Texts by Dr. Hernán D. Caro
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 17.03.2024 // „Bereits Monate bevor der Roman „Wir sehen ... more Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 17.03.2024 // „Bereits Monate bevor der Roman „Wir sehen uns im August“ des vor zehn Jahren verstorbenen kolumbianischen Nobelpreisträgers Gabriel García Márquez vor wenigen Tagen posthum erschien, hatte sich eine kleine Debatte entfacht. Denn wie die beiden Söhne des Schriftstellers, Rodrigo und Gonzalo García Barcha, im Vorwort des Buches eingestehen, sagte ihr Vater einst über den Roman: „Dieses Buch taugt nichts. Es muss vernichtet werden“.
Darf man ein Werk, das ein Schriftsteller verstoßen hat, nach dessen Tod doch herausbringen? Die Antworten auf diese ewige Frage, diesmal von der spanischsprachigen Zeitschrift „WMagazín“ gestellt, waren – wie zu erwarten – widersprüchlich. „Es liegt ein Funken Eitelkeit darin, von einem anderen zu verlangen, das zu zerstören, was man geschaffen hat“, sinnierte ein Autor. „Man weiß, dass der andere es nicht tun wird“. Eine Buchhändlerin nannte die Veröffentlichung des Romans „das gute Recht“ der Erben – und freute sich über das Geschäft. Ein anderer Buchhändler prangerte „diese Praxis“ an, „den Autor als Ware zu fetischisieren“. Franz Kafka und Max Brod wurden erwähnt. Und jemand verwies auf einen Spruch, der von Henry James stammen soll: „Es ist unmoralisch, die Taschen und Schubladen eines Toten zu durchsuchen“.
Jetzt, wo der Roman erschienen ist, sind die Meinungen über seine Qualität ebenso gespalten. Während die spanische Zeitung „La Vanguardia“ das Buch für ein „weiteres Meisterwerk des Autors von ‚Hundert Jahre Einsamkeit‘“ hielt, hätte man sich laut der „The New York Times“ einen „unbefriedigenderen Abschied“ von García Márquez „kaum vorstellen können“.
Aber zunächst zu den Fakten: „Wir sehen uns im August“ erzählt die Geschichte von Ana Magdalena Bach, einer Frau mittleren Alters, die im August jedes Jahres auf eine karibische Insel fährt, um am dortigen Friedhof einen Strauß Gladiolen auf das Grab ihrer Mutter zu legen. Ana Magdalena liebt Bücher und Musik, hat von der Mutter „das Leuchten der goldenen Augen“, die „Tugend der wenigen Worte und die Klugheit, ihr Temperament zu zügeln“ geerbt und ist seit vielen Jahren glücklich verheiratet.
Bei einem ihrer Inselbesuche lernt die Frau einen eleganten Ausländer kennen. Sie trinken ein Glas zusammen, führen ein „banales Gespräch“ – der Mann ist weder besonders kultiviert noch besonders lustig, er hat aber „ein gutes und zaghaftes Herz“ –, und schließlich schlafen sie miteinander, wobei der Mann sich als „vortrefflicher Liebhaber“ offenbart, der Ana Magdalena „ohne Eile zum Siedepunkt führte“.
Als die Frau am nächsten Tag erwacht, ist der schneidige Fremde weg. Ihr bleiben nur das kränkende Geschenk eines Zwanzigdollarscheines, die „brutale Erkenntnis“, zum ersten Mal in ihrem Leben „mit einem Mann, der nicht der ihre war, gevögelt“ zu haben, und das brennende und verwirrende Verlangen danach, diese Nacht zu wiederholen. Und so endet das erste der insgesamt sechs kurzen Kapitel des Romans.
Dieses Kapitel las García Márquez bereits 1999 bei einem literarischen Treffen in Madrid vor. Ihm zufolge handelte es sich dabei um die erste Kurzgeschichte eines geplanten Erzählbands. Das Buch ist aber nie erschienen. Anstatt dessen erschien 2002 García Márquez' hervorragende Autobiographie „Leben, um davon zu erzählen“ und zwei Jahre später der Kurzroman „Erinnerung an meine traurigen Huren“, den viele Leser aus gutem Grund problematisch, wenn nicht gar anstößig fanden: Darin geht es nämlich um einen Neunzigjährigen, der mit einer vierzehnjährigen Prostituierten gerne schlafen würde. Dieses Werk galt bisher als das letzte des Autors.
Wie man aber nun weiß, arbeitete García Márquez an „Wir sehen uns im August“ weiter – und aus der Erzählung wurde ein Roman. Allerdings war diese Arbeit, wie seine Söhne berichten, äußerst beschwerlich. Denn García Márquez litt in seinen letzten Jahren an Demenz. „Die Erinnerung ist zugleich mein Rohstoff und mein Werkzeug“, soll er gesagt haben. „Ohne sie ist alles dahin.“ Die Krankheit habe es für ihn unmöglich gemacht, den Roman zu einem befriedigenden Abschluss zu bringen. So fällte er irgendwann das oben zitierte, vernichtende Urteil über sein eigenes Buch.
Trotzdem haben die Söhne entschieden, es zu veröffentlichen. Ihre Begründung im Vorwort: Nach einer neuen Lektüre des Romans hätten sie ihn „sehr viel besser“ als vorher gefunden. Und sie äußern die Vermutung, dass „eben die eingeschränkten Fähigkeiten“, die García Márquez nicht mehr erlaubten, mit der „gewohnten Sorgfalt“ zu schreiben, ihn womöglich auch daran gehindert haben, zu erfassen, wie gut der Roman „ungeachtet seiner kleinen Mängel“ sei…
Die erzählerische Prämisse, die im ersten Kapitel von „Wir sehen uns im August“ gesetzt wird, ist spannend – auch wenn nicht besonders originell. Eine Frau, in deren Alltag Liebe, Zufriedenheit und Struktur herrschen, wird plötzlich von der Erfahrung der leichtsinnigen Lust überfahren. Diese bringt sie aus dem Gleichgewicht, erfüllt sie aber auch mit Neugier und Lebensdrang. So entscheidet Ana Magdalena ihr eigenes Schicksal zu gestalten – sei es für eine Nacht im Jahr. Bei ihren nächsten Inselfahrten wird sie jenen Fremden zwar nicht mehr finden können, dafür aber andere Liebhaber und dadurch auch einigermaßen sich selbst." ...
[...]
Bookmarks Related papers MentionsView impact
Link al artículo: https://www.goethe.de/prj/hum/es/dos/kaf/25227662.html // Existe un malentendid... more Link al artículo: https://www.goethe.de/prj/hum/es/dos/kaf/25227662.html // Existe un malentendido literario que perdura obstinadamente: los textos de Franz Kafka ofrecen ante todo visiones melancólicas o escalofriantes, y el mismo Kafka es, ante todo, un atormentado cronista de la infelicidad. Como escribe el editor Klaus Wagenbach en su libro Ein Käfig ging einen Vogel suchen – Komisches und Groteskes (“Una jaula fue a buscar un pájaro. Lo cómico y lo grotesco”) (2018), los términos “Kafka” y “kafkiano” hoy en día se han “independizado” de la obra del escritor: simbolizan todo lo oscuro, lo incomprensible, así como una interpretación que hace de Kafka el “poeta y santo patrón” de todos aquellos “para quienes la vida parece no tener salida”.
Sin embargo, la obra de Kafka también tiene un lado humorístico que es tan importante, es más, tan “kafkiano”, como su lado sombrío. Pero este aspecto, que no pocos expertos en Kafka han resaltado en repetidas ocasiones a lo largo de los años, se olvida una y otra vez. Esto probablemente responda a diferentes causas.
Una de ellas es que muchas personas, al parecer, están más informadas sobre ciertos aspectos de la vida de Kafka que respecto a su obra: sobre la mala relación con el padre, sobre sus fallidas relaciones amorosas, sobre la insatisfacción con su trabajo de empleado de seguros, sobre su muerte temprana por tuberculosis… También existe aquella interpretación según la cual Kafka predijo los crímenes de los nazis. Esta es una lectura que algunos críticos, como James Hawes en Excavating Kafka (2008), consideran sumamente problemática. O incluso está el hecho de que mucha gente, cuando piensa en Kafka, piensa automáticamente en el famoso retrato de 1923, que muestra al escritor en la última fase de su enfermedad: sombrío, con los ojos hundidos y las mejillas huesudas. Pero también existen fotos en las que Kafka aparece muy diferente, a saber: de buen humor. (Y por cierto, según cuenta Wagenbach, “en los años cincuenta, en el departamento de prensa de la editorial Fischer”, el retrato antes mencionado fue retocado a fin de realzar su lado “místico”).
Y, en fin, parece que en todo esto también tiene un papel importante cierta antigua desconfianza intelectual respecto al humor y a lo chistoso: la idea de que ambas cosas son lo contrario de la profundidad filosófica y emocional, y no, en realidad, dos de sus facetas.
Como escriben Astrid Dehe y Achim Engstler en Kafkas komische Seiten (“Las páginas cómicas de Kafka”) (2011), Kafka era un “hombre sin sosiego que fracasaba una y otra vez, casi forzosamente”, pero a la vez era una persona con mucho sentido del humor. En sus cartas y diarios leemos sobre ataques de risa en el trabajo y situaciones disparatadas durante sus viajes. Su amigo, albacea y editor Max Brod cuenta que al leer El proceso en voz alta, Kafka se reía tanto “que por momentos no podía seguir leyendo”. Y Kafka mismo escribió a su primera prometida, Felice Bauer: “También sé reír […], incluso soy conocido por ser un gran reidor”.
Dehe y Engstler plantean que en los textos de Kafka hay muchos elementos “pensados para producir un efecto cómico”. Y de hecho, quien los lea atentamente –o simplemente los lea– encontrará muchos pasajes humorísticos. Estos tal vez no sean divertidos en el sentido de un humor “alegre” o festivo. El humor de Kafka es penetrante y abarca, entre otras cosas, lo grotesco, lo satírico, lo malicioso y, también, claro está, lo absurdo.
Como una invitación para seguir leyendo, a continuación mencionamos algunos de los lados cómicos de Kafka. ...
[...]
Bookmarks Related papers MentionsView impact
Link al artículo: https://www.goethe.de/prj/hum/es/dos/kaf/25222829.html
La relevancia de Fran... more Link al artículo: https://www.goethe.de/prj/hum/es/dos/kaf/25222829.html
La relevancia de Franz Kafka para la literatura latinoamericana es inmensa y variada. Su influencia comenzó ya durante su vida y continúa hasta el presente. “Kafka nos marcó a todos”, dijo alguna vez la escritora argentina Samanta Schweblin. Y así, a menudo se encuentran ecos kafkianos en diferentes obras de autoras y autores latinoamericanos.
Sin duda, cualquier examen del impacto de Kafka en Latinoaméricas –y en cualquier otro lugar del mundo– es inevitablemente incompleto. A continuación ofrecemos entonces, en cinco escenas, un acercamiento inicial a esta historia interminable.
1. La liberación de la imaginación
En 1947, Gabriel García Márquez (1927-2014) aún era un estudiante de Derecho obsesionado con la poesía. Entonces, por casualidad, se topó con un pequeño volumen: La metamorfosis de Franz Kafka. En el libro de conversaciones El olor de la guayaba –publicado en 1982, año en que el periodista y escritor colombiano recibió el Premio Nobel de Literatura–, García Márquez cuenta cómo una noche un compañero de cuarto le prestó el libro. “Aún recuerdo la primera línea de memoria: ʻAl despertar Gregorio Samsa una mañana, tras un sueño intranquilo, encontrose en su cama convertido en un monstruoso insectoʼ”. El futuro escritor pensó: “Carajo, de modo que esto se puede hacer.” Kafka, según él, “contaba las cosas de la misma manera que mi abuela”. Con ello, García Márquez se refería a contar una historia en la que ocurren eventos sobrenaturales sin, por así decirlo, sonrojarse, como si estos eventos fueran completamente normales, cotidianos. Precisamente de este modo, en su infancia su abuela le había hablado de las cosas más extrañas.
Como cuenta García Márquez en su autobiografía Vivir para contarla, comprendió que solo “bastaba con que el autor lo hubiera escrito para que fuera verdad, sin más pruebas que el poder de su talento y la autoridad de su voz”. En este principio se basa en gran medida el llamado “realismo mágico”, que luego desarrolló en sus famosas novelas Cien años de soledad o El amor en los tiempos del cólera.
Kafka “definió un camino nuevo” para su vida. Un día después de su encuentro con La metamorfosis, García Márquez comenzó a escribir su primer cuento, “La tercera resignación”, sobre un hombre que enfermó de fiebre tifoidea cuando era niño, por lo que su madre lo metió vivo en un gran ataúd para que pudiera crecer allí. La historia fue publicada en un periódico importante y poco después el estudiante de Derecho abandonó la universidad y se dedicó a la literatura hasta el fin de sus días.
2. Una cucaracha sueña
En alemán, Kafka describe al “monstruoso insecto” en que se ha convertido Gregor Samsa como un “Käfer”, es decir un “escarabajo” o un “Maikäfer, un “escarabajo pelotero”. Sin embargo, en los países de habla hispana, cuando se discute el destino del protagonista de La metamorfosis, se suele utilizar la palabra “cucaracha”. Cualquiera que sea el motivo de esta nueva metamorfosis, en este caso lingüística, no se trata de falta de amor o de respeto frente a Kafka. Todo lo contrario.
Un buen ejemplo de esto lo ofrece Augusto Monterroso (1921-2003). Este autor guatemalteco, que se definía a sí mismo como gran admirador de Kafka, solía escribir textos irónicos breves o brevísimos (algunos de ellos compuestos sólo por una frase muy finamente tejida), muchas veces con animales como protagonistas y que se leen a modo de fábulas.
“La verdad es que Kafka me ha acompañado desde hace mucho tiempo“, leemos en los fragmentos del diario de Monterroso La letra e. Por eso es frecuente encontrar en su obra pequeños homenajes a Kafka. El más famoso se llama “La cucaracha soñadora” (1969): “Érase una vez una Cucaracha llamada Gregorio Samsa que soñaba que era una Cucaracha llamada Franz Kafka que soñaba que era un escritor que escribía acerca de un empleado llamado Gregorio Samsa que soñaba que era una cucaracha”.
[...]
Bookmarks Related papers MentionsView impact
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 10.03.2024 // „Hausmädchen gesucht, gepflegtes Erscheinu... more Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 10.03.2024 // „Hausmädchen gesucht, gepflegtes Erscheinungsbild, Vollzeit. Sonst stand da nichts, außer einer Telefonnummer, die sich bald in eine Adresse verwandelte, zu der ich mich in weißer Bluse und dem gleichen schwarzen Rock aufmachte, den ich auch jetzt trage.“
Mit dieser Stellenanzeige beginnt die Geschichte von Estela García, die die chilenische Schriftstellerin und Anwältin Alia Trabucco Zerán in ihrem Roman „Mein Name ist Estela“ erzählt. Arm und arbeitslos verlässt Estela ihre Heimat und ihre Mutter im Süden Chiles und zieht in die Hauptstadt Santiago, um dort als Haushälterin eines reichen Paares und als „Nana“ – also als Ersatzmutter – deren Tochter Julia zu arbeiten. Sieben Jahre lang lebt Estela bei dieser Familie. Jahr für Jahr putzt, kocht, kauft sie für sie ein. Sie bekommt Einblick in ihre Intimität. Sie macht es möglich, dass ihre ehrgeizigen Arbeitgeber, ein Arzt und eine Anwältin, sozusagen immer funktionsfähig sind und sie zieht ihr Kind, ein von Ängsten geplagtes Mädchen, groß. Das fremde Haus, in dem Estela in einem Kämmerchen hinter der Küche wie ein Schatten wohnt, verlässt sie kaum.
Allerdings fängt der Roman selbst an einem ganz anderen Zeitpunkt an, nämlich am Ende: In der ersten Szene des Buches sitzt Estela in einer Art Verhörraum und verspricht denjenigen Leuten, die sich angeblich hinter einer Glasscheibe befinden – die aber bis zuletzt kein einziges Zeichen von sich geben –, zu erzählen, wie es zu der Tragödie kam, die zu Estelas gegenwärtiger Situation führte. Denn das Mädchen, auf das die Haushälterin aufpassen musste, ist tot.
Ein so thrillerhafter Auftakt könnte manche Leser hinsichtlich des Charakters des Romans zunächst täuschen. Zwar erfahren wir zum Schluss wie das Kind gestorben ist. Und wir glauben auch zu verstehen, warum es sterben musste. Aber das, was „Mein Name ist Estela“ zu einem intelligenten und erschütternden Roman macht, ist nicht, dass darin ein Kriminalfall gelöst wird (und im Übrigen ist es nicht klar, ob der Tod des Mädchens endgültig aufgeklärt wird), sondern die Schärfe, mit der Estela die Geheimnisse, die kleinen, alltäglichen Grausamkeiten, das bedrückende Leben der Familie offenlegt – und gleichzeitig an allererster Stelle ihre eigenen dunklen Seiten."
[...]
https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/belletristik/ueber-alia-trabucco-zeran-und-mein-name-ist-estella-19571230.html
Bookmarks Related papers MentionsView impact
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 19.11.2023 // „Jene Nacht im September 86 war drückend, ... more Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 19.11.2023 // „Jene Nacht im September 86 war drückend, ein wimmelndes Erdloch voll jaulender Kojoten, eine Stadt, gereizt durch unzählige Hausdurchsuchungen, knallende Türen, Schreie und Schießereien in den Kleineleutevierteln. Die Armee eroberte Santiago, sperrte alle Ausfallstraßen... Beim kleinsten Fehler, beim einfachsten Zaudern wurde man verdächtig und mit dem Gewehrkolben in einen Lastwagen gestoßen.“
Diese Zeilen stammen aus dem Roman „Torero, ich hab Angst“ des chilenischen Autors Pedro Lemebel, der gerade auf Deutsch bei Suhrkamp erschienen ist. Was Lemebel dort beschreibt, ist die bedrohliche Nacht, die auf einen Anschlag folgte, den die linke Stadtguerilla „Frente Patriótico Manuel Rodríguez“ am 7. September 1986 auf die Wagenkolonne des ehemaligen chilenischen Diktators Augusto Pinochet verübte. Das Attentat endete mit fünf toten Leibwächtern des Diktators. Pinochet selbst blieb unverletzt. Der Mordversuch löste eine blutige Repressionswelle aus. Und die Militärdiktatur – die vor genau fünfzig Jahren, im September 1973, mit einem Putsch gegen den demokratisch gewählten Präsidenten Salvador Allende begann und als Folge derer mehr als tausend Personen verschwunden sind, zweimal so viele ermordet wurden und weitere 30.000 unter Verfolgung und Folter litten – dauerte noch weitere vier Jahre.
Vor dem historischen Hintergrund der angespannten Monate vor dem Attentat und überhaupt des angespannten Alltags unter der Diktatur entschied Pedro Lemebel – der nicht nur Schriftsteller, sondern auch einer der einflussreichsten homosexuellen Performancekünstler Lateinamerikas war –, in „Torero, ich hab Angst“ ausgerechnet eine Liebesgeschichte zu erzählen.
Das Buch, das ursprünglich 2001 auf Spanisch veröffentlicht wurde, gilt als einer der originellsten Romane über Pinochets Diktatur. Im Mittelpunkt der Geschichte steht die „Loca del Frente“, die „Tunte von Gegenüber“ – oder wie es in der deutschen Übersetzung auch heißt, die „Tunte der Front“ –, ein alternder schwuler Mann, der in einer kitschig und liebevoll eingerichteten Wohnung in einem Armenviertel Santiagos lebt. Seinen echten Namen lernen wir nie kennen; bezeichnet wird er stets nur als „die Tunte“. Und von seiner traumatischen Kindheit und seiner Vergangenheit als Prostituierter erfahren wir nur durch flüchtige, schmerzhafte Andeutungen.
Eines Tages trifft „die Tunte“ auf einen jungen Mann namens Carlos, der behauptet, er würde Architektur studieren und fragt, ob er in ihrer Wohnung einige Kisten mit Büchern verstauen könnte. Die Protagonistin willigt ein. Sie ist nämlich vom Studenten fasziniert: „Carlos war so gut, so sanft, so liebenswürdig“, denkt sie. „Und sie war so verliebt, so gefesselt, so verträumt, wenn sie ganze Nächte mit ihm verplauderte“. Denn an manchen Abenden bringt Carlos bei seinen Besuchen andere Freunde mit. Eingeschlossen in einem Zimmer, das „die Tunte“ nicht betreten darf, diskutieren sie stundenlang über irgendwelche Dinge, die laut Carlos – der der Hausherrin oft bei Tee und Zigaretten Gesellschaft leistet – bloß mit ihrem Studium zu tun haben.
Carlos' mysteriöse Kisten werden immer zahlreicher. In ihnen – das wird den Lesern schnell klar – sind bestimmt keine Bücher, sondern womöglich Waffen. Und womöglich gehören Carlos und seine Freunde zur „Front“, die den Anschlag gegen Pinochet vorbereitet. Natürlich vermutet dies auch die „Tunte“. Doch sie sagt, fragt nichts: „Nein, das würde Carlos niemals tun, er würde sie nicht belügen“, schreibt Lemebel. „Und wenn doch, dann wollte sie es lieber nicht wissen, wollte lieber die Dumme spielen, die dümmste aller Tunten, die bescheuertste“.
Pedro Lemebel wurde 1952 in Santiago de Chile als Sohn eines Bäckers geboren und starb ebendort im Jahr 2015. Seine ersten Jahre waren von Mangel geprägt. Im Laufe seines Lebens wurde er aufgrund der Intensität, Originalität und scharfsinnigen Unverschämtheit seiner Arbeit als linker, queerer Performer und Aktivist prominent.
Bereits zu Zeiten der Diktatur wurde Lemebel in Chile bekannt, als er 1987 mit dem Dichter und Künstler Francisco Casas das Duo „Las Yeguas del Apocalipsis“ – „Die Stuten der Apokalypse“ – gründete. Das künstlerische Kollektiv zeichnete sich dadurch aus, dass es kulturelle Veranstaltungen mit klugen und provokanten, wütenden und nicht selten witzigen Performances sabotierte. Lemebel verstand sich immer als Kommunist. Doch auch die chilenische kommunistische Partei, traditionell schwulenfeindlich, wurde von den „Yeguas“ angeprangert.
In den Jahren nach der Diktatur arbeitete Lemebel vermehrt als Autor, zunächst von kurzen Reportagen, sogenannten „crónicas“. Diese widmeten sich dem Leben marginaler Personen, oder wie Lemebel es sarkastisch formulierte, jener „überflüssiger Menschen, die dem siegreichen Chile des Wunders das heuchlerische Grinsen aus dem Gesicht wischen“. Damit meinte er das Chile des radikalen Neoliberalismus, dem Pinochet die Türen des Landes weit öffnete, und der zu einer bis heute enormen sozialen Ungleichheit im Land führte.
Mit „Torero, ich hab Angst“ – seinem einzigen Roman, der mit den Jahren zu einem Klassiker der queeren Literatur geworden ist – etablierte sich Lemebel als bedeutender Schriftsteller. 2013 erhielt er den Premio José Donoso, den wichtigsten Literaturpreis Chiles. Jahre davor hatte ihn der berühmte chilenische Schriftsteller Roberto Bolaño „den größten Dichter meiner Generation“ gennant – „auch wenn er keine Gedichte schreibt“.
Und tatsächlich ist „Torero, ich hab Angst“ ein einzigartiger Roman. Das Buch – das Matthias Strobel ausgezeichnet in Deutsche übersetzt hat – ist in gewisser Hinsicht wie seine Protagonistin: melodramatisch, theatralisch, extravagant. Es spielt mit allen Registern. Und es ist auch manchmal vulgär, etwa wenn Lemebel mit sehr direkten Worten die sexuellen Fantasien der „Tunte“ oder ihren Besuch eines Pornofilms beschreibt. Diese Kinoszene, die parallel zum Anschlag auf Pinochet verläuft, baut Lemebel als spannende Montage von schwuler Sexliteratur, Politthriller und einer Art Bewusstseinsstrom – aus Pinochets Perspektive – meisterhaft auf. Denn neben der Geschichte der „Tunte“, nähert sich Lemebel im Roman nämlich auch dem Privatleben des Diktators an, indem er versucht, sich Pinochets Gedanken und die Monologe seiner Ehefrau vorzustellen. Das wirkt an manchen Stellen etwas gewollt, bleibt trotzdem als literarische Strategie spannend – und ist auch wunderbar bösartig.
[...]
Bookmarks Related papers MentionsView impact
Bookmarks Related papers MentionsView impact
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 16.07.2023 // An einer Stelle des Romans „Im Dezember der... more Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 16.07.2023 // An einer Stelle des Romans „Im Dezember der Wind“ der kolumbianischen Schriftstellerin Marvel Moreno lesen wir über eine distinguierte Mädchenschule: „La Enseñanza durften nur Töchter aus gutem Hause oder Erbinnen von Großgrundbesitzern der karibischen Küste besuchen, die ihre Töchter so lange einschlossen, bis der geeignete Augenblick gekommen war, um ihnen den passenden Gatten zu besorgen – und auch die wurden nur unter der Voraussetzung zugelassen, dass sie wirklich mindestens neun Monate nach der katholischen Eheschließung ihrer Eltern geboren worden waren und die Eltern oder, besser gesagt, die Mutter, ihr Leben lang ein vorbildhaftes Verhalten an den Tag gelegt hatte.“
Im Roman, der 1987 auf Spanisch veröffentlicht wurde, über lange Jahre in Vergessenheit geriet, heute als einer der wichtigsten lateinamerikanischen Romane des 20. Jahrhunderts gilt und nun zum ersten Mal auf Deutsch erschienen ist, geht es um viel mehr als nur um jene Eliteschule. Doch es ist in diesen Zeilen bereits einiges dessen angedeutet, was die Geschichten, die im Buch vorkommen, zu einer einzigen, ungeheuren Tragödie werden lässt.
Im Fokus stehen die Schicksale Doras, Catalinas und Beatriz', dreier junger Frauen aus der „besseren Gesellschaft“ Barranquillas, einer Hafenstadt im Norden Kolumbiens. Die Schilderung ihrer Lebenswege basiert auf den Erinnerungen von Lina, einer Frau, die als Mädchen mit den drei Protagonistinnen befreundet war, und die nach den Begebenheiten des Romans, die in den fünfziger Jahren stattfinden, Kolumbien für immer verlassen hat und jetzt in Paris lebt. Im Vordergrund des Romans steht der Kampf seiner drei Freundinnen gegen ihren Untergang im Rahmen von respektablen Ehen. Die Männer, die sie aus religiöser Pflicht, sozialem Druck oder sogar Liebe geheiratet haben, heißen Benito, Álvaro und Javier. Jeder von ihnen verkörpert den Prototypen des eitlen, launischen und herrschsüchtigen Mannes, den ihr Milieu ihnen als einziges Vorbild bietet.
[...]
https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/belletristik/marvel-morenos-roman-im-dezember-der-wind-19031976.html
Bookmarks Related papers MentionsView impact
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 16.04.2023 // Francia Márquez wurde 1982 in einem Dorf am... more Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 16.04.2023 // Francia Márquez wurde 1982 in einem Dorf am kolumbianischen Pazifik geboren, in einem überwiegend von schwarzen Gemeinden bewohnten Gebiet, das traditionell vom kolumbianischen Staat vernachlässigt wurde. Schon als junge Frau wurde sie Bürgerrechtlerin und Umweltaktivistin. Im Jahr 2014 vertrieben paramilitärische Gruppen sie und ihre beiden Kinder gewaltsam von ihrem Land. Im selben Jahr führte sie einen Frauenmarsch über Hunderte Kilometer in die kolumbianische Hauptstadt Bogotá an, um gegen illegalen Goldabbau in ihrer Heimatregion zu protestieren.
Nach tagelangen Demonstrationen kam es zu einer Einigung mit der damaligen Regierung, die sich zum Schutz der Gegend verpflichtete. Francia Márquez wurde mit dem kolumbianischen Nationalpreis für Menschenrechte und mit dem Goldman Environmental Prize geehrt.
Wie hat Ihr Einsatz für die Umwelt und Ihre Kultur begonnen?
Ich kann nicht über mich selbst sprechen, ohne über die Gemeinschaft und das Territorium zu sprechen, in denen ich aufgewachsen bin. Meine Mutter war Bäuerin, Hebamme und Goldwäscherin. Als Hebamme lernte sie, dass man bei der Geburt eines Kindes einen Teil der Plazenta in der Erde vergräbt. Bei uns sagt man, so würde eine Verbindung zwischen uns und der Erde entstehen. Mein Vater war auch Bauer. Wir lebten im Haus der Familie meiner Mutter, zusammen mit meinen Großeltern, Onkeln und Cousins. Meine Großmutter brachte mir bei, Kaffee und Maniok anzubauen und in einem Fluss namens Ovejas nach Gold zu suchen. In diesem Fluss lernte ich auch fischen und schwimmen. Als ich dreizehn Jahre alt war, verkündete die Regierung, unser Fluss würde umgeleitet werden. Ich hatte das Gefühl, dass uns ein Stück unseres Herzens genommen werden sollte. Die älteren Frauen meiner Gemeinde sagen, der Fluss sei Vater und Mutter. Und die Mutter und den Vater tötet man doch nicht, oder? Man kümmert sich um sie. Als Kind hatte ich den Traum, Schauspielerin oder Sängerin zu werden. Ich hatte keine Möglichkeit, eine Kunstschule zu besuchen, aber ich trat dem Kulturhaus meiner Gemeinde bei und nahm an Tanz- und Theaterprojekten teil. Als der Plan zur Umleitung des Flusses angekündigt wurde, begannen alle Menschen der Community, dagegen zu protestieren. Wir jungen Leute dachten uns Theaterstücke aus, um zu erklären, warum der Lauf des Flusses nicht verändert werden sollte. Ich lernte eine Organisation namens Proceso de Comunidades Negras kennen, die uns darin unterstützte, uns gegen das Projekt zu mobilisieren. So fing meine Arbeit als Aktivistin an.
[...]
https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/kolumbiens-vizepraesidentin-francia-marquez-im-interview-18818756.html
Bookmarks Related papers MentionsView impact
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 26.03.2023 // Über die argentinische Schriftstellerin Sel... more Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 26.03.2023 // Über die argentinische Schriftstellerin Selva Almada wird häufig geschrieben, ihre Geschichten würden von der „Welt“ und den „Riten der Männlichkeit“ handeln. Grundsätzlich stimmt das auch.
In ihrem erstem Roman „Sengender Wind“ kreuzen sich die Wege eines hartnäckigen evangelikalen Wanderpredigers, der mit seiner Teenager-Tochter durch das Hinterland Argentiniens unterwegs ist, und eines verschlossenen und ebenso sturen Mechanikers, der dort, mitten im kochenden Nichts, mit seinem jungendlichen Gehilfen lebt. Durch prägnante Dialoge und Beschreibungen schildert Almada die Dürftigkeit des Lebens der Protagonisten und überhaupt der Landschaft, in der sie aufeinandertreffen. Womöglich wirkt die Welt des Romans, der 2016 auf Deutsch erschienen ist, für die meisten Leser befremdlich. Trotzdem ist die Begegnung beider Männer, ihr leiser doch unerbittlicher Kampf um eine reine Seele, sehr ergreifend.
„Ladrilleros“, Almadas zweiter Roman, handelt auch von einem Duell: Zwei junge Männer, die aus einfachen Zieglerfamilien stammen, scheinen dazu verdammt, die lebenslange Feindseligkeit zwischen ihren Vätern fortzuführen. Das Buch ist ein zeitgenössisches Trauerspiel, manchmal erinnert es – auch wenn es im kargen Norden Argentiniens spielt und die Frauen anscheinend nur Nebenrollen haben – an Shakespeares „Romeo und Julia“. Almada springt hin und her zwischen der Zeit vor der Geburt der Protagonisten, ihrer Kindheit und ihrem erbärmlichen Ende. So liest sich die Erzählung wie ein Thriller. Dabei zeigt die Autorin feinfühlig wie vernichtend jene Räume sind, in denen es für Männer zunächst eine Pflicht gibt: „echte Männer“ zu sein.
Jetzt ist Selva Almadas jüngster Roman „Kein Fluss“ ins Deutsche übersetzt worden. Das Buch, so die Autorin, schließt die „Trilogie der Männer“ ab, deren ersten Teile die oben erwähnten Romane sind. Diesmal erzählt Almada allerdings nicht von Feinden: Enero Rey und El Negro, zwei befreundete Mittfünfziger, nehmen den Teenager Tilo mit zum Fischen. Der Junge ist der Sohn eines alten gemeinsamen Freundes. Das Ausflugsziel, das beide Männer sich ausgesucht haben, ist eine Insel, die im selben Fluss liegt, in dem Tilos Vater vor fünfzehn Jahren ertrunken ist.
[...]
https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/autoren/selva-almada-und-ihr-eindringlicher-roman-kein-fluss-18772970.html
Bookmarks Related papers MentionsView impact
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 25 12 2022 // Die Worte, mit denen Zeugen über die Konzer... more Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 25 12 2022 // Die Worte, mit denen Zeugen über die Konzerte des australischen Rocksängers und Komponisten Nick Cave und seiner Band „The Bad Seeds“ berichten, könnten auch einem Sektenführer gelten. So beschreibt ein Journalist einen der Auftritte Caves als „kollektive Liturgie“, ein anderer ist von der Aura der „göttlichen Gemeinschaft“ zwischen dem Musiker und „seiner Herde“ mitgerissen. Und weitere Konzertbesucher sehen in Cave einen „Hohepriester“ oder einen „Heiligen, den viele Hände berühren wollen“.
Die Euphorie der Berichterstattung und ihr religiöser Tonfall dürften für viele derjenigen, die Cave und seine Band live erlebt haben, nachvollziehbar sein. Nick Cave, der dieses Jahr seinen 65. Geburtstag feierte, ist ein furioser und charismatischer Performer. Sobald er vor dem Publikum auftaucht, in dunklem Anzug und mit den zurückgekämmten rabenschwarzen Haaren, die sein Markenzeichen sind, gibt er sich jedem seiner Lieder leidenschaftlich hin – egal, ob es um alte Hits geht, wie „Red Right Hand“ und „Are You The One That I’ve Been Waiting For?“ oder die neuere, frenetische Gospel-Hymne „Get Ready For Love“.
Dabei singt Cave Songs über sexuelle Hörigkeit, Mordfälle und immer wieder Liebe, in denen sich Obszönitäten, Bibelverse und Referenzen auf obskure und prominente Dichter mischen. Auf einmal schaut er nach oben, streckt seine Arme aus, irgendwie gequält, und ruft lauthals mit seiner imposanten Bariton-Stimme: „Oh Lord, oh my Lord!“.
Seine Kommunikation mit dem Publikum ist äußerst dramatisch: mal um sich hauend, mal intim. Während seines Auftrittes in Berlin im Sommer stand Cave die meiste Zeit am vorderen Rand der Bühne oder auf einem Steg zwischen den Zuschauern. Von dort aus griff er nach ihren Händen und sang – oder eher: schrie – seine Texte in ihre Gesichter. Plötzlich bückte er sich zu einer jungen Frau, die auf den Schultern eines Mannes saß und aufgelöst weinte. Cave gab ein Zeichen und die Musik wurde leiser. Er legte seine Hand auf den Kopf der Frau, nahm dann ihre Hände in seine – ohne Ironie – und sang sachte, nur für sie. Kurz danach explodierte die Musik erneut und Cave brüllte wieder in den Himmel seine Lieder über Lust und Liebe, Totschlag und die Barmherzigkeit Gottes.
[...]
https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/pop/nick-cave-und-die-erloesung-18553341.html
Bookmarks Related papers MentionsView impact
Als der linke Politiker und Ex-Guerillakämpfer Gustavo Petro im Juni die Präsidentschaftswahlen i... more Als der linke Politiker und Ex-Guerillakämpfer Gustavo Petro im Juni die Präsidentschaftswahlen in Kolumbien gegen einen rechtspopulistischen Kandidaten gewann, war die Überraschung groß. Dass im traditionell konservativen Kolumbien – wo in den letzten Jahrzehnten unzählige linke Journalisten, Aktivisten, und Politiker durch rechte paramilitärische Banden getötet worden sind und wo noch 2016 mehr als die Hälfte der Bevölkerung einen Friedensprozess mit der ehemaligen FARC-Guerilla ablehnte –, dass gerade hier ein ehemaliger Guerillero zum höchsten Amt des Landes gewählt werden könnte, war beinahe unvorstellbar. Doch es ist passiert. Petro wird der erste linke Präsident der Geschichte Kolumbiens sein.
Darüber hinaus scheint Petros Sieg auch eine Entwicklung zu bestätigen, die seit einiger Zeit jenseits der kolumbianischen Grenzen stattfindet, nämlich eine Wendung nach links in der Politik mehrerer lateinamerikanischer Länder. In den letzten vier Jahren haben sich in Präsidentschaftswahlen in Mexiko, Argentinien, Peru und Chile linke Kandidaten durchgesetzt. Kolumbien reiht sich nun in diese Gruppe ein. Und im Oktober könnte in Brasilien der ehemalige Gewerkschaftler Luiz Inácio da Silva, genannt Lula – der bereits zwischen 2003 und 2011 Präsident war –, die Wahlen gegen Jair Bolsonaro gewinnen, den aktuellen Präsidenten. Bolsonaro ist wegen seiner frauenfeindlichen, rassistischen und antidemokratischen Äußerungen, sowie wegen seiner Gleichgültigkeit gegenüber der Abholzung des Amazonas-Regenwaldes in der ganzen Welt berühmt-berüchtigt.
Sollte sich Lula durchsetzen – wofür nach verschiedenen Umfragen die Chancen gut stehen – hätten die sechs größten und wirtschaftlich stärksten Ländern Lateinamerikas Staatschefs mit einer linksgerichteten Agenda. Angesichts dieser Entwicklung sprechen verschiedene internationale Medien bereits vom „roten Kontinent“, von einer „neuen Linken“ und von einer „progressiven Welle“ in Lateinamerika.
[...]
https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/wie-links-sind-die-linken-regierungen-lateinamerikas-18222499.html
Bookmarks Related papers MentionsView impact
Frankfurter Allgemeine Quarterly, 03/2022 // Noch vor wenigen Jahren waren die Sonntage in Bogotá... more Frankfurter Allgemeine Quarterly, 03/2022 // Noch vor wenigen Jahren waren die Sonntage in Bogotá, der kolumbianischen Hauptstadt, vom Besuch des Gottesdienstes bestimmt – des katholischen, versteht sich. Egal ob man ein hingebungsvoller Gläubiger war oder nur halbherzig religiös, im Kolumbien der siebziger und achtziger Jahre drehten sich die Wochenenden der meisten Familien, auch meiner, um den regelmäßigen Kirchgang. In meiner Erinnerung an die Sonntage meiner Kindheit kann ich den Magnetismus der vielen Kirchen der Stadt spüren. Wer mit dem Auto zu einer Messe in einem dicht besiedelten Viertel oder im hibbeligen Zentrum Bogotás fuhr, hatte es schwer, einen Parkplatz in Kirchennähe zu finden. Und wer zu Fuß ging, musste in der Regel erst mal an einer Reihe von Verkäufern oder Bettlern, die sich auf den an die Kirchen angrenzenden Straßen strategisch positionierten, vorbeimarschieren.
Ist man heutzutage früh am Sonntag in Bogotá unterwegs, stößt man in der Nähe religiöser Stätten auf eine ähnlich aufgeregte Stimmung wie damals: auf die Staus und die voll geparkten Straßen in der Umgebung der Gotteshäuser; auf die Bürgersteige davor, die von vielen Bedürftigen in Beschlag genommen werden; auf die Gruppen von Leuten, die aus allen Richtungen zielstrebig zur Predigt eilen.
Doch man wird auch schnell einen Unterschied zu damals bemerken – einen, der, angesichts der Tatsache, dass Bogotá die Hauptstadt eines Landes ist, das sich jahrhundertelang damit brüstete, eines der katholischsten Länder weltweit zu sein, auf eine verblüffende Entwicklung hinweist: Die Orte, in denen sich heute christliche Gläubige in Bogotá – aber eigentlich auch in vielen anderen Städten anderer Länder Lateinamerikas – versammeln, sind längst nicht mehr hauptsächlich katholische Kirchen.
[...]
https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/evangelikale-kirchen-gewinnen-immer-mehr-macht-in-suedamerika-18312747.html
Bookmarks Related papers MentionsView impact
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 03. April 2022 // Mariana Enríquez, Samanta Schweblin, Mó... more Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 03. April 2022 // Mariana Enríquez, Samanta Schweblin, Mónica Ojeda: Gleich mehrere lateinamerikanische Autorinnen beleben zurzeit ein uraltes Genre neu – aber mit dem Grauen und den Gespenstern der Wirklichkeit, in der sie leben.
Der Realismus reicht nicht mehr aus, um die Wahrheit über die Schrecken unserer Gesellschaften auszusprechen. Der Horror hilft, davon zu erzählen.“ Was die argentinische Schriftstellerin Mariana Enríquez da sagt, im Gespräch zu Besuch in Berlin, bringt es auf den Punkt. Und es klingt zugleich wie ein programmatischer Kampfruf zu einem aufregenden Experiment, das Autorinnen aus verschiedenen Ländern Lateinamerikas im Moment durchführen: die Wiedererfindung der Horrorliteratur.
Zunächst war das nur eine kuriose Randerscheinung, inzwischen ist es ein Phänomen, das unterschiedliche Namen bekommen hat: „lateinamerikanischer Gothic“, „anomaler Realismus“ , „feministischer Horror“. Aber wie man es auch nennen mag, diese Begriffe verbinden jedenfalls die Werke gleich mehrerer Schriftstellerinnen, die Kennzeichen des Horrorgenres verwenden, neu interpretieren, neu besetzen, um damit die dunklen Seiten Lateinamerikas genauso fesselnd wie verstörend ins Licht zu holen. [...]
Bookmarks Related papers MentionsView impact
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 24. Oktober 2021 // Während verheerende Naturkatastrophen... more Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 24. Oktober 2021 // Während verheerende Naturkatastrophen die Welt bedrohen, wächst seit einigen Jahren das Interesse an einem Denken, das der Kanon westlicher Gesellschaften lange als rückständig und unaufgeklärt diskreditiert hat. Unter den Schlagworten „Indigenes Wissen“ oder „Traditional Ecological Knowledge“ (TEC) untersuchen TED-Talks, Bücher und Kunstausstellungen, wie indigene Völker weltweit das Verhältnis zwischen Mensch und Erde verstehen, wie sie sich den klimatischen Krisen unserer Zeit gegenüberstellen – und was vermeintlich fortschrittliche Industriegesellschaften von diesen lokalen Wissenssystemen lernen könnten.
Ungefähr 5000 Völker werden heute als „indigen“ bezeichnet, das sind, nach Schätzungen der Vereinten Nationen, rund 370 Millionen Menschen in über 70 Ländern. Insofern ist schon die Kategorisierung all der verschiedenen Denkansätze nicht unproblematisch. Dass man aber durchaus gewisse Leitgedanken erkennen kann, zeigen drei kürzlich auf Deutsch neu erschienene Bücher: Ailton Krenaks „Ideen, um das Ende der Welt zu vertagen“ (btb Verlag), Robin Wall Kimmerers „Geflochtenes Süßgras: Die Weisheit der Pflanzen“ (Aufbau) und Tyson Yunkaportas „Sand Talk: Das Wissen der Aborigines und die Krisen der Moderne“ (Matthes & Seitz). Bei allen drei Autoren und Autorinnen ist die Vorstellung von Natur als komplexes lebendiges Geflecht aller Wesen, Dinge und Phänomene zentral, ein Vorstellung, die jedoch im Kontext der aktuellen Krise, bemerkenswert modern erscheint.
[...]
Bookmarks Related papers MentionsView impact
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 14. Februar 2021 // „Wir Lateinamerikaner sind arm, weil... more Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 14. Februar 2021 // „Wir Lateinamerikaner sind arm, weil der Boden, auf dem wir gehen, reich ist“. So lautet eine der zentralen Thesen des heute – fünfzig Jahre nach seiner Veröffentlichung – nach wie vor von vielen verehrten, von anderen verachteten und weiterhin leidenschaftlich diskutierten Buches „Die offenen Adern Lateinamerikas“ des uruguayischen Schriftstellers Eduardo Galeano. Kein anderes Werk eines lateinamerikanischen Autors – abgesehen vielleicht von Gabriel García Márquez' Roman „Hundert Jahre Einsamkeit“ – scheint das Selbst- und Außenbild Lateinamerikas seit der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts derart geprägt zu haben. Und das auf der Basis einer Überzeugung, die Galeano bereits zu Beginn des Werkes deutlich formuliert: „Die Unterentwicklung in Lateinamerika ist die Folge der Entwicklung anderer“.
„Die offenen Adern“ erschien 1971, also inmitten des Kalten Krieges, und basiert auf mehreren Jahren von intensiver Lektüre und Reisen durch Lateinamerika. Darin wollte Galeano eine Geschichte des Kontinents vorlegen, von der sogenannten „Entdeckung Amerikas“ durch die Europäer im Jahr 1492 bis in die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Aber „Die offenen Adern“ ist kein traditionelles Geschichtsbuch, vor allem keine derjenigen Chroniken, durch die viele Lateinamerikaner ihre Vergangenheit immer noch kennenlernen – in Galeanos Worten: als „Aufzählung von Helden in Karnevalskostümen“. Das Buch ist vielmehr der Versuch zu zeigen, inwiefern seit dem 15. Jahrhundert in Lateinamerika alles, und Galeano betont, „alles: die Schätze der Natur und die Fähigkeiten der Bevölkerung“, sich „zuerst in europäisches, nachher in nordamerikanisches Kapital verwandelt“ habe – inwiefern also die lateinamerikanische Geschichte eine „Geschichte der Ausplünderung“ sei.
[...]
Bookmarks Related papers MentionsView impact
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 20. Dezember 2020 // Ein Drittel aller Latino-Wähler in ... more Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 20. Dezember 2020 // Ein Drittel aller Latino-Wähler in den Vereinigten Staaten steht hinter Trump, der gegen Einwanderer hetzt. Auch mein Onkel und meine Cousine zählen dazu. Wie aber kann das sein? Oder bin ich das Problem, wenn ich es nicht verstehe?
-
Es ist beunruhigend und manchmal schmerzhaft, festzustellen, dass Menschen, die wir schätzen und sogar lieben, die Welt anders sehen als wir selbst. Oder als wir guten Gewissens denken, dass sie die Welt sehen sollten.
Es begann damit, dass ich mit meiner Mutter, die in Kolumbien lebt, aus meinem Berliner Lockdown telefonierte. Wie bei den meisten unserer Gespräche erzählte sie mir verschiedene Familienneuigkeiten – die ich meistens nur mit gemäßigtem Interesse verfolge.
Diesmal aber erzählte sie auch von einem Telefonat mit ihrer Schwester, die gerade am Rande von New York bei ihrer Tochter, meiner Cousine Marcela, wohnt, um ihr mit dem Haushalt und den Kindern zu helfen. Meine Verwandten sind auf der ganzen Welt verstreut, und diejenigen, die vor langer Zeit in die Vereinigten Staaten auswanderten, machen fast die Hälfte unserer Großfamilie aus. Marcela war vor fünfzehn Jahren nach New York gegangen, nachdem sie in Kolumbien keine Arbeit als Psychologin finden konnte. Sie blieb als sogenannte „Illegale“, machte allerhand Jobs: Über ihre Erfahrung als Hilfskraft in Ivanka Trumps ehemaligem Schmuckladen in Manhattan habe ich in diesem Feuilleton schon vor einigen Jahren geschrieben. Marcela heiratete einen amerikanischen Bürger kolumbianischer Herkunft. Heute ist sie Managerin einer Restaurantkette.
Jedenfalls erzählte meine Mutter mir, als wir also neulich telefonierten, dass Marcelas Mutter wiederum kurz zuvor mit ihrem ältesten Sohn Juan in Bogotá telefoniert habe. Und bei diesem Gespräch hätte sie also Juan erzählt, wie froh Marcela und deren Mann darüber sind, dass Joe Biden zum neuen Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt worden sei. Da habe Juan, so meine Tante, so meine Mutter, sofort angefangen, „wie ein Hysteriker“ zu brüllen: Wie konnte seine Schwester nur diesen gottlosen Mann wählen, diesen „Feind der Familie“?
Damit meinte Juan nicht unsere eigene Familie, sondern, wie man so sagt, die Familie als „heilige Institution“. Juan ist vor etwa einem Jahrzehnt, nach einem ereignis- und alkoholreichen Leben als Partylöwe und Frauenheld, zu einem radikalen evangelikalen Christen geworden. Er ist bei uns zwar noch für seinen alten Humor und seine Wärme bekannt, wird aber inzwischen auch gefürchtet. Ab und zu lässt er subtil frauenfeindliche oder offen reaktionäre Sprüche raus. Und er hat auch schon oft Geburtstagsfeiern oder Weihnachtsessen verlassen, weil jemand eine Flasche Sekt aufmachen wollte. Meine Tante jedenfalls, so meine Mutter, sei schockiert gewesen: Sie hätte nicht gedacht, dass ihr Sohn derart teuflisch toben kann – und das auch noch bei einem Thema wie den Wahlen in den Vereinigten Staaten, das ihn, würde man denken, wenig angeht.
[...]
Bookmarks Related papers MentionsView impact
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 1. November 2020 // Die „Great American Novel“ – so der ... more Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 1. November 2020 // Die „Great American Novel“ – so der Schriftsteller John William DeForest, der 1868 den Begriff prägte – soll die literarische „Abbildung der gewöhnlichen Gefühle und Verhaltensweisen“ der US-Amerikaner, das „Porträt der Seele“ ihres Landes sein. Für DeForest war die gelungenste Annäherung seiner Zeit an jenes Ideal „Onkel Toms Hütte“, die Geschichte verschiedener afroamerikanischer Sklaven und ihrer Eigentümer, die Harriet Beecher Stowe 1852 veröffentlichte und die bis heute in den Vereinigten Staaten inbrünstig diskutiert wird. Im Laufe der Jahrzehnte ist die Liste der Anwärter auf die literarische Ehre lang geworden. Und sie wird – zumindest solange es die Vereinigten Staaten gibt! – natürlich nie ganz abgeschlossen sein.
Darauf stehen etwa Mark Twains „Abenteuer des Huckleberry Finn“ und F. Scott Fitzgeralds „Der große Gatsby“, Thomas Pynchons „Die Enden der Parabel“ und Toni Morrisons „Menschenkind“. Jetzt, bezieht man sich auf DeForests weitere Beschreibungen der „Great American Novel“ als „Tableau der US-Gesellschaft“ und aufrüttelndes Sinnbild der Emotionen, die das Land gestalten, möchte man ankündigen: die Liste großer US-Romane ist mit Ayad Akhtars Roman „Homeland Elegien“ gerade um einen Titel reicher geworden.
In „Homeland Elegien“ erzählt ein Dramatiker aus New York namens Ayad Akhtar, Sohn eines aus Pakistan eingewanderten Ärztepaares, von seinem bemerkenswerten Werdegang. Etwa von dem Spagat zwischen der fast kindlichen Begeisterung seines Vaters für den „American Way of Life“ (der nach Akhtar in hohem Maße darauf basiert, dass jeder auf sich allein gestellt ist, Schulden gemacht werden, um Schulden zu bezahlen – und man dabei schwört, man würde in einer strahlenden „Stadt auf dem Hügel“ leben) und der Verachtung seiner Mutter all dem gegenüber. Oder davon, wie er durch Finanzspekulation ein Vermögen aufbaute und wieder verlor. Auch davon, wie er nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 ein Theaterstück über Islamophobie und die Identitätskonflikte US-amerikanischer Muslime schrieb und dadurch bekannt wurde. Und auch davon, wie er in den Vereinigten Staaten, „meinem Heimatland Amerika“, sich nie Zuhause gefühlt hat – ein Gefühl wiederum, das ihm, als er es endlich annahm, den Weg zum Erfolg als Autor ebnete.
Diese Eckdaten aus dem Leben des Protagonisten Akhtar sind echt: sie gehören also zur Biographie des Schriftstellers Akhtar. Wie dieser selbst aber erklärt hat, ist sonst vieles dessen, was sein Erzähler uns auf nonchalante, fesselnde und oft humorvolle Weise über sein Leben anvertraut, ausgedacht. Doch was genau? Gerade die Tatsache, dass wir es nicht wissen, gehört zur Anziehungskraft des Romans: Unser Leben, scheint er – auf sehr US-amerikanische Weise – zeigen zu wollen, ist hauptsächlich das, was wir anderen und uns selbst erzählen. Und sowieso spürt man im Laufe der Geschichte, dass die Frage nach dem Realen und dem Fiktiven hier irrelevant ist. Es gibt in „Homeland Elegien“ nämlich keine Seite, die sich nicht authentisch anfühlt, keine Anekdote oder Überlegung, die nicht einen gewissen Aspekt der aufbrausenden Realität der Vereinigten Staaten beleuchtet.
Da ist zum Beispiel Akhtars Bericht über die wahnsinnige Sympathie, die sein Vater für Donald Trump hat. Der pakistanische Kardiologe soll in den achtziger Jahren den Immobilienunternehmer einmal behandelt haben – und seitdem fasziniert vom künftigen US-Präsidenten sein. Wenige Tage von einer neuen, gefürchteten Präsidentschaftswahl tut es weh, zu lesen, wie Akhtars Vater Trumps Lügen und Gemeinheiten, auch gegen Muslime, rechtfertigt („Er ist ein Showman... Er meint es nicht so“) oder verharmlost („Ich bete nicht, ich faste nicht, ich bin eigentlich gar kein Muslim, und für dich gilt dasselbe. Er meint uns nicht. Und außerdem war ich sein Arzt, also brauchen wir uns keine Sorgen zu machen“). Denn es ist klar: diese Faszination teilen Millionen von Menschen – und sie ist, wie Trump selbst, das Symptom tieferer Übel. Der Roman erforscht sie so unterhaltsam wie scharfsinnig.
Ebenso liest sich die Geschichte des Hedgefonds-Gründers Riaz Rind, der Akhtar zum Millionären macht, wie eine Parabel über die paradoxen Werte der US-Gesellschaft. Rind – in dem die „New York Times“ einen modernen Jay Gatsby sieht – ist der Sohn einer muslimischen Familie aus einer verarmten Arbeiterstadt in Pennsylvania. Dank seines Finanztalents wurde er stinkreich und machte es sich zur Aufgabe, das Leben von US-Muslimen zu verbessern. Mit denselben Waffen, mit denen seiner Ansicht nach der Westen die sogenannte „muslimische Welt“ knechtet – faulen Kapitalanlage und Krediten –, rächt er sich an einer Reihe von US-Städten für die Diskriminierung, die er dort erlebt hat.
Und auch Akhtars Geständnis, er hätte nach dem 11. September vor lauter Angst, auf der Straße angegriffen zu werden, monatelang ein Kreuz um den Hals sichtbar getragen, oder die Stellen, an denen er manchen seiner schikanierenden Landsleute nervös erklären muss, sein Name käme zwar aus Ägypten, er selbst aber aus New York – auch sie, egal ob Fiktion oder nicht, sind prägnante Pinselstriche in dem Gemälde der heutigen, real existierenden Vereinigten Staaten. Und sie stellen immer wieder die Frage, die durch „Homeland Elegien“ – und überhaupt Akhtars Werk – durchfließt: Wie kommt man mit dem Land klar, in dem man geboren wurde, dessen Sprache die eigene ist, auf das man stolz sein soll – und das einem ständig signalisiert, man solle dorthin abhauen, wo man (angeblich) herkam?
Ayad Akhtar, 1970 in New York geboren, hat bisher vier Theaterstücke, mehrere Drehbücher und zwei Romane geschrieben. 2016 war er der meistgespielte Dramatiker der Vereinigten Staaten. Für „Disgraced“, sein erstes Stück vom Jahr 2012, bekam er den begehrten Pulitzer-Preis für Theater. Das Bühnenstück erzählt von einem Essen, bei dem vier New Yorker – ein nicht praktizierender muslimischer Anwalt pakistanischer Herkunft namens Amir, seine Frau, eine weiße Künstlerin, eine afroamerikanische Anwältin und ein jüdischer Kunsthändler – sich über Religion unterhalten. Als Amir irgendwann beichtet, er hätte am 11. September einen „Hauch von Stolz“ verspürt, eskaliert die Diskussion. Seine heikle Aussage wird dramatische Folgen haben. Spätere Stücke thematisieren die Rolle von Schulden als Grundlage der US-amerikanischen, ja der globalen Wirtschaft, oder die Spannung zwischen kapitalistischer Gier und islamistischem Fanatismus. Sein erster Roman „Himmelssucher“, erschienen 2012, erzählt von einem pakistanisch-amerikanischen Jungen und seinen religiösen und familiären Konflikten.
Die Frage danach, wie man sich zum Land verhält, das das eigene ist und einen gleichzeitig als Fremden sieht, verbirgt eine andere, fundamentale Fragestellung Akhtars: Was heißt eigentlich „wir“? Sie ist in „Disgraced“ besonders beklemmend. Als seine entsetzte Frau Amir fragt, worauf er denn am 11. September stolz war – „auf die Türme, die gefallen sind? Auf die Menschen, die getötet wurden?“ –, sagt er:„Darauf, dass wir endlich gewonnen haben“. „Wir?“, fragt sie. „Ich glaube“, antwortet Amir beschämt, „ich habe vergessen welches 'wir' ich war“. Jetzt hallt in „Homeland Elegien“ das Unbehagen wieder. „Ich war“, erzählt Akhtar, „nachdem ich über vierzig Jahre in Amerika gelebt hatte, noch immer bereit, mich als 'anders' zu betrachten“. Später entscheidet er, damit aufzuhören, „so zu tun, als fühlte ich mich als Amerikaner“.
„Homeland Elegien“, ist, wie jeder großartiger Roman, vieles gleichzeitig: Eine intelligente und kurzweilige Coming-of-Age-Geschichte von einem, der langsam versteht, wie er selbst, aber auch sein Land, ticken – auch im Bezug auf das Sexuelle, wovon Akhtar unverblümt und mit einem genialen Sinn fürs Komische erzählt; die spannende literarische Veranschaulichung von „Trumps Triumph“ als „Schleifung aller Bollwerke gegen jenes Streben nach gottgefälligem Reichtum, das offenbar die einzige verbliebene amerikanische Leidenschaft ist“; eine beinahe essayistische Auseinandersetzung mit Themen wie den falschen Versprechen der US-Ökonomie, Edward W. Saids Orientalismus, Freuds Traumdeutung oder dem Ende des Goldenen Zeitalters des Islams; ein Klagegedicht – wie schon der Titel des Romans es offenbart – über den Tod eines Traumes, der auch Akhtars war: von der Einzig- und Großartigkeit der Vereinigten Staaten.
Vor allem ist der Roman – wie es ja jede „Great American Novel“ zu sein hat – eine raffinierte und herrlich geschriebene Erkundung der „Gefühle und Verhaltensweisen“, die in den letzten Jahren emporgekommen sind, sich entzündet und erhärtet haben und nun die „Seele“ eines zerrissenen Landes bestimmen, die, wie es eine wichtige Protagonistin des Romans formuliert, sich selbst plündert. Jene Emotionen werden – unabhängig davon, was an diesem 3. November geschieht – selbstverständlich die Zukunft der Vereinigten Staaten, mit alle ihren verschiedenen Identitätskrisen, weiter gestalten. Wer „Homeland Elegien“ liest wird ein Stück weit besser verstehen, wie es dazu kommen konnte.
Hernán D. Caro
Ayad Akhtar: „Homeland Elegien“. Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren. Claassen-Verlag, 464 Seiten, 24 Euro
Bookmarks Related papers MentionsView impact
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 4. Oktober 2020 // Das englische Wort „Afropean“ entstand... more Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 4. Oktober 2020 // Das englische Wort „Afropean“ entstand, wie Johny Pitts am Anfang seines Buches über das heutige schwarze Europa erzählt, in einem Augenblick des Optimismus. Begeistert vom Talent von Musikern afrikanischer Herkunft in Europa, prägten in den neunziger Jahren David Byrne, ehemaliger Sänger der US-Rockband Talking Heads, und Marie Daulne, belgisch-kongolesische Sängerin der Gruppe Zap Mama, jenen Begriff, um „schöne, begabte, erfolgreiche schwarze Europäer“ zu bezeichnen. Und es war in diesem zuversichtlichen Geist, dass Pitts „Afropäisch“ ursprünglich schreiben wollte: als „dekorativer Bildband“ mit Geschichten junger Männer und Frauen, die „leicht und elegant ein selbstbewusstes schwarzes europäisches Gefühl“ artikulieren.
Nun, es kam anders. Ein Besuch im sogenannten „Dschungel“ von Calais – dem berüchtigten Flüchtlingscamp in Nordfrankreich, das 2016 offiziell geräumt wurde doch noch als menschenunwürdige Parallelwelt und weiteres Zeichen europäischer Gleichgültigkeit fortlebt – brachte Pitts dazu, seinen Ansatz zu überdenken. Beim Verlassen des Lagers verstand er plötzlich, was es bedeutet, „drinnen“ zu sein: ein geschützter europäischer Bürger zu sein, einen begehrten Pass zu besitzen, diese Hölle in Calais überhaupt besuchen und wieder verlassen zu können. Die Erfahrung weckte bei Pitts, der als Sohn eines Afroamerikaners und einer weißen Engländerin in der Arbeiterstadt Sheffield in Nordengland geboren wurde, aber auch Erinnerungen an die Momente, wo er selbst sich „draußen“ gefühlt hat. Zum Beispiel am jährlichen Gedenktag für die Gefallenen der Weltkriege in Großbritannien, wo er immer wieder von Nationalisten, „das Gesicht rot vor Wut und Rassismus“, zu hören bekommt, er solle „dahin zurück, wo ich herkam“. Seine Hautfarbe, schreibt Pitts, verbirgt noch heute für viele sein „Europäischsein“. „Europäisch“ ist ja immer noch, ungeachtet der Diversität, die im Kontinent zu erleben ist, ein Synonym für „weiß“. [...]
Bookmarks Related papers MentionsView impact
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 19. April 2020 // In den ersten Seiten seines neuen Roma... more Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 19. April 2020 // In den ersten Seiten seines neuen Romans „Harte Jahre“, gerade auf Deutsch erschienen, erzählt der peruanische Schriftsteller und Nobelpreisträger Mario Vargas Llosa von Bananen. Er erzählt davon, wie der US-amerikanische Konzern United Fruit Company, heute Chiquita Brand, nach dem Zweiten Weltkrieg und mit Hilfe von Edward Louis Bernays – eines Neffen Sigmund Freuds und eines der Pioniere der Psychologie der Massen, der in den Vereinigten Staaten als „Vater der Öffentlichkeitsarbeit“ berühmt wurde – sich ein weltweites Bananenmonopol und unerhörte politische Macht sicherte, riesige Gebiete in Mittelamerika und der Karibik unter seine Kontrolle brachte und die Politik dieser Länder, der sogenannten „Bananenrepubliken“, bestimmte.
Das ist eine fesselnde und entsetzliche Geschichte. In „Harte Jahre“ ist sie aber nur die Einleitung zum eigentlichen Thema des Romans: der schamlosen Zerlegung der demokratisch gewählten, progressiven Regierung von Jacobo Árbenz Guzmán in Guatemala in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Nachdem Árbenz begonnen hatte, eine Agrarreform durchzuführen, inszenierte das Unternehmen gemeinsam mit der US-Regierung eine Propagandakampagne, bei der der Präsident – der davon träumte, sein Land „so demokratisch wie die USA“ zu machen – fälschlicherweise als Kommunist dargestellt wurde. Die Strategie gelang: 1954 setzte die CIA Árbenz' Regierung ab und tauschte sie gegen eine wirtschaftsfreundliche Militärdiktatur aus.
Die Folgen des Putsches reichen bis heute: ab 1960 herrschte in Guatemala fast vierzig Jahre lang Bürgerkrieg. Dieser kostete 200.000 Personen, unter ihnen unzähligen Indigenen, das Leben und schaffte über eine Million Flüchtlinge. Heute ist das Land eines der ärmsten Lateinamerikas. „Harte Jahre“ erzählt die Vorgeschichte des Krieges. Doch im Buch geht es nicht nur darum. Der Roman, der in Lateinamerika mit Begeisterung rezipiert wurde und in Guatemala für Unruhe sorgte, gehört zu dem Genre, das Vargas Llosa, noch einer der prominentesten Autoren und überhaupt Intellektuellen der spanischsprachigen Welt, wie kaum ein anderer seiner Zeitgenossen beherrscht: die große lateinamerikanische Tragödie.
[...]
Bookmarks Related papers MentionsView impact
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 29. März 2020 // „Aus dem Fernsehen konnten wir das Farbi... more Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 29. März 2020 // „Aus dem Fernsehen konnten wir das Farbigsein weiß Gott nicht lernen. Ein farbiges Gesicht mi Fernsehen überhaupt zu sehen war ein Ereignis“. Das schreibt Henry Louis Gates jr. in seiner Autobiographie „Farbige Zeiten“ aus dem Jahr 1994. Darin erzählte der amerikanische Historiker von der fast totalen Unsichtbarkeit der Afroamerikaner im Fernsehen seiner Kindheit. Gates, später Professor an der Universität von Harvard, wuchs im West Virginia der fünfziger Jahre auf. In jenen seltenen Fällen, in denen auf dem Bildschirm jemand zu sehen war, der oder die so aussah wie er selbst, wurde das ganze Viertel in Aufregung versetzt. Die Nachbarn, erinnert sich Gates, stürzten zum Telefon, um einander zu benachrichtigen: „Farbig, farbig, im zweiten Programm!“
Diese Zeiten, in denen es einem Wunder glich, wenn Vertreter sogenannter „Minderheiten“ im Fernsehen auftauchten, sind zum Glück vorbei. Zumindest in den Vereinigten Staaten, wo die Bewegung hin zu einer stärkeren Diversität in Fernseh- und Kinoproduktionen inzwischen unaufhaltsam ist. Die Zahlen des „Hollywood Diversity Report“, erstellt von der University of California in Los Angeles (UCLA), scheinen das zu belegen: Demnach betrug der Anteil ethnischer Minderheiten an Filmhauptrollen im Jahr 2019 27,6 Prozent. Das ist immer noch eine bescheidene Zahl, wenn man bedenkt, dass diese Minderheiten bald die Hälfte der amerikanischen Bevölkerung ausmachen werden. Aber noch 2011 waren es nur 10,5 Prozent gewesen. Im Fall weiblicher Hauptrollen ist der Anteil im gleichen Zeitraum von 25,6 sogar auf 44,1 Prozent gestiegen.
Was das bedeutet, kann man derzeit nirgendwo deutlicher sehen als auf Netflix. Innerhalb von zehn Jahren ist der amerikanische Streamingdienst zum Vorreiter und Leitbild dessen geworden, was Diversität auf dem Bildschirm bedeuten kann. Als „Orange Is The New Black“, eine der ersten Netflix-Produktionen überhaupt, im Jahr 2013 Premiere feierte, wirkte diese Serie über die Schicksale sehr unterschiedlicher Insassen eines Frauengefängnisses wie eine Fernsehrevolution. Heute, mit Serien wie „Glow“ über ein weibliches amerikanisches Wrestlingteam, oder den „Telefonistinnen“, einer spanischen Produktion über die Angestellten einer Telekommunikationsfirma in Madrid der zwanziger Jahre, sind solche Figuren zum Standard im Programm geworden.
[...]
Diversität ist das eigentliche Geschäftsmodell von Netflix – ob das nun eine schlaue Marketing-Strategie eines Unternehmens ist, das sich altruistisch geben will, oder nicht. Mit knapp 169 Millionen Abonnenten in mehr als 190 Ländern (Ausnahmen sind China, Nordkorea, Syrien und die Krim) beschreibt sich Netflix selbst als „globales Unternehmen mit einer vielfältigen Mitgliederbasis“.
Dies wirkt sich offenbar auch auf die Unternehmensstruktur aus: Laut eigenen Angaben sind 49 Prozent aller Netflix-Beschäftigten auf der ganzen Welt weiblich, in den Vereinigten Staaten gehören 53 Prozent ethnischen Minderheiten an. Nachdem der damalige Kommunikationschef Jonathan Friedland wegen rassistischer Äußerungen im Jahr 2018 gefeuert wurde, schaffte Netflix die Führungsposition „Vice President for Inclusion Strategy“, die zurzeit von der afroamerikanischen Beraterin Verna Myers besetzt ist. Und die sich, in ihren eigenen Worten, der Förderung von „kultureller Vielfalt, Inklusion und Fairness in allen Aspekten der weltweiten Geschäftstätigkeit“ des Unternehmens widmet.
Doch auch das Streaming-Angebot selbst zielt darauf, den Unternehmensansprüchen zu entsprechen. Einerseits setzt Netflix darauf, in all seinen Märkten einheimische Produktionen auf den Weg zu bringen. Andererseits sollen diese Produktionen dann aber „globale Perspektiven, globale Geschichten“ spiegeln. Wer auf der ganzen Welt nach neuer Kundschaft sucht, muss halt Inhalte produzieren, die sowohl diese Welt selbst, aber eben auch die Lebenserfahrungen dieser neuen Kundschaft reflektieren. Dabei erschließt sich Netflix, wie es eben im Lehrbuch für marktwirtschaftliche Diversifizierung steht, zwar immer speziellere Zielgruppen, aber eben immer mit Geschichten, die von universellem Interesse sind: Gerade startete etwa die Comedy-Drama-Serie „Gentefied“, in der drei mexikanisch-amerikanische Cousins in Los Angeles nicht nur für den Taco-Shop ihres Großvaters kämpfen – sondern eben auch gegen eine weltweit bekannte Gentrifizierung.
[...]
Aber der wachsende Einfluss von Netflix wühlt auch die deutsche Unterhaltungsindustrie langsam auf. Was nicht immer angenehm ist: Kreative und Produktionsfirmen freuen sich zwar über die Zunahme an Projekten, die angesichts der Reichweite eine weltweite Aufmerksamkeit versprechen. Sie berichten aber auch von stark verkürzten Entwicklungszeiten, von harten Verhandlungen um die Rechte. Gleichzeitig gibt Netflix auch seinen deutschen Produktionsfirmen, den Autorinnen und Autoren klar vor, Serien und Filme divers zu besetzen. Es könne also gut sein, dass der Druck des Streamingdienstes die Inklusion in der deutschen Fernseh- und Filmindustrie vorantreibt. Es gäbe dabei – und das ist der Witz – ja nichts zu verlieren. Denn man erschlösse sich damit ein größeres Publikum, das im Moment nicht einschaltet, weil es sich nicht sieht.
Natürlich sind auch bei Netflix nicht alle Fragen der Inklusion gelöst. Wie der eingangs erwähnte Bericht der UCLA betont, sind Frauen und Minderheiten bei Regie und Drehbuch nach wie vor stark unterrepräsentiert. Und im Vorstand des Unternehmens sitzt eine Mehrheit weißer Männer: verblüffend, angesichts der lautstark erklärten guten Vorsätze des Unternehmens, angesichts der internen Schulungen, die Produktionsteams auf der ganzen Welt in Sachen Umgang und Wortwahl von Netflix erhalten, das extra dafür Personal auf die Sets schickt. Auch Kampagnen wie „Weil sie es angesehen hat“ – eine von Frauen kuratierte Auswahl von Serien und Filmen, die Netflix dieses Jahr am Frauentag präsentierte – ändern daran erst mal nichts.
Und doch kann man es nur begrüßen, wenn ein Unterhaltungsunternehmen es schafft, seinem Publikum vor Augen zu führen, dass die Welt tatsächlich vielfältig ist. Dann ist es auch hoffentlich bald wirklich „für alle“ kein Wunder mehr, Leute auf dem Bildschirm zu sehen, die so aussehen wie die Leute davor.
Bookmarks Related papers MentionsView impact
Uploads
Texts by Dr. Hernán D. Caro
Darf man ein Werk, das ein Schriftsteller verstoßen hat, nach dessen Tod doch herausbringen? Die Antworten auf diese ewige Frage, diesmal von der spanischsprachigen Zeitschrift „WMagazín“ gestellt, waren – wie zu erwarten – widersprüchlich. „Es liegt ein Funken Eitelkeit darin, von einem anderen zu verlangen, das zu zerstören, was man geschaffen hat“, sinnierte ein Autor. „Man weiß, dass der andere es nicht tun wird“. Eine Buchhändlerin nannte die Veröffentlichung des Romans „das gute Recht“ der Erben – und freute sich über das Geschäft. Ein anderer Buchhändler prangerte „diese Praxis“ an, „den Autor als Ware zu fetischisieren“. Franz Kafka und Max Brod wurden erwähnt. Und jemand verwies auf einen Spruch, der von Henry James stammen soll: „Es ist unmoralisch, die Taschen und Schubladen eines Toten zu durchsuchen“.
Jetzt, wo der Roman erschienen ist, sind die Meinungen über seine Qualität ebenso gespalten. Während die spanische Zeitung „La Vanguardia“ das Buch für ein „weiteres Meisterwerk des Autors von ‚Hundert Jahre Einsamkeit‘“ hielt, hätte man sich laut der „The New York Times“ einen „unbefriedigenderen Abschied“ von García Márquez „kaum vorstellen können“.
Aber zunächst zu den Fakten: „Wir sehen uns im August“ erzählt die Geschichte von Ana Magdalena Bach, einer Frau mittleren Alters, die im August jedes Jahres auf eine karibische Insel fährt, um am dortigen Friedhof einen Strauß Gladiolen auf das Grab ihrer Mutter zu legen. Ana Magdalena liebt Bücher und Musik, hat von der Mutter „das Leuchten der goldenen Augen“, die „Tugend der wenigen Worte und die Klugheit, ihr Temperament zu zügeln“ geerbt und ist seit vielen Jahren glücklich verheiratet.
Bei einem ihrer Inselbesuche lernt die Frau einen eleganten Ausländer kennen. Sie trinken ein Glas zusammen, führen ein „banales Gespräch“ – der Mann ist weder besonders kultiviert noch besonders lustig, er hat aber „ein gutes und zaghaftes Herz“ –, und schließlich schlafen sie miteinander, wobei der Mann sich als „vortrefflicher Liebhaber“ offenbart, der Ana Magdalena „ohne Eile zum Siedepunkt führte“.
Als die Frau am nächsten Tag erwacht, ist der schneidige Fremde weg. Ihr bleiben nur das kränkende Geschenk eines Zwanzigdollarscheines, die „brutale Erkenntnis“, zum ersten Mal in ihrem Leben „mit einem Mann, der nicht der ihre war, gevögelt“ zu haben, und das brennende und verwirrende Verlangen danach, diese Nacht zu wiederholen. Und so endet das erste der insgesamt sechs kurzen Kapitel des Romans.
Dieses Kapitel las García Márquez bereits 1999 bei einem literarischen Treffen in Madrid vor. Ihm zufolge handelte es sich dabei um die erste Kurzgeschichte eines geplanten Erzählbands. Das Buch ist aber nie erschienen. Anstatt dessen erschien 2002 García Márquez' hervorragende Autobiographie „Leben, um davon zu erzählen“ und zwei Jahre später der Kurzroman „Erinnerung an meine traurigen Huren“, den viele Leser aus gutem Grund problematisch, wenn nicht gar anstößig fanden: Darin geht es nämlich um einen Neunzigjährigen, der mit einer vierzehnjährigen Prostituierten gerne schlafen würde. Dieses Werk galt bisher als das letzte des Autors.
Wie man aber nun weiß, arbeitete García Márquez an „Wir sehen uns im August“ weiter – und aus der Erzählung wurde ein Roman. Allerdings war diese Arbeit, wie seine Söhne berichten, äußerst beschwerlich. Denn García Márquez litt in seinen letzten Jahren an Demenz. „Die Erinnerung ist zugleich mein Rohstoff und mein Werkzeug“, soll er gesagt haben. „Ohne sie ist alles dahin.“ Die Krankheit habe es für ihn unmöglich gemacht, den Roman zu einem befriedigenden Abschluss zu bringen. So fällte er irgendwann das oben zitierte, vernichtende Urteil über sein eigenes Buch.
Trotzdem haben die Söhne entschieden, es zu veröffentlichen. Ihre Begründung im Vorwort: Nach einer neuen Lektüre des Romans hätten sie ihn „sehr viel besser“ als vorher gefunden. Und sie äußern die Vermutung, dass „eben die eingeschränkten Fähigkeiten“, die García Márquez nicht mehr erlaubten, mit der „gewohnten Sorgfalt“ zu schreiben, ihn womöglich auch daran gehindert haben, zu erfassen, wie gut der Roman „ungeachtet seiner kleinen Mängel“ sei…
Die erzählerische Prämisse, die im ersten Kapitel von „Wir sehen uns im August“ gesetzt wird, ist spannend – auch wenn nicht besonders originell. Eine Frau, in deren Alltag Liebe, Zufriedenheit und Struktur herrschen, wird plötzlich von der Erfahrung der leichtsinnigen Lust überfahren. Diese bringt sie aus dem Gleichgewicht, erfüllt sie aber auch mit Neugier und Lebensdrang. So entscheidet Ana Magdalena ihr eigenes Schicksal zu gestalten – sei es für eine Nacht im Jahr. Bei ihren nächsten Inselfahrten wird sie jenen Fremden zwar nicht mehr finden können, dafür aber andere Liebhaber und dadurch auch einigermaßen sich selbst." ...
[...]
Sin embargo, la obra de Kafka también tiene un lado humorístico que es tan importante, es más, tan “kafkiano”, como su lado sombrío. Pero este aspecto, que no pocos expertos en Kafka han resaltado en repetidas ocasiones a lo largo de los años, se olvida una y otra vez. Esto probablemente responda a diferentes causas.
Una de ellas es que muchas personas, al parecer, están más informadas sobre ciertos aspectos de la vida de Kafka que respecto a su obra: sobre la mala relación con el padre, sobre sus fallidas relaciones amorosas, sobre la insatisfacción con su trabajo de empleado de seguros, sobre su muerte temprana por tuberculosis… También existe aquella interpretación según la cual Kafka predijo los crímenes de los nazis. Esta es una lectura que algunos críticos, como James Hawes en Excavating Kafka (2008), consideran sumamente problemática. O incluso está el hecho de que mucha gente, cuando piensa en Kafka, piensa automáticamente en el famoso retrato de 1923, que muestra al escritor en la última fase de su enfermedad: sombrío, con los ojos hundidos y las mejillas huesudas. Pero también existen fotos en las que Kafka aparece muy diferente, a saber: de buen humor. (Y por cierto, según cuenta Wagenbach, “en los años cincuenta, en el departamento de prensa de la editorial Fischer”, el retrato antes mencionado fue retocado a fin de realzar su lado “místico”).
Y, en fin, parece que en todo esto también tiene un papel importante cierta antigua desconfianza intelectual respecto al humor y a lo chistoso: la idea de que ambas cosas son lo contrario de la profundidad filosófica y emocional, y no, en realidad, dos de sus facetas.
Como escriben Astrid Dehe y Achim Engstler en Kafkas komische Seiten (“Las páginas cómicas de Kafka”) (2011), Kafka era un “hombre sin sosiego que fracasaba una y otra vez, casi forzosamente”, pero a la vez era una persona con mucho sentido del humor. En sus cartas y diarios leemos sobre ataques de risa en el trabajo y situaciones disparatadas durante sus viajes. Su amigo, albacea y editor Max Brod cuenta que al leer El proceso en voz alta, Kafka se reía tanto “que por momentos no podía seguir leyendo”. Y Kafka mismo escribió a su primera prometida, Felice Bauer: “También sé reír […], incluso soy conocido por ser un gran reidor”.
Dehe y Engstler plantean que en los textos de Kafka hay muchos elementos “pensados para producir un efecto cómico”. Y de hecho, quien los lea atentamente –o simplemente los lea– encontrará muchos pasajes humorísticos. Estos tal vez no sean divertidos en el sentido de un humor “alegre” o festivo. El humor de Kafka es penetrante y abarca, entre otras cosas, lo grotesco, lo satírico, lo malicioso y, también, claro está, lo absurdo.
Como una invitación para seguir leyendo, a continuación mencionamos algunos de los lados cómicos de Kafka. ...
[...]
La relevancia de Franz Kafka para la literatura latinoamericana es inmensa y variada. Su influencia comenzó ya durante su vida y continúa hasta el presente. “Kafka nos marcó a todos”, dijo alguna vez la escritora argentina Samanta Schweblin. Y así, a menudo se encuentran ecos kafkianos en diferentes obras de autoras y autores latinoamericanos.
Sin duda, cualquier examen del impacto de Kafka en Latinoaméricas –y en cualquier otro lugar del mundo– es inevitablemente incompleto. A continuación ofrecemos entonces, en cinco escenas, un acercamiento inicial a esta historia interminable.
1. La liberación de la imaginación
En 1947, Gabriel García Márquez (1927-2014) aún era un estudiante de Derecho obsesionado con la poesía. Entonces, por casualidad, se topó con un pequeño volumen: La metamorfosis de Franz Kafka. En el libro de conversaciones El olor de la guayaba –publicado en 1982, año en que el periodista y escritor colombiano recibió el Premio Nobel de Literatura–, García Márquez cuenta cómo una noche un compañero de cuarto le prestó el libro. “Aún recuerdo la primera línea de memoria: ʻAl despertar Gregorio Samsa una mañana, tras un sueño intranquilo, encontrose en su cama convertido en un monstruoso insectoʼ”. El futuro escritor pensó: “Carajo, de modo que esto se puede hacer.” Kafka, según él, “contaba las cosas de la misma manera que mi abuela”. Con ello, García Márquez se refería a contar una historia en la que ocurren eventos sobrenaturales sin, por así decirlo, sonrojarse, como si estos eventos fueran completamente normales, cotidianos. Precisamente de este modo, en su infancia su abuela le había hablado de las cosas más extrañas.
Como cuenta García Márquez en su autobiografía Vivir para contarla, comprendió que solo “bastaba con que el autor lo hubiera escrito para que fuera verdad, sin más pruebas que el poder de su talento y la autoridad de su voz”. En este principio se basa en gran medida el llamado “realismo mágico”, que luego desarrolló en sus famosas novelas Cien años de soledad o El amor en los tiempos del cólera.
Kafka “definió un camino nuevo” para su vida. Un día después de su encuentro con La metamorfosis, García Márquez comenzó a escribir su primer cuento, “La tercera resignación”, sobre un hombre que enfermó de fiebre tifoidea cuando era niño, por lo que su madre lo metió vivo en un gran ataúd para que pudiera crecer allí. La historia fue publicada en un periódico importante y poco después el estudiante de Derecho abandonó la universidad y se dedicó a la literatura hasta el fin de sus días.
2. Una cucaracha sueña
En alemán, Kafka describe al “monstruoso insecto” en que se ha convertido Gregor Samsa como un “Käfer”, es decir un “escarabajo” o un “Maikäfer, un “escarabajo pelotero”. Sin embargo, en los países de habla hispana, cuando se discute el destino del protagonista de La metamorfosis, se suele utilizar la palabra “cucaracha”. Cualquiera que sea el motivo de esta nueva metamorfosis, en este caso lingüística, no se trata de falta de amor o de respeto frente a Kafka. Todo lo contrario.
Un buen ejemplo de esto lo ofrece Augusto Monterroso (1921-2003). Este autor guatemalteco, que se definía a sí mismo como gran admirador de Kafka, solía escribir textos irónicos breves o brevísimos (algunos de ellos compuestos sólo por una frase muy finamente tejida), muchas veces con animales como protagonistas y que se leen a modo de fábulas.
“La verdad es que Kafka me ha acompañado desde hace mucho tiempo“, leemos en los fragmentos del diario de Monterroso La letra e. Por eso es frecuente encontrar en su obra pequeños homenajes a Kafka. El más famoso se llama “La cucaracha soñadora” (1969): “Érase una vez una Cucaracha llamada Gregorio Samsa que soñaba que era una Cucaracha llamada Franz Kafka que soñaba que era un escritor que escribía acerca de un empleado llamado Gregorio Samsa que soñaba que era una cucaracha”.
[...]
Mit dieser Stellenanzeige beginnt die Geschichte von Estela García, die die chilenische Schriftstellerin und Anwältin Alia Trabucco Zerán in ihrem Roman „Mein Name ist Estela“ erzählt. Arm und arbeitslos verlässt Estela ihre Heimat und ihre Mutter im Süden Chiles und zieht in die Hauptstadt Santiago, um dort als Haushälterin eines reichen Paares und als „Nana“ – also als Ersatzmutter – deren Tochter Julia zu arbeiten. Sieben Jahre lang lebt Estela bei dieser Familie. Jahr für Jahr putzt, kocht, kauft sie für sie ein. Sie bekommt Einblick in ihre Intimität. Sie macht es möglich, dass ihre ehrgeizigen Arbeitgeber, ein Arzt und eine Anwältin, sozusagen immer funktionsfähig sind und sie zieht ihr Kind, ein von Ängsten geplagtes Mädchen, groß. Das fremde Haus, in dem Estela in einem Kämmerchen hinter der Küche wie ein Schatten wohnt, verlässt sie kaum.
Allerdings fängt der Roman selbst an einem ganz anderen Zeitpunkt an, nämlich am Ende: In der ersten Szene des Buches sitzt Estela in einer Art Verhörraum und verspricht denjenigen Leuten, die sich angeblich hinter einer Glasscheibe befinden – die aber bis zuletzt kein einziges Zeichen von sich geben –, zu erzählen, wie es zu der Tragödie kam, die zu Estelas gegenwärtiger Situation führte. Denn das Mädchen, auf das die Haushälterin aufpassen musste, ist tot.
Ein so thrillerhafter Auftakt könnte manche Leser hinsichtlich des Charakters des Romans zunächst täuschen. Zwar erfahren wir zum Schluss wie das Kind gestorben ist. Und wir glauben auch zu verstehen, warum es sterben musste. Aber das, was „Mein Name ist Estela“ zu einem intelligenten und erschütternden Roman macht, ist nicht, dass darin ein Kriminalfall gelöst wird (und im Übrigen ist es nicht klar, ob der Tod des Mädchens endgültig aufgeklärt wird), sondern die Schärfe, mit der Estela die Geheimnisse, die kleinen, alltäglichen Grausamkeiten, das bedrückende Leben der Familie offenlegt – und gleichzeitig an allererster Stelle ihre eigenen dunklen Seiten."
[...]
https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/belletristik/ueber-alia-trabucco-zeran-und-mein-name-ist-estella-19571230.html
Diese Zeilen stammen aus dem Roman „Torero, ich hab Angst“ des chilenischen Autors Pedro Lemebel, der gerade auf Deutsch bei Suhrkamp erschienen ist. Was Lemebel dort beschreibt, ist die bedrohliche Nacht, die auf einen Anschlag folgte, den die linke Stadtguerilla „Frente Patriótico Manuel Rodríguez“ am 7. September 1986 auf die Wagenkolonne des ehemaligen chilenischen Diktators Augusto Pinochet verübte. Das Attentat endete mit fünf toten Leibwächtern des Diktators. Pinochet selbst blieb unverletzt. Der Mordversuch löste eine blutige Repressionswelle aus. Und die Militärdiktatur – die vor genau fünfzig Jahren, im September 1973, mit einem Putsch gegen den demokratisch gewählten Präsidenten Salvador Allende begann und als Folge derer mehr als tausend Personen verschwunden sind, zweimal so viele ermordet wurden und weitere 30.000 unter Verfolgung und Folter litten – dauerte noch weitere vier Jahre.
Vor dem historischen Hintergrund der angespannten Monate vor dem Attentat und überhaupt des angespannten Alltags unter der Diktatur entschied Pedro Lemebel – der nicht nur Schriftsteller, sondern auch einer der einflussreichsten homosexuellen Performancekünstler Lateinamerikas war –, in „Torero, ich hab Angst“ ausgerechnet eine Liebesgeschichte zu erzählen.
Das Buch, das ursprünglich 2001 auf Spanisch veröffentlicht wurde, gilt als einer der originellsten Romane über Pinochets Diktatur. Im Mittelpunkt der Geschichte steht die „Loca del Frente“, die „Tunte von Gegenüber“ – oder wie es in der deutschen Übersetzung auch heißt, die „Tunte der Front“ –, ein alternder schwuler Mann, der in einer kitschig und liebevoll eingerichteten Wohnung in einem Armenviertel Santiagos lebt. Seinen echten Namen lernen wir nie kennen; bezeichnet wird er stets nur als „die Tunte“. Und von seiner traumatischen Kindheit und seiner Vergangenheit als Prostituierter erfahren wir nur durch flüchtige, schmerzhafte Andeutungen.
Eines Tages trifft „die Tunte“ auf einen jungen Mann namens Carlos, der behauptet, er würde Architektur studieren und fragt, ob er in ihrer Wohnung einige Kisten mit Büchern verstauen könnte. Die Protagonistin willigt ein. Sie ist nämlich vom Studenten fasziniert: „Carlos war so gut, so sanft, so liebenswürdig“, denkt sie. „Und sie war so verliebt, so gefesselt, so verträumt, wenn sie ganze Nächte mit ihm verplauderte“. Denn an manchen Abenden bringt Carlos bei seinen Besuchen andere Freunde mit. Eingeschlossen in einem Zimmer, das „die Tunte“ nicht betreten darf, diskutieren sie stundenlang über irgendwelche Dinge, die laut Carlos – der der Hausherrin oft bei Tee und Zigaretten Gesellschaft leistet – bloß mit ihrem Studium zu tun haben.
Carlos' mysteriöse Kisten werden immer zahlreicher. In ihnen – das wird den Lesern schnell klar – sind bestimmt keine Bücher, sondern womöglich Waffen. Und womöglich gehören Carlos und seine Freunde zur „Front“, die den Anschlag gegen Pinochet vorbereitet. Natürlich vermutet dies auch die „Tunte“. Doch sie sagt, fragt nichts: „Nein, das würde Carlos niemals tun, er würde sie nicht belügen“, schreibt Lemebel. „Und wenn doch, dann wollte sie es lieber nicht wissen, wollte lieber die Dumme spielen, die dümmste aller Tunten, die bescheuertste“.
Pedro Lemebel wurde 1952 in Santiago de Chile als Sohn eines Bäckers geboren und starb ebendort im Jahr 2015. Seine ersten Jahre waren von Mangel geprägt. Im Laufe seines Lebens wurde er aufgrund der Intensität, Originalität und scharfsinnigen Unverschämtheit seiner Arbeit als linker, queerer Performer und Aktivist prominent.
Bereits zu Zeiten der Diktatur wurde Lemebel in Chile bekannt, als er 1987 mit dem Dichter und Künstler Francisco Casas das Duo „Las Yeguas del Apocalipsis“ – „Die Stuten der Apokalypse“ – gründete. Das künstlerische Kollektiv zeichnete sich dadurch aus, dass es kulturelle Veranstaltungen mit klugen und provokanten, wütenden und nicht selten witzigen Performances sabotierte. Lemebel verstand sich immer als Kommunist. Doch auch die chilenische kommunistische Partei, traditionell schwulenfeindlich, wurde von den „Yeguas“ angeprangert.
In den Jahren nach der Diktatur arbeitete Lemebel vermehrt als Autor, zunächst von kurzen Reportagen, sogenannten „crónicas“. Diese widmeten sich dem Leben marginaler Personen, oder wie Lemebel es sarkastisch formulierte, jener „überflüssiger Menschen, die dem siegreichen Chile des Wunders das heuchlerische Grinsen aus dem Gesicht wischen“. Damit meinte er das Chile des radikalen Neoliberalismus, dem Pinochet die Türen des Landes weit öffnete, und der zu einer bis heute enormen sozialen Ungleichheit im Land führte.
Mit „Torero, ich hab Angst“ – seinem einzigen Roman, der mit den Jahren zu einem Klassiker der queeren Literatur geworden ist – etablierte sich Lemebel als bedeutender Schriftsteller. 2013 erhielt er den Premio José Donoso, den wichtigsten Literaturpreis Chiles. Jahre davor hatte ihn der berühmte chilenische Schriftsteller Roberto Bolaño „den größten Dichter meiner Generation“ gennant – „auch wenn er keine Gedichte schreibt“.
Und tatsächlich ist „Torero, ich hab Angst“ ein einzigartiger Roman. Das Buch – das Matthias Strobel ausgezeichnet in Deutsche übersetzt hat – ist in gewisser Hinsicht wie seine Protagonistin: melodramatisch, theatralisch, extravagant. Es spielt mit allen Registern. Und es ist auch manchmal vulgär, etwa wenn Lemebel mit sehr direkten Worten die sexuellen Fantasien der „Tunte“ oder ihren Besuch eines Pornofilms beschreibt. Diese Kinoszene, die parallel zum Anschlag auf Pinochet verläuft, baut Lemebel als spannende Montage von schwuler Sexliteratur, Politthriller und einer Art Bewusstseinsstrom – aus Pinochets Perspektive – meisterhaft auf. Denn neben der Geschichte der „Tunte“, nähert sich Lemebel im Roman nämlich auch dem Privatleben des Diktators an, indem er versucht, sich Pinochets Gedanken und die Monologe seiner Ehefrau vorzustellen. Das wirkt an manchen Stellen etwas gewollt, bleibt trotzdem als literarische Strategie spannend – und ist auch wunderbar bösartig.
[...]
Humboldt-Magazin vom Goethe-Institut Oktober 2023 // Der Mensch als Mittelpunkt und Lenker aller Dinge: Biologe und Philosoph Andreas Weber meint, dass sich dieses Weltbild längst überholt habe – und dass wir uns von indigenen Kulturen einiges abschauen können.
https://www.goethe.de/prj/hum/de/dos/ctr/25125208.html
Im Roman, der 1987 auf Spanisch veröffentlicht wurde, über lange Jahre in Vergessenheit geriet, heute als einer der wichtigsten lateinamerikanischen Romane des 20. Jahrhunderts gilt und nun zum ersten Mal auf Deutsch erschienen ist, geht es um viel mehr als nur um jene Eliteschule. Doch es ist in diesen Zeilen bereits einiges dessen angedeutet, was die Geschichten, die im Buch vorkommen, zu einer einzigen, ungeheuren Tragödie werden lässt.
Im Fokus stehen die Schicksale Doras, Catalinas und Beatriz', dreier junger Frauen aus der „besseren Gesellschaft“ Barranquillas, einer Hafenstadt im Norden Kolumbiens. Die Schilderung ihrer Lebenswege basiert auf den Erinnerungen von Lina, einer Frau, die als Mädchen mit den drei Protagonistinnen befreundet war, und die nach den Begebenheiten des Romans, die in den fünfziger Jahren stattfinden, Kolumbien für immer verlassen hat und jetzt in Paris lebt. Im Vordergrund des Romans steht der Kampf seiner drei Freundinnen gegen ihren Untergang im Rahmen von respektablen Ehen. Die Männer, die sie aus religiöser Pflicht, sozialem Druck oder sogar Liebe geheiratet haben, heißen Benito, Álvaro und Javier. Jeder von ihnen verkörpert den Prototypen des eitlen, launischen und herrschsüchtigen Mannes, den ihr Milieu ihnen als einziges Vorbild bietet.
[...]
https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/belletristik/marvel-morenos-roman-im-dezember-der-wind-19031976.html
Nach tagelangen Demonstrationen kam es zu einer Einigung mit der damaligen Regierung, die sich zum Schutz der Gegend verpflichtete. Francia Márquez wurde mit dem kolumbianischen Nationalpreis für Menschenrechte und mit dem Goldman Environmental Prize geehrt.
Wie hat Ihr Einsatz für die Umwelt und Ihre Kultur begonnen?
Ich kann nicht über mich selbst sprechen, ohne über die Gemeinschaft und das Territorium zu sprechen, in denen ich aufgewachsen bin. Meine Mutter war Bäuerin, Hebamme und Goldwäscherin. Als Hebamme lernte sie, dass man bei der Geburt eines Kindes einen Teil der Plazenta in der Erde vergräbt. Bei uns sagt man, so würde eine Verbindung zwischen uns und der Erde entstehen. Mein Vater war auch Bauer. Wir lebten im Haus der Familie meiner Mutter, zusammen mit meinen Großeltern, Onkeln und Cousins. Meine Großmutter brachte mir bei, Kaffee und Maniok anzubauen und in einem Fluss namens Ovejas nach Gold zu suchen. In diesem Fluss lernte ich auch fischen und schwimmen. Als ich dreizehn Jahre alt war, verkündete die Regierung, unser Fluss würde umgeleitet werden. Ich hatte das Gefühl, dass uns ein Stück unseres Herzens genommen werden sollte. Die älteren Frauen meiner Gemeinde sagen, der Fluss sei Vater und Mutter. Und die Mutter und den Vater tötet man doch nicht, oder? Man kümmert sich um sie. Als Kind hatte ich den Traum, Schauspielerin oder Sängerin zu werden. Ich hatte keine Möglichkeit, eine Kunstschule zu besuchen, aber ich trat dem Kulturhaus meiner Gemeinde bei und nahm an Tanz- und Theaterprojekten teil. Als der Plan zur Umleitung des Flusses angekündigt wurde, begannen alle Menschen der Community, dagegen zu protestieren. Wir jungen Leute dachten uns Theaterstücke aus, um zu erklären, warum der Lauf des Flusses nicht verändert werden sollte. Ich lernte eine Organisation namens Proceso de Comunidades Negras kennen, die uns darin unterstützte, uns gegen das Projekt zu mobilisieren. So fing meine Arbeit als Aktivistin an.
[...]
https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/kolumbiens-vizepraesidentin-francia-marquez-im-interview-18818756.html
In ihrem erstem Roman „Sengender Wind“ kreuzen sich die Wege eines hartnäckigen evangelikalen Wanderpredigers, der mit seiner Teenager-Tochter durch das Hinterland Argentiniens unterwegs ist, und eines verschlossenen und ebenso sturen Mechanikers, der dort, mitten im kochenden Nichts, mit seinem jungendlichen Gehilfen lebt. Durch prägnante Dialoge und Beschreibungen schildert Almada die Dürftigkeit des Lebens der Protagonisten und überhaupt der Landschaft, in der sie aufeinandertreffen. Womöglich wirkt die Welt des Romans, der 2016 auf Deutsch erschienen ist, für die meisten Leser befremdlich. Trotzdem ist die Begegnung beider Männer, ihr leiser doch unerbittlicher Kampf um eine reine Seele, sehr ergreifend.
„Ladrilleros“, Almadas zweiter Roman, handelt auch von einem Duell: Zwei junge Männer, die aus einfachen Zieglerfamilien stammen, scheinen dazu verdammt, die lebenslange Feindseligkeit zwischen ihren Vätern fortzuführen. Das Buch ist ein zeitgenössisches Trauerspiel, manchmal erinnert es – auch wenn es im kargen Norden Argentiniens spielt und die Frauen anscheinend nur Nebenrollen haben – an Shakespeares „Romeo und Julia“. Almada springt hin und her zwischen der Zeit vor der Geburt der Protagonisten, ihrer Kindheit und ihrem erbärmlichen Ende. So liest sich die Erzählung wie ein Thriller. Dabei zeigt die Autorin feinfühlig wie vernichtend jene Räume sind, in denen es für Männer zunächst eine Pflicht gibt: „echte Männer“ zu sein.
Jetzt ist Selva Almadas jüngster Roman „Kein Fluss“ ins Deutsche übersetzt worden. Das Buch, so die Autorin, schließt die „Trilogie der Männer“ ab, deren ersten Teile die oben erwähnten Romane sind. Diesmal erzählt Almada allerdings nicht von Feinden: Enero Rey und El Negro, zwei befreundete Mittfünfziger, nehmen den Teenager Tilo mit zum Fischen. Der Junge ist der Sohn eines alten gemeinsamen Freundes. Das Ausflugsziel, das beide Männer sich ausgesucht haben, ist eine Insel, die im selben Fluss liegt, in dem Tilos Vater vor fünfzehn Jahren ertrunken ist.
[...]
https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/autoren/selva-almada-und-ihr-eindringlicher-roman-kein-fluss-18772970.html
Die Euphorie der Berichterstattung und ihr religiöser Tonfall dürften für viele derjenigen, die Cave und seine Band live erlebt haben, nachvollziehbar sein. Nick Cave, der dieses Jahr seinen 65. Geburtstag feierte, ist ein furioser und charismatischer Performer. Sobald er vor dem Publikum auftaucht, in dunklem Anzug und mit den zurückgekämmten rabenschwarzen Haaren, die sein Markenzeichen sind, gibt er sich jedem seiner Lieder leidenschaftlich hin – egal, ob es um alte Hits geht, wie „Red Right Hand“ und „Are You The One That I’ve Been Waiting For?“ oder die neuere, frenetische Gospel-Hymne „Get Ready For Love“.
Dabei singt Cave Songs über sexuelle Hörigkeit, Mordfälle und immer wieder Liebe, in denen sich Obszönitäten, Bibelverse und Referenzen auf obskure und prominente Dichter mischen. Auf einmal schaut er nach oben, streckt seine Arme aus, irgendwie gequält, und ruft lauthals mit seiner imposanten Bariton-Stimme: „Oh Lord, oh my Lord!“.
Seine Kommunikation mit dem Publikum ist äußerst dramatisch: mal um sich hauend, mal intim. Während seines Auftrittes in Berlin im Sommer stand Cave die meiste Zeit am vorderen Rand der Bühne oder auf einem Steg zwischen den Zuschauern. Von dort aus griff er nach ihren Händen und sang – oder eher: schrie – seine Texte in ihre Gesichter. Plötzlich bückte er sich zu einer jungen Frau, die auf den Schultern eines Mannes saß und aufgelöst weinte. Cave gab ein Zeichen und die Musik wurde leiser. Er legte seine Hand auf den Kopf der Frau, nahm dann ihre Hände in seine – ohne Ironie – und sang sachte, nur für sie. Kurz danach explodierte die Musik erneut und Cave brüllte wieder in den Himmel seine Lieder über Lust und Liebe, Totschlag und die Barmherzigkeit Gottes.
[...]
https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/pop/nick-cave-und-die-erloesung-18553341.html
Darüber hinaus scheint Petros Sieg auch eine Entwicklung zu bestätigen, die seit einiger Zeit jenseits der kolumbianischen Grenzen stattfindet, nämlich eine Wendung nach links in der Politik mehrerer lateinamerikanischer Länder. In den letzten vier Jahren haben sich in Präsidentschaftswahlen in Mexiko, Argentinien, Peru und Chile linke Kandidaten durchgesetzt. Kolumbien reiht sich nun in diese Gruppe ein. Und im Oktober könnte in Brasilien der ehemalige Gewerkschaftler Luiz Inácio da Silva, genannt Lula – der bereits zwischen 2003 und 2011 Präsident war –, die Wahlen gegen Jair Bolsonaro gewinnen, den aktuellen Präsidenten. Bolsonaro ist wegen seiner frauenfeindlichen, rassistischen und antidemokratischen Äußerungen, sowie wegen seiner Gleichgültigkeit gegenüber der Abholzung des Amazonas-Regenwaldes in der ganzen Welt berühmt-berüchtigt.
Sollte sich Lula durchsetzen – wofür nach verschiedenen Umfragen die Chancen gut stehen – hätten die sechs größten und wirtschaftlich stärksten Ländern Lateinamerikas Staatschefs mit einer linksgerichteten Agenda. Angesichts dieser Entwicklung sprechen verschiedene internationale Medien bereits vom „roten Kontinent“, von einer „neuen Linken“ und von einer „progressiven Welle“ in Lateinamerika.
[...]
https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/wie-links-sind-die-linken-regierungen-lateinamerikas-18222499.html
Ist man heutzutage früh am Sonntag in Bogotá unterwegs, stößt man in der Nähe religiöser Stätten auf eine ähnlich aufgeregte Stimmung wie damals: auf die Staus und die voll geparkten Straßen in der Umgebung der Gotteshäuser; auf die Bürgersteige davor, die von vielen Bedürftigen in Beschlag genommen werden; auf die Gruppen von Leuten, die aus allen Richtungen zielstrebig zur Predigt eilen.
Doch man wird auch schnell einen Unterschied zu damals bemerken – einen, der, angesichts der Tatsache, dass Bogotá die Hauptstadt eines Landes ist, das sich jahrhundertelang damit brüstete, eines der katholischsten Länder weltweit zu sein, auf eine verblüffende Entwicklung hinweist: Die Orte, in denen sich heute christliche Gläubige in Bogotá – aber eigentlich auch in vielen anderen Städten anderer Länder Lateinamerikas – versammeln, sind längst nicht mehr hauptsächlich katholische Kirchen.
[...]
https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/evangelikale-kirchen-gewinnen-immer-mehr-macht-in-suedamerika-18312747.html
Der Realismus reicht nicht mehr aus, um die Wahrheit über die Schrecken unserer Gesellschaften auszusprechen. Der Horror hilft, davon zu erzählen.“ Was die argentinische Schriftstellerin Mariana Enríquez da sagt, im Gespräch zu Besuch in Berlin, bringt es auf den Punkt. Und es klingt zugleich wie ein programmatischer Kampfruf zu einem aufregenden Experiment, das Autorinnen aus verschiedenen Ländern Lateinamerikas im Moment durchführen: die Wiedererfindung der Horrorliteratur.
Zunächst war das nur eine kuriose Randerscheinung, inzwischen ist es ein Phänomen, das unterschiedliche Namen bekommen hat: „lateinamerikanischer Gothic“, „anomaler Realismus“ , „feministischer Horror“. Aber wie man es auch nennen mag, diese Begriffe verbinden jedenfalls die Werke gleich mehrerer Schriftstellerinnen, die Kennzeichen des Horrorgenres verwenden, neu interpretieren, neu besetzen, um damit die dunklen Seiten Lateinamerikas genauso fesselnd wie verstörend ins Licht zu holen. [...]
Ungefähr 5000 Völker werden heute als „indigen“ bezeichnet, das sind, nach Schätzungen der Vereinten Nationen, rund 370 Millionen Menschen in über 70 Ländern. Insofern ist schon die Kategorisierung all der verschiedenen Denkansätze nicht unproblematisch. Dass man aber durchaus gewisse Leitgedanken erkennen kann, zeigen drei kürzlich auf Deutsch neu erschienene Bücher: Ailton Krenaks „Ideen, um das Ende der Welt zu vertagen“ (btb Verlag), Robin Wall Kimmerers „Geflochtenes Süßgras: Die Weisheit der Pflanzen“ (Aufbau) und Tyson Yunkaportas „Sand Talk: Das Wissen der Aborigines und die Krisen der Moderne“ (Matthes & Seitz). Bei allen drei Autoren und Autorinnen ist die Vorstellung von Natur als komplexes lebendiges Geflecht aller Wesen, Dinge und Phänomene zentral, ein Vorstellung, die jedoch im Kontext der aktuellen Krise, bemerkenswert modern erscheint.
[...]
„Die offenen Adern“ erschien 1971, also inmitten des Kalten Krieges, und basiert auf mehreren Jahren von intensiver Lektüre und Reisen durch Lateinamerika. Darin wollte Galeano eine Geschichte des Kontinents vorlegen, von der sogenannten „Entdeckung Amerikas“ durch die Europäer im Jahr 1492 bis in die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Aber „Die offenen Adern“ ist kein traditionelles Geschichtsbuch, vor allem keine derjenigen Chroniken, durch die viele Lateinamerikaner ihre Vergangenheit immer noch kennenlernen – in Galeanos Worten: als „Aufzählung von Helden in Karnevalskostümen“. Das Buch ist vielmehr der Versuch zu zeigen, inwiefern seit dem 15. Jahrhundert in Lateinamerika alles, und Galeano betont, „alles: die Schätze der Natur und die Fähigkeiten der Bevölkerung“, sich „zuerst in europäisches, nachher in nordamerikanisches Kapital verwandelt“ habe – inwiefern also die lateinamerikanische Geschichte eine „Geschichte der Ausplünderung“ sei.
[...]
-
Es ist beunruhigend und manchmal schmerzhaft, festzustellen, dass Menschen, die wir schätzen und sogar lieben, die Welt anders sehen als wir selbst. Oder als wir guten Gewissens denken, dass sie die Welt sehen sollten.
Es begann damit, dass ich mit meiner Mutter, die in Kolumbien lebt, aus meinem Berliner Lockdown telefonierte. Wie bei den meisten unserer Gespräche erzählte sie mir verschiedene Familienneuigkeiten – die ich meistens nur mit gemäßigtem Interesse verfolge.
Diesmal aber erzählte sie auch von einem Telefonat mit ihrer Schwester, die gerade am Rande von New York bei ihrer Tochter, meiner Cousine Marcela, wohnt, um ihr mit dem Haushalt und den Kindern zu helfen. Meine Verwandten sind auf der ganzen Welt verstreut, und diejenigen, die vor langer Zeit in die Vereinigten Staaten auswanderten, machen fast die Hälfte unserer Großfamilie aus. Marcela war vor fünfzehn Jahren nach New York gegangen, nachdem sie in Kolumbien keine Arbeit als Psychologin finden konnte. Sie blieb als sogenannte „Illegale“, machte allerhand Jobs: Über ihre Erfahrung als Hilfskraft in Ivanka Trumps ehemaligem Schmuckladen in Manhattan habe ich in diesem Feuilleton schon vor einigen Jahren geschrieben. Marcela heiratete einen amerikanischen Bürger kolumbianischer Herkunft. Heute ist sie Managerin einer Restaurantkette.
Jedenfalls erzählte meine Mutter mir, als wir also neulich telefonierten, dass Marcelas Mutter wiederum kurz zuvor mit ihrem ältesten Sohn Juan in Bogotá telefoniert habe. Und bei diesem Gespräch hätte sie also Juan erzählt, wie froh Marcela und deren Mann darüber sind, dass Joe Biden zum neuen Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt worden sei. Da habe Juan, so meine Tante, so meine Mutter, sofort angefangen, „wie ein Hysteriker“ zu brüllen: Wie konnte seine Schwester nur diesen gottlosen Mann wählen, diesen „Feind der Familie“?
Damit meinte Juan nicht unsere eigene Familie, sondern, wie man so sagt, die Familie als „heilige Institution“. Juan ist vor etwa einem Jahrzehnt, nach einem ereignis- und alkoholreichen Leben als Partylöwe und Frauenheld, zu einem radikalen evangelikalen Christen geworden. Er ist bei uns zwar noch für seinen alten Humor und seine Wärme bekannt, wird aber inzwischen auch gefürchtet. Ab und zu lässt er subtil frauenfeindliche oder offen reaktionäre Sprüche raus. Und er hat auch schon oft Geburtstagsfeiern oder Weihnachtsessen verlassen, weil jemand eine Flasche Sekt aufmachen wollte. Meine Tante jedenfalls, so meine Mutter, sei schockiert gewesen: Sie hätte nicht gedacht, dass ihr Sohn derart teuflisch toben kann – und das auch noch bei einem Thema wie den Wahlen in den Vereinigten Staaten, das ihn, würde man denken, wenig angeht.
[...]
Darauf stehen etwa Mark Twains „Abenteuer des Huckleberry Finn“ und F. Scott Fitzgeralds „Der große Gatsby“, Thomas Pynchons „Die Enden der Parabel“ und Toni Morrisons „Menschenkind“. Jetzt, bezieht man sich auf DeForests weitere Beschreibungen der „Great American Novel“ als „Tableau der US-Gesellschaft“ und aufrüttelndes Sinnbild der Emotionen, die das Land gestalten, möchte man ankündigen: die Liste großer US-Romane ist mit Ayad Akhtars Roman „Homeland Elegien“ gerade um einen Titel reicher geworden.
In „Homeland Elegien“ erzählt ein Dramatiker aus New York namens Ayad Akhtar, Sohn eines aus Pakistan eingewanderten Ärztepaares, von seinem bemerkenswerten Werdegang. Etwa von dem Spagat zwischen der fast kindlichen Begeisterung seines Vaters für den „American Way of Life“ (der nach Akhtar in hohem Maße darauf basiert, dass jeder auf sich allein gestellt ist, Schulden gemacht werden, um Schulden zu bezahlen – und man dabei schwört, man würde in einer strahlenden „Stadt auf dem Hügel“ leben) und der Verachtung seiner Mutter all dem gegenüber. Oder davon, wie er durch Finanzspekulation ein Vermögen aufbaute und wieder verlor. Auch davon, wie er nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 ein Theaterstück über Islamophobie und die Identitätskonflikte US-amerikanischer Muslime schrieb und dadurch bekannt wurde. Und auch davon, wie er in den Vereinigten Staaten, „meinem Heimatland Amerika“, sich nie Zuhause gefühlt hat – ein Gefühl wiederum, das ihm, als er es endlich annahm, den Weg zum Erfolg als Autor ebnete.
Diese Eckdaten aus dem Leben des Protagonisten Akhtar sind echt: sie gehören also zur Biographie des Schriftstellers Akhtar. Wie dieser selbst aber erklärt hat, ist sonst vieles dessen, was sein Erzähler uns auf nonchalante, fesselnde und oft humorvolle Weise über sein Leben anvertraut, ausgedacht. Doch was genau? Gerade die Tatsache, dass wir es nicht wissen, gehört zur Anziehungskraft des Romans: Unser Leben, scheint er – auf sehr US-amerikanische Weise – zeigen zu wollen, ist hauptsächlich das, was wir anderen und uns selbst erzählen. Und sowieso spürt man im Laufe der Geschichte, dass die Frage nach dem Realen und dem Fiktiven hier irrelevant ist. Es gibt in „Homeland Elegien“ nämlich keine Seite, die sich nicht authentisch anfühlt, keine Anekdote oder Überlegung, die nicht einen gewissen Aspekt der aufbrausenden Realität der Vereinigten Staaten beleuchtet.
Da ist zum Beispiel Akhtars Bericht über die wahnsinnige Sympathie, die sein Vater für Donald Trump hat. Der pakistanische Kardiologe soll in den achtziger Jahren den Immobilienunternehmer einmal behandelt haben – und seitdem fasziniert vom künftigen US-Präsidenten sein. Wenige Tage von einer neuen, gefürchteten Präsidentschaftswahl tut es weh, zu lesen, wie Akhtars Vater Trumps Lügen und Gemeinheiten, auch gegen Muslime, rechtfertigt („Er ist ein Showman... Er meint es nicht so“) oder verharmlost („Ich bete nicht, ich faste nicht, ich bin eigentlich gar kein Muslim, und für dich gilt dasselbe. Er meint uns nicht. Und außerdem war ich sein Arzt, also brauchen wir uns keine Sorgen zu machen“). Denn es ist klar: diese Faszination teilen Millionen von Menschen – und sie ist, wie Trump selbst, das Symptom tieferer Übel. Der Roman erforscht sie so unterhaltsam wie scharfsinnig.
Ebenso liest sich die Geschichte des Hedgefonds-Gründers Riaz Rind, der Akhtar zum Millionären macht, wie eine Parabel über die paradoxen Werte der US-Gesellschaft. Rind – in dem die „New York Times“ einen modernen Jay Gatsby sieht – ist der Sohn einer muslimischen Familie aus einer verarmten Arbeiterstadt in Pennsylvania. Dank seines Finanztalents wurde er stinkreich und machte es sich zur Aufgabe, das Leben von US-Muslimen zu verbessern. Mit denselben Waffen, mit denen seiner Ansicht nach der Westen die sogenannte „muslimische Welt“ knechtet – faulen Kapitalanlage und Krediten –, rächt er sich an einer Reihe von US-Städten für die Diskriminierung, die er dort erlebt hat.
Und auch Akhtars Geständnis, er hätte nach dem 11. September vor lauter Angst, auf der Straße angegriffen zu werden, monatelang ein Kreuz um den Hals sichtbar getragen, oder die Stellen, an denen er manchen seiner schikanierenden Landsleute nervös erklären muss, sein Name käme zwar aus Ägypten, er selbst aber aus New York – auch sie, egal ob Fiktion oder nicht, sind prägnante Pinselstriche in dem Gemälde der heutigen, real existierenden Vereinigten Staaten. Und sie stellen immer wieder die Frage, die durch „Homeland Elegien“ – und überhaupt Akhtars Werk – durchfließt: Wie kommt man mit dem Land klar, in dem man geboren wurde, dessen Sprache die eigene ist, auf das man stolz sein soll – und das einem ständig signalisiert, man solle dorthin abhauen, wo man (angeblich) herkam?
Ayad Akhtar, 1970 in New York geboren, hat bisher vier Theaterstücke, mehrere Drehbücher und zwei Romane geschrieben. 2016 war er der meistgespielte Dramatiker der Vereinigten Staaten. Für „Disgraced“, sein erstes Stück vom Jahr 2012, bekam er den begehrten Pulitzer-Preis für Theater. Das Bühnenstück erzählt von einem Essen, bei dem vier New Yorker – ein nicht praktizierender muslimischer Anwalt pakistanischer Herkunft namens Amir, seine Frau, eine weiße Künstlerin, eine afroamerikanische Anwältin und ein jüdischer Kunsthändler – sich über Religion unterhalten. Als Amir irgendwann beichtet, er hätte am 11. September einen „Hauch von Stolz“ verspürt, eskaliert die Diskussion. Seine heikle Aussage wird dramatische Folgen haben. Spätere Stücke thematisieren die Rolle von Schulden als Grundlage der US-amerikanischen, ja der globalen Wirtschaft, oder die Spannung zwischen kapitalistischer Gier und islamistischem Fanatismus. Sein erster Roman „Himmelssucher“, erschienen 2012, erzählt von einem pakistanisch-amerikanischen Jungen und seinen religiösen und familiären Konflikten.
Die Frage danach, wie man sich zum Land verhält, das das eigene ist und einen gleichzeitig als Fremden sieht, verbirgt eine andere, fundamentale Fragestellung Akhtars: Was heißt eigentlich „wir“? Sie ist in „Disgraced“ besonders beklemmend. Als seine entsetzte Frau Amir fragt, worauf er denn am 11. September stolz war – „auf die Türme, die gefallen sind? Auf die Menschen, die getötet wurden?“ –, sagt er:„Darauf, dass wir endlich gewonnen haben“. „Wir?“, fragt sie. „Ich glaube“, antwortet Amir beschämt, „ich habe vergessen welches 'wir' ich war“. Jetzt hallt in „Homeland Elegien“ das Unbehagen wieder. „Ich war“, erzählt Akhtar, „nachdem ich über vierzig Jahre in Amerika gelebt hatte, noch immer bereit, mich als 'anders' zu betrachten“. Später entscheidet er, damit aufzuhören, „so zu tun, als fühlte ich mich als Amerikaner“.
„Homeland Elegien“, ist, wie jeder großartiger Roman, vieles gleichzeitig: Eine intelligente und kurzweilige Coming-of-Age-Geschichte von einem, der langsam versteht, wie er selbst, aber auch sein Land, ticken – auch im Bezug auf das Sexuelle, wovon Akhtar unverblümt und mit einem genialen Sinn fürs Komische erzählt; die spannende literarische Veranschaulichung von „Trumps Triumph“ als „Schleifung aller Bollwerke gegen jenes Streben nach gottgefälligem Reichtum, das offenbar die einzige verbliebene amerikanische Leidenschaft ist“; eine beinahe essayistische Auseinandersetzung mit Themen wie den falschen Versprechen der US-Ökonomie, Edward W. Saids Orientalismus, Freuds Traumdeutung oder dem Ende des Goldenen Zeitalters des Islams; ein Klagegedicht – wie schon der Titel des Romans es offenbart – über den Tod eines Traumes, der auch Akhtars war: von der Einzig- und Großartigkeit der Vereinigten Staaten.
Vor allem ist der Roman – wie es ja jede „Great American Novel“ zu sein hat – eine raffinierte und herrlich geschriebene Erkundung der „Gefühle und Verhaltensweisen“, die in den letzten Jahren emporgekommen sind, sich entzündet und erhärtet haben und nun die „Seele“ eines zerrissenen Landes bestimmen, die, wie es eine wichtige Protagonistin des Romans formuliert, sich selbst plündert. Jene Emotionen werden – unabhängig davon, was an diesem 3. November geschieht – selbstverständlich die Zukunft der Vereinigten Staaten, mit alle ihren verschiedenen Identitätskrisen, weiter gestalten. Wer „Homeland Elegien“ liest wird ein Stück weit besser verstehen, wie es dazu kommen konnte.
Hernán D. Caro
Ayad Akhtar: „Homeland Elegien“. Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren. Claassen-Verlag, 464 Seiten, 24 Euro
Nun, es kam anders. Ein Besuch im sogenannten „Dschungel“ von Calais – dem berüchtigten Flüchtlingscamp in Nordfrankreich, das 2016 offiziell geräumt wurde doch noch als menschenunwürdige Parallelwelt und weiteres Zeichen europäischer Gleichgültigkeit fortlebt – brachte Pitts dazu, seinen Ansatz zu überdenken. Beim Verlassen des Lagers verstand er plötzlich, was es bedeutet, „drinnen“ zu sein: ein geschützter europäischer Bürger zu sein, einen begehrten Pass zu besitzen, diese Hölle in Calais überhaupt besuchen und wieder verlassen zu können. Die Erfahrung weckte bei Pitts, der als Sohn eines Afroamerikaners und einer weißen Engländerin in der Arbeiterstadt Sheffield in Nordengland geboren wurde, aber auch Erinnerungen an die Momente, wo er selbst sich „draußen“ gefühlt hat. Zum Beispiel am jährlichen Gedenktag für die Gefallenen der Weltkriege in Großbritannien, wo er immer wieder von Nationalisten, „das Gesicht rot vor Wut und Rassismus“, zu hören bekommt, er solle „dahin zurück, wo ich herkam“. Seine Hautfarbe, schreibt Pitts, verbirgt noch heute für viele sein „Europäischsein“. „Europäisch“ ist ja immer noch, ungeachtet der Diversität, die im Kontinent zu erleben ist, ein Synonym für „weiß“. [...]
Das ist eine fesselnde und entsetzliche Geschichte. In „Harte Jahre“ ist sie aber nur die Einleitung zum eigentlichen Thema des Romans: der schamlosen Zerlegung der demokratisch gewählten, progressiven Regierung von Jacobo Árbenz Guzmán in Guatemala in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Nachdem Árbenz begonnen hatte, eine Agrarreform durchzuführen, inszenierte das Unternehmen gemeinsam mit der US-Regierung eine Propagandakampagne, bei der der Präsident – der davon träumte, sein Land „so demokratisch wie die USA“ zu machen – fälschlicherweise als Kommunist dargestellt wurde. Die Strategie gelang: 1954 setzte die CIA Árbenz' Regierung ab und tauschte sie gegen eine wirtschaftsfreundliche Militärdiktatur aus.
Die Folgen des Putsches reichen bis heute: ab 1960 herrschte in Guatemala fast vierzig Jahre lang Bürgerkrieg. Dieser kostete 200.000 Personen, unter ihnen unzähligen Indigenen, das Leben und schaffte über eine Million Flüchtlinge. Heute ist das Land eines der ärmsten Lateinamerikas. „Harte Jahre“ erzählt die Vorgeschichte des Krieges. Doch im Buch geht es nicht nur darum. Der Roman, der in Lateinamerika mit Begeisterung rezipiert wurde und in Guatemala für Unruhe sorgte, gehört zu dem Genre, das Vargas Llosa, noch einer der prominentesten Autoren und überhaupt Intellektuellen der spanischsprachigen Welt, wie kaum ein anderer seiner Zeitgenossen beherrscht: die große lateinamerikanische Tragödie.
[...]
Diese Zeiten, in denen es einem Wunder glich, wenn Vertreter sogenannter „Minderheiten“ im Fernsehen auftauchten, sind zum Glück vorbei. Zumindest in den Vereinigten Staaten, wo die Bewegung hin zu einer stärkeren Diversität in Fernseh- und Kinoproduktionen inzwischen unaufhaltsam ist. Die Zahlen des „Hollywood Diversity Report“, erstellt von der University of California in Los Angeles (UCLA), scheinen das zu belegen: Demnach betrug der Anteil ethnischer Minderheiten an Filmhauptrollen im Jahr 2019 27,6 Prozent. Das ist immer noch eine bescheidene Zahl, wenn man bedenkt, dass diese Minderheiten bald die Hälfte der amerikanischen Bevölkerung ausmachen werden. Aber noch 2011 waren es nur 10,5 Prozent gewesen. Im Fall weiblicher Hauptrollen ist der Anteil im gleichen Zeitraum von 25,6 sogar auf 44,1 Prozent gestiegen.
Was das bedeutet, kann man derzeit nirgendwo deutlicher sehen als auf Netflix. Innerhalb von zehn Jahren ist der amerikanische Streamingdienst zum Vorreiter und Leitbild dessen geworden, was Diversität auf dem Bildschirm bedeuten kann. Als „Orange Is The New Black“, eine der ersten Netflix-Produktionen überhaupt, im Jahr 2013 Premiere feierte, wirkte diese Serie über die Schicksale sehr unterschiedlicher Insassen eines Frauengefängnisses wie eine Fernsehrevolution. Heute, mit Serien wie „Glow“ über ein weibliches amerikanisches Wrestlingteam, oder den „Telefonistinnen“, einer spanischen Produktion über die Angestellten einer Telekommunikationsfirma in Madrid der zwanziger Jahre, sind solche Figuren zum Standard im Programm geworden.
[...]
Diversität ist das eigentliche Geschäftsmodell von Netflix – ob das nun eine schlaue Marketing-Strategie eines Unternehmens ist, das sich altruistisch geben will, oder nicht. Mit knapp 169 Millionen Abonnenten in mehr als 190 Ländern (Ausnahmen sind China, Nordkorea, Syrien und die Krim) beschreibt sich Netflix selbst als „globales Unternehmen mit einer vielfältigen Mitgliederbasis“.
Dies wirkt sich offenbar auch auf die Unternehmensstruktur aus: Laut eigenen Angaben sind 49 Prozent aller Netflix-Beschäftigten auf der ganzen Welt weiblich, in den Vereinigten Staaten gehören 53 Prozent ethnischen Minderheiten an. Nachdem der damalige Kommunikationschef Jonathan Friedland wegen rassistischer Äußerungen im Jahr 2018 gefeuert wurde, schaffte Netflix die Führungsposition „Vice President for Inclusion Strategy“, die zurzeit von der afroamerikanischen Beraterin Verna Myers besetzt ist. Und die sich, in ihren eigenen Worten, der Förderung von „kultureller Vielfalt, Inklusion und Fairness in allen Aspekten der weltweiten Geschäftstätigkeit“ des Unternehmens widmet.
Doch auch das Streaming-Angebot selbst zielt darauf, den Unternehmensansprüchen zu entsprechen. Einerseits setzt Netflix darauf, in all seinen Märkten einheimische Produktionen auf den Weg zu bringen. Andererseits sollen diese Produktionen dann aber „globale Perspektiven, globale Geschichten“ spiegeln. Wer auf der ganzen Welt nach neuer Kundschaft sucht, muss halt Inhalte produzieren, die sowohl diese Welt selbst, aber eben auch die Lebenserfahrungen dieser neuen Kundschaft reflektieren. Dabei erschließt sich Netflix, wie es eben im Lehrbuch für marktwirtschaftliche Diversifizierung steht, zwar immer speziellere Zielgruppen, aber eben immer mit Geschichten, die von universellem Interesse sind: Gerade startete etwa die Comedy-Drama-Serie „Gentefied“, in der drei mexikanisch-amerikanische Cousins in Los Angeles nicht nur für den Taco-Shop ihres Großvaters kämpfen – sondern eben auch gegen eine weltweit bekannte Gentrifizierung.
[...]
Aber der wachsende Einfluss von Netflix wühlt auch die deutsche Unterhaltungsindustrie langsam auf. Was nicht immer angenehm ist: Kreative und Produktionsfirmen freuen sich zwar über die Zunahme an Projekten, die angesichts der Reichweite eine weltweite Aufmerksamkeit versprechen. Sie berichten aber auch von stark verkürzten Entwicklungszeiten, von harten Verhandlungen um die Rechte. Gleichzeitig gibt Netflix auch seinen deutschen Produktionsfirmen, den Autorinnen und Autoren klar vor, Serien und Filme divers zu besetzen. Es könne also gut sein, dass der Druck des Streamingdienstes die Inklusion in der deutschen Fernseh- und Filmindustrie vorantreibt. Es gäbe dabei – und das ist der Witz – ja nichts zu verlieren. Denn man erschlösse sich damit ein größeres Publikum, das im Moment nicht einschaltet, weil es sich nicht sieht.
Natürlich sind auch bei Netflix nicht alle Fragen der Inklusion gelöst. Wie der eingangs erwähnte Bericht der UCLA betont, sind Frauen und Minderheiten bei Regie und Drehbuch nach wie vor stark unterrepräsentiert. Und im Vorstand des Unternehmens sitzt eine Mehrheit weißer Männer: verblüffend, angesichts der lautstark erklärten guten Vorsätze des Unternehmens, angesichts der internen Schulungen, die Produktionsteams auf der ganzen Welt in Sachen Umgang und Wortwahl von Netflix erhalten, das extra dafür Personal auf die Sets schickt. Auch Kampagnen wie „Weil sie es angesehen hat“ – eine von Frauen kuratierte Auswahl von Serien und Filmen, die Netflix dieses Jahr am Frauentag präsentierte – ändern daran erst mal nichts.
Und doch kann man es nur begrüßen, wenn ein Unterhaltungsunternehmen es schafft, seinem Publikum vor Augen zu führen, dass die Welt tatsächlich vielfältig ist. Dann ist es auch hoffentlich bald wirklich „für alle“ kein Wunder mehr, Leute auf dem Bildschirm zu sehen, die so aussehen wie die Leute davor.
Darf man ein Werk, das ein Schriftsteller verstoßen hat, nach dessen Tod doch herausbringen? Die Antworten auf diese ewige Frage, diesmal von der spanischsprachigen Zeitschrift „WMagazín“ gestellt, waren – wie zu erwarten – widersprüchlich. „Es liegt ein Funken Eitelkeit darin, von einem anderen zu verlangen, das zu zerstören, was man geschaffen hat“, sinnierte ein Autor. „Man weiß, dass der andere es nicht tun wird“. Eine Buchhändlerin nannte die Veröffentlichung des Romans „das gute Recht“ der Erben – und freute sich über das Geschäft. Ein anderer Buchhändler prangerte „diese Praxis“ an, „den Autor als Ware zu fetischisieren“. Franz Kafka und Max Brod wurden erwähnt. Und jemand verwies auf einen Spruch, der von Henry James stammen soll: „Es ist unmoralisch, die Taschen und Schubladen eines Toten zu durchsuchen“.
Jetzt, wo der Roman erschienen ist, sind die Meinungen über seine Qualität ebenso gespalten. Während die spanische Zeitung „La Vanguardia“ das Buch für ein „weiteres Meisterwerk des Autors von ‚Hundert Jahre Einsamkeit‘“ hielt, hätte man sich laut der „The New York Times“ einen „unbefriedigenderen Abschied“ von García Márquez „kaum vorstellen können“.
Aber zunächst zu den Fakten: „Wir sehen uns im August“ erzählt die Geschichte von Ana Magdalena Bach, einer Frau mittleren Alters, die im August jedes Jahres auf eine karibische Insel fährt, um am dortigen Friedhof einen Strauß Gladiolen auf das Grab ihrer Mutter zu legen. Ana Magdalena liebt Bücher und Musik, hat von der Mutter „das Leuchten der goldenen Augen“, die „Tugend der wenigen Worte und die Klugheit, ihr Temperament zu zügeln“ geerbt und ist seit vielen Jahren glücklich verheiratet.
Bei einem ihrer Inselbesuche lernt die Frau einen eleganten Ausländer kennen. Sie trinken ein Glas zusammen, führen ein „banales Gespräch“ – der Mann ist weder besonders kultiviert noch besonders lustig, er hat aber „ein gutes und zaghaftes Herz“ –, und schließlich schlafen sie miteinander, wobei der Mann sich als „vortrefflicher Liebhaber“ offenbart, der Ana Magdalena „ohne Eile zum Siedepunkt führte“.
Als die Frau am nächsten Tag erwacht, ist der schneidige Fremde weg. Ihr bleiben nur das kränkende Geschenk eines Zwanzigdollarscheines, die „brutale Erkenntnis“, zum ersten Mal in ihrem Leben „mit einem Mann, der nicht der ihre war, gevögelt“ zu haben, und das brennende und verwirrende Verlangen danach, diese Nacht zu wiederholen. Und so endet das erste der insgesamt sechs kurzen Kapitel des Romans.
Dieses Kapitel las García Márquez bereits 1999 bei einem literarischen Treffen in Madrid vor. Ihm zufolge handelte es sich dabei um die erste Kurzgeschichte eines geplanten Erzählbands. Das Buch ist aber nie erschienen. Anstatt dessen erschien 2002 García Márquez' hervorragende Autobiographie „Leben, um davon zu erzählen“ und zwei Jahre später der Kurzroman „Erinnerung an meine traurigen Huren“, den viele Leser aus gutem Grund problematisch, wenn nicht gar anstößig fanden: Darin geht es nämlich um einen Neunzigjährigen, der mit einer vierzehnjährigen Prostituierten gerne schlafen würde. Dieses Werk galt bisher als das letzte des Autors.
Wie man aber nun weiß, arbeitete García Márquez an „Wir sehen uns im August“ weiter – und aus der Erzählung wurde ein Roman. Allerdings war diese Arbeit, wie seine Söhne berichten, äußerst beschwerlich. Denn García Márquez litt in seinen letzten Jahren an Demenz. „Die Erinnerung ist zugleich mein Rohstoff und mein Werkzeug“, soll er gesagt haben. „Ohne sie ist alles dahin.“ Die Krankheit habe es für ihn unmöglich gemacht, den Roman zu einem befriedigenden Abschluss zu bringen. So fällte er irgendwann das oben zitierte, vernichtende Urteil über sein eigenes Buch.
Trotzdem haben die Söhne entschieden, es zu veröffentlichen. Ihre Begründung im Vorwort: Nach einer neuen Lektüre des Romans hätten sie ihn „sehr viel besser“ als vorher gefunden. Und sie äußern die Vermutung, dass „eben die eingeschränkten Fähigkeiten“, die García Márquez nicht mehr erlaubten, mit der „gewohnten Sorgfalt“ zu schreiben, ihn womöglich auch daran gehindert haben, zu erfassen, wie gut der Roman „ungeachtet seiner kleinen Mängel“ sei…
Die erzählerische Prämisse, die im ersten Kapitel von „Wir sehen uns im August“ gesetzt wird, ist spannend – auch wenn nicht besonders originell. Eine Frau, in deren Alltag Liebe, Zufriedenheit und Struktur herrschen, wird plötzlich von der Erfahrung der leichtsinnigen Lust überfahren. Diese bringt sie aus dem Gleichgewicht, erfüllt sie aber auch mit Neugier und Lebensdrang. So entscheidet Ana Magdalena ihr eigenes Schicksal zu gestalten – sei es für eine Nacht im Jahr. Bei ihren nächsten Inselfahrten wird sie jenen Fremden zwar nicht mehr finden können, dafür aber andere Liebhaber und dadurch auch einigermaßen sich selbst." ...
[...]
Sin embargo, la obra de Kafka también tiene un lado humorístico que es tan importante, es más, tan “kafkiano”, como su lado sombrío. Pero este aspecto, que no pocos expertos en Kafka han resaltado en repetidas ocasiones a lo largo de los años, se olvida una y otra vez. Esto probablemente responda a diferentes causas.
Una de ellas es que muchas personas, al parecer, están más informadas sobre ciertos aspectos de la vida de Kafka que respecto a su obra: sobre la mala relación con el padre, sobre sus fallidas relaciones amorosas, sobre la insatisfacción con su trabajo de empleado de seguros, sobre su muerte temprana por tuberculosis… También existe aquella interpretación según la cual Kafka predijo los crímenes de los nazis. Esta es una lectura que algunos críticos, como James Hawes en Excavating Kafka (2008), consideran sumamente problemática. O incluso está el hecho de que mucha gente, cuando piensa en Kafka, piensa automáticamente en el famoso retrato de 1923, que muestra al escritor en la última fase de su enfermedad: sombrío, con los ojos hundidos y las mejillas huesudas. Pero también existen fotos en las que Kafka aparece muy diferente, a saber: de buen humor. (Y por cierto, según cuenta Wagenbach, “en los años cincuenta, en el departamento de prensa de la editorial Fischer”, el retrato antes mencionado fue retocado a fin de realzar su lado “místico”).
Y, en fin, parece que en todo esto también tiene un papel importante cierta antigua desconfianza intelectual respecto al humor y a lo chistoso: la idea de que ambas cosas son lo contrario de la profundidad filosófica y emocional, y no, en realidad, dos de sus facetas.
Como escriben Astrid Dehe y Achim Engstler en Kafkas komische Seiten (“Las páginas cómicas de Kafka”) (2011), Kafka era un “hombre sin sosiego que fracasaba una y otra vez, casi forzosamente”, pero a la vez era una persona con mucho sentido del humor. En sus cartas y diarios leemos sobre ataques de risa en el trabajo y situaciones disparatadas durante sus viajes. Su amigo, albacea y editor Max Brod cuenta que al leer El proceso en voz alta, Kafka se reía tanto “que por momentos no podía seguir leyendo”. Y Kafka mismo escribió a su primera prometida, Felice Bauer: “También sé reír […], incluso soy conocido por ser un gran reidor”.
Dehe y Engstler plantean que en los textos de Kafka hay muchos elementos “pensados para producir un efecto cómico”. Y de hecho, quien los lea atentamente –o simplemente los lea– encontrará muchos pasajes humorísticos. Estos tal vez no sean divertidos en el sentido de un humor “alegre” o festivo. El humor de Kafka es penetrante y abarca, entre otras cosas, lo grotesco, lo satírico, lo malicioso y, también, claro está, lo absurdo.
Como una invitación para seguir leyendo, a continuación mencionamos algunos de los lados cómicos de Kafka. ...
[...]
La relevancia de Franz Kafka para la literatura latinoamericana es inmensa y variada. Su influencia comenzó ya durante su vida y continúa hasta el presente. “Kafka nos marcó a todos”, dijo alguna vez la escritora argentina Samanta Schweblin. Y así, a menudo se encuentran ecos kafkianos en diferentes obras de autoras y autores latinoamericanos.
Sin duda, cualquier examen del impacto de Kafka en Latinoaméricas –y en cualquier otro lugar del mundo– es inevitablemente incompleto. A continuación ofrecemos entonces, en cinco escenas, un acercamiento inicial a esta historia interminable.
1. La liberación de la imaginación
En 1947, Gabriel García Márquez (1927-2014) aún era un estudiante de Derecho obsesionado con la poesía. Entonces, por casualidad, se topó con un pequeño volumen: La metamorfosis de Franz Kafka. En el libro de conversaciones El olor de la guayaba –publicado en 1982, año en que el periodista y escritor colombiano recibió el Premio Nobel de Literatura–, García Márquez cuenta cómo una noche un compañero de cuarto le prestó el libro. “Aún recuerdo la primera línea de memoria: ʻAl despertar Gregorio Samsa una mañana, tras un sueño intranquilo, encontrose en su cama convertido en un monstruoso insectoʼ”. El futuro escritor pensó: “Carajo, de modo que esto se puede hacer.” Kafka, según él, “contaba las cosas de la misma manera que mi abuela”. Con ello, García Márquez se refería a contar una historia en la que ocurren eventos sobrenaturales sin, por así decirlo, sonrojarse, como si estos eventos fueran completamente normales, cotidianos. Precisamente de este modo, en su infancia su abuela le había hablado de las cosas más extrañas.
Como cuenta García Márquez en su autobiografía Vivir para contarla, comprendió que solo “bastaba con que el autor lo hubiera escrito para que fuera verdad, sin más pruebas que el poder de su talento y la autoridad de su voz”. En este principio se basa en gran medida el llamado “realismo mágico”, que luego desarrolló en sus famosas novelas Cien años de soledad o El amor en los tiempos del cólera.
Kafka “definió un camino nuevo” para su vida. Un día después de su encuentro con La metamorfosis, García Márquez comenzó a escribir su primer cuento, “La tercera resignación”, sobre un hombre que enfermó de fiebre tifoidea cuando era niño, por lo que su madre lo metió vivo en un gran ataúd para que pudiera crecer allí. La historia fue publicada en un periódico importante y poco después el estudiante de Derecho abandonó la universidad y se dedicó a la literatura hasta el fin de sus días.
2. Una cucaracha sueña
En alemán, Kafka describe al “monstruoso insecto” en que se ha convertido Gregor Samsa como un “Käfer”, es decir un “escarabajo” o un “Maikäfer, un “escarabajo pelotero”. Sin embargo, en los países de habla hispana, cuando se discute el destino del protagonista de La metamorfosis, se suele utilizar la palabra “cucaracha”. Cualquiera que sea el motivo de esta nueva metamorfosis, en este caso lingüística, no se trata de falta de amor o de respeto frente a Kafka. Todo lo contrario.
Un buen ejemplo de esto lo ofrece Augusto Monterroso (1921-2003). Este autor guatemalteco, que se definía a sí mismo como gran admirador de Kafka, solía escribir textos irónicos breves o brevísimos (algunos de ellos compuestos sólo por una frase muy finamente tejida), muchas veces con animales como protagonistas y que se leen a modo de fábulas.
“La verdad es que Kafka me ha acompañado desde hace mucho tiempo“, leemos en los fragmentos del diario de Monterroso La letra e. Por eso es frecuente encontrar en su obra pequeños homenajes a Kafka. El más famoso se llama “La cucaracha soñadora” (1969): “Érase una vez una Cucaracha llamada Gregorio Samsa que soñaba que era una Cucaracha llamada Franz Kafka que soñaba que era un escritor que escribía acerca de un empleado llamado Gregorio Samsa que soñaba que era una cucaracha”.
[...]
Mit dieser Stellenanzeige beginnt die Geschichte von Estela García, die die chilenische Schriftstellerin und Anwältin Alia Trabucco Zerán in ihrem Roman „Mein Name ist Estela“ erzählt. Arm und arbeitslos verlässt Estela ihre Heimat und ihre Mutter im Süden Chiles und zieht in die Hauptstadt Santiago, um dort als Haushälterin eines reichen Paares und als „Nana“ – also als Ersatzmutter – deren Tochter Julia zu arbeiten. Sieben Jahre lang lebt Estela bei dieser Familie. Jahr für Jahr putzt, kocht, kauft sie für sie ein. Sie bekommt Einblick in ihre Intimität. Sie macht es möglich, dass ihre ehrgeizigen Arbeitgeber, ein Arzt und eine Anwältin, sozusagen immer funktionsfähig sind und sie zieht ihr Kind, ein von Ängsten geplagtes Mädchen, groß. Das fremde Haus, in dem Estela in einem Kämmerchen hinter der Küche wie ein Schatten wohnt, verlässt sie kaum.
Allerdings fängt der Roman selbst an einem ganz anderen Zeitpunkt an, nämlich am Ende: In der ersten Szene des Buches sitzt Estela in einer Art Verhörraum und verspricht denjenigen Leuten, die sich angeblich hinter einer Glasscheibe befinden – die aber bis zuletzt kein einziges Zeichen von sich geben –, zu erzählen, wie es zu der Tragödie kam, die zu Estelas gegenwärtiger Situation führte. Denn das Mädchen, auf das die Haushälterin aufpassen musste, ist tot.
Ein so thrillerhafter Auftakt könnte manche Leser hinsichtlich des Charakters des Romans zunächst täuschen. Zwar erfahren wir zum Schluss wie das Kind gestorben ist. Und wir glauben auch zu verstehen, warum es sterben musste. Aber das, was „Mein Name ist Estela“ zu einem intelligenten und erschütternden Roman macht, ist nicht, dass darin ein Kriminalfall gelöst wird (und im Übrigen ist es nicht klar, ob der Tod des Mädchens endgültig aufgeklärt wird), sondern die Schärfe, mit der Estela die Geheimnisse, die kleinen, alltäglichen Grausamkeiten, das bedrückende Leben der Familie offenlegt – und gleichzeitig an allererster Stelle ihre eigenen dunklen Seiten."
[...]
https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/belletristik/ueber-alia-trabucco-zeran-und-mein-name-ist-estella-19571230.html
Diese Zeilen stammen aus dem Roman „Torero, ich hab Angst“ des chilenischen Autors Pedro Lemebel, der gerade auf Deutsch bei Suhrkamp erschienen ist. Was Lemebel dort beschreibt, ist die bedrohliche Nacht, die auf einen Anschlag folgte, den die linke Stadtguerilla „Frente Patriótico Manuel Rodríguez“ am 7. September 1986 auf die Wagenkolonne des ehemaligen chilenischen Diktators Augusto Pinochet verübte. Das Attentat endete mit fünf toten Leibwächtern des Diktators. Pinochet selbst blieb unverletzt. Der Mordversuch löste eine blutige Repressionswelle aus. Und die Militärdiktatur – die vor genau fünfzig Jahren, im September 1973, mit einem Putsch gegen den demokratisch gewählten Präsidenten Salvador Allende begann und als Folge derer mehr als tausend Personen verschwunden sind, zweimal so viele ermordet wurden und weitere 30.000 unter Verfolgung und Folter litten – dauerte noch weitere vier Jahre.
Vor dem historischen Hintergrund der angespannten Monate vor dem Attentat und überhaupt des angespannten Alltags unter der Diktatur entschied Pedro Lemebel – der nicht nur Schriftsteller, sondern auch einer der einflussreichsten homosexuellen Performancekünstler Lateinamerikas war –, in „Torero, ich hab Angst“ ausgerechnet eine Liebesgeschichte zu erzählen.
Das Buch, das ursprünglich 2001 auf Spanisch veröffentlicht wurde, gilt als einer der originellsten Romane über Pinochets Diktatur. Im Mittelpunkt der Geschichte steht die „Loca del Frente“, die „Tunte von Gegenüber“ – oder wie es in der deutschen Übersetzung auch heißt, die „Tunte der Front“ –, ein alternder schwuler Mann, der in einer kitschig und liebevoll eingerichteten Wohnung in einem Armenviertel Santiagos lebt. Seinen echten Namen lernen wir nie kennen; bezeichnet wird er stets nur als „die Tunte“. Und von seiner traumatischen Kindheit und seiner Vergangenheit als Prostituierter erfahren wir nur durch flüchtige, schmerzhafte Andeutungen.
Eines Tages trifft „die Tunte“ auf einen jungen Mann namens Carlos, der behauptet, er würde Architektur studieren und fragt, ob er in ihrer Wohnung einige Kisten mit Büchern verstauen könnte. Die Protagonistin willigt ein. Sie ist nämlich vom Studenten fasziniert: „Carlos war so gut, so sanft, so liebenswürdig“, denkt sie. „Und sie war so verliebt, so gefesselt, so verträumt, wenn sie ganze Nächte mit ihm verplauderte“. Denn an manchen Abenden bringt Carlos bei seinen Besuchen andere Freunde mit. Eingeschlossen in einem Zimmer, das „die Tunte“ nicht betreten darf, diskutieren sie stundenlang über irgendwelche Dinge, die laut Carlos – der der Hausherrin oft bei Tee und Zigaretten Gesellschaft leistet – bloß mit ihrem Studium zu tun haben.
Carlos' mysteriöse Kisten werden immer zahlreicher. In ihnen – das wird den Lesern schnell klar – sind bestimmt keine Bücher, sondern womöglich Waffen. Und womöglich gehören Carlos und seine Freunde zur „Front“, die den Anschlag gegen Pinochet vorbereitet. Natürlich vermutet dies auch die „Tunte“. Doch sie sagt, fragt nichts: „Nein, das würde Carlos niemals tun, er würde sie nicht belügen“, schreibt Lemebel. „Und wenn doch, dann wollte sie es lieber nicht wissen, wollte lieber die Dumme spielen, die dümmste aller Tunten, die bescheuertste“.
Pedro Lemebel wurde 1952 in Santiago de Chile als Sohn eines Bäckers geboren und starb ebendort im Jahr 2015. Seine ersten Jahre waren von Mangel geprägt. Im Laufe seines Lebens wurde er aufgrund der Intensität, Originalität und scharfsinnigen Unverschämtheit seiner Arbeit als linker, queerer Performer und Aktivist prominent.
Bereits zu Zeiten der Diktatur wurde Lemebel in Chile bekannt, als er 1987 mit dem Dichter und Künstler Francisco Casas das Duo „Las Yeguas del Apocalipsis“ – „Die Stuten der Apokalypse“ – gründete. Das künstlerische Kollektiv zeichnete sich dadurch aus, dass es kulturelle Veranstaltungen mit klugen und provokanten, wütenden und nicht selten witzigen Performances sabotierte. Lemebel verstand sich immer als Kommunist. Doch auch die chilenische kommunistische Partei, traditionell schwulenfeindlich, wurde von den „Yeguas“ angeprangert.
In den Jahren nach der Diktatur arbeitete Lemebel vermehrt als Autor, zunächst von kurzen Reportagen, sogenannten „crónicas“. Diese widmeten sich dem Leben marginaler Personen, oder wie Lemebel es sarkastisch formulierte, jener „überflüssiger Menschen, die dem siegreichen Chile des Wunders das heuchlerische Grinsen aus dem Gesicht wischen“. Damit meinte er das Chile des radikalen Neoliberalismus, dem Pinochet die Türen des Landes weit öffnete, und der zu einer bis heute enormen sozialen Ungleichheit im Land führte.
Mit „Torero, ich hab Angst“ – seinem einzigen Roman, der mit den Jahren zu einem Klassiker der queeren Literatur geworden ist – etablierte sich Lemebel als bedeutender Schriftsteller. 2013 erhielt er den Premio José Donoso, den wichtigsten Literaturpreis Chiles. Jahre davor hatte ihn der berühmte chilenische Schriftsteller Roberto Bolaño „den größten Dichter meiner Generation“ gennant – „auch wenn er keine Gedichte schreibt“.
Und tatsächlich ist „Torero, ich hab Angst“ ein einzigartiger Roman. Das Buch – das Matthias Strobel ausgezeichnet in Deutsche übersetzt hat – ist in gewisser Hinsicht wie seine Protagonistin: melodramatisch, theatralisch, extravagant. Es spielt mit allen Registern. Und es ist auch manchmal vulgär, etwa wenn Lemebel mit sehr direkten Worten die sexuellen Fantasien der „Tunte“ oder ihren Besuch eines Pornofilms beschreibt. Diese Kinoszene, die parallel zum Anschlag auf Pinochet verläuft, baut Lemebel als spannende Montage von schwuler Sexliteratur, Politthriller und einer Art Bewusstseinsstrom – aus Pinochets Perspektive – meisterhaft auf. Denn neben der Geschichte der „Tunte“, nähert sich Lemebel im Roman nämlich auch dem Privatleben des Diktators an, indem er versucht, sich Pinochets Gedanken und die Monologe seiner Ehefrau vorzustellen. Das wirkt an manchen Stellen etwas gewollt, bleibt trotzdem als literarische Strategie spannend – und ist auch wunderbar bösartig.
[...]
Humboldt-Magazin vom Goethe-Institut Oktober 2023 // Der Mensch als Mittelpunkt und Lenker aller Dinge: Biologe und Philosoph Andreas Weber meint, dass sich dieses Weltbild längst überholt habe – und dass wir uns von indigenen Kulturen einiges abschauen können.
https://www.goethe.de/prj/hum/de/dos/ctr/25125208.html
Im Roman, der 1987 auf Spanisch veröffentlicht wurde, über lange Jahre in Vergessenheit geriet, heute als einer der wichtigsten lateinamerikanischen Romane des 20. Jahrhunderts gilt und nun zum ersten Mal auf Deutsch erschienen ist, geht es um viel mehr als nur um jene Eliteschule. Doch es ist in diesen Zeilen bereits einiges dessen angedeutet, was die Geschichten, die im Buch vorkommen, zu einer einzigen, ungeheuren Tragödie werden lässt.
Im Fokus stehen die Schicksale Doras, Catalinas und Beatriz', dreier junger Frauen aus der „besseren Gesellschaft“ Barranquillas, einer Hafenstadt im Norden Kolumbiens. Die Schilderung ihrer Lebenswege basiert auf den Erinnerungen von Lina, einer Frau, die als Mädchen mit den drei Protagonistinnen befreundet war, und die nach den Begebenheiten des Romans, die in den fünfziger Jahren stattfinden, Kolumbien für immer verlassen hat und jetzt in Paris lebt. Im Vordergrund des Romans steht der Kampf seiner drei Freundinnen gegen ihren Untergang im Rahmen von respektablen Ehen. Die Männer, die sie aus religiöser Pflicht, sozialem Druck oder sogar Liebe geheiratet haben, heißen Benito, Álvaro und Javier. Jeder von ihnen verkörpert den Prototypen des eitlen, launischen und herrschsüchtigen Mannes, den ihr Milieu ihnen als einziges Vorbild bietet.
[...]
https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/belletristik/marvel-morenos-roman-im-dezember-der-wind-19031976.html
Nach tagelangen Demonstrationen kam es zu einer Einigung mit der damaligen Regierung, die sich zum Schutz der Gegend verpflichtete. Francia Márquez wurde mit dem kolumbianischen Nationalpreis für Menschenrechte und mit dem Goldman Environmental Prize geehrt.
Wie hat Ihr Einsatz für die Umwelt und Ihre Kultur begonnen?
Ich kann nicht über mich selbst sprechen, ohne über die Gemeinschaft und das Territorium zu sprechen, in denen ich aufgewachsen bin. Meine Mutter war Bäuerin, Hebamme und Goldwäscherin. Als Hebamme lernte sie, dass man bei der Geburt eines Kindes einen Teil der Plazenta in der Erde vergräbt. Bei uns sagt man, so würde eine Verbindung zwischen uns und der Erde entstehen. Mein Vater war auch Bauer. Wir lebten im Haus der Familie meiner Mutter, zusammen mit meinen Großeltern, Onkeln und Cousins. Meine Großmutter brachte mir bei, Kaffee und Maniok anzubauen und in einem Fluss namens Ovejas nach Gold zu suchen. In diesem Fluss lernte ich auch fischen und schwimmen. Als ich dreizehn Jahre alt war, verkündete die Regierung, unser Fluss würde umgeleitet werden. Ich hatte das Gefühl, dass uns ein Stück unseres Herzens genommen werden sollte. Die älteren Frauen meiner Gemeinde sagen, der Fluss sei Vater und Mutter. Und die Mutter und den Vater tötet man doch nicht, oder? Man kümmert sich um sie. Als Kind hatte ich den Traum, Schauspielerin oder Sängerin zu werden. Ich hatte keine Möglichkeit, eine Kunstschule zu besuchen, aber ich trat dem Kulturhaus meiner Gemeinde bei und nahm an Tanz- und Theaterprojekten teil. Als der Plan zur Umleitung des Flusses angekündigt wurde, begannen alle Menschen der Community, dagegen zu protestieren. Wir jungen Leute dachten uns Theaterstücke aus, um zu erklären, warum der Lauf des Flusses nicht verändert werden sollte. Ich lernte eine Organisation namens Proceso de Comunidades Negras kennen, die uns darin unterstützte, uns gegen das Projekt zu mobilisieren. So fing meine Arbeit als Aktivistin an.
[...]
https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/kolumbiens-vizepraesidentin-francia-marquez-im-interview-18818756.html
In ihrem erstem Roman „Sengender Wind“ kreuzen sich die Wege eines hartnäckigen evangelikalen Wanderpredigers, der mit seiner Teenager-Tochter durch das Hinterland Argentiniens unterwegs ist, und eines verschlossenen und ebenso sturen Mechanikers, der dort, mitten im kochenden Nichts, mit seinem jungendlichen Gehilfen lebt. Durch prägnante Dialoge und Beschreibungen schildert Almada die Dürftigkeit des Lebens der Protagonisten und überhaupt der Landschaft, in der sie aufeinandertreffen. Womöglich wirkt die Welt des Romans, der 2016 auf Deutsch erschienen ist, für die meisten Leser befremdlich. Trotzdem ist die Begegnung beider Männer, ihr leiser doch unerbittlicher Kampf um eine reine Seele, sehr ergreifend.
„Ladrilleros“, Almadas zweiter Roman, handelt auch von einem Duell: Zwei junge Männer, die aus einfachen Zieglerfamilien stammen, scheinen dazu verdammt, die lebenslange Feindseligkeit zwischen ihren Vätern fortzuführen. Das Buch ist ein zeitgenössisches Trauerspiel, manchmal erinnert es – auch wenn es im kargen Norden Argentiniens spielt und die Frauen anscheinend nur Nebenrollen haben – an Shakespeares „Romeo und Julia“. Almada springt hin und her zwischen der Zeit vor der Geburt der Protagonisten, ihrer Kindheit und ihrem erbärmlichen Ende. So liest sich die Erzählung wie ein Thriller. Dabei zeigt die Autorin feinfühlig wie vernichtend jene Räume sind, in denen es für Männer zunächst eine Pflicht gibt: „echte Männer“ zu sein.
Jetzt ist Selva Almadas jüngster Roman „Kein Fluss“ ins Deutsche übersetzt worden. Das Buch, so die Autorin, schließt die „Trilogie der Männer“ ab, deren ersten Teile die oben erwähnten Romane sind. Diesmal erzählt Almada allerdings nicht von Feinden: Enero Rey und El Negro, zwei befreundete Mittfünfziger, nehmen den Teenager Tilo mit zum Fischen. Der Junge ist der Sohn eines alten gemeinsamen Freundes. Das Ausflugsziel, das beide Männer sich ausgesucht haben, ist eine Insel, die im selben Fluss liegt, in dem Tilos Vater vor fünfzehn Jahren ertrunken ist.
[...]
https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/autoren/selva-almada-und-ihr-eindringlicher-roman-kein-fluss-18772970.html
Die Euphorie der Berichterstattung und ihr religiöser Tonfall dürften für viele derjenigen, die Cave und seine Band live erlebt haben, nachvollziehbar sein. Nick Cave, der dieses Jahr seinen 65. Geburtstag feierte, ist ein furioser und charismatischer Performer. Sobald er vor dem Publikum auftaucht, in dunklem Anzug und mit den zurückgekämmten rabenschwarzen Haaren, die sein Markenzeichen sind, gibt er sich jedem seiner Lieder leidenschaftlich hin – egal, ob es um alte Hits geht, wie „Red Right Hand“ und „Are You The One That I’ve Been Waiting For?“ oder die neuere, frenetische Gospel-Hymne „Get Ready For Love“.
Dabei singt Cave Songs über sexuelle Hörigkeit, Mordfälle und immer wieder Liebe, in denen sich Obszönitäten, Bibelverse und Referenzen auf obskure und prominente Dichter mischen. Auf einmal schaut er nach oben, streckt seine Arme aus, irgendwie gequält, und ruft lauthals mit seiner imposanten Bariton-Stimme: „Oh Lord, oh my Lord!“.
Seine Kommunikation mit dem Publikum ist äußerst dramatisch: mal um sich hauend, mal intim. Während seines Auftrittes in Berlin im Sommer stand Cave die meiste Zeit am vorderen Rand der Bühne oder auf einem Steg zwischen den Zuschauern. Von dort aus griff er nach ihren Händen und sang – oder eher: schrie – seine Texte in ihre Gesichter. Plötzlich bückte er sich zu einer jungen Frau, die auf den Schultern eines Mannes saß und aufgelöst weinte. Cave gab ein Zeichen und die Musik wurde leiser. Er legte seine Hand auf den Kopf der Frau, nahm dann ihre Hände in seine – ohne Ironie – und sang sachte, nur für sie. Kurz danach explodierte die Musik erneut und Cave brüllte wieder in den Himmel seine Lieder über Lust und Liebe, Totschlag und die Barmherzigkeit Gottes.
[...]
https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/pop/nick-cave-und-die-erloesung-18553341.html
Darüber hinaus scheint Petros Sieg auch eine Entwicklung zu bestätigen, die seit einiger Zeit jenseits der kolumbianischen Grenzen stattfindet, nämlich eine Wendung nach links in der Politik mehrerer lateinamerikanischer Länder. In den letzten vier Jahren haben sich in Präsidentschaftswahlen in Mexiko, Argentinien, Peru und Chile linke Kandidaten durchgesetzt. Kolumbien reiht sich nun in diese Gruppe ein. Und im Oktober könnte in Brasilien der ehemalige Gewerkschaftler Luiz Inácio da Silva, genannt Lula – der bereits zwischen 2003 und 2011 Präsident war –, die Wahlen gegen Jair Bolsonaro gewinnen, den aktuellen Präsidenten. Bolsonaro ist wegen seiner frauenfeindlichen, rassistischen und antidemokratischen Äußerungen, sowie wegen seiner Gleichgültigkeit gegenüber der Abholzung des Amazonas-Regenwaldes in der ganzen Welt berühmt-berüchtigt.
Sollte sich Lula durchsetzen – wofür nach verschiedenen Umfragen die Chancen gut stehen – hätten die sechs größten und wirtschaftlich stärksten Ländern Lateinamerikas Staatschefs mit einer linksgerichteten Agenda. Angesichts dieser Entwicklung sprechen verschiedene internationale Medien bereits vom „roten Kontinent“, von einer „neuen Linken“ und von einer „progressiven Welle“ in Lateinamerika.
[...]
https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/wie-links-sind-die-linken-regierungen-lateinamerikas-18222499.html
Ist man heutzutage früh am Sonntag in Bogotá unterwegs, stößt man in der Nähe religiöser Stätten auf eine ähnlich aufgeregte Stimmung wie damals: auf die Staus und die voll geparkten Straßen in der Umgebung der Gotteshäuser; auf die Bürgersteige davor, die von vielen Bedürftigen in Beschlag genommen werden; auf die Gruppen von Leuten, die aus allen Richtungen zielstrebig zur Predigt eilen.
Doch man wird auch schnell einen Unterschied zu damals bemerken – einen, der, angesichts der Tatsache, dass Bogotá die Hauptstadt eines Landes ist, das sich jahrhundertelang damit brüstete, eines der katholischsten Länder weltweit zu sein, auf eine verblüffende Entwicklung hinweist: Die Orte, in denen sich heute christliche Gläubige in Bogotá – aber eigentlich auch in vielen anderen Städten anderer Länder Lateinamerikas – versammeln, sind längst nicht mehr hauptsächlich katholische Kirchen.
[...]
https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/evangelikale-kirchen-gewinnen-immer-mehr-macht-in-suedamerika-18312747.html
Der Realismus reicht nicht mehr aus, um die Wahrheit über die Schrecken unserer Gesellschaften auszusprechen. Der Horror hilft, davon zu erzählen.“ Was die argentinische Schriftstellerin Mariana Enríquez da sagt, im Gespräch zu Besuch in Berlin, bringt es auf den Punkt. Und es klingt zugleich wie ein programmatischer Kampfruf zu einem aufregenden Experiment, das Autorinnen aus verschiedenen Ländern Lateinamerikas im Moment durchführen: die Wiedererfindung der Horrorliteratur.
Zunächst war das nur eine kuriose Randerscheinung, inzwischen ist es ein Phänomen, das unterschiedliche Namen bekommen hat: „lateinamerikanischer Gothic“, „anomaler Realismus“ , „feministischer Horror“. Aber wie man es auch nennen mag, diese Begriffe verbinden jedenfalls die Werke gleich mehrerer Schriftstellerinnen, die Kennzeichen des Horrorgenres verwenden, neu interpretieren, neu besetzen, um damit die dunklen Seiten Lateinamerikas genauso fesselnd wie verstörend ins Licht zu holen. [...]
Ungefähr 5000 Völker werden heute als „indigen“ bezeichnet, das sind, nach Schätzungen der Vereinten Nationen, rund 370 Millionen Menschen in über 70 Ländern. Insofern ist schon die Kategorisierung all der verschiedenen Denkansätze nicht unproblematisch. Dass man aber durchaus gewisse Leitgedanken erkennen kann, zeigen drei kürzlich auf Deutsch neu erschienene Bücher: Ailton Krenaks „Ideen, um das Ende der Welt zu vertagen“ (btb Verlag), Robin Wall Kimmerers „Geflochtenes Süßgras: Die Weisheit der Pflanzen“ (Aufbau) und Tyson Yunkaportas „Sand Talk: Das Wissen der Aborigines und die Krisen der Moderne“ (Matthes & Seitz). Bei allen drei Autoren und Autorinnen ist die Vorstellung von Natur als komplexes lebendiges Geflecht aller Wesen, Dinge und Phänomene zentral, ein Vorstellung, die jedoch im Kontext der aktuellen Krise, bemerkenswert modern erscheint.
[...]
„Die offenen Adern“ erschien 1971, also inmitten des Kalten Krieges, und basiert auf mehreren Jahren von intensiver Lektüre und Reisen durch Lateinamerika. Darin wollte Galeano eine Geschichte des Kontinents vorlegen, von der sogenannten „Entdeckung Amerikas“ durch die Europäer im Jahr 1492 bis in die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Aber „Die offenen Adern“ ist kein traditionelles Geschichtsbuch, vor allem keine derjenigen Chroniken, durch die viele Lateinamerikaner ihre Vergangenheit immer noch kennenlernen – in Galeanos Worten: als „Aufzählung von Helden in Karnevalskostümen“. Das Buch ist vielmehr der Versuch zu zeigen, inwiefern seit dem 15. Jahrhundert in Lateinamerika alles, und Galeano betont, „alles: die Schätze der Natur und die Fähigkeiten der Bevölkerung“, sich „zuerst in europäisches, nachher in nordamerikanisches Kapital verwandelt“ habe – inwiefern also die lateinamerikanische Geschichte eine „Geschichte der Ausplünderung“ sei.
[...]
-
Es ist beunruhigend und manchmal schmerzhaft, festzustellen, dass Menschen, die wir schätzen und sogar lieben, die Welt anders sehen als wir selbst. Oder als wir guten Gewissens denken, dass sie die Welt sehen sollten.
Es begann damit, dass ich mit meiner Mutter, die in Kolumbien lebt, aus meinem Berliner Lockdown telefonierte. Wie bei den meisten unserer Gespräche erzählte sie mir verschiedene Familienneuigkeiten – die ich meistens nur mit gemäßigtem Interesse verfolge.
Diesmal aber erzählte sie auch von einem Telefonat mit ihrer Schwester, die gerade am Rande von New York bei ihrer Tochter, meiner Cousine Marcela, wohnt, um ihr mit dem Haushalt und den Kindern zu helfen. Meine Verwandten sind auf der ganzen Welt verstreut, und diejenigen, die vor langer Zeit in die Vereinigten Staaten auswanderten, machen fast die Hälfte unserer Großfamilie aus. Marcela war vor fünfzehn Jahren nach New York gegangen, nachdem sie in Kolumbien keine Arbeit als Psychologin finden konnte. Sie blieb als sogenannte „Illegale“, machte allerhand Jobs: Über ihre Erfahrung als Hilfskraft in Ivanka Trumps ehemaligem Schmuckladen in Manhattan habe ich in diesem Feuilleton schon vor einigen Jahren geschrieben. Marcela heiratete einen amerikanischen Bürger kolumbianischer Herkunft. Heute ist sie Managerin einer Restaurantkette.
Jedenfalls erzählte meine Mutter mir, als wir also neulich telefonierten, dass Marcelas Mutter wiederum kurz zuvor mit ihrem ältesten Sohn Juan in Bogotá telefoniert habe. Und bei diesem Gespräch hätte sie also Juan erzählt, wie froh Marcela und deren Mann darüber sind, dass Joe Biden zum neuen Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt worden sei. Da habe Juan, so meine Tante, so meine Mutter, sofort angefangen, „wie ein Hysteriker“ zu brüllen: Wie konnte seine Schwester nur diesen gottlosen Mann wählen, diesen „Feind der Familie“?
Damit meinte Juan nicht unsere eigene Familie, sondern, wie man so sagt, die Familie als „heilige Institution“. Juan ist vor etwa einem Jahrzehnt, nach einem ereignis- und alkoholreichen Leben als Partylöwe und Frauenheld, zu einem radikalen evangelikalen Christen geworden. Er ist bei uns zwar noch für seinen alten Humor und seine Wärme bekannt, wird aber inzwischen auch gefürchtet. Ab und zu lässt er subtil frauenfeindliche oder offen reaktionäre Sprüche raus. Und er hat auch schon oft Geburtstagsfeiern oder Weihnachtsessen verlassen, weil jemand eine Flasche Sekt aufmachen wollte. Meine Tante jedenfalls, so meine Mutter, sei schockiert gewesen: Sie hätte nicht gedacht, dass ihr Sohn derart teuflisch toben kann – und das auch noch bei einem Thema wie den Wahlen in den Vereinigten Staaten, das ihn, würde man denken, wenig angeht.
[...]
Darauf stehen etwa Mark Twains „Abenteuer des Huckleberry Finn“ und F. Scott Fitzgeralds „Der große Gatsby“, Thomas Pynchons „Die Enden der Parabel“ und Toni Morrisons „Menschenkind“. Jetzt, bezieht man sich auf DeForests weitere Beschreibungen der „Great American Novel“ als „Tableau der US-Gesellschaft“ und aufrüttelndes Sinnbild der Emotionen, die das Land gestalten, möchte man ankündigen: die Liste großer US-Romane ist mit Ayad Akhtars Roman „Homeland Elegien“ gerade um einen Titel reicher geworden.
In „Homeland Elegien“ erzählt ein Dramatiker aus New York namens Ayad Akhtar, Sohn eines aus Pakistan eingewanderten Ärztepaares, von seinem bemerkenswerten Werdegang. Etwa von dem Spagat zwischen der fast kindlichen Begeisterung seines Vaters für den „American Way of Life“ (der nach Akhtar in hohem Maße darauf basiert, dass jeder auf sich allein gestellt ist, Schulden gemacht werden, um Schulden zu bezahlen – und man dabei schwört, man würde in einer strahlenden „Stadt auf dem Hügel“ leben) und der Verachtung seiner Mutter all dem gegenüber. Oder davon, wie er durch Finanzspekulation ein Vermögen aufbaute und wieder verlor. Auch davon, wie er nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 ein Theaterstück über Islamophobie und die Identitätskonflikte US-amerikanischer Muslime schrieb und dadurch bekannt wurde. Und auch davon, wie er in den Vereinigten Staaten, „meinem Heimatland Amerika“, sich nie Zuhause gefühlt hat – ein Gefühl wiederum, das ihm, als er es endlich annahm, den Weg zum Erfolg als Autor ebnete.
Diese Eckdaten aus dem Leben des Protagonisten Akhtar sind echt: sie gehören also zur Biographie des Schriftstellers Akhtar. Wie dieser selbst aber erklärt hat, ist sonst vieles dessen, was sein Erzähler uns auf nonchalante, fesselnde und oft humorvolle Weise über sein Leben anvertraut, ausgedacht. Doch was genau? Gerade die Tatsache, dass wir es nicht wissen, gehört zur Anziehungskraft des Romans: Unser Leben, scheint er – auf sehr US-amerikanische Weise – zeigen zu wollen, ist hauptsächlich das, was wir anderen und uns selbst erzählen. Und sowieso spürt man im Laufe der Geschichte, dass die Frage nach dem Realen und dem Fiktiven hier irrelevant ist. Es gibt in „Homeland Elegien“ nämlich keine Seite, die sich nicht authentisch anfühlt, keine Anekdote oder Überlegung, die nicht einen gewissen Aspekt der aufbrausenden Realität der Vereinigten Staaten beleuchtet.
Da ist zum Beispiel Akhtars Bericht über die wahnsinnige Sympathie, die sein Vater für Donald Trump hat. Der pakistanische Kardiologe soll in den achtziger Jahren den Immobilienunternehmer einmal behandelt haben – und seitdem fasziniert vom künftigen US-Präsidenten sein. Wenige Tage von einer neuen, gefürchteten Präsidentschaftswahl tut es weh, zu lesen, wie Akhtars Vater Trumps Lügen und Gemeinheiten, auch gegen Muslime, rechtfertigt („Er ist ein Showman... Er meint es nicht so“) oder verharmlost („Ich bete nicht, ich faste nicht, ich bin eigentlich gar kein Muslim, und für dich gilt dasselbe. Er meint uns nicht. Und außerdem war ich sein Arzt, also brauchen wir uns keine Sorgen zu machen“). Denn es ist klar: diese Faszination teilen Millionen von Menschen – und sie ist, wie Trump selbst, das Symptom tieferer Übel. Der Roman erforscht sie so unterhaltsam wie scharfsinnig.
Ebenso liest sich die Geschichte des Hedgefonds-Gründers Riaz Rind, der Akhtar zum Millionären macht, wie eine Parabel über die paradoxen Werte der US-Gesellschaft. Rind – in dem die „New York Times“ einen modernen Jay Gatsby sieht – ist der Sohn einer muslimischen Familie aus einer verarmten Arbeiterstadt in Pennsylvania. Dank seines Finanztalents wurde er stinkreich und machte es sich zur Aufgabe, das Leben von US-Muslimen zu verbessern. Mit denselben Waffen, mit denen seiner Ansicht nach der Westen die sogenannte „muslimische Welt“ knechtet – faulen Kapitalanlage und Krediten –, rächt er sich an einer Reihe von US-Städten für die Diskriminierung, die er dort erlebt hat.
Und auch Akhtars Geständnis, er hätte nach dem 11. September vor lauter Angst, auf der Straße angegriffen zu werden, monatelang ein Kreuz um den Hals sichtbar getragen, oder die Stellen, an denen er manchen seiner schikanierenden Landsleute nervös erklären muss, sein Name käme zwar aus Ägypten, er selbst aber aus New York – auch sie, egal ob Fiktion oder nicht, sind prägnante Pinselstriche in dem Gemälde der heutigen, real existierenden Vereinigten Staaten. Und sie stellen immer wieder die Frage, die durch „Homeland Elegien“ – und überhaupt Akhtars Werk – durchfließt: Wie kommt man mit dem Land klar, in dem man geboren wurde, dessen Sprache die eigene ist, auf das man stolz sein soll – und das einem ständig signalisiert, man solle dorthin abhauen, wo man (angeblich) herkam?
Ayad Akhtar, 1970 in New York geboren, hat bisher vier Theaterstücke, mehrere Drehbücher und zwei Romane geschrieben. 2016 war er der meistgespielte Dramatiker der Vereinigten Staaten. Für „Disgraced“, sein erstes Stück vom Jahr 2012, bekam er den begehrten Pulitzer-Preis für Theater. Das Bühnenstück erzählt von einem Essen, bei dem vier New Yorker – ein nicht praktizierender muslimischer Anwalt pakistanischer Herkunft namens Amir, seine Frau, eine weiße Künstlerin, eine afroamerikanische Anwältin und ein jüdischer Kunsthändler – sich über Religion unterhalten. Als Amir irgendwann beichtet, er hätte am 11. September einen „Hauch von Stolz“ verspürt, eskaliert die Diskussion. Seine heikle Aussage wird dramatische Folgen haben. Spätere Stücke thematisieren die Rolle von Schulden als Grundlage der US-amerikanischen, ja der globalen Wirtschaft, oder die Spannung zwischen kapitalistischer Gier und islamistischem Fanatismus. Sein erster Roman „Himmelssucher“, erschienen 2012, erzählt von einem pakistanisch-amerikanischen Jungen und seinen religiösen und familiären Konflikten.
Die Frage danach, wie man sich zum Land verhält, das das eigene ist und einen gleichzeitig als Fremden sieht, verbirgt eine andere, fundamentale Fragestellung Akhtars: Was heißt eigentlich „wir“? Sie ist in „Disgraced“ besonders beklemmend. Als seine entsetzte Frau Amir fragt, worauf er denn am 11. September stolz war – „auf die Türme, die gefallen sind? Auf die Menschen, die getötet wurden?“ –, sagt er:„Darauf, dass wir endlich gewonnen haben“. „Wir?“, fragt sie. „Ich glaube“, antwortet Amir beschämt, „ich habe vergessen welches 'wir' ich war“. Jetzt hallt in „Homeland Elegien“ das Unbehagen wieder. „Ich war“, erzählt Akhtar, „nachdem ich über vierzig Jahre in Amerika gelebt hatte, noch immer bereit, mich als 'anders' zu betrachten“. Später entscheidet er, damit aufzuhören, „so zu tun, als fühlte ich mich als Amerikaner“.
„Homeland Elegien“, ist, wie jeder großartiger Roman, vieles gleichzeitig: Eine intelligente und kurzweilige Coming-of-Age-Geschichte von einem, der langsam versteht, wie er selbst, aber auch sein Land, ticken – auch im Bezug auf das Sexuelle, wovon Akhtar unverblümt und mit einem genialen Sinn fürs Komische erzählt; die spannende literarische Veranschaulichung von „Trumps Triumph“ als „Schleifung aller Bollwerke gegen jenes Streben nach gottgefälligem Reichtum, das offenbar die einzige verbliebene amerikanische Leidenschaft ist“; eine beinahe essayistische Auseinandersetzung mit Themen wie den falschen Versprechen der US-Ökonomie, Edward W. Saids Orientalismus, Freuds Traumdeutung oder dem Ende des Goldenen Zeitalters des Islams; ein Klagegedicht – wie schon der Titel des Romans es offenbart – über den Tod eines Traumes, der auch Akhtars war: von der Einzig- und Großartigkeit der Vereinigten Staaten.
Vor allem ist der Roman – wie es ja jede „Great American Novel“ zu sein hat – eine raffinierte und herrlich geschriebene Erkundung der „Gefühle und Verhaltensweisen“, die in den letzten Jahren emporgekommen sind, sich entzündet und erhärtet haben und nun die „Seele“ eines zerrissenen Landes bestimmen, die, wie es eine wichtige Protagonistin des Romans formuliert, sich selbst plündert. Jene Emotionen werden – unabhängig davon, was an diesem 3. November geschieht – selbstverständlich die Zukunft der Vereinigten Staaten, mit alle ihren verschiedenen Identitätskrisen, weiter gestalten. Wer „Homeland Elegien“ liest wird ein Stück weit besser verstehen, wie es dazu kommen konnte.
Hernán D. Caro
Ayad Akhtar: „Homeland Elegien“. Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren. Claassen-Verlag, 464 Seiten, 24 Euro
Nun, es kam anders. Ein Besuch im sogenannten „Dschungel“ von Calais – dem berüchtigten Flüchtlingscamp in Nordfrankreich, das 2016 offiziell geräumt wurde doch noch als menschenunwürdige Parallelwelt und weiteres Zeichen europäischer Gleichgültigkeit fortlebt – brachte Pitts dazu, seinen Ansatz zu überdenken. Beim Verlassen des Lagers verstand er plötzlich, was es bedeutet, „drinnen“ zu sein: ein geschützter europäischer Bürger zu sein, einen begehrten Pass zu besitzen, diese Hölle in Calais überhaupt besuchen und wieder verlassen zu können. Die Erfahrung weckte bei Pitts, der als Sohn eines Afroamerikaners und einer weißen Engländerin in der Arbeiterstadt Sheffield in Nordengland geboren wurde, aber auch Erinnerungen an die Momente, wo er selbst sich „draußen“ gefühlt hat. Zum Beispiel am jährlichen Gedenktag für die Gefallenen der Weltkriege in Großbritannien, wo er immer wieder von Nationalisten, „das Gesicht rot vor Wut und Rassismus“, zu hören bekommt, er solle „dahin zurück, wo ich herkam“. Seine Hautfarbe, schreibt Pitts, verbirgt noch heute für viele sein „Europäischsein“. „Europäisch“ ist ja immer noch, ungeachtet der Diversität, die im Kontinent zu erleben ist, ein Synonym für „weiß“. [...]
Das ist eine fesselnde und entsetzliche Geschichte. In „Harte Jahre“ ist sie aber nur die Einleitung zum eigentlichen Thema des Romans: der schamlosen Zerlegung der demokratisch gewählten, progressiven Regierung von Jacobo Árbenz Guzmán in Guatemala in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Nachdem Árbenz begonnen hatte, eine Agrarreform durchzuführen, inszenierte das Unternehmen gemeinsam mit der US-Regierung eine Propagandakampagne, bei der der Präsident – der davon träumte, sein Land „so demokratisch wie die USA“ zu machen – fälschlicherweise als Kommunist dargestellt wurde. Die Strategie gelang: 1954 setzte die CIA Árbenz' Regierung ab und tauschte sie gegen eine wirtschaftsfreundliche Militärdiktatur aus.
Die Folgen des Putsches reichen bis heute: ab 1960 herrschte in Guatemala fast vierzig Jahre lang Bürgerkrieg. Dieser kostete 200.000 Personen, unter ihnen unzähligen Indigenen, das Leben und schaffte über eine Million Flüchtlinge. Heute ist das Land eines der ärmsten Lateinamerikas. „Harte Jahre“ erzählt die Vorgeschichte des Krieges. Doch im Buch geht es nicht nur darum. Der Roman, der in Lateinamerika mit Begeisterung rezipiert wurde und in Guatemala für Unruhe sorgte, gehört zu dem Genre, das Vargas Llosa, noch einer der prominentesten Autoren und überhaupt Intellektuellen der spanischsprachigen Welt, wie kaum ein anderer seiner Zeitgenossen beherrscht: die große lateinamerikanische Tragödie.
[...]
Diese Zeiten, in denen es einem Wunder glich, wenn Vertreter sogenannter „Minderheiten“ im Fernsehen auftauchten, sind zum Glück vorbei. Zumindest in den Vereinigten Staaten, wo die Bewegung hin zu einer stärkeren Diversität in Fernseh- und Kinoproduktionen inzwischen unaufhaltsam ist. Die Zahlen des „Hollywood Diversity Report“, erstellt von der University of California in Los Angeles (UCLA), scheinen das zu belegen: Demnach betrug der Anteil ethnischer Minderheiten an Filmhauptrollen im Jahr 2019 27,6 Prozent. Das ist immer noch eine bescheidene Zahl, wenn man bedenkt, dass diese Minderheiten bald die Hälfte der amerikanischen Bevölkerung ausmachen werden. Aber noch 2011 waren es nur 10,5 Prozent gewesen. Im Fall weiblicher Hauptrollen ist der Anteil im gleichen Zeitraum von 25,6 sogar auf 44,1 Prozent gestiegen.
Was das bedeutet, kann man derzeit nirgendwo deutlicher sehen als auf Netflix. Innerhalb von zehn Jahren ist der amerikanische Streamingdienst zum Vorreiter und Leitbild dessen geworden, was Diversität auf dem Bildschirm bedeuten kann. Als „Orange Is The New Black“, eine der ersten Netflix-Produktionen überhaupt, im Jahr 2013 Premiere feierte, wirkte diese Serie über die Schicksale sehr unterschiedlicher Insassen eines Frauengefängnisses wie eine Fernsehrevolution. Heute, mit Serien wie „Glow“ über ein weibliches amerikanisches Wrestlingteam, oder den „Telefonistinnen“, einer spanischen Produktion über die Angestellten einer Telekommunikationsfirma in Madrid der zwanziger Jahre, sind solche Figuren zum Standard im Programm geworden.
[...]
Diversität ist das eigentliche Geschäftsmodell von Netflix – ob das nun eine schlaue Marketing-Strategie eines Unternehmens ist, das sich altruistisch geben will, oder nicht. Mit knapp 169 Millionen Abonnenten in mehr als 190 Ländern (Ausnahmen sind China, Nordkorea, Syrien und die Krim) beschreibt sich Netflix selbst als „globales Unternehmen mit einer vielfältigen Mitgliederbasis“.
Dies wirkt sich offenbar auch auf die Unternehmensstruktur aus: Laut eigenen Angaben sind 49 Prozent aller Netflix-Beschäftigten auf der ganzen Welt weiblich, in den Vereinigten Staaten gehören 53 Prozent ethnischen Minderheiten an. Nachdem der damalige Kommunikationschef Jonathan Friedland wegen rassistischer Äußerungen im Jahr 2018 gefeuert wurde, schaffte Netflix die Führungsposition „Vice President for Inclusion Strategy“, die zurzeit von der afroamerikanischen Beraterin Verna Myers besetzt ist. Und die sich, in ihren eigenen Worten, der Förderung von „kultureller Vielfalt, Inklusion und Fairness in allen Aspekten der weltweiten Geschäftstätigkeit“ des Unternehmens widmet.
Doch auch das Streaming-Angebot selbst zielt darauf, den Unternehmensansprüchen zu entsprechen. Einerseits setzt Netflix darauf, in all seinen Märkten einheimische Produktionen auf den Weg zu bringen. Andererseits sollen diese Produktionen dann aber „globale Perspektiven, globale Geschichten“ spiegeln. Wer auf der ganzen Welt nach neuer Kundschaft sucht, muss halt Inhalte produzieren, die sowohl diese Welt selbst, aber eben auch die Lebenserfahrungen dieser neuen Kundschaft reflektieren. Dabei erschließt sich Netflix, wie es eben im Lehrbuch für marktwirtschaftliche Diversifizierung steht, zwar immer speziellere Zielgruppen, aber eben immer mit Geschichten, die von universellem Interesse sind: Gerade startete etwa die Comedy-Drama-Serie „Gentefied“, in der drei mexikanisch-amerikanische Cousins in Los Angeles nicht nur für den Taco-Shop ihres Großvaters kämpfen – sondern eben auch gegen eine weltweit bekannte Gentrifizierung.
[...]
Aber der wachsende Einfluss von Netflix wühlt auch die deutsche Unterhaltungsindustrie langsam auf. Was nicht immer angenehm ist: Kreative und Produktionsfirmen freuen sich zwar über die Zunahme an Projekten, die angesichts der Reichweite eine weltweite Aufmerksamkeit versprechen. Sie berichten aber auch von stark verkürzten Entwicklungszeiten, von harten Verhandlungen um die Rechte. Gleichzeitig gibt Netflix auch seinen deutschen Produktionsfirmen, den Autorinnen und Autoren klar vor, Serien und Filme divers zu besetzen. Es könne also gut sein, dass der Druck des Streamingdienstes die Inklusion in der deutschen Fernseh- und Filmindustrie vorantreibt. Es gäbe dabei – und das ist der Witz – ja nichts zu verlieren. Denn man erschlösse sich damit ein größeres Publikum, das im Moment nicht einschaltet, weil es sich nicht sieht.
Natürlich sind auch bei Netflix nicht alle Fragen der Inklusion gelöst. Wie der eingangs erwähnte Bericht der UCLA betont, sind Frauen und Minderheiten bei Regie und Drehbuch nach wie vor stark unterrepräsentiert. Und im Vorstand des Unternehmens sitzt eine Mehrheit weißer Männer: verblüffend, angesichts der lautstark erklärten guten Vorsätze des Unternehmens, angesichts der internen Schulungen, die Produktionsteams auf der ganzen Welt in Sachen Umgang und Wortwahl von Netflix erhalten, das extra dafür Personal auf die Sets schickt. Auch Kampagnen wie „Weil sie es angesehen hat“ – eine von Frauen kuratierte Auswahl von Serien und Filmen, die Netflix dieses Jahr am Frauentag präsentierte – ändern daran erst mal nichts.
Und doch kann man es nur begrüßen, wenn ein Unterhaltungsunternehmen es schafft, seinem Publikum vor Augen zu führen, dass die Welt tatsächlich vielfältig ist. Dann ist es auch hoffentlich bald wirklich „für alle“ kein Wunder mehr, Leute auf dem Bildschirm zu sehen, die so aussehen wie die Leute davor.