Deformationsgradient

Mittel zur Beschreibung der lokalen Verformung an einem materiellen Punkt eines Körpers

Der Deformationsgradient (Formelzeichen: ) ist in der Kontinuumsmechanik ein Mittel zur Beschreibung der lokalen Verformung an einem materiellen Punkt eines Körpers. Zur Veranschaulichung kann man sich einen Körper (in Abbildung 1, gelb) vorstellen auf den eine kurze Linie (weil nur lokale Änderungen beschrieben werden, im Bild fett rot) eingeritzt wird. Wird der Körper deformiert (rechts im Bild), wird die eingeritzte Linie nicht nur ihre Lage im Raum ändern, sondern auch gedehnt (oder gestaucht) und verdreht werden. Die Dehnung und Verdrehung beschreibt der Deformationsgradient und ist so ein Maß für die Deformation, daher der Name. Der Anhang Gradient verweist auf die Tatsache, dass lokale Änderungen beschrieben werden. Aus dem Deformationsgradient lassen sich Maße für die lokale Streckung, Verzerrung, Flächen- und Volumenänderung ableiten. Im allgemeinen Fall ist der Deformationsgradient sowohl vom Ort als auch von der Zeit abhängig. Die zeitliche Änderung des Deformationsgradienten gibt Maße für die Änderungsraten der Streckung, Verdrehung, Verzerrung, Flächen- und Volumenänderung. Der Deformationsgradient ist einheitenfrei.

Abbildung 1: Ein Körper (links) und seine verschobene und deformierte Lage (rechts). Bei der Deformation werden materielle Linien (schwarz) verschoben, verbogen und gedehnt
Abbildung 2: Transformation eines Vektors durch einen Tensor .

Bei den angesprochenen kurzen Linien handelt es sich mathematisch um Vektoren, die vom Deformationsgradient transformiert werden, wobei die Vektoren im Allgemeinen gedreht und gestreckt werden. Abbildungen von Vektoren leisten Tensoren, siehe Abbildung 2, weswegen der Deformationsgradient ein Tensor ist. Wenn es klar ist, auf welches Koordinatensystem sich der Deformationsgradient bezieht, berechnet er sich wie eine Jacobimatrix und kann dann auch als Matrix notiert werden. Oft bildet der Deformationsgradient die (infinitesimal kleinen) materiellen Linienelemente in der Ausgangs- oder Referenzkonfiguration in die aktuelle oder Momentankonfiguration ab. Ganz allgemein kann eine solche Abbildung aber auch zwischen beliebig anderen zu definierenden Konfigurationen stattfinden.

Definition und Darstellungsweisen

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Definition

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Die Bewegung eines materiellen Punktes wird mit der Bewegungsfunktion

 

beschrieben. Der Vektor   ist die aktuelle Position des materiellen Punktes   zur Zeit   in der Momentankonfiguration. Genauer ist   die Position des betrachteten materiellen Punktes in der undeformierten Ausgangs- oder Referenzkonfiguration des Körpers zu einer Zeit  . Bei festgehaltenem materiellen Punkt   beschreibt die Bewegungsfunktion dessen Bahnlinie durch den Raum. Im kartesischen Koordinatensystem mit der Standardbasis { } hat der Punkt   die komponentenweise Darstellung

 

und entsprechend gilt  . Um zu untersuchen wie sich die aktuelle Position ändert, wenn die Position in der undeformierten Ausgangslage variiert, wird die Ableitung gebildet:

    für    .

Die Funktionen   sind die Komponenten des Deformationsgradienten bezüglich des Basissystems  .

Um zu einer koordinatenfreien Darstellung zu gelangen, wird das dyadische Produkt   benutzt:

 .

Darin ist   der Deformationsgradient und   ist der Operator für den materiellen Gradienten, denn es wird nach den materiellen Koordinaten   differenziert.

 
Abbildung 3: Transformation von Linienelementen durch den Deformationsgradient

Der Deformationsgradient kann auch mit der Richtungsableitung

 

dargestellt werden, was seine Transformationseigenschaften der Linienelemente   verdeutlicht, siehe Abbildung 3.

Definitions- und Wertebereich

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Abbildung 4: Tangentenvektoren (schwarz) an materielle Linien   spannen Tangentialräume auf (gelb). Die zu den Tangentenvektoren dualen Gradientenvektoren sind blau dargestellt.

Mathematisch ist das Differential   in

 

Element des Tangentialraumes   im Punkt   des Raumes  , den der undeformierte Körper in der Ausgangskonfiguration einnimmt (in Abbildung 4 oben). Das Differential   ist entsprechend ein Element des Tangentialraumes   im Punkt   des Raumes  , den der deformierte Körper in der Momentankonfiguration einnimmt (im Bild unten). Damit wird der Deformationsgradient zur Abbildung

 .

Darstellung in konvektiven Koordinaten

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Werden jedem materiellen Punkt   über eine Referenzkonfiguration konvektive Koordinaten   zugeordnet, bilden die Tangentenvektoren

     bzw.    

kovariante Basen der Tangentialräume   im Punkt   bzw.   im Punkt   (in Abbildung 4 schwarz dargestellt). Die Gradienten der konvektiven Koordinaten

     bzw.    

bilden kontravariante Basen, die zu den kovarianten dual sind (in Abbildung 4 blau dargestellt).

In diesen Basissystemen ausgedrückt bekommt der Deformationsgradient die besonders einfache Form

 .

In dieser Darstellung lässt sich auch sofort mit

 .

die Inverse des Deformationsgradienten angeben. Der transponiert inverse Deformationensgradient bildet die kontravarianten Basisvektoren aufeinander ab:

 .

Der räumliche Deformationsgradient

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Zumeist wird der Deformationsgradient wie oben in seiner materiellen Darstellung formuliert. Gelegentlich wird aber auch der räumliche Deformationsgradient benutzt. Wegen   kann der Deformationsgradient invertiert und das Ergebnis über   als Funktion der räumlichen Koordinaten   ausgedrückt werden:

 .

Der räumliche Deformationsgradient   bildet dann das Linienelement   auf das Linienelement   ab:

 .

Entsprechend hat der räumliche Deformationsgradient in konvektiven Koordinaten die Form

 .

Geometrische Linearisierung

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In der Festkörpermechanik treten in vielen Anwendungsbereichen nur kleine Deformationen auf. In diesem Fall erfahren die Gleichungen der Kontinuumsmechanik eine erhebliche Vereinfachung durch geometrische Linearisierung. Dazu werden die Verschiebungen   betrachtet, die ein materieller Punkt   im Laufe seiner Bewegung erfährt. Weil   die aktuelle Position des Punktes ist, der in der Ausgangskonfiguration die Position   hatte, ist die Verschiebung die Differenz

 .

Der materielle Gradient der Verschiebungen ist der Tensor

 .

und wird Verschiebungsgradient genannt. Wenn   eine charakteristische Abmessung des Körpers ist, dann wird bei kleinen Verschiebungen sowohl   als auch   gefordert, so dass alle Terme, die höhere Potenzen von   oder   beinhalten vernachlässigt werden können. In diesem Fall ergeben sich die folgenden Zusammenhänge:

 .

Die Tensoren   und   kommen in der polaren Zerlegung vor, siehe unten.

Transformationseigenschaften

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Polare Zerlegung

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Abbildung 5: Polare Zerlegung des Deformationsgradienten

Der Deformationsgradient   lässt sich eindeutig "polar" in eine Rotation und eine reine Streckung zerlegen. Durch Anwendung der Polarzerlegung resultiert die Darstellung

 .

Dabei ist   ein "eigentlich orthogonaler Tensor". Der materielle rechte Strecktensor   und der räumliche linke Strecktensor   sind symmetrisch und positiv definit. (Eselsbrücke:   steht rechts von   und   links davon in der polaren Darstellung.)

Anschaulich bedeutet die polare Zerlegung eine Hintereinanderschaltung zweier Transformationen: Im einen Fall eine rotationsfreie Streckung   mit anschließender Drehung   und im anderen Fall eine Drehung   mit anschließender rotationsfreier Streckung   so wie sie in Abbildung 5 dargestellt sind.

Der rechte Strecktensor berechnet sich gemäß

 

aus der Hauptachsentransformation von  , ziehen der Wurzel der Diagonalglieder und Rücktransformation, siehe auch das Beispiel unten. Entsprechend gilt für den linken Strecktensor

 .

Der Rotationstensor   ergibt sich dann aus

 .

Linien-, Flächen- und Volumenelemente

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Mit Hilfe des Deformationsgradienten können Integrale in der materiellen Darstellung in die räumliche umgerechnet werden. Die zu integrierende Größe sei ein Feld   das skalar-, vektor- oder tensorwertig sein kann und in der materiellen Darstellung   und der räumlichen

 

vorliege. Dann gelten die Identitäten:

 .

Der Operator   bildet die Determinante und   die transponiert Inverse.   ist eine materielle Linie in der Ausgangskonfiguration und   die zugehörige räumliche in der Momentankonfiguration. Die Oberfläche   des Körpers in der Ausgangskonfiguration hat das Oberflächenelement  , d. h. die mit dem Flächenstück   multiplizierte Normale   des Flächenstücks. Gleiches gilt für das räumliche Flächenelement   auf der Oberfläche   des Körpers in der Momentankonfiguration. Diese Transformationen sind bei der Zeitableitung der Integrale auf den linken Seiten der Gleichungen nützlich, weil die Gebiete auf den linken Seiten von der Zeit abhängen nicht so aber auf den rechten Seiten.

Volumenverhältnis

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Die Determinante von   gibt das lokale Volumenverhältnis   im betrachteten materiellen Punkt bei der Deformation an.

Damit ergibt sich u. a., dass   positiv sein muss, sonst wäre die Deformation physikalisch nicht möglich (Inversion des materiellen Punktes).

Bleibt bei einer Deformation das Volumen erhalten, also  , liegt Inkompressibilität vor. Bei Gummi- oder Elastomer-Werkstoffen ist dies eine übliche Annahme in der kontinuumsmechanischen Beschreibung und durch das Verhalten dieser Werkstoffklasse annähernd der Fall. Gleiches gilt für die inkompressiblen Flüssigkeiten.

Transformation von Tensoren

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Der Deformationsgradient transformiert neben den Linien-, Flächen- und Volumenelementen auch Tensoren von der Ausgangskonfiguration in die Momentankonfiguration. Diese Transformationen sind für kovariante Tensoren (oftmals Verzerrungstensoren) und kontravariante Tensoren (oftmals Spannungstensoren) unterschiedlich, z. B.:

 .

Der Tensor

 

ist der Euler-Almansi-Verzerrungstensor in der Momentankonfiguration,

 

der Green-Lagrange’sche Verzerrungstensor in der Ausgangskonfiguration,

 

der gewichtete Cauchy’sche Spannungstensor,   der Cauchy’sche Spannungstensor (beide in der Momentankonfiguration) und

 

der zweite Piola-Kirchhoff’sche Spannungstensor in der Ausgangskonfiguration. Das Skalarprodukt ":" der so einander zugeordneten Tensoren wird von der Transformation nicht verändert, z. B.:

 .

Multiplikative Zerlegung des Deformationsgradienten

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Die Multiplikative Zerlegung des Deformationsgradienten wird in Materialtheorie angewendet, um die Deformation eines Körpers auf Grund verschiedener Einflüsse zu modellieren. So kann sich ein Körper deformieren, weil er erwärmt wird oder einer äußeren Kraft ausgesetzt wird. Die Deformation kann zusätzlich davon abhängen, wie schnell die Temperatur oder Kraft aufgebracht wird. Die Reaktionen des Materials lassen sich einfacher modellieren, wenn die Phänomene voneinander getrennt betrachtet werden. So kann ein Modell den Einfluss der Temperatur nachbilden und ein anderes Modell die isotherme Verformung durch Kräfte. Die Deformationen aufgrund des einen oder anderen Phänomens können dann anschließend wieder zusammengeführt werden. In der Materialtheorie hat es sich durchgesetzt bei kleinen Verformungen eine additive Zerlegung der Dehnungen und bei großen Verformungen eine multiplikative Zerlegung des Deformationsgradienten zu benutzen.

Seien also a und b zwei Verformungsanteile eines Materials. Für die Modellbildung wird der Deformationsgradient multiplikativ zerlegt:

 .

Ein Modell beschreibt dann die Entwicklung des Anteils   auf Grund des Einflusses a und ein anderes Modell die Entwicklung des Anteils   auf Grund des Einflusses b. Die Deformationsgradienten   und   erfüllen im Allgemeinen nicht die Kompatibilitätsbedingungen, weswegen es im Allgemeinen kein Bewegungsfeld gibt, aus dem die beiden Anteile per Gradientenbildung abgeleitet werden können.

Weil der Deformationsgradient, wie im vorigen Abschnitt erläutert, Tensoren von einer Konfiguration in die andere transformiert, entspricht die multiplikative Zerlegung der Einführung einer Zwischenkonfiguration. Die Tensoren der Referenzkonfiguration werden mit dem Anteil   und die der Momentankonfiguration mit   in die Zwischenkonfiguration transformiert. Transformation des Green-Lagrange’schen Verzerrungstensors von der Referenzkonfiguration in die Zwischenkonfiguration liefert:

 

Der in die Zwischenkonfiguration transformierte Green-Lagrange’sche Verzerrungstensor zerfällt also in zwei Anteile:

  • Ein Anteil   ist vom Green-Lagrange-Typ und wird mit   gebildet.
  • Der andere Anteil ist vom Euler-Almansi-Typ und wird mit   gebildet.

Gleiches gilt, wenn der Euler-Almansi Tensor   mit   auf die Zwischenkonfiguration transformiert wird:

 

In der Zwischenkonfiguration können nun die beiden Phänomene mit den Verzerrungstensoren   und   getrennt modelliert werden. Der sich im Modell in der Zwischenkonfiguration ergebende Spannungstensor wird anschließend mit   in die Momentankonfiguration oder mit   in die Referenzkonfiguration transformiert.

Deformationsraten

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Die materielle Zeitableitung des Deformationsgradienten

 

ist ein Maß für die Deformationsgeschwindigkeit. Sie hängt über

 

mit dem räumlichen Geschwindigkeitsgradient   des räumlichen Geschwindigkeitsfeldes   zusammen. In konvektiven Koordinaten lautet das

 

Beispiel

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Abbildung 6: Scherung eines Quadrates (lila) in ein Parallelogramm (rot). Die Scherung ist eine reine Streckung (königsblau) mit anschließender Drehung oder eine Drehung (hellblau) mit anschließender Streckung

Die Berechnung des Deformationsgradienten und seiner polare Zerlegung wird anhand der Scherung eines Quadrates vorgeführt.

Ein Quadrat der Kantenlänge eins wird zu einem flächengleichen Parallelogramm mit Grundseite und Höhe eins verformt, siehe Abbildung 6. Die Punkte des Quadrates haben in der Ausgangskonfiguration die Koordinaten

 .

Die Neigung des Parallelogramms sei

 .

Dann sind die räumlichen Koordinaten der Punkte gegeben durch

 .

Wie üblich wird   mit   und   mit   identifiziert. Dann bekommt man den Deformationsgradient durch Ableitung:

 .

Die Richtungsableitung liefert über

 

dasselbe Ergebnis. Der Deformationsgradient ist hier vom Ort und der Zeit unabhängig und hat die Determinante eins, was den Erhalt des Flächeninhalts bestätigt. Der rechte Strecktensor   berechnet sich aus dem rechten Cauchy-Green-Tensor

 

über Hauptachsentransformation, ziehen der Wurzel der Diagonalglieder und Rücktransformation. Für die Hauptachsentransformation braucht man die Eigenwerte   und -vektoren   von  . Man findet:

 .

Mit diesen Eigenwerten und -vektoren erhält man die Hauptachsentransformation

 

und damit den rechten Strecktensor

 .

Mit seiner Inversen

 

ergibt sich der Rotationstensor

 ,

siehe Drehmatrix. Der Rotationstensor dreht das im Bild königsblaue Parallelogramm oder hellblaue Quadrat um den Winkel

 .

Den linken Strecktensor kann man nun einfacher aus

 

ermitteln.

Siehe auch

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Mathematik:

Formelsammlungen:

Literatur

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