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Franz Bockrath
Die Macht der Bilder - Vom sinnlichen Eindruck zum symbolischen Ausdruck
(erschienen in: Jürgen Schwier (Hg.): Jugend–Sport–Kultur. Zeichen und Codes jugendlicher Sportszenen.
Hamburg: Czwalina 1998, S. 139-148).
Es mag einerseits vertraut, andererseits aber auch etwas ungewöhnlich erscheinen, Bilder und
Macht in einen direkten Zusammenhang zu stellen. Dieser Zwiespalt rührt vermutlich daher,
daß zwar die Art der Verwendung von Bildern gewöhnlich als Machtfaktor erkannt wird; ihre
jeweilige „immanente Bedeutung“ bleibt jedoch, so scheint es, diesem äußeren Zugriff
entzogen. Zwischen dem reinen, symbolischen Gehalt und seinen sozialen
Verwendungsweisen wäre demnach zu unterscheiden. Demgegenüber wird hier die
Auffassung vertreten, daß Bedeutungen nicht an -oder - für - sich gültig sind, sondern nur im
Rahmen ihrer jeweiligen Funktion und Zwecksetzung verständlich werden. Die Macht der
Bilder soll im folgenden zunächst auf ihre soziale Logik zurückgeführt werden, die eine Logik
der Verschleierung ist.
1. Manipulation - Illusion - Geheimnis
Beim manipulativen Einsatz von Bildern, etwa in der Werbung, bleibt ihr funktionaler Aspekt
bewußt ausgeblendet, damit er seine soziale Wirkung überhaupt entfalten kann. Die
angestrebte Verkaufsabsicht verschwindet hinter der Fassade der angebotenen Gegenstände,
die erst dadurch einen vermeintlich objektiven Gebrauchswert erhalten. Die vermittelten
Botschaften erwecken den Anschein, als ob reine oder essentielle Eigenschaften der
dargestellten Produkte wiedergeben würden. Bilder erscheinen als getreue Abbilder ihrer
Bedeutungen, insofern sie dem Betrachter nur das veranschaulichen, was sie selbst darstellen.
Ähnlich wie in einem Spiegel, der auch nur das zeigt, was „der Fall ist“, entsteht der Eindruck,
daß die Dinge so wiedergegeben werden, wie sie „an sich“ sind. Ihre ökonomische Bedeutung,
die den Tauschwertcharakter miteinschließt, wird zugunsten ihrer illusionären Vorstellung
und Vermarktung zurückgestellt.
Doch bereits auf physiologischer Ebene gerät der vermeintlich bruchlose Zusammenhang von
Darstellung und Dargestelltem an eine Grenze, da unsere Wahrnehmung Täuschungen
unterliegt. So bildet beispielsweise ein Spiegel nicht einfach ab, wie soeben unterstellt,
sondern stellt spiegelbildlich dar, - ein Phänomen, das insbesondere in der bildenden Kunst
für sogenannte paradoxe beziehungsweise verfremdete Motivdarstellungen genutzt wird.
[Folie Magritte: Verbotene Reproduktion, 1937]
Im Unterschied zur Werbung, wo manipulative Darstellungsformen ausschließlich zur
Produktaufwertung eingesetzt werden, kommt es hier zu einer bewußten Aufdeckung des
illusionären Bildcharakters. Dieser entlarvt sich als Stilmittel und spielerisches Element in der
Darstellung selbst, das heißt der Betrachter wird verwirrt, nicht jedoch hintergangen. Die
Macht der Bilder wird in diesem Werk von Magritte exemplarisch verdeutlicht und zugleich
entwertet, da sie ihren illusionären Charakter offenbart. Die Fiktion ist offensichtlich. Indem
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der Künstler seine Absicht veranschaulicht, wird die Unmöglichkeit der Darstellung wieder in
die Realität zurückgeholt. Die Täuschung erscheint in aufklärerischer Absicht, die den
Betrachter als Betrachter einbezieht.i
Nun ist auch beim manipulativen Einsatz von Bildern ihre soziale beziehungsweise
ökonomische Funktion keineswegs unbekannt. Wer das Werbeplakat einer politischen Partei
oder eines Unternehmens betrachtet, weiß natürlich, welchem Zweck es dient. Allerdings, und
darin liegt der Unterschied zu Magrittes Kunstwerk, erscheint diese Zwecksetzung nicht auch
in bildhafter Form. Die Illusion wird nicht entschleiert, sondern perpetuiert, indem nur die
halbe Wahrheit ausgesagt wird. Andernfalls würde sie sich, wie bei Magritte, selbst entblößen.
Die Täuschung erfolgt in der Regel unter stillschweigender Zustimmung der Rezipienten, die
sich vermutlich gerne vom schönen Schein beeinflussen lassen. Die Macht der Bilder beruht
also auf einem „offenen Geheimnis“, das um so besser zu hüten ist, je weniger es offenbart
wird. Da die manipulative Funktion der Bilder allgemein bekannt ist, muß sie nicht erst
geleugnet werden, um ihre Wirkung zu entfalten. Im Gegenteil: wir glauben, was wir sehen,
weil wir vor allem das sehen, was wir glauben. Der Betrachter „weiß“ also um die Täuschung,
ohne daß von ihm verlangt wird, sie auch zu begreifen. Je sicherer er sich dabei wähnt, desto
nachhaltiger gelingt die Manipulation.
Folgt man dieser Auffassung, so sind es nicht nur die jeweiligen sozialen Verwendungsweisen,
die die Macht beziehungsweise den Symbolgehalt von Bildern begründen. Bereits die Art
präsentativer Darstellungsformen erscheint in besonderer Weise geeignet, die menschliche
Phantasie anzuregen und entsprechende Bedürfnisse zu bedienen. Bilder stellen immer mehr
dar, als sie tatsächlich darstellen. Dieses „Mehr“ bezieht sich zwar auf die sinnliche
Wahrnehmung als notwendigen Ausgangspunkt, es endet jedoch in der aktiven Deutung des
Betrachters, der sich schließlich ein „eigenes Bild macht“. Indem Bilder sich selbst
repräsentieren, verweisen sie zugleich auf etwas anderes, das seinen Ort außerhalb des
sinnlich Wahrnehmbaren hat. Der „Doppelcharakter“ von Bildern liegt darin begründet, daß
sie dieses Andere zwar evozieren, ohne sich jedoch darauf festzulegen. Bezeichnet wird
zunächst nur das sinnlich Wahrnehmbare, und nur dieses erscheint evident. Weitere
Bedeutungsaspekte, die insbesondere das Verhältnis von Bild und Betrachter betreffen,
bleiben dagegen „im Verborgenen“, was zur Folge hat, daß sie um so nachhaltiger wirken. ii
Versucht man, unsere bisherigen Überlegungen zusammenzufassen, so läßt sich die Macht
der Bilder auf die Verschleierung objektiver (sozialer) beziehungsweise subjektiver
(persönlicher) Verwendungsweisen und Zwecksetzungen zurückführen. Wie bei einer
Momentaufnahme, die scheinbar zufällig, zeitlos und ohne Zweck einen Ausschnitt der
Realität wiedergibt, entsteht der Eindruck, als würde das bildlich Dargestellte nur sich selbst
zitieren. Wichtig für das Verständnis ist jedoch gerade das, was in der unmittelbaren
sinnlichen Wahrnehmung nicht aufgeht, weil es diese übersteigt. In der Kunst spricht man in
diesem Zusammenhang vom „Geheimnis der symbolischen Formen“ (vgl. CASSIRER 1994, Bd.
III, 3), während wir bislang vom „illusionären Charakter“ ausgingen, der nach unserer
Einschätzung besser geeignet ist, um den hier herausgestellten manipulativen Einfluß von
Bildern zu verdeutlichen. Doch gleich, welche Terminologie man auch wählt: für beide Begriffe
gilt in gleicher Weise, daß das Nicht - Gesagte oder Gezeigte dem Bezeichneten
beziehungsweise Dargestellten erst seine ganze Bedeutung verleiht.
2. Illusionen und Geheimnisse - formal und inhaltlich betrachtet
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Auffällig für den Sport wie auch für andere sogenannte „Mythen des Alltags“iii ist, daß er Bilder
produziert, die wie ein Faktensystem gelesen werden, obgleich sie tatsächlich ein
semiologisches System darstellen. Dieser Zusammenhang läßt sich wiederum an einem
Beispiel verdeutlichen:
[Folie: Riefenstahl, Fest der Schönheit, 1936]
Reduziert man die Deutung des Bildes zunächst auf seine deskriptiven beziehungsweise
faktischen Merkmale, so erkennt man eine große, in regelmäßigen Linien aufgereihte
Ansammlung von Sportlern, die unter der Olympischen Flagge Freiübungen ausführen.
Begreift man dieses Foto als ein „erweitertes semiologisches System“ (BARTHES 1970, 95), so
sind die zu beschreibenden Formen, Linien, Oberflächen und Farben zu ergänzen durch
weitere Deutungsaspekte, die auf diesen wahrnehmbaren Merkmalen beruhen, ohne jedoch
in ihnen aufzugehen. Die militaristische Anordnung der Sportler, die den einzelnen in der
Masse verschwinden läßt, solange er sich dem Gleichklang der Bewegungen anpaßt,
veranschaulicht recht deutlich den totalitären Charakter der Darbietung. Im Mittelpunkt steht
die homogen auftretende „Sportlergemeinschaft“, in der der einzelne Teil einer großen Zahl
Gleichgeordneter beziehungsweise Gleichgesonnener ist.
Die individuellen Körper
verschwinden, das heißt sie treten ausschließlich als „Gesamtformation“ in Erscheinung. Die
olympische Flagge im Vordergrund, die selbst schon ein erweitertes semiologisches System
darstellt, insofern sie stellvertretend für die Fortschrittsideen der olympischen Bewegung
steht, gibt der Massenaufführung eine zusätzliche, spezifische Bedeutung. Indem die Fahne
die machtvolle Demonstration von Geschlossenheit und Disziplin überragt, wird der Eindruck
erweckt, als gäbe es einen direkten Zusammenhang zwischen der soldatischen
Körperinszenierung und dem olympischen Symbol. Offen bleibt jedoch, wie dieser
Zusammenhang zu deuten ist. So ist nicht sichtbar, ob die Massenveranstaltung durch die
olympische Flagge symbolisch aufgewertet werden soll, oder ob umgekehrt das olympische
Symbol seine besondere Bedeutung erst durch die spezielle Form der Darbietung erhält. Doch
auch hier gilt, daß im Zweifelsfalle der Glaube an die Stelle der Gewißheit tritt. Die beiden
Bildelemente scheinen wie selbstverständlich miteinander vereint, weil sie
zusammenhängend wahrgenommen werden. Dagegen bleibt die Frage nach der Art ihrer
Verbindung schon deshalb ungestellt, weil ihre mögliche Beantwortung Erfahrungsbezüge
voraussetzt, die - in der Sprache Kants - „Kategorien des Verstandes“ beinhalten, also
bewußtes Nachdenken erfordern.
An diesem Beispiel wird zweierlei deutlich: Einerseits entsteht der Eindruck, als ob das
Dargestellte durch das Bild bereits vollständig präsentiert würde. Dafür spricht zunächst, daß
jeder Betrachter die Möglichkeit hat, sämtliche Darstellungs- und Erscheinungsformen
wahrzunehmen und nachzuvollziehen. Andererseits enthalten Bilder jedoch auch
verschlüsselte Bedeutungen und Botschaften, die nicht auf ihre faktischen Bedingungen
reduzierbar sind. Werden diese Botschaften nicht weiter hinterfragt oder, wie bei Magritte,
eigens zum Thema gemacht, kann sich der Betrachter zwar auf die vermeintliche Sicherheit
und Vollständigkeit seiner sinnlichen Wahrnehmung zurückziehen. Ihm bleibt jedoch
verborgen, daß er eben nicht nur wahrnimmt, sondern immer auch deutet - und zwar auch
dann, wenn er vorgegebene und geschickt inszenierte Deutungsangebote einfach übernimmt.
Die Unterstellung einer einfachen, voraussetzungslosen oder „reinen“ Wahrnehmung
unterliegt also einer Illusion, die um so nachhaltiger wirkt, je unvermittelter und
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selbstverständlicher sie auftritt. Doch was im Bild scheinbar problemlos nebeneinander steht,
erweist sich bei genauerem Hinsehen als weitaus „sperriger“, weil es eben nicht nur
zusammenhängend wahrgenommen, sondern notwendigerweise auch im Zusammenhang
gedeutet wird.iv
Will man das „Verborgene“ entschlüsseln, so ist es unerläßlich, auch auf das Nicht - Gezeigte
näher einzugehen. Es gehört zu den Verdiensten von Barthes, daß er an ganz
unterschiedlichen Beispielen aufzeigt und kritisiert, wie Bedeutungen als quasi natürliche
Eigenschaften der untersuchten Zeichen selbst verstanden werden (vgl. u.a. BARTHES 1970;
1985; 1987). Die Zusammenfügung von Bildern und Begriffen, also etwa die Verbindung von
olympischer Symbolik und Körperarrangement in unserem Beispiel, zeichnet sich dadurch aus,
daß die beiden bestimmenden Bildelemente in der beschriebenen Weise aufeinander
bezogen werden. Für sich, daß heißt als einzelne, beschreibbare Merkmale, verkörpern sie
einen anderen Sinngehalt. Im Sinne von Barthes bleibt dieser Gehalt gebunden an konkrete
Eigenschaften, beispielsweise an den Zeitpunkt und Ort der Inszenierung oder an die
Geschichten der dargestellten Personen. Von derartigen situativen Besonderheiten und
Bedeutungen wird jedoch weitgehend abstrahiert, wenn ein Bild als übergeordnetes Zeichen
interpretiert wird.v Erst dadurch ist es überhaupt möglich, daß allgemeine, scheinbar
überdauernde Bedeutungen mit dem Dargestellten in Verbindung gebracht werden. Der Blick
für einen „olympischen Totalitarismus“ eröffnet sich schließlich nur dann, wenn die
aufgezeigte Verbindung der beiden Bildelemente gerade nicht als zufällig oder einzigartig
begriffen wird.
So gesehen, sind mindestens zwei Bedeutungsebenen voneinander zu unterscheiden. Auf der
ersten Ebene, dem sogenannten primären semiologischen System, werden situativ
bedeutsame Sinngehalte präsentiert, die auf der zweiten Ebene, dem sekundären
semiologischen System, zu verallgemeinerten Zeichen zusammengefaßt werden (vgl.
BARTHES 1970, 93).vi Der Zusammenhang zwischen den beiden Systemen besteht darin, daß
das erste System gleichsam das Material abgibt für die Bedeutungsbestimmung im zweiten.
Dementsprechend fällt das nachfolgende System notwendigerweise abstrakter aus.als das
vorangehende. Barthes nennt noch weitere Beziehungen und Zusammenhänge, die zwischen
den unterschiedlichen Bedeutungsebenen existieren.vii Sie sollen hier nicht weiter ausgeführt
werden. Stattdessen bleibt festzuhalten, daß seine strukturale Analyse nichtsprachlicher
Zeichensysteme zwar die Erkenntnis begründet, wonach die untersuchten Gegenstände nicht
naiv als das aufzufassen sind, was sie zu bedeuten vorgeben. Allerdings, und darin liegt eine
wichtige Einschränkung, orientiert er sich dabei primär an der Frage, wie Bedeutungen
zugewiesen werden, die schließlich als quasi natürliche Eigenschaften der Zeichen erscheinen.
Barthes selbst führt dazu aus, er untersuche „Ideen - in Form“ (vgl. 1970, 90). Neben der
formalen Analyse, die die Frage nach der Bedeutung oder dem Sinn ihrer Gegenstände
beantwortet, indem sie die referentiellen und strukturalen Beziehungen zwischen den
Signifikanten untersucht, bleibt jedoch auch zu klären, nach welchen inhaltlichen Mustern
Bedeutungszuweisungen erfolgen.
Wendet man also den Blick wieder stärker den Bedeutungsinhalten zu, so hat es zunächst den
Anschein, als ob jeder Anspruch, allgemeingültige Aussagen treffen zu können, von vornherein
aufzugeben wäre, da Bilder wie auch andere symbolische Gegenstände nur spezifische
Bedeutungen zum Ausdruck bringen. Die formale Analyse - im Sinne von Barthes - versucht
diesem Umstand dadurch gerecht zu werden, daß sie die untersuchten Inhalte als prinzipiell
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austauschbare Materialien semiologischer Systeme auffaßt, um zu verallgemeinerbaren
Ergebnissen zu gelangen. Begreift man hingegen den Prozeß der Bedeutungsbestimmung
selbst als ein bedeutungskonstituierendes Ereignis, bei dem die zu erkennenden Gegenstände
in ihrer jeweiligen Substanz erst hervorzubringen sind, ist es durchaus möglich, den
semiologischen Gehalt dieses Vorganges primär unter inhaltsbezogenen Aspekten zu
analysieren. So geht beispielsweise Cassirer davon aus, daß der kategorisierende Verstand
nicht einfach einem bereits „an sich“ vorgegebenen Material seine allgemeinen Formen
aufprägt, sondern daß umgekehrt im Akt der Bedeutungszuweisung („Symbolisierung“) die
jeweilige Besonderheit dieses Materials erst entsteht und erkennbar ist.
Bei diesem Prozeß der Symbolisierung kommt es nach Cassirer zu einem Zusammenspiel von
zwei gegenläufigen Tendenzen: auf der einen Seite, in der Phase des „sinnlichen Ausdrucks“
beziehungsweise des „Wahrnehmungsbewußtseins“, sind die Zeichen mit dem bezeichneten
Gegenstand und dessen Bedeutung noch eng verbunden (vgl. 1994, Bd. III, 68 ff.). Die dabei
verwendete Sprache ist dementsprechend durchsetzt mit Bildern, Metaphern und anderen
mimischen Ausdrucksformen. Auf der anderen Seite, in der Phase der „begrifflichen
Erschließung“ theoretischer und letztlich rein mathematischer Zusammenhänge, werden
Bedeutungszuweisungen zunehmend abstrakt (vgl. 1994, Bd. III, 329 ff.). Die verwendeten
Zeichen und sprachlichen Ausdrücke lösen sich immer stärker von ihren konkreten
Bedingungen und stofflichen Voraussetzungen, bis sie schließlich zum rein logischen
„Ordnungszeichen“ (vgl. 1994, Bd. III, 389) werden.viii Cassirer sieht in diesem Prozeß der
„Entstofflichung“ einen Zuwachs an Freiheit, der allerdings einen hohen Preis fordert: „Von
dem konkreten Anschauungs- und Gefühlsgehalt, vom lebendigen Körper scheint zuletzt
(nämlich in der Wissenschaft) nichts anderes als das bloße Gerippe übrig zu bleiben.“ (1956,
157) ix
Anders als bei Barthes, der Zeichen und Bedeutungen zunächst formal bestimmt, indem er
ihren jeweiligen Gehalt nach strukturalen Merkmalen auflöst, verweist Cassirer auf den
gemeinsamen geistigen Ursprung symbolischer Formen. Wichtig ist für uns der Hinweis auf
die unterschiedlichen Abstraktionsebenen der symbolischen Vergegenständlichungen. Die
Tendenz einer zunehmenden Ablösung der Zeichen und Bedeutungen von ihren
anschaulichen Bedingungen bestimmt insbesondere die Gesamtrichtung der symbolischen
Formbildung in Mythos, Sprache, Wissenschaft und Kunst. x Doch auch innerhalb dieser
einzelnen symbolischen Welten kommt es nach Cassirer zu entsprechenden Ablösungen
beziehungsweise „Objektivierungen“(vgl. dazu 1994, Bd. 3, 66): die Bilderfeindlichkeit
monotheistischer Religionen, die sich gleichwohl niemals vollständig von ihren mythischen
Grundlagen lösen, ist hierfür ebenso ein Beispiel wie die zunehmende Dekonstruktion
anschaulicher Formen etwa in der bildenden Kunst. Die Vorstellung vom „objektiven
Bedeutungsgehalt“ (vgl. 1994, Bd. 3, 46) entfaltet sich für Cassirer nach und nach in den
verschiedenen symbolischen Welten und durch sie hindurch. Und obgleich die Unterschiede
zwischen diesen Welten bestehen bleiben, stimmen sie doch in der Richtung ihrer
„theoretischen Formbildung“ (vgl. 1994, Bd. 3, 48) überein.
Bezogen auf unsere Ausgangsfrage nach der Macht der Bilder bedeutet dies, daß auch
konkrete Symbole wie beispielsweise bildliche Darstellungen danach zu untersuchen sind,
inwieweit sie - in der Sprache Cassirers - „theoretische Formen“ beziehungsweise allgemeine
Ideen zum Ausdruck bringen. Bilder wirken nämlich in ganz unterschiedlicher Weise auf den
menschlichen Verstand, durch den sie überhaupt erst in ihrer theoretischen beziehungsweise
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symbolischen Bedeutung erkannt werden. Es bleibt also zu klären, in welcher Weise die hier
so genannten Illusionen und Geheimnisse durch unterschiedliche Voraussetzungen in der
Bildwahrnehmung und -deutung beeinflußt werden. Nach dem bisher Gesagten ist davon
auszugehen, daß diese Unterschiede nicht nur zufällg bestimmt sind.
3. Die Macht der Bilder als Ergebnis unterschiedlicher Wahrnehmungen
Kehren wir nochmals zu unseren beiden Bildbeispielen zurück, so ist daran zu erinneren, daß
ihre jeweilige Bedeutung nur scheinbar unmittelbar gegeben ist, tatsächlich jedoch einen
mehr oder weniger bewußten Akt der Deutung voraussetzt. Die sinnliche Wahrnehmung wird
zum symbolischen Ausdruck erst dadurch, daß sie nach allgemeinen, begrifflichen Merkmalen
geordnet wird.xi Dieser Vorgang wird allerdings durch ganz unterschiedliche Anforderungen
bestimmt. Jede Bedeutungsfestlegung - unabhängig davon, ob sie durch den Urheber eines
Bildes oder seitens eines Rezipienten erfolgt -, setzt eine gewisse Kenntnis der Umstände
voraus, nach denen Zeichen und Symbole jeweils bestimmt werden. Der politische Mißbrauch
symbolischer Bedeutungsträger, wie in unserem Beispiel die olympische Flagge, gelingt nur
dann, wenn zumindest eine vage Vorstellung über den durch sie repräsentierten
Bedeutungsgehalt besteht. Andernfalls wäre es nicht möglich, den „fortschrittlichen
Charakter“ der in Wahrheit reaktionären Massendarbietung zu erkennen. Dabei ist es nicht
erforderlich, daß die repräsentierten Bedeutungsgehalte explizit bekannt sind. Im Gegenteil:
je stärker sie auf im psychologischen Sinne unbewußte beziehungsweise gefühlsmäßig
bestimmte Wahrnehmungsmuster wirken, desto nachhaltiger ist auch ihr Einfluß. Und in
diesem Sinne scheinen Bilder besonders geeignet für den Ausdruck von Ideen, die sich - nach
S. Langer - „der sprachlichen ‘Projektion’ widersetzen.“xii
Doch dies gilt nicht generell für Bilder in gleicher Weise. Wie am Beispiel von Magritte deutlich
wird, klärt sich ihr Bedeutungsgehalt mitunter erst, wenn sie als Ausdruck unbekannter sowie
gedanklich herzustellender Bezüge begriffen werden. Die ungewöhnliche Darstellung des
Mannes im Spiegel fordert den Betrachter geradezu heraus, die allgemeine Idee
beziehungsweise - mit den Worten Cassirers - die „theoretische Formbildung“ am Beipiel ihrer
sinnlichen Veranschaulichung zu erkennen. So wird bei Magritte die sinnliche Wahrnehmung
dadurch zum symbolischen Ausdruck, daß die widersprüchliche Darstellung als eine
Darstellung des Widerspruches begriffen wird. Erst die gedankliche Erschließung des
Bedeutungsgehalts ermöglicht hier also das Verständnis des Bildes selbst. Hinzu kommt, daß
eine werkimmanente Deutung oftmals nicht ausreicht, um ein Bild zu verstehen. Da
insbesondere Bilder der Kunst auf Bedeutungen abzielen, die vertraute, alltagsweltliche
Maßstäbe aufheben und verändern, bedarf es in der Regel zusätzlicher Informationen, um
ihren Symbolgehalt zu entschüsseln. Die kunstkritische Betrachtung bedient sich hierbei
besonderer stilistischer Gliederungsformen, die es ihr erleichtern, verschiedene Kunststile
und Gattungen miteinander zu vergleichen. Allgemeine Merkmale wie Künstler, Schule,
Epoche, Stil, Thema etc. gehören hier zu den „Umständen“, nach denen Zeichen und Symbole
bestimmt werden.xiii
Die erforderlichen Kenntnisse zur Beurteilung eines Bildes variieren demnach beträchtlich. Die
Macht der Bilder bewegt sich dabei in dem Spannungsbogen zwischen vermeintlicher
sinnlicher Gewißheit einerseits sowie begrifflicher Abstraktheit andererseits.xiv Wichtig für
gegenständliche Bilder wie beispielsweise sportbezogene Darstellungen ist, daß für ihr
Verständnis weniger abstrakte oder theoretische Formelemente als vielmehr lebensweltlich
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bestimmte und praxisbezogene Vorerfahrungen wichtig sind. Wer nachempfinden kann, wie
eine sportliche Leistung entsteht, scheint bereits ausreichend vorbereitet, um entsprechende
Bilder zu verstehen. Das Nicht - Gezeigte beziehungsweise Gesagte erschließt sich hier vor
dem Hintergrund erlebter und im eigenen Körper verinnerlichter Erfahrungen. Die Bilder
werden zu einer „Sprache der Sinne“ (vgl. LANGER 1992, 100), die scheinbar unmittelbar
verständlich ist, da sie nicht den „Umweg“ über den Verstand gehen muß. Doch im Sinne
unserer bisherigen Ausführungen ist daran zu erinnern, daß dieser „Umweg“ auch dann
bedeutsam ist, wenn er nicht bewußt beschritten wird. Der konkrete Anschauungs- und
Gefühlsgehalt dieser Bilder erweist sich nicht selten als trügerisch, insofern er vom Betrachter
nur verlangt, vorgegebene Deutungsangebote zu übernehmen, anstatt „sich ein eigenes Bild
zu machen“. Letzteres scheint jedoch unverzichtbar, will man der vermeintlichen Einfachheit
der Bilder sowie ihrer mißbräuchlichen Verwendung etwas entgegensetzen. Das „abstrakte
Gerippe“ der Wissenschaft muß dabei nicht an die Stelle der konkreten Erfahrungen des
„lebendigen Körpers“ treten; es kann ihm aber den notwendigen Halt geben.
Die Aufgabe der Sportwissenschaft könnte darin bestehen, die scheinbar direkte Verarbeitung
visueller Formen im Sport sowie seiner Darstellungen zu entschlüsseln, um die Möglichkeiten
ihrer manipulativen Verwendung zu begreifen. Die Macht der Bilder würde dadurch nicht
aufgehoben; allerdings trüge ihr Verständnis dazu bei, ihr nicht blindlings ausgeliefert zu sein.
Literatur:
BARTHES, R.: Mythen des Alltags. Frankfurt/M. 1970.
BARTHES, R.: Die Sprache der Mode. Frankfurt/M. 1985.
BARTHES, R.: S/Z. Frankfurt/M. 1987.
BOSCHERT, B. / GEBAUER, G. (Hg.): Texte und Spiele. Sprachspiele des Sports. Sankt Augustin
1996.
BOURDIEU, P.: Sozialer Raum und „Klassen“. Leçon sur la leçon. Frankfurt/M. 1985.
BOURDIEU, P.: Elemente zu einer soziologischen Theorie der Kunstwahrnehmung. In: Ders.:
Zur Soziologie der symbolischen Formen. Frankfurt/M. 1994.
CASSIRER, E.: Der Begriff der Symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften. In:
Ders.: Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs. Darmstadt 1956.
CASSIRER, E.: Philosophie der symbolischen Formen. 3 Bde., Bd. I und III, Darmstadt 1994.
CASSIRER, E.: Symbol, Technik, Sprache. Hamburg 1985.
HABERMAS, J.: Vom sinnlichen Eindruck zum symbolischen Ausdruck. Frankfurt/M. 1997.
LANGER, S.: Philosophie auf neuem Wege. Das Symbol im Denken, im Ritus und in der Kunst.
Frankfurt/M. 1992.
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NOËL, B.: Magritte. München 1977.
ULLMANN, E.: Von der Macht der Bilder - Kunst und Reformation. Berlin 1985.
Bildnachweis:
MAGRITTE, R.: Verbotene Reproduktion (1937). Entnommen aus: Blümlinger, C. (Hg.): Sprung
im Spiegel. Filmisches Wahrnehmen zwischen Fiktion und Wirklichkeit. Wien 1990.
RIEFENSTAHL, L.: Olympia 1936 - Teil II: Fest der Schönheit. Hier: Freiübungen im
Olympiastadion (1936). Entnommen aus: Kunst und Macht im Europa der Diktatoren 1930 1945. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Deutschen Historischen Museum. Berlin 1996.
iIn
MAGRITTEs Gemälden, die mitunter mit dem philosophischen Werk WITTGENSTEINs
in Verbindung gebracht werden, kommt es zu einer Wiedergabe von Paradoxien und
Widersprüchen, indem Gedachtes bildlich dargestellt wird. MAGRITTE führt dazu aus: „Auf
die Frage: Was ist der Sinn dieses Bildes? eine Antwort zu haben, würde soviel bedeuten, wie
den SINN, das UNMÖGLICHE einer möglichen Idee ähnlich zu machen. Wer sie zu
beantworten versuchte, würde ihr einen Sinn zuerkennen. Der Betrachter kann mit der größten
nur möglichen Freiheit meine Bilder als das sehen, was sie sind, indem er sich wie ihr
Erfinder bemüht, an den SINN, soll heißen: an das Unmögliche zu denken.“ (zit. nach NOËL
1977, 49 f.)
iiDieser Zusammenhang wurde bereits von den Bilderstürmern zur Zeit der Reformation
erahnt, die noch um die „reine Lehre“ des Evangeliums fürchteten (vgl. dazu ULLMANN
1985). Im Unterschied dazu kämpfen die Werbe- und Marktstrategen von heute nicht mehr
gegen die Macht der Bilder an, sondern versuchen stattdessen, sie für ihre profanen Ziele zu
nutzen. Begriffe wie „Aufforderungscharakter“ und „Imagetransfer“ beziehen sich
ausdrücklich auf das Verhältnis von Bild und Betrachter. Dieser soll manipuliert werden. Die
Manipulation in der modernen Kunst richtet sich dagegen auf andere Ziele. Es werden neue
Darstellungs- und Wahrnehmungsformen erprobt, um andere mögliche Sichtweisen
herauszustellen. Während Bedeutungsfragen hier zum zentralen Thema gemacht werden,
bleibt im modernen Marketing das ökonomische Interesse handlungsleitend. Diese
unterschiedlichen Zielsetzungen gilt es zu beachten, wenn von der „Macht der Bilder“
gesprochen wird.
iii
So der Titel von BARTHES 1970.
ivLANGER (1992, 99) erläutert die hier so genannte „Illusion“ sinnlicher Wahrnehmungen
zunächst in Abgrenzung zu diskursiven Formen: „Der radikalste Unterschied ist der, daß
visuelle Formen nicht diskursiv sind. Sie bieten ihre Bestandteile nicht nacheinander, sondern
gleichzeitig dar, weshalb die Beziehungen, die eine visuelle Struktur bestimmen, in einem Akt
des Sehens erfaßt werden. Daher ist ihre Komplexität nicht wie die des Diskurses nach
Maßgabe dessen begrenzt, was der Geist vom Beginn eines Auffassungsaktes bis zu seinem
Ende behalten kann.“ Unter Bezugnahme auf Erkenntnisse der Gestaltpsychologie hebt sie an
anderer Stelle hervor, daß sinnliche Wahrnehmungen immer schon „Interpretationen“ der
Wirklichkeit darstellen, insofern Eindrücke nicht einfach ungeordnet aufgenommen, sondern
nach bestimmten „Formen“ gegliedert werden. „Alle Sensitivität trägt den Stempel des
9
Geistigen. ‘Sehen’ zum Beispiel ist kein passiver Vorgang, durch den bedeutungslose
Eindrücke gesammelt werden, damit der ordnende Geist aus diesen amorphen Daten Formen
für seine eigenen Zwecke herauslesen kann, ‘Sehen’ ist selber schon ein
Formulierungsprozeß; unser Verständnis der sichtbaren Welt beginnt im Auge.“ (1992, 97)
LANGERs grundsätzliche Unterscheidung „präsentativer“ sowie „diskursiver Formen“
schließt demnach Zusammenhänge und Ähnlichkeiten ihrer jeweiligen „Logiken“ nicht von
vornherein aus. Beide Formen stehen sich konträr, nicht jedoch kontradiktorisch gegenüber.
vBARTHES verwendet in diesem Zusammenhang den Begriff des „Mythos“, um den
übergeordneten Charakter eines Zeichens zu bezeichnen. „Der Sinn verliert seinen Wert, aber
er bleibt am Leben, und die Form des Mythos nährt sich davon ... Die Form muß unablässig
wieder Wurzel im Sinn fassen und aus ihm sich mit Natur nähren können, und insbesondere
muß sie sich in ihm verbergen können.“ (1970, 97 f.).
viBARTHES erläutert, daß in jedem semiologischen System drei Termini wictig sind: das
Bedeutende, das Bedeutete und das Zeichen: „Man denke an einen Rosenstrauß: ich lasse ihn
meine Leidenschaft bedeuten. Gibt es hier nicht doch nur ein Bedeutendes und ein
Bedeutetes, die Rosen und meine Leidenschaft? Nicht einmal das, in Wahrheit gibt es hier nur
die ‘verleidenschaftlichten’ Rosen. Aber im Bereich der Analyse gibt es sehr wohl drei
Begriffe, denn diese mit Leidenschaft besetzten Rosen lassen sich durchaus und zu Recht in
Leidenschaft und Rosen zerlegen. Die einen ebenso wie die anderen existieren, bevor sie sich
verbanden und dieses dritte Objekt, das Zeichen, bildeten.“ (1970, 90 f.)
viiSo analysiert er ausdrücklich das Verhältnis von Geltendem und Seiendem sowie von Form
und Inhalt im Hinblick auf ihre jeweils unterschiedliche Funktion bei der Festlegung von
Bedeutungen. Vgl. dazu BARTHES 1970, 88 ff.
viiiNeben der unmittelbaren Ausdrucksfunktion auf der einen und der abstrakten
Bedeutungsfunktion von Zeichen auf der anderen Seite analysiert CASSIRER auch die
sogenannte Darstellungsfunktion, etwa von Bildern, die gleichsam zwischen diesen beiden
steht: „Die Darstellung ist als Gegenwart zugleich Vergegenwärtigung: was als ein Hier und
Jetzt vor uns steht, was als dieses Besondere und dieses Bestimmte gegeben ist, das gibt sich
andererseits als Ausfluß und Äußerung einer Kraft, die in keiner solchen Besonderung ganz
aufgeht. Durch die konkrete Einzelheit des Bildes hindurch blicken wir jetzt auf diese
Gesamtkraft hin.“ CASSIRER 1994, Bd. III, 127.
ixSowohl die konkret bestimmten Ausdrucksformen als auch die abstrakten
Bedeutungsfunktionen verwendeter Zeichen und Bezeichnungen werden nach CASSIRER
durch die produktive Einbildungskraft des Menschen bestimmt. In den symbolischen Formen
findet der menschliche Geistes unterschiedliche Möglichkeiten seiner Vergegenständlichung,
die erst in ästhetischen Darstellungsformen gleichsam zu sich selbst finden. „Keine dieser
Gestaltungen geht schlechthin in der anderen auf oder läßt sich aus der anderen ableiten,
sondern jede von ihnen bezeichnet eine bestimmte geistige Auffassungsweise und konstituiert
in ihr und durch sie zugleich eine eigene Seite des ‘Wirklichen’“. (1994, Bd. I, 9)
xAn anderer Stelle (vgl. 1985) behandelt CASSIRER auch die Technik als eine weitere
symbolische Form.
xiHier stimmen BARTHES und CASSIRER überein.
xiiVgl. dazu LANGER 1992, 99.
xiiiVgl. dazu BOURDIEU 1994, 170 f.
xivDie hier angesprochene „begriffliche Abstraktheit“ bezüglich des Verständnisses von
Bildern liegt unter anderem darin begründet, daß sprachliche Formen aufgrund ihrer
Diskursivität analytisch wirken und sich schon deshalb von visuellen Formen unterscheiden.
(Vgl. dazu Anm. 4) Die dadurch bestimmte Differenz von Begriff und Gegenstand ist somit
nicht zufällig und bezeichnet eine zentrale Problemstellung ästhetischer Diskussionen.