Die Sprache der Natur
Peter Schleuning
Die Sprache der Natur
Natur in der Musik des 18. Jahrhunderts
Verlag J. B. Metzler
Stu ttgart . Weimar
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Schleuning, Peter:
Die Sprache der Natur: Natur in der Musik des 18. Jahrhunderts /
Peter Schleuning. - Stuttgart ; Weimar: Metzler, 1998
ISBN 978-3-476-01280-7
ISBN 978-3-476-01280-7
ISBN 978-3-476-03578-3 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-476-03578-3
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© 1998 Springer-Verlag GmbH Deutschland
Ursprünglich erschienen bei J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung
und earl Ernst Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart 1998
Inhalt
Vorwort ................................................................................................... VII
Einleitung ...................................................................................................
1
Teil I
ENTDECKUNG DER NATUR
1. »Natur« um 1700 ...................................................................................
9
1.1. Landschaft, ein Wunderwerk Gottes: Verehrung und Mitleiden ....
9
1.2. Raus aus der Stadt: Arkadien auf der Wiese und die Idylle..... ........ 11
1.3. Große, wilde Natur: Das Erhabene .......... ........ ........... .................. 13
1.4. Auf den Spuren der Künstlerin Natur:
Die Rahmenschau und die Affekte............... .............. ............. ..... 18
1.5. »Proben von des Schöpfers Güte«: Nützlichkeit und Naturbegriff.. 21
2. Die Pastorale - friedliche Natur
Vier geistliche Beispiele..........................................................................
2.1. Die Orgel-Pastorale BWV 590 und die Frage
nach dem Pastorale-Begriff ..........................................................
2.2. Die Hirten-Sinfonia des Weihnachts-Oratoriums...........................
2.3. Ist eine Passions-Pastorale möglich?
Die Eröffnung derJohannes-Passion ..........................................
2.4. Ist eine erhabene Pastorale möglich?
Die Orgel-Toccata BWV 540 .......................................................
26
32
37
41
49
Teil II
NACHAHMUNG DER NATUR
1. Erhabene und friedliche Natur:
Läßt sie sich nachahmen, oder muß man sie erfinden? ...... .......... ............. 59
1.1. Bach und Mattheson im Zwiegespräch über das Gewitter.............. 59
1.2. Was ist nachahmenswert, und wie ist nachzuahmen?
Johann Matthesons Lebenskampf ................................................. 69
1.3. Der frühe Ausbruch in die »Dichterwuth« .................................... 81
2. Von friedlicher zu erhabener Natur
Vier weltliche Beispiele.......................................................................... 86
2.1. Georg Philipp Telemann: Die Landlust ..... ... ..... ........... ....... ...... 86
2.2. Johann Sebastian Bach: Cantate burlesque (Bauern-Kantate) ............ 98
v
2.3.
2.4.
Jean-Philippe Rameau: Hippolyte et Aricie, Les Indes galantes und Zais .. 107
Carl Heinrich Graun: Montezuma ........................................... 111
3. Natur der Musik und Naturwissenschaft ................................................... 121
Teil III
AUFBRUCH IN EINE ANDERE NATUR
1. Der Kampfzweier Linien .........................................................................
1.1. »Vernünftige Betrügerey«, »um viele Affeckten kurtz
hinter einander zu erregen und zu stillen«:
Die »Transformation« um die Jahrhundertmitte ..................................
1.2. Zwischen Arkadien und wilder Einöde ..............................................
1.2.1. Singspiel und Lied ...................................................................
1.2.2. Sturm und Drang, Instrumentalmusik
und Mozarts Veilchen..... ........................ ... ... ..... ............ ....
2. Arkadien als Steinbruch ............................................................................
2.1. »Ach, ich habe sie verloren«:
Natur und Pastorale in Oper und Hymne ..........................................
2.1.1. Gluck und Mozart ...................................................................
2.1.2. Frankreich vor und während der Revolution ............................
2.2. Der Bürger richtet sich ein: Ein bemoostes Thema .............................
2.2.1 Oratorium und Lied ................................................................
2.2.2. Sinfonik und Klaviermusik ......................................................
127
127
138
138
147
159
159
159
172
181
181
194
3. Schlußbemerkungen ................................................................................ 206
Benutzte und zitierte Literatur ..................................................................... 212
Personenregister .......................................................................................... 223
Sachregister ............................................................................................... 227
VI
Vorwort
Das Buch soll die musikalischen Aspekte jenes Naturmythos darstellen und erklären, welcher im 18. Jahrhundert die Stelle der göttlichen Allmacht und Vorsehung
einzunehmen begann und in dieser Funktion zum allbeherrschenden Legitimationswerkzeug wurde, zum Vorbild, zum Auftraggeber und zum Richter menschlicher Handlungen, auch der musikalischen. Hier wie auf vielen anderen Gebieten
sind die ideologischen Neuerungen der bürgerlichen Frühzeit bis heute bestimmend geblieben. Schon ein scheinbar so unbedeutendes Phänomen wie die heutige Funktion des einst emphatischen Adjektivs >natürlich< als Synonym fur >selbstverständlich< oder >unbefragbar< weist daraufhin. Natur und Natürlichkeit sind seit
der Jugendbewegung, mit erneuter Kraft aber seit etwa zwanzig Jahren zur obersten Urteils- und Bewertungsinstanz in vielen Lebensbereichen geworden, von der
hohen und alternativen Politik über Körperpflege, Kleidung und Ernährung bis
hin zur Musik und Touristik, die werbend die angebliche Unberührtheit außereuropäischer Kulturen beschwören und die Naturideologie zum Segment des Warencharakters machen (vgl. Wormbs, vor allem Teil 11). Beobachtet man den großen Anteil und die große Wirkung, mit denen fur >Naturmaterial< geworben oder
behauptet wird, etwas sei >von Natur aus gut<, etwas sei >naturbelassen<, man solle
>gesundes Brot aus reiner Natur< essen oder einen Essig benutzen, von dem es gut
plattdeutsch-urig heißt: »Söt un suur, dat is Natur«, so möchte man zwar nicht von
der Sache her, wohl aber im Hinblick auf die Quantitätsangaben in Frage stellen,
was Hartmut Böhme 1988 (S. 6) formulierte:
»Die philosophischen und ästhetischen Traditionen [... ] finden sich heute fast sämtlich,
auf zumeist unreflektierte Weise, in den Überzeugungen von Minderheiten wieder, die
gegen den main-stream einer von wissenschaftlicher Rationalität beherrschten Gesellschaft ankämpfen.«
Diese Überzeugungen beziehen sich aber nicht nur auf Gegenstände und Technikenjenseits, sondern auch um Werte und Bewegungen innerhalb des Menschen,
ob in Auseinandersetzungen in der Pädagogik oder der Arbeitswelt oder auch in
der Musik. Natur-Mystik, Kosmos-Klänge und esoterische Symbolik sind für einen keineswegs kleinen Kreis des Musikpublikums wichtig. Und die Rückkehr zu
den alten Instrumenten innerhalb der Historischen Aufführungspraxis dürfte sich
nicht nur auf ihre unbezweifelbare stilistische Berechtigung gründen, sondern auch
auf die Faszination, unabhängig von technisch hochstehendem und elektronisch
ausgestattetem modernen Instrumentarium aufKlangwerkzeuge zurückgreifen zu
können, die in Material und Handhabung >natürlicher< erscheinen. (Daß das Spiel
auf ihnen teilweise schwieriger ist als das auf den modernen Nachfolgern, kann die
Faszination noch steigern. »Sein einziger Gegner ist die Natur«, hieß es auch von
dem Extrem-Skifahrer Shane McConkey am 25. 3. 1996 in Sat 1.)
VII
Vorwort
Im Dunstkreis solcher Gedanken sind, jenseits von Rock und Jazz, aber in labiler Nähe zur Volksmusik-Welle, zahlreiche Ensembles entstanden, die in den
Rundfunk-Archiven unter New Age geführt werden, so etwa das Rainer Dimmler
Ensemble, welches am 27.8.1995 im Oldenburger Hunte-Report in weißer Flatterkleidung vor einer Baumkulisse abgelichtet war - mit Gambe, Gitarre, Conga und
Blockflöten - und in deren Konzertankündigung zu lesen war:
»Hören mit inneren Werten [... ) Wahrnehmen, lauschen, innehalten, dies ist der fruchtbare Ackerboden Dimmlers Musik; für Menschen, die noch einswerden können mit der
sichtbaren und unsichtbaren Natur, die die Natur als Spiegelbild ihrer eigenen Seele erfahren. Einen Zweig im Wind wahrnehmen, einem Vogel in der Ferne lauschen, einen
Stern betrachten. Seine Musik soll Raum bereiten, soll dahin fuhren, wo man wahrnimmt, ohne zu urteilen.«
Solche para-religiösen Vorstellungen von Reinheit und Unschuld im Einswerden
mit der Natur sind Kinder des 18. Jahrhunderts und lassen sich als »Erweckung
zum Irdischen« ansprechen (Schneider, S. 297). Die heutige Reaktion auf sie - aber
auch schon ein Teil der ehemaligen Reaktion - offenbart eine )>verlegenheit der
zeitgenössischen Ästhetik gegenüber dem Naturschönen« unter dem Vorurteil, es
sei ))Naturschwärmerei [... ] nahezu unvermeidlich mit Lust am Trivialen [... ] verbunden« und müsse daher ))einem sich progressiv verstehenden ästhetischen Bewußtsein grundsätzlich verdächtig« sein. (Zimmermann, S. 118)
Die Ursprünge solcher neuerlichen Naturbegeisterung, ja Naturvergötterung
und der Skepsis ihr gegenüber aufzusuchen und deutlich zu machen, ist Ziel dieses
Buches. Es soll eine Basis legen rur die Erkenntnis der historischen Abhängigkeit
heutiger Bewußtseins- und Handlungsinhalte auf dem Gebiet der Musik, zugleich
Anregung bieten rur Selbstreflektion und -kritik. Dies gilt auch für die andere, die
rationale und analytische Seite der Naturnachfolge, welche die Aufklärungsbewegung und ihre Säkularisierungstendenzen erst begründete, nämlich jene der Entdeckung von )Naturgesetzen< und ihrer Anwendung in den )Naturwissenschaften<.
Sie ist in allen neueren Musiktechnologien präsent, von der Boehmschen Erfindung des Rohr- und Klappensystems der Holzblasinstrumente bis zur Computerund Tonträgerindustrie.
Die Naturnachfolge ist dann am erfolgreichsten, zumindest am erfolgreichsten
zu vermitteln, wenn beide Seiten sich verbinden und ergänzen. Dann kommt es
häufig zu einer Ansammlung des heiligen Wortes in seinen unterschiedlichen Bedeutungsfacetten. So versuchte die Atomindustrie einst, für ihre Ziele zu werben,
indem sie behauptete, ein Naturstoff (Uran) werde durch die Anwendung exakter
Naturwissenschaft (Atomphysik) so in Strom umgewandelt, daß dessen Herstellung
die Natur (Umwelt) mehr schone als andere Methoden und auf diese Weise erst das
Natürlichste gesichert sei, nämlich daß ))Babys Fläschchen warm bleibt.« Eine frühe
Art solcher Überzeugungsarbeit wird zu Beginn der Einleitung besprochen.
VIII
Vorwort
Zusatz in eigener Sache
Im Vorwort meines 1984 erschienenen Buches Das 18.Jahrhundert: Der Bürger erhebt
sich heißt es:
»Leider kommt in diesem Buch vieles zu kurz (z. B. die Vokalmusik) oder bleibt auf der
Strecke [... ] Mich leitete der Grundsatz: Lieber wenige und typische Dinge gründlich und
deutlich als alles Mögliche kurz und verschwommen! [... ] So sind wenigstens wesentliche
Züge der bürgerlichen Kunstentwicklung versammelt.«
Anschließend geht es fast unablässig um die Komponisten, das öffentliche Konzertleben, den Siegeszug der Instrumentalmusik und die großen Heroen der Sinfonik.
Wenn auch hier und da von Liedern, Kantaten, Oratorien und Opern die Rede ist,
so nimmt doch der der Vokalmusik gewidmete Abschnitt selbst nur 28 von insgesamt 550 Seiten ein. Das sind funfProzent.
Nach so vielen Jahren leuchtet mir von dieser Gewichtung und ihrer Begründung kaum noch etwas ein. Sollte der Eindruck entstanden sein, daß die Vokalmusik vom bürgerlichen Aufstieg nur wenig berührt wurde, nicht an ihm beteiligt war
oder gar als Hemmschuh gewirkt hat, so kann das vorliegende Buch als Korrektur,
als vervollständigende Ergänzung verstanden werden. Erst beide Darstellungen zusammen ergeben ein halbwegs stimmiges Bild davon, wie sich der Bürger musikalisch erhob. (Daß die Bürgerin sich selten erhob, ist im Titel jenes Buches implizit
mitgemeint und dort aufftinfzig Seiten ausgefuhrt.)
Die in diesem Band vorgefUhrten und besprochenen Musikstücke sind so
ausgesucht, daß möglichst viele unterschiedliche Gattungen, AuffUhrungssituationen, soziale Bezüge und Verbindungen zu anderen Künsten und Wissensgebieten
vorkommen. Dies setzt voraus, daß Entstehungs- und Gebrauchssituation gut dokumentiert oder zumindest von der Musikforschung bearbeitet sind. Daher die
überproportionale Berücksichtigung der Werke von Johann Sebastian und earl
Philipp Emanuel Bach, Telemann, Mozart und Haydn. Auf solche Beispiele habe
ich Forschungs- und Lehrtätigkeit der letzten Jahre konzentriert, sowohl was meine Teilnahme an Kongressen betrifft als auch einen zweisemestrigen Kurs an der
earl von Ossietzky-Universität in Oldenburg (1992/93). Aus ihm ist neben großen
Teilen dieses Buches auch eine Dissertation über Beethovens Pastoral-Sinfonie von
Roland Schmenner hervorgegangen. (Hermannjung folgend und um der Einheitlichkeit willen habe ich Werke mit pastoralen Zügen durchgehend als die, nicht das
Pastorale bezeichnet.)
IX