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Jugendspiel

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Textdaten
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Autor: C. Falkenhorst
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Titel: Jugendspiel
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aus: Die Gartenlaube, Heft 7, S. 219-221
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1890
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Jugendspiel.


Unser Zeitalter leidet an Nervenschwäche; sie ist die Krankheit des neunzehnten Jahrhunderts, sie ist die Folge der mit dem Fortschreiten unserer Kultur veränderten Lebensweise, welche den Geist anspannt und den Körper vernachlässigt. Forschen wir nach den Ursachen dieses Leidens, so sehen wir, daß es von den meisten nicht allein im reiferen Alter, im Kampfe ums Dasein erworben wird; wir sehen vielmehr, daß durch eine verkehrte Erziehung der Grund dazu schon in der Jugend gelegt wird. Das ist eine Thatsache, die sich nicht wegstreiten läßt; unserer Jugend fehlt der frohe Sinn, der frühere Geschlechter auszeichnete; für ihre Bildung wird sehr viel gethan; in der Schule lernt sie außerordentlich viel und außerhalb der Schule wird für ihren Geist noch durch eine Unzahl von Jugendbüchern und Zeitungen für die Jugend gesorgt.

Schon unsere Knaben sind ganz gebildete Leutchen, aber die meisten zeigen dabei eine gewisse Altklugheit, die der Jugend nicht ziemt, und je höher sie in der Schule vorrücken, desto schlimmer wird dieser Geisteszustand, bis er in das, was wir Blasirtheit nennen, übergeht. Die Jugend selbst ist nicht schuld daran, denn sie entwickelt sich so, wie man sie erzieht; und wir erziehen ihren Geist und sorgen zu wenig für ihren Körper. Das ist ein Fehler; denn ein gesunder Geist kann nur in einem gesunden Körper wohnen, und recht hat der englische Schriftsteller, der den Satz aussprach: „Wer nur Athlet ist, ist halb Mensch, halb Thier. Wer nur Gelehrter ist, ist halb Mensch, halb Geist. Jeder von ihnen ist nur ein halber Mensch.“ Und wer dürfte leugnen, daß unsere Erziehung zu einer solchen Halbheit führt?

Das Kind spielt noch im Freien, obwohl es in den Städten noch viel zu artig erzogen und ihm das freie Austummeln vielfach verwehrt wird; auch der Knabe spielt noch, läuft mit seinem Reifen die Landstraße auf und ab, zieht mit Genossen ins Freie hinaus, um Räuber und Gendarm zu spielen, aber bald tritt für ihn die Zeit ein, wo er sich der jugendlichen Spiele schämt, wo er die Erwachsenen nachahmt und gemessenen Schrittes, mit dem Spazierstock in der Hand, die Cigarre im Mund, durch die Straßen und den Wald dahin bummelt. Und wird er älter, so schließt er sich mit seinen Altersgenossen zu Vereinen zusammen, in denen Biertrinken, Rauchen und Skatspielen die Hauptsache bilden. Das sind ja Schäden, die man schon oft aufgedeckt, schon genugsam besprochen hat.

Unter den Mitteln, die man zur Bekämpfung derselben empfohlen hat, verdienen in erster Linie die Jugendspiele beachtet zu werden. In England sind sie zur Volkssitte geworden, in Deutschland sind sie eine große Seltenheit, namentlich was wohl durchdachte Jugendspiele anbelangt, die neben der körperlichen Ausbildung auch als erzieherisches Mittel angesehen werden müssen. Planmäßig und zielbewußt sind sie bis jetzt unseres Wissens nur in Görlitz durchgeführt worden. Der preußische Kultusminister von Goßler hat diese Görlitzer Bestrebungen warm befürwortet und zur Nachahmung empfohlen, und neuerdings fanden auch zahlreiche Schulmänner Gelegenheit, sich durch den Augenschein von dem Werth der Jugendspiele zu überzeugen. Vom 1. bis 5. Oktober v. J. tagte der 40. Philologen-Kongreß in Görlitz, und den gelehrten Gästen wurden auch die Jugendspiele vorgeführt. „Die Vorführung,“ so lautet ein Bericht darüber, „begann unter Leitung des Turnlehrers Jordan mit einem in verschiedenen munteren Wendungen sich ergehenden Gruppenmarsch der unteren Klassen, zu welchem eine Kapelle in heiteren Weisen den Takt gab. Nächstdem wurde von den oberen Klassen ein wohlgelungener kunstvoller Reigen vorgeführt, zu welchem von den Mitwirkenden selbst ein patriotisches Lied in frischer und anregender Weise gesungen wurde. Die sicher und frei sich bewegenden jugendlichen Gestalten machten einen überaus günstigen Eindruck. Nach dieser Einleitung begann nunmehr die Vertheilung der Schüler in einzelne Spielgruppen, die sich bald über den ganzen Platz verbreiteten und auch die anwesenden Zuschauer anzogen. Hier wurde Fußball, Speerwerfen – das Pilum der alten Römer – Bogenschießen, Tambourinball, dort Lawn-Tennis, Schleuderball, Treibball, Barlauf [220] und anderes ausgeführt. Das Ganze bot ein sehr lebensvolles Bild dar und zog die Gäste mehr und mehr an. Hier und da versuchten einige derselben ihre eigene Kunst beim Speerwerfen, Bogenschießen etc., doch ließen sie sehr bald von dieser ungewohnten Thätigkeit ab, da ihnen die Jugend doch zu weit überlegen war. So ging das heitere Treiben etwa 1 1/2 Stunden weiter. In mehreren Kreisen der gelehrten Herren hörte man die Frage erörtern, wie diese Spiele wohl am besten auch auf andere Anstalten übertragen werden könnten, und hielt man es für erwünscht, daß in Görlitz im nächsten Frühjahr vielleicht achttägige Kurse für auswärtige Lehrer eingerichtet werden möchten.“

So haben die Görlitzer Spiele ihre Prüfung vor einem maßgebenden Kreise glänzend bestanden. Doch lernen wir sie näher kennen, verfolgen wir die kurze, aber lehrreiche Entwickelungsgeschichte derselben: Im Jahre 1882 erfolgte der bekannte preußische Ministerial-Erlaß, in welchem der Grundsatz aufgestellt wurde, daß die Schule auch der leiblichen Entwicklung ihrer Zöglinge mehr Fürsorge zuwenden sollte, und dieser Erlaß veranlaßte den Landtagsabgeordneten von Schenckendorff, mit dem Gymnasialdirektor Dr. Eitner in Görlitz in Verbindung zu treten, um zu erwägen, ob es nicht möglich sein würde, die Jugendspiele mit Hilfe des in Görlitz bereits bestehenden Vereins für Knabenhandarbeit ins Leben zu rufen. Der Vorschlag fand Beifall, und es wurde beschlossen, zunächst mit den Schülern des Gymnasiums den Anfang zu machen. Dieselben sollten an zwei schulfreien Nachmittagen unter Leitung des Turnlehrers Jordan sowie einiger jüngerer Lehrer der Anstalt in zwei getrennten Abtheilungen die Spiele lernen und üben. Den unteren Klassen bis Untertertia einschließlich wurde seitens der städtischen Behörden ein geeigneter Platz vor der Musikhalle an der Promenade zugewiesen, den oberen der große, geräumige Turnplatz. Mehr zu thun gestatteten für den Anfang die durch freiwillige Beiträge gesammelten Mittel nicht, denn es mußte nicht nur das nothwendige Spielgeräth beschafft, sondern auch das beaufsichtigende Lehrerpersonal angemessen besoldet werden.

Wie nahm nun die Gymnasialsjugend diese Neuerung auf? Ein Zwang bestand nicht; es durfte kommen, wer eben wollte. Die Sexta und Quinta erschienen von Anfang an in großer Zahl auf dem Spielplatze; bei den anderen Klassen zeigte sich aber bereits die Macht der grundfalschen Ansichten, welche unsere Jugend beherrschen. Die Quartaner schämten sich bereits, so öffentlich zu spielen, und erst nach und nach legten sie die falsche Scham ab, die bei den Untertertianern noch in höherem Maße zur Geltung kam. Die Schüler der oberen Klassen waren vollends von dieser Scheu noch mehr eingenommen und lernten diese erst aus dem verborgenen, den Augen neugieriger Zuschauer entzogenen Platze ablegen. So ist unsere Jugend beschaffen, sie schämt sich, zu spielen!

Die Leiter wählten unter der großen Zahl der Spiele die zweckmäßigsten aus, die Bewegungsspiele, in welchen die Jugend sich nicht nur fröhlich austummeln, sondern auch ihren Körper stärken, Anmuth und Gewandtheit lernen kann, in denen endlich auch der erfrischende Einfluß aus Geist und Gemüth nicht fehlt. Der Mützendieb, Geier und Henne, Drittenabschlagen, Stehball, schwarzer Mann, Jäger und Wild, Schlagball, Urbär und Barlauf - das waren die Lieblingsspiele der jüngeren Abtheilung, während die oberen Klassen sich für Fuß-, Schleuder-, Sau- und Treibball, vor allem aber ebenfalls für Barlauf erklärten.

Für wie viele, welche in allen Regeln des Biercomments aufs beste bewandert sind, bilden diese Namen zum großen Theil weiter nichts als einen leeren Wortklang hinter dem sich für sie kein anschauliches Bild verbirgt. Die Förderer des Jugendspiels in Deutschland können das an der Menge der an sie gelangenden Anfragen beurtheilen. Freilich, wir besitzen eine stattliche Litteratur über Jugendspiele. Dr. Eitner empfiehlt allein sieben Bücher, die bis auf eines in den Jahren 1880 bis 1883 erschienen sind[1] und die jedem reichliche Belehrung bieten; aber es genügt nicht, Jugendspiele zu drucken, man muß sie vor allem auf dem Spielplan ausführen.

Der Sommer 1883 ging vorüber und der Görlitzer Verein konnte mit Freuden wahrnehmen, daß das Neue sich eingebürgert hatte und in der Stimmung der Jugend ein Umschlag zum bessern erfolgt war. Die begeistertsten Anhänger, die auch die geübtesten waren, wurden daher auch im Winter zum Bogenschießen und Speerwerfen nach schwedischem Muster in dem großen Turnsaale eingeladen. Die ernste Mühe der Leiter der Spiele fand auch anderweitig Anerkennung. Der Kommunallandtag der preußischen Oberlausitz gewährte dem Verein eine Unterstützung von 500 und die Behörde der Stadt eine solche von 180 Mark.

Der Sommer 1884 vereinigte bereits eine größere Anzahl von Schülern auf den Spielplätzen, und nach englischem Vorbilde wurden auch neue Spiele eingeführt: der Fuß- oder Thorball für die kräftigeren und das Tambourinspiel für die Schwächeren. In diesem Jahre konnte auch der Verein am 13. September bereits ein öffentliches Spielfest veranstalten, das den Charakter eines wahren Volksfestes annahm. Das Eis war gebrochen; die Theilnahme an der Sache wuchs, und nun gewährte die Stadt eine Beihilfe von 1000 Mark und die Stände wieder eine von 500 Mark, und am Sedantag 1885 spielte die Gymnasialjugend zur Feier des Festes angesichts einer Zuschauermenge von etwa 6000 Personen.

Das Gymnasium war für die Bewegungsspiele gewonnen; nun machte der Verein im Jahre 1886 einen weiteren Schritt vorwärts, indem er auch die Volksschüler an den Spielen theilnehmen ließ, wobei zunächst nur die beiden ersten Knabenklassen herangezogen wurden, die aber 1000 bis 1100 Schüler enthielten; auch hier war die Betheiligung zwanglos, und es erschienen etwa 250 Knaben auf dem Spielplatz. Nichts kennzeichnet den Einfluß dieser Neuerung auf das Gemüth der Schüler besser als folgende Bemerkung Dr.Eitners: „Die Lust und Liebe zum Spiel wuchs bald auch bei diesen Knaben, und oft konnte man aus Straßen und Plätzen spielende Kinder beobachten, die sich nach Herzenslust desselben freuten, während sie früher, nicht wissend, was sie unternehmen sollten, oft genug auf Unfug verfielen und den Vorübergehenden lästig wurden. Konnte doch schon am Ende des ersten Halbjahres als erfreuliche Thatsache verzeichnet werden, daß nach Mittheilung des Stadtschulinspektors, Herrn Heumann, während der letzten großen Ferien der Polizei keine einzige Ungehörigkeit der Volksschüler - seit vielen Jahren das erste Mal - bekannt geworden war. Wir durften hierbei überzeugt sein, daß das Jugendspiel, wenn auch nicht alles, so doch vieles zu dieser Hebung der guten Sitte beigetragen hatte.“ - Gegenwärtig nehmen an diesen Spielen gegen 240 Gymnasiasten und etwa 450 Volksschüler theil; die Höhere Bürgerschule in Görlitz konnte zur Betheiliguug noch nicht herangezogen werden.

Es ist dringend zu wünschen, daß der Vorgang des Görlitzer Vereins Nachahmung findet, und wer sich näher darüber unterrichten will, der kann eine ausführliche Beschreibung der Görlitzer Jugendspiele aus der Feder Dr. Eitners durch die Ottomar Bierlingsche Buchhandlung in Görlitz kostenfrei gegen die Einsendung von 10 Pfennig Porto beziehen.

Es dürfte noch einige andere Städte in Deutschland geben, in denen Jugendspiele geübt werden, sie sind z. B. schon seit dem Jahre 1876 am Gymnasium in Braunschweig vorgeschrieben, aber diese wenigen Einrichtungen sind eben nur seltene Ausnahmen. [221] Im vorigen Jahre ist auch ein für unsere Frage sehr beachtenswertes Werk erschienen: „Ein gesunder Geist in einem gesunden Körper. Englische Schulbilder in deutschem Rahmen“ von G. Raydt. Der Verfasser hat, unterstützt aus der „Bismarck-Schönhausen-Stiftung“, eine Studienreise nach England unternommen und stellt in seinem Werke Vergleiche zwischen den deutschen und englischen Schulverhältnissen an. Es dürfte nicht alles, was der Verfasser lobend hervorhebt, ein unbeschränktes Lob verdienen; aber lernen können wir auf dem Gebiete der gesunden Jugenderziehung, der Körperpflege und der Jugendspiele von England ungemein viel. Was die Gemeinden für diese Zwecke thun können und thun müssen, das ist in dem Raydtschen Werke klar niedergelegt, und darum möchten wir dasselbe nicht nur in Händen der Lehrer, sondern auch in Händen derer wissen, welche die Städte verwalten. Sie könnten daraus lernen, was unserer Jugend in den Städten fehlt, welche natürlichen Rechte derselben völlig unbeachtet bleiben, und sie würden sich wohl entschließen, anstatt der paar elenden Sandhaufen, die bei uns den Inbegriff eines Spielplatzes bilden, andere Einrichtungen zu treffen. Alle, denen das Wohl der Jugeud am Herzen liegt, denen die Zukunft der Nation nicht gleichgültig ist, sollten die Worte beherzigen, die der Superintendent Schulze im Görlitzer Verein seiner Zeit ausgesprochen hat: „Es ist ein übles Zeichen, wenn jetzt zuweilen unsere Jugend die Nase rümpft über die sogenannten kindlichen Spiele und nur frisch wird im Tanzsaal. Wir möchten unserer Jugend auf der einen Seite die ernste Liebe zur Arbeit, auf der andern die fröhliche Liebe zum Spiele einprägen und erhalten. Das wäre eine elende Jugend, die nicht mehr spielen kann oder zu spielen sich schämt, oder die während ihrer Stunden der Erholung nur in die Rohheit der Gassenhauer oder in die Altbärtigkeit der Bierstuben sich verirrt.

Auch wir Alten, verachten wir nicht die Theilnahme am erheiternden Familienspiel, in welchem es Geist und Witz, Schnelligkeit der Auffasung und der Wendung, Frische des körperlichen Lebens zu zeigen gilt. Das sind die liebenswerthesten Greise, die jung bleiben im unbefangenen Sichfreuen an den heiteren Künsten und im Theilnehmen an dem, was den Sinn und das Auge fröhlich macht.“

Wir können nicht warten, bis einmal die Schule das Jugendspiel zur Pflicht machen wird; jeder Jugendfreund muß schon jetzt eingreifen, und wie er das am besten erreichen kann, das beweist uns der Vorgang von Görlitz. Vereine, von einsichtsvollen Erziehern unterstützt, können zum Ziel führen. Was haben nicht die Turnvereine in früherer Zeit erreicht; was ist nicht in jüngster Zeit auf Vereinswegen für die Ferienkolonien, die Handfertigkeit und andere gemeinnützige Zwecke erreicht worden! Darum, ehe noch für so viele zu früh der Jugend Grabgeläut erschallt, sollten wir uns aufraffen; darum möchten nur allen Jugendfreunden zurufen: „Gründet Vereine zur Förderung des Jugendspiels!“

C. Falkenhorst.

  1. Es sind dies: Jacob, „Deutschlands spielende Jugend“. Leipzig, Kummer, - Spiele von Guths-Muths. Herausgegeben von Schettler. Hof, Grau u. Komp. - Ambros, „Spielbuch“. Wien, Pichlers Wwe. u. Sohn. - Kloß, „Das Turnen im Spiel“. Dresden, Schünfeld. - Krause, „Hinaus zum Spiel!“ Berlin, Plahn. - Kohlrausch und Marten, „Turnspiele nebst Anleitung zu Wettkämpfen und Turnfahrten“. Hannover, R. Meyer. - Kupfermann, „Turnunterricht und Jugendspiel“. Breslau, Hirt.