Facharbeit TP11 Helene Pfeiffer
Facharbeit TP11 Helene Pfeiffer
Facharbeit TP11 Helene Pfeiffer
Ja – ja – ja – ja – ja!
Eingereicht am 13.09.2021
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Inhaltsangabe Seite
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„Rhythmus ist nicht alles, aber ohne Rhythmus ist alles nichts“ 1
I. Einleitung
Rhythmus in all seinen vielfältigen Erscheinungsformen begleitet uns alle täglich. Für mich als
Musikerin spielt er darüber hinaus eine zentrale Rolle, und er wurde mir von Haus aus mehr oder
weniger in die Wiege gelegt. Als Erzieherin und Chorleiterin habe ich jedoch festgestellt, dass nicht
alle einen selbstverständlichen Zugang zu einem rhythmischen Taktgefühl haben. Was ich jedoch
gleichzeitig festgestellt habe, war, dass ein gemeinsamer Rhythmus immer eine gruppenbildende
und begeisternde Wirkung hatte, und dass er erlernbar ist.
Seit meiner Weiterbildung in Theaterpädagogik und auch während meines Praktikums habe ich
beobachten können, dass Rhythmus fast allgegenwärtig ist – er kommt in der ein oder anderen
Form in jeder theaterpädagogischen Einheit vor. Und wenn er in einer Einheit tatsächlich nicht
vorkam, fehlte etwas. Besonders im Praktikum fiel mir auf, dass rhythmische Spiele und Übungen
eine besondere Dynamik entstehen lassen, und viele Kinder wollten bestimmte rhythmische
Übungen immer wieder machen. Diese Beobachtung hat mich dazu gebracht, diesem
Zusammenhang näher auf den Grund zu gehen, und genauer zu betrachten, was es mit dem
Rhythmus auf sich hat und warum er aus der Theaterpädagogik nicht wegzudenken ist.
Da Theaterpädagogen nicht unbedingt rhythmisch oder musikalisch begabt sein müssen, und die
Scheu, bestimmte rhythmische Übungen anzuwenden, durchaus bei dem einen oder der anderen
vorhanden sein kann, soll diese Arbeit motivieren, hemmungslos viele einfache rhythmische
Übungen mit in die Arbeit einzubauen. Sie soll auch gewissen Vorurteilen gegenüber simpel und
banal erscheinenden Übungen entgegenwirken, die teilweise vielleicht an Kindergarten erinnern.
Ich bin überzeugt, dass die Wirkung eines gemeinsamen Rhythmus, sei er auch noch so einfach,
nicht zu unterschätzen ist, und ich werde versuchen, in dieser Arbeit die Gründe dafür zu suchen
und aufzuzeigen.
Im Folgenden möchte ich also genauer untersuchen, wo die Gemeinsamkeiten in den Zielen des
Rhythmischen Prinzips und der Theaterpädagogik liegen, in welchen Wirkungsbereichen sie sich
ergänzen und in welchen Methoden der Theaterpädagogik die ein oder andere Form von
Rhythmus konkret zu finden oder auch immanent notwendig ist.
Ich werde im Hauptteil zunächst die Begriffe definieren, dann die gemeinsamen Wirkungsbereiche,
1 Oertel, Michael, Konieczny, Lars: Rhythmus ist nicht alles, aber ohne Rhythmus ist alles nichts. In: Resonanz .
Rhythmus – Synchronisierung. Bielefeld 2017. S.145
3
die Rhythmus und Theaterpädagogik gleichermaßen teilen, untersuchen, und zuletzt praktische
Übungen und Methoden der TP aufzeigen, die ohne Rhythmus nicht auskommen würden. Dieser
Aufbau soll eine klare Übersicht geben, ohne zu tief in die jeweiligen Details der beiden Bereiche
einzusteigen.
Als ich begann, die Gliederung zu schreiben, wurde mir klar, wie komplex und verwirrend die
Begriffe Rhythmus, Rhythmik, Rhythmisches Prinzip und Rhythmische Erziehung sind. Um diese
Begriffe genauer abzugrenzen, werde ich gleich im ersten Kapitel genauer auf deren Unterschiede
eingehen.
Als Literaturquelle für den Rhythmus-Teil habe ich vor allem verschiedene Bücher über Rhythmus
und auch Rhythmik benutzt, da nur ein einziges Buch über das Rhythmische Prinzip zu finden war
– daher sehr oft herangezogen wird. Für die Theaterpädagogik standen mir vor allem das
Wörterbuch der Theaterpädagogik und die Lektionen 5 zur Seite, aber auch Bücher von Maike
Plath, Augusto Boal und Literatur über Chorisches Theater enthielten hilfreiche Informationen.
II Hauptteil
1.1. Rhythmus
Der Begriff „Rhythmus“ umfasst ein so weites Feld an Bedeutungen, dass ich im folgenden Katpiel
zunächst eine kleine Übersicht geben werde.
Die ganze Welt ist mehr oder weniger einem oder mehreren Rhythmen unterworfen; jeder Mensch
weiß, dass Rhythmus im Leben in der einen oder anderen Form eine große Rolle spielt.
C. Bresgen erläutert in seinem Buch „Im Anfang war der Rhythmus“, dass Rhythmus von dem
griechischen „rhein“ abstamme, was fließen/strömen bedeute. Rhythmus sei die Grundlage
unserer Existenz, von Pulssschlag, Atmung, über Tag und Nacht-Wechsel bis zu den
Jahreszeiten.2
Andererseits schreibt Roswitha Heimann in ihrem Buch von zwei verschiedenen Herleitungen,
beide aus dem Griechischen: außer der oben genannten gäbe es noch das Verb „schützen,
abwehren“. Kunsthistoriker und Etymologen seien sich uneinig darüber, von welchem Wort unser
heutiger Begriff nun tatsächlich stamme 3.
Interessant daran ist, dass Rhythmus beide Aspekte in sich hat: den aktiven, abwehrenden, und
den passiv fließenden.
Es überrascht also nicht, dass es etliche Theorien, Lehren und ganze Lebensphilosophien gibt, die
2 Vgl. Bresgen, Cesar: Im Anfang war der Rhythmus... Amsterdam 1977, S.7
3 Vgl. Heimann, Roswitha: der Rhythmus und seine Bedeutung für die Heilpädagogik. Stuttgart 1989, S.32-33
4
sich mit dem Rhythmus beschäftigen. In ihrem Buch schreibt Barbara Naumann, dass laut Novalis
alle Methode Rhythmus sei.4 Des weiteren solle Nietzsche „die Kraft des Rhythmus in den
Künsten, aber auch in der Philosophie für so wirkungsmächtig“ halten, „daß er ihr einen direkten
Einfluß auf den Wahrheitsanspruch des Denkens“ zuspräche. 5
Dass Rhythmus untrennbar mit Bewegung gekoppelt ist, habe Nietzsche ebenfalls aufgezeigt,
indem er in diesem Zusammenhang die „Abhängigkeit des Denkens vom Leibe“ immer wieder
betonte.6
So ist auch die biologische und physiologische Bedeutung des Rhythmus ein weites Feld, auf das
ich hier aber nicht weiter eingehen werde, da ich mich in dieser Arbeit mehr mit dem Phänomen
des Rhythmus in Bezug auf Theaterarbeit, Gruppenanleitung und die pädagogische Bedeutung
konzentrieren werde.
4 Vgl. Naumann, Barbara: Vom Unbehagen am Rhythmus. In: Rhythmus. Spuren eines Wechselspiels in Künsten und
Wissenschaft. Würzburg 2005, S. 7
5 Naumann: Rhythmus, S.8
6 Naumann: Rhythmus. S. 9
7 Vgl. Hoellering, Amélie: zur Theorie und Praxis der rhythmischen Erziehung. Berlin 1979, S. 1
8 Frohne, Isabelle: Das Rhyhtmische Prinzip. Lilienthal/Bremen, 1981, S. 13
9 Vgl. Lorenz, Karl: Wege nach Hellerau. Auf den Spuren der Rhythmik. Dresden 1994, S.7
10 Vgl. Bünner, Gertrud/Röthig, Peter: Grundlagen und Methoden rhythmischer Erziehung. Stuttgart 1975, S.48-49
5
Schulung und Ausdruckstanz entwickelt habe. 11
Je nach Anwendungsbereich und Fachrichtung gibt es viele unterschiedliche Definitionen von
Rhythmik – ebenso unterschiedlich sind auch die Ausbildungsinhalte oder Studiengänge.
In München kann man eine völlig andere Art Rhythmik lernen als in Berlin. Daher ist eine allgemein
eindeutige, systematische Definition kaum möglich. Frohne sagt dazu, dass der Ausgangspunkt
einer Theorie daher das Rhythmische Prinzip sein müsse, „welches die Grundlage aller Ansätze“
darstelle12 , und welches ich im Folgenden Abschnitt genauer beschreiben werde.
„Ein Vorgehen nach dem Rhythmischen Prinzip ist – wie ich zeigen werde – multimodal
und multimedial. Es beinhaltet sowohl allgemeinpädagogische, heilpädagogische und
therapeutische Verfahren als auch musikalische, bewegungs- und körperbezogene,
darstellerische, bildnerische und sprachliche Inhalte.“ 14
Aus diesem Satz lässt sich bereits die Schnittstelle mit der Theaterpädagogik erahnen; das
Rhythmische Prinzip beschreibt demnach auch all das, was in den verschiedenen pädagogischen
Bereichen in irgendeiner Weise den Einbezug des Körpers und dessen vielfältige Arten der
Kommunikation berücksichtigt. Die Theaterarbeit beinhaltet neben diesen bewegungs- und
körperbezogenen Aspekten auch darstellerische und sprachliche Inhalte. Diese deutliche
Verbindung werde ich in dieser Arbeit herausarbeiten.
Um Missverständnissen vorzubeugen, möchte ich darauf hinweisen, dass ich im Folgenden mit
allen drei oben aufgeführten Begriffen arbeiten werde. Da es zum Rhythmischen Prinzip nur eine
ausführliche Quelle gibt, zum Rhythmus und Rhythmik dagegen unzählige, werde ich auch diese
Begriffe mitberücksichtigen. Für die Leser*innen ist es hilfreich, im Hinterkopf zu behalten, dass es
hier zwar Unterschiede gibt, diese aber für meine Untersuchung nicht relevant sind.
6
Im zweiten Kapitel zeige ich auf, wie viele Gemeinsamkeiten und Parallelen in den
Wirkungsbereichen und Zielen des Rhythmischen Prinzips und der Theaterpädagogik vorhanden
sind.
2.1. Körperbewusstsein
Alle Literatur über Rhythmus ist sich einig, dass Rhythmus untrennbar mit Bewegung und damit
mit dem Körper verbunden ist.
Ebenso spielt bei der Theaterpädagogik der Körper als unser aktives handelndes Objekt die
zentrale Rolle. Da dieses große Thema viele Bereiche umfasst, werde ich es nochmal in folgende
drei Teilbereiche eingrenzen:
2.1.1. Bewegung
Bedenkt man, dass die eine Richtung der Rhythmik-Bewegung im Ausdruckstanz von Rudolf von
Laban endete, der in der Theaterpädagogik ebenfalls gelehrt wird, dann sieht man hier bereits eine
klare Verbindung; die Grundlage von Labans Bewegungssystem ist das Verhältnis von Körper und
Raum. Vor der Zeit des körperfeindlichen Mittelalters gehe man davon aus, dass es diese
Trennung zwischen Schauspiel, Tanz und Gesang nicht gab, schreibt V. Jurké; und erst zu Beginn
des 20.Jh kämen Körper und Bewegung wieder ins Spiel. 16
Bei der rhythmischen Erziehung und den Disziplinen des Rhythmischen Prinzips ist Bewegung die
Grundlage für alles. Elfriede Feudel, eine damalige Schülerin von Dalcroze, sieht in der Bewegung
„das unentbehrliche Mittel (…), den Menschen mit sich selbst und seiner Umwelt zu verbinden“,
15 Vgl. Lang, Thomas: Interest me! Theaterpädagogische Projektarbeit und die „interessierte Öffentlichkeit“. In:
Nix/Sachser/Streisand (Hg.): Lektionen 5. Theaterpädagogik. Berlin 2012, S.161
16 Vgl. Jurké, Volker: Körper- und Bewegungsstudium. In: Koch, Streisand (Hg.): Wörterbuch der Theaterpädagogik.
Uckerland, 2003. S.161
7
und sie stellt klar, dass die damalige Erziehung diesen Zusammenhang nicht kannte, und „fast
ausschließlich das Lernen an Gedächtnis und Nachahmung“ bände, „dafür den dritten großen
Lernweg außer acht läßt (…), der über die Erfahrung geht und die Sinnestätigkeit dazu“ brauche
(Feudel 1980, S.12).
Hier zeigt sich eine deutliche Parallele zur Theaterpädagogik, die ebenfalls neben anderen Zielen
die große Motivation hat, Schüler*innen mit Hilfe erfahrungsbasierten Methoden zu bilden. Hierbei
steht die Einbeziehung des Körpers und Bewegung im Vordergrund. Augusto Boal beschreibt ein
ganzes Kapitel voller Rhythmus-Übungen und -Spiele, wobei erstere das Ziel hätten, den eigenen
Körper in all seinen Facetten kennenzulernen, und letzteres, um mit einem Partner den Körper als
Sendungs- und Empfangsinstrument zu erfahren. 17 Für die Theaterpädagogik ist daher eine
weitgefächerte Bewegungserziehung in der Ausbildung enthalten, um den Lernenden diverse
Techniken für ihre körperliche Ausdrucksfähigkeit an die Hand zu geben; die Biomechanik von
Meyerhold, Brechts Gestisches Prinzip und Stanislawkis Physische Handlung sind drei
weiterentwickelte Methoden, die verschiedene Zugänge zu Schauspiel und Theaterästhetik über
Bewegung ermöglichen.18
2.1.2. Körperwahrnehmung
Um sich eingehend mit Bewegung und Körper beschäftigen zu können, braucht es eine bewusste
Körperwahrnehmung – das bedeutet, wirklich im Körper anzukommen und ihn zu spüren. Wie
bereits im Rhythmischen Prinzip beschrieben, geht es dabei darum, das Körperbewusstsein zu
schulen; Rhythmus in verschiedener Form wie beispielsweise von Body-Percussion oder
rhythmischen Bewegungen zwingt uns, unsere Bewegungsabfolgen zu koordinieren und zu
trainieren. Diese Gleichzeitigkeit und Ganzheitlichkeit der Aktion ist im theatralen Agieren ebenfalls
notwendig, wenn auf Sprache, Mimik, Blickrichtung und Körperhaltung zugleich geachtet werden
muss. Im Körper- und Bewegungsstudium sollen somit für Theaterschaffende auf der Basis von
Körper-Bewegungsbewusstsein schauspielerische Kompetenzen durch körperliche
Ausdrucksweisen gefördert werden.19
Ulrike Hentschel weist auf den notwendigen bewussten Umgang mit dem eigenen Körper für
theatrale gestalterische Prozesse hin, und wie durch die über körperliche Erfahrung gewonnene
Selbstreflexion auch soziale, gesellschaftliche Prozesse als veränderbar wahrgenommen werden
können. Der Körper sei an sich konstruierbar und neutral 20.
Der eigene Körper, die Bewegungen, Timing und Körperwahrnehmung sind also für beide
Disziplinen eine Voraussetzung; und sobald es über den eigenen Körper hinausgeht, kommt die
17 Vgl. Boal, Augusto: Übungen und Spiele für Schauspieler und Nicht-Schauspieler. Berlin 2018, S.121
18 Vgl. Jurké: Bewegungserziehung. In: Wörterbucht der Theaterpädagogik. S.45
19 Vgl. Jurké: Körper-und Bewegungsstudium. In. Wörterbucht der TP. S.161
20 Vgl. Hentschel, Ulrike: Theaterspielen als ästhetische Bildung. In:Nix, Sachser, Streisand: Lektionen 5
Theaterpädagogik. Berlin 2012. S.67
8
Interaktion mit einem anderen Körper, was im nächsten Unterkapitel beschrieben wird.
9
2.3.1. Selbst-und Fremdwahrnehmung
I. Frohne unterscheidet bei rhythmisch-musiktherapeutischen Erfahrungsfeldern nach Innen- und
Außenerfahrungen. Zum „Innenfeld“ zählt sie u.a. die Sensibilisierung: die Wahrnehmungsfähigkeit
in Bezug auf die eigene Person, andere Menschen, Materialien/Raum, Farben, und die Sinne
werden sensibilisiert. 24
Diese Präsenz im Raum und in der Gruppe ist für die Theaterarbeit Voraussetzung, und daher
immer ein großes Ziel der Theaterpädagogik. Maike Plath führt an, dass durch Spiele und
Übungen „zu Konzentration, Sensibilisierung, Körpersprache und Atmung“ die Bühnenpräsenz
erprobt und geübt werde. 25
Hier können sich rhythmische Spiele und theatrale Übungen wunderbar ergänzen, um Sinne,
Wachheit und Ankommen im Raum zu ermöglichen.
10
2.4. Struktur und Ordnung
Struktur, Disziplin und Festhalten sind genauso Teil des Lebens wie Loslassen, Intuition und
Chaos. Der Rhythmus hat von seinem Prinzip her beide Pole in sich – und in diesem Wechselspiel
entsteht wiederum eine ordnendes Prinzip. F. Zarrin beschreibt einen endogenen und exogenen
Rhythmus im biologischen: der erste stehe für das Fließende, letzterer für das Ordnende und
Maßgebende. 27
P. Kamps beschreibt, dass Rhythmus die Koordination verschiedenster Elemente ordne, wie z.B.
Bewegungen „von Schritten, Gesten, Silben oder Tönen“, und durch diese Wechselwirkung
entstehe eine rhythmische Wahrnehmung. 28 Unser Körper ordne und strukturiere die in ihm
geschehenden Prozesse, was Kamps bzw. der von ihm zitierte Risi als Grundlage sieht, weshalb
Wahrnehmende „in ein produktives Verhältnis zu den wahrgenommenen Rhythmen“ z.B. einer
Aufführung treten könnten. Er beschreibt Rhythmus als das organisatorische und strukturierende
Prinzip von Zeit in der Postdramatik, und empfiehlt eine genaue Untersuchung darüber, wie
Rhythmus theatrale Mittel und die Beziehung von Spielern und Zuschauern beeinflusse. 29
Damit ist auch die performative Seite der Theaterpädagogik zum ordnenden Prinzip des Rhythmus
angesprochen. Doch auch in der Methodik und Didaktik gibt es klare Strukturen, an die sich
Theaterpädagog*innen orientieren können, und ohne die die Theaterpädagogik unübersichtlich
und unverständlich in ihrer Intention werden würde. Ohne Ordnung und Struktur wäre sowohl jeder
theaterpädagogische Workshop für Teilnehmende unübersichtlich und chaotisch, als auch
Inszenierungen für Zuschauende kein Genuss. Stückentwicklung, Proben, Ablauf – all das braucht
einen ordnenden Rhythmus, um produktiv und nachvollziehbar zu sein. Schließlich brauche jede
Art von Kunst Disziplin, meint Royston Maldoom, und er warnt davor, deren Wert zu
unterschätzen. 30 Denn was Kunst vor allem ausmacht, ist der Ästhetische Wert, den wir ihr geben
– womit wir beim nächsten Unterkapitel angekommen wären.
2.5. Ästhetik
Ästhetische Bildung ist ein sehr weites Feld, und ich werde nur ausgewählte Definitionen
beschreiben, die gleichermaßen für Rhythmus und die pädagogische Theaterarbeit eine Rolle
spielen.
Das Wort „Ästhetik“ kommt aus dem Griechischen und bedeutet „sinnliche Wahrnehmung“. U.
Hentschel beschreibt, dass bereits F.Schiller die Aufgabe der Auseinandersetzung mit Kunst darin
sah, „Sinnlichkeit und Vernunft“ zu vereinen, so dass ein harmonischer, dritter Zustand entstehe;
es gehe dabei jedoch nicht um einen utopischen Wunsch-Zustand, sondern letztlich um die
27 Zarrin, Fariba: Erziehung zur interkulturellen Kompetenz durch Rhythmik, Tanz und Musik. Farnkfurt am Main
2006. S.104.
28 Kamps, Philipp: Wahrnehmung, Ereignis, Materialität. Bielefeld 2018, S. 204
29 Kamps, Wahrnehmung, Ereignis, Materialität, S. 206-207
30 Vgl. Maldoom, Royston:Versteck dich nicht! In: Nix, Sachser, Streisand, Lektionen 5. S. 201
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Selbstermächtigung des Menschen durch eigenes Tun. 31 Und der Urvater der Rhythmik selbst,
Jaques-Dalroze, schreibt in seinem Buch, wie wichtig es sei, beim Schüler den „Wunsch nach
persönlichem Ausdruck“ zu erwecken und wachzuhalten. Alle überlieferten Regeln und Formeln
seien nichts wert, „wenn sie nicht das künstlerische Gefühl, die Liebe zum Schönen, sie erst mit
Leben“ erfülle.32
Diese „schöpferische Einbildungskraft“, wie Dalcroze sie beschreibt, könnte man heute mit dem
Ästhetischem Wert oder der Aleatorik vergleichen. In der Theaterpädagogik ist dieser offene,
improvisierende Moment Voraussetzung, um Blockaden zu überwinden und ins spielerische, freie
und produktive Interagieren zu kommen. Es gehe grundsätzlich darum, ohne zu viel eigenes Ego
in ein absichtsloses, phantasievolles und experimentierfreudiges Tun zu kommen.33
Dieser unbewusste Gestaltungsprozess ist für beide Disziplinen unverzichtbar, wenn es zu einem
Gefühl von Flow und „ekstatischem“ Moment kommen soll.
Dieses selbstvergessene Tun im gegenwärtigen Augenblick wird im nächsten Unterkapitel noch
näher beleuchtet.
12
sei.36 Diese Beschreibung ähnelt sehr stark der Definition des von Rainer Flatischler geprägten
Begriffs der „Pulsation“, in dem es von der Annahme auftauchenden Frusts über Herausforderung
bis hin zur Hingabe an den Moment gehe.37
Es geht also in beiden Bereichen darum, etwas aktiv zu entscheiden, zu tun, Herausforderungen
anzunehmen, aus Comfort-Zonen und einschränkender Subjektivität auszutreten und sich zu
zeigen - mit der Belohnung eines Flow-Erlebnisses bis hin zu Ekstase, in der laut Röthig eine Kraft
frei wird, die im Normalzustand nicht erlebt würde. 38
Ich könnte hier noch an weitere Parallelen anknüpfen, die mit diesen Wirkungsfeldern im
Zusammenhang stehen, wie z.B. Kreativität, die Ganzheitlichkeit oder Persönlichkeitsentwicklung;
doch habe ich mich für ein letztes Merkmal entschieden, das eine etwas andere Seite beleuchtet:
den gesellschaftskritischen Aspekt und das letztlich große Ziel hinter der pädagogischen Idee
beider Bildungsbereiche.
13
eine wirkliche demokratische Führung ermöglichen.44 Die Brechtschen Lehrstücke sollen zu
Selbstreflexion und Auseinandersetzung mit Gewalt und deren Sensibilisierung verhelfen 45, und
damit gesellschaftliche Strukturen verändern. G. Czerny schreibt, dass Theaterspielen an unser
soziales Verantwortungsbewusstsein appelliere, und dass theaterpädagogische Arbeit u.a. das
Sozialverhalten und die Fähigkeit zur Selbstreflexion stärke. 46
Sowohl die Theaterpädagogik als auch die Rhythmik haben also den ganzen Menschen in Bezug
auf die Gesellschaft im Blick; auch wenn sie teils unterschiedliche Wege nehmen, wollen sie doch
beide diesen in seiner Persönlichkeit zu Selbstbestimmung, persönlicher Entfaltung,
Mitbestimmung und Verantwortung erziehen.
Mit diesen aufgeführten Parallelen soll aufgezeigt werden, wie viele Gemeinsamkeiten und
Verwandtschaften zwischen Rhythmus/Rhythmischer Erziehung und Theaterpädagogik bestehen.
Dabei wurden einige Themen weggelassen, wie Ausgleich, Harmonie, Kreativität und
Ganzheitlichkeit. Doch um einen Einblick in die Verschmelzungen dieser beiden Bereiche zu
bekommen, dürften die aufgeführten Punkte ausreichen.
Im Folgenden möchte ich nun näher auf die Bereiche der Theaterpädagogik eingehen, in denen
das Rhythmische Prinzip versteckt oder offensichtlich schon vorhanden ist; diese Beschreibungen
sollen auch gleichzeitig Anregungen und Inspirationen sein, um mehr Rhythmus in die
Theaterarbeit zu integrieren.
In unserer Vollzeit-Weiterbildung habe ich eine Vielzahl an Übungen und Methoden erlernt, von
denen viele – wahrscheinlich ein Großteil – eng mit einem Rhythmischen Aspekt verbunden sind.
Ich werde nun im Folgenden versuchen, die Theaterpädagogik aus der Sicht des Rhythmischen
Prinzips in verschiedene Bereiche einzuteilen, um einen gewissen Überblick zu geben.
Dazu werde ich zuerst auf einige Methoden, insbesondere auch auf das Chorische Theater,
danach auf die Struktur einer Spieleinheit, und zum Schluss noch auf den performativen Teil
eingehen.
44 Vgl. Plath, Maike: Befreit euch. Anleitung zur kleinen Bildungsrevolution. Norderstedt 2017. S. 29, 31 – 34.
45 Steinweg, Reiner: Lehrstückspiel als Gegenstand der Friedensforschung. In: Lektionen 5. S. 111-115
46 Czenry, G: Theaterpädagogik. S.18+19
14
3.1.1. Rhythmische Impulsspiele
Unter rhythmischen Impulsspielen möchte ich zwei „Prototypen“ aufführen, in denen der Rhythmus
zur Grundlage gehört. Alle diese Spiele haben viele unterschiedliche Namen, daher werde ich für
die hier gewählten Namen kurz den Inhalt beschreiben und anschließend die Parallele zu den
oben gewonnenen Ergebnissen ziehen. Prinzipiell dienen diese Spiele für mehr Energie,
Gruppengefühl und Aufmerksamkeit.
II) Klatschkreis: ein Händeklatschen wird in eine oder beide Richtungen im Kreis herumgeschickt.
Dabei gibt es verschiedene Schwierigkeitsstufen: von einfachem Klatschen über sprachliche
Begleitung in Form von „hep“ oder „zip“ oder „hey ja“, bis hin zu Richtungswechseln, quer durch
den Raum, Platzwechseln u.a.
→ Dieser „Klassiker“ ist erst dann wirklich ein Erfolgserlebnis für die Gruppe, wenn ein
gemeinsamer Rhythmus entsteht. Dabei sind ebenfalls Koordination und Konzentration gefragt,
vor allem aber Interaktion und schnelles Reagieren auf die anderen. Hier ist es daher wichtig, nicht
zu hochschwellig zu beginnen, also die Herausforderung nicht zu hoch anzusetzen, damit alle in
den Flow kommen können. Wenn es regelmäßig gespielt wird, bekommt die Gruppe Übung darin
und wird genauer und schneller; es kann ein Erfolgserlebnis wie nach einem gelungenen Team-
Spiel entstehen.
Dieses Spiel kann in endlosen Varianten gespielt werden. Es können auch Wörter oder Laute
weitergegeben werden, mit oder ohne Klatschen, was das deutliche Sprechen und genaue
Abnehmen trainiert; je nach Thema für die spätere Theaterarbeit kann dieses Spiel adaptiert
werden. Für Schüler*innen bietet sich an, eigene Regeln und Formen erfinden zu lassen, was
Phantasie und Selbstwirksamkeit fördert.
Alle anderen Kreis-und Impulsspiele, die ich in der Weiterbildung oder im Praktikum kennenlernte,
verfolgen mehr oder weniger dasselbe Prinzip. Hier noch eine Reihe weiterer Spiele und Übungen,
die gleichermaßen Körperpräsenz, Interaktion und Energie fördern:
„Präse-Vize“; „Banny, Banny“; Namensspiele mit Ball oder Platzwechsel; „Heiter scheitern“ (bis 7
15
zählen); Warm-ups wie „1,2,3,4,5,6,7“ oder „Schüttel schüttel“.
3.1.3. Raumlauf
Vielleicht könnte man im ersten Moment meinen, dass ein Raumlauf nicht viel mit Rhythmus zu tun
hat. Doch bei näherem Hinsehen findet sich das Rhythmische Prinzip in vielfältiger Weise: das
gemeinsame Gehen erfordert einen wachen Bezug zum eigenen Geh-Rhythmus und die
Interaktion mit dem Geh-Rhythmus der anderen. Wenn Musik abgespielt wird, muss der eigene
Rhythmus in Bezug zur Musik gefunden werden. Schneller oder langsamer zu laufen bringt einen
neuen Rhythmus in den Körper und es kann selbst experimentiert werden, wie es sich anfühlt,
andere Rhythmen aufzugreifen und auszuprobieren.
Dabei geht es auch viel um Kommunikation jeglicher Art: schaue ich andere an? Oder bin ganz bei
mir? Wie verändert sich der Raumlauf, wenn ich mit anderen Blickkontakt aufnehme oder gar
etwas zurufe?
Ordnung und Struktur sind hier ebenfalls ein wichtiger Punkt: wie schafft man es, eine Ordnung in
einen ungeordneten Raumlauf zu bringen?
Viele Grundprinzipien des Rhythmischen Prinzips wie Selbstbestimmung und Anpassung,
Wahrnehmung und Bewegung, Raum und Zeit sind in einem Raumlauf mit inbegriffen.
Es ist empfehlenswert, Raumläufe ganz ohne Musik zu machen, und dann nach und nach sehr
unterschiedliche Musik dazu zu spielen.
Eine sehr schöne Übung für das intuitive Gruppengefühl ist, gemeinsam stehenzubleiben und
gemeinsam wieder weiterzugehen. Hier muss der gemeinsame Rhythmus gefunden werden, der
im folgenden Abschnitt ebenfalls eine große Rolle spielt.
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nicht gleich offensichtlich wird, es dennoch eine große Rolle spielt.
I) „Intuitiver Zählkreis“
Hier wird eine Gruppe im Kreis sitzend oder stehend aufgefordert, gemeinsam, jedoch
nacheinander bis 20 (oder je nach Niveau nur 15 oder auch 30) zu zählen. Sobald zwei Personen
gleichzeitig sprechen, muss von vorne angefangen werden.
Je länger sich eine Gruppe kennt, desto besser funktioniert es in der Regel. Es kann jedoch auch
bei ganz neuen Gruppen funktionieren, je nachdem, wie gut sie sich auf den gemeinsamen
Rhythmus einlassen können. Dieser gemeinsame Rhythmus ist hier das entscheidende, denn es
geht nicht um den eigenen oder den eines anderen, sondern wirklich um den, der alle verbindet.
Ich würde das gerne mit David Bohms Theorie der impliziten Ordnung vergleichen, die auch der
Idee des Dialogs zugrunde liegt und davon ausgeht, dass wir alle Teil eines größeren Ganzen sind.
Es geht nicht mehr um das Individuum, was immer nur einzelne bruchstückhafte Bereiche davon
wahrnehmen kann, sondern um das, was das gemeinsame Ganze unter den meist kontroversen
und konflikthaften Bedürfnissen ist. 47
Diese Methode gibt es in vielfältiger Weise und ist wie eine sprachlose Übersetzung dessen, was
Bohm mit dem Dialog anstrebte: mit einer respektierenden, zuhörenden Haltung offen zu sein und
eigene Vorurteile und Automatismen aufzudecken. Erst eine solche gemeinsame Ausrichtung kann
produktives Zusammenarbeiten ermöglichen.
Es gibt noch eine Reihe weiterer theaterpädagogischer Übungen und Methoden, die ich in diesem
Jahr kennenlernen durfte und die diesen gemeinsamen inneren Rhythmus inne haben:
II) Spiegeln
Hier ist vor allem das Gruppen-Spiegeln gemeint, bei dem in einem versetzten Vieleck immer die
eine vorne stehende Person langsame Bewegungen vormacht und die anderen sie möglichst
synchron nachmachen. Diese Übung kann mit passender Musik und Lichteffekten einen
performativen Charakter haben, in der es den Anschein hat, als wären diese Bewegungen
einstudiert. Wenn sich die Gruppe gut aufeinander einschwingt, kann es zu so einer
Gleichzeitigkeit kommen, in der eine synchrone Einheit entsteht. Resonanz, Aufmerksamkeit und
Körperbeherrschung sind hier gefragt.
47 Peuker, Sigrid: Der Dialog als Methode nach David Bohm. Aus:Berliner Forum Gewaltprävention Nr.46., S.78
17
einzuschwingen und ihr wirklich zuzuhören. 48
In einem späteren Abschnitt spricht er auch von einem „inneren Rhythmus“, und beschreibt
Übungen, in denen die im Kreis stehenden ein rhythmisches Bild der Person in der Mitte zeigen.49
Auch hier geht es vorwiegend um die Kommunikation und das Einschwingen auf andere, und
schult neben Intuition auch Fremdwahrnehmung, Aufmerksamkeit und Initiative.
Die Rhythmus-Spiele, die ich in der Weiterbildung kennenlernen konnte, beeindruckten mich vor
allem durch diese einfache Art, selbst-wirksam zu sein: eine Person im Kreis gibt einen scheinbar
unspektakulären Rhythmus vor, der eine beeindruckende Kraft und Wirkung bekommt, sobald alle
ihn aufnehmen. Somit kann die Takt-gebende Person, auch wenn sie eher schüchtern und
zurückhaltend ist, eine Erfahrung machen, in der etwas von ihr Geschaffenes zu einer kleinen
kraftvollen Performance wird. Für Menschen, die Hemmungen vor der Bühne haben, können diese
Übungen ein hilfreicher Einstieg sein, erste Erfolgserlebnisse zu erzielen und sich von einem
niederen in einen höheren Fokus zu trauen.
Auch das „Theater direkt“ hat als Grundlage dieses gemeinsame Sich-einschwingen, durch das
dann im besten Falle ein Flow gemeinsamen Erschaffens in Form einer Geschichte entsteht. Im
Grunde braucht jede gemeinsame Gruppenarbeit diesen gemeinsamen Rhythmus, ob im Theater,
der Musik oder im Sport – erst, wenn die ganze Gruppe wirklich zusammenarbeitet, wird es
erfolgreich und beflügelnd.
Eine weitere Methode, die ohne das Rhythmische Prinzip nicht denkbar wäre, ist das chorische
Theater; da es so eine wichtige Rolle im Zusammenhang mit Rhythmus einnimmt, bekommt es ein
eigenes Kapitel.
18
Mitspielenden.51 Hier zeige sich die Funktion des Rhythmus, Individuen zusammenzuführen, am
deutlichsten, schreibt Hajo Kurzenberger: aus dem Rhythmus als verbindendes Element zwischen
Individuum und Gruppe entstehe die „energeia, die Körper und Seele in Gang“ bringe.52
Durch die rhythmische Bindung zum gemeinsamen Chor-Körper entstehe eine Art
psychophysisches Feld, in dem wirkliche Begegnung überhaupt erst mögliche sei. 53
Somit bietet das Chorische Arbeiten einen wunderbaren Boden für interaktives und
kommunikatives Schaffen; die Spieler im Chor müssten „bescheiden, aufmerksam und mutig
zugleich sein“, schreibt H.V.Sommer, und er führt aus, warum es sogar von Vorteil sein kann, nicht-
professionelle*r Schauspieler*in zu sein: es geht nicht um Selbstdarstellung, dennoch ist man
gefordert, durch die eigene Leistung zum Gesamten beizutragen. 54
Diese ganzen Prozesse wären ohne den gemeinsam sich ein-schwingenden Rhythmus nicht
denkbar. H. Kurzenberger sieht daher in der Rhythmisierung die Voraussetzung für Chorische
Kunst.55
Und schließlich ist auch der gesellschaftliche Aspekt hier wiederzufinden: es gibt kaum
beeindruckendere Szenen, die das Publikum wach rütteln und ihnen Gänsehaut bescheren
können, und die so eine starke Aussagekraft vermitteln wie ein einheitlicher, kraftvoller Theater-
Chor.
Zu den zugehörigen theaterpädagogischen Übungen möchte ich vor allem auf eine Übung näher
eingehen, die Namensgeber für den Titel dieser Arbeit wurde: Ja-ja-ja-ja-ja.
Es ist eine sehr einfache Übung: alle stehen im Kreis und eine Person macht eine Aussage, wie
z.B.: „ich freue mich über die Sonne heute“. Alle anderen nehmen ihren Arm und Zeigefinger zur
Unterstützung und sagen gemeinsam laut: „ja – ja - ja - ja -ja!“
Nach und nach kommen zwei weitere Reaktionen: „ne – ne – ne – ne – ne!“ und „ui-ui-ui-ui-ui!“. Je
nachdem, wie man auf die Aussage reagieren will, wählt man eine der drei Reaktionen, bleibt aber
immer im Chor.
Diese Übung hat in der Grundschule sehr gut funktioniert und ist eine geeignete chorische Übung,
um Bewegung, Stimme und Gleichzeitigkeit zu trainieren.
Solche Übungen gibt es unglaublich viele, auch in dem Buch von H.V.Sommer sind viele Beispiele
für chorisches Arbeiten in der Praxis aufgeführt. Rhythmus-Spiele zu Beginn können ein hilfreicher
Einstieg für alle chorischen Einheiten sein.
51 Vgl. Sommer, Harald Volker: Vom Gebrauch des Chors in der Theaterpädagogik. Saarbrücken 2011. S. 36-37
52 Kurzenberger, Hajo: Der kollektive Prozess des Theaters. S.64
53 Ebd., S.65
54 Vgl. Sommer: Vom Gebrauch des Chors in der TP. S.35-36
55 Kurzenberger: Der kollektive Prozess des Theaters. S.67
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3.3. Struktureller Aufbau einer Spieleinheit
Für jede Art von theaterpädagogischem Workshop oder Angebot ist es entscheidend, einen
sinnhaften, klaren und Teilnehmer-freundlichen Ablauf und Rahmen zu setzen. Mir ist aufgefallen,
dass viele Methoden darauf ausgerichtet sind, dass ein gewisser Rhythmus eingehalten wird: ein
Ausgleich zwischen energievollen und entspannenden Elementen, zwischen Eigenarbeit und
Gruppenarbeit, zwischen niedrigschwelligen und hochschwelligen Herausforderungen usw. Das
bedeutet, dass das zentrale Element des Rhythmus, das Auf und Ab zwischen zwei Extremen
auch in der Planung und Durchführung von Spieleinheiten eine große Rolle spielt. So wie sich in
unserem Körper durch das ein Ein- und Ausatmen ein aktives und passives Geschehen vollzieht,
kann man dieses Prinzip auf alles übertragen: nach einem wilden Action-Spiel sollte etwas
ruhigeres oder kopflastiges kommen, und nach einem Tag mit mehr Theorie und Diskurs ein Tag
mit mehr Bewegung und Ausprobieren.
Natürlich gibt es immer noch viel Spielraum und Flexibilität, doch im Allgemeinen fühlen wir uns
dann gut nach einem Workshop, wenn dessen „Rhythmus“ stimmig war – auch wenn dieser nur
schwer zu greifen sei, sagt R. Heimann. Sie erklärt, dass der „Unterrichtsrhythmus“ nach
Pestalozzis Grundsatz von Kopf, Herz und Hand „einen Wechsel an vielgestaltigen
Unterrichtsgegenständen“ erfordere. Dabei solle möglichst ein Gleichgewicht zwischen kognitiven
und musischen Fächern bestehen, um die Ganzheit des Kindes zu berücksichtigen.56
Zum theatralen Schluss kommt nun – wie auch im Theater - der Bühnenakt an sich, unterteilt in
Bewegungs- und andere performative Mittel.
56 Heimann: Der Rhythmus und seine Bedeutung für die Heilpädagogik. S. 282 ff.
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Bewegungsformen kommen können.57 In der Rhythmik-Bewegung war es vor allem Rudolf von
Laban, der mithilfe von (musiklosem) Ausdruckstanz die Sinne und Wahrnehmung schulen wollte
und radikal vom Körper ausging. 58
Somit ist jede Art von Tanz- und Bewegungslehre eine Übung und Bereicherung für ein
ästhetisches Körperbewusstsein, und war es auch für mich in dieser Weiterbildung: das 9-Point-
System von Laban und andere Techniken der Tanz-und Choreografie-Arbeit, alle weiteren
Körpertechniken wie Yoga, Tai-Chi, die fünf Tibeter, Biomechanik, ecstatic dance und viele mehr. In
jeder dieser Anwendungen werden für Teilnehmende neue und unbekannte Bewegungsformen
dabei sein, die eine bildhafte Sprache erschließen können und Alternativen zur rein
naturalistischen Spielweise aufzeigen können.
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andere, neue Welt kennenlernten, „die ebenso vorhanden und wirklich, aber von ganz anderer Art
ist als die ihn umgebende Umwelt mit ihren Personen und Gegenständen, ihren Gewohnheiten,
Konventionen, Einflüssen und Möglichkeiten, die auf ihn eindringen und ihn zu überwältigen
drohen.“61 Mit der Zeit erlerne er die Gesetzmäßigkeiten und könne sich in sicherer Ruhe dieser
Entdeckungsreise hingeben. Diese Aussage würde ich ebenso auf die Theaterwelt übertragen,
denn gerade hier geht es ja um das Erschaffen einer anderen Welt, ob sie nun beobachtet oder
darin eingetaucht wird – so oder so kann sie erst dann authentisch dargestellt werden, wenn wir
mit all unseren Sinnen, nach außen und innen, präsent und bewusst damit umgehen können.
Da Rhythmus sowohl den physischen, psychischen als auch den kognitiven Bereich betrifft,
wendet sich die rhythmische Erziehung an die Ganzheit des Menschen.62
III. Fazit
Nach dieser intensiven Beschäftigung und dem Eintauchen in diese Themen habe ich im Laufe
des Schreibens oft gestaunt, wie viele Parallelen es tatsächlich zwischen diesen den Bereichen
Theater und Rhythmik gibt. Es schien kein Ende zu nehmen, als seien sie fast untrennbar
voneinander. Theaterpädagog*innen sollten meines Erachtens unbedingt motiviert werden, sich
mit Rhythmus in irgendeiner Form zu beschäftigen: alle rhythmische Übungen und Methoden sind
gute Wegbereiter und Hilfestellungen für das Hantieren mit dem Theaterhandwerk. Es hilft den
Teilnehmenden im Körper anzukommen, schafft Gemeinschaft und Interaktion, und es fördert alle
denkbaren motorischen und sinnlichen Fähigkeiten, die Voraussetzung sind, um sich in Rollen und
performative Handlungen hineinzubegeben. Nach der intensiven Auseinandersetzung mit diesem
Thema kann ich nun sehr gut nachvollziehen, wieso ich instinktiv das Gefühl hatte, dass ohne
Rhythmus etwas fehlt. Meine Behauptung, dass Rhythmus eine zentrale Rolle spielen sollte, hat
sich für mich mehr als bestätigt; ich habe sogar noch mehr als zuvor die Motivation, rhythmische
Spiele als festen Bestandteil mit einzubauen, und auf den Rhythmus in jeglicher Form zu achten.
Man könnte ihn fast wie eine Art Maßstab für das theaterpädagogische Arbeiten nehmen: wo
stimmt der Rhythmus nicht? Diese Frage hat für mich nun eine noch viel größere Bedeutung als
zuvor. Eine wichtige Erkenntnis war für mich auch, wie hilfreich rhythmische oder chorische Arbeit
für alle verschiedenen Persönlichkeits-Typen sein kann: sowohl für jene, die Probleme haben, sich
zurückzuhalten, als auch jene, die Probleme haben, sich zu zeigen. Beide werden dabei
herausgefordert sich anzupassen, einzuordnen und mit den anderen mitzuschwingen.
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Zwischendurch stellte die Weite und das Ausmaß dieses Themas eine Herausforderung dar, und
ich war teilweise überwältigt von den vielen Ebenen, von denen eine zur anderen führte und gar
kein Ende zu nehmen schien. Es war wichtig, mich in den Kapiteln zu begrenzen, auch wenn ich
dadurch nur ungern einige Aspekte außen vor lassen musste.
Im späteren Verlauf der Arbeit hatte ich zeitweise eine neue Sicht von der Rolle des Rhythmus im
Vergleich zur Theaterpädagogik bekommen: auch wenn ich hier die ganzen Parallelen und
Gemeinsamkeiten aufgezeigt habe, habe ich den Eindruck, dass die Theaterpädagogik noch einen
Schritt weiter geht als der Rhythmus: sie nimmt die Impulse und Resultate aus dem Rhythmischen
auf, geht aber noch mehr in den Geist und das Bewusstsein als der Rhythmus selbst, der mit
seiner archaischen Kraft mehr im Körperlichen bleibt; er kann zwar den Menschen zu mehr
Bewusstheit, Selbstwahrnehmung, Empowerment und Verantwortung bringen, die Theaterarbeit
knüpft jedoch durch das Einbringen der mentalen, geistigen und inhaltlichen Ebene daran an und
geht weiter in die Konsequenzen der durch den Rhythmus gewonnenen Kompetenzen. Sie schafft
eine praktischere Verbindung zum alltäglichen, psychischen und politischen Leben des Menschen,
mit all den Beziehungen, Problemen und Komplikationen. Es geht in der Theaterpädagogik nicht
mehr um den rein körperlichen, sinnlichen und intuitiven Zugang , sondern auch um das geistig
reflektierte, gesellschaftliche und das soziale Miteinander. Ich denke, dass wir mit
Theaterpädagogik unsere Beziehungen zu uns und unseren Mitmenschen untersuchen,
beleuchten und damit experimentieren können – und dass die Rhythmik hierfür die Basis ist und
sozusagen den Teppich oder das Wurzelwerk bereiten kann, worauf sich die Theaterarbeit dann
stützen kann. Ob sich dieser Eindruck bestätigt, werde ich wohl erst in Zukunft und nach viel
eigener Erfahrung sagen können.
Beide pädagogischen Mittel verfolgen schließlich dieselben Ziele, die alle kreativ-künstlerischen
Bildungsansätze verfolgen: Freude am Prozess, Offen-sein für das Unbekannte, zum Fragen
ermutigt werden, Lernen durch Spiel und Erfahrung ermöglichen, und zu sozialem statt
unhinterfragt konformem Denken anregen.63 Das bedeutet für mich auch, den Menschen zu mehr
Bewusstheit und Präsenz und damit letztlich mehr Entscheidungsfreiheit und sozialer
Verantwortung zu befähigen. Und da Augusto Boal schon so schön sagte: „menschliche Wesen
sind rhythmische Wesen“ 64, lohnt es sich in jedem Fall als Theaterschaffende*r „im Rhythmus zu
bleiben“.
63 Zarrin: Erziehung zur interkulturellen Kompetenz durch Rhythmik, Tanz und Musik. S.120.
64 Baol: Übungen für Schauspieler und Nicht-Schauspieler. S.187.
23
IV. Anhang
1. Sachbücher:
Boal, Augusto: Übungen und Spiele für Schauspieler und Nicht-Schauspieler. Berlin 2013,
3.Auflage 2016.
Bünner, Gertrud/Röthig, Peter: Grundlagen und Methoden rhythmischer Erziehung. Stuttgart 1975.
Feudel, Elfriede: Dynamische Pädagogik. Eine elementare Anleitung für rhythmische Erziehung in
der Schule. Hameln 1980.
Grillo, Rolf: Rhythmus-Spiele der Welt. Musikalische Spielmodelle für die Rhythmusarbeit in
Gruppen. Esslingen 2011.
Heimann, Roswitha: Der Rhythmus und seine Bedeutung für die Heilpädagogik. Stuttgart 1989.
Hentschel, Ulrike: Theaterspielen als ästhetische Bildung. In:Nix, Sachser, Streisand: Lektionen 5
Theaterpädagogik. Berlin 2012. S. 64-71.
Hoellering, Amélie: Zur Theorie und Praxis der rhythmischen Erziehung. Berlin 1979.
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Jurké, Volker: Bewegungserziehung. In: Wörterbucht der Theaterpädagogik. Uckerland, 2003.
S.44-46.
Jurké, Volker: Körper- und Bewegungsstudium. In: Koch, Streisand (Hg.): Wörterbuch der
Theaterpädagogik. Uckerland, 2003. S.160-162.
Kamps, Philip: Wahrnehmung Ereignis Materialität. Ein phänomenologischer Zugang für die
Theaterdidaktik. Bielefeld 2018.
Maldoom, Royston:Versteck dich nicht! In: Nix, Christoph / Sachser, Dietmar / Streisand, Marianne
(Hg.):Lektionen 5. Theaterpädagogik. Berlin 2012. S.197-204.
Naumann, Barbara: Vom Unbehagen des Rhythmus. In: Rhythmus. Spuren eines Wechselspiels
in Künsten und Wissenschaft. Würzburg 2005. S.7-13
Nibbrig, Christian Lucas Hart: Ver-rückte Augenblicke. Vom Atmen der Texte. In: Naumann,
Barbara (Hg.): Rhythmus. Spuren eines Wechselspiels in Künsten und Wissenschaft.
Würzburg 2005. S.93-107
Nix, Christoph: Theaterpädagogik oder müssen wir nicht erst einmal die herrschende Pädagogik
infrage stellen? In: Nix, Christoph / Sachser, Dietmar / Streisand, Marianne (Hg.): Lektionen
5. Theaterpädagogik. Berlin 2012. S.45-52.
Oertel, Michael, Konieczny, Lars: Rhythmus ist nicht alles, aber ohne Rhythmus ist alles nichts. In:
Breyer, Thiemo / Buchholz, Michael B. / Hamburger, Andreas / Pfänder, Stefan / Schumann, Elke
(Hg.): Resonanz – Rhythmus – Synchronisierung. Interaktion in Alltag, Therapie und
Kunst.Bielefeld 2017. S. 145-160
25
Plath, Maike: Biografisches Theater in der Schule. Mit Jugendlichen inszenieren: Darstellendes
Spiel in der Sekundarstufe. Weinheim und Basel 2009.
Plath, Maike: Befreit euch! Anleitung zur kleinen Bildungsrevolution. Norderstedt 2017.
Sachser, Dietmar: Theaterspielflow. In: Nix, Christoph / Sachser, Dietmar / Streisand, Marianne
(Hg.): Lektionen 5. Theaterpädagogik. Berlin 2012. S.82-90.
Sommer, Harald Volker: Vom Gebrauch des Chors in der Theaterpädagogik. Theorie, Geschichte
und Praxis des chorischen Prinzips. Saarbrücken 2011.
Steinweg, Reiner: Lehrstückspiel als Gegenstand der Friedensforschung. In: Christoph / Sachser,
Dietmar / Streisand, Marianne (Hg.): Lektionen 5. Theaterpädagogik. Berlin 2012. S.111-
115
2. andere Dokumente:
Peuker, Sigrid: Der Dialog als Methode nach David Bohm. Aus: Berliner Forum Gewaltprävention
Nr.46.
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PLAGIATSERKLÄRUNG
Ich versichere, dass ich die Arbeit selbstständig und nur mit den angegebenen Quellen und
Hilfsmitteln angefertigt und dass ich alle Stellen der Arbeit,
die aus anderen Werken dem Wortlaut oder dem Sinne nach entnommen sind, kenntlich gemacht
habe.
Darüber hinaus habe ich keine Arbeit mit ähnlichem Inhalt an einer anderen Stelle eingereicht.
_11.09.2021_____________________________
Datum, Unterschrift
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