Germanistische Studien VII (2009) 87–98
SPRACHE, KULTUR UND IDENTITÄT
(Die Autobiographie von Arthur Holitscher im Spiegel des
politischen und sprachlichen Assimilationsprozesses)
Noémi Kordics
Ja, man lebte unter einem magyarischen Volk und fühlte und sprach deutsch.
Besser gesagt: man sprach deutsch und fühlte nichtmagyarisch. Außerdem lebte
man ja, ob man wollte oder nicht, im ‚Galuth’, dem Exil, und das Wirtsvolk gab
es einem zu verstehen, dass man geduldet, und zwar mit ungeduldiger, zuweilen
versagender Nachsicht geduldet war.1
Mit diesen Worten charakterisiert der in Ungarn geborene Schriftsteller jüdischer Herkunft, Arthur Holitscher (1869–1941) in seiner Lebenserinnerung nicht
nur seine eigene Situation als Mitglied der deutschen Sprachgemeinschaft bzw.
des deutschsprachigen Judentums in Ungarn, sondern auch die Situation des
Judentums innerhalb der angestrebten politischen und sprachlichen Assimilation
in Ungarn überhaupt. Holitscher spricht in diesem Zitat über die Problematik der
Doppelidentität und eigentlich über die Situation seiner Generation und definiert
diese existentielle Lage als Exil, wobei das Wort
für Rand-Existenz steht.
Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, die Problematik des Sprachgebrauchs und
dessen identitätsbildenden Charakter anhand der Lebenserinnerungen des
Schriftstellers Arthur Holitscher aus soziolinguistischer Sicht zu untersuchen.
Als Textgrundlagen werden die autobiographischen Werke des Autors „Lebensgeschichte eines Rebellen“ (1924) und „Mein Leben in dieser Zeit“ (1928) verwendet.2
Holitschers Autobiographie setzt sich intensiv mit den verschiedenen Aspekten der politischen und sprachlichen Assimilation der deutschen Sprachgemeinschaft in Ungarn in der Periode zwischen dem österreichisch-ungarischen Ausgleich (1867) und der Auflösung der österreichisch-ungarischen Monarchie
(1918) auseinander.
Exil
1
2
Holitscher, Arthur: Lebensgeschichte eines Rebellen. Meine Erinnerungen. Berlin: S. Fischer
Verlag, 1924, S. 65.
Ebd. (= Anm. 1); Ders.: Mein Leben in dieser Zeit. Der „Lebensgeschichte eines Rebellen“
zweiter Band (1907-1925). Potsdam: Gustav Kiepenheuer Verlag, 1928.
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Kultur- und gesellschaftsgeschichtliche Prämissen der
Assimilation
Die Periode zwischen 1867–1918 bestimmt Péter Maitz als Höhepunkt des
deutsch-ungarischen Sprachkonflikts, indem er diese Zeitperiode als die Epoche
der Radikalisierung und des Abschlusses der Sprachkonfliktssituation in Ungarn
betrachtet.3 Wenn wir in dieser Periode (1867–1918) über eine deutsche Sprachgemeinschaft in Ungarn sprechen, dann müssen wir auch unbedingt die Zusammensetzung dieser Sprachgemeinschaft klären: Diese deutsche Sprachgemeinschaft wurde durch eine sehr starke Heterogenität geprägt und setzte sich aus
zwei Schichten zusammen: die deutsche Minderheit (das tatsächlich deutschstämmige Stadtbürgertum) und die jüdische Minderheit (die auch zu diesem
Bürgertum gehörte).
Wenn man die Entwicklung der absoluten Zahl deutscher Muttersprachler in
der Hauptstadt Budapest im 19. Jahrhundert näher in Betracht zieht, wird es
eindeutig, dass der nationalitätenmäßige Assimilationsprozess, vor allem in den
Großstädten, tatsächlich mit einer raschen sprachlichen Assimilation parallel
ablief. Die absolute Zahl der Personen, die bei den Volkszählungen Deutsch als
Muttersprache angegeben haben, ging zwischen 1880 und 1920 um mehr als die
Hälfte zurück. Diese Entwicklungsdynamik bedeutet, dass ein Bruch in der
Sprachkontinuität zu beobachten ist, weil sich die heranwachsenden Generationen (wie die Familie Holitscher auch) zunehmend zur ungarischen Muttersprache bekannt hatten.4 In dieser Hinsicht ist die Situation der ungarischen Hauptstadt besonders repräsentativ: 1856 war der Anteil der deutschen bzw. deutschsprachigen Bevölkerung mit 56,4 % der Gesamtbevölkerung (86.000 Einwohner) noch der größte, wobei die Ungarn mit 36,6% (57.000) zahlenmäßig in der
Minderheit waren. Die Statistik von 1890 zeigt bei einer Einwohnerzahl von
506.000 Personen in der Hauptstadt Budapest einen deutlichen Zuwachs der
ungarischen Bevölkerung (67,1%) auf und einen Rückgang des deutschen Anteils auf unter ein Viertel (23,7%) der Gesamteinwohner.5
Obwohl in diesen Statistiken der jüdische Anteil weder unter dem ungarischen, noch unter dem deutschen gesondert aufgeführt wird, bringen Untersuchungen bezüglich des Judentums in Ungarn eine ähnliche Proportion der Ver3
Maitz, Péter: Sprachverhalten im Sprachkonflikt. Ein sozialpsychologisches Erklärungsmodell
für den deutsch-ungarischen Sprachkonflikt in der Donaumonarchie (1867–1918). Debrecen,
2002, S. 9. [Dissertation].
4
Vgl. Fónagy, Zoltán: A budapesti németek lélekszáma a 19-20. században. [Die Zahl der Deutschen in Budapest im 19–20. Jahrhundert] In: Hambuch, Vendel (Hg.): Németek Budapesten.
Budapest: Fővárosi Német Kisebbségi Önkormányzat, 1998, S. 76–80.
5
Hanák, Péter: Urbanisation und Assimilation in Budapest in der Epoche des Dualismus. In:
Deutsche in Budapest. Zusammengestellt v. Wendelin Hambuch. Budapest: Deutscher Kulturverein, 1999, S. 94–101.
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teilung der hauptstädtischen Juden hinsichtlich ihrer Erst-Sprache zutage: 1890
gaben drei Viertel, um die Jahrhundertwende bereits 85% der Juden in Budapest
das Ungarische als Muttersprache an.6
Die oben schon genannten historischen Zäsuren, die Jahre 1867 und 1918,
stehen hier als markante Wendepunkte eines Prozesses, der sich aber schon mehrere Jahrzehnte früher meldete und einige Jahrzehnte später noch seinen Einfluss
ausgeübt hatte. Diese zwei Zäsuren sind uns jedoch aus der Perspektive der Untersuchung insoweit wichtig, dass sie die Problematik des politischen und damit
eng verbunden sprachlichen Assimilationsprozesses eingrenzen.
Das erste Datum, das Jahr 1867, das Jahr des Ausgleichs zwischen Ungarn
und Österreich, bedeutete nach dem von den Habsburgern unterdrückten Freiheitskampf von 1848-49 das zweite und wichtigste Ereignis, mit dem jene gesellschaftlichen Prozesse einsetzten, die die Weltanschauung der im Karpatenbecken lebenden Menschen, ihre Literatur und Kultur, aber auch ihren Sprachgebrauch weitgehend mitbestimmt hatten. In diesem Jahr gewann Ungarn seine
Autonomie zurück. Nach den Jahrzehnten des kaiserlichen Absolutismus hat
Ungarn in diesem Zeitraum seine Autonomie mit eigener Regierung, eigenem
Parlament und mit eigenem König wieder erkämpft. Das bedeutete, dass das
ungarische Element in allen Bereichen des Lebens eine immer stärkere Bedeutung gewann. Damit eng verbunden wurde die ungarische Sprache als Sprache
des Landes anerkannt, und in diesem Sinne wurde die deutsche Sprache immer
häufiger als Sprache der nationalen Unterdrückung gesehen und erfuhr zu Gunsten des Ungarischen ein starkes soziales Stigma. Obwohl das Deutsche in Ungarn eine alte Tradition hatte, setzte der Assimilationsprozess mit großen Schritten ein. Diese Konfliktsituationen innerhalb der ungarischen Gesellschaft, die
aus mehreren Ethnien zusammengesetzt war, führten in der Eile der Selbstdefinition des Ungarntums als Nation zum Nationalitätenkonflikt. Die Selbstdefinition
als Nation bedeutete für das ungarische Volk einen Gewinn, aber einen Wertverlust für die anderen Ethnien. Diese mussten ganz radikale Verluste in ihrem nationalen Charakter, ihrer Sprache, Kultur und Identität erleiden. Die politische
Entspannung brachte zweifelsohne eine schnelle gesellschaftliche und kulturelle
Entwicklung mit sich. Träger dieser Entwicklung war der ungarische Staat und
als Repräsentant dieser staatlichen Macht eine immer größer werdende Schicht
von ungarischen Intellektuellen.
Es ist aber sehr interessant, dass die Antwort verschiedener Minderheiten
bzw. verschiedener Vertreter dieser Minderheiten auf diese sehr große Anziehungskraft sehr unterschiedlich ist. Diese maßgebende ungarische Schicht von
Kulturträgern forderte auch von Vertretern der Kulturen und Sprachen anderer
Nationen in Ungarn eine eindeutige nationale Identitätswahl.
6
Haber, Peter: Budapest. Eine kurze Einführung in die jüdische(n) Geschichte(n) der Stadt. In:
Ders. (Hg.): Jüdisches Städtebild Budapest. Berlin: Jüdischer Verlag, 1999, S. 7–44.
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Viele Literaten konnten und wollten diese Situation ausnutzen und sind heutzutage sowohl in der deutschsprachigen als auch in der ungarischen Literatur
bekannt und anerkannt. Es gibt aber eine Gruppe solcher jüdischstämmigen Intellektuellen, die ohne dieses Gruppen-Bewusstsein konsequent nur an der deutschen Kultur- und Literaturszene teilnehmen wollten. Zu dieser Gruppe gehört
eindeutig auch Arthur Holitscher, der, trotz seiner Kontakte zu den bedeutendsten Intellektuellen der ungarischen Kulturszene (z.B. Ignotus), eindeutig als
deutscher Schriftsteller bekannt sein wollte. Seine Antwort auf diese dynamische
kulturelle Entwicklung, auf die mögliche Karriere innerhalb dieses Kulturkreises
und auf eine aus dieser Situation resultierende Assimilation war eindeutig ablehnend. Über diesen Aspekt des Assimilationsprozesses und über den literatursoziologischen Strukturwandel schreibt Béla von Pukánszky folgendermaßen:
Die katholische und protestantische Geistlichkeit sowie das Bürgertum gehen
allmählich in dem Magyarentum auf und bedeuten für das deutsche Schrifttum
Ungarns keine neue Kraftquelle mehr. In ihre Stelle tritt einerseits der für deutsche Kultur und Literatur begeisterte ungarische Edelmann und Magnat, andererseits der vielseitige, gewandte aber auch etwas seichte Journalist – vorwiegend
jüdischer Abstammung. 7
Das deutschsprachige jüdische Bürgertum war einerseits bereit, die sprachlichen Assimilationstendenzen zu akzeptieren, die jüngere Generation erlernte
sehr schnell die Landessprache, die die offizielle Sprache des öffentlichen Lebens Ungarns war; andererseits aber erweist sich dieses Bürgertum als Bewahrer
der deutschen Sprache und Kultur. Diese jüdische Minderheit musste sich im
Laufe der Geschichte mehrmals assimilieren. Die jüdische Assimilation an die
deutsche Kultur hat eine lange Tradition in der gesamteuropäischen Geschichte
des Judentums. Nicht nur in Österreich-Ungarn, sondern grundsätzlich auf allen
Gebieten östlich Berlins wurde die deutsche Kultur „zum normativen Ausdruck
für Europäertum und Aufklärung“8 erklärt. Die Tatsache, dass das deutschsprachige Judentum Ungarns der ungarischen Assimilation entgegenstand, ist tief in
diesem starken Ausgerichtetsein der Juden auf die deutsche Kultur verwurzelt.
Die Juden unterstützen einerseits das Wachstum Ungarns, andererseits sprachen
sie zu Hause Deutsch und verliehen damit der ansonsten eher unter Xenophobie
leidenden Stadt einen Hauch von Kosmopolitentum.9 Diese Doppelidentität wird
7
Zitiert nach: Szász, Ferenc: Deutschsprachige Literatur 1850–1945. In: Deutsche in Budapest.
Zusammengestellt v. Wendelin Hambuch. Budapest: Deutscher Kulturverein, 1999, S. 395–407.,
hier: 395.
8
Wistrich, Robert S.: Die Juden Wiens im Zeitalter Kaiser Franz Josephs. Wien/Köln/Weimar:
Böhlau 1999, S. 3f.
9
Johnston, William M.: Österreichische Kultur- und Geistesgeschichte. Gesellschaft und Ideen im
Donauraum 1848–1938. Wien: Böhlau, 1992, S. 346.
Sprache, Kultur und Identität...
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am deutlichsten von Holitscher ausgedrückt: „Ja, man lebte unter einem magyarischen Volk und fühlte und sprach deutsch. Besser gesagt: man sprach deutsch
und fühlte nichtmagyarisch.“10
Ein Mittel der Assimilationspolitik war die für alle Bewohner des Landes gesetzlich bestimmte Einführung des obligatorischen Erlernens der ungarischen
Sprache, Geschichte, Literaturgeschichte usw. Péter Hanák hebt die Bedeutung
des staatlichen Schulwesens im Assimilationsprozess hervor:
Die Magyarisierung hing mit der schulischen Bildung, im besonderen der Vermittlung der Schreib- und Lesefähigkeiten eng zusammen. Der sich zwischen den
Generationen vollziehende Sprachwechsel kann also im Grunde mit der dynamischen Magyarisierung erklärt werden. Bei den Slowaken ist die Wahl leichter
verständlich, weil die ärmere und wenig gebildete Bevölkerung schon existentiell
für die Magyarisierung motiviert war. Die Deutschen nahmen es hinsichtlich
Wohlstand und Bildung mit den Ungarn auf und hatten die enormen deutschen
Hintergrund. In ihrem Fall sah man den Patriotismus als Haupttriebkraft der Assimilation, wenngleich bezweifelt wurde, ob die Vaterlandsliebe von Dauer sei,
ob die assimilierten Deutschen im Erwachsenenalter nicht zur alten kulturellen
Identität zurückkehren würden.11
Die Problematik der Assimilation in der Autobiographie
von Holitscher
Als Bürger des ungarischen Staates, als Intellektueller jüdischer Herkunft und
deutscher Muttersprache erlebte Holitscher die Problematik der Identität als
höchst kompliziert. Sein Leben gilt als anschauliches Beispiel für das Schicksal
vieler jüdischer Intellektueller, die in Ungarn, Budapest geboren sind und die
deutsche Sprache und Kultur als maßgeblich angesehen hatten. Zu dieser Gruppe
gehören u.a. Intellektuelle wie Theodor Herzl, Hugo Ignotus, Felix Salten, Arthur Koestler, Andreas Laczko usw. Wie Gábor Kerekes in seiner Studie „Geboren in Budapest“12 festgestellt hat, unterscheiden sich diese Autoren in der Hinsicht voneinander, dass einige von ihnen die eigene Situation / Doppelidentität
als Krise, die anderen als Chance gesehen und behandelt haben. Bei der Darstellung des Ungarnbildes in Budapest geborener Autoren der österreichischen Lite10
Holitscher: Lebensgeschichte eines Rebellen [= Anm. 1], S. 65.
Hanák, Péter: Urbanisation und Assimilation in Budapest in der Epoche des Dualismus. [=
Anm. 5], S. 100.
12
Kerekes, Gábor: Geboren in Budapest. Das Ungarnbild in Budapest geborener Autoren der
österreichischen Literatur der Jahrhundertwende und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. –
In: „[...] als hätte die Erde ein wenig die Lippen geöffnet [...].“ Topoi der Heimat und Identität.
Hg. v. Peter Plener und Peter Zalán. Budapest: Germanist. Inst. der ELTE, 1997 (= Budapester
Beiträge zur Germanistik 31), S. 137-158.
11
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ratur der Jahrhundertwende und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts behauptet
Kerekes, dass diese Autoren zwei separate Gruppen bilden: Die erste Gruppe
besteht aus solchen Autoren, die eine Heimat gefunden haben (Felix Salten,
Erwin Guido Kolbenheyer, Theodor Herzl, Max Nordau, Andreas Latzko), die
zweite aus solchen, die einfach als „Heimatlose“ bezeichnet werden können:
Arthur Koestler, Arthur Holitscher usw.
Mehrere Aufsätze über Holitscher setzten sich mit der Problematik der Identitätskrise dieser Autoren auseinander13, aber sie sind nur teilweise Holitscher
gewidmet, er wird als ein bedeutendes Mitglied dieses Autorenkreises erwähnt.
Die Aufsätze von Péter Varga schildern nicht nur die höchst problematische
Situation dieser Literaten und Künstler, sondern geben auch eine zeit- und kulturgeschichtliche Analyse der Problematik des Judenseins in Budapest an der
Jahrhundertwende. In den Aufsätzen „’Man sprach deutsch und fühlte nichtmagyarisch’. Assimilationsprozesse in der deutschen und jüdischen Bevölkerung
von Pest-Buda im 19. Jahrhundert“ und „Deutsch-jüdische Identitäten in Autobiografien ungarischer Juden des ausgehenden 19. Jahrhunderts“ schildert Varga
den Assimilationsprozess der Juden in Ungarn im Spiegel der autobiographischen Werke von Karl Goldmark, Julius Hay, Moritz Saphir und Arthur Holitscher.14 In einem anderen Aufsatz mit dem Titel „’Der Großpapa spricht mit
dem lieben Gott!’ Grenzerfahrungen einer Esseker Jüdin: Wilma von Vukelich“
behandelt Varga die Identitätsproblematik von Wilma Vukelich, die in ihrer
Autobiographie zum Ausdruck kommt. Typisch für diese ganze Generation war
die Tatsache, dass das Deutsche für sie „nicht nur eine einfache Verkehrssprache
[war], mit deren Hilfe man sich miteinander verständigen konnte, sondern zugleich eine Metasprache als Zeichen der Zugehörigkeit auch zu einer anderen,
gelegentlich als qualitativ höher empfundenen Kulturgemeinschaft.“15 In dieser
Analyse verwendet Varga die autobiographischen Werke von Holitscher und
Koestler als Kontrastmaterial.
13
Siehe dazu noch: Szász, Ferenc: Disszimiláció a magányba. Arthur Holitscher magyarországi
német író életútja a pesti virilista családtól a genfi szegényházig. [Manuskript]; Varga, Péter:
„Man sprach deutsch und fühlte nichtmagyarisch ...“ – Assimilationsprozesse in der deutschen
und jüdischen Bevölkerung von Pest-Buda im 19. Jahrhundert. In:
http://www.kakanien.ac.at/beitr/fallstudie/PVarga2 (Zugriff: 15.01.2007); Ders.: Deutschjüdische Identitäten in Autobiographien ungarischer Juden des ausgehenden 19. Jahrhunderts.
In: http://www.kakanien.ac.at/beitr/fallstudie/PVarga3.pdf (Zugriff: 15.01.2007).
14
Varga, Péter: „Man sprach deutsch und fühlte nichtmagyarisch ...“. Assimilationsprozesse in der
deutschen und jüdischen Bevölkerung von Pest-Buda im 19. Jahrhundert. In:
http://www.kakanien.ac.at/beitr/fallstudie/PVarga2 (Zugriff am 15. 01. 2007.); Ders.: Deutschjüdische Identitäten in Autobiographien ungarischer Juden des ausgehenden 19. Jahrhunderts.
In: http://www.kakanien.ac.at/beitr/fallstudie/PVarga3.pdf (Zugriff am 15. 01. 2007).
15
Varga, Péter: „Der Großpapa spricht mit dem lieben Gott!“ Grenzerfahrungen einer Esseker
Jüdin: Wilma von Vukelich. In: http://www.kakanien.ac.at/beitr/fallstudie/PVarga1.pdf (Zugriff
am 15. 01. 2007), S. 4.
Sprache, Kultur und Identität...
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Holitscher berichtet im zweiten Band seiner Lebenserinnerungen im Kapitel
„Die Familie um die Lebenswende“ über die Folgen der ungarischen Assimilationspolitik folgendermaßen:
Die Assimilation der Juden an die christlich-magyarische Bevölkerung, die bald
nach dem Ritualmord-Prozess von Tisza-Eszlár eingesetzt hatte, war mächtig angewachsen. Nicht nur in Sachen der Glaubengemeinschaft hatten sich die Jungen,
die vor dem alten Rabbiner Kayserling vorbeizogen, den herrschenden Sitten angepasst. Leopolds jüngerer Sohn hatte in den kleinen ungarischen Landadel hineingeheiratet, die Tochter eines Gentry aus dem Orte, neben dem das väterliche
Gut lag, geehelicht, war dann geadelt und ins Abgeordnetenhaus gewählt worden,
wo er sich als getreuer Mameluk der Tisza-Regierung betätigte. […] Im Übrigen
hatten die meisten aus der Generation nach mir den Erwerbsinn ihrer Väter geerbt
und verstanden es, die Patriziertradition auch durch Verheiratung mit Angehörigen, wenn auch nicht gerade der entsprechenden Gesellschaftsschicht, aus der
Christenheit aufrecht zu erhalten.16
Im Fall von Arthur Holitscher können wir über eine totale Negation der Bestrebungen einer sprachlichen Assimilation sprechen. Mehr noch steht Holitscher auch in dieser Hinsicht dem Wunsch seiner Familie, sich (auch) sprachlich
zu assimilieren, heftig entgegen. Die sprachliche Assimilation geht Hand in
Hand mit der Konvertierung vom jüdischen zum katholischen Glauben. Lieber
wählte Holitscher aber (als „Rebell“, siehe Titel der Autobiographie) das Wanderleben, als sich dem Assimilationsprozess preiszugeben. Er ging gleich nach
dem Abitur ins Ausland und kehrte nur noch gelegentlich nach Ungarn zurück.
Neben Holitscher haben noch andere ehemalige Schüler des Evangelischen
Gymnasiums (einige auch gute Freunde von Holitscher) nach dem Abitur Ungarn verlassen, u.a. der 18-jährige Theodor Herzl, der mit seiner Familie nach
Wien zog. Obwohl Herzl (im Unterschied zu Holitscher) fließend ungarisch
sprach und auch mit der ungarischen Literatur vertraut war, wurde er nie zum
richtigen ungarischen Patrioten.
Die Wahl der Schule im Fall der Familie Holitscher ist repräsentativ für das
ganze deutschsprachige jüdische Bürgertum. Einerseits sollten die Kinder dieser
Familien in diesem Prozess der sprachlichen Assimilation die ungarische Sprache erlernen und sie sehr gut beherrschen, andererseits aber möchten diese Familien auch die deutsche Sprache und Kultur bewahren. Diese Kinder gerieten
dann in eine akute Identitätskrise. Das Festhalten ihrer Eltern an der deutschen
Sprache und Kultur im Familienbereich und das Erlernen der ungarischen Sprache in der Schule führten in vielen Fällen zur Isolation.
16
Holitscher, Arthur: Mein Leben in dieser Zeit. Der „Lebensgeschichte eines Rebellen“ zweiter
Band (1907–1925). Potsdam: Gustav Kiepenheuer Verlag, 1928, S. 33–34.
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Holitschers Eltern wählten wegen der ungarischen Unterrichtssprache das
Piaristengymnasium für ihr Kind. In diesem Gymnasium blieb das Kind Holitscher nur ein Jahr. Über diese Wahl der Eltern, die der damaligen Mode unter
den jüdischen bürgerlichen Familien folgte, und über die Atmosphäre in dieser
Schule schreibt der erwachsene Schriftsteller in seiner Lebenserinnerung wie
folgt:
Ins Evangelische Gymnasium am Deákplatz kam ich erst, nachdem ich das erste
Jahr bei den Piaristen abgesessen und abgebüßt hatte. Es war damals Mode unter
den jüdischen ‚Patrizierfamilien’, dass sie ihre Söhne zu den Vätern des PiaristenOrdens in die Schule schickten. Meine Eltern wollten die Mode mitmachen. Bei
den Piaristen musste man, ohne Rücksicht auf das eigene Glaubensbekenntnis —
unter den sechzig Schülern der ersten Klasse gab’s nur etwa sechs Juden, keinen
Lutheraner — vor Beginn des Unterrichts das Gebet hersagen. Ging die Tür auf
und es erschien zum Beispiel der feiste Pater Pane, so schrien die Sechzig im
Chor: ‚Gelobt sei Jesus Christus!’ wobei der sadistische Fettwanst seine funkelnden Äuglein auf die paar Judenjungen gerichtet hielt, die zur besseren Kontrolle
in die erste Bank gesetzt worden waren.17
Nach einem Jahr also lernte das Kind im Evangelischen Gymnasium weiter,
wohin (trotz der ungarischen Unterrichtssprache) wegen seines betont deutschen
Charakters und der liberalen Atmosphäre die Kinder der jüdischen Familien
geschickt wurden. Arthur Holitscher besuchte das Gymnasium von 1880 bis
1887. Er beschreibt die Atmosphäre dieses Gymnasiums in seiner Lebenserinnerung wie folgt:
Im Evangelischen Gymnasium überwogen die Söhne der ‚Patrizierfamilien’ jüdischen Ursprungs die Schüler evangelischen Glaubens; Söhne von Bankdirektoren, Großkaufleuten und gesuchten Rechtsanwälten. Die Lehrer waren Zipser
Sachsen. Manch einer unter ihnen — alle hatten gut deutsche Namen — sprach
die ungarische Unterrichtssprache mit einem fremdartigen, leicht schwäbelnden
Akzent. […] Der Grund, weshalb wir ins Evangelische Gymnasium geschickt
wurden war ja gerade der betont deutsche Charakter der Schule. 18
Er beschreibt in seiner Autobiographie die Assimilationspolitik und die daraus resultierende Atmosphäre im Budapest seiner Kindheit folgendermaßen:
In der Schule war die Umwandlung, die Ungarn durchmachte, mit jedem Jahr
deutlicher wahrzunehmen. Schulkameraden, die vor zwei Monaten noch mit gut
oder minder gut klingenden deutschen Namen aufgerufen worden waren, stellen
sich plötzlich mit ungarischen vor, die sie für geringes Geld aus dem Namen17
18
Holitscher: Lebensgeschichte eines Rebellen [= Anm. 1], S. 26.
Ebd., S. 27.
Sprache, Kultur und Identität...
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schatz der ältesten geschichtlichen Adelsgeschlechter erworben hatten. Der einzige merkbare Unterschied bestand in der Endung, sie durften bei Magyarisierten
nicht y, sondern nur i sein.19
Die Kinder begannen sofort mit der Diskriminierung solcher Mitschüler
(darunter auch Holitscher), deren Familien sich nicht assimilieren wollten, oder
sich noch nicht assimiliert hatten und dem ungarischen Nationalbewusstsein
nicht folgen wollten:
Du warst in Österreich? Hörte ich missbilligend fragen, – wir waren am Plattensee oder auf der Pussta – oder in der Hohen Tatra! – in Ungarn auf alle Fälle! Besuchte man Kollegen, so hörte man: ihre Eltern sprachen, wenn auch nicht fehlerfrei, doch ungarisch miteinander.20
Holitscher spricht sehr sarkastisch über diese rasche Anlehnung an die neuen
„modisch gewordenen“ Äußerlichkeiten:
Die Assimilation an die christlich-magyarische Umwelt wurde, ganz abgesehen
von den positiven gesellschaftlichen Vorteilen, die sie in den geistigen Berufen
eröffnete, als ein Element des Fortschritts angesehen etwa wie der Übergang von
der Pferdebahn zur elektrischen Tramway, von der Petroleumlampe zum Auerlicht, der sich zur gleichen Zeit vollzog.21
Die Frage des Eigenen und des Fremden spielt eine wichtige Rolle im Leben
von Holitscher. Alles was eigenes war, bedeutete nicht das Ungarische, sondern
das Jüdische und das Deutsche. Er lernte in der Schule natürlich die ungarische
Literatur und Geschichte kennen, aber alles, was nicht Ungarisch war, blieb ihm
in einem exotischen Abstand fern. Inmitten des Assimilationsprozesses hielt er
sich fern von der ungarischen Kultur. Er sieht Ungarn als ein Exotikum an, er
verwendet in seinen Lebenserinnerungen zwar die typischen ungarischen Wörter
z. B.
, er beschreibt die Wochenmärkte usw., aber nur als
komische, exotische Erscheinungen einer Kultur, die ihm im Prinzip lebenslang
fremd blieb.
Er sieht das Ghetto am Ende des Dorfes St. Emerich als ein Ort, wo endlich
alles scheinbar in Ordnung war, wo die Zugehörigkeit deutlich geworden war.
Obwohl die Familie Holitscher nicht im Ghetto wohnte, bedeutete die Kommukulacs, pálinka, lángos
19
20
21
Ebd., S. 75.
Ebd., S. 75-76.
Ebd., S. 76.
96
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nikation, so erinnert sich Holitscher, keine Schwierigkeit, denn „wir gehörten ja
im Grunde zur selben großen Familie”.22
Die Zusammengehörigkeit wurde im Ghetto gestärkt:
Aber es gab im Ghetto nicht nur merkwürdige Dinge zu sehen, sondern noch
merkwürdigere zu hören. Und sie betrafen zumeist diese Frage unserer Zusammengehörigkeit. Wenn Herr Kohn, der Obsthändler, oder Herr Teitelbaum, der
Schächter, oder Frau Meisels von den Bewohnern des Dorfes sprachen, sagten
sie: ‚die Gojim’ und diese Bezeichnung hatte etwas Wegwerfendes. Einmal sagte
jemand: ‚Wir hier sind doch die einzigen Menschen im Dorf, die wirklich Bildung haben!’ daß man Deutsch sprach, dass selten oder nie ein betrunkener Jude
durch die Strasse torkelnd gesehen worden war, das galt den Ghettobewohnern
als Beweis dafür, dass sie im Besitz der Kultur waren und nicht die ‚Gojim’.23
Schon als Kind empfand Holitscher seine Situation im Kreis der anderen
Schüler, die entweder Ungarisch als Muttersprache hatten oder sich schon assimilierten, sehr kompliziert. Holitscher hatte in seiner Klasse noch zwei Kameraden, deren Muttersprache Deutsch war, sie schlossen einen Bund und lebten fast
isoliert in der Gemeinschaft der Klasse. Diese kleine Gruppe trug den Namen
„die deutsche Insel“, wobei die Benennung eigentlich die Identitätsschwierigkeiten, Doppelidentität und meistens selbst gewählte Außenseiterrolle dieser Schüler mit jüdischer Herkunft in Ungarn symbolisierte. Die „deutsche Insel“ ist als
eine Art selbst gewählter, imaginärer Exilort zu betrachten:
Diese Insel bestand aus mir, meinem aus Pressburg stammenden Nachbarn zur
Linken, Richard R., und meinem aus Wien stammenden Nachbarn zur Rechten
[…] Wir drei hatten uns in einer der vordersten Bänke in der Ecke bei der Tür
niedergelassen und sprachen und verständigten uns zumeist in deutscher Sprache,
zum Ärger der meisten Mitschüler.24
Die deutsche Sprache funktioniert hier als bewusstes Abgrenzungsmittel innerhalb der Gemeinschaft der ungarisch sprechenden Mitschüler, aber auch als
eine typische Verhaltensweise (Protest), die auch als Sprachverhaltensentscheidung der untergeordneten Sprachgemeinschaft im Verlauf des Sprachkonflikts
gesteuert wird.
Das Evangelische Gymnasium sicherte zwar eine gute Bildung, aber es bedeutete für Holitscher den Ort, wo er an seine Außenseiter-Rolle immer wieder
erinnert wurde, was eine noch höhere Mauer zwischen den Schülern jüdischer
Herkunft und den ungarischen Schülern errichtete. Diese Situation schildert
22
23
24
Ebd., S. 24.
Ebd., S. 24.
Ebd., S. 39.
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jedoch auch die Atmosphäre in Ungarn, aber auch in Mitteleuropa. Die jüdischen Patrizierfamilien der Zeit hatten Deutsch als Muttersprache, hatten die
deutsche Kultur, insbesondere die österreichische zum Vorbild und Maßstab der
Zivilisation in Europa erkoren.
Holitscher beschreibt in dem zweiten Kapitel („Schulbank“) des ersten Bandes seiner Lebenserinnerung das Schulsystem in Ungarn. Am Anfang dieses
Kapitels wird es eindeutig, dass das Volksschulgesetz den Assimilationsprozess
sehr stark unterstützt:
Im übrigen konzentrierte sich der Unterricht in den Fächern Geschichte und Literatur, gemäß den Anordnungen des Unterrichtsministeriums, hartnäckig auf Ungarn. Die Geschichte Ungarns wurde auf dem Prokrustesbett eines vieljährigen
Pensums so lang gedehnt und in die Breite gewalzt, bis sie das nötige Maß erfüllt
hatte, und die ungarische Literatur musste derart aufgebauscht werden, dass die
Schüler auch die geringsten Talente des ungarischen Parnasses als vollwertige
und ausgewachsene Klassiker zu achten genötigt waren.25
Der junge Holitscher sprach aber nur wenig und mit vielen Fehlern Ungarisch, diese deutsch-ungarische Doppelsprachigkeit belastete ihn:
Oft, wenn ich aufgerufen wurde, musste ich meine Antwort aus dem Deutschen
ins Ungarische förmlich übersetzen. Ich gab fremdartig formulierte Antworten
und wurde vom Lehrer zur Rede gestellt. Auch ‚träumte’ ich, wie ich mich entsinne, deutsch.26
Holitscher schrieb stolz in seinem ersten autobiographischen Werk darüber,
dass seine Familie ein gepflegtes Deutsch, die Standardsprache sprach:
Es wurde in der ganzen Familie ausschließlich Deutsch gesprochen, und zwar
nicht das üble, verdorbene Deutsch, das man sonst in Pest zu hören bekam. Die
ältere Generation erlernte die Landessprache bis ins hohen Alter nicht, während
die jüngere sich im Laufe der politischen Begebenheiten auch sprachlich rasch
assimilierte.27
Aus diesem Zitat resultiert eindeutig, dass mit dem Verlust der deutschen
Sprache, die eine identitätsstiftende Rolle für die Juden in Ungarn (aber überhaupt im Mitteleuropa) besaß, durch die sprachliche Assimilation also, die
Selbstdefinition der Assimilierten immer schwieriger geworden war. Er konfrontiert sich auch mit dem Problem der Assimilation der Juden in Ungarn, gerade in
25
26
27
Ebd., S. 28.
Ebd., S. 39.
Ebd., S. 26.
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seiner Familie begann er auch in dieser Hinsicht ein Außenseiter zu werden. Er
wollte sich der Assimilation nicht preisgeben, deswegen wählte er das
und die
Nicht nur die deutsche Sprache, sondern auch die damit verbundene Kultur
war für die deutsche Sprachgemeinschaft, für das Budapester (aber nicht nur)
Städtebürgertum sehr entscheidend. Ein wichtiger Orientierungspunkt war für
das Kind und später für den erwachsenen Holitscher das Kulturleben Wiens und
überhaupt Österreichs. Diese Orientierung der Familie Holitscher an Österreich
(Wien als Hauptstadt der Monarchie) spiegelt jedoch die kulturelle Orientierung
des deutschsprachigen Bürgertums jüdischer Herkunft in Ungarn wider, aber
auch des ursprünglich deutschsprachigen Städtebürgertums: „In Dingen des
Deutschtums war man vollständig von Wien beeinflusst; man wusste von
Deutschland nur, was man in Wiener Zeitungen las, und kannte von Deutschland
nur München, weil es auf dem Wege nach Paris lag.“28
Pendelle-
ben
28
Ebd., S. 71.
Pendelidentität.