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Passives Noema und die analytische Interpretation

1993, Husserl Studies

Husserl Studies 10: 65-80, 1993. © 1993 KluwerAcademic Publishers. Printed in the Netherlands. Passives Noema und die analytische Interpretation LUIS ROMAN RABANAQUE University of Buenos Aires, Argentina 1. Einleitung FOllesdal ist zuzustimmen, wenn er sagt, dal3 das Noema bei Husserl einen der grundlegenden Begriffe der Ph~inomenologie darstellt und seine richtige Auslegung fiJr die gesamte phanomenologische Unternehmung von zentraler Bedeutung ist. Zugleich rief die Interpretation, die F¢llesdal beztiglich des Noema gegeben hatte, eine lebhafte Polemik hervor. Die Kritik, die man an seiner Position ge~ibt hat, kann in zwei Punkten zusammengefaBt werden: Einerseits wird kritisiert, dab F¢llesdals Interpretation dem Kontext der Husserlschen Texte, besonders der Logischen Untersuchungen und der Ideen I, nicht gerecht wird. So entdeckt Lenore Langsdorf bei F¢llesdal unausgesprochene Voraussetzungen tiber die Beziehung des Bewul3tseins auf seinen Gegenstand; Mary Jeanne Larrabee stellt fest, dab F¢llesdals Vorgehen der Ph~inomenologie selbst fremd ist, weil er ihre eigenttimliche Methode nicht in Betracht zieht, und Robert Sokolowski ftihrt eine Unterscheidung ein zwischen der Reflexion, die auf die Bedeutungen der Sprache, und derjenigen, die auf die Noemata gerichtet ist. 1 Andererseits wird bemerkt, dab F¢llesdal Husserls Texte unvollstfindig bzw. einseitig, jedoch nicht g~inzlich falsch ausgelegt hat. Diese entgegenkommende Haltung nehmen u.a. Donn Welton, Robert Solomon und Hubert Dreyfus ein, welche, wenn auch sehr unterschiedlich, die Annahme vertreten, die Charakterisierung des Noema als Fregeschen Sinn passe in den Rahmen der statischen, nicht aber der genetischen Ph~inomenologie.~ Die erstgenannte Art der Kritik wurde bereits in zahlreichen Abhandlungen vorgetragen. Mit der vorliegenden Arbeit wollen wir hingegen auf die Beziehung aufmerksam machen, die zwischen den Thesen F¢llesdals und einigen Ausftihrungen der genetischen Ph~aomenologie Husserls besteht. Bekanntlich grtindet Follesdal seine Auffassung fast ausschliel31ich auf die 66 Phanomenologie der Ideen und auf eine kleine Anzahl unver6ffentlichter Husserlscher Manuskripte. Unseres Erachtens hat er dabei die Beschrankungen der Analysen der Ideen I tibersehen, die Husserl selbst in seinem sp~iteren Werk zu tiberwinden versuchte. Auch wenn es m6glich w~ire, von auffallenden ,~hnlichkeiten (striking similarities) zwischen dem noematischen Sinn und dem Sinn nach Frege zu sprechen, werden solche Ahnlichkeiten relativiert oder sogar eliminiert, wenn man Husserls Auffassung der passiven Konstitution der Wahrnehmung in Betracht zieht. In einem neuen Artikel hat F¢llesdal seine Position wiederholt, wobei er seine alten Thesen ohne wesentliche Anderungen verteidigt. Er faBt das Grundlegende seiner Interpretation in bezug anf drei der zw61f im alten Artikel dargestellten Behauptungen zusammen. Diese Thesen seien "besonders beliebte Angriffspunkte" gegen seine Auffassungen vom Noema gewesen: Nach These 1 stellt das Noema eine Verallgemeinerung des Bedeutungsbegriffs auf das Gebiet aller Akte dar, also "eine intensionale (intensional mit 's') Entit~it". These 4 geht von der Behauptung aus, das Noema des Aktes sei nicht der Gegenstand, worauf der Akt gerichtet sei. These 8 lautet: "Noemata sind abstrakte Entit~tten". 3 Wie schon frtiher liefert F¢llesdal auch hier Beweismaterial, das sowohl systematisch als auch textgetreu seine Behauptungen sttitzt. Zugleich bedauert er, dab es seinen Gegnem an Textbeweisen mangle. Nach wie vor ftihrt er ftir seine eigene Position Zitate an, die vorwiegend dem dritten Abschnitt der Ideen I entstammen. Im folgenden werden wir LIberlegungen anstellen, die von einem systematischen Gesichtspunkt her eine Neubewertung der an Frege sich orientierenden Auffassung vom Noema veranlassen und vom Gesichtspunkt der Textinterpretation gegen F¢llesdals Auffassung vom BewuBtseinskorrelat Stellung beziehen. Wit tibemehmen die Unterscheidung zwischen drei Begriffen von Noema, die Rudolf Bernet in bezug auf Husserls Vorlesungen fiber Logik und Erkenntnistheorie (1907) und tiber Bedeutungslehre (1908) getroffen hat: Noema als jewe~liges Korrelat eines Aktes, als identischer Sinn, der in der lJbereinstimmung jeweiliger Sinne auftaucht, und als Gegenstand selbst, d.h. als ideell identischer Pol mannigfaltiger noematischer Sinne. 4 Hiervon ausgehend m6chten wir zeigen, dab in der genetischen Phfinomenologie 1. das jeweilige Aktkorrelat ein passives Noema ist, das von der Wahrnehmung selbst erzeugt wird, d.h. es ist nicht eine "intensionale" Entitfit im Sinne Freges, die keine Verbindung mit der Zeitlichkeit besitzt - im Gegenteil ist dieses Noema wesentlich zeitlich gegeben; dab 2. die noematischen Sinne synthetische Vollztige sind, die sich auf das passiv Konstituierte griinden, so dab es sich hier nicht um "abstrakte" Entit~iten handelt, wie Fcfllesdal meint, und dab schlieglich 3. die Struktur des Horizonts wesentlich dem Sinn zugeh6rt, wo das wirklich 67 Gegenw/irtige auf ein System m6glicher Gegenwartigungen verweist, die einen die Wahmehmung leitenden Stil bestimmen. Diese Struktur besitzt ihrerseits einen teleologischen Charakter, indem die Sinne in einem Identit~itspol (Objekt) zusammenlaufen, der als "Idee im Kantschen Sinn" zum Korrelat geh6rt und vom Noema nicht zu trennen ist. Daraus ergibt sich eine Auffassung beziiglich des Noema, nach der der noematische Sinn wie ein komplexes Netz von intentionalen Verweisungen und keineswegs wie eine in einem platonischen Universum bestehende Entit/it fungiert, wobei auch die friihere Annahme der Logischen Untersuchungenrevidiert wird, nach der ein Sinn (Bedeutung) immer die Vereinzelung einer allgemeinen Spezies ist (vgl. Hua XIX/1,105). Ein Schwerpunkt der Interpretation F¢llesdals lautet dennoch (F¢llesdal wiederholt ihn in seinem neuen Artikel), dab Husserl selbst behauptet, das Noema sei eine Verallgemeinerung des Bedeutungsbegriffes (Hua V, 89). Wir werden zun~ichst diesen Punkt kurz diskutieren, bevor wir auf den Kem unserer Darlegung eingehen. 2. Das Problem der Verallgemeinerung des Bedeutungsbegriffes Nach F¢llesdal streitet Hussefls Behauptung, dab das Noema eine Verallgemeinerung des Begriffs der Bedeutung hinsichtlich aller Akte sei, nicht mit der Annahme, dab "selbst die vorsprachlichen Akte ein Noema haben"; wir mtissen vor allem zwischen einer Verallgemeinerung "von" ("of") und einer Verallgemeinerung "aus" ("from") unterscheiden, wobei die letzte "schw/icher" ist als die erste, indem sie nicht die Ableitung eines Begriffes "von" einem anderen, sondem nur die Tatsache voraussetzt, dab beide zwar gemeinsame Ztige aufweisen, in anderer Hinsicht abet sehr verschieden sein k6nnen. 5 In unserem Fall k6nnen wir sagen, dab das Noema eine Verallgemeinerung "arts" der Bedeutung ist - indem beide die gemeinsame Stmktur des "intentionalen Wesens" haben -, jedoch nicht "von" im strengen, logischen Sinn von Ableitung. F¢llesdal sagt weiter: "Die Tatsache, dal] A eine Verallgemeinerung yon B ist, heig nicht, dab B zuerst kommt und A danach". Auf keinem Fall liegt das Problem hier in einem zeitlichen Vorhergehen. Wenn man der Entwicklung von Husserls Phanomenologie nachgeht, entdeckt man in der Tat, dab der Begriff des "reduzierten" Gegenstands in den Analysen der Wahrnehmung in der sechsten Logischen Untersuchung vorausgesetzt wird und dab die erste explizite Erw~ihnung des 'cogitatum qua cogitatum' schon 1904 erfolgt. Doch erst nach der Entdeckung der ph~inomenologischen Reduktion wird der Gegenstand systematisch als Forschungsobjekt der ph~inomenologischen Reflexion eingeftihrt. Dies geschieht zum ersten Mal in der 68 Vorlesung vom Wintersemester 1906/1907, und zwar ausschlieglich in bezug auf die anschaulichen Akte. Der Gegenstand der Wahrnehmung ist also auch ein reines Phanomen (ein "ontisches", wie Husserl hier sagt), wenigstens wenn man seine Wirklichkeit als Naturding auger acht l~igt und ihn als "korrelative" Gegenst~indlichkeit des wahrnehmungsm~igigen Aktes betrachtet (Hua XXIV, 232). Die Einbeziehung der Bedeutung in die Korrelation findet erst in den Vorlesungen yon 1908 statt, wobei Husserl eine ontische Dimension des, signitiven Aktes konstatiert (Hua XXVI, 30; 56). In den Ideen I fliegen beide Dimensionen undifferenziert zusammen. 6 Was ist folglich der Sinn der Husserlschen Rede yon "Verallgemeinerung"? Nach unserer Auffassung wird dies erst deutlich, wenn man eine andere Entwicklungslinie von Husserls Phanomenologie in Betracht zieht, und zwar die des Verhaltnisses zwischen Bedeutung und Wahrnehmung. Dieses Verh~iltnis l ~ t sich in einer gewissen Spannung erfassen, die den Begriff der Intentionalitat selbst betrifft: Einerseits war das anf'~_ngliche Modell ftir das Verst~indnis der Intentionalitat des Bewugtseins ein sprachliches. In dem bertihmten Beispiel der Arabeske, das Husserl erstmals in dem Artikel "Psychologischen Studien zur elementaren Logik" yon 1894 einfiihrte (und das eine wichtige Rolle in der fiinften Logischen Untersuchung spielt), erhalten die zuerst nur asthetisch betrachteten Linien und Figuren ftir das Bewugtsein pl6tzlich eine Bedeutung als Zeichen: Die Arabeske wird als Inhalt bzw. Materie von einem Akt "aufgefagt" oder "beseelt" (Hua XXII, 115). In den Logischen Untersuchungen wird die Wahrnehmung nach demselben Schema von Inhalt und Auffassung beschrieben, so dab damit das bedeutungsmagige Wesen als intentionales Wesen auf das intuitive Gebiet erweitert wird (vgl. Hua XIX/1,431). Andererseits hat jede augere Wahrnehmung neben dem signitiven noch einen intuitiven (anschaulichen) Bestandteil, der auf die Momente des intentionalen Wesens nicht reduzierbar ist. Daher ftihrt Husserl in der sechsten Untersuchung den Begriff vom "erkenntnismagigen Wesen" ein, womit er versucht, die eigenttimliche Spannung innerhalb der Wahrnehmung zu rechtfertigen. Diese Spannung liegt darin, dab einerseits die Charakterisierung der Wahrnehmung als eine dem Bedeuten wesentlich analoge Bewugtseinsweise eine intentionale Kontinuit~it beider Bewugtseinsweisen herzustellen vermag, andererseits das Moment der anschaulichen Ftille selbst als etwas Fremdes, Unwesentliches erscheint, das das Schema nicht zu rechtfertigen vermag. Genauer gesagt, das Problem liegt gerade im Verhaltnis zwischen der Ftille und den sie konstituierenden Empfindungsdaten. Auf dieser Weise kommt es in noetischer Hinsicht zu einer Verallgemeinerung des Bedeutungsbegriffes in seiner Ausweitung auf alle Akte, d.h., das Schema yon Inhalt und Auffassung, das zu Anfang auf die 69 Sprache angewandt wurde, wird jetzt auch auf die anschaulichen Akte iibertragen. Dennoch wird in noematischer Hinsicht der Begriff des Korrelates, der zuerst auf die Wahrnehmung bezogen wurde, auch auf die nichtintuitiven Akte angewandt und so verallgemeinert. Diese Spannung vertiefte sich, als Husserl in den Ideen I die korrelativen noematischen Charaktere des erkenntnism~il3igen Wesens erforschte. Ein voriibergehendes Ergebnis bot die Auffassung vom "Sinn im Modus seiner Ftille" (Hua III/1, 304); bekanntlich war Husserl mit dieser Auffassung nicht ganz zufrieden (Hua III/2, 617). Die L6sung, die er schlieBlich fand, fiihrt uns zum Kernpunkt unserer Analyse. 3. Die dreifache Dimension des Noema Bernet zufolge sind bei der auf den Texten von 1907 und 1908 basierenden Charakterisierung des Noema in den Ideen I, wie erw/ihnt drei verschiedene Begriffe von Noema zu unterscheiden: Noema als Bewul3tseinsinhalt, als jeweiliges Korrelat des Aktes, also als noematische momentane Erscheinung (1), Noema als ideell-identischer Sinn bzw. Bedeutung (2) und Noema als konstituierter Gegenstand, gegeben in mannigfaltigen Erscheinungen (3). In der Mannigfaltigkeit der jeweiligen Abschattungen oder Erscheinungen konztituiert sich ein Sinn, der diesem Str6men gegenfiber identisch bleibt. Die Mannigfaltigkeit der noematischen Sinne ermtiglicht ihrerseits die Darstellung des Gegenstandes selbst, der als 'leeres X' oder zentrales identisches Moment vor allen Sinnen erscheint. Man k6nnte wohl sagen, dab der Gegenstand eine st~irkere Transzendenz zeigt als der Sinn, indem er der einheitliche Zielpunkt einer Reihe von mannigfaltigen Sinnen ist. In ~inhlicher Weise zeigt der Sinn eine st~irkere Transzendenz als die jeweilige noematische Erscheinung. Jedoch handelt es sich dabei - so auch im letztgenannten Fall - ebenso um eine konstituierte Einheit gegentiber einer konstituierenden Mannigfaltigkeit von Empfindungsdaten. Den Gedanken, dab der perzeptive noematische Sinn und sein Gegenstand innerhalb des Wahrnelmungsfeldes erzeugt werden, faBt Husserl in seinem Werk schon sehr frtih (vgl. Hua XXVI, 178-179). Trotzdem herrscht in den Ideen I die Vorstellung der Intentionalitat als Beseelung von in sich selbst nicht intentionalen Empfindungsdaten vor, wobei eine scharfe Unterscheidung zwischen dem "formlosen", toten Datum und dem sinnhaft konstituierten noematischen Erscheinenden gezogen wird, analog zur Deutung des sprachlichen Zeichens. Der Schliissel zum Verst~indnis von Husserls Wandlung in seiner Auffassung der ~iuBeren Wahrnehmung liegt einerseits in der yon Husserl 70 vorgenommenen kritischen Oberprtifung des Verh/iltnisses von Empfindungs- (bzw. hyletischem) Datum und noematischer Erscheinung, arldererseits in seiner Interpretation des Horizontbegriffes. Beides steht mit einer Forschungshaltung in Zusammenhang, welche Husserl lange vor der Ver6ffentlichung der Ideen I eingenommen hatte, die aber in diesem Werk ausdrticklich ausgeschlossen bleibt: aus der Analyse des ZeitbewuBtseins. 4. Zeitlichkeit und hyletisches Datum Husserls Untersuchungen zum immanenten Zeitbewugtsein stellte bekanntlich zum ersten Mal seine Vorlesung "Hauptstticke aus der Phanomenologie und Theofie der Erkenntnis" von 1904/1905 vor. Dort spricht Husserl von zeitlichen Daten und Zeitauffassungen, d.h., er analysiert die Zeitlichkeit nach demselben Schema, mit dem er das bedeutungs- und wahmehmungsm~iBige BewuBtsein zu kl/iren gesucht hatte. Ihm zufolge gibt es zwei Kontinua: einerseits Daten, die blind und in sich selbst nicht zeitlich sind, andererseits Auffassungen, die das Jetzt, das Vorher und das Nachher konstituieren. Wie John Brough in einem wichtigen Artikel hervorgehoben hat, bringt diese Ansicht zwei unl6sbare Probleme mit sich: einmal das Problem der Konstitution der Zeitauffassungen, die zugleich Gegenst~nde in der Zeit sind (Problem des 'regressus in infinitum'), und zum anderen das Problem, wie es zu erkl/iren ist, dab die gleichzeitigen Jetzt-, Vergangenheits- und Zukunftsauffassungen die zeitliche Folge ihrer immanenten Inhalte darstellen k6nnen (Problem der Koexistenz und Sukzession).7 Nach anf'~xiglicher Unentschiedenheit zeichnete sich bei Husserl allm/ihlich eine L6sung dieser Probleme ab, die so zusammengefaBt werden kann: Die Zeitauffassungen konstituieren sich nicht in der Zeit verm6ge neuer Auffassungen, sondern in einem Bereich, den Husserl sich der Metapher bewuBt als "BewuBtseinsstrom" bzw. "FluB", "absolutes BewuBtsein" oder auch "absolute Subjektivit~it" bezeichnet. Ein solches Bewugtsein liegt nicht in der Zeit, aber es erm6glicht die Konstitution der Zeitlichkeit fiir alle immanenten Einheiten, und letztendlich fiir die objektive Zeit selbst. SchlieBlich 16st Husserl das Schema Auffassung-Inhalt dadurch ganzlich auf, dab er den Strom als einen Erlebnisstrom begreift, der selbst nicht in der Zeit dieser Erlebnisse verl/iuft (vgl. Hua X, 333). Damit wird auch das Problem eines Regressus ins Unendliche aufgel6st. Eine zweite Transformation erfolgt im Innern des absoluten Bewugtseins, und zwar in bezug auf das Problem der Konstitution der Folge in der Gleichzeitigkeit. Schon 1905 merkte Husserl, das Bewugtsein objektiver Zeit sei kraft zweier Bedingungen m6glich: kraft einer relativen Erhaltung 71 gegenstandlicher Intention im LIbergang vom Jetzt zur Vergangenheit und kraft der reproduktiven Erinnerung, die sie wieder zum Bewugtsein zurtickkehren l~iBt. Die erste Bedingung, die "frische" Erinnerung, zeigt sich als eine merkwtirdige doppelte Intentionalit~it, die Husserl seit 1908 o d e r 1909 "Retention" nannte: als eine Querintentionalit~it, in der sich die Phasen des zeitlichen Gegenstandes konstituieren, also die zeitliche Folge im gew6hnlichen Sinn; und als eine L~ingsintentionalit~it, in welcher der FIuB sich selbst konstituiert (Hua X, 80). Daher sind die Begriffe von Retention, Urimpression (die die Rede vom "Jetzt" ersetzt) und Protention (statt "Nachher") keine zeitlichen Begriffe, sondern eigentlich vorzeitliche, indem sievor aller Ontifiziemng, Objektivierung der Zeit stehen und deren Bedingungen der M6glichkeit bezeichnen (vgl. Hua X, 75). In dieser Transformation des Zeitbegriffes erf~ihrt auch das Empfindungsdatum, das nicht-intentionale Gegensttick zur Zeitauffassung, entscheidende Umwandlungen. Wie schon erw~ihnt ist das hyletische Datum in der rein noetischen Ph~inomenologie der L o g i s c h e n U n t e r s u c h u n g e n - und sogar in der korrelativen Forschung der l d e e n - eine konstituierende Mannigfaltigkeit. Doch die Einftihrung des absoluten BewuBtseins bringt die Erkenntnis mit sich, dab die Erlebnisse, und selbst ihre stofflichen Inhalte, konstituierte Einheiten im FluB sind. Die Hyle ist daher nicht mehr ein toter, dem BewuBtsein v611ig fremder Stoff, sondem tritt von vomherein als eine Einheit auf bzw. als Urimpression, als Kern des Gegenwartsfeldes des BewuBtseins. Das heiBt, dab in dieser "tieferen" Schicht der Konstitution die Empfindung sich als i n t e n t i o n a l , also als im FluB konstituierte, erweist. Dies l~igt sich so interpretieren, dab Husserl die Hyle je nach Konstitutionsstufe anders betrachtet, n~nlich: a) in bezug auf ihre Darstellungsfunktion als toter Stoff der Auffassungen, der aktiven (noetischen) Vollztige und b) ftir sich, in seinem Eigensein, als vor-objektiv durch die passiven zeitlichen und assoziativen Synthesen vereinheitlicht. In seiner Vorlesung tiber "Ph~inomenologische Psychologie" vom Sommersemester 1925 behauptet Husserl, dab die hyletischen Daten "in ihrer Eigenart [...] selbst etwas" seien, sie h~itten "ihr eigenes Sein, ein nicht objektives Sein" (Hua IX, 163). Deswegen gebraucht Husserl einen solchen Begriff der Hyle als konstituierte Einheit vorwiegend in den Texten tiber die passiven Synthesen, w~ihrend er in anderen sp~iteren Schriften immer wieder das Schema der Beseelung von nicht intentionalen Daten benutzt. 5. Konstitution des passiven Noema In bezug auf die vorangegangene Betrachtung m6chten wir zeigen, dab diese tiefere Dimension der Hyle als Konstituiertes auf dasselbe Phfinomen 72 hinweist, das wir oben als jeweiliges Korrelat bezeichnet haben. Wohl k6nnten dieses als "passives Noema" betrachtet und die Hyle als noematische Einheit charakterisiert werden. Die jeweilige Erscheinung im noematischen Sinne konstituiert sich dann nach unserer Ansicht hyletisch als Feld von Daten, die in Strukturen angeordnet sind, denen die Zeitlichkeit zugrunde liegt. Die Idee, die in letzter Hinsicht die Erzeugung des Wahrnehmungssinnes m6glich macht, ist die Idee der Synthesis. Husserl unterscheidet prinzipiell zwei Arten von Synthesen, die die Passivitat ausmachen, d.h. die keine Aktivit~it des Ich voraussetzen: die formalen und die inhaltlichen Synthesen. Die ersten entsprechen derjenigen Zeitlichkeit, die die allgemeinste Form des jeweiligen Jetzt mit seinen Horizonten von Retention und Protention, also der Erhaltung der soeben abgelaufenen Phase und der Antizipation der kommenden Phasen, bildet. Husserl spricht auch von anderen zeitlichen Synthesen, zu denen diejenigen z~ihlen, die Aufschlul3 geben tiber die Koexistenz der "konkreten, vollen Gegenwart", in der Objekte parallel konstituiert werden, und tiber die Sukzession, die sich im Fortstr6men yon Lebensmoment zu Lebensmoment vollzieht (Hua XI, 180). Aber die Form ist nichts ohne den Inhalt: Llber die Zeitsynthesen schichten sich h6herstufige Synthesen, die die qualitative Einordnung der Sinnesdaten besorgen. Es handelt sich um assoziative Synthesen, die ftir Husserl die urspriinglichsten sind und die er daher Urassoziationen nennt. Diese sind passive Verwirklichungen, die die zeitlichen voraussetzen und die Struktur von Vorder- und Hintergrund innerhalb eines Empfindungsfeldes be~cksichtigen. 8 Die allgemeinsten inhaltlichen Synthesen sind diejenigen der Homogenit~it oder Verwandtschaft und diejenigen der Heterogenit~it oder Fremdheit. Ein Sinnesfeld in der lebendigen Gegenwart ist in erster Linie deshalb eine Einheit, weil es im Kontrast zu anderen Feldern steht. So ist, um das Beispiel Husserls in EU aufzunehmen, das visuelle Feld eine Einheit von visuellen Daten, die als solche untereinander ~ihnlich bzw. verwandt und zugleich verschieden von den Daten etwa des taktuellen Feldes sind: Doch innerhalb eines bestimmten Feldes hebt sich ein einzelnes Datum von anderen durch einen Kontrast ab, wie etwa rote Flecken auf einem weiBen Hintergrund: Die roten Flecken heben sich vor der weiBen Fl~iche ab, sind untereinander kontrastlos verschmolzen, wie Husserl betont. Er nennt dies Fernverschmelzung, bei der die Flecken sich als "gleiche. . . . decken". Gleichheit ist der Grenzfa!l der totalen Verwandtschaft ohne Diskrepanz; tiber den Grenzfall hinaus gibt es eine Abstufung von relativer Verwandtschaft, wo Ahnlichkeit und Fremdheit vorkommen, d.h., es geht stets um die Tatsache, dab das Ungleiche sich von einem Boden des Gemeinsamen abhebt (EU, 76 f.). Diese Urassoziationen machen eine "wesensmaBige Form der Gesetzm~iBigkeit immanenter 73 Genesis" aus und treten immer dann auf, wenn einzelne Dinge sich aus einem Feld abheben, wobei ein Glied der Verbindung als weckend, das andere als Gewecktes bezeichnet werden kann. Solche Synthesen erm6glichen vor allem die objektive Struktur der lebendigen Gegenwart (vgl. Hua XI, 180; EU, 78). Diese zeitliche und assoziative Konstitution des Feldes der lebendigen Gegenwart fiihrt zu dem, was die statische Ph~inomenologie als jeweilige Erscheinung ansieht. Wenn wir, wie es z.B. Ulrich Claesges und Donn Welton tun, die Kin~isthesen miteinbeziehen, erhalten wir das r~iumliche Phantom bzw. Raumschema, wobei der zweidimensionalen Struktur des Sinnesfeldes im Zustand der Ruhe die Dimension der Tiefe hinzugeffigt wird, die als N~ihe oder Feme beziiglich des eigenen Leibes gilt, der als Orientierungszentrum fungiert. Da die Unbeweglichkeit ein Grenzfall, ein Limes der Bewegung ist und auf das Bewugtsein des "ich kann" zurtickweist, betreten wir hier eine Zwischendimension, denn das kin~isthetische Bewugtsein kann nicht gRnzlich als passiv definiert werden, weil es prinzipiell eine Aktivit~it des Ich voraussetzt. Die Kin/isthesen bieten damit einen anderen Begriff von Hyle, soweit sie nicht "Darstellungsdaten", sondem eher "Stellungsdaten" sind. 9 Eine eingehende Er6rterung dieses Punktes wtirde hier zu weit fiihren. Ftir eine Betrachtung des Noema beztiglich der passiven Synthesen liegen sich auch andere Texte Husserls aus den zwanziger Jahren anftihren, in denen vom Noema als reellem Bestandsttick des intentionalen Erlebnisses die Rede ist. So finden wir z.B. in einer Abhandlung aus dem Jahre 1920 folgende Aussage: "Also wieder zeigt es sich, dab kein Grund ist, das 'Noema' vom Erlebnis abzurticken und ihm den Charakter eines reellen Moments zu bestreiten" (Hua XI, 335). In einer Fugnote zu diesem Text lesen wir: "Ich bleibe hier in Widerspruch zu den Ideen und leugne, dab noematische Einheiten, gegenstfindliche Sinne dem Erlebnis transzendent sind". Vor einigen Jahren hat Guido Kiing eine L6sung vorgeschlagen, die mit der unseren in diesem Punkt iibereinstimmt. Das Noema als reelles Moment entspricht folglich dem jeweiligen Aktkorrelat, das als solches sozusagen Anteil hat an der Zeitlichkeit des Aktes selbst und demgem~il3 der Immanenz zugeh6rig ist: Husserl definiert gerade das reelle Moment eines Erlebnisses als das, "was an einem Erlebnis phanomenologisch-zeitlich gebunden ist" (Hua XI, 394). Als in der Passivitat konstituiert ist das Noema zugleich etwas Zeitlicti-Reelles und dennoch insofern auch transzendent, indem es immer schon Korrelat einer Synthese, d.h konstituiert ist. Es handelt sich um das Vermeinte in einem bestimmten Akt, im Gegensatz zum identischen noematischen Sinn, der "ideell" ist. In dieser Hinsicht charakterisiert Husserl den Gegenstand selbst als ein "Ideelles zweiter Stufe" (BIII 12 III, 3). l° 74 Weitere Spuren eines passiven Noema finden wir in einigen Stellen yon EU, wo Husserl von einer passiven Doxa spricht, einer Stellungnahme, in der das Ich keine aktive Rolle spielt. Dieser passive Glaube erscheint gerade im Zusammenhang mit den ~isthetischen Synthesen, die die Konstitution eines Sinnesfeldes im Gebiet der vorpr~idikativen Erfahrung erm6glichen. Kraft der Unterscheidung innerhalb des vollen Noema zwischen Sinn und Seinscharakter bzw. Doxa (im korrelativen Sinn), setzt die Charakterisierung der passiven Doxa in der "stummen" Erfahrung eine "Materie" voraus, beztiglich der der Seinscharakter gesetzt wird. Eine solche Materie (wie sie noetisch in den Logischen Untersuchungen bezeichnet wurde) ist ein "impliziter" Sinn, der vor aller gegenst~ndlichen, "aktiven" Erfassung liegt (EU, 63). Erst ein aktives Explizieren teilt das Ganze und legt Teile, Merkmale, Bestimmungen etc. aus. Husserl faBt diesen Gedanken klar zusammen: "Aber explizieren kann ich nur, was fiir reich schon unexpliziert ist, und so geht hinsichtlich der Welt im ganzen wie im einzelnen 'das Sein dem So-Sein voraus'" (B III 4, 76). Dieses passive Noema erg~zt, vom genetischen Standpunkt aus, die in den Ideen I vorgenommene Charakterisierung des noematischen Sinnes als "Sinn im Modus seiner Ftille", indem gezeigt wird, wie der Wahrnehmungssinn yon der Wahrnehmung selbst auf Grund des im Feld der Gegenwart anschaulich Gegebenen erzeugt wird (vgl. Hua XI, 180). Es ist dennoch zu bemerken, dab Husserl die Lehre der Intentionalit~it als Auffassung eines nichtintentionalen Inhaltes immer wieder aufnimmt. Die von uns angefiihrten Texte sprechen nicht nur gegen die Auffassung F¢llesdals, sondern zeigen auch eine Dimension der universalen Korrelation, die v o n d e r statischen Ph~nomenologie kaum berticksichtigt worden ist. 6. Identischer Sinn, Horizont und Gegenstand F¢llesdals Charakterisierung des Noema als "platonische" Entitat ergibt sich, unserer Meinung nach, aus der Tatsache, dab er den synthetischen Charakter des BewuBtseins nicht gentigend in Betracht gezogen hat. Die Deutung der wesentlichen Zeitlichkeit des BewuBtseins und die Bezeichnung der lebendigen Gegenwart als Zeitigung sind zentrale Themen des sp~iteren Husserls, die mit seinen Klarungsversuchen der BewuBtseinssynthesen Hand in Hand gehen. Bernet hat darauf hingewiesen, dab Husserl schon um 1910 erkannt hat, dab alle intentionalen Vollziige synthetisch sind.11 In den Synthesen wird eine Einheit in einer konstituierenden Mannigfaltigkeit eben als konstituierte Einheit gebildet. Diese ist als Produkt der Synthesen intentionales Korrelat einer solchen Operation, d.h. z.B. beztiglich der Wahrnehmung: Transzendenz. Aber zugleich ist dieses 75 Korrelat von den Synthesen selbst nicht unabh~ngig und kann ohne sie nicht bestehen. In diesem Sinn revidiert Husserl auch seine alte Lehre in den Logischen Untersuchungen, in denen die Bedeutung bzw. der Sinn die Vereinzelung einer universalen Spezies ist. Eine erste Kritik findet man schon frtiher im Kontext der statischen Phfinomenologie, wenn Husserl behauptet, dab im Akt des Urteilens eine Einheit der Identifikation des Geurteilten als solchen beg~ndet sei (vgl. Hua XXVI, 193). Mit der Frage der Synthesen ist ein weiteres Thema verbunden, das in der Spatphilosophie Husserls immer mehr an Bedeutung gewinnt. Die passiven bzw. aktiven Synthesen k6nnen nicht nur im Feld der Anwesenheit auftreten, sondem auch und in erster Linie zwischen dem, was wirklich gegeben ist, und dem, was abwesend ist, also zwischen dem, was anschaulich gegenw~irtig ist und dem, was nur leer gemeint ist und den inneren Horizont des Gegebenen ausmacht. Die in der genetischen Analyse erfolgende Auslegung der lebendigen Gegenwart als eines urimpressionalen Kerns mit seinen Retentions- und Protentionshorizonten zeichnet auch paradigmatisch diejenige der zeitlichen Horizonte der Erlebnisse und ihrer Korrelate vor. Der Horizont in noematischer Hinsicht hat demzufolge einen synthetischen und mehrdimensionalen Charakter. Der Wahrnehmungssinn wird im gegenseitigen Spiel zwischen anschaulicher Gegebenheit und leer vermeintem Horizont stetig erzeugt, wobei dieser nicht mehr, wie in der statischen Ph~inomenologie, eine blof5 leere, der sprachlichen analoge Antizipation ist, sondern eher ein "Netz" von sehr komplexen zeitlichen und assoziativen Verweisungen. Der in den mannigfaltigen, jeweils schon horizonthaften Erscheinungen konstituierte Sinn ist ein Spielraum von M6glichkeiten, die einerseits beziaglich der Anzahl weiterer Erscheinungen unbegrenzt, andererseits durch einen Stil, der solche weiteren Erfahrungen leitet, begrenzt sindl2: "Habe ich einmal und erstmalig einen Gorilla gesehen, so ist ktinftig jeder neue Gorilla eben schon Gorilla, in dieser Hinsicht das Sehen reaktivierend im Typus und nur erganzend, n~iher bestimmend und evtl. neue Eigenschaften zu Tage bringend" (B III 4 III, 80; vgl. B I 14 VI, 7). Jede neue Gegenw~rtigung bringt etwas zutage, das schon als ein bestimmter Gegenstandstypus bekannt ist und somit einen gewissen Wahrnehmungsstil hat, kraft des "Niederschlags" oder "Erwerbes" alter Gegenwfirtigungen. So haben wir stets in Richtung auf den Vergangenheitshorizont eine "Geschichte", einen "Erwerb innerer Tradition", und in Richtung auf den Zukunftshorizont einen Horizont von "Vorzeichnungen" bzw. "Vordeutungen". Beide Strukturen schreiben ftir das Weitergehen der Wahrnehmung Regeln vor (Hua XI, 214-215; vgl. B III 4 III, 78). Der Sinn ist folglich immer schon horizonthaft. Diese Horizonthaftigkeit geht sozusagen durch die drei Dimensionen des Noema hindurch: Erstens gibt es einen Horizont, der eine jeweilige Struktur 76 hat und der dem jeweiligen Korrelat entspricht (vgl. A VII 8, 9-10), insofern er mit den Zeithorizonten des Flusses ~ibereinstimmt. Zweitens schafft der oben genannte Horizont des noematischen Sinnes im Spiel der Vor- und Riickdeutungen einen Stil des Gegenstandes, der den mtiglichen Verlauf der Erfahrung vorschreibt. Das wirklich Wahrgenommene, das in das Feld der Gegenwart f~illt, befindet sich stets im Strtimen, und im strtimenden Sichwandeln tr~igt es einen Wiedererinnerungs-horizont als lebendigen Horizont der vergangenen Felder sowie einen protentionalen Horizont der werdenden Wahrnehmungsfelder mit sich. Uber die Konstitution des Sinnes des Einzeldinges im Spiel der Verweisungen zwischen Gegenw~irtigem und innerem Horizont hinaus verbindet sich der noematische Sinn mit dem Umkreis anderer mitwahrgenommener Gegenst~inde, so dab "das Reale nicht isoliert erfahren und erfahrbar ist, sondern in einem Ganzen der Erfahrung, das eine Mannigfaltigkeit von Objekten, wir sagen besser, eine jeweilige Konfiguration von Realit~iten zur Pr~isentation bringt" (D I, 15). So besitzt auf der einen Seite jede einzelne Erscheinung einen protentionalen sowie einen retentionalen Innenhorizont, in denen sich der jeweilige Sinn konstituiert; zugleich weist sie einen AuBenhorizont von anderen mt~glichen Sinnesfeldern auf. Auf der anderen Seite hat der identische Sinn, der sich als Einheit der mannigfaltigen einzelnen Erscheinungen konstituiert, ~iber diese hinaus eine typische Struktur, einen Stil, der durch die Horizonte der Vor- und R~ickdeutungen bestimmt wird. Es ist auch wichtig, darauf hinzuweisen, dab der Stil "ein beweglicher ist, dab er selbst sich im Gang der Forterfahrung abwandeln kann, aber in einer Weise, die den friiheren Stil nicht preisgibt, sondern auf eine neue Stufe erhebt" (D I, 24). 13 F¢llesdals Auffassung des Noema deckt sich kaum mit den von uns hier angef~ihrten Textbeispielen. Er ~ibersieht den entscheidenden Unterschied zwischen dem jeweiligen noematischen Korrelat, das wegen seiner hyletischen Konstitution an die Zeit gebunden ist, und dem identischen Sinn, der als Deckungseinheit der jeweiligen Noemata auftaucht. In einem Manuskript aus dem Jahre 1922 erkennt Husserl deutlich: "Nannten wir Noema das Vermeinte als dem einzelnen Akte Zugeh6riges, als anteilhabend an der Zeitlichkeit, so diirfen wir mit demselben Worte nicht mehr nennen das ~iber die Zeit hinausgreifende Identische selbst" (BIII 12 IV, 3). F¢llesdal l~il3t ferner den wesentlich horizonthaften Charakter des Wahrnehmungssinnes auBer acht. Die Auslegung der statischen Konstitution des Sinnes in den Ideen I mag zu dem Irrtum f~ihren, dab Sinne vollkommen bestimrnte Entit~iten seien, gewissermaBen wie "platonische Ideen" bzw. wie Sinne in der Auffassung Freges, so wie sie F~llesdal versteht. Die genetischen Analysen hingegen machen deutlich, dab der Sinn 77 gum einen eine Struktur ist, die den Verlauf der jeweiligen Erscheinungen [eitet bzw. vorzeichnet (in dieser Hinsicht ist der Sinn auch die Differenz gwischen dem wirklich Wahrgenommenen und d e m nur horizonthaft Antizipierten), und sich zum anderen in einem Spielraum oftener M6glichkeiten fur die Weiterbestimmung h~ilt, also ein beweglicher, sich ver~indemder ist. Und nicht nur der jeweilige Sinn, mit dem jedes Ding in der Welt sich gibt, sondern auch die Welt selbst wandelt sich: "Die Welt, die da vorgegeben ist, ist nicht vorgegeben als ein starres Seiendes, sondern als ein im Str6men des Lebens, im Urstrom immer ftir mich fort Werdendes" (B III 3 IV, 117); "aber diese endliche Welt ist in best~indigem Flul3 des Ffir-uns-Seins, uns zur Effahrung, zur Kenntnis Kommens" (BIII 3 IV, 109). Diese Auffassung der werdenden Sinne ftihrt uns kurz zur Betrachtung der Gegenst~inde, die sich kraft der Sinne konstituieren. F¢llesdal ftihrt den berfihmten Satz des § 129 der Ideen I fiber die Beziehung des Bewul3tseins zu seinem Gegenstand durch die Sinne an, um zu zeigen, dag das Noema als eine vermittelnde Entit~it zwischen dem Bewul3tsein, also der Immanenz, und dem Gegenstand, der transzendent ist, fungiert, so dab nach seiner Meinung Noema und Gegenstand nicht gleichzusetzen sind. Erstaunlicherweise nahm Husserl schon diese Diskussion vorweg, als er schrieb: Zu sagen, dab das Bewugtsein sich durch seinen immanenten noematischen Sinn (bzw. den Sinnespol X in seinen noematischen Bestimmungen und seinen Setzungsmodus als seiend) auf einen transzendenten Gegenstand 'beziehe', ist eine bedenkliche und, genau genommen, falsche Rede. Ist so verstanden nie meine Meinung gewesen. Ich wfirde reich wundern, wenn diese Wendung sich in den 'Ideen' f~inde, die im Zusammenhang dann sicher nicht diesen eigentlichen Sinn h~itte (B III 12 IV, 12). In den Ideen I selbst findet sich schon der entscheidende Gedanke, dab der Gegenstand des intentionalen Aktes, das leere X, das die noematischen Eigenschaften tr~igt, ein "zentrales noematisches Moment" ist (Hua III/1, 301). Der Gegenstand ist als transzendent vermeint, konstituiert sich aber in der Immanenz der Erlebnisse. Als solcher hat er, wie Husserl immer wieder betont, den Charakter eines "idealen" Pols (eines ideal-identischen). Das Etwas, der Gegenstand selbst, ist von den Synthesen, in denen er sich konstituiert, untrennbar, abet der reinen Immanenz gegeniiber ist er zugleich "ein relativ zu ibm [zum Erlebnis] Transzendentes" (Hua XI, 175; vgl. 177). Diese Betrachtung des Gegenstandes als Pol betont den teleologischen Charakter der Intentionalit~it: Husserl spricht sogar vom Gegenstand als "Idee im Kantschen Sinne". Der Gegenstand selbst ist daher die Idee der 78 vollkommen ad/iquaten Gegebenheit, die als Regel ftir den Erfahrungsverlauf fungiert. Es handelt sich jedoch nicht um eine Regel bzw. Struktur, die die Reflexion schafft, wie wir schon gesehen haben. Der objektive Pol konstituiert sich schon in der jeweiligen noematischen Erscheinung: "Jeder Akt, jedes Noema hat seinen Gegenstandspol, der somit eine Zeitstelle hat" (B III 12 IV, 12). Der Gegenstand, als vereinheitlichender Pol des Korrelates, tritt tats~ichlich in den drei Dimensionen des Noema auf: im jeweiligen zeitlich bestimmten Korrelat, als 'cogitatum qua cogitatum' im identischen Sinn und als 'cogitatum' selbst, das an sich Wirklichkeit ist (vgl. BIII 4, 42). Im Fall der transzendent-realen Gegenstgnde ist dies eine pr~isumptive Wirklichkeit. Husserl gibt klar zu verstehen, dab das Etwas (der Gegenstand) "die Idee dieses Etwas als Integral aller ihm zugeh6rigen, in m6glicher Bewahrheitung, bzw. einer Allheitssystem m6glicher Wahrnehmung" ist (B III 12 IV, 18). Wie das mathematische Bild des Integrals nahelegt, ist die absolut ad~iquate Gegebenheit hier als eine Idee gedacht, als die Summe aller m6glichen Wahrnehmungen, ~ihnlich wie ein asymptotischer Limes, dem s.ich die Gegebenheit n~ihert, ohne ihn erreichen zu k6nnen. Husserl betont am Anfang seiner Vorlesung fiber transzendentale Logik von 1920: "Die ~iuBere Wahrnehmung ist die bestfindige Prfitention, etwas zu leisten, was sie ihrem eigenen Wesen nach zu leisten auBerstande ist" (Hua XI, 3). 7. SchluBwort In dieser Arbeit haben wir versucht, den Begriff des Noema in der genetischen Phfinomenologie Husserls vorl~iufig zu skizzieren, um zu zeigen, dab sich Fo¢llesdals Interpretation mit Husserls Ausftihmngen kaum deckt. Es ist jedoch nicht unsere Absicht gewesen, F¢llesdals Auffassung ohne Grund abzubauen, sondern wir wollten in erster Linie auf eine "tiefere" Dimension der Korrelation hinweisen, die in der statischen Phgnomenologie nicht berticksichtigt bzw. nicht ausftihrlich entwickelt worden ist und zu einer Interpretation wie derjenigen F¢llesdals AnlaB gegeben hat. Wenn tiberhaupt eine gewisse Obereinstimmung von Freges Sinn mit dem Husserlschen Noema festzustellen ist, so nur deshalb, weil die statische Ph~inomenologie vielleicht aus methodischem Grund, zwecks der Darstellung, das Noema imrner als einen schon "fertigen" Gegenstand betrachtet, also ohne Riicksicht auf seine Geschichte und das heiBt auf seine genetische Konstitution. Wenn wir die dreifache Teilung des Noema in Betracht ziehen, k6nnen wir sagen, dab die analytische Interpretation der genetischen Ph~inomenologie aus drei Griinden nicht gerecht wird: 79 1. Es gibt eine von F¢llesdal iibersehene Dimension des Noema, die in der Zeitlichkeit konstituiert wird, n~imlich die der jeweiligen Erscheinung, die nicht "abstrakt" ist. 2. Selbst wenn wir davon absehen, dab der Sinn seine zeitliche Gegebenheitsweise hat, wie Husserl oft betont, tritt dieser Sinn in der genetischen Analyse als eine intentionale Struktur von wesentlich horizonthaften Verweisungen auf, die ihn zu einem eigentiJmlichen "Netz" machen. 3. Da der Gegenstand ein inneres Moment des Noema und der intentionale Zielpunkt aller Noemata bzw. Sinne ist, also als Pol "innerhalb" der Sinne konstituiert wird, darf er -als unerreichbare Idee- nicht mit dem transzendenten Gegenstand in der natiJrlichen Einstellung verwechselt werden, wie es F¢llesdal zu machen scheint. Anmerkungen 1. Lenore Langsdorf, "The Noema as Intentional Entity: A Critique of F¢llesdal", The Review of Metaphysics 148 (1984): 757-784; Mary Jeanne Larrabee, "The Noema in Husserl's Phenomenology", Husserl Studies 3 (1986): 209-230; Robert Sokolowski, "Intentional Analysis and the Noema", Dialectica 38 (1984): 113-129. Ich will hier Herrn Dr. Hans Rainer Sepp und Frau Sabine Geiler aus Freiburg meinen ganz besonderen Dank ffir ihre Hilfe bei der Vorbereitung dieses Aufsatzes ausdriicken. 2. Donn'Welton hat eine Reihe yon Artikeln fiber dieses Thema geschrieben. Eine umfassende Darstellung gibt seine Monographie The Origins of Meaning (The Hague: Martinus Nijhoff, 1983); Robert C. Solomon, "Husserl's Concept of the Noema", in F. Elliston und P. McCormick (Hrsg.), Husserh Expositions and Appraisals (Notre Dame: The University of Notre Dame Press, 1977); Hubert L. Dreyfus, "Husserl's Perceptual Noema", in Hubert L. Dreyfus und Harrison Hall (Hrsg.), Husserl: Intentionality & Cognitive Science (Cambridge, MA: M.I.T. Press, 1982), S. 97-124. 3. Dagfinn F¢llesdal, "Husserl's Notion of the Noema", The Journal af Philosophy 66 (1969): 680--687; Nachdruck in Hubert L. Dreyfus, a.a.O., S. 73-80; siehe S. 77; und "Noema and Meaning in Husserl", Philosophy and Phenomenological Research, Supplement (1990): 263-271; siehe S. 265. 4. 4. Rudolf Bernet, "Husserls Begriff des Noema", in Samuel IJsseling, HusserlAusgabe und Husserl-Forschung (Dordrecht: Kluwer Academic Publishers, 1990), S. 61-80; siehe S. 71. Es ist zu bemerken, dab diese Unterscheidung Bernets anderen Zwecken dient, n~nlich der Feststellung, da6 bei Husserl die Beziehung vom noematischen Sinn zum Gegenstand im Rahmen der Erkenntnistheorie anders charakterisiert ist als im Rahmen der Bedeutungslehre. 5. Vgl. M.J. Larrabee, a.a.O., S. 212. 6. Vgl. R. Bernet, a.a.O., S. 64. Die erste Erw~ihnung vom 'cogitatum qua cogitatum' erfolgt im Ms. B II 1, 47a (16. Juni 1904), so Iso Kern, Husserl und Kant (Den Haag: Martinus Nijhoff, 1964), S. 180. Die Manuskripte Husserls werden nach der Transkription des Husserl-Archivs zitiert. Dem Direktor des 80 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. Husserl-Archivs zu L/Swen, Prof. Dr. Samuel IJsseling, gilt mein Dank fur die freundliche Erlaubnis, aus unver/Sffentlichten Manuskripten Husserls zu zitieren. Vgl. John Brough, "The Emergence of an Absolute Consciousness in Husserl's Early Writings", in F. Elliston und P. McCormick, a.a.O., S. 90. Vgl. Edmund Husserl, Erfahrung und Urteil (Hamburg: Claassen, 1964), S. 76; hier als EU zitiert. Ulrich Claesges, Theorie der Raumkonstitution (Den Haag: Martinus Nijhoff, 1964), S. 64 f.; vgl. auch B III 3 I, 6. Vgl. Guido Kiing, "Das Noema als reelles Moment" in Phenomenological Perspectives (The Hague: Martinus Nijhoff, 1975), S. 151-153; siehe S. 153. R. Bernet, a.a.O.S. 74. FiJr eine ausf~ihrliche Auslegung der lebendigen Gegenwart siehe vor allem Klaus Held, Lebendige Gegenwart (Den Haag: Martinus Nijhoff, 1966). Vgl. dazu Suzanne Cunningham, "Perception, Meaning and Mind", Synthese 80 (1989): S. 224. Es ist zu beachten, dal3 Cunningham dieses Netz als psychologische Entit~itversteht, was bei Husserl nicht der Fall ist. Obwohl eine Rede yon "Netz" in den Texten Husserls nicht aufzuweisen ist, weist der Begriff von "Spielraum" und "Erfahrungsstil" auf eine solche Organisierung der Wahrnehmung hin; vgl. A VII 7, 7 und D I, 12. Man darf in diesem Kontext auch nicht vergessen, daf5 das Wahrnehmungsnoema eigentlich nur eine Grundschicht fiir die Konstitution der Welt bildet, derart, dab sich darauf eine mannigfaltige Schichtung von mtiglichen Akttypen aufbaut bzw. aufbauen kann. Die Verflechtung dieser Akte, korrelativ ihrer Noemata, muf5 in bezug auf die "Sedimentierung", auf die "bleibenden Meinungen" (Hua IV, 111) gesehen werden. Die Konstitution eines Erfahrungsdinges kann dann als "Netz" betrachtet werden, das gerade in dieser komplizierten Struktur besteht. In diesem "netzhaften" Aufbau der Gegenst~inde ist auch der Aufbau einer einheitlichen Welt zu verstehen.