Die Gartenlaube (1896)/Heft 6
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Nr. 6. | 1896. | |
Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Fata Morgana.
(5. Fortsetzung.)
Zenaide von Osmar war eine liebreizende Erscheinung, und heute, im Festschmucke, mehr als je, aber auch bei ihr zeigte sich jene eigentümliche Vermischung des Europäischen mit dem Morgenländischen, die sich in der ganzen Umgebung ausprägte. Ueber dem weißen, golddurchwirkten Kleide von halb durchsichtigem Stoff trug sie das ärmellose, orientalische Jäckchen von dunklem Sammet mit reicher Goldstickerei. Im Haar leuchtete nur eine einzige Purpurrose, ein Strauß der gleichen Blumen schmückte die Brust, aber das kostbare Geschmeide, das an Hals und Armen funkelte, verriet, daß die junge Dame die Tochter eines der reichsten Männer Kairos war.
Sie schritt langsam durch den Saal und trat bald zu dieser bald zu jener Gruppe, hier ein paar Worte, dort einen Gruß oder ein Lächeln spendend. Das zwanzigjährige Mädchen war schon die vollendete Weltdame, die mit unbedingter Sicherheit alle Formen beherrschte. Nur die Augen redeten eine andere Sprache, diese dunklen feuchten Augen, in denen etwas lag wie Sehnsucht nach einer ganz anderen Welt, als dies bunte glänzende Gewühl sie ihr darbot. Der unvermeidliche Lord Marwood war natürlich dicht neben ihr und an der andern Seite ging Lieutenant Hartley, der in sehr beredten Worten seinem Kummer über die bevorstehende Abreise Ausdruck gab, von der er erst heute erfahren hatte.
„Also unwiderruflich in der nächsten Woche? Mein gnädiges Fräulein, können Sie es wirklich verantworten, Kairo so ganz verwaist zurückzulassen?“
„Ich glaube, Kairo wird sich zu trösten wissen,“ sagte Zenaide, die zerstreut zuhörte, mit einem flüchtigen Lächeln.
„Im Gegenteil, wir hüllen uns alle in die tiefste Trauer bis zu Ihrer Wiederkehr. Nicht wahr, Francis?“
„Ich wenigstens habe keine Veranlassung dazu,“ erklärte Marwood. „Herr von Osmar war so freundlich, mich nach Luksor einzuladen. Sie sind doch davon unterrichtet, mein gnädiges Fräulein?“
„Jawohl, Papa sagte es mir gestern bei meiner Rückkehr.“
Die Antwort klang sehr kühl und die väterliche Einladung wurde von der Tochter nicht wiederholt, wie es doch wohl die Artigkeit erfordert hätte. Der junge Lord schien das nicht zu bemerken,
[86] Hartley aber rief mit komischer Entrüstung: „Natürlich, Du bist immer der Bevorzugte, Beneidenswerte! Guten Tag, Herr Ehrwald. Haben Sie es schon gehört, welcher Verlust uns allen bevorsteht? Sie bleiben ja auch noch einige Wochen in Kairo.“
„Das hat sich inzwischen geändert,“ erklärte Reinhart, der jetzt herantrat. „Unsere Abreise ist schon auf übermorgen festgesetzt, aber wir gehen einstweilen nur bis Luksor. Sonneck und Professor Leutold wollen gemeinsam die Königsgräber durchforschen.“
Ein zornerfüllter Blick, wie man ihn den matten Augen Marwoods gar nicht zugetraut hätte, traf den jungen Mann und dann wandte sich der Blick auf Zenaide. Sie sprach auch diesmal kein Wort der Zustimmung, der Einladung, aber ihre Augen strahlten in so verräterischer Glückseligkeit auf, daß Francis sich auf die Lippen biß. Hartley dagegen rief halb lachend, halb ärgerlich:
„Sie auch? Nun dann bleibt mir wahrhaftig nichts übrig, als einen Einfall der Madhisten herbeizuwünschen, damit mein Regiment schleunigst nach dem Nil kommandiert wird – selbstverständlich mit einer längeren Station in Luksor.“
Er unterbrach sich plötzlich und trat mit einer Verbeugung seitwärts, denn eben kam die Gemahlin seines Kommandanten angerauscht und nahm ihn und seinen Freund in Beschlag, zum großen Mißvergnügen dieses letzteren. Es half ihm nichts, daß er sich einer außerordentlichen Schweigsamkeit befleißigte, die Dame sprach umsomehr. Sie war weitläufig mit seiner Familie verwandt, wollte Nachrichten darüber haben und verwickelte ihn rettungslos in eine Unterhaltung, der er sich ohne direkte Unart nicht entziehen konnte. Er sah es trotzdem, daß Fräulein von Osmar im Gespräch mit Ehrwald sich dem Ausgange zuwandte und schließlich mit ihm auf die Terrasse hinaustrat.
Durch die große Mittelthür fiel ein breiter heller Lichtstreifen auf die Marmorfliesen, der übrige Teil der Terrasse lag im Halbdunkel. Im Gegensatz zu den heißen, menschenerfüllten Sälen mit ihrem grellen Lichte und ihrem glänzenden Treiben herrschte hier die vollste Stille und Einsamkeit. Dort standen Zenaide und Reinhart, zu ihren Füßen lag der Garten der Villa im nächtlichen Dunkel, aber aus diesem Dunkel stiegen süße Düfte empor und umwehten die beiden wie ferne, geheimnisvolle Grüße, über ihnen funkelte die leuchtende Sternenpracht des Nachthimmels. Aber diesmal verlor sich der Blick des jungen Mannes nicht in jene endlosen Weiten, er haftete auf der schlanken, weißen Gestalt, die dort an der Brüstung lehnte. Er hatte es ja auch gesehen, das Aufleuchten jener Augen bei der Nachricht, die ein Wiedersehen verhieß.
Sie sprachen deutsch miteinander und hatten bisher von gleichgültigen Dingen geredet, aber die Stimme Zenaidens klang gedämpft, verschleiert und der Ton Ehrwalds hatte eine eigentümliche Weichheit, die ihm sonst gar nicht eigen war.
„Lord Marwood wird Sie nach Luksor begleiten?“ fragte er.
„Wenigstens wird er uns dahin folgen. Mein Vater hat ihn eingeladen, ich –“ sie brach plötzlich ab und unterdrückte die Aeußerung, die sie schon auf den Lippen hatte.
„Sie hätten es nicht gethan?“ ergänzte Reinhart.
„Nein!“ erklärte Zenaide mit voller Bestimmtheit.
„Ich fürchte, er hat eine Ahnung davon,“ spottete der junge Mann. „Aber Seine Lordschaft besitzt die Tugend der Beharrlichkeit im höchsten Grade. Sie werden mir freilich das Gleiche vorwerfen, aber ich versichere feierlichst, daß ich unschuldig bin an dem Reiseplan, für den Professor Leutold allein verantwortlich ist, ich erfuhr erst gestern abend davon.“
„Sie verteidigen sich ja förmlich dagegen, als wenn es ein Unrecht wäre,“ sagte Zenaide lächelnd. „Warum denn?“
„Weil ich nicht auch ein unwillkommener Gast sein möchte. Die Herren werden Sie und Herrn von Osmar jedenfalls aufsuchen.“
„Gewiß, das ist doch selbstverständlich, ebenso wie unsere Freude an dem Besuch. Herr Sonneck ist ein Freund meines Vaters und steht unserem Hause sehr nahe.“
„Und ich?“
Zenaide schwieg.
„Und ich?“ wiederholte Reinhart. „Sie haben auch mir kein Wort der Zustimmung gesagt, als ich von unserem Reiseplane sprach. Ich weiß ja nicht einmal – ob ich kommen darf.“
Sie sprach auch jetzt nicht, aber in ihren Augen, die sie zu ihm emporhob, stand die Antwort und sie war deutlich genug. Er trat einen Schritt nähcr und beugte sich zu ihr nieder.
„Zenaide – darf ich kommen?“
Sie bebte leise zusammen, als sie ihren Namen von diesen Lippcn hörte, aber kein zorniger Blick, kein Verbot traf den Kecken, der sich unterfing, sie so anzureden. Ihm wurde eine Kühnheit verziehen, die sich Francis Marwood nie hätte erlauben dürfen, und er fühlte das Zugeständnis, das darin lag.
„Ein Glück, um das Dich ganz Kairo beneiden würde!“ hatte ihm Sonneck damals zugerufen. Ja, es war ein hoher Preis! Das schöne gefeierte Mädchen, an dessen Hand ein fürstliches Vermögen hing, und dieser Preis war sein, sobald er wollte! Reinhart hätte kein Mann sein müssen, wenn dies Bewußtsein ihn nicht berauscht hätte, wenn sein trotziges Selbständigkeitsgefühl, sein glühender Freiheitsdrang davor standgehalten hätten. All die phantastischen Zukunftsträume wichen zurück in weite Ferne, er sah jetzt auch nur die holde Wirklichkeit, die ihm zur Seite stand.
„Darf ich kommen?“ fragte er noch einmal, aber dringender, leidenschaftlicher.
„Ja,“ kam es leise von den Lippen Zenaidens, und wie einer plötzlichen Eingebung folgend, zog sie eine der Rosen aus dem Strauße, der ihre Brust schmückte, und reichte sie dem jungen Manne; sie wehrte ihm auch nicht, als er die Hand festhielt, die ihm die duftende Gabe spendete, und sie an seine Lippcn zog.
Aber in dem gleichen Augenblick fiel ein Schatten in den hellen Lichtkreis vom Saale her. Lord Marwood stand auf der Schwelle. Er konnte bei der halben Dämmerung, die hier draußen herrschte, den Handkuß wohl kaum gesehen haben, aber er sah, daß die beiden dicht nebeneinander standen in leiser angelegentlicher Unterhaltung und daß sie sofort verstummten bei seinem Nahen.
Langsam kam er näher und verbeugte sich vor der jungen Dame, während er Ehrwald nicht zu bemerken schien.
„Sie entziehen sich uns so ganz, gnädiges Fräulein? Man vermißt Sie sehr in der Gesellschaft und Herr von Osmar sucht Sie überall.“
Zenaide hatte sich rasch gefaßt, sie war zu sehr Weltdame, um auch nur mit einem Blick oder einer Bewegung zu verraten, wie unwillkommen ihr die Störung war. Sie wandte sich zu dem jungen Lord und erwiderte scheinbar unbefangen:
„Es ist so erstickend heiß in den Sälen! Papa hätte meinen Vorschlag annehmen und den Garten mit in unser Fest hineinziehen sollen, aber er fand das bedenklich in dieser Jahreszeit. Doch ich werde ihn jetzt wohl aufsuchen müssen.“ Sie neigte leicht das Haupt gegen die beiden Herren und verließ die Terrasse.
Marwood folgte ihr nicht, er hatte längst die Rose in der Hand Ehrwalds bemerkt und ein Blick auf den Strauß Zenaidens hatte ihm auch gezeigt, woher sie stammte. Seine Haltung war kalt und hochmütig wie immer, aber auf seinem Gesichte lag eine fahle Blässe. Es gab doch einen Punkt, wo die Kälte und Gleichgültigkeit seiner Natur nicht standhielt, und das war seine Neigung zu der schönen Tochter Osmars. Er sah es freilich, daß sie nicht erwidert wurde, aber mit der ganzen Zähigkeit und Hartnäckigkeit seines Charakters hielt er den Gedanken fest, Zenaide zu besitzen. Als er sich nun vollends in diesem Besitze bedroht sah, von einem Manne bedroht, den er unendlich tief unter sich glaubte, da flammte seine Eifersucht hell auf und er beschloß, um jeden Preis den kecken Glücksritter unschädlich zu machen.
„Sie sprachen vorhin die Absicht aus, nach Luksor zu gehen, Herr Ehrwald,“ begann er. „So viel ich weiß, haben Sie keine Einladung dorthin erhalten.“
Reinhart lehnte in sehr nachlässiger Haltung an der Brüstung und ebenso nachlässig klang sein Ton, als er erwiderte: „Haben Sie die Einladungen für Luksor zu vergeben, Lord Marwood? Das erfahre ich wirklich erst in diesem Augenblick, werde aber nicht verfehlen, Herrn Sonneck mitzuteilen, daß er sich bei Ihnen die Erlaubnis zu unserem Ausfluge holen muß.“
„Herr Sonneck und sein Begleiter verfolgen wissenschaftliche Zwecke,“ sagte Francis, der es unter seiner Würde hielt, den Spott zu bemerken. „Welchen Zweck verfolgen Sie?“
„Interessieren Sie sich so sehr dafür?“ lautete die kühle Gegenfrage. „Das ist mir sehr schmeichelhaft, doch bedaure ich, keine Auskunft darüber geben zu können.“
Die spöttische Ueberlegenheit seines Gegners reizte den jungen Lord um so mehr, als er ihr nicht gewachsen war. Es war überhaupt nicht seine Absicht, sich in einen Wortstreit mit diesem Menschen einzulassen, er bemerkte daher kurz und scharf: „Es ist nicht jedermanns Sache, ein unwillkommener Gast zu sein.“
[87] „Ganz meine Meinung!“ stimmte Reinhart bei. „Ich bin darin durchaus Ihrer Ansicht, Mylord. Ich sprach gerade vorhin über diesen Punkt mit Fräulein von Osmar.“
Er verharrte noch immer in seiner nachlässigen Stellung und spielte dabei herausfordernd mit der Rose. Das war zu viel für Francis Marwood, der schon diese Haltung als eine Beleidigung empfand und nur zu gut wußte, wohin die letzten Worte zielten; er richtete sich auf und mit dem ganzen verletzenden Hochmut, der ihm so meisterhaft zu Gebote stand, sagte er:
„Herr Ehrwald, ich mache Ihnen bemerklich, daß ich Ihre Anwesenheit in dem Hause des Herrn Osmar nicht für passend erachte.“
Reinhart blieb vollkommen ruhig und seine Stimme verriet nicht die mindeste Erregung, als er antwortete:
„Lord Marwood, ich mache Ihnen bemerklich, daß ich diese Aeußerung für eine Unverschämtheit erachte.“
„Mein Herr!“ fuhr Francis auf.
„Für eine Unverschämtheit oder Frechheit! – Sie können wählen zwischen den beiden Worten.“
Ein halb unterdrückter Ausruf der Wut entrang sich den Lippen Marwoods, er hob die geballte Fanst und machte eine Bewegung, als wollte er sich auf den Beleidiger stürzen. Da aber richtete sich dieser gleichfalls empor und stand drohend, mit blitzenden Augen vor ihm. „Wollen wir vielleicht eine Prügelscene hier aufführen? Das dürfte noch weniger passend sein für das Haus des Herrn von Osmar und ich bin es überhaupt nicht gewohnt, Streitigkeiten in solcher Weise auszufechten.“
Francis wurde dunkelrot bis an die Stirn, als sein Gegner ihn an die Pflichten des Anstandes erinnern mußte. Langsam ließ er den erhobenen Arm sinken. „Sie werden von mir hören!“ knirschte er, indem er ihm den Rücken wandte und die Terrasse verließ. Reinhart sah ihm nach und zuckte die Achseln. „Ein Duell so unmittelbar vor der Abreise — das giebt einen Sturm mit Herrn Sonneck! Pah, er braucht ja gar nichts davon zu erfahren, ich werde die Sache schon allein abmachen.“ Mit diesem Gedanken wandte er sich gleichfalls nach dem Saale, wo das Fest jetzt seinen Höhepunkt erreicht hatte. Das wogte, schimmerte und glänzte überall und der junge Mann schloß sich so unbekümmert der Gesellschaft wieder an, als sei die Begegnung, die er soeben gehabt hatte, nur ein ganz harmloser Wortwechsel gewesen. Er war bald hier, bald da, so daß Lieutenant Hartley, der ihn suchte, Mühe hatte, ihn aufzufinden. Der junge Offizier teilte durchaus nicht die Abneigung seines Freundes und pflegte heiter und unbefangen mit Ehrwald zu verkehren, jetzt aber näherte er sich ihm in sehr förmlicher Weise. „Ich werde mir erlauben, Sie morgen früh aufzusuchen, Herr Ehrwald,“ sagte er leise. „Es handelt sich um eine dringende Angelegenheit. Ich finde Sie doch zu Hause?“
Reinhart verneigte sich. „Ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung. Was aber die fragliche Angelegenheit betrifft, so bitte ich sehr um möglichste Beschleunigung. Unser Dampfer geht übermorgen und ich möchte die Abfahrt nicht versäumen.“
Hartley sah ihn etwas verwundert an, diese sorglose Zuversicht im Angesicht eines Zweikampfes war ihm doch neu, aber er erwiderte ebenso artig und ebenso förmlich wie vorher: „Wir werden uns darin nach Ihren Wünschen richten. Auf morgen früh also!“
Sie tauschten noch einen Gruß aus und trennten sich dann. Ehrwald trat zu der Gruppe, deren Mittelpunkt Zenaide bildete, umschwärmt und gefeiert wie immer. Ihr Auge streifte ihn wie mit einer Frage. Sie fand es ja natürlich, daß er ihre Rose nicht offen vor aller Welt im Knopfloch trug, man hätte doch vielleicht erraten, woher sie stammte, denn diese leuchtenden Purpurblüten trug nur Eine heute abend, und sie war ihm dankbar für dies Zartgefühl. Er hatte die duftende Gabe wohl auf der Brust geborgen. Arme Zenaide! Wenn sie gewußt hätte, daß der Mann, den sie liebte, es gar nicht bemerkt hatte, als die Rose ihm vorhin bei dem Wortwechsel mit Lord Marwood entfiel. Sie welkte draußen auf dem Marmorboden der Terrasse. Reinhart hatte sie einfach – vergessen.
Die Morgendämmerung begann eben dem vollen Tageslichte zu weichen und die weißen Nebel, die über dem Nil lagerten, fingen an, unruhig zu wogen und zu wallen. Die sonst so belebte Straße, die von Kairo nach den Pyramiden hinausführte, war zu dieser frühen Stunde noch ziemlich einsam, nur einige Fellahweiber zeigten sich, die nach der Stadt wanderten, und jetzt wurde ein offener Wagen sichtbar, der von dort kam und in dem zwei Herren saßen. Er hatte etwa drei Viertel des Weges zurückgelegt, als die rasche Fahrt gehemmt wurde; die Herren stiegen aus, der jüngere gab dem Kutscher einige Weisungen, dann schritten beide querfeldein und nahmen die Richtung nach einem kleinen Palmengehölz, das eine Viertelstunde seitwärts von der großen Straße lag.
„Die Morgen sind vor Sonnenaufgang doch recht kalt hier im Orient,“ sagte der ältere, indem er sich fester in seinen Mantel hüllte. „Sie haben auch eine verwünscht frühe Stunde gewählt, Herr Ehrwald. Um acht Uhr wäre es auch noch Zeit gewesen.“
„Nein, dann sind wir nicht mehr sicher vor unliebsamen Störungen,“ versetzte Ehrwald, der nur ein leichtes Plaid über die Schultern geworfen hatte. „Dann pflegen die Touristen auszuschwärmen und die ganze Gegend unsicher zu machen. Ueberdies muß ich um neun Uhr wieder in Kairo sein, denn eine Stunde später reisen wir ab und ich möchte Herrn Sonneck und den Professor nicht warten lassen.“
Der andere, es war Doktor Bertram, sah ihn an und schüttelte den Kopf. „Sie scheinen mit aller Bestimmtheit einen glücklichen Ausgang anzunehmen. Sie haben wirklich eine beneidenswerte Zuversicht.“
„Soll ich die Sache etwa tragisch nehmen? Auf unserem Zuge in das Innere werden wir uns Tag für Tag mit der Gefahr herumschlagen müssen, da haben wir mit den Menschen, der Natur, den Elementen zu kämpfen – und hier handelt es sich um ein harmloses Duell.“
„Bei dem man sich gegenseitig als Scheibe dient. So harmlos finde ich das gerade nicht.“
„Nun derartige Annehmlichkeiten werden wir wohl noch öfter haben, wenn wir von feindlichen Stämmen angegriffen werden,“ lachte Reinhart. „Das ist eine kleine Vorübung. Lord Marwood will nun einmal schießen. Meinetwegen! Ich werde ihm das Vergnügen machen, er soll nur nicht verlangen, daß ich es ernsthaft nehme.“
„Der Lord schießt gut,“ sagte Bertram ernst. „Ich hörte es von seinem Sekundanten.“
„Möglich, aber ich schieße vermutlich noch besser und übrigens muß man sich in solchen Fällen auf das Glück verlassen. Mich hat es noch nie im Stich gelassen, ich bin so eine Art Sonntagskind. Wie oft schon ist es drunter und drüber gegangen in meinem Leben und schließlich blieb ich doch immer oben.“
„Aber wenn Lord Marwood fällt oder schwer verwundet wird, ist die Sache ebenso bedenklich für Sie,“ warf der junge Arzt ein. „Bei seiner Stellung in der Gesellschaft –“
„Er wird nicht fallen,“ unterbrach ihn Reinhart. „Das kostbare Leben Seiner Lordschaft wird der Welt und der Menschheit erhalten bleiben. Aber nun thun Sie mir den Gefallen, Herr Doktor, und legen Sie diese Leichenbittermiene ab, die so gar nicht zu Ihrem Gesicht paßt. Sie ist allerdings offiziell bei solchen Gelegenheiten, aber ich erlasse sie Ihnen, wenigstens solange bis Sie mich feierlichst zu Grabe geleiten.“
„Sie sind ein unverbesserlicher Spötter,“ sagte Bertram halb lachend. „Das hätte ich mir wirklich nicht träumen lassen, daß ich hier in Kairo noch Dienste als Sekundant leisten muß. Ich glaubte, Sie würden Herrn Sonneck darum ersuchen.“
„Ums Himmels willen nicht! Das hätte eine endlose Strafpredigt gegeben und schließlich wären noch Versöhnungsversuche gemacht worden. Herr Sonneck darf keine Silbe erfahren von dem ganzen Vorfall, aber Sie hat mir mein guter Stern zugeführt, Doktor. Ich wußte wirklich nicht, woher ich in aller Eile einen Sekundanten nehmen sollte. Die englischen Herren mochte ich nicht darum bitten und einen Deutschen fand ich nicht. In meiner Verzweiflung lief ich endlich zu Doktor Walter, obgleich ich auch da eine Moralpredigt und allerlei Schwierigkeiten voraussah. Da traf ich Sie dort und nahm Sie auf der Stelle in Beschlag!“
„Ja, es war eine merkwürdige Bekanntschaft. Wir waren kaum einander vorgestellt, da zogen Sie mich auf die Seite und machten mir die Eröffnung. Nun, ich war selbstverständlich gern bereit, einem Landsmanne beizustehen, aber ich hätte mir doch eine andere Gelegenheit dazu gewünscht.“
„Warum? Die Gelegenheit ist vortrefflich. Doch da sind wir am Platze, ich glaube, er ist gut gewählt.“
[88] Sie hatten das Palmenwäldchen erreicht, das weit genug von der Straße entfernt lag, um neugierigen Augen die Zusammenkunft zu entziehen. Die Gegner waren noch nicht da, doch wurde jetzt auch ihr Wagen sichtbar. Sie ließen gleichfalls in einiger Entfernung halten und legten den letzten Teil des Wegs zu Fuß zurück.
Eben ging die Sonne auf und die Riesengestalten der Pyramiden, die sich hier in voller Nähe zeigten, leuchteten rot, als sei Leben in den Steinmassen. Kairo selbst lag noch im weißen Nebelduft, der jetzt langsam vor den Sonnenstrahlen zu zerfließen begann. Anfangs waren nur die Höhen des Mokattam und die Türme der Citadelle sichtbar, dann tauchten, wie aus einer schimmernden Flut, die Kuppeln und Minarets hervor, dann die Paläste und die höher gelegenen Punkte, bis sich endlich das ganze weite Häusermeer den Blicken zeigte, die letzten Nebel verwehten und zerflatterten. Kairo hatte sich entschleiert und lag nun da in leuchtender Morgenschönheit.
Reinhart war so versunken in den Anblick, daß er gar nicht auf die Nahenden achtete; erst als sein Gefährte sagte: „Da kommen die Herren!“ fuhr er auf.
„Wer? Ah so, unsere Gegner! Sehen Sie nur diesen wundervollen Anblick! Wenn ich Sonnecks Talent hätte und das in einer Skizze festhalten könnte – das müßte ein Bild geben!“
Doktor Bertram meinte im stillen, daß man jetzt doch wohl an andere Dinge zu denken habe als an Skizzen und Bilder. Die Herren kamen inzwischen näher, Lord Marwood mit dem Lieutenant Hartley, seinem Sekundanten, und dem englischen Oberst, der damals beim Rennen so entschieden für den voraussichtlichen Sieg Bernrieds eingetreten war; überdies hatten sie den Regimentsarzt mitgebracht.
„Alt-England ist in der Majorität!“ spottete Neinhart halblaut. „Welch ein ausführlicher Apparat, weil ein paar Schüsse losgeknallt werden sollen, aber anders thun es die Herren nun einmal nicht.“
„Lord Marwood sieht sehr mißgestimmt aus,“ bemerkte Bertram. „Er scheint die Sache ernster zu nehmen als Sie.“
„Er hat vermutlich aristokratische Beklemmungen wegen des Duells. Sie müssen nämlich wissen, daß er es für eine ungeheure Herablassung hält, sich mit mir zu schlagen, der ich weder einen Stammbaum noch eine Million besitze. Ich habe also eigentlich gar keinen Anspruch auf die Ehre, von Seiner Lordschaft niedergeschossen zu werden, und bin tief durchdrungen von dem Gefühl dieser meiner Unwürdigkeit.“
„Ehrwald, ich bitte Sie, seien Sie ernsthaft!“ mahnte der junge Arzt leise und halb unwillig. Reinhart zuckte nur die Achseln, aber er hatte mit seinem Spott das Richtige getroffen. Lord Marwood bereute es in der That, daß er sich so weit hatte fortreißen lassen, denn durch diese Forderung gestand er dem Gegner ja gerade die gesellschaftliche Berechtigung zu, die er ihm bestreiten wollte. In seinem Hochmut hatte er wirklich geglaubt, ihn mit jener beleidigenden Zurechtweisung unschädlich zu machen, aber als Ehrwald die Beleidigung verdoppelt auf ihn zurückwarf, blieb ihm nur die Wahl, sie entweder hinzunehmen oder zu rächen. Er hatte natürlich das letztere gewählt, aber sein ganzes aristokratisches Bewußtsein empörte sich dagegen, daß er den „Abenteurer“ zu einer Art von Ebenbürtigkeit erhob, indem er sich mit ihm schlug.
Er betrat mit seinen Begleitern jetzt das Wäldchen; den Gegner grüßte er nur mit einem steifen Kopfnicken, während die anderen höfliche, aber kühle Grüße mit Reinhart und Bertram austauschten. Von den Zeugen kannte keiner den wahren Grund der Forderung, sie wußten nur von einer im Gespräch gefallenen Beleidigung von seiten Ehrwalds, die vermutlich durch eine verletzende Aeußerung Marwoods hervorgerufen war; dieser hatte ja nie ein Hehl aus seiner Abneigung gegen den jungen Deutschen gemacht.
Der ausgewählte Platz lag auf der anderen Seite des Wäldchens, am Rande desselben. Durch die Palmen war man gegen jede Beobachtung von der Straße her gedeckt und drüben auf den weiten Feldern zeigte sich niemand. Oben in der Luft kreiste ein Sperber und ließ seinen heiseren Schrei ertönen, sonst regte sich nichts, ringsum herrschte tiefe Morgenstille.
Die Vorbereitungen waren bald getroffen, die Sekundanten maßen die Schritte ab und luden die Waffen und die beiden Gegner nahmen ihre Plätze ein.
„Sehen Sie nur, wie dieser Ehrwald dasteht,“ sagte der Oberst leise und halb ärgerlich zu Hartley. „Als wenn es zum Tanze ginge!“
„Ich fürchte, es ist sein letzter Uebermut“, gab der junge Offizier ebenso leise zurück. „Marwood hat den ersten Schuß und er ist furchtbar erbittert.“
Reinhart stand in der That nicht da, als gälte es einen Kampf auf Tod und Leben. In seiner Haltung lag jener Uebermut, der gewohnt ist, mit der Gefahr zu spielen, und dem dies Spiel ein Vergnügen ist, und gerade das schien den Lord aufs äußerste zu reizen. Als er langsam die Pistole hob und ihr fest und sicher die Richtung nach der Brust seines Gegners gab, da sah man es an seinem Gesichte, daß er entschlossen war, den verachteten und doch gefürchteten Nebenbuhler aus dem Wege zu schaffen.
Der Oberst gab das Zeichen, da plötzlich schoß der Sperber aus der Höhe herab und stieß in einiger Entfernung auf den Boden nieder, wo er wohl eine Beute erspäht hatte. In demselben Augenblick krachte der Schuß Marwoods, die Kugel pfiff dicht an der Schulter Reinharts vorüber, er selbst stand unverletzt da. Sein Glück hatte ihn in der That nicht im Stiche gelassen, das jähe, blitzartige Niederschießen des Vogels, der sich jetzt, die zappelnde Beute in den Krallen, wieder in die Luft erhob, hatte den Gegner gestört und gerade im entscheidenden Augenblick seiner Waffe die tödliche Richtung genommen.
Jetzt war die Reihe an Ehrwald und in der nächsten Minute schoß auch er, aber er schien gleichfalls gefehlt zu haben. Der Lord stand noch fest an seinem Platze, wandte sich aber plötzlich um und winkte Hartley herbei, dem er in sichtbarer Erregung einige Worte sagte. Dieser antwortete ebenso, und nach einem kurzen, leise geführten Gespräch kam er zu Reinhart hinüber, der, die abgeschossene Pistole noch in der Hand, mit einem spöttischen Lächeln auf den Lippen dastand.
„Lord Marwood läßt Sie um Auskunft darüber ersuchen, Herr Ehrwald, was dieser Schuß eigentlich bedeuten sollte,“ begann der junge Offizier mit scharfer Betonung.
„Bedeuten?“ wiederholte Reinhart anscheinend ganz unbefangen. „Sie werden mich doch hoffentlich nicht dafür verantwortlich machen, meine Herren, daß ich schlecht geschossen habe.“
„Sie haben in die Luft geschossen!“ sagte der Oberst. „Wir sahen es alle und bitten um eine Erklärung.“
„Wozu? Ich habe die Forderung meines Gegners angenommen und mich seiner Kugel gestellt – das übrige ist wohl lediglich meine Sache.“
„Ich dächte, es ginge auch einigermaßen den Lord an. Er hat das Duell ernst genommen.“
„Das sah ich!“ versetzte Reinhart kalt. „Er wünschte mich zu treffen, ich wünschte ihn zu fehlen, wir waren da beiderseitig in unserem Rechte.“
„Wenn das eine Großmut sein soll, so mache ich Ihnen bemerklich, daß sie beleidigend ist,“ sagte Hartley mit Nachdruck. „Lord Marwood setzte selbstverständlich unbedingte Gegenseitigkeit voraus. Ich glaube nicht, daß er mit diesem Gange seine Forderung für erledigt halten wird.“
Reinhart zuckte gleichgültig die Achseln. „Wenn mein Gegner einen zweiten Kugelwechsel für nötig hält, so bin ich bereit, aber ich werde genau so schießen wie das erste Mal.“
„Herr Ehrwald!“
„Mein Wort darauf, Herr Lieutenant!“
Hartley zögerte einen Moment, er wußte offenbar nicht sogleich, wie er sich dieser Erklärung gegenüber verhalten sollte. Dann wandte er sich und ging zu seinem Freunde zurück; die mit diesem nun halblaut geführte Verhandlung schien ziemlich erregt zu sein.
„Sie sind ein Tollkopf!“ sagte Bertram leise. „Ich glaube, Sie wären imstande, Wort zu halten.“
„Gewiß, zweifeln Sie etwa daran?“
„Nein, leider nicht im geringsten. Aber wenn der Lord den tollen Vorschlag nun annimmt?“
„Schwerlich! Zu einem bloßen Mordhandwerk giebt sich Marwood nicht her. Uebrigens stehe ich in jedem Fall bei meinem Worte.“
Nach einigen Minuten kam Hartley zurück und erklärte kurz und förmlich: „Lord Marwood läßt mitteilen, daß er unter diesen Umständen auf die Fortsetzung des Duells verzichtet.“
Reinhart verbeugte sich. „So ist die Sache erledigt und ich habe mich nur den Herren zu empfehlen. Kommen Sie, Doktor!“
Er grüßte noch einmal nach der anderen Seite, was diesmal
[89][90] nur von dem Oberst und dem englischen Arzte erwidert wurde, und ging dann in Begleitung Bertrams. Als sie außer Hörweite waren, sagte der letztere mit einem Vorwurf, den er nicht zurückhalten konnte: „Das war ein merkwürdiger Ausgang! Uebrigens bin ich der Meinung des Lieutenant Hartley, ein Duell ist immer eine ernste Sache, und Sie machten eine Komödie daraus.“
„Es ist ja auch im Grunde nichts anderes,“ versetzte Reinhart wegwerfend. „Oder finden Sie es so besonders geistreich, wenn zwei Menschen sich gegenüberstehen und in Gegenwart von so und so viel Zeugen feierlichst aufeinander losknallen? Ich habe das stets sehr abgeschmackt gefunden.“
„Und doch haben Sie die Forderung angenommen?“
„Was blieb mir denn sonst übrig? Die Beleidigung war nun einmal gefallen, von beiden Seiten, prügeln konnten wir uns doch nicht und ich hatte keine Lust, mich von der gesamten Gesellschaft Kairos als Feigling in Acht und Bann thun zu lassen, wenn ich das Duell verweigerte. Aber ich habe diesem hochmütigen Burschen eine Lehre gegeben! Er wollte mir wirklich die Ehre erweisen, mich höchsteigenhändig niederzuschießen und ich – schonte ihn! Das vergiebt er mir natürlich niemals, aber er wird sich hüten, mir wieder mit einer Unverschämtheit nahe zu kommen, wenn wir uns in Luksor begegnen, ich habe ihn damit zahm gemacht.“
„Sie spielten aber ein gewagtes Spiel,“ warf der junge Arzt ein. „Marwood zielte mit voller Sicherheit; wenn ein glücklicher Zufall es nicht gefügt hätte, daß der Sperber gerade im letzten Augenblick niederstieß und ihn störte, so lägen Sie jetzt vermutlich sterbend am Boden.“
„Ja wenn – wenn!“ rief Reinhart lachend. „Der Zufall ist aber doch gekommen, und ich stehe in voller Lebendigkeit vor Ihnen. Die Worte ‚wenn‘ und ‚aber‘ habe ich längst aus meinem Leben gestrichen, und auf diese Weise wird man am besten fertig. Doch jetzt ist die Sache abgemacht und nun meinen Dank, Doktor, für den Freundschaftsdienst, den Sie mir geleistet haben! Wenn Sie einmal einen Gegendienst brauchen, ich stehe zur Verfügung.“
„Aber hoffentlich beanspruche ich ihn nicht in dieser Weise,“ sagte Bertram lachend, Ehrwalds Händedruck herzlich erwidernd. „Ich bin froh, daß ich Sie heil und gesund nach Kairo zurückbringe.“
Sie hatten inzwischen das Gehölz durchschritten und traten ins Freie. Die ganze weite Ebene des Nils lag jetzt im hellsten Sonnenschein, die Pyramiden mit ihren starren Linien standen wie ernste, dunkle Rätselbilder in der goldenen Lichtflut, schimmernd grüßte die Stadt aus der Ferne und hoch oben in der blauen Luft kreiste der Sperber und spähte nach neuer Beute. Reinhart blieb unwillkürlich stehen.
„Das Leben ist doch schön!“ sagte er mit einem tiefen Atemzuge, „und am schönsten dann, wenn man es einer Todesgefahr abgewonnen hat. Sie haben recht, ich danke es dem geflügelten Burschen da oben, aber einen Zufall nannten Sie das? Mein Glück war es, das da aus luftiger Wolkenhöhe zu mir niederstieß und mich rettete! Und da predigt mir Sonneck immer, daß es nur eine trügerische Fata Morgana ist, die zerfließt, sobald ich es versuche, ihr zu nahen. Ich habe auch heute wieder seinen Hauch und seine Nähe gespürt wie so oft schon. Und wenn es noch so hoch und noch so fern ist – ich erjage es doch!“
(Fortsetzung folgt.)
Die Schreckensherrschaft des Kalifa Abdullahi im Sudan.
Nach langer heldenmütiger Vertheidiguug fiel Chartum am 25. Januar 1885 durch Verrat in die Gewalt des Mahdi. Der Prophet sollte sich indessen nicht lange der Früchte dieses Sieges erfreuen, durch den er zum unbeschränkten Herrn des Sudans wurde; schon im Juni desselben Jahres raffte ihn in Omderman, einer Vorstadt Chartums, der Typhus dahin. Neben dem noch nicht erkalteten Leichnam leisteten die Würdenträger des jungen Reiches dem Kalifa Abdullahi den Eid der Treue und dann, als der Prophet sang- und klanglos in seinem Hause begraben worden war, bestieg der Kalifa die Kanzel und in Tausenden strömten die gläubigen Scharen herbei, um dem neuen Herrscher das Gelöbnis der Treue entgegenzujauchzen.
Wunderbar waren die Schicksale dieses fanatischen Mannes, der nunmehr Millionen Menschen seine Unterthanen nannte. Vor wenigen Jahren noch war Abdullahi ein armer Araber aus dem Stamme der Taascha gewesen, der seine im westlichen Sudan gelegene Heimat verließ und nur im Besitz eines einzigen Esels gen Osten wanderte, um sein Glück zu versuchen. Bettelnd schlug er sich durch die Länder, bis er einem frommen Manne, Mohammed Achmed, begegnete, der gleichfalls arm war, aber neue Lehren verkündete. Abdullahi schloß sich dem Fakir an und brauchte diesen Schritt später nicht zu bereuen. Mohammed Achmed wurde ja bald zum Mahdi und Abdullahi zu seiner rechten Hand. Er hatte dem Mahdi den Rat gegeben, sich an die kriegerischen Stämme des Westens zu wenden, und dieser Rat wurde von Erfolg begleitet.
In Anerkennung seiner Verdienste wurde Abdullahi nach den ersten Siegen der Mahdisten zum vornehmsten der vier Kalifen des Mahdi ernannt – er, der weder lesen, noch schreiben konnte, der sich niemals mit Koranstudien abgegeben hatte, war zum Nachfolger des Propheten auserlesen und herrscht seit elf Jahren über jenes weite Reich, das ein blinder Fanatismus auf den Trümmern türkischer Mißwirtschaft und europäischer Civilisationsversuche geschaffen hat.
Ueber die Zustände, die im Lande der Mahdisten herrschen, drang von Zeit zu Zeit Kunde nach Europa; denn in der Sklaverei des Kalifa schmachtete eine Anzahl Christen, die von den Anhängern des Propheten während des Aufstandes gefangen genommen wurden. Einige derselben konnten sich durch Flucht retten und so manches berichten. Im vorigen Jahre gelang es nun aber auch einem Gefangenen von ganz besonderem Rang, aus der Sklaverei zu entfliehen. Slatin Pascha, ein ehemaliger österreichischer Offizier, der im Sudan als Gouverneur von Darfur wirkte, hatte sich dem Mahdi ergeben und, um sein Leben zu retten, sich scheinbar zu dessen Anhängern bekennen müssen. Zeitweilig genoß er das Vertrauen des Kalifa, kannte dessen Räte und Heerführer und gewann so die genauesten Einblicke in alle wichtigen Verhältnisse des neuen Reiches. Elf Jahre schmachtete Slatin in der Gefangenschaft. Inzwischen gelang es seinen Verwandten, sudanesische Händler für die Befreiung des Unglücklichen zu gewinnen. Sie boten ihm nach langem Zögern die Hand zu einem verwegenen Fluchtversuch, der in Wüstenritten auf Kamelen glücklich gelang. Slatin erreichte Assuan und dann Kairo; jetzt lebt er in seiner Heimat und hat seine wunderbaren Schicksale und reichen Erfahrungen in einem soeben erschienenen Werke „Feuer und Schwert im Sudan“ (Verlag von F. A. Brockhaus, Leipzig) beschrieben, das sicher zu den fesselndsten und spannendsten Erzeugnissen der jüngsten afrikanischen Litteratur gezählt werden darf.
Mit markigen, lebenstreuen Zügen ist in dem Buche auch das Leben und Treiben am Hofe des Kalifa geschildert, ein so eigenartiges, ungewohntes Bild menschlicher Herrschsucht und tiefsten Elends, daß wir es, den Angaben Slatins folgend, zur Kenntnis unserer Leser bringen möchten. Es bildet ja die Fortsetzung und Ergänzung der Geschichte der Wirren im ägyptischen Sudan, über die in früheren Jahrgängen so zahlreiche Artikel in der „Gartenlaube“ erschienen sind.[1]
In Omderman, das nach dem Falle Chartums rasch zu einer großen Stadt anwuchs, steht in der Nähe des Grabmals des Mahdi der Palast seines Nachfolgers, ein Gewirr von kleinen und großen durch Höfe und Mauern voneinander getrennten Häusern. Hier wohnt der Herrscher, der die zu den Audienzen bestimmten Räumlichkeiten mit der denkbar größten Einfachheit ausstatten ließ, seine Privatgemächer aber mit allem ihm erreichbaren Komfort versah. Die Plünderung Chartums ließ ja viele Luxusgegenstände in seine Hände fallen! Er selbst ist keine üble Erscheinung; von mittelgroßer Gestalt, breitschulterig und von lichtbrauner Farbe, hat er eine gerade Nase, große schwarze Augen, proportionierten Mund und regelmäßige Züge. Das Gesicht ist umrahmt von einem ursprünglich dunklen Vollbart, der um das Kinn etwas kräftiger entwickelt ist. Früher elastisch, ist er in den letzten Jahren wohlbeleibt und schwerfällig geworden; obwohl er erst 49 Jahre zählt, ist sein Gesicht vorzeitig gealtert und sein Bart schon beinahe weiß.
[91] Seit Anbeginn seiner Regierung war der Kalifa besorgt, seine Macht im Innern zu stärken, und aus den besten Männern der befreundeten Stämme bildete er die Mulazemie, eine Leibgarde, die bereits gegen 11000 Mann zählt und, streng von der übrigen Einwohnerschaft geschieden, rings um seinen Palast wohnt. Diese Leibgarde begleitet ihn stets, wenn er kurze Ausflüge in die Umgegend oder einen Ritt durch die Stadt unternimmt. Dann verkünden die melancholischen Töne der Umbaià[2], die dumpfen Schläge der Kriegstrommeln den Bewohnern der Stadt, daß der Herr des Landes sich auf den Straßen öffentlich zeigen will. Den ein für allemal geltenden Befehlen gemäß werden sogleich sämtliche Pferde gesattelt und ihre Besitzer erwarten auf einem freien Platze vor dem Palaste den Kalifa, um sich seinem Gefolge anzuschließen. Die Thore werden geöffnet, aus denselben strömen die Massen der Mulazemie und am Schlusse erscheint er selbst, fast immer zu Pferde. Die Mulazemie bilden, wo es der Raum gestattet, ein dichtes Carré um ihn oder marschieren in Reihen von 10 bis 12 Mann ihm voraus. Hinter ihnen strömt zu Pferd und zu Fuß der größte Teil der Stadtbevolkerung nach.
Um seine Macht zu sichern, hat der Kalifa die Befehlshaberstellen im Heere zumeist Leuten aus seinem Stamme anvertraut und die Taascha haben auch die wichtigsten Posten in der Civilverwaltung inne. Diese ist nun gar traurig bestellt. Freunde und Anverwandte des Kalifa haben nicht nur die besten Weiden für sich in Anspruch genommen, sondern durchziehen brandschatzend das Reich und treiben Vieh weg und rauben Menschen, die sie zu ihren Sklaven machen. Die Finanzverwaltung prägt eigenes Geld, aber die Silberthaler enthalten immer weniger Silber. Als die Kaufleute sich weigerten, diese minderwertige Münze anzunehmen, wurden ihre Waren mit Beschlag belegt und die Läden geschlossen, bis sie sich fügten. Auch hat der Kalifa direkt verkehrte Gesetze erlassen, die wie das Verbot der Straußenzucht den Wohlstand des Landes untergraben. Aufbrausend und von heftigem Charakter, handelt er trotz seiner Schlauheit oft unüberlegt, und niemand, selbst sein Bruder nicht, darf es in solchen Momenten wagen, ihm Vorstellungen zu machen. Dabei erfüllt ihn ein heftigen Naturen sonst fremdes, tiefeingewurzeltes Mißtrauen gegen alle, selbst gegen manche seiner nächsten Verwandten. Er glaubt nicht an Treue und Ergebenheit und ist überzeugt, daß jeder im Verkehr mit ihm seine Gefühle verbirgt; Egoismus hält er bei seiner ganzen Umgebung für die Triebfeder alles Handelns. Boshaft und grausam, findet er ein Vergnügen darin, in den Leuten Hoffnungen zu erregen und sie dann zu enttäuschen, ihnen ihr Vermögen zu entziehen, sie in Eisen zu legen, in den Kerker zu werfen und Todesurteile vollziehen zu lassen. Schon bei Lebzeiten des Mahdi wurde er als Urheber aller strengen Maßregeln gegen die Anhänger und aller Unbarmherzigkeit gegen die Feinde angesehen. Er war es auch, der bei dem Sturm auf Chartum befahl, keinen Pardon zu geben, sondern alles niederzumachen. Bei Verteilung der erbeuteten Weiber nimmt er vorbedachterweise keinerlei Rücksicht auf das natürliche Zusammengehörigkeitsgefühl. Mütter werden regelmäßig von ihren Kindern, Geschwister von den Geschwistern getrennt. In raffinierten Grausamkeiten suchte und fand der Kalifa stets sein Vergnügen. Groß ist die Zahl derer, die er ohne jeden stichhaltigen Grund, oft nur seiner Laune folgend, peitschen, verstümmeln und hinrichten ließ.
Seine Begierden und Launen werden dabei durch keine Religion gemäßigt; er ist kein frommer Mann und ein schlechter Prediger; Religionsvorschriften, die ihm nicht passen, hebt er einfach auf. Dabei ist er in hohem Grade abergläubisch, und die Furcht vor Zaubereien treibt ihn, von seinem Volke neue Opfer zu fordern.
Wandert man durch die Straßen Omdermans, so erblickt man an allen Plätzen aufgerichtete Galgen. In der That, der Galgen ist das Symbol der Herrschaft des Kalifa! Und doch ist die Hinrichtung nicht das Schlimmste, was sein Zorn über seine Untergebenen verhängen kann. Weit schlimmere Qualen harren derjenigen, die in das Gefängnis von Omderman geworfen werden.
Das Gefängnis liegt am Südostende der Umfassungsmauer in nächster Nähe des Flusses. Durch ein Thor, das Tag und Nacht von bewaffneten Sklaven bewacht ist, gelangt man in das Innere eines geräumigen Hofes, in dem sich mehrere größere und kleinere isoliert stehende Stein- und Lehmhütten befinden. Um diese herum liegen bei Tag die Unglücklichen, die sich den Zorn des Kalifa zugezogen oder, durch die Kadis verurteilt, hier ihre Vergehen abzubüßen haben, an den Füßen mit eisernen Ringen gefesselt, die durch eine kurze massive Eisenstange miteinander verbunden sind, am Halse eine lange schwere Kette, die sie kaum zu schleppen vermögen – abgemagerte, schmutzige Gestalten mit dem traurigen Gesichtsausdrucke der Ergebung in ein elendes Schicksal. Gewöhnlich herrscht unter den Bejammernswerten tiefe Stille, nur unterbrochen durch das Klirren der Eisen, das rohe Geschrei der Wächter oder den schmerzlichen Klageruf eines Gepeitschten. Die von dem Kalifa behufs verschärfter Bestrafung besonders Bezeichneten werden mit schwereren Eisen belastet in ganz kleinen luft- und lichtlosen Räumen in strengster Einzelhaft gehalten, und von jedem menschlichen Umgange abgeschlossen, bekommen sie kaum die zum Leben allernotwendigste Nahrung. Die große Masse aber liegt tagsüber im Freien und sucht im Schatten der beiden großen Steinhäuser Schutz vor den sengenden Sonnenstrahlen, sich gegenseitig mit leiser Stimme hier und da ein Wort der Klage zuflüsternd.
Von den Nahrungsmitteln, die ihnen von ihren Angehörigen gebracht werden dürfen, eignen sich die Wächter das ihnen am genießbarsten Scheinende an, dann verteilen sie den Rest nach ihrem Belieben unter die halbverhungerten Opfer, so daß es sehr oft vorkommt, daß derjenige, für welchen die paar Bissen bestimmt waren, ganz leer ausgeht. Abends werden die Gefangenen in die Häuser, die fensterlos sind und nicht die geringste Ventilation besitzen, hineingetrieben. Da hilft kein Sträuben, kein Bitten und kein Jammern – gewaltsam werden sie hineingestoßen, so viele, als der Raum nur immer zu fassen vermag; dicht zusammengepfercht ist es den meisten unmöglich, so viel Raum zu gewinnen, um sich nur setzen zu können; durch Hitze und Luftmangel beinahe bis zum Wahnsinn getrieben, ohnmächtig gegen ihre Quäler, drängen, stoßen und treten die Stärkeren ihre schwächeren Leidensgefährten in sinnloser Wut, um sich einen Zoll breit Raum zu verschaffen. Endlich bricht der Morgen an, die mit Eisenketten verschlossenen Thüren werden geöffnet, und heraus wanken in ihrem Schweiße gebadet die Unglücklichen, mehr Leichen ähnlich als lebenden Menschen; im Schatten ihres Gefängnisses erholen sie sich allmählich, um bei anbrechendem Abend wieder derselben grausamen Marter entgegenzugehen.
Und doch giebt es noch schlimmere Leiden in dieser „letzten Station zur Hölle“. Nur ein Beispiel sei berichtet. Seki Tomel, der erste und beste Heerführer des Kalifa, wurde auf dessen Befehl zum Seier, dem Emir dieses Gefängnisses, gebracht und in ein kleines aus Stein gebautes Häuschen gesteckt, dessen Thüröffnung man vermauerte. Durch eine offen gelassene Spalte reichte man ihm in Pausen von mehreren Tagen etwas Wasser, die Nahrung wurde ihm gänzlich entzogen. 23 Tage lang erduldete er die unsäglichsten Qualen; aber so entsetzlich ihn der Hunger peinigte, so gräßlich ihn der Durst quälte, nie vernahm man einen Schmerzenslaut oder ein Wort der Bitte aus der kleinen Spalte dieses eisernen Grabes. Zu stolz, um sich vor seinen Henkern zu demütigen, hielt er die Lippen geschlossen, bis ihm am 24. Tage seiner Marter der Tod als Befreier erschien. Der Seier und seine Genossen hatten an diesem Tage durch die Oeffnung des nun thatsächlich zum Grabe gewordenen Gefängnisses gelugt. Auf Grund ihrer reichen Erfahrungen erwarteten sie für heute den Tod des Gefangenen, und nachdem sie sich an seinem Todeskampfe ergötzt und er ausgelitten hatte, beeilte sich der Seier, die Freudenbotschaft seinem Herrn, dem Kalifa, zu überbringen. Nachts wurde der Leichnam an das Westende der Stadt gebracht und zwischen verfallenen Hütten mit dem Rücken gegen Mekka eingescharrt. (Alle gläubigen Mohammedaner werden mit dem Gesichte gegen Mekka gewendet begraben.) Nach dem Tode noch wollte ihm der unversöhnliche Kalifa seine Ruhe rauben.
Doch genug dieser Beispiele nach Slatins Aufzeichnungen über die im Gefängnisse von Omderman vorgekommenen Greuel, über die vom Seier und seinen Sklaven begangenen Scheußlichkeiten! Hoffen wir, daß den grausamen Kalifa und seine Helfershelfer der rächende Arm der Gerechtigkeit ereilen werde!
Am Grabe meines Weibes.
„Du bist die Sonne meines Lebens
Und lieben hast du mich gelehrt.“
Sommer 1854. Emil Rittershaus.
„Ewig jung ist nur die Sonne,
Sie allein ist ewig schön.“
Conrad Ferdinand Meyer.
Ich steh’, mein Weib, an deiner Schlummerstatt. –
Auf Cykaswedel, grünes Palmenblatt,
Auf Winterastern, blüh’nde Erika,
Wie lieblich scheint die Morgensonne da! –
Und wieder kommt es mir in meinen Sinn
Wie du warst eine Sonnenschwärmerin,
Wie dir die Seele war beglückt, verklärt,
Wenn Gott uns nur den Sonnenschein beschert.
Wie oft du sprachst mit fröhlichem Gesicht,
Daß ewig jung nur sei das Sonnenlicht
Und ewig schön – wie du der Qualen Last,
Schien nur die Sonne, schnell vergessen hast!
Und sieh, zu Mut wird mir’s in dieser Stund’,
Als hauchte leis mich an dein süßer Mund,
Als säh’ mich an dein Aug’, so wunderbar,
Das selbst wie eine milde Sonne war!
Wo du warst, war der schönste Sonnenglanz,
Wo du warst, blühte auf der Blumenkranz –
Zu Mute wird mir’s, o, so seltsamlich,
Als wären noch getrennt nicht du und ich.
Und also ist’s: den heißgeliebten Mann
Ein edles treues Weib nicht lassen kann,
Und hebt ein Kind den Blick zu dir empor
Und ruft, so hört es seiner Mutter Ohr.
Nur was vergänglich, deckt der Hügel hier!
Du lebst in mir, ich lebe fort in dir;
Ich fühle deinen Odem mich umwehn,
Und weiß gewiß, daß wir uns wiedersehn!
So lang’ des Lebens Flamme in mir kreist,
Will leben ich, mein Weib, in deinem Geist,
Will wirken ich, mein Weib, in deinem Sinn,
Du, meine Sonne, Sonnenschwärmerin!
Wo sich die Kummerwolke drohend ballt,
Will bringen ich der Liebe Lenzgewalt –
Wo Trübsinn häuft die schweren Nebel dicht,
Will bringen ich des Frohsinns Sonnenlicht.
Im Sonnenglanz, der auf dem Hügel ruht,
Mein’ ich zu lesen: ja, so ist es gut! – –
So will ich wandeln denn nach deinem Sinn,
Du, meine Sonne, Sonnenschwärmerin!
Emil Rittershaus.
„Vons.“
(Schluß.)
Ueberkam Herrn Schneider der Aerger über diese Neuerungen, dann stellte er den Eduard heftig zur Rede, ob er vielleicht glaube, daß es vernünftig sei, wenn er all’ sein Geld für Staat ausgebe; das dürfe gerade er sich zuletzt erlauben, sondern er habe, weil er ihn vor allen andern vorgezogen, nun auch mit dem guten Beispiel voran zu gehen und nicht wie ein Geck daher zu kommen.
Eduard, der Herrn Schneider sehr wohl kannte, gab ihm gelassen zur Antwort, mehr als einen Sonntagsrock und einen Werktagskittel besitze er nicht, aber er habe freilich zu Hause gelernt, auf seine Sachen zu achten.
„Soll das vielleicht eine Anspielung sein?“ fuhr Herr Schneider auf, „Du bist ein impertinenter Mensch – ist er’s nicht, Gustl?“ wandte er sich an seine Tochter, die Wäsche flickend am Fenster der Eßstube saß und nun herzlich auflachte.
„Und wenn’s eine Anspielung wäre, wie recht hätte er, Vaterle, denn Du hast sechs Röcke, und sie sind ewig nicht im Stande.“
„Du hältst ihm immer die Stange,“ polterte der Vater.
„Ich zanke ihn auch, nicht wahr, Eduard? Ja, ich bin recht unzufrieden mit Dir,“ nickte sie dem jungen Mann zu, der ihr gegenüber Platz genommen hatte, „Du hast Deiner Mutter so viel zu verdanken und gehst nicht zu ihr und bittest sie, wieder gut mit Dir zu sein. Das kränkt mich alle Tage, Eduard, denn ich muß mir sagen, daß Du ein harter Mensch bist.“
Er nickte. „Das werd’ ich wohl sein, ich kann nichts dafür, aber ich sehne mich wirklich nicht in die alten Verhältnisse zurück; ich bin lange genug der Verachtete gewesen und würde es wieder sein, käme ich nach Hause. Also bleibe ich doch lieber weg.“
Gustl schüttelte den Kopf.
„Nur wenigstens Friede solltest Du mit Deiner Mutter machen, versuche es; siehst Du, es nagt an mir; ich muß so oft an Deine Mutter denken; wenn ich ihr Kind wäre, ich würde alles thun, um sie zufriedenzustellen: ich kann mir nicht helfen, ich hab’ einen so großen Respekt vor ihr, ich wollt’, ich könnt’ ihr etwas zulieb thun!“
Es entstand eine Pause. Eduards Augen ruhten groß und ernst auf Gustls rundem Kindergesicht mit dem kleinen Stumpfnäschen und dem krausen Haar. Immer, wenn er glaubte, im Recht zu sein, wenn er fest davon überzeugt war, gerecht zu handeln, brachte ihn diese Kleine mit ein paar Worten in Verwirrung.
„Ich glaube, das ist der Unterschied,“ sagte er mit einem Male, „bei Dir kommen alle Gedanken aus dem Herzen und bei mir aus dem Kopf.“
„Drum passen wir auch so gut zusammen,“ meinte sie unbefangen, aber schon im nächsten Augenblick erschrak sie über das Gesagte, und sie saßen beide dunkelrot, mit klopfendem Herzen einander gegenüber. Es klang etwas gepreßt, als Eduard, sich erhebend, bemerkte: „Ich will heute noch zu meiner Mutter gehen.“
Er war nicht eben freundlich aufgenommen worden; Frau von Feldern lebte gerade wieder in der Angst, ob Kunochen aus seiner Klasse versetzt werde oder abermals sitzen bleiben müsse. Dieser Umstand machte sie Eduard gegenüber befangen, und da er es nicht merken sollte, prahlte sie erst recht drauf los, und Eduard, der genau wußte, wie’s um den Bruder stand, mußte ihn, wie früher auch, als Wunderkind preisen hören. Das wurde ihm zu viel, und es fuhr ihm heraus: „Wenn er nur nicht vierzig wird, bis er aus der Schule kommt“ – Der Stachel saß.
„Du bleibst Dir doch immer gleich,“ sagte Frau von Feldern und forderte ihren Aeltesten nicht zum Wiederkommen auf.
Früher hätte er das alles haarklein der Gustl erzählt; sie hätte ihn ausgescholten wegen seiner Bemerkung und gewiß alle Tage gefragt: wann gehst Du wieder zu Deiner Mutter? – Jetzt war alles wie abgeschnitten; als hätten sie einander gegenseitig
[93][94] tief beleidigt, so rasch gingen sie aneinander vorbei, so flüchtig, fast unfreundlich kam der Morgen- und Abendgruß von ihren Lippen. Mit dem jungen Mann aber ging’s Tag und Nacht um: was bist du – was hast du – nichts – nichts! Wenn er nun doch in die Fremde ginge und sein Glück versuchte – aber wie lang’, wie lang’ würde es dauern, bis er als gemachter Mann zurückkehrte! – Er wurde zerstreut, gab gereizte Antworten und ließ den Kopf hängen.
„Was hat der Kerl?“ wandte sich Herr Schneider an Gustl, „habt Ihr Euch gezankt?“
Sie machte sich in ihrem Nähkorb zu schaffen. „Nein.“
„Aber es ist doch etwas mit ihm; steckt vielleicht die alte Feldern wieder dahinter – weißt Du nicht?“
„Nein.“
„Na, dann soll er mir Red’ stehen – verdrießliche Gesichter halt’ ich nicht aus –“
Gustl sah bald darauf von ihrem Fensterplatz aus die Beiden im Hof auf und ab gehen. Herr Schneider zappelte und schrie: „Was ist denn, was hast Du denn? Zum Teufel, Du bist ja unausstehlich –“ gab dem jungen Mann alle Augenblicke einen Rippenstoß oder schlug ihn auf die Schulter.
Gustl konnte nur ihren Vater verstehen, Eduard sprach leise, so unten vor wie einer, der nicht recht mit der Rede heraus will. Mit einem Male rannte Herr Schneider, als ob es brenne, über den Hof, direkt auf Gustls Fenster zu, in das er fast kopfüber hinein stürzte. „Du, Gustl, er will fort, der Teufelsbraten will fort und sagt nicht warum!“
Das junge Mädchen erschrak, wurde blutrot und brach in Thränen aus.
„Jetzt quälst Du mich auch noch!“ jammerte Herr Schneider. Mit einem Male schlug er sich auf die Knie. „Ihr Herrgottsakramenter – so steht’s!“
Gustl lief aus dem Eßstübchen fort und Herr Schneider ging, beide Hände in den Taschen, auf Eduard zu, der wie ein armer Sünder dastand.
„Ja, ja, kaum aus den Kinderschuhen, verliebt sich das Volk; noch nicht trocken hinter den Ohren, denkt man schon ans Heiraten. Lieber Eduard, ich kenn’ Dich, ich weiß, was ich von Dir zu erwarten hab’ – so weit wär’s schon recht – aber nun hat’s einen Haken: in mein Haus kommt kein „von“; ich bin ein freisinniger Mann, bei mir soll’s gut bürgerlich zugehen bis in meine fernsten Generationen. Und darum ist’s aus – der Eduard Feldern wär mir recht – den Eduard von Feldern kann ich nicht brauchen!“
„Aber, Herr Schneider –“ der junge Mann brachte vor Erregung fast nichts heraus, „mir liegt ja nicht das geringste an diesem ,von‘ – ich hab’ genug darunter gelitten – ich werde ihm doch nicht auch noch mein Lebensglück opfern – ich will nichts als ein bürgerlicher Kaufmann sein – wie Sie, Herr Schneider.“
Der nahm ihn unter den Arm und zog ihn auf die Bank unter der Linde. „Das ist ein stolzer Tag für mich, Eduard, ein stolzer Tag – das hätt’ ich mir nicht träumen lassen, daß ich’s dahin bring’, dem Adel einen braven Mann wegzukapern und einen guten Bürgerlichen daraus zu machen; ja, Eduard Feldern, jetzt gehörst Du zu uns! Heut’ abend, Junge, wird eine Flasche Champagner auf die Feldernsche Nachkommenschaft getrunken.“
„Aber die Gustl,“ wagte Eduard zu erinnern.
„Mit der redest Du nachher, die wird uns gewiß den Spaß nicht verderben.“
Als Eduard zugleich mit dem jungen Mädchen ins Eßstübchen trat, war er wie berauscht von der unerwarteten Wendung der Dinge. Herr Schneider ersparte ihm jede weitere Auseinandersetzung, indem er zur Thür hineinrief: „Du, Gustl, mach’ nur nicht lang’, er hat uns sein ‚von‘ geopfert – er hängt den ‚von-Herrn‘ an den Nagel – dafür laß ich ihm aber auch jetzt für den Abend ein Kalb schlachten!“ Er sah die Beiden an, die Thränen stürzten ihm aus den Augen, und er schlug schnell die Thür zu.
Gustl war blaß; sie warf einen kurzen Blick auf den sie erwartungsvoll und flehend ansehenden Eduard und schüttelte den Kopf. „So geht das nicht,“ sprach sie mit zitternder Stimme, „das darfst Du Deiner Mutter nicht anthun – sie muß erst damit einverstanden sein!“
„Das wird sie nie,“ sagte Eduard. Er hatte sich gefaßt.
„Gustl, ich werde es niemals Deinem Vater und meiner Mutter zugleich recht machen können, das liegt außer aller Möglichkeit; ich will gleich hingehen und ihr meinen Entschluß mitteilen, aber ich weiß ihre Antwort im voraus: sie wird nie nachgeben, bis dieser Name uns alle zu Grunde gerichtet hat.“
Er wollte gehen, Gustl eilte ihm nach. „Sei so gut gegen sie, als Du kannst – was Du dann auch für eine Nachricht bringst –“
Es wurde nicht ausgesprochen, sie lagen sich plötzlich in den Armen, und ihre Lippen fanden sich für einen kurzen Augenblick ...
Frau von Feldern hatte nicht nachgegeben, sondern ihrem ältesten Sohn erklärt, er möge heiraten, wen er wolle, sie, die Mutter, aber völlig aus dem Spiele lassen, denn eine Familie Feldern ohne Adel gehe sie nichts an.
Kurze Zeit darauf ging aus dem Schneiderschen Hause ein blutjunges Paar zur Kirche; unter der Linde fand das Hochzeitsmahl statt, und sie breitete segnend ihre frisch belaubten Zweige über dem heiteren Treiben aus.
Eines Tages – die junge Frau deckte den Tisch und der Herr Gemahl ließ dabei das Necken nicht bleiben, so daß die Sache nicht recht vorwärts ging – fuhr plötzlich der Herr Schneider in das junge Glück hinein, mit einer Zeitung in der Hand und einem Gesichtsausdruck, dem eine gewisse Schadenfreude nicht abzusprechen war. „Kinder,“ sagte er, „da steht ’was – schaut einmal her!“
Eduard bückte sich über das Blatt und las von einem Auftritt zwischen jungen Civilisten und einigen Fähnrichs im Restaurant; Fähnrich K. v. F. hatte bei der Gelegenheit eine Ohrfeige bekommen und war seines Säbels beraubt worden.
„Das ist natürlich Kuno,“ sagte Eduard. „Die arme Mutter!“
„Du mußt gleich hingehen,“ meinte die junge Frau und holte ihm den Hut.
Der junge Mann kam sehr bald wieder zurück; ein Nähmädchen hatte ihn abgewiesen, Frau von Feldern sei unwohl und wolle keinen Menschen sehen.
„Du mußt wieder hingehen,“ sagte Gustl, „ich laß nicht ab, bis es gut zwischen Euch ist.“
„Viperchen,“ brummte Herr Schneider, „mir so zu leid zu leben.“
„Geh’, bild’ Dir doch nicht ein, kein Herz zu haben,“ schalt ihn die Tochter.
Es war keine geringe Ueberraschung für Eduard, eines Tages seinen Bruder Kuno bei sich eintreten zu sehen; er hatte noch immer das zarte blasse regelmäßige Gesicht, das er als Kind gehabt, und sah in dem feinen Civilanzug höchst zierlich und elegant aus.
Kuno war sehr liebenswürdig und benahm sich, als befinde er sich nicht zum ersten-, sondern zum hundertstenmal in der Häuslichkeit seines Bruders. Er sagte, er sei recht froh, vom Militär weg zu sein. Nun, erzählte er weiter, stehe er auf dem Punkte, nach Berlin zu fahren; seiner Mama sei es nach unsäglichen Mühen und Schreibereien gelungen, ihm einen wundervollen Posten ausfindig zu machen, auf dem er nur zu repräsentieren hätte.
„Mama weiß nämlich nichts von meinem Besuch bei Dir,“ wandte er sich an den Bruder, „aber ich wollte doch die Stadt nicht verlassen, ohne Dich noch einmal gesehen zu haben. Gewiß hast Du die Güte, mir einen kleinen Posten von vierhundert Mark auszugleichen, ich möchte keine Schulden zurücklassen und schicke Dir das Geld, sobald ich meinen ersten Gehalt bezogen habe; er ist sehr groß und ermöglicht mir, Mama endlich einen angenehmen Lebensabend zu bereiten.“
Eduard zahlte dem Bruder das verlangte Geld aus und Gustl legte es ihm ans Herz, doch die Mutter ein wenig zu ihres Mannes Gunsten umzustimmen. Kuno versprach zu thun, was er könne, und fragte neckisch unter der Thür: „Wirst Du jetzt immer satt, Educhen?“
In Eduards Innern aber zehrte von dem Tage an ein Kummer; er hatte sich schon als Retter gesehen, als Helfer in der Not, nachdem Kuno es zu nichts gebracht und die Mutter mit ins Elend gezogen hatte. Nun war er doch neben draus, und Kuno war es, der ihr den Lebensabend verschönen sollte. –
Ein Kleines zappelte schon in der Wiege, und Herr Schneider war der lächerlichste Großvater, den es auf der Welt gab; etwas so Außergewöhnliches wie dieses kleine Geschöpf lebte nach seiner Meinung nicht mehr. Er saß vor der Wiege, und wenn es mit den Wimpern zuckte oder das Händchen bewegte, war ihm das zum Weinen rührend; schrie’s, so gebärdete er sich, als vermöge in der Welt kein anderes Kind zu schreien wie sein Enkel.
Hielt Eduard sein Kind im Arm, so konnte er nicht anders, [95] er mußte seiner Mutter gedenken und sich sagen: so hielt sie mich einmal auch und sah mich liebevoll an und setzte Hoffnungen auf das kleine Leben in ihrem Arm.
Nein, es war keine leichte Mühe, ein Kind aufzuziehen und alles das hatte seine Mutter gethan und noch dabei für ihren gemeinsamen Unterhalt gesorgt und Tag und Nacht sich keine Ruhe gegönnt – und nun war’s diesem Kuno vorbehalten, ihr alles allein vergelten zu dürfen!
Wenn er so sann und dabei sein Kind anstarrte, kam wohl die Gustl, fuhr ihm mit der Hand über die Stirne und lachte ihn mit ihren treuen blauen Augen an.
„Sei nur ruhig, gräm’ Dich nicht, wir kommen auch noch an die Reihe; sieh, wenn ich alles so gewiß wüßt’, als daß sie eines Tages da herein kommt und ich’s ihr endlich, endlich zeigen kann, was ich durch Dich von ihr gelernt – manchmal ist mir’s, als könnt’ ich’s kaum erwarten!“
„Närrle, Du,“ lächelte der Gatte.
Sie umfaßte ihn. „Geh’ hin, sag’s ihr, daß wir ein Kind haben –“
Er schüttelte den Kopf. „Nein, nein, dring’ nicht in mich – es hat alles seine Grenzen – wenn sie mir etwas Hartes sagte, jetzt könnt’ ich es nimmer verwinden.“
Kurz nach diesem Gespräch erhielt Eduard einen Brief von seinem Bruder; es war fast ein Jahr verflossen seit dessen Abreise, und gar oft war die Rede von ihm gewesen im Schneiderschen Hause, ob er wirklich den großen Gehalt bekomme und imstande sei, die Mutter regelmäßig zu unterstützen.
Kunos Schreiben lautete folgendermaßen:
„Lieber Edu!
Es ist mir im Anfang recht gut gegangen, und ich konnte Mama monatlich fünfzig Mark schicken, damit sie nicht mehr so viel arbeiten muß. Nun aber werde ich ihr im nächsten Monat nichts schicken können, denn ich habe meine Stellung verlassen und muß mir eine andere suchen; Mama soll es aber nicht wissen, denn sie fängt an, alles so schwer zu nehmen, und darum bist Du gewiß so gut, ihr die fünfzig Mark in meinem Namen vorzustrecken, und zwar so, daß sie ihr als von mir kommend ausbezahlt werden. Du sollst alles wieder bekommen, sobald ich eine neue Stelle habe. In meiner letzten hatte ich sehr viel mit einem händelsüchtigen Menschen zu thun, der alles besser wissen wollte; auch erlaubte sich der Direktor einen sehr ungezogenen Ton gegen mich anzuschlagen; ich verbat mir das, und wir schieden. Wie geht es Dir? ich glaube, Du hast einen Sohn; das freut mich sehr. Ich bin wirklich dafür, daß wir in gutem Einvernehmen bleiben, denn ich kann Dich versichern, daß ich gar nicht hochmütig bin, und ich hoffe, daß Mama auch endlich eines Tages einsieht, daß Du auch ein ganz tüchtiger Mensch bist. Freilich, daß Du unser ‚von‘ aufgegeben hast, war ein wenig stark von Dir. Vielleicht bist Du so gut und schickst mir umgehend zweihundert Mark, damit ich nicht in Verlegenheit komme.
Jetzt, jetzt war er da, jetzt war der Augenblick gekommen, und Eduard kam an die Reihe! Mit welchem Eifer, mit welcher Ueberlegung setzte er die Sache ins Werk, damit die arme Mutter ja nicht merke, daß die Unterstützung, die er sogleich wesentlich erhöhte, wo anders herkomme als von ihrem Kuno!
Daß sie darein keinen Zweifel setzte, erfuhr das junge Paar gelegentlich durch Frau Müller, die nie verfehlte, von Zeit zu Zeit vorzusprechen, um zu sehen, wie’s um den jungen Haushalt stand.
„’s ist der Wunderfitz, der mich hertreibt,“ bekannte sie unverhohlen, „ich muß halt immer wieder schauen, ob’s denn wahrhaftig in Gott wahr ist, daß gerad’ die Frau zwei so ausgezeichnete Söhn’ hat; ich kann’s halt nicht begreifen. – Ganz aus Rand und Band bringt mich ihre Prahlerei mit dem Kunochen; wer hätte das gedacht, schickt ihr der Grünschnabel monatlich hundert und fünfzig Mark, der Malefiz-Bub’! Laß ich da einmal ganz harmlos mein Butterbrot aufs Tischtuch fallen – nennt mich der Bengel ‚Schweinchen‘ – ich bitt’ Sie, in meinem Alter! – und daß ich’s nur gerad’ sag’, eine wahre Freud’ war mir’s, wie er als Fähnrich seine Schläg’ kriegt hat: da hast’s – hab’ ich denkt. – Aber so bin ich nicht, Gott bewahr’, die Sach’ war halbpart – sie hat mir leid gethan in der Seel’, und ich wär alle Tag’ hin und hätt’ ihr Trost zugesprochen, aber sie war krank – stellt sich krank bis zu dem Augenblick, wie der Kerl das unverdiente Glück hat und kriegt die schön’ Stellung. Jetzt sitzt sie wieder am Theetisch, thut wie eine Privatiere und als ob sie nur mein’ Sach’ mir noch aus Gnad’ und Barmherzigkeit machen thät. Die Frau ist nicht unterzukriegen, einfach nicht unterzukriegen! Ach Gott, Kinder, ich möch’ Euch ja gern ’s Wort bei ihr reden, aber so oft ich von Euch anfang’, stößt mir das Malchen unterm Tisch ’s Schienbein wund, und dann, Gott soll mich bewahren, die Feldern will nimmer für mich arbeiten, wenn ich nicht aufhör’, ihr von Leuten zu reden, von denen sie nichts hören mag. Jede andre aber verpfuscht mir die Taille, und die kann ich Euch nicht opfern – nein, das werdet Ihr einsehen! Jesses, Kinder, hat man sich aber heut’ wieder bei Euch unterhalten, ’s geht eben nix über so ein Schwätzedle,“ schloß sie ihre Rede und rauschte befriedigt von dannen.
In der That, Frau von Feldern gönnte sich ein wenig Ruhe; sie hatte nur noch ein Nähmädchen und ihre emsigen Hände zogen nicht mehr so blitzschnell die Nadel aus und ein wie vordem. Das Alter war gekommen, und die Augen, die so viel geleistet, versagten den Dienst. Aber sie klagte nie, saß nach wie vor aufrecht und gut gekleidet hinter ihrem Theekessel, maßregelte Frau Müller und protegierte Malchen, die ihr allein von all’ den früheren Gästen treu geblieben waren, und wenn man sie hörte, so ging ihr alles nach Wunsch und sie war eine beneidenswerte Mutter wie keine zweite auf Erden.
Die heimliche Angst, es könne ihrem Kunochen eines Tages wieder schlecht gehen, verließ sie freilich keinen Augenblick; sie legte deshalb, was sie zu erübrigen vermochte, als Notpfennig zurück, um ja in der Lage zu sein, dem Liebling beispringen zu können, wenn Not an Mann gehe. Zuweilen auch wunderte sie sich in ihrer Einsamkeit, daß Eduard so gar keinen Versuch mehr machte, ihre Verzeihung zu erringen; da sie des Abends nicht mehr arbeiten konnte, kamen ihr allerlei Gedanken, die beinahe etwas Versöhnliches hatten, besonders seit sie wußte, daß sie Großmutter geworden war. Aber zuerst natürlich mußte der Sohn zu ihren Füßen liegen!
Der aber hatte seit der Täuschung, die er an seiner Mutter ausübte, ein viel zu schlechtes Gewissen, als daß er sich unter ihre Augen getraut hätte. Auch war er nicht so ganz sicher, ob er wohl imstande sein möchte, es ruhig über sich ergehen zu lassen, wenn die Mutter ihm nach wie vor Kunos Loblied singen würde. Er hatte nun schon ganz artige Summen an den Bruder gesandt und nicht Lust, ihn noch länger als Vorbild hingestellt zu bekommen. Er fand es überhaupt an der Zeit, die Mutter endlich über die Lage des Bruders aufzuklären, allein Gustl hielt ihn immer wieder davon zurück.
„Thu’ Du’s nicht,“ bat sie, „aus Deinem Munde wär’s ihr ein doppelter Schlag; Dein Bruder wird’s gewiß nicht immer verbergen können, wie’s um ihn steht; er hat so wie so eine ganze Weile nichts von sich hören lassen, da denk’ ich immer, er kommt gewiß eines Tages völlig abgerissen heim, und dann wird ja alles einmal an den Tag kommen.“
Die Sache ging aber anders; Kuno hatte immer regelmäßig an seine Mutter geschrieben, kurze Briefe, in denen er sich nach Mamas Befinden erkundigte und sie immer wieder bat, doch nicht so viel Aufhebens von den monatlichen Geldsendungen zu machen, ihre überschwengliche Dankbarkeit beschäme ihn gar zu sehr. Diese gedankenarmen Brieflein waren die einzige Lebensfreude der einsamen Frau, gaben ihr den Trost, dessen sie so sehr bedurfte, daß sie nicht umsonst gelebt, gekämpft und gerungen.
Nun aber war schon eine geraume Zeit verstrichen und Frau von Feldern hatte nichts von ihrem Sohne gehört. Eine entsetzliche Unruhe bemächtigte sich ihrer, die unglückseligsten Vorstellungen plagten sie, so daß sie jedesmal zusammenfuhr, so oft es auf dem Vorplatz läutete. Zwanzigmal im Tag lief sie zu ihrer Schatulle, um die Summe nachzuzählen, die sie erübrigt hatte. Dann wieder schalt sie mit sich selber, was ihr denn einfalle, was sie denn glaube – trafen nicht die hundertundfünfzig Mark regelmäßig am Ersten eines jeden Monats vom Bankier bei ihr ein, im Auftrage des Herrn Kuno von Feldern! „Ich bin doch eine recht nervöse alte Frau geworden,“ sagte sie zu sich selber, „Kunochen wäre außer sich, wenn er wüßte, was ich mir für Sorgen mache.“
Es war Sonntag; Frau von Feldern warf noch einen Blick auf den sorglich hergerichteten Theetisch, fuhr mit dem Staubtuch
[96][97] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [98] über den Kessel, der ohnedies wie ein Spiegel glänzte, und wollte nun an die sonntägliche Toilette gehen, als es auf dem Vorplatz läutete. Es war das Dienstmädchen des oberen Stockwerkes; sie solle vielmals um Entschuldigung bitten, aber der Postbote sei in der Frühe dagewesen, er habe unten geläutet, und da ihm nicht aufgemacht worden sei, habe er sein Paket oben abgegeben; sie, das Dienstmädchen, sei in der Kirche gewesen, und die gnädige Frau habe eben erst wieder an das Paket gedacht, das sie auf dem Vorplatz habe liegen lassen.
Es war ein Paket aus Berlin, das Frau von Feldern freudig erregt in die Stube trug. Gerade in dieser Nacht war sie wieder von den unglücklichsten Vorstellungen geplagt gewesen und erst gegen Morgen in einen unerquicklichen Schlummer verfallen; da mußte der Postbote geläutet haben, und sie hatte es nicht gehört.
Mit zitternden Händen riß sie das Paket auf; ein Rahmen kam zum Vorschein mit einem Bild – mit dem Bild ihres Lieblings. – Aber fast hätte sie aufgeschrieen, so ähnlich war er dem Vater geworden, schon durch den grauen Anzug, den er trug, und den Backenbart, den sie zum erstenmal an ihm sah; sein früher so interessantes schmales Gesichtchen war allerdings rund geworden, ja beinahe feist, und auch ein Etwas in der Haltung – kurz, Kunochen sah nicht mehr so aristokratisch aus wie früher, und Frau von Feldern nahm sich vor, ihn darauf aufmerksam zu machen.
Jetzt aber zum Brief – wie freute sie sich über dessen Länge, mit welchem Behagen setzte sie sich zurecht, das Bild vor sich auf den Tisch stellend! – noch einmal hing ihr Auge an den teuren Zügen, dann beugte sie sich über das Schreiben und las:
„Geliebte Mutter!
Ich habe lange nichts von mir hören lassen, aber wie Du auf dem Bilde siehst, bin ich nun fein heraus, und so will ich denn endlich Mut fassen und mit der Wahrheit anrücken. Ich habe schrecklich ausgestanden, liebe Mama, und wahrhaft jammervolle Zeiten durchgemacht. Ich glaube, ich bin nicht so begabt, wie Du immer meintest, und welch ein Glück wär’ es gewesen, wenn man das früher herausgekriegt hätte und ich mich nicht so fürchterlich mit Lernen hätte schinden müssen, denn ich war weder zum Studieren, noch zum Soldaten geboren. Hier in Berlin habe ich das sehr bald eingesehen, aber ich wollte Dich nicht kränken, und so habe ich Dir auch alle die Schicksalsschläge verheimlicht, die mich hier nacheinander trafen, denn ich bin gleich im ersten Jahr stellenlos geworden, und, was ich auch unternahm, nichts wollte mir glücken.
Auch war ich keiner Anstrengung gewachsen, und als ich mich einmal sehr elend fühlte und zu einem Arzt ging, sagte dieser mir, ich sei zwar gesund, aber außerordentlich schlecht genährt und habe viel nachzuholen. Dies, liebe Mama, ist gewiß auch der Hauptgrund, warum ich ein so haltloser Mensch ohne Ausdauer geworden bin, und bitte ich Dich, dies ins Auge zu fassen, damit Du mir verzeihen kannst, was ich Dir alles verheimlicht habe und was aus mir geworden ist. Ich habe es nämlich Eduard zu verdanken, daß ich nicht zu Grunde ging, er hat mich fortwährend unterstützt, und Dich auch, liebe Mama, indem er Dir in meinem Namen das Monatliche auszahlte, was ich ja sehr gern gethan hätte, wenn ich es nur hätte können. Du kannst Dir denken, liebe Mama, wie mich das peinigte, wenn Du Dich immer bedanktest. Ich weiß gar nicht, wo all das viele Gelernte hin ist, denn nicht einmal für ganz untergeordnete Stellungen hat mein Kopf ausgereicht. Zuletzt bin ich Kellner gewesen im Café Kleiner, wo ich zuerst die Entdeckung machte, daß ich sehr geschickte Hände besitze, denn ich machte alles am besten und zerbrach nie etwas. Hier auch sollte mich der erste Glücksstrahl meines Lebens treffen; die Besitzerin des Cafés und des gleichnamigen Hotels war eine brave gutmütige Witwe in meinem Alter, kinderlos und sehr umworben. Allein meine feine Lebensart und elegante Erscheinung hat sie zu dem Schritt veranlaßt, mir ihre Hand und ihr Hotel anzubieten. Ich selbst hätte natürlich nie den Mut gehabt, bei ihr anzuklopfen. So siehst Du doch, liebe Mama, daß Deine gute Erziehung nicht umsonst war, sondern gute Früchte getragen hat. Wegen des Namens mache Dir keinen Knmmer: das Cafe behält den Namen Café Kleiner, und die Leute nennen mich Herr Kleiner. Es ist freilich mit mir ein wenig anders geworden als Du es wünschtest, aber zürne mir darum nicht, liebe Mama, es hätte noch viel schlimmer ausfallen können. Es geht mir jetzt so gut, daß ich gar zu gerne möchte, unsre ganze Familie wäre versöhnt. Meine Frau und ich bitten Dich, bei uns zu wohnen, Du sollst es sehr angenehm haben; ich versichere Dich, so ein warmes zweites Frühstück mit Rotwein ist nicht ohne! Ich wäre wirklich sehr glücklich, liebe Mama, wenn ich Dir alles vergelten könnte, was Du an mir gethan.Frau von Feldern ließ die Hand mit dem Brief ihres Sohnes sinken und starrte dessen Bild an; sie starrte es an, ohne es zu sehen, völlig geistesabwesend, als lauschte ihre Seele auf innere Stimmen, die sich da erhoben und nicht mehr zum Schweigen zu bringen waren. Die letzte Rede ihres Mannes fiel ihr ein, und es war ihr, als habe sie jene Worte, die er vor seinem Tode gesprochen, soeben wieder gehört aus dem Brief ihres Sohnes – ja, innerlich und äußerlich, sie waren sich ganz gleich! ...
Sie schauderte zusammen vor der entsetzlichen Helle, die sich plötzlich vor ihr aufthat, aber sie schaute hinein. „Schicksal, Schicksal,“ murmelten ihre zuckenden Lippen, „der eine giebt sein ‚von‘ auf, der andre seinen ganzen Namen!“ Sie stieß ein trockenes Lachen aus, das aber mit einem Schluchzen endigte; welch eine Oede, welch eine Armut des Daseins that sich mit einem Male vor ihren trostlosen Blicken auf – sich sagen zu müssen am Schlusse seines Lebens: es war alles umsonst, und Du hast nichts erreicht, nichts! ...
„Es ist alles Lüge gewesen,“ sagte sie laut und hart, „ein mühevolles Lügen, tagaus tagein – nun aber ist’s vorbei!“
Sie starrte das Bild ihres Sohnes an. „Er sieht aus wie ein Oberkellner – mache Dir das nur klar – mache Dir alles klar!“
Es läutete; Frau von Feldern fuhr in alter Gewohnheit nach dem Kopf, um das Spitzenhäubchen zu ordnen, das sie vergessen hatte, aufzusetzen, und öffnete.
Die Sonntagsgäste traten über die Schwelle – Frau Müller in rauschender Seide, mit dem unternehmenden Gesichtsausdruck einer Person, die sich auf einen lustigen Kampf gefaßt macht – Malchen mit dem stark markierten Bühnenlächeln, das aber urplötzlich von ihrem Gesicht verschwand, während Frau Müller die Augenbrauen bis unter die Haarfransen zog; vor ihnen stand eine gebrochene, unbeschreiblich leidend aussehende Gestalt, die aber, kaum war die erste Frage laut geworden: „Sind Sie krank – fehlt Ihnen etwas?“ wieder aufschnellte und in ihrem alten Ton erwiderte: „Nichts von Bedeutung –“
Man stürzte über Kunos Bild her, und Frau Müller rief beinahe zornig aus: „Herrgott, jetzt hat der Meusch auch noch dicke Backen ’kriegt,“ – sie nahm ihre Lorgnette – „wahrhaftig, ganz dicke Backen!“
Frau von Feldern bereitete den Thee; ihre Hände thaten mechanisch die gewohnten Dinge, während sie innerlich fortwährend nach Fassung rang.
Aber als Frau Müller ihren Thee hatte, schrie diese laut auf: „Pfui Teufel, was haben Sie mir da für ein Getränk gegeben, ich glaub’ wahrhaftig, ’s ist Lindenblütenthee –“
„Entschuldigen Sie –“ Frau von Feldern nahm die Tasse zurück, „eine kleine Verwechslung; da es mir wirklich nicht ganz gut ist, habe ich mir zum erstenmal in meinem Leben Lindenblütenthee gekocht.“
Frau Müller betrachtete Kunos Bild und dann die blasse, veränderte Frau. „Sie,“ sagte sie Malchen ins Ohr, „da hat’s schlechte Nachrichten gegeben, ich wett’ –“ Aber sie that keine Frage und Malchen auch nicht, und so entstand eine Totenstille.
Frau von Feldern sollte die Erfahrung machen, daß für einen, der sein ganzes Leben gelogen hat, die Wahrheit keine leichte Sache ist. Es drängte sie, das Gewebe zu zerreißen und damit herauszukommen, was doch nicht zu verbergen war, aber der gerade Weg war ihr unbekannt.
„Kunochen hat eine sehr gute Partie gemacht,“ sagte sie mit einem eigentümlichen Zittern ihrer Stimme, „ich habe wenigstens selbständige Söhne erzogen und nicht solche, die ewig an der Schürze ihrer Mutter hängen.“
„Das war vorauszusehen,“ fiel ihr Malchen ins Wort, „ich wundere mich über gar nichts, und wenn Kunochen eine Prinzessin geheiratet hätte. Ist sie hübsch? Hat er nicht ihr Bild geschickt?“
„Sie wird gemalt, ich bekomme sie gemalt; sie soll eine wunderschöne Frau sein,“ sagte Frau von Feldern. „Es giebt ja nichts Dümmeres auf der Welt als Hochmut, und darum bin ich auch ganz zufrieden, obwohl sie die Tochter aus einem der ersten Hotels in Berlin ist; sie war sogar bereits ein halbes Jahr verheiratet, aber das geniert mich auch nicht, wo so viel Schönheit und Reichtum ist – die Kinder sind unbeschreiblich glücklich, und ich mit ihnen!“
[99] Frau Müller und Malchen warfen einen kurzen Blick auf die Sprecherin, deren Aussehen mit dieser Behauptung im grellsten Widerspruch stand. Aber Malchen war nicht umsonst Schauspielerin, und so legte sie sich ins Zeug und spielte die Unbefangene, allerdings nicht besser als auf der Bühne, aber ihre hohlen Reden und Worte ohne Sinn waren in diesem Augenblick eine große Wohlthat für Frau von Feldern. Sie saß wie in Todesangst vor einer plötzlichen, den Nagel auf den Kopf treffenden Bemerkung der Frau Müller, deren Augen immer auf der Wanderschaft waren zwischen ihr und dem Bilde Kunos und um deren Lippen allerlei verräterische Geister ihr Spiel trieben. Die Verstellungskunst ging ihr allerdings vollständig ab, sie atmete hörbar vor innerer Aufregung, indem sie zu sich selber sprach:
„Wenn ich sie jetzt nicht unterkrieg’, dann krieg’ ich sie nie unter – nur ein wenig, ein klein wenig will ich’s ihr zeigen, daß ich mich nicht zum Narren halten laß’.“
Sie legte die Hand auf den Arm des Kunos Lob in allen Tonarten singenden Malchens. „Also auch nichts andres als eine Bürgerstochter, gerad’ wie der Eduard –“
„Ja, Eduard,“ nahm ihr Frau von Feldern das Wort aus dem Mund, „er weiß noch von nichts – ich werde ihm selber die Nachricht bringen.“
Großer Gott, was muß da passiert sein, was diese Frau innerlich so um und um hat wandeln können, sagte sich Frau Müller und kam mit sich überein: Nein, einer gebrochenen Seele will ich nichts zu leid thun, ich ganz gewiß nicht. – „Kommen Sie, Malchen,“ fuhr sie laut fort, „wir wollen Frau von Feldern nicht in ihrem Vorhaben aufhalten, es ist ohnedies ein so schöner Tag, da geht man gern noch ein bissel spazieren.“
Sie schüttelte Frau von Feldern die Hand zwei-, dreimal.
Draußen packte sie Malchen mit einer solchen Heftigkeit beim Arme, daß diese aufschrie. „Fast geplatzt bin ich – ich muß meine Hutbänder aufmachen – Jesses, Malchen, bleiben Sie bei mir – wenn mich nur kein Schlag trifft! Wissen Sie, Malchen, ich hab’ denkt’, jetzt krieg’ ich sie endlich unter – ja hopsa! da war’s wieder nichts. Daß ich’s nur gerad’ sag’ – fast sind mir die Thränen in die Augen gekommen, und ich kann’s nicht sagen, wie’s mich ’packt hat, daß sie zum Eduard geht. Das Kunochen muß eine böse Partie gemacht haben, potz Wetter noch einmal! Denken Sie an mich, Malchen – die Witwe läßt sich nicht malen, die wird wissen warum! – Großer, allmächtiger Gott! ja, ja, es kommt alles anders – Kinder haben ist nicht immer ein Pläsier, aber wenn der Eduard mein wär’, ich wollt’ gern drei Stock hoch springen, und wenn ich ein Bein dabei brechen thät! – Aber kommen Sie, kommen Sie, Malchen, wir gehen in eine Konditorei, mich hat die Geschicht’ angegriffen, ich laß uns ein Eis geben und nachher einen Liqueur, denn so ’was muß man leben lassen – daß die Feldern zu ihrem Eduard geht!“
Als Frau von Feldern sich dem Schneiderschen Hause näherte, machte sie große Augen über den neuen hübschen Laden mit den blanken Fenstern und der überaus appetitlichen Auslage. Sie ging durch die Einfahrt und blieb dann schweratmend unter der Hofthüre stehen; auch hier war alles anders, als sie es verlassen; ein prächtiger, grüner Rasen dehnte sich unter der Linde aus, ein rechter Tummelplatz für Kinder; an der Stelle des niedrigen Erdgeschosses stand ein schönes Hochparterre mit breiter Veranda. Frau von Feldern mußte sich einen Augenblick an der Thüre festhalten; sie hatte zwei Kinderköpfchen entdeckt, die an einem Tisch saßen und Milch tranken; blitzschnell erwachte in ihr die alte Natur, und sie erhob sich auf den Zehenspitzen, um zu sehen, ob auch alles in Ordnung vor sich gehe. Ja, völlig, völlig! – es nahm ihr fast den Atem. Allein die schnarrende Stimme des Herrn Schneider, der sich mit den Kindern abgab, brachte sie zu sich selbst: ein Gefühl glühender Eifersucht durchfuhr ihre Glieder: rasch schritt sie über den Rasen und erschien plötzlich auf den Stufen der Veranda.
„Ei du heiliges Kreuz, die Feldern –“ empfing sie der Großvater ihrer Enkel, aber er war purpurrot und zitterte an allen Gliedern, „um Gotteswillen, bitte – bitte –“
Er schob der Frau, die angesichts der sie groß anschauenden Kleinen zu wanken anfing, flugs einen Stuhl unter.
„Und das ist der Eduard Feldern, und das der Kuno Feldern,“ sagte er und setzte ihr beide Büblein auf den Schoß.
Sie drückte die Kinder mit einem wonnigen Aufschluchzen ans Herz. „Ja, ja, Herr Schneider,“ preßte sie unter den nicht mehr zurückzuhaltenden Thränen hervor, „Sie haben gesiegt –“
„Bilden Sie sich so ’was nicht ein, sondern sehen Sie mich an“ – er saß da, die Ellbogen auf dem Tisch, die Hände in den Haaren – „die reinsten Barone sind wir – alle miteinander – wenn Sie noch einen Flecken an meinem Rock sehen wollen, müssen Sie eine Lupe nehmen – und diese Kinder – jawohl, da hat sich was mit meinem Sieg. Den ganzen Tag heißt’s: das dürfte Großmama Feldern nicht sehen – jenes dürfte Großmama Feldern nicht hören! – Und der Großvater Schneider – je nun, was will er machen – wenn alles nach Ihrer Pfeife tanzt, so muß ich halt mittanzen, aber leicht ist mir’s nicht geworden und manchmal schon hab’ ich gedacht – hol Sie der – o Herrgott“ unterbrach er sich, „die werden mich ja steinigen, daß ich da lang’ schwatze –“ und rannte unter fürchterlichem Schneuzen davon.
Frau von Feldern hatte die Rede des ehemaligen Todfeindes wohl gethan, sie hatte sie erheitert.
Als Eduard und seine Frau mit überquellendem Herzen, glückselig und doch wieder zagend herbeigeeilt kamen, fanden sie keine strenge, großmütig verzeihende Mutter, sondern eine mildblickende glückstrahlende Großmutter, die jeder Rührung die Spitze abbrach, indem sie die Eltern ihrer Enkel mit den Worten empfing:
„Wie habt Ihr sie wohl erzogen!“
Blätter und Blüten.
Die Jubelfeier der Wiedererrichtung des Deutschen Reichs. (Zu dem Bilde S. 96 und 97.) Ueberall im weiten Vaterlande, im Norden wie im Süden, in den Städten wie den entlegensten Weilern, ist der Erinnerungstag an die Wiedererrichtung des Deutschen Reiches hochgestimmt und dankerfüllten Herzens begangen worden. Vertreter aller politischen Parteien, in denen die Liebe zum Vaterland waltet, vereinigten sich an diesem 18. Januar allenthalben zu großartigen Kundgebungen der Einmütigkeit ihrer nationalen Gesinnung. Die Hauptfeier aber fand naturgemäß in Berlin statt, das durch jenes Ereignis zur Würde der Hauptstadt des Deutschen Reiches gelangte, in der Residenz des Königshauses, dem vor 25 Jahren unter dem Beifall der übrigen deutschen Fürsten und des gesamten Volkes die im Schlachtenfeuer geschmiedete neue Kaiserkrone zufiel. Der Enkel Wilhelms des Ersten, der heute mit gerechtem Stolze ihr Träger ist, hatte es sich angelegen sein lassen, einen glanzvollen Staatsakt vorzubereiten, der ihm selbst Gelegenheit gab, das Gelöbnis seines Großvaters feierlich zu erneuern, mit welchem dieser in Versailles die Kaiserwürde übernahm. Und wie die dabei zur Verlesung gelangende Botschaft direkt an die Proklamation anknüpfte, welche 1871 Bismarck im Spiegelsaal des Versailler Schlosses verlas, so hatte die Jubiläumsfeier im Weißen Saale des Berliner Schlosses mancherlei Anklänge an den großen historischen Vorgang. Dieselben neunzehn Fahnen und Standarten, welche, als von besonderem Ruhm ausgezeichnet, damals den ersten Kaiser grüßen durften, fanden auch jetzt wieder auf und neben dem Throne Aufstellung. Und wenn auch von den hervorragendsten Teilnehmern an jener Handlung nur wenige bei der jetzigen Feier anwesend waren – hat doch die meisten uns der Tod entrissen, wenn auch von der persönlichen Beteiligung der übrigen Bundesfürsten abgesehen worden war und auch Fürst Bismarck und Generalfeldmarschall Graf Blumenthal verhindert waren, der an sie ergangenen Einladung zur Teilnahme zu folgen, so waren von Mitgliedern des Bundesrats und des Reichstags, unter den Staatswürdenträgern und Generalen doch zahlreiche Männer vertreten, die persönlich an der Gründung des Reichs beteiligt und von ihrer Verkündigung Zeugen gewesen waren. Der noch am Leben befindliche erste Präsident des Deutschen Reichstags, Dr. v. Simson, war freilich leider auch am Erscheinen verhindert.
Diese Feierlichkeit im neuhergerichteten Weißen Saale des Königlichen Schlosses begann vormittags um 11 Uhr. Vorher hatte in Anwesenheit des Kaisers und seiner Familie ein Gottesdienst in der Schloßkapelle stattgefunden. Ehe der Kaiser dann in dem festlich beleuchteten Saale mit den Personen des „großen Vortritts“ und des Gefolges erschien, hatten die Geladenen Aufstellung genommen: die Mitglieder des jetzigen und des ersten Reichstags gegenüber dem Thron, die Generalität an der Kapellenseite, die Minister, das diplomatische Corps und andere Gäste an der Fensterseite des Saales, die Mitglieder des Bundesrats links vom Throne, während die rechte Seite für die am Aufzug des Kaisers Beteiligten freiblieb. In prunkvoller Weise erfolgte nun dieser. Voraus schritt die Schloßgardecompagnie in ihrer historischen Uniform, welche die neunzehn auserwählten Feldzeichen geleitete. Es folgten Fouriere, Pagen, die Hofchargen und nach den obersten derselben die Ritter des Schwarzen Adlerordens in ihrer glänzenden Tracht. Von sechs Generalen getragen, erschienen nun die Reichsinsignien, eskortiert von Offizieren der Gardes du Corps. Das Reichsinsiegel auf einem silbernen Kissen trug Generallieutenant Graf v. Wedel, das entblößte Reichsschwert, aufrecht gehalten, der Kriegsminister Bronsart v. Schellendorff, [100] den Reichsapfel auf silbernem Kissen General Graf Lehndorff, das Scepter auf goldenem Kissen General v. Werder, die Krone auf goldenem Kissen General Fürst Radziwill und das Reichspanier Generaloberst v. Loë. Den roten Mantel der Ritter des Schwarzen Adlerordens trug auch der Kaiser über der weißen Gardes du Corpsuniform; an der Spitze seines Gefolges schritten die Prinzen des königlichen Hauses und die in Berlin anwesenden Prinzen aus souveränen altfürstlichen Häusern. Während des Aufzugs erscholl aus den linken Tribünenlogen herab fanfarenartige Marschmusik, die sich steigerte, als der Kaiser auf dem Throne Platz nahm, die Fahnen und Standarten sich um ihn ordneten, die Träger von Reichsschwert und Reichspanier hinter ihm auf der mittleren Thronstufe Stellung nahmen und Reichsapfel, Krone, Scepter und Insiegel von ihren Trägern auf die rechts und links vom Kaiser bereitstehenden Taburette gelegt wurden. Die Kaiserin Friedrich, die Kaiserin Auguste Viktoria, sowie die Prinzessinnen mit ihrem Gefolge hatten inzwischen auf den Tribünen rechts vom Throne ihre Plätze genommen.
Unter lautloser Stille verlas dann der Kaiser die Botschaft, welche ihm vom Reichskanzler Fürst Hohenlohe überreicht worden war. Bald jedoch löste sich die Spannung in Aeußerungen begeisterten Beifalls: zuerst als Bismarcks Verdienste um das Reich hervorgehoben wurden, dann als der Wille Deutschlands, seine Einheit und Unabhängigkeit aufrecht zu erhalten, Betonung fand, als von den idealen Zielen die Rede war, zu denen sich der Kaiser im Namen der heutigen Reichsregierung bekannte. Aber erst nach der Verlesung der Botschaft und nachdem der von ihr geweckte Beifall verhallt war, erreichte der Festakt seinen Höhepunkt. Der Kaiser hatte noch eine besondere Handlung von weihevoller Symbolik vorbereitet, welche dem Gelöbnis der Botschaft einen ganz persönlichen Ausdruck lieh. Er ergriff die hinter ihm bereitstehende Fahne des ersten Garderegiments, senkte sie und sprach mit innerster Bewegtheit die Worte: „Angesichts dieses ehrwürdigen Feldzeichens, welches eine ruhmvolle Geschichte aufzuweisen hat, erneuere ich das Gelübde, für des Volkes und des Landes Ehre und Wohlfahrt einzutreten, sowohl nach außen als nach innen. Ein Reich, ein Volk, ein Gott!“ Unser Bild vergegenwärtigt diesen feierlichen Vorgang. Unter den links im Vordergrund stehenden Rittern des Schwarzen Adlerordens sind die Prinzen Albrecht und Friedrich Leopold, Graf Waldersee, der frühere Minister Puttkamer zu erkennen. Auch sonst hat so mancher Charakterkopf unter den Ministern und Reichstagsabgeordneten Porträttreue. Hinter dem Fürsten Hohenlohe steht der Oberhofmarschall Graf Eulenburg.
Jagderlebnisse. (Zu dem Bilde S. 85.) Der Förster trifft auf dem Gange durch sein Revier den Pächter der angrenzenden Jagd aus der nahen Kreisstadt, einen guten alten Bekannten. Neben ihm trabt ein Junge durch den Schnee, der als Jagdbeute einen stattlichen Hasen an einem Stock auf der Schulter trägt. Nach der Begrüßung berichtet der Städter alsbald seine heutigen Jagderlebnisse. „Meine Frau wollte für morgen gern einen Sonntagsbraten haben, da mußt’ ich ihr schon den Gefallen thun und heute morgen ausrücken. – ‚Nimmst Du den Hektor nicht mit?‘ fragt sie, aber ich sage: ‚Den brauch’ ich nicht.‘ In meiner ganzen Jagd giebt’s keinen Hasen, von dem ich nicht weiß, wo ich ihn bei diesem Wetter suchen muß und wie er läuft. – Ich nehme mir dann beim Wirt am Chausseehaus hier den Anton mit und weise ihn an, sobald ich pfeife, das kleine Birkenwäldchen abzutreiben, tüchtig dabei zu schreien und mit seinem Stock auf das Unterholz zu schlagen. Wenn neuer Schnee gefallen ist, so kann man darauf wetten, daß an dem windabwärts gelegenen Waldrande regelmäßig so ein ‚Krummer‘ sitzt. Wird er ‚aufgestoßen‘, dann rückt er jedesmal auf dem kleinen Feldwege aus, der nach der Eichenschonung hinüber führt. Dort stellte ich mich auf und pfiff dann.“ – „Der Moltke hätt’ keinen feineren Plan schmieden können,“ meint der Förster anerkennend. Der Jagdpächter aber nickt geschmeichelt und fährt dann, immer mehr in Eifer geratend, fort: „Es dauert nicht lange, so seh’ ich Meister Lampe drüben auftauchen. In großen Sprüngen kommt er aus dem Wäldchen bis aufs Feld. Dort bleibt er eine Weile hochaufgerichtet im Schnee sitzen, um sich zu vergewissern, ob die Luft vor ihm auch rein ist. Er läßt die ‚Löffel‘ hin und her gehen – wie der Anton aber näher kommt, macht er sich auf und kommt nun gerade auf mich zu. Aber ein schlauer Bursche war’s, das muß ich sagen. Der Wind blies mir gerade entgegen, ich hielt mich auch ganz mäuschenstill, und trotzdem muß er mich gewittert haben. Im Augenblicke, daß ich anlege, setzt der Bursche blitzschnell zur Seite, schlägt einen scharfen Haken – sehen Sie: so – und wär’ mir im nächsten Augenblick zwischen dem Buschwerk, das dort steht, aus den Augen gewesen. Es war reichlich weit, aber ich kann mich ja auf meine Flinte verlassen, wenn sie auch kein so neumodisches Dings ist, wie man’s jetzt wohl hat. Na, ich schieße also los und da lag er!“ – Der Förster hat schmunzelnd zugehört. Bei sich scheint er zu denken: „Warte nur, wenn wir nach der nächsten Treibjagd abends in der ‚Post‘ sitzen, da will ich auch einmal Geschichten erzählen!“ Und der wackere Weidgeselle sieht ganz so aus, als ob er sich auch auf das „Jägerlatein“ ausgezeichnet verstände. E. M.
Polnischer Hochzeitsreiter. (Zu dem Bilde S. 89.) Dichter und Maler sind die Sittenschilderer eines Volkes und bewahren mit Feder und Pinsel das Andenken an Bräuche, die von Jahrzehnt zu Jahrzehnt mehr schwinden. So auch Alfred von Kowalski, der jetzt 46jährige polnische Meister. Mag sein „Hochzeitsreiter“ noch so fröhlich in die Welt schauen, daß die weißen Zähne hervorblitzen, und mögen die bunten Bänder am Hut an Farbenpracht auch mit dem breiten gestickten Hüftengurt wetteifern – wie lange noch und auch der drużba gehört der Sage an. Der drużba (in Galizien auch starosta wesela genannt) ist eben der Hochzeitsreiter. Wie der pommersche „Köstebitter“ (Köstebirre) ladet er die Gäste ein, hier und da sogar in scherzhaften Versen, und am großen Tage selbst reitet er stolz dem Zuge der Wagen vorauf. Aber damit sind seine Obliegenheiten noch nicht erschöpft: er arrangiert auch das Mahl, die Tänze u. s. w. Und je nach dem Reichtum des Bauern, der die Hochzeit ausrichtet, hat er wohl bis zwanzig Burschen unter sich, die gleichfalls zu Pferde den Brautzug begleiten.
In den preußisch-polnischen Provinzen ist die Sitte beinahe völlig geschwunden. Das liegt an den sozialen Verhältnissen. Es giebt nur sehr wenig wohlhabende polnische Bauern im östlichsten Deutschland, und wenn man ja in der Prvvinz Posen mal einen drużba sieht, so reitet er nicht stolz den fiedelnden Musikanten voran, sondern sitzt selbst auf dem Wagen – einfach in Ermangelung eines Pferdes. Häufiger ist die Sitte noch in Galizien, und hier kann man den starosta wesela wohl noch treffen, wie er ausgelassen den Hochzeitszug durch die herbstlichen Gefilde nach dem kleinen Landstädtchen führt, wo die Tranung stattfinden soll.
Auf dem Hinwege scheint auch noch der Hochzeitsreiter unsres Bildes zu sein; denn bei der Rückkehr sitzt er meistens weniger stramm und schneidig im Sattel. C. B.
In der Meerenge von Gibraltar. (Zu dem Bilde S. 93.) Ein prachtvoller Tag und ein günstiger Wind schwellt unsere Segel. Wie hurtig rennt das Schiff auf den blauen Wogen des Meeres! Kein Wunder, denn auch die Wellen treiben uns; wir sind in der Strömung, durch die der Atlantische Ocean seine Fluten dem Mittelmeere zuführt. Wir reisen nicht allein; eine „Schule“ von Delphinen, die nach Hunderten oder gar Tausenden zählt, begleitet das Schiff und die lustigen Gesellen ergehen sich in den tollsten Sprüngen, als ob sie uns durch ihre wassergymnastischen Künste ergötzen wollten. Doch heute schenken wir ihrem Treiben nicht die gebührende Aufmerksamkeit; denn auf Größeres, Denkwürdigeres sind unsere Augen gerichtet. Schmal wird das Meer und nur eine Wasserfläche von 13 km Breite trennt hier die Gestade Afrikas und Europas voneinander. Wunderbar, majestätisch ragt aus der Flut der 425 m hohe Felsen von Gibraltar mit dem schönen Leuchtturm auf der Punta Europa zu seinen Füßen. Welche Erinnerungen weckt dieser Anblick in unsrer Seele.
In Gemeinschaft mit dem gegenüberliegenden Ceuta bildete dieser Felsen die berühmten Säulen des Herkules, durch die einst die Phönizier als erstes Kulturvolk sich auf den unendlichen Okeanos hinauswagten. Später war der Felsen der Schlüssel zum Mittelmeere und er wurde zu einer Festung umgewandelt. Wie heiß stritten die Völker um seinen Besitz, wie oft rötete er sich vom Blute der Mauren, Portugiesen, Spanier, Franzosen und Engländer!
Mehr als ein Jahrhundert ist seit den letzten Kämpfen vor Gibraltar (1779–1781) verflossen, aber aus den Höhlen der Felsengalerien oder hinter Panzerwehren blicken noch immer finster mächtige Geschütze. England hält fest an seinem Besitze auf dem äußersten Punkte Spaniens, denn die Bedeutung Gibraltars hat in den letzten Jahrzehnten zugenommen. Seit der Eröffnung des Suezkanals liegt ja Gibraltar an einer der wichtigsten Straßen des Weltverkehrs, und fünf- bis sechstausend Dampfer laufen jährlich in dem weiten schönen Hafen ein. Der Handelsverkehr ist allerdings nicht hervorragend, da spanische Häfen der englischen Festung den Rang abgelaufen haben, wohl aber ist Gibraltar ein wichtiges Kohlendepot. Ueber 30 schwimmende Kohlenlager versorgen hier mit Heizmaterial die Dampfer, die nach Indien und Ostafrika steuern.
Tödliche Starre und Oede blickt uns von dem südlichsten Vorsprung Europas entgegen, solange wir Gibraltar aus der Ferne betrachten.
Nähern wir uns jedoch der Reede, so wird das Bild anmutig und voll Leben. In jahrhundertelanger Frist hat der Mensch eifrig an dem Felsen herumgearbeitet und selbst auf unzugänglich scheinenden Stellen Mauern, Batterien und Forts errichtet und Galerien in 180 und 240 m Höhe in den Berg hineingesprengt. Am westlichen Abhange liegt aber an den Berg gelehnt die alte Stadt mit 25000 Einwohnern. Rings um dieselbe heben sich wie Oasen Gärten und Haine ab, deren Scholle man mit vieler Mühe dem toten Felsen abgerungen. In diesem warmen und durch die Seeluft gemilderten Klima gedeihen fröhlich alle immergrünen Gewächse des Südens. Berühmt ist aber Gibraltar besonders durch seine Fauna, denn sein Felsen ist der einzige Ort Europas, auf dem noch Affen in wildem Zustande leben. Innus ecaudatus oder Magot heißt die schwanzlose Art und die lustige Bande lebt munter unter dem Schutz strenger Gesetze, die jedwede Verfolgung der letzten europäischen Vierhänder verbieten. *
Winter im Ilsethal. (Zu unserer Kunstbeilage.) Tausende von unsern Lesern kennen das Ilsethal, mit seinen Ilsefällen und dem sagenumwobenen Ilsenstein – es lebt in ihrer Erinnerung fort, wie sie es als Touristen oder Sommerfrischler um die Zeit der Pfingstmaien oder im blühenden Sommer geschaut. Anders bietet es sich den Blicken des Wanderers in der harten Winterszeit dar; der Wald ist stumm geworden, denn die lustigen gefiederten Sänger haben ihn längst verlassen, stumm liegt auch das Eisenwerk im Hintergrunde, da der grimme Frost die raschen Gebirgswässer überwältigt und gebändigt hat. Wie wunderbar wirkt aber auf den Menschen diese weihevolle Winterstille der Natur! Mit weichem Schnee überschüttet, glitzernd im Diamantschmuck zahlloser Eiskrystalle, ist auch der winterliche Wald schön und giebt dem Künstler dankbare Stimmungsbilder. *
Inhalt: Fata Morgana. Roman von E. Werner (5. Fortsetzung). S. 85. – Jagderlebnisse. Bild. S. 85. – Polnischer Hochzeitsreiter. Bild S. 89. – Die Schreckensherrschaft des Kalifa Abdullahi im Sudan. Nach Aufzeichnungen von Slatin Pascha. S. 90. – Am Grabe meines Weibes. Gedicht von Emil Rittershaus. Mit Umrahmung. S. 92. – „Vons.“ Erzählung von Hermine Villinger (Schluß). S. 92. – In der Meerenge von Gibraltar. Bild. S. 93. – Die Jubiläumsfeier der Wiedererrichtung des deutschen Reichs im Königsschloß zu Berlin. Bild. S. 96 und 97. – Blätter und Blüten: Die Jubelfeier der Wiedererrichtung des Deutschen Reichs. S. 99. (Zu dem Bilde S. 96 und 97.) – Jagderlebnisse. S. 100. (Zu dem Bilde S. 85.) – Polnischer Hochzeitsreiter. S. 100. (Zu dem Bilde S. 89.) – In der Meerenge von Gibraltar. S. 100. (Zu dem Bilde S. 93.) – Winter im Ilsethal. S. 100. (Zu unserer Kunstbeilage.)
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Die Gartenlaube.
Emil Du Bois-Reymond. Im vorigen Monat war es Professor Emil Du Bois-Reymond in Berlin beschieden, das fünfzigjährige Jubiläum seiner akademischen Lehrthätigkeit zu feiern. Er ist einer der hervorragendsten Führer der Naturwissenschaft, auf dem Gebiete der Physiologie, der Lehre von den Verrichtungen des gesunden menschlichen Körpers, ein Bahnbrecher ersten Ranges!
Am 7. November 1818 zu Berlin geboren, studierte er zunächst Philosophie und Theologie. Bald aber erwachte in ihm der Sinn für Naturwissenschaften, und so sattelte er um und begann sich in Bonn dem Studium der Erdkunde zu widmen. Schließlich fand er in der Physiologie ein Wissensgebiet, das ihn dauernd befriedigte; genoß er doch in dem berühmten Berliner Physiologen Johannes Müller einen Lehrer und Meister, der seinen Schülern überall neue Wege zu weisen wußte. Du Bois-Reymond fühlte sich zunächst von den rätselhaften Erscheinungen der Elektricität in dem tierischen Körper angezogen, und schon im Jahre 1843 lieferte er ausgezeichnete Arbeiten über das Wesen der elektrischen Fische. Schritt für Schritt verfolgte er diese Studien, und er war es zuletzt, der den Schlüssel fand zur Erkenntnis der Gesetze, nach welchen der elektrische Strom in den Nerven kreist, nach welchen er diese sowie die Muskeln erregt. Nachdem er einige Zeit lang als Lehrer der Anatomie an der Berliner Kunstakademie und als Assistent am Anatomischen Museum thätig gewesen war, wurde er im Jahre 1855 zum außerordentlichen Professor an der Berliner Universität ernannt. Im Jahre 1858 wurde ihm die hohe Ehre zu teil, als Nachfolger von Johannes Müller die ordentliche Professur zu erlangen. Du Bois-Reymond entfaltete nunmehr auch als akademischer Lehrer eine äußerst segensreiche Thätigkeit. Das Berliner Physiologische Institut entfaltete sich unter seiner Leitung zu einer Musteranstalt, die nunmehr, was Hilfsmittel und Lehrkräfte anbelangt, zu den berühmtesten Instituten der Welt zählt. Bei verschiedenen festlichen Gelegenheiten hat Du Bois-Reymond Reden gehalten, die wissenschaftliche Zeitfragen betrafen, aber nicht ausschließlich an Fachleute, sondern an weitere Kreise der Gebildeten gerichtet waren. Seine Vorträge über Leibesübungen fanden lebhaften Beifall und stifteten Nutzen auch in Turnerkreisen. Von Du Bois-Reymond stammt auch das geflügelte Wort „Ignorabimus“ (wir werden es nicht wissen!). Mit diesem Worte schloß er seine auf dem Naturforschertage zu Leipzig im Jahre 1872 gehaltene Rede, in welcher er vor Versuchen warnte, mit Hilfe der naturwissenschaftlichen Experimentalmethoden alle Welträtsel, namentlich das Wesen des Seelenlebens und des Bewußtseins, erklären zu wollen. Das Hauptwerk seines Lebens führt den Titel „Untersuchungen über tierische Elektricität“, in dem seine epochemachenden, über Jahrzehnte sich erstreckenden Arbeiten niedergelegt worden sind. Jahre hindurch redigierte er das von Johannes Müller gegründete „Archiv für Anatomie“, und seit 1877 giebt er das „Archiv für Physiologie“ heraus.
Psychophotographie. Daß vom Auge im Dunkeln Lichtstrahlen ausgehen, ist schon seit langer Zeit erwiesen. Neuerdings aber berichtete die englische Zeitschrift „Nature“von einer Einwirkung des menschlichen Blickes auf photographische Platten, die höchst überraschend ist, ja geradezu unglaubhaft erscheint. Ingles Rogers, der Gewährsmann der Zeitschrift, sah eine Schillingmünze eine Minute lang bei vollem Tageslichte scharf an, um sich ihr Bild möglichst genau einzuprägen. Nachdem das Zimmer hierauf sofort in eine Dunkelkammer verwandelt wurde, richtete er seinen Blick auf eine vor ihm liegende photographische Platte, wobei er bestrebt war, sich das Bild der Münze möglichst scharf zu vergegenwärtigen.
Auf diese Weise blickte er die Platte etwa drei Viertelstunden lang an.
Als darauf die Platte in üblicher Weise entwickelt wurde, zeigte sich in ihrer Mitte ein Bild, welches die Umrisse der Münze wiedergab. Der Versuch wurde vor Zeugen wiederholt, wobei eine Briefmarke als Anschauungsobjekt gewählt wurde. Auch dieser Versuch gelang; wenn auch die Details der Briefmarke auf der Platte nicht erschienen waren, so kam doch ein Bild zu stande, das die Umrisse der Briefmarke wiedergab.
Sollten wirklich bei lebendiger Vorstellung eines Bildes Strahlen von der Netzhaut unseres Auges ausgehen, die das gedachte Bild auf photographische Platten übertragen können? Unmöglich wäre das nicht; eine Bestätigung dieser „Psychophotographie“ ist aber dringend nötig. *
Schwarze Eidotter. Neuerdings hat man in England die Beobachtung gemacht, daß die Enten eines Geflügelhofes Eier legten, deren Dotter nicht gelb, wie gewöhnlich, sondern schwarz gefärbt war. Die Eier hatten dabei keineswegs einen unangenehmen Geschmack. Man untersuchte den Fall näher und glaubte auf Grund der Ermittelungen folgende Erklärung geben zu können. In der betreffenden Gegend fressen die Enten verhältnismäßig viel Eicheln, die reich an Gerbstoff, Tannin, sind. Da nun der Eidotter reich an Eisen ist, so ist es sehr wahrscheinlich, daß Tannin und Eisen miteinander eine Verbindung eingehen, die schwarz gefärbt ist. Ein ähnlicher Vorgang spielt sich bekanntlich bei der Herstellung der Schreibtinte ab. So hätte die Natur in den Enteneiern ausnahmsweise Tintenschwärze erzeugt.*
Gold und Silber in der Industrie. Der größte Teil der Edelmetalle, die jahraus jahrein gewonnen werden, wird als Münze in Umlauf gebracht; aber auch die Industrie braucht Gold und Silber, um allerlei Schmuck- und Gebrauchsgegenstände herzustellen. Nach dem jüngst erschienenen Berichte des amerikanischen Münzdirektors verarbeitete die Edelmetallindustrie im Jahre 1894 rund 78500 kg Gold und 802000 kg Silber. Der Geldwert dieser Goldmasse beläuft sich auf 209 Millionen Mark, der des verbrauchten Silbers auf 133 Millionen Mark. Die deutsche Industrie verarbeitete 15000 kg Gold und 100000 Silber, England dagegen 17000 Gold und 80000 Silber. Im allgemeinen wird etwa ein Drittel der Jahresausbeute an Gold und ein Sechstel der Jahresausbeute an Silber von der Industrie für ihre Zwecke beansprucht. Infolge des Sinkens der Silberpreise ist in den letzten Jahren die Verarbeitung des Silbers zu Schmuck- und Gebrauchsgegenständen stark gestiegen. *
Hauswirtschaftliches.
Ein neuer Petroleumkochapparat. „Vulkan“ heißt der untenstehend abgebildete Kochapparat, und in der That brennt er unter Sausen und Rauschen, das man in unseren Küchen nicht gewöhnt ist.
Kein Wunder, denn dieser von der Firma Hugo Kretschmann in Berlin in den Handel gebrachte Apparat ist nach dem Prinzip der Lötlampen gebaut. Wollen wir ihn benutzen, so drehen wir die Füllschraube (a) auf und füllen den Behälter etwa dreiviertel voll mit Petroleum; hierauf schließen wir die Füllöffnung wieder zu, gießen auf das Schälchen (b) etwas Spiritus und zünden denselben an, wodurch das Brennrohr erhitzt wird. Sofort nach dem Anbrennen des Spiritus wird die kleine Ventilschraube (c) zugedreht und nach einer Weile der Pumpkolben (d) einige Male in Bewegung gesetzt. Die verdichtete Luft im Behälter treibt das Petroleum nach einer kleinen, bei e angebrachten Oeffnung hin; hier wird dasselbe sofort in Gas verwandelt, und dieses entzündet sich an dem noch brennenden Spiritus; nun zischt die Flamme mit Kraft und läßt sich nach Belieben regulieren. Der „Vulkan“ erzeugt weder Ruß noch Rauch und bei richtiger Handhabung auch keinen Geruch, er verbraucht verhältnismäßig wenig Petroleum und liefert so viel Hitze, daß selbst Plätteisen binnen 10 Minuten auf ihm gebrauchsfertig gemacht werden können, dabei brennt er sicher fort auch im Freien bei windigem Wetter. Zweifellos wird er in Fällen, wo man in bequemer Weise in kurzer Zeit starke Heizkraft braucht, sich in Haushaltungen, sowie in Werkstätten nützlich erweisen.
Ein praktischer Theelöffel. Bekanntlich ist in Beziehung auf den THee der Geschmack verschieden. Der eine liebt ihn stärker, der andere schwächer. Um nun jedem einzelnen die Zubereitung seines Thees in der gewünschten Stärke zu ermöglichen, hat man einen Theelöffel ersonnen, der zugleich an die Stelle des Theesiebs und des Theeeis tritt.
Er besteht aus einem Löffel, dessen Höhlung siebartig durchlöchert und mit einem ebensolchen Klappdeckel versehen ist. Will man sich seine Tasse Thee zurechtmachen, so füllt man den Löffel mit Thee, klappt den Deckel zu, giebt das siedend heiße Wasser in die Tasse und rührt dann so lange mit dem gefüllten Löffel herum, bis der gewünschte Grad von Stärke erzielt ist. Ist es so in der Gesellschaft, am Familientische ermöglicht, auf verschiedene Bedürfnisse Rücksicht zu nehmen, so wird der handliche Löffel auch in der Wirtschaft einzelstehenden Personen ein willkommenes Geräte bilden, da er das Verfahren bei der Zubereitung einer einzelnen Tasse recht einfach gestaltet.
Die scheinbar arabischen Schriftzüge sind genau besehen nur etwas verschrobene lateinische Buchstaben unseres Schriftsystems. Man lese zuerst in den zwei oberen Tafeln alle Buchstaben ab, in oder bei welchen ein Punkt steht, und dann in zweiter Lesung jene, bei oder in denen ein Strich steht. Dasselbe gilt bei den zwei unteren Tafeln: zuerst die Buchstaben mit zwei Punkten und darauf die mit zwei Strichen. Es ergeben sich dann die Worte:
[100 b] [Diese Seite enthält nur Werbung von dritter Seite, die hier – zumindest vorerst – nicht transkribiert wird.]
- ↑ Vergl. u. a. „Gartenlaube“ Jahrg. 1884, S. 181, 216, 272. Jahrg. 1885, S. 154 und 480.
- ↑ Ausgehöhlte Elefantenzähne, die als weithinschallende Kriegshörner benutzt werden.