Großgaststätte Ahornblatt
Die Großgaststätte Ahornblatt stand von 1973 bis 2000 im Berliner Ortsteil Mitte an der Gertraudenstraße Ecke Fischerinsel. Das Gebäude war das gesellschaftliche Zentrum für das Wohngebiet Fischerinsel, das nach einem nahezu vollständigen Abriss der Vorkriegsbausubstanz[3] mit sechs 21-geschossigen Punkthochhäusern von 1970 bis 1973 neu gestaltet wurde.[4] In dem Bauwerk befanden sich eine Selbstbedienungsgaststätte mit 880 Plätzen[5] für das DDR-Ministerium für Bauwesen und für umliegende Schulen sowie eine Ladenpassage.[6]
Großgaststätte Ahornblatt | |
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Ahornblatt kurz vor dem Abriss im Jahr 2000 | |
Daten | |
Ort | Berlin-Mitte |
Architekt | Ulrich Müther Mitwirkende: Rüdiger Plaethe & Gerhard Lehmann |
Bauherr | Ministerrat der DDR[1] |
Baujahr | 1969–1973 |
Abriss | Juli 2000 |
Grundfläche | 5400[2] m² |
Koordinaten | 52° 30′ 49″ N, 13° 24′ 21″ O |
Besonderheiten | |
Dachtragwerk aus fünf hyperbolischen Paraboloidschalen |
Entwurf und Bau
BearbeitenAuf Initiative von Paul Verner, Politbüro-Mitglied und 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Berlin, sollte auch in der Hauptstadt der DDR ein modernes Schalenbauwerk aus Ulrich Müthers Hand errichtet werden.[7] Bauingenieur Müther zählte schon damals zu den führenden Fachleuten in der Schalenbauweise mit seiner Firma VEB Spezialbetonbau aus Binz auf Rügen. Der Entwurf der Infrastruktur des Ahornblatts wurde den Architekten Gerhard Lehmann und Rüdiger Plaethe übertragen, die städtebauliche Planung übernahm Helmut Stingl.
Das Dachtragwerk war eine Schalenkonstruktion aus fünf hyperbolischen Paraboloidschalen je 22 m × 35 m,[8] die fächerförmig angeordnet wurden, in ihrem Aussehen an ein Ahornblatt erinnerten und zur Namensgebung des Gebäudes führten. Die Dachdicke betrug nur sieben Zentimeter. Die Dachkanten bogen sich zu den Hochpunkten hin nach oben. An ihren Tiefpunkten stützten sich die Dachsegmente auf konische Auflager aus Stahlbeton, die wiederum auf Bohrpfählen in dem weichen Baugrund gründeten.[9] Die Dacheindeckung bestand aus einer Falzdachhaut aus Aluminium. Die Außenwände waren verglast und durch horizontal angeordnete Sonnenschutzlamellen gegliedert.
An den Küchentrakt der Gaststätte schloss sich eine Einkaufspassage an sowie eine 600 m² große Kaufhalle.[10]
Die Herstellung des Dachs erfolgte von September 1969 bis Dezember 1970,[9] der gesamte Bau des zweigeschossigen Ahornblatts wurde 1973 abgeschlossen. Das Berliner Landesdenkmalamt stellte im September 1995 das Ahornblatt und seine Nebenbauten unter Denkmalschutz.[11] Der Berliner Landesdenkmalpfleger Jörg Haspel bewertete das Ahornblatt als einen wichtigen „Vertreter des ‚Organischen Bauens‘“ und als „revolutionierendes Bauzeugnis“. „Das Ahornblatt verkörpert eine Architektur der Hoffnung in neue konstruktive und gestalterische Möglichkeiten des Betonschalenbaus.“[12]
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Betonierarbeiten auf der letzten Dachschale am 16. November 1970
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Dach des Ahornblatts mit Blick auf den Berliner Dom und davor den Palast der Republik, 1982
Nutzung
BearbeitenDie Gaststätte diente nach ihrer Eröffnung am 18. Juli 1973 zunächst als Restaurant für die Teilnehmer der X. Weltfestspiele. Anschließend war sie Betriebsgaststätte für die Mitarbeiter der umliegenden Betriebe und Dienststellen und für die Bauarbeiter des Palastes der Republik. Auch etwa 1000 Kinder umliegender Schulen nahmen dort ihr Mittagessen ein.[13] Nachmittags und abends diente sie als öffentliche Gaststätte und auch für Feste und Veranstaltungen; darunter auch einige wenige Rockkonzerte.[14]
Nach der politischen Wende veranstaltete die CDU am 18. März 1990 hier ihre Wahlparty anlässlich der ersten demokratischen Volkskammerwahl in der DDR.[15] Danach wurde das Gebäude unter dem Namen Exit von einer US-amerikanischen Firma[11] als Diskothek genutzt. DJ Tanith veranstaltete ab 1993[16] regelmäßige Afterhour-Abende mit „hartem Techno“.[3] Wegen Beschwerden der Anwohner über zunehmende Lärmbelästigung musste der Diskothekenbetrieb eingestellt werden.[11] Von 1994 an stand das Ahornblatt sechs Jahre lang leer.[17]
Abriss
BearbeitenIm Jahr 1997 verkaufte die Oberfinanzdirektion Berlin mit Unterstützung des damaligen Senators für Stadtentwicklung Peter Strieder und des früheren Senatsbaudirektors Hans Stimmann[18] das Gelände mit dem mittlerweile denkmalgeschützten Gebäude an die Objekt Marketing GmbH.[17] Trotz zahlreicher Proteste gegen die Beseitigung der Architektur der Moderne in der DDR, unter anderem geäußert von der Berliner Architektenkammer[19] und dem Deutschen Werkbund,[20] wurde dem Käufer des Geländes eine Abrissgenehmigung für das Ahornblatt erteilt. Bund und Senat hatten sich bereits Jahre zuvor zum Verkauf ihrer Grundstücke für 29 Millionen D-Mark entschlossen.[21]
Zunächst schlug der Architekt des Neubaus, Gernot Nalbach, ein Hochhaus mit derselben Höhe der umliegenden Hochhäuser vor, um das Ahornblatt zu retten.[22] Die von Stimmann durchgesetzte Berliner Traufhöhe von 22 m, die auch im Bebauungs- und Flächennutzungsplan Planwerk Innenstadt Eingang fand, diente nun der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung als Begründung, Nalbachs Hochhaus trotz der vorhandenen Hochhausumgebung abzulehnen.[23] 1999 präsentierte Nalbach schließlich eine achtgeschossige Straßenrandbebauung mit den gewünschten 22 m Höhe, allerdings beanspruchte sein Plan eine Fahrspur von der Gertraudenstraße.[24] Auch diesen Vorschlag lehnte die Senatsverwaltung ab.
Müther veranstaltete am 21. Januar 2000 eine letzte Führung durch sein Bauwerk. Am 19. Juli 2000 begann der Abriss des Ahornblatts. Die Accor-Gruppe erbaute an seiner Stelle ein mit Natursteinplatten verblendetes Mittelklassehotel für Geschäftsreisende und Familien sowie ein daran angrenzendes Wohn- und Geschäftshaus.[25]
Müther und sein Lebenswerk rückten während der Debatte über den Abriss des Ahornblatts erstmals in seinem Leben in den Fokus einer breiten Öffentlichkeit. Es erschienen dazu rund 200 Zeitungsartikel und auch kurze Fernseh-Beiträge.[26] „Der Abriss des Ahornblatts in Berlin hat mich aus der Versenkung geholt“, resümierte er danach.[26] Seitdem besteht ein bis heute anhaltendes Interesse[26] an Müthers „kühnen Solitären“, dem Titel einer seiner ersten Ausstellungen.[27]
Literatur
Bearbeiten- Jörg Haspel: Auf den Flügeln des Fortschritts? Eine Betonschale in Berlin. In: SenStadtUmTech (Hrsg.), Großstadtdenkmalpflege. Erfahrungen und Perspektiven. Jahrbuch 1996. (= Beiträge zur Denkmalpflege in Berlin, Heft 12.) Landesdenkmalamt Berlin. Schelzky & Jeep, Berlin 1996, S. 66–68, ZDB-ID 1457667-3.
- Michael Falser: Zweierlei Erbe auf ein und derselben Insel: Das ‚UNESCO-Weltkulturerbe‘ der nördlichen Museumsinsel und der Abriss des ‚Ahornblattes‘ auf der südlichen Fischerinsel (1999/2000), Kap. Mythenraum – Geschichtswerkstatt: der Umgang mit Baudenkmälern im Umfeld der Berliner Spreeinsel. In: ders.: Zwischen Identität und Authentizität. Zur politischen Geschichte der Denkmalpflege in Deutschland. (Dissertation der TU Berlin.) Thelem Verlag, Dresden 2008, ISBN 978-3-939888-41-3, S. 243–248, academia.edu
- Tanja Seeböck: Verlust: Die Gaststätte „Ahornblatt“. In: dies.: Schwünge in Beton. Die Schalenbauten von Ulrich Müther. Thomas Helms Verlag, Schwerin 2016, ISBN 978-3-944033-02-0, S. 12 f.; 213–233, Inhaltsverzeichnis.
Film
Bearbeiten- Für den Schwung sind Sie zuständig. Dokumentarfilm, Deutschland, 58 min, Produktionsjahr: 2002, Erscheinungsjahr: 2006, Buch und Regie: Margarete Fuchs.[28][29]
Die Dokumentation erhielt den Dokumentarfilmpreis des Goethe-Instituts 2003[30] und enthält Archivaufnahmen vom Bau des Ahornblatts.
Weblinks
Bearbeiten- Ahornblatt, Berlin, 1973. In: TU Cottbus, 2011, mit Bilderstrecke.
- Kathrin Chod, Herbert Schwenk, Hainer Weisspflug: Ahornblatt. In: Hans-Jürgen Mende, Kurt Wernicke (Hrsg.): Berliner Bezirkslexikon, Mitte. Luisenstädtischer Bildungsverein. Haude und Spener / Edition Luisenstadt, Berlin 2003, ISBN 3-89542-111-1 (luise-berlin.de – Stand 7. Oktober 2009).
- Berliner Barbarei: Heute ist Stadttrauertag. In: exportabel, 19. Juli 2018.
- Mitte: ein „verschollener Ort“ – das „Ahornblatt“ auf der Fischerinsel. In: Clemens Kurz: Stadtspaziergänge, 11. Januar 2016.
- Das „Ahornblatt“ – Wahrzeichen der Fischerinsel. 10. März 2000, von der Anwohnerin Anne Schäfer-Junker.
Bilder
- Gaststätte „Ahornblatt“, Berlin, 1969/1970. In: Müther-Archiv, Wismar
- Berlin in historischen Aufnahmen. Die skandalöse Geschichte des Ahornblattes. In: Berliner Zeitung, 13. April 2017, registrierungspflichtig, (nur Text.)
- Architektur der Nachkriegszeit in Gefahr. ( vom 20. November 2016 im Webarchiv archive.today). In: Die Welt, 29. August 2007, vier Bilder.
- Grundriss in Christian Welzbacher: Heute die Fischerinsel, morgen die ganze Stadt. Berlins Lieblingsbeschäftigung: Jede Generation zerstört die Architektur der Vergangenheit und baut sich eine neue Welt. (PDF) In: FAZ, 29. Juli 2000, Artikelanfang.
- Video: Archivaufnahmen vom Aufbau und Abriss. 6:27 min.
Einzelnachweise
Bearbeiten- ↑ Tanja Seeböck: Verlust: Die Gaststätte „Ahornblatt“. ISBN 978-3-944033-02-0, S. 218.
- ↑ Tanja Seeböck: Verlust: Die Gaststätte „Ahornblatt“. S. 213.
- ↑ a b ULRICH GUTMAIR: Ein Haus für alle. In: Die Tageszeitung: taz. 24. Januar 2015, ISSN 0931-9085, S. 29–31 (taz.de [abgerufen am 14. April 2024]).
- ↑ Michael Falser: Zwischen Identität und Authentizität. 2008, S. 244.
- ↑ Kathrin Chod, Herbert Schwenk, Hainer Weisspflug: Ahornblatt. In: Hans-Jürgen Mende, Kurt Wernicke (Hrsg.): Berliner Bezirkslexikon, Mitte. Luisenstädtischer Bildungsverein. Haude und Spener / Edition Luisenstadt, Berlin 2003, ISBN 3-89542-111-1 (luise-berlin.de – Stand 7. Oktober 2009).
- ↑ ND-Archiv: 21.08.1973: Fischerinsel hat jetzt ihr Einkaufszentrum. Abgerufen am 14. April 2024.
- ↑ Tanja Seeböck: Verlust: Die Gaststätte „Ahornblatt“, S. 80.
- ↑ Projekte. Abgerufen am 14. April 2024.
- ↑ a b Tanja Seeböck: Verlust: Die Gaststätte „Ahornblatt“, S. 214.
- ↑ Joachim Schulz, Werner Gräbner: Berlin. Hauptstadt der DDR. Architekturführer DDR. VEB Verlag für Bauwesen, Berlin 1974, S. 87.
- ↑ a b c Tanja Seeböck: Verlust: Die Gaststätte „Ahornblatt“, S. 219.
- ↑ Jörg Haspel: Auf den Flügeln des Fortschritts? Eine Betonschale in Berlin. 1996, S. 66.
- ↑ ND-Archiv: 19.07.1973: Gaststätte „Ahomblatt" auf der Fischerinsel. Abgerufen am 14. April 2024.
- ↑ Gaststätte Ahornblatt – Rockinberlin. Abgerufen am 14. April 2024.
- ↑ Joachim Nawrocki: Appell an die Gemeinsamkeit. In: Die Zeit. 23. März 1990, ISSN 0044-2070 (zeit.de [abgerufen am 14. April 2024]).
- ↑ Das Ahornblatt bzw. Exit. In: Tanithblog. 27. Dezember 2009, archiviert vom ; abgerufen am 14. April 2024.
- ↑ a b apu: Chronik: Ahornblatt. ( vom 16. April 2018 im Webarchiv archive.today). In: Berliner Morgenpost, 21. November 2002.
- ↑ Michael Falser: Zwischen Identität und Authentizität. 2008, S. 245 f.
- ↑ BauNetz: „Ahornblatt muss erhalten werden“ - Fachleute einstimmig gegen Abriss eines modernen Baudenkmals in Berlin. 22. Januar 2000, abgerufen am 14. April 2024.
- ↑ JÖRN DARGEL: ahornblatt: Die Chance nutzen. In: Die Tageszeitung: taz. 18. Juli 2000, ISSN 0931-9085, S. 19 (taz.de [abgerufen am 14. April 2024]).
- ↑ Gestern begann der Abriss des berühmten Schalenbaus / Investor lehnte erneute Änderung des Projektes Fischerinsel ab: Das Ahornblatt wird Opfer der Berliner Stadtplaner. 19. Juli 2000, abgerufen am 14. April 2024.
- ↑ „Kein aufgemotztes Stück Stadt“: Grundsteinlegung für Novotel. In: Berliner Morgenpost, 22. Mai 2001: „Für den Architekten Gernot Nalbach, der ursprünglich ein Hochhaus neben das wegen seines Daches berühmte Ahornblatt setzen wollte …“
- ↑ Michael Falser: Zwischen Identität und Authentizität. 2008, S. 246, Fußnote 479.
- ↑ Michael Falser: Zwischen Identität und Authentizität. 2008, S. 246, mit Fotomontage (Abb. 88).
- ↑ apu: Mitte: Häuserblock statt Ahornblatt. ( vom 15. April 2018 im Webarchiv archive.today) In: Berliner Morgenpost, 21. November 2002.
- ↑ a b c Nach der Utopie - brand eins online. Abgerufen am 14. April 2024.
- ↑ BauNetz: Baukunst statt Plattenbau - Müther-Ausstellung in Templin. 8. November 2006, abgerufen am 14. April 2024.
- ↑ Schwungkunst in Betonschalen. ( vom 1. Juli 2013 im Webarchiv archive.today) In: infomedia-sh.de, 14. Juni 2013.
- ↑ Für den Schwung sind Sie zuständig. Abgerufen am 14. April 2024.
- ↑ Dokumentarfilmpreis des Goethe-Instituts 2003. ( vom 11. Juni 2011 im Internet Archive). In: Goethe-Institut.