„Linksradikalismus“ – Versionsunterschied

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'''Linksradikalismus''', '''linker Radikalismus''' oder '''radikale Linke''' bezeichnet verschiedene Strömungen der [[Politische Linke|politischen Linken]]. Der Ausdruck verbindet die inhaltliche Richtungsangabe „links“, die aus der [[Französische Revolution|Französischen Revolution]] von 1789 stammt, mit dem formalen Merkmal der „[[Radikalismus|Radikalität]]“ ([[Etymologie|etymologisch]] von lat. ''radix'' für „[[Wurzel (Pflanze)|Wurzel]]“). Gemeint ist eine Politik, die die Ursachen von Unfreiheit, Ungleichheit, Unterdrückung und [[Ausbeutung]] durch eine grundlegende, [[revolution]]äre Veränderung der [[Kapitalismus|kapitalistischen Gesellschaftsordnung]] beseitigen will. Welche Politik das leisten kann, war in der Linken seit dem 19. Jahrhundert jedoch immer umstritten.
{{Begriffsklärungshinweis|Für Parteien in der Tradition des [[Radikalismus]] siehe [[Linksliberalismus]]}}
'''Linksradikalismus''' ist ein politischer Begriff zur Kennzeichnung verschiedener [[Politik|politischer]] Strömungen aus dem Spektrum der [[politische Linke|politischen Linken]]. Der Begriff setzt sich zusammen aus der Richtungsbezeichnung „links“, die aus der Französischen Revolution stammt, beansprucht aber eine „radikale“ Form linker Politik zu sein. Der Begriff [[Radikalismus]] stammt wiederum [[Etymologie|etymologisch]] von lat. ''radix'' („[[Wurzel (Pflanze)|Wurzel]]“), bezieht sich also auf den grundlegenden und fundamentalen Charakter der von Linksradikalen angestrebten, meist [[revolution]]ären gesellschaftlichen Veränderungen.
Da sowohl ''links'' als auch ''radikal'' relative Richtungsbegriffe sind, ist die Einordnung als „linksradikal“ stets umstritten. Eine große Offenheit erhält der Begriff auch dadurch, dass er sowohl als Eigen- wie als Fremdbezeichnung benutzt wird.
 
In der frühen [[Sozialdemokratie]] und im [[Leninismus]] wurden andere Linke öfter als „Linksradikale“ kritisiert. Seit den 1960er Jahren wird „Linksradikalismus“ im deutschen Sprachraum als unbestimmte Selbst- und (oft abwertende) Fremdbezeichnung für eine Vielzahl verschiedener linker Politikansätze verwendet. Es gibt keine einheitliche Definition des Ausdrucks.
== Definition ==
Laut dem ''[[Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus|Historisch-Kritischen Wörterbuch des Marxismus]]'' bezeichnet der Begriff „vornehmlich im sozialen Spektrum der Arbeiterbewegung, des Kommunismus und Sozialismus eine Form politischer Kritik und Praxis, die an die Wurzel (lat. radix) zu gehen beansprucht. Verwendung und Definition hängen davon ab, was im historischen Kontext als „links“ oder „radikal“ gilt. Vertreter des L beanspruchen eine unbedingt revolutionäre, grundsätzliche Kritik, die moderaten, auf systemmimmandente Reformziele verkürzten Gesellschaftskritiken vorzuziehen sei.“<ref>Stichwort „Linksradikalismus“ von [[Ralf Hoffrogge]], in: Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus, Band 8/II, Spalte 1193.</ref>
 
Im engeren Sinn versteht man seit der [[68er-Bewegung]] darunter die undogmatische [[Neue Linke]], die sich auch selbst so bezeichnet.
Der Begriff unterscheidet sich klar vom [[Linksextremismus]], der auf der [[Totalitarismustheorie]] beruht. Diese nimmt eine Gleichsetzung von Rechts- und Linksextremismus in Abgrenzung zu einer politischen Mitte vor, die damit zur einzig gültigen Norm erklärt wird. [[Linksextremismus]] ist daher eine reine Fremdbezeichnung, überwiegend von staatlichen Verfassungsschutzorganen benutzt, während der Linksradikalismus breiter verwendet wird, auch von den Akteuren selbst.
 
In verschiedenen europäischen Ländern gibt es linksliberale Parteien, deren Namen wörtlich 'Radikale Linke' oder 'Linke Radikale' bedeuten, die aber nichts mit dem Linksradikalismus zu tun haben, so die dänische [[Radikale Venstre]] oder die französische [[Mouvement des Radicaux de Gauche (Frankreich)|Mouvement des Radicaux de Gauche]].
== Geschichte ==
=== 19. Jahrhundert ===
Karl Marx bekannte sich bereits 1844 in der Diskussion mit den Linkshegelianern zu einer radikalen Gesellschaftskritik: „Radikal sein ist die Sache an der Wurzel fassen. Die Wurzel für den Menschen ist aber der Mensch selbst. Der evidente Beweis für den Radikalismus der deutschen Theorie, also für ihrer praktische Energie, ist ihr Ausgang von der entscheidenden positiven Aufhebung der Religion. Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem Kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.“<ref>Karl Marx, Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEW Band 1, S. 385.</ref>
[[Datei:Félix Nadar 1820-1910 portraits Makhail Bakounine.jpg|mini|hochkant|Michail Bakunin. (Photographie von [[Félix Nadar]], ca. 1860)]]
Marx Herleitung des [[Radikalismus]] aus der Religionskritik verweist auf eine Verbindung mit der bürgerlichen [[Aufklärung]] und dem [[Liberalismus]]. Diese beginnt sich jedoch bereits zu lösen, wenn Marx unter „positiver Aufhebung“ der Religion nicht (nur) die säkulare Demokratie, sondern auch radikale soziale Gleichheit verlangt. Damit erweitert er den Begriff des Radikalismus zum [[Sozialismus]].
Der Begriff „linksradikal“ wird weder von Marx und Engels, noch von ihren Gegnern aus anderen politischen Strömungen benutzt. Dennoch äußerten beide mehrfach Kritik an Tendenzen zum [[Voluntarismus]] oder [[Dogmatismus]], insgesamt an der Idee, allein durch entschiedenen Willen einer Minderheit sei die Revolution auszulösen: „An die Stelle der kritischen Anschauung setzt die Minorität eine dogmatische, an die stelle der materialistischen eine idealistische. Statt der wirklichen Verhältnisse wird ihr der bloße Wille zum Triebrad der Revolution.“<ref>MEW Band 8, S. 412.</ref> Der Vorwurf, nicht eine Massenbewegung zu suchen, sondern sich mit radikal zugespitzten, utopischen Forderungen selbst zu isolieren sollte den Linksradikalismus auch im 20. Jahrhundert begleiten.
Eine weitere Quelle der Begriffsbestimmung ist die Kontroverse zwischen Marx und Bakunin über die Natur des Staates - Während Marx diesen zur Umsetzung revolutionärer Ziele übernehmen wollte und erst später auf ein „Absterben“ setzte, waren Vertreter eines libertären oder „freiheitlichen“ Sozialismus um Michail Bakunin wesentlich staatskritischer eingestellt - aus dem Zerfall der 1. Internationale ging die Scheidung in Marxismus und [[Anarchismus]] hervor, letzterer mag als die erste organisierte linksradikale Strömung gelten, auch wenn der Begriff noch nicht verwendet wurde. Allerdings gab es, wie die spätere Geschichte zeigt, auch zentralistische Varianten des Linksradikalismus.
 
=== NachDeutschland 1917ab 1840 ===
„Radikalismus“ war seit der europäischen [[Aufklärung]] des 18. Jahrhunderts bereits als Eigen- und Fremdbezeichnung für weitgehende politische [[Demokratisierung]]sziele üblich geworden. In Deutschland entstand unter den [[Junghegelianer]]n um 1840 eine Diskussion um den Begriff: Während [[Ludwig Feuerbach]], [[Bruno Bauer]] und andere darunter vor allem ein öffentliches Bekenntnis zum [[Atheismus]], Forderungen nach einigen [[Bürgerrecht]]en und eine unangepasste Lebensführung verstanden, wollte [[Karl Marx]] von der [[Religionskritik]] zu einer die [[Kritik der politischen Ökonomie]] umfassenden [[Gesellschaftskritik]] voranschreiten. Im Ergebnis dieses Streits trennten er und sein Verbündeter [[Friedrich Engels]] sich von den Junghegelianern.<ref>Jonathan Sperber: ''Karl Marx: Sein Leben und sein Jahrhundert.'' Beck, München 2013, [https://books.google.de/books?id=wTwsl3753lwC&pg=PT97 S. 97]</ref>
Prominenz erreichte der Begriff Linksradikalismus nach der Revolutionären Welle am Ende des Ersten Weltkrieges, als in ganz Europa die sozialistischen Bewegungen stark anwuchsen und sich ausdifferenzierten. Bereits während des Krieges organisierte sich in der Norddeutschen SPD ein Flügel von Kriegskritikern um [[Paul Frölich]], [[Anton Pannkoek]], [[Johann Knief]] und [[Karl Radek]], der nach ihrer Hochburg „Bremer Linksradikale“ genannt wurde, aber auch in Hamburg und anderen Städten stark war. Die Gruppe benannte sich 1918 um in „Internationale Kommunisten Deutschlands“ und vereinigte sich dann mit der Spartakusgruppe zur [[Kommunistische Partei Deutschlands|Kommunistischen Partei Deutschlands]].
Die Gründung kommunistischer Parteien seit Ende 1918 kann als Aufschwung eines Linksradikalismus gelesen werden, gleichzeitig gab es ein starkes Anschwellen der anarchistischen Bewegung. Beide Bewegungen waren alles andere als klar getrennt - insbesondere die syndikalistischen Gewerkschaften wie die [[Union der Hand- und Kopfarbeiter]] schwankten zwischen [[Syndikalismus]] und Kommunismus.<ref>Stichwort Linksradikalismus, in: HKWM Band 8/2, Sp. 1197</ref>
Diese linken Strömungen nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Westeuropa kritisierte [[Lenin]] mit seiner Schrift „Der Linke Radikalismus als Kinderkrankheit des Kommunismus“ aus dem Jahr 1920. Die Schrift galt im späteren [[Marxismus-Leninismus]] als kanonisches Urteil über jede Form des „Linksradikalismus“.
Lenin kritisiert ähnlich wie Marx im 19. Jahrhundert Tendenzen zum [[Voluntarismus]] und zur Absonderung von den Massen - insbesondere durch den Boykott von Parlamentswahlen und die Verweigerung einer Mitarbeit in sozialdemokratisch dominierten Gewerkschaften. Er setzt dagegen, dass Kommunisten auch hier mitarbeiten und mit Wahlkampf und in gewerkschaftlichen Kämpfen ihre Vorstellungen einbringen sollten, um Mehrheitsfähig zu werden.
 
Karl1844 beschrieb Marx bekanntesein sichVerständnis bereitsvon 1844Radikalismus inprogrammatisch derals DiskussionErgebnis mitund denAufhebung Linkshegelianern zu einerder radikalenlinkshegelianischen GesellschaftskritikReligionskritik: „Radikal sein ist die Sache an der Wurzel fassen. Die Wurzel für den Menschen ist aber der Mensch selbst. Der evidente Beweis für den Radikalismus der deutschen Theorie, also für ihrerihre praktische Energie, ist ihr Ausgang von der entscheidenden positiven Aufhebung der Religion. Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem [[Kategorischer Imperativ|Kategorischen Imperativ]], alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.“<ref>Andreas Fisahn: ''Herrschaft im Wandel: Überlegungen zu einer kritischen Theorie des Staates.'' PapyRossa, 2008, ISBN 3894383917, S. 19; Karl Marx,: ''Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie,.'' MEW Band 1I, S. 385.</ref>
=== Linksradikalismus und Linkskommunismus in den 1920er Jahren ===
Nachdem die syndikalistisch orientierten Kräfte des Kommunismus um 1919/1920 aus ihren Parteien herausgedrängt wurden, gründeten sie eigene Parteien wie etwa die deutsche [[KAPD]], oder organisierten sich in linken und syndikalistischen Gewerkschaften. von Anton Pannekoek wurde die Theorie dieser Strömung später als [[Rätekommunismus]] kanonisiert. Die Arbeiterräte selbst waren in Deutschland jedoch schon 1919 aufgelöst worden, ab 1924 ebbte mit der Stabilisierung des Kapitalismus auch die Hochzeit der linken und syndikalistischen Gewerkschaften stark ab.
 
Jedoch nannten Marx und Engels weder ihren eigenen „wissenschaftlichen [[Kommunismus]]“ noch andere linke Positionen „linksradikal“. Sie kritisierten den Radikalismus der Junghegelianer als bloß theoretischen und abstrakten [[Idealismus]], den [[Frühsozialismus]] anderer Radikaldemokraten als moralischen [[Utopie|Utopismus]] und den [[Anarchismus]] von [[Pierre-Joseph Proudhon]], [[Michail Alexandrowitsch Bakunin]] und anderen als individualistischen [[Voluntarismus]].<ref>Reinhold Sellien (Hrsg.): ''Gablers Wirtschafts-Lexikon.'' Springer, Wiesbaden 1980, ISBN 978-3-322-87453-5, [https://books.google.de/books?id=ue3MBgAAQBAJ&pg=RA3-PT130 S. 130]; Hans-Ulrich Ludewig: ''Arbeiterbewegung und Aufstand.'' Matthiesen Verlag, 1978, ISBN 3786814325, S. 18</ref>
Jedoch entstand innerhalb der kommunistischen Parteien um 1921 eine neue Linksopposition, die Mitte der 20er Jahre das Terrain des Linksradikalismus dominierte. Diese jedoch berief sich anders als die Linksradikalen der Weltkriegsgeneration nicht auf [[Lokalisten (gewerkschaftliche Fachvereine)|Lokalismus]] und Föderalismus, sondern bejahte den leninschen Zentralismus. Diese Strömung wird auch als „[[Linkskommunismus]]“ bezeichnet, von ihren Gegnern auch als „Ultralinke“. In Deutschland gelang es den Linken um 1924 mit der Parteiführung um [[Arkadij Maslow]], [[Ruth Fischer]] und [[Werner Scholem]] kurzzeitig, die KPD zu dominieren. Mit dem Antritt Ernst Thälmanns hatte diese Episode jedoch ein Ende.<ref>Vgl. Marcel Bois, Kommunisten gegen Hitler und Stalin, Klartext-Verlag, Essen 2014; [[Ralf Hoffrogge]], Werner Scholem - eine politische Biographie, UVK-Verlag, Konstanz 2014.</ref> Die „Ultralinken“ wehrten sich als erste entschieden gegen die Stalinisierung des Kommunismus. Ihre Opposition verschmolz später mit dem [[Trotzkismus]].
 
Nachdem 1890 das [[Sozialistengesetz]] aufgehoben und die [[Sozialdemokratische Partei Deutschlands]] (SPD) erlaubt worden war, brach ein schon länger schwelender innerparteilicher Konflikt um ihr Verhältnis zum [[Parlamentarismus]] offen aus. Die „Jungen“, eine meist aus bürgerlichen Intellektuellen bestehende Bildungselite, protestierten gegen den [[Reformismus]] und die Legalitätsstrategie der SPD-Führung. Sie verstanden sich als Wahrer und authentische Interpreten des revolutionären [[Marxismus]]. Wie [[Wilhelm Liebknecht]] (1869) lehnten sie die Institutionen des damaligen Staates als Mittel der [[Soziale Klasse|Klassenherrschaft]] ab. Folglich sahen sie Versuche, die Lage der Arbeiter durch parlamentarische Arbeit im Reichstag zu verbessern, als Illusion, bestritten den Führungsanspruch der SPD-Reichstagsfraktion und die strikte Parteidisziplin. Liebknecht und Engels distanzierten sich jedoch von ihnen. Der SPD-Vorsitzende [[August Bebel]] sorgte beim [[Erfurter Parteitag]] 1891 für ihren Ausschluss. Der daraufhin von den „Jungen“ gegründete ''Verein der unabhängigen Sozialisten'' zerfiel schon 1893 in einen anarchistischen und einen [[Revisionismus|revisionistischen]] (vom Marxismus abgewandten) Flügel und blieb weitgehend wirkungslos für die SPD-Politik. Diese antiparlamentarische Opposition in der SPD gilt als Vorläufer späterer linksradikaler Strömungen.<ref>Wolfgang Durner: ''Antiparlamentarismus in Deutschland.'' Königshausen & Neumann, 1997, ISBN 3826012704, [https://books.google.de/books?id=C3L6O7_xPH8C&pg=PA82 S.&nbsp;82–85]</ref> Eins ihrer kontinuierlichen Merkmale war die Kritik am [[Determinismus#Geschichtsdeterminismus|Geschichtsdeterminismus]], wonach der [[Sozialismus]] sich aus ökonomischen Gesetzmäßigkeiten wie von selbst durchsetzen werde. Dagegen bestanden die „Jungen“ auf notwendigen, von Parteihierarchien unabhängigen Eingriffen der Arbeiter in den Geschichtslauf.<ref>Ulrich von Alemann, Gertrude Cepl-Kaufmann, Hans Hecker, Bernd Witte (Hrsg.): ''Intellektuelle und Sozialdemokratie.'' Springer VS, Wiesbaden 2000, ISBN 978-3-322-93209-9, [https://books.google.de/books?id=Gf0mBgAAQBAJ&pg=PA69 S. 69 f.]</ref>
=== Nach 1945 ===
Das Historisch-Kritische Wörterbuch des Marxismus sieht bereits 1945 einen Bruch des Linksradikalismus mit der Arbeiterbewegung, in der er entstand:
 
Auf die [[Russische Revolution 1905]] folgte in der SPD eine jahrelange [[Massenstreikdebatte]]. Der linke Parteiflügel um [[Rosa Luxemburg]] verstand spontane Massenstreiks mit politischen Zielen als notwendige Form des revolutionären Klassenkampfes. Die Bremer SPD übernahm diese Auffassung und forderte bei verschiedenen tagespolitischen Anlässen politische Streiks. Weil der SPD-Vorstand Massenstreiks auch gegen das preußische [[Dreiklassenwahlrecht]] ablehnte, bildete die Bremer SPD 1910 die eigenständige Gruppe [[Bremer Linksradikale]]. Ihr Vertreter [[Anton Pannekoek]] kritisierte wie Rosa Luxemburg, dass sich der SPD-Vorstand um [[Karl Kautsky]] nur theoretisch am Marxismus orientierte, praktisch aber [[Eduard Bernstein]]s Reformismus folgte und politische Streiks allenfalls als defensive Abwehrmaßnahme bejahte. Kautsky mache die mechanische Selbsterhaltung der Parteiorganisation statt praktischen Zusammenhalt mit den proletarischen Massen zum obersten Zweck. Revolutionäre Massenaktionen seien jedoch wegen des damaligen [[Imperialismus]] und der darin enthaltenen Kriegsgefahr unerlässlich.<ref>Hans Manfred Bock: ''Geschichte des „linken Radikalismus“ in Deutschland'', Frankfurt am Main 1976, S. 76–80</ref>
{{Zitat|Das Jahr 1945 markiert einen Bruch. Seitherige Varianten des L beriefen sich zwar auf die verschiedenen Strömungen des L in der Arbeiterbewegung, z.B. auf [[Karl Korsch]] und [[Arthur Rosenberg]], Bordiga oder Nikolai Bucharin. Sie wurden jedoch weniger von der Arbeiterschaft getragen, sondern äußerten sich als Jugendrevolte mit sozialistischen Forderungen, aber heterogener Klassenlage - ein Ausdruck der seit den 1950er Jahren voranschreitenden Auflösung proletarischer Millieus bei gleichzeitig steigendem Anteil der Lohnabhängigen.|''HKWM - Band 8/2, Sp. 1200''<ref>Stichwort „Linksradikalismus“, HKWM Band 8/2, Sp 1200.</ref>}}
 
Kautsky wiederum kritisierte die Bremer Linksradikalen als „jüngsten Radikalismus“, also als Neuauflage der „Jungen“ von 1890. Wie damals Engels kritisierte er ihre Position als „[[Vulgärmarxismus]]“, der den Klassengegensatz zwischen [[Kapital]] und Arbeit nur pauschal feststelle, ohne die übrigen Interessengegensätze, Kräfteverhältnisse, Situationen und Stimmungen in der Gesellschaft zu berücksichtigen. Folglich überschätzten die Radikalen das revolutionäre Potential der Massen und unterschätzten die Notwendigkeit der hierarchischen SPD-Organisation zum Schutz der Gewerkschaften, deren revolutionäre Bedeutung künftig erheblich zunehmen werde. Nicht der Parlamentarismus an sich sei das Hindernis sozialen Fortschritts, sondern die Mehrheits- und Machtverhältnisse im Parlament. Mit außerparlamentarischen Massenaktionen versuchten die Linksradikalen, die Sozialdemokratie mit Anarchismus und [[Syndikalismus]] zu vereinigen.<ref>Hans Manfred Bock: ''Geschichte des „linken Radikalismus“ in Deutschland'', Frankfurt am Main 1976, S. 26–29</ref>
Während sich die in England entstandene „Neue Linke“ seit 1956 noch stark in der Arbeiterbewegung bzw. mit Bezug auf die Kommunistischen Parteien orientierte, aber die Politik der Sowjetunion ablehnte, entstand mit der Studentenbewegung seit Mitte der 1960er Jahre in Europa und den USA eine neue Generation des Linksradikalismus.
Während der [[68er-Bewegung]] erstarkten linksradikale [[Autorität|antiautoritär]]e Bewegungen, ebenso kam es zu einer Welle von Neugründungen traditioneller [[Kader]]organisationen („[[K-Gruppe]]n“). Das politische Potential wurde in den folgenden Jahrzehnten jedoch durch Zersplitterung stark geschwächt. Neben unterschiedlichen [[Marxismus|marxistisch]] und [[Rätekommunismus|rätekommunistisch]] orientierten sowie [[Operaismus|operaistischen]] Gruppen entfaltete sich seit den 1970er Jahren eine autonome, [[Situationistische Internationale|situationistische]] und anarchistische Szene, die vor allem in den 1980er Jahren Auftrieb erhielt.
 
Auf dem SPD-Parteitag von 1913 fand der linke SPD-Flügel für eine Massenstreikresolution relativ viel Zustimmung, blieb aber auf einzelne, voneinander getrennte Orts- und Landesverbände begrenzt, die in anderen Fragen zerstritten waren. Am 4. August 1914 stimmte die SPD-Reichstagsfraktion entgegen ihren Vorkriegsbeschlüssen der [[Burgfriedenspolitik]] und den Kriegskrediten zu, trug so den [[Erster Weltkrieg|Ersten Weltkrieg]] mit und bewirkte, dass die [[Sozialistische Internationale]] zerbrach. Daraufhin versuchten die zersprengten Linkssozialisten unter Kriegs-, Haft- und Zensurbedingungen das SPD-Versagen aufzuarbeiten und eine Antikriegsopposition zu bilden. Im Kriegsverlauf entwickelte sich die ''Gruppe Internationale'' um Rosa Luxemburg und [[Karl Liebknecht]] zur Spartakusgruppe (ab 1915), die Bremer Radikalen um Pannekoek, [[Johann Knief]], [[Paul Frölich (Kommunist)|Paul Frölich]] und [[Karl Radek]] zur Gruppe ''Internationale Sozialisten Deutschlands'' (ISD, ab Dezember 1915). Als von der SPD ausgeschlossene Kriegsgegner im April 1917 die [[Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands]] (USPD) gründeten, schloss die Spartakusgruppe sich ihr an. Dagegen blieben die ISD ihr fern und schlossen sich den Forderungen [[Wladimir Iljitsch Lenin]]s auf den [[Zimmerwalder Konferenz]]en (1915/1916) an.<ref>Hans Manfred Bock: ''Geschichte des „linken Radikalismus“ in Deutschland'', Frankfurt am Main 1976, S. 81–83</ref> Erst in der [[Novemberrevolution]] 1918 näherten sich der nun reichsweite [[Spartakusbund]] und ISD, nun als [[Internationale Kommunisten Deutschlands (1918)|Internationale Kommunisten Deutschlands]] (IKD), einander an und gründeten gemeinsam am 1. Januar 1919 die [[Kommunistische Partei Deutschlands]] (KPD). Damit war die deutsche [[Arbeiterbewegung]] organisatorisch in reformistisch-sozialdemokratische und revolutionär-kommunistische Parteien gespalten.<ref>Marcel Bois: ''Kommunisten gegen Hitler und Stalin'', Berlin 2016, S. 106 und 536</ref>
== Linksradikalismus in der Schweiz ==
Die Tradition des Linksradikalismus in der Schweiz reicht bis auf den libertären Sozialismus und Anarchismus der [[Juraföderation]] der [[Erste Internationale|1. Internationale]] zurück, hier hatten die Anhänger eines „freiheitlichen Sozialismus“ um Bakunin ihre Hochburg. Während des [[Erster Weltkrieg|Ersten Weltkrieg]]s erwuchsen aus der Ablehnung von [[Burgfriedenspolitik|Burgfrieden]] in der Schweiz und Krieg verschiedene linksradikale Strömungen innerhalb und neben den sozialdemokratischen Parteien vom religiös-sozialen Kreis bis zum anarchistischen Zusammenhang um [[Fritz Brupbacher]] und Kommunisten um [[Jakob Herzog]]. In der gesellschaftlichen Unruhe erlangte diese soziopolitische Strömung aufgrund ihres stark [[Aktivismus|aktivistisch]] geprägten Verhaltens und in der Projektion bürgerlicher Ängste vor revolutionären Erhebungen eine überproportionale Bedeutung. Das libertäre Gedankengut des Linksradikalismus wurde in der Folgezeit etwa vom [[Marxismus-Leninismus]] in den Hintergrund gedrängt. Zwischen den Weltkriegen kann nur vereinzeltes Vorkommen des Linksradikalismus außerhalb der großen Parteien der Arbeiterbewegung beobachtet werden, so etwa 1930 die Abspaltung des anti-[[Stalinismus|stalinistischen]] Flügels der [[Kommunistische Partei|Kommunistischen Partei]] in [[Schaffhausen]].
 
== Weimarer Republik ==
== Verwendung und Abgrenzung von anderen Begriffen ==
Die KPD war von der Erfahrung geprägt, dass eine soziale Massenbewegung das Kriegsende erzwungen, Monarchie und Militärherrschaft gestürzt und mit der [[Räterepublik|Rätebewegung]] eine umfassende Demokratisierung aller Gesellschaftsbereiche hatte greifbar werden lassen. Eine Mitgliedermehrheit erwartete die konsequente Fortsetzung dieser Revolution und lehnte Mitarbeit in Parlamenten und bestehenden Gewerkschaften daher ab. Die Spartakusführer dagegen bejahten diese Mitarbeit, um die mehrheitlich sozialdemokratische Arbeiterschaft allmählich vom KPD-Programm zu überzeugen. Das von Rosa Luxemburg verfasste Gründungsprogramm schloss eine Machteroberung durch einen [[Putsch]] aus. Nach dem Scheitern des [[Spartakusaufstand|Januaraufstands]] und der [[Ermordung von Liebknecht und Luxemburg]] (Januar 1919) und [[Leo Jogiches]] (März 1919) wurde Luxemburgs enger Vertrauter [[Paul Levi]] KPD-Vorsitzender. Er war ihrem Programm verpflichtet. 1919 beschlossen viele KPD-Regionalverbände jedoch den Ausstieg aus den bestehenden Gewerkschaften, verlangten die Aufgabe von Parlamentssitzen von übergetretenen Abgeordneten und lehnten eine straffere, zentrale Parteiorganisation ab. Als der Parteivorstand diese im Oktober 1919 beschloss, traten etwa 38.000 Mitglieder aus der KPD aus. 1920 gründete ein Teil davon die [[Allgemeine Arbeiter-Union]] (AAU) und die [[Kommunistische Arbeiterpartei Deutschlands]] (KAPD). 1921 spalteten sich AAU und KAPD erneut an Organisationsfragen und verloren einen Großteil ihrer Mitglieder. Doch auch in der übrigen KPD blieb eine gewerkschafts- und parlamentsfeindliche Strömung präsent.<ref>Marcel Bois: ''Kommunisten gegen Hitler und Stalin'', Berlin 2016, S. 107–119</ref>
[[Radikalismus]] und [[Extremismus]] werden umgangssprachlich häufig synonym verwendet. Der Begriff „[[Linksextremismus]]“ geht auf die [[Totalitarismus]]theorie zurück und ist in der [[Politikwissenschaft|Politik-]] und [[Geschichtswissenschaft]] wenig gebräuchlich.<ref>„Der Begriff ‚Linksextremismus‘ ist als historischer Begriff im Allgemeinen nicht gebräuchlich.“ – Friedbert Mühldorfer: ''[http://www.historisches-lexikon-bayerns.de/artikel/artikel_44760 Linksextremismus und Linksradikalismus (20. Jahrhundert)]'' im [http://www.historisches-lexikon-bayerns.de/base/start Historischen Lexikon Bayerns] (abgerufen am 30. Mai 2008).</ref> Der Begriff „Linksradikalismus“ wird ebenfalls wenig in der Wissenschaft,<ref>[[Gero Neugebauer]]: „Extremismus – Rechtsextremismus – Linksextremismus: Einige Anmerkungen zu Begriffen, Forschungskonzepten, Forschungsfragen und Forschungsergebnissen“ In: Schubarth/[[Richard Stöss|Stöss]] (Hrsg.): Rechtsextremismus in der Bundesrepublik Deutschland – Eine Bilanz. Opladen 2001 ({{Webarchiv | url=http://www.extremismus.com/texte/ext1.pdf | wayback=20070224124448 | text=pdf-Auszug vom 4. Dezember 2003}}, S. 6 ff., abgerufen am 13. Juli 2009): ''„Weder in den wissenschaftlichen noch in den politischen Diskussionen gibt es eine einheitliche und als verbindlich anerkannte Definition der Begriffe Linksradikalismus und Linksextremismus.“; Während sich der Begriff „Rechtsextremismus“ in der Forschung weithin eingebürgert hat und wenigstens doch eine ungefähre Vorstellung von den Untersuchungsobjekten existiert, findet der Begriff „Linksextremismus“ selten Verwendung. Literaturrecherchen unter diesem führen zu mageren Ergebnissen, und auch mit „Linksradikalismus“ kommen keine substantiell besseren Resultate zustande''.</ref> hingegen zur Selbstbezeichnung verwendet, z.B. von Gruppen der antiautoritären Linken ([[Sponti|Spontis]], [[Basisgruppen]], [[Autonome]] u.a.) oder des [[Progressivismus|progressiv]]-bürgerlichen bzw. [[Linksliberalismus|linksliberalen]] Spektrums (siehe Radikalismus).
 
Lenin kritisierte diese Strömung in Westeuropa, besonders in der KPD und der [[Communist Party of Great Britain]], in seiner Schrift „[[Der „Linke Radikalismus“, die Kinderkrankheit im Kommunismus]]“ von 1920. Er stellte fünf typische Merkmale dieser Haltung fest:
# politische Ungeduld und Neigung zum Putsch, um direkt den Kommunismus einzuführen, ohne die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse zu berücksichtigen;
# starkes Misstrauen gegen die eigene Parteiführung, die unreflektiert als „Führer“ der „Masse“ gegenübergestellt werde;
# Ablehnung des bürgerlichen Parlamentarismus und der Teilnahme an Wahlen,
# Ablehnung von nichtkommunistischen, als „sozialchauvinistisch“, „reaktionär“ und „konterrevolutionär“ beschriebenen Gewerkschaften wie denen des [[Allgemeiner Deutscher Gewerkschaftsbund|ADGB]];
# Ablehnung jeder Zusammenarbeit mit nichtkommunistischen Parteien. Diese Ablehnung verträten linksradikale Kommunisten grundsätzlich, nicht bloß wegen einer besonderen historischen Situation.
 
Historiker wie [[Arthur Rosenberg]] (''Geschichte der Weimarer Republik'', 1935), [[Hans Manfred Bock]] (''Geschichte des linken Radikalismus'', 1976), Otto Langels (''Die ultralinke Opposition der KPD in der Weimarer Republik'', 1984) und Marcel Bois (''Kommunisten gegen Hitler und Stalin'', 2014) griffen Lenins Typisierung auf und verstehen „Linksradikalismus“ als besondere, antiautoritäre und auf baldmöglichste Sozialrevolution zielende Strömung in der Frühphase kommunistischer Parteien, als diese noch nicht straff organisiert waren. Bois vermeidet ihre polemische Abwertung als „Ultralinke“, die in der [[Kommunistische Internationale|Komintern]] üblich war, und betont, dass die Linksradikalen aus derselben Tradition kamen wie andere Kommunisten und sich ebenfalls auf das [[Manifest der Kommunistischen Partei|Kommunistische Manifest]] von 1848 beriefen.<ref>Marcel Bois: ''Kommunisten gegen Hitler und Stalin'', Berlin 2016, S. 103–105</ref> Auch [[Detlef Siegfried]] versteht „Linksradikalismus“ als revolutionäres soziales Milieu der frühen [[Weimarer Republik]]. Er betont, dass es Arbeiter, Künstler und Intellektuelle umfasste und teils in Linksparteien organisiert, teils unorganisiert war. Dort gab es parteiübergreifend Sympathien für den [[Rätekommunismus]], den [[Syndikalismus]] und den [[Linkssozialismus]]. Alle diese Strömungen grenzten sich vom Reformismus der SPD und Zentralismus der KPD ab.<ref>Detlef Siegfried: ''Das radikale Milieu: Kieler Novemberrevolution, Sozialwissenschaft und Linksradikalismus 1917 – 1922.'' Springer, Wiesbaden 2004, ISBN 978-3-322-93468-0, [https://books.google.de/books?id=EZgiBgAAQBAJ&pg=PA12 S. 12 f.]</ref>
 
Nachdem ein [[Generalstreik]] den [[Kapp-Putsch]] antidemokratischer Militärs beendet und die SPD-geführte Reichsregierung den [[Ruhraufstand]] gewaltsam niedergeschlagen hatte (März 1920), erhielt der antiparlamentarische Flügel in der KPD erneut Zulauf. Seine Vertreter [[Hugo Eberlein]] und [[Ernst Meyer (Politiker, 1887)|Ernst Meyer]] lehnten die vom bisherigen Parteivorstand erwogene Tolerierung einer von SPD und USPD vorgeschlagenen Arbeiterregierung strikt ab und wurden in den neuen Parteivorstand gewählt. Sie erhielten Auftrieb durch den Zusammenschluss der KPD mit dem linken USPD-Flügel (Dezember 1920) und planten daraufhin gemäß ihrer „Offensivstrategie“ einen Aufstand in Mitteldeutschland. Diese [[Märzkämpfe in Mitteldeutschland|Märzaktion]] von 1921 wurde jedoch rasch niedergeschlagen. Hunderte KPD-Anhänger wurden dabei getötet, rund 4000 Arbeiter in Eilverfahren zu langen Haftstrafen, vier davon zum Tod verurteilt. Bis November 1921 verlor die KPD mehr als die Hälfte ihrer Mitglieder. Paul Levi wurde nach scharfer Kritik an der Märzaktion aus der KPD ausgeschlossen. Beim folgenden dritten Komintern-Weltkongress bestätigten Lenin und [[Leo Trotzki]] jedoch Levis Position, wonach die KPD zuerst eine Mehrheit der Arbeiterschaft erringen müsse, auch durch Zusammenarbeit mit Sozialdemokraten. Nachdem die Komintern diese [[Einheitsfront]]politik für die Folgezeit beschloss, vertraten auch die Linken im KPD-Vorstand diese neue Linie. Anders als die zuvor ausgetretenen Linksradikalen bejahten sie den leninschen Zentralismus. In Massenprotesten gegen rechtsradikale [[Fememord]]e und im Eisenbahnerstreik erprobte die KPD die Einheitsfrontpolitik erfolgreich und gewann so bis Ende 1923 ihr Ansehen unter deutschen Arbeitern und frühere Mitgliederstärke zurück.<ref>Marcel Bois: ''Kommunisten gegen Hitler und Stalin'', Berlin 2016, S. 119–134</ref>
 
== Bundesrepublik Deutschland ==
Das ''[[Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus|Historisch-Kritische Wörterbuch des Marxismus]]'' sieht bereits 1945 einen Bruch des Linksradikalismus mit der Arbeiterbewegung, in der er entstand:
 
{{Zitat|Das Jahr 1945 markiert einen Bruch. Seitherige Varianten des L beriefen sich zwar auf die verschiedenen Strömungen des L in der Arbeiterbewegung, z.B. auf [[Karl Korsch]] und [[Arthur Rosenberg]], Bordiga oder Nikolai Bucharin. Sie wurden jedoch weniger von der Arbeiterschaft getragen, sondern äußerten sich als Jugendrevolte mit sozialistischen Forderungen, aber heterogener Klassenlage - ein Ausdruck der seit den 1950er Jahren voranschreitenden Auflösung proletarischer Millieus bei gleichzeitig steigendem Anteil der Lohnabhängigen.|''HKWM - Band 8/2, Sp. 1200''|ref=<ref>Stichwort''Linksradikalismus.'' „Linksradikalismus“,In: ''HKWM.'' Band 8/2, Sp 1200.</ref>}}
 
Laut dem ''[[Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus|Historisch-Kritischen Wörterbuch des Marxismus]]''HKWM bezeichnet der Begriff „vornehmlich im sozialen Spektrum der Arbeiterbewegung, des Kommunismus und Sozialismus eine Form politischer Kritik und Praxis, die an die Wurzel (lat. radix) zu gehen beansprucht. Verwendung und Definition hängen davon ab, was im historischen Kontext als „links“ oder „radikal“ gilt. Vertreter des LLinksradikalismus beanspruchen eine unbedingt revolutionäre, grundsätzliche Kritik, die moderaten, auf systemmimmandentesystemimmanente Reformziele verkürzten Gesellschaftskritiken vorzuziehen sei.“<ref>Stichwort „Linksradikalismus“ von [[Ralf Hoffrogge]],: in''Linksradikalismus.'' In: ''Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus,.'' Band 8/II, Argument-Verlag, Hamburg 2015, Spalte 1193–1207, hier: Spalte 1193.</ref>
 
Während sich die in England entstandene „Neue„[[Neue Linke“Linke]]“ seit 1956 noch stark in der Arbeiterbewegung bzw. mit Bezug auf die Kommunistischen Parteien orientierte, aber die Politik der Sowjetunion ablehnte, entstand mit der Studentenbewegung seit Mitte der 1960er Jahre in Europa und den USA eine neue Generation des Linksradikalismus.
 
Während der [[68er-Bewegung]] erstarkten linksradikale [[Autorität|antiautoritärantiautoritäre]]e Bewegungen, ebenso kam es zu einer Welle von Neugründungen traditioneller [[Kader]]organisationen („[[K-Gruppe]]n“). Das politische Potential wurde in den folgenden Jahrzehnten jedoch durch Zersplitterung stark geschwächt. Neben unterschiedlichen [[Marxismus|marxistisch]] und [[Rätekommunismus|rätekommunistisch]] orientierten sowie [[Operaismus|operaistischen]] Gruppen entfaltete sich seit den 1970er Jahren eine autonome, [[Situationistische Internationale|situationistische]] und anarchistische Szene, die vor allem in den 1980er Jahren Auftrieb erhielt. Seit der westdeutschen [[Außerparlamentarische Opposition|APO]] der 1960er Jahre bezeichnen sich antiautoritäre Linke ([[Sponti]]s, [[Autonome]] und andere) selbst als ''radikale Linke'' bzw. als ''Linksradikale'' (siehe auch [[Daniel Cohn-Bendit]]: ''Linksradikalismus …'', 1968).
 
Der westdeutsche [[Verfassungsschutz]] bezeichnete ursprünglich alle nicht reformistischen Teile der Linken als ''Linksradikalismus''; seit den frühen 1980er Jahren bezeichnet er sie als „[[Linksextremismus]]“.<ref>Horst Heimann: ''Linksradikalismus und Linksextremismus.'' In: ''Lexikon des Sozialismus.'' Bund-Verlag, Köln 1986, S. 40.</ref> Diese reine Fremdbezeichnung geht auf die [[Totalitarismus]]theorie zurück und ist in der [[Politikwissenschaft|Politik-]] und [[Geschichtswissenschaft]] wenig gebräuchlich.<ref>[[Gero Neugebauer]]: ''Extremismus – Rechtsextremismus – Linksextremismus: Einige Anmerkungen zu Begriffen, Forschungskonzepten, Forschungsfragen und Forschungsergebnissen.'' In: Wilfried Schubarth, [[Richard Stöss]] (Hrsg.): ''Rechtsextremismus in der Bundesrepublik Deutschland – Eine Bilanz.'' Opladen 2001, S. 6 ff. ({{Webarchiv | url=http://www.extremismus.com/texte/ext1.pdf | wayback=20070224124448 | text=pdf-Auszug vom 4. Dezember 2003}})</ref>
 
== Schweiz ==
Die Tradition des Linksradikalismus in der Schweiz reicht bis auf den libertären Sozialismus und Anarchismus der [[Juraföderation]] der [[Erste Internationale|1. Internationale]] zurück, hier hatten die Anhänger eines „freiheitlichen Sozialismus“ um Bakunin ihre Hochburg. Während des [[Erster Weltkrieg|Ersten Weltkrieg]]sWeltkriegs erwuchsen aus der Ablehnung vonder [[Burgfriedenspolitik|Burgfrieden]] in der Schweiz und der Opposition gegen den Krieg verschiedene linksradikale Strömungen innerhalb und neben den sozialdemokratischen Parteien vom religiös-sozialen Kreis bis zum anarchistischen Zusammenhang um [[Fritz Brupbacher]] und Kommunisten um [[Jakob Herzog]]. In der gesellschaftlichen Unruhe erlangte diese soziopolitische Strömung aufgrund ihres stark [[Aktivismus|aktivistisch]] geprägten Verhaltens und in der Projektion bürgerlicher Ängste vor revolutionären Erhebungen eine überproportionale Bedeutung. Das libertäre Gedankengut des Linksradikalismus wurde in der Folgezeit etwa vom [[Marxismus-Leninismus]] in den Hintergrund gedrängt. Zwischen den Weltkriegen kann nur vereinzeltes Vorkommen des Linksradikalismus außerhalb der großen Parteien der Arbeiterbewegung beobachtet werden, so etwa 1930 die Abspaltung des anti-[[Stalinismus|stalinistischen]] Flügels der [[Kommunistische Partei|Kommunistischen Partei]] in [[Schaffhausen]].
 
== Literatur ==
* Marcel Bois: ''Kommunisten gegen Hitler und Stalin. Die linke Opposition der KPD in der Weimarer Republik.'' 2. Auflage. Klartext, Berlin 2016 (besonders ''3. Linksradikalismus in der frühen KPD'': S. 101–168).
* [[Hans Manfred Bock]]: ''Geschichte des „linken Radikalismus“ in Deutschland. Ein Versuch'', Frankfurt/Main 1976, Suhrkamp Verlag, 370 S. (edition suhrkamp Nr. 645), ISBN 3-518-00645-2 (über die Zeit von 1890 bis 1975)
* Marcel Bois: Linksradikalismus und radikale Linke in der Weimarer Republik, in: Alexander Deycke u. a. (Hg.): Von der KPD zu den Post-Autonomen. Orientierungen im Feld der radikalen Linken. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2021, S. 85–106.
* Walter Fähnders & Martin Rector: ''Linksradikalismus und Literatur.'' Rowohlt Taschenbuchverlag, März 1985, ISBN 978-3499250521
* Ulrich Peters: ''Unbeugsam und widerständig. Die radikale Linke in Deutschland seit 1989/90.'' Unrast Verlag, Münster 2014, ISBN 978-3-89771-573-8.
* Horst Heimann: ''Linksradikalismus und Linksextremismus.'' In: ''Lexikon des Sozialismus'', Bund-Verlag, Köln 1986, S. 40
* Peter Friedrich, Norbert Madloch: ''Links-Radikalismus: Linksradikale Kräfte in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen.'' Dietz, Berlin 1989, ISBN 3320013564.
* Jan Gerber: ''Nie wieder Deutschland? Die Linke im Zusammenbruch des “realen Sozialismus”'', [[ça ira Verlag|ça ira]], Freiburg i. Br. 2010, ISBN 978-3-86259-100-8
* Walter Fähnders &, Martin Rector: ''Linksradikalismus und Literatur.'' Rowohlt Taschenbuchverlag, MärzReinbek 1985, ISBN 9783-3499250521 499-25052-7.
* Ulrich Peters: ''Unbeugsam und widerständig. Die radikale Linke in Deutschland seit 1989/90.'' Unrast Verlag, Münster 2014, ISBN 978-3-89771-573-8.
* [[Hans Manfred Bock]]: ''Geschichte des „linken Radikalismus“ in Deutschland. Ein Versuch.'', Frankfurt/Main 1976, Suhrkamp Verlag, 370Frankfurt S.am (editionMain suhrkamp Nr. 645)1976, ISBN 3-518-00645-2 (über die Zeit von 1890 bis 1975).
* [[Ralf Hoffrogge]]: Stichwort „Linksradikalismus“, in: [[Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus]], Band 8/II, Spalte 1193–1207, Argument-Verlag, Hamburg 2015.
* Richard Albrecht: ''Marxismus – bürgerliche Ideologie – Linksradikalismus. Zur Ideologie und Sozialgeschichte des westeuropäischen Linksradikalismus.'' In: M. Buhr (Hrsg.): ''Zur Kritik der bürgerlichen Ideologie.'' Band 55. Akademie-Verlag, Berlin (Ost) 1975.
 
== Weblinks ==
* {{HLS|27494|Linksradikalismus|Autor=[[Ruedi Brassel|Ruedi Brassel-Moser]]}}
* [[Ralf Hoffrogge]]: ''[httphttps://wwwarchiv.akweb.de/ak_s/ak596/35.htm Für Lenin, gegen Stalin - Linksradikale in der Weimarer Republik.]'', ausIn: ''Analyse & Kritik,.'' Nr. 596, August 2014.
* [[Gerhard Hanloser]]: [http://huschhusch.blogsport.de/2009/07/25/geschichte-und-praxis-des-linksradikalismus/ Geschichte und Praxis des Linksradikalismus, 2005]
* [[Ralf Hoffrogge]]: ''[http://www.akweb.de/ak_s/ak596/35.htm Für Lenin, gegen Stalin - Linksradikale in der Weimarer Republik]'', aus: Analyse & Kritik, Nr. 596, August 2014.
 
== Einzelnachweise ==
<references />
 
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