsichtlich aller Akte sei,
nicht mit der Annahme, dab "selbst die vorsprachlichen Akte ein Noema
haben"; wir mtissen vor allem zwischen einer Verallgemeinerung "von"
("of") und einer Verallgemeinerung "aus" ("from") unterscheiden, wobei
die letzte "schw/icher" ist als die erste, indem sie nicht die Ableitung eines
Begriffes "von" einem anderen, sondem nur die Tatsache voraussetzt, dab
beide zwar gemeinsame Ztige aufweisen, in anderer Hinsicht abet sehr
verschieden sein k6nnen. 5 In unserem Fall k6nnen wir sagen, dab das
Noema eine Verallgemeinerung "arts" der Bedeutung ist - indem beide die
gemeinsame Stmktur des "intentionalen Wesens" haben -, jedoch nicht
"von" im strengen, logischen Sinn von Ableitung. F¢llesdal sagt weiter:
"Die Tatsache, dal] A eine Verallgemeinerung yon B ist, heig nicht, dab B
zuerst kommt und A danach". Auf keinem Fall liegt das Problem hier in
einem zeitlichen Vorhergehen. Wenn man der Entwicklung von Husserls
Phanomenologie nachgeht, entdeckt man in der Tat, dab der Begriff des
"reduzierten" Gegenstands in den Analysen der Wahrnehmung in der
sechsten Logischen Untersuchung vorausgesetzt wird und dab die erste
explizite Erw~ihnung des 'cogitatum qua cogitatum' schon 1904 erfolgt.
Doch erst nach der Entdeckung der ph~inomenologischen Reduktion wird
der Gegenstand systematisch als Forschungsobjekt der ph~inomenologischen Reflexion eingeftihrt. Dies geschieht zum ersten Mal in der
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Vorlesung vom Wintersemester 1906/1907, und zwar ausschlieglich in
bezug auf die anschaulichen Akte. Der Gegenstand der Wahrnehmung ist
also auch ein reines Phanomen (ein "ontisches", wie Husserl hier sagt),
wenigstens wenn man seine Wirklichkeit als Naturding auger acht l~igt und
ihn als "korrelative" Gegenst~indlichkeit des wahrnehmungsm~igigen Aktes
betrachtet (Hua XXIV, 232). Die Einbeziehung der Bedeutung in die
Korrelation findet erst in den Vorlesungen yon 1908 statt, wobei Husserl
eine ontische Dimension des, signitiven Aktes konstatiert (Hua XXVI, 30;
56). In den Ideen I fliegen beide Dimensionen undifferenziert zusammen. 6
Was ist folglich der Sinn der Husserlschen Rede yon "Verallgemeinerung"? Nach unserer Auffassung wird dies erst deutlich, wenn man eine
andere Entwicklungslinie von Husserls Phanomenologie in Betracht zieht,
und zwar die des Verhaltnisses zwischen Bedeutung und Wahrnehmung.
Dieses Verh~iltnis l ~ t sich in einer gewissen Spannung erfassen, die den
Begriff der Intentionalitat selbst betrifft:
Einerseits war das anf'~_ngliche Modell ftir das Verst~indnis der Intentionalitat des Bewugtseins ein sprachliches. In dem bertihmten Beispiel der
Arabeske, das Husserl erstmals in dem Artikel "Psychologischen Studien
zur elementaren Logik" yon 1894 einfiihrte (und das eine wichtige Rolle in
der fiinften Logischen Untersuchung spielt), erhalten die zuerst nur
asthetisch betrachteten Linien und Figuren ftir das Bewugtsein pl6tzlich
eine Bedeutung als Zeichen: Die Arabeske wird als Inhalt bzw. Materie von
einem Akt "aufgefagt" oder "beseelt" (Hua XXII, 115). In den Logischen
Untersuchungen wird die Wahrnehmung nach demselben Schema von
Inhalt und Auffassung beschrieben, so dab damit das bedeutungsmagige
Wesen als intentionales Wesen auf das intuitive Gebiet erweitert wird (vgl.
Hua XIX/1,431). Andererseits hat jede augere Wahrnehmung neben dem
signitiven noch einen intuitiven (anschaulichen) Bestandteil, der auf die
Momente des intentionalen Wesens nicht reduzierbar ist. Daher ftihrt
Husserl in der sechsten Untersuchung den Begriff vom "erkenntnismagigen
Wesen" ein, womit er versucht, die eigenttimliche Spannung innerhalb der
Wahrnehmung zu rechtfertigen. Diese Spannung liegt darin, dab einerseits
die Charakterisierung der Wahrnehmung als eine dem Bedeuten wesentlich
analoge Bewugtseinsweise eine intentionale Kontinuit~it beider Bewugtseinsweisen herzustellen vermag, andererseits das Moment der
anschaulichen Ftille selbst als etwas Fremdes, Unwesentliches erscheint,
das das Schema nicht zu rechtfertigen vermag. Genauer gesagt, das
Problem liegt gerade im Verhaltnis zwischen der Ftille und den sie
konstituierenden Empfindungsdaten.
Auf dieser Weise kommt es in noetischer Hinsicht zu einer
Verallgemeinerung des Bedeutungsbegriffes in seiner Ausweitung auf alle
Akte, d.h., das Schema yon Inhalt und Auffassung, das zu Anfang auf die
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Sprache angewandt wurde, wird jetzt auch auf die anschaulichen Akte
iibertragen. Dennoch wird in noematischer Hinsicht der Begriff des Korrelates, der zuerst auf die Wahrnehmung bezogen wurde, auch auf die nichtintuitiven Akte angewandt und so verallgemeinert.
Diese Spannung vertiefte sich, als Husserl in den Ideen I die korrelativen
noematischen Charaktere des erkenntnism~il3igen Wesens erforschte. Ein
voriibergehendes Ergebnis bot die Auffassung vom "Sinn im Modus seiner
Ftille" (Hua III/1, 304); bekanntlich war Husserl mit dieser Auffassung
nicht ganz zufrieden (Hua III/2, 617). Die L6sung, die er schlieBlich fand,
fiihrt uns zum Kernpunkt unserer Analyse.
3. Die dreifache Dimension des Noema
Bernet zufolge sind bei der auf den Texten von 1907 und 1908 basierenden
Charakterisierung des Noema in den Ideen I, wie erw/ihnt drei verschiedene
Begriffe von Noema zu unterscheiden: Noema als Bewul3tseinsinhalt, als
jeweiliges Korrelat des Aktes, also als noematische momentane
Erscheinung (1), Noema als ideell-identischer Sinn bzw. Bedeutung (2) und
Noema als konstituierter Gegenstand, gegeben in mannigfaltigen
Erscheinungen (3).
In der Mannigfaltigkeit der jeweiligen Abschattungen oder Erscheinungen konztituiert sich ein Sinn, der diesem Str6men gegenfiber identisch
bleibt. Die Mannigfaltigkeit der noematischen Sinne ermtiglicht ihrerseits
die Darstellung des Gegenstandes selbst, der als 'leeres X' oder zentrales
identisches Moment vor allen Sinnen erscheint. Man k6nnte wohl sagen,
dab der Gegenstand eine st~irkere Transzendenz zeigt als der Sinn, indem er
der einheitliche Zielpunkt einer Reihe von mannigfaltigen Sinnen ist. In
~inhlicher Weise zeigt der Sinn eine st~irkere Transzendenz als die jeweilige
noematische Erscheinung. Jedoch handelt es sich dabei - so auch im
letztgenannten Fall - ebenso um eine konstituierte Einheit gegentiber einer
konstituierenden Mannigfaltigkeit von Empfindungsdaten. Den Gedanken,
dab der perzeptive noematische Sinn und sein Gegenstand innerhalb des
Wahrnelmungsfeldes erzeugt werden, faBt Husserl in seinem Werk schon
sehr frtih (vgl. Hua XXVI, 178-179). Trotzdem herrscht in den Ideen I die
Vorstellung der Intentionalitat als Beseelung von in sich selbst nicht
intentionalen Empfindungsdaten vor, wobei eine scharfe Unterscheidung
zwischen dem "formlosen", toten Datum und dem sinnhaft konstituierten
noematischen Erscheinenden gezogen wird, analog zur Deutung des
sprachlichen Zeichens.
Der Schliissel zum Verst~indnis von Husserls Wandlung in seiner
Auffassung der ~iuBeren Wahrnehmung liegt einerseits in der yon Husserl
70
vorgenommenen kritischen Oberprtifung des Verh/iltnisses von
Empfindungs- (bzw. hyletischem) Datum und noematischer Erscheinung,
arldererseits in seiner Interpretation des Horizontbegriffes. Beides steht mit
einer Forschungshaltung in Zusammenhang, welche Husserl lange vor der
Ver6ffentlichung der Ideen I eingenommen hatte, die aber in diesem Werk
ausdrticklich ausgeschlossen bleibt: aus der Analyse des ZeitbewuBtseins.
4. Zeitlichkeit und hyletisches Datum
Husserls Untersuchungen zum immanenten Zeitbewugtsein stellte bekanntlich zum ersten Mal seine Vorlesung "Hauptstticke aus der
Phanomenologie und Theofie der Erkenntnis" von 1904/1905 vor. Dort
spricht Husserl von zeitlichen Daten und Zeitauffassungen, d.h., er
analysiert die Zeitlichkeit nach demselben Schema, mit dem er das
bedeutungs- und wahmehmungsm~iBige BewuBtsein zu kl/iren gesucht
hatte. Ihm zufolge gibt es zwei Kontinua: einerseits Daten, die blind und in
sich selbst nicht zeitlich sind, andererseits Auffassungen, die das Jetzt, das
Vorher und das Nachher konstituieren. Wie John Brough in einem wichtigen Artikel hervorgehoben hat, bringt diese Ansicht zwei unl6sbare
Probleme mit sich: einmal das Problem der Konstitution der Zeitauffassungen, die zugleich Gegenst~nde in der Zeit sind (Problem des 'regressus in
infinitum'), und zum anderen das Problem, wie es zu erkl/iren ist, dab die
gleichzeitigen Jetzt-, Vergangenheits- und Zukunftsauffassungen die
zeitliche Folge ihrer immanenten Inhalte darstellen k6nnen (Problem der
Koexistenz und Sukzession).7
Nach anf'~xiglicher Unentschiedenheit zeichnete sich bei Husserl
allm/ihlich eine L6sung dieser Probleme ab, die so zusammengefaBt werden
kann: Die Zeitauffassungen konstituieren sich nicht in der Zeit verm6ge
neuer Auffassungen, sondern in einem Bereich, den Husserl sich der
Metapher bewuBt als "BewuBtseinsstrom" bzw. "FluB", "absolutes
BewuBtsein" oder auch "absolute Subjektivit~it" bezeichnet. Ein solches
Bewugtsein liegt nicht in der Zeit, aber es erm6glicht die Konstitution der
Zeitlichkeit fiir alle immanenten Einheiten, und letztendlich fiir die objektive Zeit selbst. SchlieBlich 16st Husserl das Schema Auffassung-Inhalt
dadurch ganzlich auf, dab er den Strom als einen Erlebnisstrom begreift, der
selbst nicht in der Zeit dieser Erlebnisse verl/iuft (vgl. Hua X, 333). Damit
wird auch das Problem eines Regressus ins Unendliche aufgel6st. Eine
zweite Transformation erfolgt im Innern des absoluten Bewugtseins, und
zwar in bezug auf das Problem der Konstitution der Folge in der Gleichzeitigkeit. Schon 1905 merkte Husserl, das Bewugtsein objektiver Zeit sei
kraft zweier Bedingungen m6glich: kraft einer relativen Erhaltung
71
gegenstandlicher Intention im LIbergang vom Jetzt zur Vergangenheit und
kraft der reproduktiven Erinnerung, die sie wieder zum Bewugtsein
zurtickkehren l~iBt. Die erste Bedingung, die "frische" Erinnerung, zeigt
sich als eine merkwtirdige doppelte Intentionalit~it, die Husserl seit 1908
o d e r 1909 "Retention" nannte: als eine Querintentionalit~it, in der sich die
Phasen des zeitlichen Gegenstandes konstituieren, also die zeitliche Folge
im gew6hnlichen Sinn; und als eine L~ingsintentionalit~it, in welcher der
FIuB sich selbst konstituiert (Hua X, 80). Daher sind die Begriffe von
Retention, Urimpression (die die Rede vom "Jetzt" ersetzt) und Protention
(statt "Nachher") keine zeitlichen Begriffe, sondern eigentlich vorzeitliche,
indem sievor aller Ontifiziemng, Objektivierung der Zeit stehen und deren
Bedingungen der M6glichkeit bezeichnen (vgl. Hua X, 75).
In dieser Transformation des Zeitbegriffes erf~ihrt auch das Empfindungsdatum, das nicht-intentionale Gegensttick zur Zeitauffassung,
entscheidende Umwandlungen. Wie schon erw~ihnt ist das hyletische
Datum in der rein noetischen Ph~inomenologie der L o g i s c h e n U n t e r s u c h u n g e n - und sogar in der korrelativen Forschung der l d e e n - eine
konstituierende Mannigfaltigkeit. Doch die Einftihrung des absoluten
BewuBtseins bringt die Erkenntnis mit sich, dab die Erlebnisse, und selbst
ihre stofflichen Inhalte, konstituierte Einheiten im FluB sind. Die Hyle ist
daher nicht mehr ein toter, dem BewuBtsein v611ig fremder Stoff, sondem
tritt von vomherein als eine Einheit auf bzw. als Urimpression, als Kern des
Gegenwartsfeldes des BewuBtseins. Das heiBt, dab in dieser "tieferen"
Schicht der Konstitution die Empfindung sich als i n t e n t i o n a l , also als im
FluB konstituierte, erweist. Dies l~igt sich so interpretieren, dab Husserl die
Hyle je nach Konstitutionsstufe anders betrachtet, n~nlich: a) in bezug auf
ihre Darstellungsfunktion als toter Stoff der Auffassungen, der aktiven
(noetischen) Vollztige und b) ftir sich, in seinem Eigensein, als vor-objektiv
durch die passiven zeitlichen und assoziativen Synthesen vereinheitlicht. In
seiner Vorlesung tiber "Ph~inomenologische Psychologie" vom Sommersemester 1925 behauptet Husserl, dab die hyletischen Daten "in ihrer
Eigenart [...] selbst etwas" seien, sie h~itten "ihr eigenes Sein, ein nicht
objektives Sein" (Hua IX, 163). Deswegen gebraucht Husserl einen solchen
Begriff der Hyle als konstituierte Einheit vorwiegend in den Texten tiber
die passiven Synthesen, w~ihrend er in anderen sp~iteren Schriften immer
wieder das Schema der Beseelung von nicht intentionalen Daten benutzt.
5. Konstitution des passiven Noema
In bezug auf die vorangegangene Betrachtung m6chten wir zeigen, dab
diese tiefere Dimension der Hyle als Konstituiertes auf dasselbe Phfinomen
72
hinweist, das wir oben als jeweiliges Korrelat bezeichnet haben. Wohl
k6nnten dieses als "passives Noema" betrachtet und die Hyle als
noematische Einheit charakterisiert werden. Die jeweilige Erscheinung im
noematischen Sinne konstituiert sich dann nach unserer Ansicht hyletisch
als Feld von Daten, die in Strukturen angeordnet sind, denen die Zeitlichkeit zugrunde liegt. Die Idee, die in letzter Hinsicht die Erzeugung des
Wahrnehmungssinnes m6glich macht, ist die Idee der Synthesis. Husserl
unterscheidet prinzipiell zwei Arten von Synthesen, die die Passivitat
ausmachen, d.h. die keine Aktivit~it des Ich voraussetzen: die formalen und
die inhaltlichen Synthesen.
Die ersten entsprechen derjenigen Zeitlichkeit, die die allgemeinste Form
des jeweiligen Jetzt mit seinen Horizonten von Retention und Protention,
also der Erhaltung der soeben abgelaufenen Phase und der Antizipation der
kommenden Phasen, bildet. Husserl spricht auch von anderen zeitlichen
Synthesen, zu denen diejenigen z~ihlen, die Aufschlul3 geben tiber die
Koexistenz der "konkreten, vollen Gegenwart", in der Objekte parallel
konstituiert werden, und tiber die Sukzession, die sich im Fortstr6men yon
Lebensmoment zu Lebensmoment vollzieht (Hua XI, 180). Aber die Form
ist nichts ohne den Inhalt: Llber die Zeitsynthesen schichten sich
h6herstufige Synthesen, die die qualitative Einordnung der Sinnesdaten
besorgen. Es handelt sich um assoziative Synthesen, die ftir Husserl die
urspriinglichsten sind und die er daher Urassoziationen nennt. Diese sind
passive Verwirklichungen, die die zeitlichen voraussetzen und die Struktur
von Vorder- und Hintergrund innerhalb eines Empfindungsfeldes
be~cksichtigen. 8 Die allgemeinsten inhaltlichen Synthesen sind diejenigen
der Homogenit~it oder Verwandtschaft und diejenigen der Heterogenit~it
oder Fremdheit. Ein Sinnesfeld in der lebendigen Gegenwart ist in erster
Linie deshalb eine Einheit, weil es im Kontrast zu anderen Feldern steht. So
ist, um das Beispiel Husserls in EU aufzunehmen, das visuelle Feld eine
Einheit von visuellen Daten, die als solche untereinander ~ihnlich bzw.
verwandt und zugleich verschieden von den Daten etwa des taktuellen
Feldes sind: Doch innerhalb eines bestimmten Feldes hebt sich ein einzelnes Datum von anderen durch einen Kontrast ab, wie etwa rote Flecken
auf einem weiBen Hintergrund: Die roten Flecken heben sich vor der
weiBen Fl~iche ab, sind untereinander kontrastlos verschmolzen, wie
Husserl betont. Er nennt dies Fernverschmelzung, bei der die Flecken sich
als "gleiche. . . . decken". Gleichheit ist der Grenzfa!l der totalen Verwandtschaft ohne Diskrepanz; tiber den Grenzfall hinaus gibt es eine
Abstufung von relativer Verwandtschaft, wo Ahnlichkeit und Fremdheit
vorkommen, d.h., es geht stets um die Tatsache, dab das Ungleiche sich von
einem Boden des Gemeinsamen abhebt (EU, 76 f.). Diese Urassoziationen
machen eine "wesensmaBige Form der Gesetzm~iBigkeit immanenter
73
Genesis" aus und treten immer dann auf, wenn einzelne Dinge sich aus
einem Feld abheben, wobei ein Glied der Verbindung als weckend, das
andere als Gewecktes bezeichnet werden kann. Solche Synthesen
erm6glichen vor allem die objektive Struktur der lebendigen Gegenwart
(vgl. Hua XI, 180; EU, 78).
Diese zeitliche und assoziative Konstitution des Feldes der lebendigen
Gegenwart fiihrt zu dem, was die statische Ph~inomenologie als jeweilige
Erscheinung ansieht. Wenn wir, wie es z.B. Ulrich Claesges und Donn
Welton tun, die Kin~isthesen miteinbeziehen, erhalten wir das r~iumliche
Phantom bzw. Raumschema, wobei der zweidimensionalen Struktur des
Sinnesfeldes im Zustand der Ruhe die Dimension der Tiefe hinzugeffigt
wird, die als N~ihe oder Feme beziiglich des eigenen Leibes gilt, der als
Orientierungszentrum fungiert. Da die Unbeweglichkeit ein Grenzfall, ein
Limes der Bewegung ist und auf das Bewugtsein des "ich kann"
zurtickweist, betreten wir hier eine Zwischendimension, denn das
kin~isthetische Bewugtsein kann nicht gRnzlich als passiv definiert werden,
weil es prinzipiell eine Aktivit~it des Ich voraussetzt. Die Kin/isthesen bieten
damit einen anderen Begriff von Hyle, soweit sie nicht "Darstellungsdaten",
sondem eher "Stellungsdaten" sind. 9 Eine eingehende Er6rterung dieses
Punktes wtirde hier zu weit fiihren.
Ftir eine Betrachtung des Noema beztiglich der passiven Synthesen
liegen sich auch andere Texte Husserls aus den zwanziger Jahren anftihren,
in denen vom Noema als reellem Bestandsttick des intentionalen Erlebnisses die Rede ist. So finden wir z.B. in einer Abhandlung aus dem Jahre
1920 folgende Aussage: "Also wieder zeigt es sich, dab kein Grund ist, das
'Noema' vom Erlebnis abzurticken und ihm den Charakter eines reellen
Moments zu bestreiten" (Hua XI, 335). In einer Fugnote zu diesem Text
lesen wir: "Ich bleibe hier in Widerspruch zu den Ideen und leugne, dab
noematische Einheiten, gegenstfindliche Sinne dem Erlebnis transzendent
sind". Vor einigen Jahren hat Guido Kiing eine L6sung vorgeschlagen, die
mit der unseren in diesem Punkt iibereinstimmt.
Das Noema als reelles Moment entspricht folglich dem jeweiligen
Aktkorrelat, das als solches sozusagen Anteil hat an der Zeitlichkeit des
Aktes selbst und demgem~il3 der Immanenz zugeh6rig ist: Husserl definiert
gerade das reelle Moment eines Erlebnisses als das, "was an einem Erlebnis
phanomenologisch-zeitlich gebunden ist" (Hua XI, 394). Als in der Passivitat konstituiert ist das Noema zugleich etwas Zeitlicti-Reelles und
dennoch insofern auch transzendent, indem es immer schon Korrelat einer
Synthese, d.h konstituiert ist. Es handelt sich um das Vermeinte in einem
bestimmten Akt, im Gegensatz zum identischen noematischen Sinn, der
"ideell" ist. In dieser Hinsicht charakterisiert Husserl den Gegenstand selbst
als ein "Ideelles zweiter Stufe" (BIII 12 III, 3). l°
74
Weitere Spuren eines passiven Noema finden wir in einigen Stellen yon
EU, wo Husserl von einer passiven Doxa spricht, einer Stellungnahme, in
der das Ich keine aktive Rolle spielt. Dieser passive Glaube erscheint
gerade im Zusammenhang mit den ~isthetischen Synthesen, die die Konstitution eines Sinnesfeldes im Gebiet der vorpr~idikativen Erfahrung
erm6glichen. Kraft der Unterscheidung innerhalb des vollen Noema
zwischen Sinn und Seinscharakter bzw. Doxa (im korrelativen Sinn), setzt
die Charakterisierung der passiven Doxa in der "stummen" Erfahrung eine
"Materie" voraus, beztiglich der der Seinscharakter gesetzt wird. Eine
solche Materie (wie sie noetisch in den Logischen Untersuchungen bezeichnet wurde) ist ein "impliziter" Sinn, der vor aller gegenst~ndlichen,
"aktiven" Erfassung liegt (EU, 63). Erst ein aktives Explizieren teilt das
Ganze und legt Teile, Merkmale, Bestimmungen etc. aus. Husserl faBt
diesen Gedanken klar zusammen: "Aber explizieren kann ich nur, was fiir
reich schon unexpliziert ist, und so geht hinsichtlich der Welt im ganzen
wie im einzelnen 'das Sein dem So-Sein voraus'" (B III 4, 76). Dieses
passive Noema erg~zt, vom genetischen Standpunkt aus, die in den Ideen I
vorgenommene Charakterisierung des noematischen Sinnes als "Sinn im
Modus seiner Ftille", indem gezeigt wird, wie der Wahrnehmungssinn yon
der Wahrnehmung selbst auf Grund des im Feld der Gegenwart anschaulich
Gegebenen erzeugt wird (vgl. Hua XI, 180). Es ist dennoch zu bemerken,
dab Husserl die Lehre der Intentionalit~it als Auffassung eines nichtintentionalen Inhaltes immer wieder aufnimmt. Die von uns angefiihrten
Texte sprechen nicht nur gegen die Auffassung F¢llesdals, sondern zeigen
auch eine Dimension der universalen Korrelation, die v o n d e r statischen
Ph~nomenologie kaum berticksichtigt worden ist.
6. Identischer Sinn, Horizont und Gegenstand
F¢llesdals Charakterisierung des Noema als "platonische" Entitat ergibt
sich, unserer Meinung nach, aus der Tatsache, dab er den synthetischen
Charakter des BewuBtseins nicht gentigend in Betracht gezogen hat. Die
Deutung der wesentlichen Zeitlichkeit des BewuBtseins und die Bezeichnung der lebendigen Gegenwart als Zeitigung sind zentrale Themen des
sp~iteren Husserls,
die
mit
seinen
Klarungsversuchen
der
BewuBtseinssynthesen Hand in Hand gehen. Bernet hat darauf hingewiesen,
dab Husserl schon um 1910 erkannt hat, dab alle intentionalen Vollziige
synthetisch sind.11 In den Synthesen wird eine Einheit in einer konstituierenden Mannigfaltigkeit eben als konstituierte Einheit gebildet. Diese ist als
Produkt der Synthesen intentionales Korrelat einer solchen Operation, d.h.
z.B. beztiglich der Wahrnehmung: Transzendenz. Aber zugleich ist dieses
75
Korrelat von den Synthesen selbst nicht unabh~ngig und kann ohne sie
nicht bestehen. In diesem Sinn revidiert Husserl auch seine alte Lehre in
den Logischen Untersuchungen, in denen die Bedeutung bzw. der Sinn die
Vereinzelung einer universalen Spezies ist. Eine erste Kritik findet man
schon frtiher im Kontext der statischen Phfinomenologie, wenn Husserl
behauptet, dab im Akt des Urteilens eine Einheit der Identifikation des
Geurteilten als solchen beg~ndet sei (vgl. Hua XXVI, 193).
Mit der Frage der Synthesen ist ein weiteres Thema verbunden, das in
der Spatphilosophie Husserls immer mehr an Bedeutung gewinnt. Die
passiven bzw. aktiven Synthesen k6nnen nicht nur im Feld der Anwesenheit
auftreten, sondem auch und in erster Linie zwischen dem, was wirklich
gegeben ist, und dem, was abwesend ist, also zwischen dem, was
anschaulich gegenw~irtig ist und dem, was nur leer gemeint ist und den
inneren Horizont des Gegebenen ausmacht. Die in der genetischen Analyse
erfolgende Auslegung der lebendigen Gegenwart als eines urimpressionalen
Kerns mit seinen Retentions- und Protentionshorizonten zeichnet auch
paradigmatisch diejenige der zeitlichen Horizonte der Erlebnisse und ihrer
Korrelate vor. Der Horizont in noematischer Hinsicht hat demzufolge einen
synthetischen und mehrdimensionalen Charakter. Der Wahrnehmungssinn
wird im gegenseitigen Spiel zwischen anschaulicher Gegebenheit und leer
vermeintem Horizont stetig erzeugt, wobei dieser nicht mehr, wie in der
statischen Ph~inomenologie, eine blof5 leere, der sprachlichen analoge
Antizipation ist, sondern eher ein "Netz" von sehr komplexen zeitlichen
und assoziativen Verweisungen. Der in den mannigfaltigen, jeweils schon
horizonthaften Erscheinungen konstituierte Sinn ist ein Spielraum von
M6glichkeiten, die einerseits beziaglich der Anzahl weiterer Erscheinungen
unbegrenzt, andererseits durch einen Stil, der solche weiteren Erfahrungen
leitet, begrenzt sindl2: "Habe ich einmal und erstmalig einen Gorilla
gesehen, so ist ktinftig jeder neue Gorilla eben schon Gorilla, in dieser
Hinsicht das Sehen reaktivierend im Typus und nur erganzend, n~iher
bestimmend und evtl. neue Eigenschaften zu Tage bringend" (B III 4 III,
80; vgl. B I 14 VI, 7). Jede neue Gegenw~rtigung bringt etwas zutage, das
schon als ein bestimmter Gegenstandstypus bekannt ist und somit einen
gewissen Wahrnehmungsstil hat, kraft des "Niederschlags" oder
"Erwerbes" alter Gegenwfirtigungen. So haben wir stets in Richtung auf den
Vergangenheitshorizont eine "Geschichte", einen "Erwerb innerer Tradition", und in Richtung auf den Zukunftshorizont einen Horizont von
"Vorzeichnungen" bzw. "Vordeutungen". Beide Strukturen schreiben ftir
das Weitergehen der Wahrnehmung Regeln vor (Hua XI, 214-215; vgl. B
III 4 III, 78). Der Sinn ist folglich immer schon horizonthaft.
Diese Horizonthaftigkeit geht sozusagen durch die drei Dimensionen des
Noema hindurch: Erstens gibt es einen Horizont, der eine jeweilige Struktur
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hat und der dem jeweiligen Korrelat entspricht (vgl. A VII 8, 9-10),
insofern er mit den Zeithorizonten des Flusses ~ibereinstimmt. Zweitens
schafft der oben genannte Horizont des noematischen Sinnes im Spiel der
Vor- und Riickdeutungen einen Stil des Gegenstandes, der den mtiglichen
Verlauf der Erfahrung vorschreibt. Das wirklich Wahrgenommene, das in
das Feld der Gegenwart f~illt, befindet sich stets im Strtimen, und im
strtimenden Sichwandeln tr~igt es einen Wiedererinnerungs-horizont als
lebendigen Horizont der vergangenen Felder sowie einen protentionalen
Horizont der werdenden Wahrnehmungsfelder mit sich. Uber die Konstitution des Sinnes des Einzeldinges im Spiel der Verweisungen zwischen
Gegenw~irtigem und innerem Horizont hinaus verbindet sich der
noematische Sinn mit dem Umkreis anderer mitwahrgenommener
Gegenst~inde, so dab "das Reale nicht isoliert erfahren und erfahrbar ist,
sondern in einem Ganzen der Erfahrung, das eine Mannigfaltigkeit von
Objekten, wir sagen besser, eine jeweilige Konfiguration von Realit~iten zur
Pr~isentation bringt" (D I, 15).
So besitzt auf der einen Seite jede einzelne Erscheinung einen protentionalen sowie einen retentionalen Innenhorizont, in denen sich der
jeweilige Sinn konstituiert; zugleich weist sie einen AuBenhorizont von
anderen mt~glichen Sinnesfeldern auf. Auf der anderen Seite hat der
identische Sinn, der sich als Einheit der mannigfaltigen einzelnen
Erscheinungen konstituiert, ~iber diese hinaus eine typische Struktur, einen
Stil, der durch die Horizonte der Vor- und R~ickdeutungen bestimmt wird.
Es ist auch wichtig, darauf hinzuweisen, dab der Stil "ein beweglicher ist,
dab er selbst sich im Gang der Forterfahrung abwandeln kann, aber in einer
Weise, die den friiheren Stil nicht preisgibt, sondern auf eine neue Stufe
erhebt" (D I, 24). 13
F¢llesdals Auffassung des Noema deckt sich kaum mit den von uns hier
angef~ihrten Textbeispielen. Er ~ibersieht den entscheidenden Unterschied
zwischen dem jeweiligen noematischen Korrelat, das wegen seiner hyletischen Konstitution an die Zeit gebunden ist, und dem identischen Sinn, der
als Deckungseinheit der jeweiligen Noemata auftaucht. In einem
Manuskript aus dem Jahre 1922 erkennt Husserl deutlich: "Nannten wir
Noema das Vermeinte als dem einzelnen Akte Zugeh6riges, als anteilhabend an der Zeitlichkeit, so diirfen wir mit demselben Worte nicht mehr
nennen das ~iber die Zeit hinausgreifende Identische selbst" (BIII 12 IV, 3).
F¢llesdal l~il3t ferner den wesentlich horizonthaften Charakter des
Wahrnehmungssinnes auBer acht. Die Auslegung der statischen Konstitution des Sinnes in den Ideen I mag zu dem Irrtum f~ihren, dab Sinne
vollkommen bestimrnte Entit~iten seien, gewissermaBen wie "platonische
Ideen" bzw. wie Sinne in der Auffassung Freges, so wie sie F~llesdal
versteht. Die genetischen Analysen hingegen machen deutlich, dab der Sinn
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gum einen eine Struktur ist, die den Verlauf der jeweiligen Erscheinungen
[eitet bzw. vorzeichnet (in dieser Hinsicht ist der Sinn auch die Differenz
gwischen dem wirklich Wahrgenommenen und d e m nur horizonthaft
Antizipierten), und sich zum anderen in einem Spielraum oftener
M6glichkeiten fur die Weiterbestimmung h~ilt, also ein beweglicher, sich
ver~indemder ist. Und nicht nur der jeweilige Sinn, mit dem jedes Ding in
der Welt sich gibt, sondern auch die Welt selbst wandelt sich: "Die Welt,
die da vorgegeben ist, ist nicht vorgegeben als ein starres Seiendes, sondern
als ein im Str6men des Lebens, im Urstrom immer ftir mich fort Werdendes" (B III 3 IV, 117); "aber diese endliche Welt ist in best~indigem
Flul3 des Ffir-uns-Seins, uns zur Effahrung, zur Kenntnis Kommens" (BIII
3 IV, 109).
Diese Auffassung der werdenden Sinne ftihrt uns kurz zur Betrachtung
der Gegenst~inde, die sich kraft der Sinne konstituieren. F¢llesdal ftihrt den
berfihmten Satz des § 129 der Ideen I fiber die Beziehung des Bewul3tseins
zu seinem Gegenstand durch die Sinne an, um zu zeigen, dag das Noema
als eine vermittelnde Entit~it zwischen dem Bewul3tsein, also der Immanenz,
und dem Gegenstand, der transzendent ist, fungiert, so dab nach seiner
Meinung Noema und Gegenstand nicht gleichzusetzen sind. Erstaunlicherweise nahm Husserl schon diese Diskussion vorweg, als er schrieb:
Zu sagen, dab das Bewugtsein sich durch seinen immanenten noematischen Sinn (bzw. den Sinnespol X in seinen noematischen Bestimmungen
und seinen Setzungsmodus als seiend) auf einen transzendenten
Gegenstand 'beziehe', ist eine bedenkliche und, genau genommen,
falsche Rede. Ist so verstanden nie meine Meinung gewesen. Ich wfirde
reich wundern, wenn diese Wendung sich in den 'Ideen' f~inde, die im
Zusammenhang dann sicher nicht diesen eigentlichen Sinn h~itte (B III 12
IV, 12).
In den Ideen I selbst findet sich schon der entscheidende Gedanke, dab
der Gegenstand des intentionalen Aktes, das leere X, das die noematischen
Eigenschaften tr~igt, ein "zentrales noematisches Moment" ist (Hua III/1,
301). Der Gegenstand ist als transzendent vermeint, konstituiert sich aber in
der Immanenz der Erlebnisse. Als solcher hat er, wie Husserl immer wieder
betont, den Charakter eines "idealen" Pols (eines ideal-identischen). Das
Etwas, der Gegenstand selbst, ist von den Synthesen, in denen er sich
konstituiert, untrennbar, abet der reinen Immanenz gegeniiber ist er zugleich "ein relativ zu ibm [zum Erlebnis] Transzendentes" (Hua XI, 175; vgl.
177). Diese Betrachtung des Gegenstandes als Pol betont den teleologischen Charakter der Intentionalit~it: Husserl spricht sogar vom Gegenstand
als "Idee im Kantschen Sinne". Der Gegenstand selbst ist daher die Idee der
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vollkommen ad/iquaten Gegebenheit, die als Regel ftir den Erfahrungsverlauf fungiert.
Es handelt sich jedoch nicht um eine Regel bzw. Struktur, die die
Reflexion schafft, wie wir schon gesehen haben. Der objektive Pol
konstituiert sich schon in der jeweiligen noematischen Erscheinung: "Jeder
Akt, jedes Noema hat seinen Gegenstandspol, der somit eine Zeitstelle hat"
(B III 12 IV, 12). Der Gegenstand, als vereinheitlichender Pol des Korrelates, tritt tats~ichlich in den drei Dimensionen des Noema auf: im
jeweiligen zeitlich bestimmten Korrelat, als 'cogitatum qua cogitatum' im
identischen Sinn und als 'cogitatum' selbst, das an sich Wirklichkeit ist
(vgl. BIII 4, 42). Im Fall der transzendent-realen Gegenstgnde ist dies eine
pr~isumptive Wirklichkeit. Husserl gibt klar zu verstehen, dab das Etwas
(der Gegenstand) "die Idee dieses Etwas als Integral aller ihm zugeh6rigen,
in m6glicher Bewahrheitung, bzw. einer Allheitssystem m6glicher Wahrnehmung" ist (B III 12 IV, 18). Wie das mathematische Bild des Integrals
nahelegt, ist die absolut ad~iquate Gegebenheit hier als eine Idee gedacht,
als die Summe aller m6glichen Wahrnehmungen, ~ihnlich wie ein
asymptotischer Limes, dem s.ich die Gegebenheit n~ihert, ohne ihn erreichen
zu k6nnen. Husserl betont am Anfang seiner Vorlesung fiber transzendentale Logik von 1920: "Die ~iuBere Wahrnehmung ist die bestfindige
Prfitention, etwas zu leisten, was sie ihrem eigenen Wesen nach zu leisten
auBerstande ist" (Hua XI, 3).
7. SchluBwort
In dieser Arbeit haben wir versucht, den Begriff des Noema in der genetischen Phfinomenologie Husserls vorl~iufig zu skizzieren, um zu zeigen, dab
sich Fo¢llesdals Interpretation mit Husserls Ausftihmngen kaum deckt. Es
ist jedoch nicht unsere Absicht gewesen, F¢llesdals Auffassung ohne Grund
abzubauen, sondern wir wollten in erster Linie auf eine "tiefere" Dimension
der Korrelation hinweisen, die in der statischen Phgnomenologie nicht
berticksichtigt bzw. nicht ausftihrlich entwickelt worden ist und zu einer
Interpretation wie derjenigen F¢llesdals AnlaB gegeben hat. Wenn
tiberhaupt eine gewisse Obereinstimmung von Freges Sinn mit dem
Husserlschen Noema festzustellen ist, so nur deshalb, weil die statische
Ph~inomenologie vielleicht aus methodischem Grund, zwecks der Darstellung, das Noema imrner als einen schon "fertigen" Gegenstand betrachtet,
also ohne Riicksicht auf seine Geschichte und das heiBt auf seine genetische
Konstitution. Wenn wir die dreifache Teilung des Noema in Betracht
ziehen, k6nnen wir sagen, dab die analytische Interpretation der genetischen
Ph~inomenologie aus drei Griinden nicht gerecht wird:
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1. Es gibt eine von F¢llesdal iibersehene Dimension des Noema, die in der
Zeitlichkeit konstituiert wird, n~imlich die der jeweiligen Erscheinung,
die nicht "abstrakt" ist.
2. Selbst wenn wir davon absehen, dab der Sinn seine zeitliche Gegebenheitsweise hat, wie Husserl oft betont, tritt dieser Sinn in der genetischen Analyse als eine intentionale Struktur von wesentlich horizonthaften Verweisungen auf, die ihn zu einem eigentiJmlichen "Netz"
machen.
3. Da der Gegenstand ein inneres Moment des Noema und der intentionale
Zielpunkt aller Noemata bzw. Sinne ist, also als Pol "innerhalb" der
Sinne konstituiert wird, darf er -als unerreichbare Idee- nicht mit dem
transzendenten Gegenstand in der natiJrlichen Einstellung verwechselt
werden, wie es F¢llesdal zu machen scheint.
Anmerkungen
1. Lenore Langsdorf, "The Noema as Intentional Entity: A Critique of F¢llesdal",
The Review of Metaphysics 148 (1984): 757-784; Mary Jeanne Larrabee, "The
Noema in Husserl's Phenomenology", Husserl Studies 3 (1986): 209-230;
Robert Sokolowski, "Intentional Analysis and the Noema", Dialectica 38
(1984): 113-129. Ich will hier Herrn Dr. Hans Rainer Sepp und Frau Sabine
Geiler aus Freiburg meinen ganz besonderen Dank ffir ihre Hilfe bei der
Vorbereitung dieses Aufsatzes ausdriicken.
2. Donn'Welton hat eine Reihe yon Artikeln fiber dieses Thema geschrieben.
Eine umfassende Darstellung gibt seine Monographie The Origins of Meaning
(The Hague: Martinus Nijhoff, 1983); Robert C. Solomon, "Husserl's Concept
of the Noema", in F. Elliston und P. McCormick (Hrsg.), Husserh Expositions
and Appraisals (Notre Dame: The University of Notre Dame Press, 1977);
Hubert L. Dreyfus, "Husserl's Perceptual Noema", in Hubert L. Dreyfus und
Harrison Hall (Hrsg.), Husserl: Intentionality & Cognitive Science
(Cambridge, MA: M.I.T. Press, 1982), S. 97-124.
3. Dagfinn F¢llesdal, "Husserl's Notion of the Noema", The Journal af
Philosophy 66 (1969): 680--687; Nachdruck in Hubert L. Dreyfus, a.a.O., S.
73-80; siehe S. 77; und "Noema and Meaning in Husserl", Philosophy and
Phenomenological Research, Supplement (1990): 263-271; siehe S. 265.
4. 4. Rudolf Bernet, "Husserls Begriff des Noema", in Samuel IJsseling, HusserlAusgabe und Husserl-Forschung (Dordrecht: Kluwer Academic Publishers,
1990), S. 61-80; siehe S. 71. Es ist zu bemerken, dab diese Unterscheidung
Bernets anderen Zwecken dient, n~nlich der Feststellung, da6 bei Husserl die
Beziehung vom noematischen Sinn zum Gegenstand im Rahmen der Erkenntnistheorie anders charakterisiert ist als im Rahmen der Bedeutungslehre.
5. Vgl. M.J. Larrabee, a.a.O., S. 212.
6. Vgl. R. Bernet, a.a.O., S. 64. Die erste Erw~ihnung vom 'cogitatum qua
cogitatum' erfolgt im Ms. B II 1, 47a (16. Juni 1904), so Iso Kern, Husserl und
Kant (Den Haag: Martinus Nijhoff, 1964), S. 180. Die Manuskripte Husserls
werden nach der Transkription des Husserl-Archivs zitiert. Dem Direktor des
80
7.
8.
9.
10.
11.
12.
13.
Husserl-Archivs zu L/Swen, Prof. Dr. Samuel IJsseling, gilt mein Dank fur die
freundliche Erlaubnis, aus unver/Sffentlichten Manuskripten Husserls zu
zitieren.
Vgl. John Brough, "The Emergence of an Absolute Consciousness in Husserl's
Early Writings", in F. Elliston und P. McCormick, a.a.O., S. 90.
Vgl. Edmund Husserl, Erfahrung und Urteil (Hamburg: Claassen, 1964), S.
76; hier als EU zitiert.
Ulrich Claesges, Theorie der Raumkonstitution (Den Haag: Martinus Nijhoff,
1964), S. 64 f.; vgl. auch B III 3 I, 6.
Vgl. Guido Kiing, "Das Noema als reelles Moment" in Phenomenological
Perspectives (The Hague: Martinus Nijhoff, 1975), S. 151-153; siehe S. 153.
R. Bernet, a.a.O.S. 74. FiJr eine ausf~ihrliche Auslegung der lebendigen
Gegenwart siehe vor allem Klaus Held, Lebendige Gegenwart (Den Haag:
Martinus Nijhoff, 1966).
Vgl. dazu Suzanne Cunningham, "Perception, Meaning and Mind", Synthese
80 (1989): S. 224. Es ist zu beachten, dal3 Cunningham dieses Netz als
psychologische Entit~itversteht, was bei Husserl nicht der Fall ist. Obwohl eine
Rede yon "Netz" in den Texten Husserls nicht aufzuweisen ist, weist der
Begriff von "Spielraum" und "Erfahrungsstil" auf eine solche Organisierung
der Wahrnehmung hin; vgl. A VII 7, 7 und D I, 12.
Man darf in diesem Kontext auch nicht vergessen, daf5 das Wahrnehmungsnoema eigentlich nur eine Grundschicht fiir die Konstitution der Welt
bildet, derart, dab sich darauf eine mannigfaltige Schichtung von mtiglichen
Akttypen aufbaut bzw. aufbauen kann. Die Verflechtung dieser Akte, korrelativ ihrer Noemata, muf5 in bezug auf die "Sedimentierung", auf die
"bleibenden Meinungen" (Hua IV, 111) gesehen werden. Die Konstitution
eines Erfahrungsdinges kann dann als "Netz" betrachtet werden, das gerade in
dieser komplizierten Struktur besteht. In diesem "netzhaften" Aufbau der
Gegenst~inde ist auch der Aufbau einer einheitlichen Welt zu verstehen.