Zwischen zwei Nächten: Kriminalroman
Von Edith Kneifl
4/5
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Über dieses E-Book
Im Untersuchungsbericht heißt es: Fremdverschulden ausgeschlossen. Aber kann es wirklich Selbstmord gewesen sein? Ann-Marie kann an diese These beim besten Willen nicht glauben. Immerhin hatte Anna geplant, Mann und Leben in Wien hinter sich zu lassen und mit ihr gemeinsam in New York ein neues Leben zu beginnen.
Einfühlsam und mit präziser Feder erzählt Edith Kneifl einen Kriminalroman, der an Spannung und subtiler Erotik nichts zu wünschen übrig lässt. In bester Thriller-Manier treibt sie die Handlung allein über die eindringlichen Dialoge voran und erzeugt bis zur letzten Seite Gänsehaut.
"Zwischen zwei Nächten" - Edith Kneifls aufsehenerregendes Krimi-Debüt, ausgezeichnet mit dem GLAUSER-Preis.
LESERSTIMME:
"Eine Frauenfreundschaft zwischen Lebensträumen, Enttäuschungen und Freiheit … doch der unerwartete Tod einer der beiden Freundinnen wirft zahlreiche Fragen auf und eine spannende Spurensuche beginnt . Sehr lesenswert!"
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Buchvorschau
Zwischen zwei Nächten - Edith Kneifl
Titel
Edith Kneifl
Zwischen
zwei Nächten
Kriminalroman
Start
Unscharf und verschwommen sieht sie, wie der Sarg an dicken Seilen hinuntergelassen wird und in der Grube verschwindet. Sie will dieses Bild für immer im Gedächtnis behalten.
Die beklommene Stille weicht heftigem Schluchzen und Seufzern der Trauer oder der Erleichterung. Sie dreht sich um.
Groß und elegant stand Anna in der Tür. In den Händen hielt sie ein Tablett mit zwei Gläsern und einer Flasche Wein. Das Alter konnte ihr nichts anhaben, im Gegenteil, sie war attraktiver denn je. Die kantigen, scharf geschnittenen Züge paßten viel besser zu der vierzigjährigen Frau als zu dem jungen Mädchen, das immer ein wenig grobschlächtig und hölzern gewirkt hatte. Auch der strenge Knoten und die grauen Strähnen in ihrem dunkelblonden Haar standen ihr gut.
Die beiden Freundinnen hatten einander jahrelang nicht gesehen, zum letzten Mal anläßlich eines Kongresses in New York. Damals hatte sich Anna geweigert, bei ihrer Freundin, die eine kleine Wohnung mit zwei Männern teilte, abzusteigen und die sterile Atmosphäre eines first class Hotels bevorzugt. Ann-Marie war beleidigt gewesen, und sie hatten sich nur einmal auf einen schnellen Drink getroffen.
Dieses letzte Wiedersehen war für beide eine Enttäuschung gewesen. Sporadisch kam nachher noch Post über den Atlantik, geschmacklose Ansichtskarten von Anna, die irgendwo im Süden allein oder mit ihrem Ehemann Urlaub machte; zu Weihnachten traf regelmäßig ein großzügiger Scheck in New York ein, zum Geburtstag und zu Silvester ein Anruf. Und dann, vor einer Woche, dieser Brief.
Ann-Marie hatte noch seltener von sich hören lassen. Briefschreiben zählte nicht zu ihren Stärken. Sie schickte höchstens einmal ein Foto mit lieben Grüßen.
„Komm her, laß dich genauer ansehen."
„Dasselbe wollte ich gerade zu dir sagen. – Du hast dich kaum verändert", meinte Anna verlegen.
Sie tauschten beinahe ängstliche Blicke aus.
Ann-Marie mißfiel der verhärmte Zug um Annas Mund.
Und das beige Kleid – von Dior? – ist unmöglich, es sieht aus wie ein Jutesack und macht sie blaß.
Modeschau am Friedhof. Haute Couture und Versandhaus. Der Ausverkauf findet heuer früher statt. Hübsche Sommermäntel in zarten Pastelltönen. Schwarz ist keine Modefarbe. Dunkle Schirme, gewöhnliche Herrenschirme und extravagante, futuristisch anmutende Damenschirme, überdimensional und gefährlich.
Sie besitzt keinen Schirm. Das nasse, strähnige Haar hängt ihr ins Gesicht, verdeckt die roten Flecken auf ihren Wangen.
Unter den Schirmen ernste Gesichter, aber nur wenige Tränen. Manche Leute können nicht weinen, wenn der Schmerz zu groß ist. Es fällt ohnehin genügend Naß auf den schlammigen Boden rund um das frische Grab. Auch die alten Kastanienbäume lassen unter der Last der schweren Tropfen ihre Blätter hängen. Raschelndes Laub und ein kühler Wind kündigen den nahenden Herbst an.
Ihre Freundschaft hatte an einem Spätsommertag vor mehr als dreißig Jahren begonnen. Anna war von der frechen, lustigen Ann-Marie sofort begeistert gewesen und ihr vom ersten Schultag an nachgelaufen wie ein kleiner Hund. Ann-Marie hatte sich durch die Bewunderung des intelligenten, aber sehr schüchternen Mädchens geschmeichelt gefühlt. Und so galten die zwei bald als unzertrennlich.
Sie besuchten dieselben Schulen, saßen acht Jahre lang in einer Bank und teilten sich während ihrer Studienzeit eine Wohnung. Kleider, Bücher, Platten, alles teilten sie miteinander, selbst die Männer. Ann-Marie mangelte es nie an Verehrern, da sie Männer nicht sehr ernst nahm, liefen sie ihr nach. Großzügig, wie sie nun einmal war, überließ sie ihrer Freundin jeden, der dieser gefiel.
Anna fragte sich, ob ihre Freundin wohl nach wie vor noch so viel Erfolg bei Männern hatte.
Auch Alfred hatte sie damals, bei ihrem letzten Besuch in Wien, sehr attraktiv gefunden. Aber sein Urteil zählte nicht, er lief jeder Schürze nach.
Ann-Marie entsprach nicht unbedingt dem Schönheitsideal der Werbung und Illustrierten. Ihr Gesicht war von übermäßigem Alkoholgenuß gezeichnet, die Nase zu lang und der Mund zu breit. Das Schönste an ihr waren ihre großen, braunen Augen.
Auf ihren geheimnisvoll entrückten Blick, den sie allein ihrer Kurzsichtigkeit verdankte, und auf ihr charmantes, unwiderstehliches Lächeln fielen auch heute noch genügend Männer ’rein.
Für eine Frau besaß Ann-Marie ungewöhnlich kräftige Hände und muskulöse Arme. Ihre ausladenden Hüften versteckte sie gern unter weiten Röcken, aber ihre Beine und ihr Busen konnten sich sehen lassen.
Anna, die viel Zeit bei Zahnärzten verbrachte, beneidete Ann-Marie vor allem um ihre gesunden Zähne.
„Wenn ich so strahlend weiße Zähne hätte wie du, würde ich immer nur lächeln. Du hast ein richtiges Pferdegebiß – bei Frauen soll das ja ein untrügliches Zeichen von Intelligenz sein."
„Du liest zu viele Frauenmagazine."
Anna lachte.
„Aber eine Brille hast du dir noch immer nicht angeschafft."
Schon in der Volksschule hatten sie wegen Ann-Maries Kurzsichtigkeit immer in der ersten Bank sitzen müssen. Ann-Marie war blind wie ein Maulwurf, doch weder ihre Eltern noch wohlmeinende Lehrer hatten sie dazu bewegen können, eine Brille zu tragen. Als Jugendliche hatte sie es einmal mit Haftschalen versucht – tränende und ständig gerötete Augen waren das Resultat –, es blieb bei diesem einen Versuch, lieber fand sie sich damit ab, ihre Umwelt nur äußerst eingeschränkt wahrzunehmen.
Sie sieht kaum bekannte Gesichter, und nur wenige Trauergäste kennen sie. Neugierige Blicke treffen die Fremde in Schwarz, die sich nach vorn in die erste Reihe gedrängt hat.
Kein Wort hat man von ihr gehört, keinen Gruß und keine Geste des Beileids für den trauernden Ehemann.
Sie spricht nicht, schüttelt keine Hände, steht nur steif und stumm da, anklagend allein schon durch ihre armselige Kleidung. In ihrer altmodischen, schwarzen Hose und ihrem viel zu weiten Herrenpullover wirkt sie unter den gut gekleideten Trauergästen fehl am Platz. Die große, dunkle Brille verleiht ihr zusätzlich etwas Geheimnisvolles. Sie erinnert an einen abgetakelten Filmstar, bemüht um sein Inkognito.
Die Frau in Schwarz scheint den anderen keine Aufmerksamkeit zu schenken, und doch beobachtet sie alle Anwesenden haarscharf durch ihre spiegelnden Gläser.
Ann-Marie wirkte sehr müde. Obwohl sie behauptete, überall und zu jeder Zeit schlafen zu können, fühlte sie sich nach neun Stunden Flug wie gerädert.
„Leg dich ein bißchen aufs Ohr, Annemarie", schlug Anna vor.
Sie durfte als einzige ‚Annemarie‘ sagen. Seit ihre Freundin in den USA lebte, ließ sie das ‚e‘ in der Mitte ihres Namens weg.
Ann-Marie winkte dankend ab. Da sie am nächsten Tag zu ihren Eltern fahren wollte, blieben ihnen nur knapp vierundzwanzig Stunden Zeit füreinander.
„Mein Türkischer wird dich wieder auf die Beine bringen."
Anna erhob sich, um Kaffee zu kochen.
Ann-Marie lehnte sich zurück, schloß die Augen und träumte vom dritten Wiener Gemeindebezirk.
Nach Vaters Pensionierung waren ihre Eltern aufs Land gezogen, doch aufgewachsen war sie in einem Eckhaus in der Erdbergstraße. Das Service mit dem Zwiebelmuster, das nur an Sonn- und Feiertagen verwendet wurde, hatte, jedesmal wenn die Straßenbahn vorbeifuhr, gefährlich zu klappern begonnen. Und abends, wenn der Vater von der Arbeit heimgekommen war – er war am Landstraßer Bahnhof beschäftigt gewesen –, hatte er den Fernsehapparat eingeschaltet und war bis Mitternacht oder zumindest bis zur Bundeshymne vor dem flimmernden Bildschirm gesessen. Da er schwerhörig war, lief der Kasten immer in voller Lautstärke. An Lärm hatte es in ihrer Kindheit nie gemangelt.
Ob das dreistöckige Zinshaus, in dem sie gewohnt hatten, noch stand? Es wurde viel gebaut in Wien, wahrscheinlich hatte sich in Erdberg alles verändert. Vielleicht hatte auch der kleine Beserlpark, in dem sie ihre ersten Raufereien und ihre ersten Küsse glücklich überstanden hatte, dem U-Bahnbau weichen müssen.
Sie hätte ihrer alten Heimat gern einen kurzen Besuch abgestattet. Aber sie würde Anna wohl kaum zu einem Spaziergang überreden können, und um diese Zeit war es nicht ratsam, sich mit dem Auto durch die Innenstadt zu wagen.
Anna fühlte sich ohne Auto völlig hilflos. Selbst die paar Meter bis zum nächsten Postamt legte sie mit dem Wagen zurück. Die regelmäßigen Sonntagsausflüge mit ihren Eltern hatten ihr das Spazierengehen gründlich verleidet.
Die Trauergemeinde zieht jetzt am offenen Grab vorbei. Viele verwelkte Rosen, die vor den Friedhofstoren günstig angeboten werden, folgen dem Sarg. Eine Handvoll Erde, vermischt mit Kieselsteinen und Laub, ein kurzes ‚Leb wohl‘ – wer’s glaubt.
Diejenigen, die verweilen, werden von den Nachkommenden zum Weitergehen gedrängt. Wer will schon länger als unbedingt nötig im Regen stehen?
Sie hat nichts in der Hand, was sie der Toten nachwerfen könnte. Am liebsten würde sie hinterherspringen. Und da löst sich noch einmal die seltsame Erstarrung, noch einmal läßt sie sich von ihren Tränen, Tränen der Verzweiflung und des Entsetzens, überwältigen. Zunächst scheint es unfaßbar, und dann kommt plötzlich die Trauer, nimmt von ihr Besitz, es existiert nichts mehr außer dieser Trauer.
Als Annas verzweifelter Brief eintraf, hatte sie keine Sekunde gezögert, sondern sofort ihr Sparbuch geplündert und einen Platz in der nächsten Chartermaschine nach Wien gebucht.
Anna hatte sie in aller Herrgottsfrüh vom Flughafen abgeholt. Alfred, ihr „überflüssiger Ehemann – wie sie ihn zu nennen pflegte –, befand sich zum Glück auf einer seiner, in letzter Zeit immer häufiger werdenden, Dienstreisen. Die kleine Margot aus ihrem Büro war rein zufällig zur selben Zeit erkrankt. Anna widerstand der Versuchung und rief nicht bei ihr zu Hause an, um sich nach ihrem werten Befinden zu erkundigen. Vielleicht würde sie „dieses kleine Miststück
demnächst hinauswerfen, nur so zum Spaß, um Alfred eins auszuwischen, denn ihr war es längst egal, mit wem er schlief.
Sie konnte es nicht fassen, daß Ann-Marie tatsächlich gekommen war, hoffte nur, daß sie sich wenigstens das Ticket bezahlen lassen würde.
Da Anna unfähig war, ihre Zuneigung anders zu zeigen, hätte sie ihrer Freundin wenigstens finanziell gern unter die Arme gegriffen.
Der Türkische Kaffee war fertig. Ann-Marie leerte ihre Tasse in einem Zug, dann nahm sie Annas Tasse, drehte sie um und las ihr aus dem Kaffeesud die Zukunft. Sie prophezeite ihr heiße Nächte im sonnigen Süden und eine Affäre mit einem blendend aussehenden jungen Mann.
Anna errötete und kicherte wie ein Schulmädchen.
„Du müßtest dich nur ein wenig jugendlicher kleiden, meine Liebe. Du ziehst dich an wie eine alte Jungfer."
„Das hast du schon vor zwanzig Jahren behauptet."
„Ich weiß, aber anscheinend hat all mein Predigen nichts genützt."
Die Ansprache des Seelsorgers ist kurz gewesen. Ein richtiger Pfarrer hat sich nicht blicken lassen. Mit solch gottlosen Fällen wollen die Gottesmänner lieber nichts zu tun haben. Aber der Stellvertreter hat seine Aufgabe zur allgemeinen Zufriedenheit erfüllt, ohne Pathos und ohne zu sehr auf die Tränendrüsen zu drücken. Wem nach Weinen zumute ist, der weint ohnehin und benötigt keine zusätzliche Aufforderung.
Gestern nacht, als sie in der Aufbahrungshalle einen letzten Blick auf die Tote werfen durfte, hat sie auch geweint. Der Friedhof ist für die Öffentlichkeit längst gesperrt gewesen, aber der freundliche Pförtner hat Verständnis gezeigt und sie hineingelassen, ohne einen Groschen zu nehmen. Dann hat er sich in den hintersten Winkel der Halle zurückgezogen und sie mit ihrem Schmerz alleingelassen.
Sie mußte diesen letzten Blick auf den Leichnam werfen, um zu begreifen, daß das Unfaßbare eingetreten ist. Sie wollte sich mit eigenen Augen von der grausamen Wahrheit überzeugen. Allein, ungestört, gleich nach ihrer Ankunft und nicht erst am Morgen des Begräbnisses, gemeinsam mit den anderen, die gekommen sind,