Jürgen Habermas Der Interkulturelle Diskurs Über Menschenrechte

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Jürgen Habermas
Der interkulturelle Diskurs
über Menschenrechte

Die Menschenrechte tragen ein Janus gesicht, das gleichzeitig A~r


Moral und dem Recht zugewandt ist. Ungeachtet ihres morali-
schen Inhalts haben sie die Form juristischer Rechte. Sie beziehen
sich wie moralische Normen auf alles, »was Menschenantlitz
trägt«, aber als juristische Normen schützen sie einzelne Personen
nur insoweit, wie sie einer bestimmten Rechtsgemeinschaft ange-
hören - in der Regel die Bürger eines Nationalstaates, Die Men-
schenrechte treten in der Form subjektiver Rechte auf und garan-
tieren FreiheitsspieIräume, innerhalb deren sich niemand für sein
Tun und Lassen öffentlich rechtfertigen muß. Anders als in der
Moral.hesteht hier kein Vorrang der Pflichten vor cl,en Rechten.
w~ä sich Rechtspflichten ~rstaus der wechselseitigen Begrenzung
von berechtigten Freiheiten ergehen, ~~t allemal von Menschen-
rechten und nicht von Menschenpflichten dieRede.
Da Menschenrechte nur im Rahmen einer staatlichen Ordnung als
'einklagbare Bürgerrecht,e »realisien~( werden können, sind sie auf
den WiHen eines politischen Gesetzgebers angewiesen; da sie aber
zugleich ein demokratisches Gemeinwesen erst begründen, kann
auch ein souveräner Gesetzgeber über diese Grundnormen nicht
beliebig verfügen. Daranerkennt man den inneren Zusammen-
, hang von Rechtsstaat und Demokratie, der die Unteilbarkeit von
liberalen und politischen Grundrechten erklärt. Das Bild von Kern
und Schale ist irreführ·end. Normativ betrachtet, kann es gleiche
Freiheitsrechte für privatautonome GeseHschaftsbürger nicht ge-
ben ohne jene Kom.munikations- und Teilnahmerechte, die gleich-
zeitig die politische Autonomie der Staatsbürger konstituieren.

Die Tendenz zur Globalisierung

»Normativ betrachtet ... « ist eine verräterische Floskel. Es besteht


ja eine eigenartige Spannung zwischen dem universalen Sinn der
Menschenrechte und den lokalen Bedingungen ihrer Verwirkli-

216
chung: sie sollen für alle Personen unbeschränkt Gehung erlangen.
Nun kann man sich eine globale Ausbreitung der Menschenrechte
50' vorstellen, daß sich aUe bestehenden Staaten in demokr~t:ische
Rechtsstaat,en verwane cl 1n, wa"h ren cl'Jeeill
d· E'lfl.Z e ·lnen
. .zugleIch
. Al das .
' " .. ,Vf hl . kommt Eine terna-
Re,cht auf eIne.· Nationahtat sel.n.er wa zu . l·b· ." l' h .al·s
. cl ß . cl . tte ,ar. nam lC'1· n t
tive könnte dann bestehen, a. Je er unml· .. "
W'eltbürger in den effektiven Genuß der M. eo.· sehen. rechte geha g.
W'. . ' . . .' . M henrec tser-
So etwa verweIst Artikel 28 der AllgemeInen ensc. . . cl.
klärung der Vereinten Nationen auf eine globate Ord~un?, »ln . er
die in dieser Erklärung festgelegten Rechte und Freihelte? voll-
ständig realisiert w·erden«. Aber auch dieses Zid eines wuksam
institutionalisierten Wehbürgerrechts liegt in weiter Ferne.
Im Übergang von einer nationalstaadichen zu einer kosmopoliti-
schen Ordnung weiß man nicht genau, was gefährlicher ist: .die
. untergehende Welt souveräner Völkerrechtssubjekte" die ihre Un-
, schuld längst verloren haben, oder die unklare Gemengelage
supra~ati~naler Einri~htung~? und Konferenzen, ?ie fragwürdi.ge
Legiuma.t1onen ..ausl,elhen konnen, aber. nach WIe vn,r auf ~en
gute~ WIl1~~ mac.htlg~r St~aten und A~haI1zen angewlesen ..sln~.
In dIeser lab11en SItUatIOn bIeten zwar dIe Menschenrechte fur dIe
Politik der Völkergemeinschaft die einzige, ihrem Wortlaut nach
von allen anerkannte Legitimationsgrundlag,e; aber inzwischen
hat sich der Streit um die richtige Interpretation ihres Wortlauts
verschärft.

Der Diskurs des Westens mit sich selbs,t

Von eigenen Trad~tionen Ahstandzu gewinnen und einge-


schränk~e Perspektlv~n zu erweitern,. g,ehört zu den Vorzügen
des okZldenta~en ~atlonalismus. Die Geschichte der Interpreta-
tion und Verwu-khchung, von Menschenrechten ist die 'Geschichte
ein~r solchen De.zentrierung unserer Sichtweise. Die angeblich
gleIchen Rechte SInd auf unterdrückte, marginalisierte und ausge-
5
schlos s ne Grup~'en erst nach und nach ausg,edehnt worden. Erst
nach za~en polItischen Kämpfen sind auch Arbeiter; Frauen ~nd
Jud,en, ZIgeuner, Sch,;ule und Asylanten als »Menschen« mit An-
spruch auf vol.te '~lelchbehandlung anerkannt worden. Die ein-
zelnen la.ssen rückbliclr·end .. ·h d." .cl.
. .h Emanzlpatlonsschübe
F k' aue· le L eo-
..1i.

logIsc e un tlon erkennen . ".die _. . . c enree h.·


dl' e Mens h'. ,te b··tS d..a.m
h- .

217
erfüllt hatten.} edesmal hatte der egalitäre ~nspruch auf allgemeine
Geltung und Ei'nbeziehung auch dazu gedient, die faktische Un-
gleichbehandlung der stillschweigend Ausgeschlossenen zu ver-
schleiern. Das hat den Verdacht geweckt, daß die Menschenrechte
in dieser Funktion aufgehen könnten. Haben sie nicht immer als
Schild einer falschen Allgemeinheit gedient - einer imaginären
Menschheit,. hinter der ein imperialistischer Westen seine Eigenart
und sein eigenes Interesse verstecken konnte?
Bei uns wird, im Anschluß an Heidegger und earl Schmitt, diese
Hermeneutik des Verdachts in einer vernunftkritischen und einer
machtkritischen Lesart praktiziert. Nach der ersten Versi9.n~~t_die
Idee der Menschenrechte Ausdruck einer 'iffiPlatonismus wur-
~e1nden, spezifisch abendländischen Vernunft. Diese setzt sich
mit einem'»abstraktiven FehlSehluß~< über die Schranken dieses
Entstehungskontextes und damit über die bloß lokale Geltung
ihrer vermeintlich universalen Maßstäbe hinweg. Allen Tradi tio-
nen, Weltbildern oder Kulturen sollen je eigene,.'l.ll"l4,_?w..(~J·~."tn­
kommensurable Maßsiähe'füi' Wahres, \.(nd.'··F:~lsc:.hes,~eingeschrie~
ben~-S-ein~·-Die'ser·-eineDri·ehden Vernl.lnftkritik entgeht freilich die
eigentümliche Selbsthezüglichkeit, die die Diskurse der Aufklä-
rung auszeichnet. Auch der Menschenrechtsdiskurs ist darauf
angelegt, allen Stimmen Gehör zu verschaffen. Deshalb schießt
er selbst die Standards vnr, in deren Licht noch die lat,enten
Verstöße gegen den eigenen Anspruch entdeckt und korrigiert
werden können. [Lutz Wingert hat das den »detektivischen Zug~(
des Menschenr,echtsdiskurses genannt (FR,~. 6,.8.96)]: Menschen-
rechte, die die Einbeziehung des Anderen fordern, funktionieren
zugleich als Sensoren für die in ihrem N am,en praktizierten A us-
grenzungen.
I
"
'Die Variante der Macht~ri~ik verfährt etwas p~umper. Auch sie
d,ementiert jeden A~spruch auf universale Geltung mit dem Hin-
weis auf den genetischen Vorrang einer verhohlenen Partikularität.
Aber diesmal genügt ein reduktionistischer Kunstgriff. Angeblich
können sich in der normativen Sprache des Rechts nichts anderes
als die faktischen Machtansprüche politischer Selbstbehauptung
spiegeln; deshalb sOoll sich hinter universalen Rechtsansprüchen
regelmäßig der partikulare Durchsetzungswille eines hestimmten
Kollektivs verbeigen. -Aher glückliChere Nationen haben schon im
i 8. Jahrhundert gelernt, wie die schiere Macht durch legitimes
Recht domestiziert werden kann. »Wer Menschheit sagt, lügt« _

218
dieses vertraute Stück deutscher Ideologie v,errät nur einen Mangd
an historischer Erfahrung.
Westliche InteHektuelle sollten ihren Diskurs über ihre eigenen
eurozentrischen Befangenheiten nicht mit den Debatten verwech-
seln, die andere mit ihnen führ·en. Gewiß, auch im interkulturellen
Diskurs begegnen uns Argumente, die die Wortführer der anderen
einer europäischen Vernunft- und Machtkritik entlehnt haben, um
zu zeigen, daß die Geltung der Menschenrechte dem europäischen
Entstehungszusammenh~ngtrotz aHem'ver:haftetbleibt.,Aber jene
Krit:iker des Westens, die ihr Selbstbewußtsein aus eigenen Tradi-
tionen ziehen, verwerfen die Menschenrechte keineswegs!I1
Bausch und Bogen. Denn heute sind andere Kulturen und Welt-
religionen den Herausforderungen der gesellschaftlichen Moderne I
auf ähnliche Weise ausgesetzt wie seinerzeit Europa, als ,es die ';,
Menschenrechte und den demokratischen Verfassungsstaat in ge-(
wisser Weise erfunden hat. , ",.-'
Ich werde. im folgenden die apologeti.sche RoHe ,eines westlichen
Teilnehmers am interkulturelIen Menschenrechts.diskurs einneh-
men und dabei v~~' de'; Hypothese ausg~he~','daß sich jene Stan-
dards weniger dem besonderen kulturellen Hintergrund der
abendländischen Zivilisation als dem Versuch verdanken, _€luf spe-
zifische Hera~sfordefUlng~n ~iner inzwischen global ausgebr'eiq;-
ten geseHschafdichen Moderne 'zu antworten. Diese modernen
Ausgangshedingungen mögen wir so oder so bewerten, aber für
uns heute stellen sie ein Faktum dar,. das uns keine Wahl läßt und
deshalb einer retrospektiven Rechtfertigung weder bedarf,. noch
fahig ist. I~ Streit um dieangemesse;ne Interpre,~~~to[}q~rJvl~"n­
s~henrechte geht es nicht um die Wünschbarkeit der »modern
candition«, sondern um eine Interpretation der Menschenrechte,
die der modernen Weltaucha.us der Sicht anderer Ku1ture."!~gerecht ,
wird. Die Kontroverse dreht sich vor aHem um den Individualis-
. -~.,.,.-.'!j-"""'oj!,,,,,,,,,,,,,,~

mus und den säkularen Charakter von Menschenr,echte1'l die im


< " , " . " ' ' " " ,',' ... 'C'" .. , '" " '" .' ,

Begriff der Autonomie zentriert sind. ''


Der Diskurs der anderen mit uns:
»Asiatische Werte«

Seit der Verlautbarung der Regierung von Singapur über »Shared


Values« (199 I) und der von Singapur, Malaysia, Taiwan und China
gemeinsam abgegebenen Erklärung von Bangkok (1993) ist, wie
sich auf der Wiener Menschenrechtskonferenz gezeigt hat, eine
Debatte in Gang gekommen, in der sich die strategischen Äuß·e-
rungen der Regierungsvertreter mit Beiträgen oppositioneller und
unabhängiger Intellektueller teils verbinden, teils überschneiden.
Die Einwände richten sich im wesentlichen g~gen den individua-
listischen Zuschnitt der Menschenrechte. Die Kritik,. die sich auf
e.inheimische!>.Wc,::Jte~( konfuzianisch geprägter fernbstlicher_Kul-
turen beruft, geht in drei Richtungen. Sie steIlt{l) de-n prinzipiellen
V<?rrang. de~ Re~h~e vor Pflichten in Frage, bringt (2) eine he-
stimmte,. ~ommunitaristische »Rangordnung« der Menschen-
rechte ins Spiel und heklagt (3) die Qegativen Auswirkungen einer
,"!

., individualistischen Rechtsordnung auf den sozialen Zusammen-


.-·halt des Gemeinwesens.
(I) Kern der Debatte ist die These, daß die alten Kulturen Asiens
(wie auch die Stammeskulturen Afrikas)! der Gemeinschaft Vor-
rang vor·den Individuen einräumen und eine scharfe T.reDPung von
~echt und Ethik nicht kennen. Das pol~!i~c..h·~c,G~~~.~~w~sen sei
traditionell erweise eher ~~.~r~flicht.en·--als über Rechte integriert
worden. D'ie politische Ethik kenne keine subjektiven Rechte,
sondern nur Rechte, die den Individuen verliehen sind. Da~,.g~:
meinschafrsbezoge.ne, tief in der jeweiligen Tradition veranken.e
Ethos, das ~0!l den Individuen Ein- und Unterordnung verl_angt,

I V gl. die parallele Stellungnahme des nigerianischen Politologen Claude


Ake, »The African Context of Human Rights«, Africa Taday 34, 19 87,
S. 5: » The idea of human rights, or legal rights in general, presupposes a
society which is atomized and individualistic, a society of endemi,c
conflict. It presupposes Cl society of people conscious of their seperated-
ness <lnd their particular interests and anxious to realize them ... We put
less emphasis on the individual and more on the coHectivity,. we do not
allow that the individual has any claims which may override that of the
society. Weassume harmony, not divergence of interests, competition
and conflict; we are more inclined to think of our obligations to other
members of Dur society rather than of our claims against them.«

220
sei deshalb upyereinbarmit dem. indiyi~ualis~ischen,.Rechtsver­
ständnis des We·s-t,~~~.2 ..... -. -.-.. .
'Mir scheint, daß die Debatte mit dieser Bezugnahme auf kulturelle
Differ,enzen eine falsche Richtung nimmt. Gewiß läßt sich aus der
Form des modernen Rechts auf dessen Funktion schli,eß.en. Sub-
jektive Rechte sind eine Art Schutzhülle für die private Lebens-
führung der einzelnen Person, aber in doppelter Hinsicht: es
schützt nicht weniger die gewissenhaft.e Verfolgung eines ethi-
schen Lebens,entwurfs wie eine von moralischen Rücksichten frei-
gesetzte Orientierung an je eigenen Präferenzen. Diese Rechts-
form paß,! zu den Funktionserfordernissen von Wirtschaftsgesell-
schaften, die auf dezentralisierte Entscheidungen zahlreicher
unabhängiger Aktoren angewiesen sind. Aber auch die ,asiatischen
Gesellschaften setzen im Rahmen eines globalisierten Wirtschafts-
verkehrs das positive Recht als Steuerungsmedium ein. Sie tun dies
auS d.enselben funktionalen Gründen, aus denen sich diese Form
des Rechts einst im Okzident gegen ältere korporative Formen der
Vergesellschaftung durchgesetzt hatte. Rechtssicherheit ist zum i
Beispiel eine notwendige Bedingung für ,einen auf Berechenbar- i.i
'j
I
keit, Zurechenbarkeit und Vertrauen'sschutz angewi,csenen Ver-
kehr. Deshalb stellt sich die entscheidende Alternative gar nicht :\
auf der kulturellen, sondern auf der sozioökonomischen Ebene. I
/Die asiatischen Gesellschaften können sich nicht auf eine kapi~~~ \
:listische Moderniserung einlassen,. ohne die Leistungen einer in- :l
dividualistischen Rechtsordnung 1n Anspruch zu nehmen. Mal1__~.J
kann nicht das eine woUen und das andere lassen. Aus Sicht der:
asiatischen Länder ist die Frage nicht, ob die M,enschenrechte als'
Teil einer individualistischen Rechtsordnung mit eigenen kultu-
rellen Überlieferungen vereinbar sind,. sondern ob die überliefer-
ten Formen der politischen und gesellschaftlichen Integration an;
die schwer abweis baren Imperative einer insgesamt bejahten wirt- .
schaftlichen Modernisierungangepaßt werden müssen oder gegen'
sie behauptet werden können.
(2) Nun werden diese VQIb..~h~Jle.,g~g~n.9~n.. ':t.tE~E~i~~h~~Jndivi­
d~alismus oft gar nicht in normativer, sondern in strategischer
Absicht geäußert. Die strategische Absicht läß,t sich daran erken-
nen, daß die Argumente im Zusammenhang mit der politischen

Yash Ghai, ~Human Rights and Governance: The Asia Debate«, Center
.2
, for Asian Pacific AI/airs,. Nov. I 99!1t, S. 1-19.

221
Rechtfertigung des mehr oder weniger »weichen<{ Autoritarismus
von Entwicklungsdiktaturen stehen. Das gilt insbesondere für den
,Streit über die Rangordnung der Menschenrechte. Die Regierun-
. gen von Singapur, Malaysia, Taiwan und China pflegen ihre von
westlicher Seite inkriminierten Verstöße gegen Justizgrundrechte
und politische Bürgerrechte mit einem »Vorrang« sozialer und
I",. kultureUer Grundrechte zu rechtfertigen. Sie sehen sich durch
dis - offenbar kollektiv verstandene - »Recht auf wirtschaftliche
\ Entwicklung« d'~~~~ut~~l~~~;t', d~,~"Yen.virklichung 1iberalerfr~i­
:" heits- und poli~ischer Teilnahmer~chte solang,e »aufzy.schi~l~.~n«,
\' bIs das Land einen ökonomischen E'ötwicklungsstand ,erreicht hat,
; , d~r e~,erlaubt, die materiellen Gt1J.~~bedürft:lisse de~ ~ev()ll<erung
.~ gleichmäßigzu befriedig,en. Für eine Bevölkerung im Elend seien
\~echtsgl~ichheit und Meinungsfreihe.~teben nicht so relevant wie
,die AUSSIcht auf bessere Lebensumstande.
'Ganz so umstandslos lassen sich funktionale Argumente nicht in
normative ummünzen. Gewiß, für die langfristige Durchsetzung
von Menschenrechten sind einige Umstände förderlicher als an-
dere. Das rechtfertigt jedoch nicht ein autoritäres Entwicklungs-
modell, wonach die Freiheit des Einzelnen dem paternalistisch
:" wahrgenommen~n und definierten »Wohl der Gemein~chaft«un­
tergeordnet ist . ..In,Wahrheit~verteidigen diese Regierungen gar
keine Individualrechte, sündern eine paternalistische Fürsorge,
die ihnen erlauben süU, die im Westen als klassisch betrachteten
Rechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit, auf umfassen-
den individuellen Rechtsschutz und Gleichbehandlung, auf Glau-
, bens-, Assoziations- und Redefreiheit einzuschränken. Normativ
'betrachtet, ist eine )vorrangige« Berücksichtigung sozialer und
,kultureller Grundrechte' schon deshalb unsinnig, weil diese nur
dazu dienen, den »fairen Wert« (Rawls), das heißt die tatsächlichen
Voraussetzungen für eine chancengleiche Nutzung jener liberalen
und politischen Grundrechte zu sichern.)
(3) Mit den heiden genannten Argumenten verbindet sich oft eine
Kritik an den vermuteten Auswirkungen einer individualistischen
Re,chtsordnung, die die Integrität der gewachsenen Lebensord-
nungen von Familie, Nachbarschaft und Politik zu gefährden
scheint. Eine Rechtsordnung, die die Individuen mit einklagbar,en

3 Vgl. meine Auseinandersetzung mit Günther Fran kenberg in: H aberrnas


( ] 99 5), S. 382 ff.

222

~.....
,Iil1,'&
. . . ._ _ _- - -
·77 TTwr
subjektiven Rechten ausstattet, sei auf Konflikt angelegt und wi-
derstreite daher der Konsensorientierung der einheimischen Kul-
tur. Es empfiehlt sich, die prinzipielle Lesart dieser Kritik von einer
politischen zu unterscheiden.
In prinzipieller Hinsicht steht hinter dem Vorbehalt die berech-
tigte Kritik an einem in der Lockeschen Tradition verwurz·elten
Verständnis subjektiver Rechte, das vom heute herrschenden Neo-
liberalismus erneuert worden ist. Dieser possessive Individualis-
muS verkennt, daß einklagbare individuelle Rechtsansprüche nur
aus vorgängig, und zwar intersubjektiv anerkannten Normen einer
Rechtsgemeinschaft abgeleitet werden können. Gewiß gehören
subjektive Rechte zur Ausstattung einzelner Rechtspersonen;
aber der Status von Rechtspersonen als Träger solcher subjektiven
Rechte bildet sich nur im Kontext einer Rechtsgemeinschaft, die
auf der gegenseitigen Anerkennung ft-eiwiUig assoziierter Mitgli,~~.
der beruht. Deshalb muß das Verständnis der Menschenrechte'
vom metaphysischen Ballast der Annahme eines vor aller Verge-
seHschaftung gegebenen Individuums, das mit angeborenen Rech-
ten gleichsam auf die Welt kommt, befreit werden. Mit dieser,~
»westlichen« These entfällt aber auch die Notwendigkeit einer
»~:~!~i~h~~_<~_,_!\~~~~~,~~_~~ ._:'Y(?,:n~~~h_. g~~_. . AD~ptii:~.h~n" d.~r._l\~c:.h_~~g~
~einschaft Vc:>rr,aI?:g yo~ i~dividueHen R,ec~t_s.~~sprüc_h~~, g,~!?~~E~,'
Die Alternative zwischen ';>IiidiV:idiialisten« und »KoUektivisten«
wird gegenstandslos, wenn man di,e gegen~äufige Einheit von 10-
dividuierungs- und Vergesdlschaftungsprozessen in die Grund~.
begriffe des Rechts aufnimmt. Weil auch Rechtspersonen nur auf \
dem ~:.g.e d-er :Vergesellschaftung individ~iert :rerden, k~nn die!
Integntat der eInzelnen Person nur zugleIch mIt dem freien Zu- "
gang zu jenen interpersonalen Beziehungen und zu den kultureHen l
Überlieferungen geschützt werden, in denen diese ihr,e Identität)
aufrechterhalten kann. Der richtig verstandene Individualismus ist,
ohne diesen Schuß von» Kommunitarismus« unvollständig. _.J
In pohtischer HiI?sicht steht hingegen der Einwand gegen die
desint,egrativen Auswirkungen des modernen Rechts auf schwa-
chen Füß·en. Die Prozesse einer in diesen Ländern ebenso be-
- -- - -

schleunigten wie gewaltsamen ökonomischen und gesellschaftli-


chen Modernisierung dürfen nicht mit rechtlichen Formen ver-
wechselt werden, in denen sich Entwurzelung, Ausbeutung und
Mißbrauch administrativer Gewalt voUzi,ehen. Gegen die tatsäch-
licheOppression von Entwicklungsdiktaturen haft nur eine Ver-

223
1

1
rechtlichung der Politik. Die Integrationsprobleme, die aUe hoch-
___ komplexen Gesellschaften zu bewältigen haben, lassen sich freilich 1
~ mit Mitteln des modernen Rechts nur dann lösen, wenn mit Hilfe
1
legitimen Rechts jene abstrakte Form von staatsbürgerlicher Soli~
darität erzeugt wird, die mit der Verwirklichung von Grundrech- 1
ten steht und fäUt. 4
1

1
Die Herausforderung des Fundamentalismus
1
Der Angriff auf den Individualismus der Menschenrecht,e richtet
1
sich gegen einen Aspekt des ihnen zugrundeliegenden Begriffs von
Autonomie, nämlich die Freiheiten, die den privaten Bürgern 1
gegenüber den Staatsapparaten und gegenüber Dritten garantiert
wird, Aber die Bürger sind in einem politischen Sinne erst dann 1
autonom,. wenn sie sich ihre Gesetze selber geben. Das Moden der
1
verfassungsgebenden Versammlung stellt die Weichen für eine
: - konstruktivistische Auffassung der grundlegenden Rechte. Kant 1
begreift Autonomie als die Fähigkeit, den eigenen Willen annor- ~.
mative, aus dem öffentlichen Vernunftgebrauch resultierende Ein- 1

sichten zu binden. Diese l~~e. d~r Selbstgesetzgebung inspiriert


1
·auch das Verfahren einer demokratischen Willensbildung, mit dem
politische Herrschaft auf eine weltanschaulich.neutraJeGrundlage 1
~er Legitimation umgestellt werden kann. S~e Il1achteine religiöse
oder metaphysische Begründung von Menschenrechtenüberflüs_ 1

. sig. Insofern ist die Säkularisierung der Politik nur die Kehrseite 1
der politischen Autonomie der Bürger.
Die europäische Menschenrechtskonzeption bietet den Wortfüh- 1
rern anderer Kulturen nicht nur mit dem einen Aspekt der Auto-
1
nomie - dem individualistischen Zuschnitt subjektiver Rechte _
eine Angriffsfläche, sondern ebenso mit dem anderen Aspekt - der 1
Säkularisierung einer von religiösen und kosmologischen Welt-
1
4 Ghai (1994),] 0: »Governments have destroyed many communities in th .
name of development or state stability, and the consistent refusal of tnos: 1

of the~ to recognize t~at thereare indige.nous~~oples among their


1
populatIOn who have a. nght to preserve the1f tradluonal culture eca _
omy and beliefs, is but a demonstration of their lack of commit~ent n 1
the r:al con:munity. The ;itality of the community comes frorn t~~
exerClse of nghts to orgamze, meet, debate, and protest, dismissed as 1
>liberal< rights by these governments.«
1

224
1

1
bildern entkoppelten politischen Herrschaft. Aus der Sicht eines __~_
fundamentalistisch verstandenen lslams, Christentums oder Juda-
ismus ist der eigene \y'a"~Eb"~!~,~~~~p.!_1::1~g~.~.Q~_~l!:l.! auch in deIn Sinne,
daß er erforderlichenfalls mit Mitteln poHtis,eher Gewalt durch-
g~~etzt ~u w-ef~en -ve~d~iel~t.~-Diese Auffassu-ng hat Fölgert für de'n
exklusiven Charakter des Gemeinwesens; religiöse oder weltan-
schauliche Legitimationen dieser Art sind "~ii"iivereinbar-m]t~ der
gle{chh~~~ht~'gte-ri- Inklusion Andersgl~b~-g~f-~~d~'r.'An(fe~sa~ti:."..-,/
c • ..u . . . c ~ • - ••

ger.
AUein, nicht nur für Fundamentalisten bedeutet eine profane
Legitimation durch Menschenrechte, also die _Entkoppelung der
Politik _von göttlicher Autorität,eine aufreizena-e-~He:rausförde­
r~ng~Au~h~ndi~~h~' i~-tellektueUe) wie zum Beispiel Ashis N andy,
schreiben »antisäkularistische Mariifeste«.5 Sie erwarten die gegen-
seitige Tolerierung und Befruchtung islamischer und hinduisti-
scher Glaubenskulturen eher von einer wechselseitigen Verschrän-
kung der beiden religiösen Wahrnehmungsweisen als von der
we.h.aJ1g:J)aulichen ..~~utraiität des Staates. Sie sind skeptisch ge-
genüber einer erklärte~"p-olitisa~en-Neutralität, die nur die Reli-
gion in ihrer öffentlichen B,edeutung neutralisiert. In solchen
Überlegungen verquickt sich freilich die normative Frage, wie
eine gemeinsame Grundlage für das gerechte politische Zusam-
menleben gefunden werden kann, mit einer empirischen Frag'c. D'l,e
Ausdifferenzierung ej.:9:cr, Y<?ffi, ,Sta.at get~~l!:n-,tenreli,giQs.enSphäre
mag den Einfluß privatisierter Glaubensmäehte tatsächlich schwä-
chenj, aber das Toleranzpfinzip selbst richtet sich nicht gegen ,di~
Authentizität und den Wahrheitsanspruchreligiöser Bekenntnisse
und Lebensformen, es soll aUein deren gleichberechtigte Koexi-,
stenz innerhalb desselben politischen Gemeinwesens ermögH- :,
ehen.
Der Kern der Kontroverse kann nicht als StreitÜber die Relevanz,
die verschiedene Kulturen jeweils der Religion zubilligen, be-
schrieben werden. Die Konzeption der Mensehenrecht,e war die
Antwort auf ein Problem, vor dem heute andere Kulturen in
ähnlicher Weise stehen wie seinerzeit Europa, als es die politischen
Folgen der Konfessionsspaltung üherwinden mußte. D'~r Konflikt ... ·...'~·r-?.~-.;-"o:--.·~ .. '- -" '~"'"

5 Partha Chatterjee, »Secularism and Toleration«, Economic and Political


WeeklJl, July 9', 1994, S. 1768 - 1 776; Rajeev Bhargava, »Giving Secularism
its Due«, Economic and Poütical Weekly, July 9, 19'94, S. 1984-19'91.

225
der Kulturen selbst findet heute ohnehin im Rahmen einer Welt-
gesellschaft statt, in der sich die kollektiven Aktaren ungeachtet
ihrer verschiedenen kulturdlen Traditionen wohl oder übel auf
Normen des Zusammenlebens einigen müssen. D,enn die autarke
Abschirmung gegen Einflüsse von außen ist in der heutigen Welt-
lage keine Option mehr. Aber der weltanschauliche Pluralismus
bricht auch im Inneren jener, noch von starken Traditionen be-
stimmten Gesellschaften auf.
," Selbst in kulturen vergleichsweise homogenen Gesellschaften wird
eine reflexive Umformung herrschender dogmatischer Überliefe-
rungen, die mit Ausschließlichkeitsanspruch auftreten, immer un-
ausweichlicher. 6 Das Bewußtsein,. daß die jeweils eigenen religiö-
, sen »Wahrheiten« mit öffentlich anerkanntem profanem Wissen in
Übereinstimmung gebracht und gegen andere religiöse Wahrheits-
ansprüche innerhalb desselben Diskursuniversums verteidigt wer~
den müssen, wächst zunächst in den intellektuellen Schichten. Wie
""das Christentum seit der Konfessionsspaltung, so wandeln sich
unter dem Reflexionsdruck der modernen Lebensumstände über-
, haupt dietr~aiii6rialen W~lthiJder i-n »reason~ble compr~hensive
doctrines«. So bezeichnet Rawls ein reflexiv gt;'I:':.,2r9$!Jl.es..:ethisches
Welt- und Selbstver~tändnis, das s'prerr~~~'läßt für die vernünfti-
gerweise zu erwartenden Dissense mit anderen Glaubensüberzeu-
gungen, mit denen jedoch eine Verständigung ü~'er Regeln der
,gleichberechtigten Koexistenz möglich ist?" ,
Meine apologetischen Überlegungen stellen den westlichen Legi-
timationstypus als eine Antwort auf allgemeine Herausforderun-
gen dar, denen heute nicht mehr nur die westliche Zivilisation
ausgesetzt ist. Das besagt, natürli~h nicht,. daß di~ 1\l1l~On" -die
der Westengefunden hat, die einzig,e oder gar diebest,e,ist. Insofern
bedeutet die gegenwärtige Debatte für uns eine Chance, uns 'über
unsere blinden Flecken aufklären zu lassen. Schon die hermeneu-
tische Reflexion auf die Ausgangslage eines Men~fhenrechtsdis­
kurses zwischen Teilnehmern verschiedener ku[tureUer Herkunft
macht uns 'auf 'normative Gehalte aufmerksam,dieirJ;den stiÜ-
sch:veigenden Präsuppositionen eines ieden auf Verständigung
abZIelenden Diskurses enthalten sind. Unabhängig vom kulturel-

6 H. H?ihraaten, »Secular Society«, in: T. Lindholm, K. Vogt (Eds.)"


Islamzc Law Reform and Human Rights, Oslo,. 1993, S. 2P-257'
7 J. Rawls, Political Liber:alism, N. Y. I993.

226
len Hintergrund wissen nämlich alle Beteiligten intuitiv recht gut,
da~ ein auf Überzeugung. beruhender~ Kon"s~n..s ni~h.t~~~t~lJ.l4~
kommeilI{änn~--solang-e '"nichi'" symmetrische ' Bezi~ll~l}g~,n. '. 2;yvj-
schen'J'en Ko.il1mlniikati'önst;eilnehrne~'i;-'bes·t~h'~;-":' Bezieh~ngen
'der' gegenseitigen Anerkennung, der wechselseitigenPerspekti,-
venubernahme, der gerneinsam unterstellten Berei~schaft, die' ei-
genen Traditionen auch mit den Augen eines Fremden zu betrach-
ten, voneinander zu lernen usw. Auf dieser Grundlage lassen sich
n~cht nur selektive Lesarten, tendenziöse Auslegungen und bor-
nierte Anwendungen von Menschenrechten kritisieren, sondern
auch jene schamlosen Instrumentalisierungen der Menschenrechte
für eine universalistische Verschleierung partikularer Interessen,
die zu der falschen Annahme verleiten, daß sich der Sinn der
Menschen:echte in ihrem Mißbrauch erschöpfe.

227

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