Glossar
Muße
Tobias Keiling
Deinitionsversuche des Begriffs ‚Muße‘ sind eher selten. Das mag mit der
Schwierigkeit zusammenhängen, ein komplexes Phänomen wie das der Muße
allgemeingültig zu beschreiben. Aber es gibt unzählige andere solcher Phänomene, für die das auch gilt, bei denen aber umso öfter versucht wurde, sie
begrilich zu bestimmen oder durch eine Deinition zu erfassen. Einträge zu
Begriffen wie ‚Staat‘, ‚Kunst‘ oder ‚Freiheit‘ dürfen in keinem enzyklopädischen Wissensbestand fehlen. Bei ‚Muße‘ ist das anders. Unter den vier großen
deutschen Konversationslexika des 19. Jahrhunderts – dem Brockhaus, Pierers,
Herders und Meyers Lexika – inden sich nur in zweien entsprechende Einträge
(von denen einer offenkundig ein Plagiat ist).
Den Anfang der modernen Konversationslexika macht 1809 der Brockhaus.
Seitdem erscheinen sie in kurzer Folge und werden innerhalb weniger Jahre
wiederaufgelegt. Sucht man nach einem Eintrag zu ‚Muße‘ wird man jedoch
erst in der vierten Aulage von Pierer’s Universal-Lexikon der Gegenwart und
Vergangenheit (1857) fündig. Einem der, wie es im Titelblatt heißt, „mehr als 300“
daran beteiligten „Gelehrten“ ist die folgende Deinition von Muße zu verdanken:
Muße, Befreiung von Geschäften und Lebenszerstreuungen, denen man aus
äußeren conventionellen Rücksichten, od. auch zur Folge einer moralischen
Obliegenheit, od. auch eines äußeren Zwanges, sich nicht entziehen kann,
bes. in so fern die dadurch verliehene Gedankenfreiheit zur Sammlung des
Geistes für einen bestimmten, reellen Lebenszweck u. zu einem der eigenen
Neigung zusagenden Geschäft benutzt wird.
Die Formulierung ist kompliziert, aber auch genau. Wie es sich für eine Enzyklopädie gehört, verbietet sie sich die ausschweifende Beschreibung oder die
aphoristische Verkürzung. Es gibt aber auch keine gelehrten Hinweise auf die
Geistesgeschichte, auf die erstmalige Nennung des Begriffs oder auf seine Etymologie. Die Erläuterung ist eher vom Wunsch nach überzeitlicher Gültigkeit und
nach Präzision getragen und deshalb sollen nicht unnötig viele Worte verloren
werden. Der philosophische Anspruch verbindet sich mit einer Sprache, die
jener ähnelt, welche Gesetzes- oder Urteilstexten den Spott einträgt, ‚Juristendeutsch‘ zu sein. Sieht man aber von der hyperbolisch gedrängten Form einmal
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ab und macht sich die Mühe, die Bestimmungen aufzuschlüsseln, dann sind
sie durchaus substantiell. Denn sie machen darauf aufmerksam, dass Muße
etwas mit Freiheit zu tun hat. Muße ist „Befreiung“, und ist man durch Muße
befreit, dann verleiht sie „Gedankenfreiheit“. Negativ ist Muße damit Freiheit
von Arbeit („Geschäften“) ebenso wie von sinnfreien Freizeitbeschäftigungen
(„Lebenszerstreuungen“). Positiv ermöglicht Muße eine „Sammlung des Geistes“. Drei verschiedene Bereiche stellen für sich genommen durchaus legitime
Einschränkungen der eigenen Freiheit dar, die „äußeren conventionellen
Rücksichten“, moralische Plichten oder auch „äußerer Zwang“. Diesen von
außen kommenden Verplichtungen kann man sich nicht entziehen. Dennoch
geschieht eine unwahrscheinliche Befreiung von ihnen gerade in der Muße.
Die positive Seite der Muße ist nicht einfach das Spiegelbild der negativen.
Dies wird schon darin deutlich, dass die positive Erläuterung mit der (wohl
tatsächlich in der juristischen Sprache beheimateten) Formel „besonders insofern“ eingeleitet wird. Was diese genau meint, ist schwer zu sagen. Aber offenkundig impliziert sie, dass Muße nicht nur dann vorliegt, wenn auch das positive
Kriterium für Muße erfüllt ist. Das, was dann folgt, die positive Beschreibung
der Muße als Freiheitserfahrung, ist eher so etwas wie ein exemplarischer Fall
von Muße. Das heißt konkret: Wenn Muße Gedankenfreiheit verleiht, dann
erfüllt diese sich auch in Träumereien, im geistreichen Nichtstun. Aber sie
erfüllt sich „besonders“ dann, wenn (oder „insofern“) sie zu einer „Sammlung
des Geistes“ führt.
Als geistige Sammlung ist die positive Seite der Befreiung von äußeren Zwängen
und „Lebenszerstreuungen“ die Konzentration auf das Innere. Aber bei dieser
darf es nicht bleiben, soll die Muße nicht zu bloßer Besinnlichkeit werden. Daher
wird eine weitere Abgrenzung und Präzisierung nötig, um den exemplarischen
Fall der Muße zu bestimmen: Die freie „Sammlung des Geistes“ geschieht „für
einen bestimmten, reellen Lebenszweck“, die Gedankenfreiheit wird „zu einem
der eigenen Neigung zusagenden Geschäft benutzt“. Mit der geistigen Sammlung
kehrt die Geschäftigkeit zu „reellen“ Zwecken also wieder. Aber das geschäftige
Tun ist nun eines geworden, das der eigenen Neigung zusagt und dem eigenen
„Lebenszweck“ dient. Was Lebenszweck ist, entspricht jetzt auch der eigenen
Neigung. Jedes Individuum eignet sich in der Muße das eigene Tun also als etwas an, das ihm oder ihr nicht als etwas letztlich Fremdes, als Zerstreuung und
bloße Geschäftigkeit gegenübersteht, sondern zu ihm oder ihr gehört und den
individuellen Präferenzen auch tatsächlich entspricht. Die geistige Sammlung,
die in der Muße als negative Freiheit möglich wurde, wird in einer Verwirklichung der wirklich eigenen Absichten realisiert.
Muße ist demnach nicht einfach Einkehr nach Innen, keine Träumerei oder
private Besinnlichkeit. Findet man sich von jenen alltäglichen, sozialen oder
moralischen Plichten befreit, denen man sich normalerweise nicht entziehen
kann, dann führt die Möglichkeit der Einkehr zu einer veränderten Rückkehr
in das Tätigsein. Muße ist damit eher so etwas wie die Möglichkeit einer Richtungsänderung, die durch eine Befreiung im Geiste, im Denken geschieht. In
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diesem anderen Tun liegt auch ein Gewinn individueller Freiheit und deshalb
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der exemplarische Fall von Muße. Hält man sich nur an die negative Seite der
Muße, bleibt die eigene Freiheit richtungslos. Erst in einem mußevollen Tun
realisiert sich das Freiheitsversprechen der Muße.
Drei Jahre nach der Veröffentlichung dieses Artikels erscheint jener Band aus
Meyers Konversations-Lexikon für alle Stände, der in den genannten Lexika den
zweiten Artikel über Muße enthält. Der Autor übernimmt, aber verkürzt die
Deinition aus Pierer’s Lexikon. Besonders die Bestimmung der positiven Seite
der Muße scheint den Autor jedoch gestört zu haben. Sie nimmt eine ganz andere
Wendung, wenn Muße dem Müßiggang gegenübergestellt wird:
Muße, Freiheit von Geschäften und anderen Obliegenheiten, doch mit der
näheren Bestimmung, daß diese Freiheit nicht müßiggängerisch mißbraucht,
sondern zur Sammlung des Geistes, zur Hinrichtung der Gedanken auf
einen bestimmten Lebenszweck oder zu einer der individuellen Neigung
zusagenden, reellen Thätigkeit benutzt werde.
Stellte der Autor im Pierer auf das emanzipatorische Potential der Muße ab,
wird dieses hier einer rigiden Kontrolle unterworfen. Die positive Beschreibung
von Muße wird zu einer Zweckbestimmung aufgewertet, die zu einem wesentlichen Kriterium für Muße wird: Die „Freiheit von Geschäften und anderen
Obliegenheiten“ erfüllt sich nicht in manchen Formen weniger und in anderen
in „besonderer“ Weise, sondern sie hat genau eine Form, deren „nähere Bestimmung“ durch den Gegensatz zum „müßiggängerischen“ Missbrauch geschieht.
Muße gibt es nur als Überwindung des Müßiggangs. Müßiggang dagegen ist
aller Laster Anfang – auch in Meyers Konversations-Lexikon.
Nach der Deinition in Pierer’s ist Muße ein Freiraum, den jeder nutzen vermag,
in dem das eigene Tun als selbstbestimmt erfahren werden kann. Genau dieser
Freiraum wird in der späteren Beschreibung aber als durch den Müßiggang
bedroht dargestellt, der unbedingt zu vermeiden sei. Die zwar komplexe, aber
offene erste Bestimmung wird durch den Kontrastbegriff des Müßiggangs festgelegt und mit einer Wertung belegt, die wieder eindeutig moralischen Charakter
hat. Dass jene Normen, denen die Muße hier unterworfen wird, wirklich solche
sind, die Muße deinieren, wäre zu zeigen.
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