Zentrum und Peripherie
Aus sprachwissenschaftlicher Sicht
Veronika Kotůlková, Gabriela Rykalová
(Hrsg.)
Slezská univerzita v Opavě
2017
Germanistenverband der Tschechischen Republik
Philosophisch-Naturwissenschaftliche Fakultät
der Schlesischen Universität Opava
Zentrum und Peripherie
Aus sprachwissenschaftlicher Sicht
Doc. Dr. phil. Veronika Kotůlková
Doc. PhDr. Gabriela Rykalová, Ph.D.
(Hrsg.)
Slezská univerzita v Opavě
2017
Recenze / Rezension / Rewiev
Prof. PhDr. Iva Zündorf, Ph.D.
Doc. Hana Bergerová, Dr.
Vydáno s finanční podporou projektu Interní soutěže v rámci Institucionálního plánu Slezské univerzity v Opavě č. 03/ISIP/2017 „Realizace mezinárodní
germanistické konference”.
Gedruckt mit finanzieller Unterstützung des Projektes Nr. 03/ISIP/2017
„Organisation einer internationalen germanistischen Konferenz“ im Rahmen des
Institutionalen Plans der Schlesischen Universität Opava.
Published with the financial support of the project no. 03/ISIP/2017 “Organization
of an International German Studies Conference” carried out as part of the Internal
competition within the Institutional plan of Silesian University in Opava.
ISBN 978-80-7510-248-5
Inhalt
Vorwort................................................................................................................................9
Der Text als Zentrum des Sprachspiels ........................................................................15
Norbert Richard Wolf
Grammatische Variation.
Am Rande der deutschen Standardsprache .................................................................27
Ludwig M. Eichinger
Zentrum und Peripherie in der Korpuslinguistik .......................................................41
Veronika Kotůlková
Fachsprachen und der Alltag.
Eine Untersuchung anhand der deutschen Tagespresse .............................................51
Lenka Vaňková
Kommunikation zwischen Experten und Laien.
Am Beispiel des Internetforums Conrad ......................................................................65
Milan Pišl
Zentrum und Peripherie des medizinischen Fachwortschatzes
am Beispiel der fachexternen Online-Kommunikation
zwischen Ärzten und Patienten......................................................................................83
Martin Mostýn
Zentrum und Peripherie in der deutschen Sprache der Mediziner
anhand von Fachzeitschriften ......................................................................................103
Ewa M. Majewska
Politische Lexik in der deutschen, slowakischen
und russischen Sprache.
Zentrum und/oder Peripherie? ....................................................................................117
Eva Molnárová
Zentrum und Peripherie in der deutschen Sprache.
Am Beispiel der Formulierungsverfahren in der Sprache der Politik
in der Talkshow „Günther Jauch“ ................................................................................129
Kamila Puchnarová
Kollektivgedächtnis im Sprachbild
und soziokultivierte Kommunikation .........................................................................139
Zdenko Dobrík
Manfred Franks hermeneutische Zeichentheorie
im Kontext der neuesten diskursanalytischen Ansätze............................................147
Michal Rubáš
Die Macht der Presse aus der Peripherie. Der nationalpolitische Diskurs
in der nordböhmischen Presse ....................................................................................161
Tereza Hrabcová
Zentrum und Peripherie in der deutschsprachigen Literatur
im Vergleich mit der tschechischen Literatur.
Korpuserstellung und Korpusanalyse .........................................................................177
Zdeňka Vymerová
Das deutsche Partizip im Zentrum und an der Peripherie ......................................187
Gabriela Rykalová
Verbale und nominale Valenzrahmen
bei zentralen und peripheren Lexemvarianten ..........................................................207
Mojmír Muzikant und Roland Wagner
Grammatik und Phraseologie ......................................................................................235
Michaela Kaňovská
Zentrum und Peripherie
der geschlechtsspezifischen Phraseologismen im Deutschen.
Bedeutung und Aspekte ihrer Verwendung ...............................................................253
Jana Hofmannová
Metaphorik als peripheres oder zentrales Phänomen der Sprache?
Weltmodellierung mit der konventionalisierten
Spielmetaphorik im Gegenwartsdeutschen ................................................................269
Jürgen Ehrenmüller
Zentrale und periphere Passiv-Konstruktionen........................................................287
Petra Szatmári
Familiennamen deutscher Herkunft
in den Kirchenbüchern der russisch-orthodoxen Gemeinden
in Włocławek und Aleksandrów Kujawski (Kongresspolen)
an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert.
Eine anthroponymische Peripherie .............................................................................307
Henryk Duszyński-Karabasz
Zur Begrifflichkeit und sprachlichen Erfassung von ‚Herrschaft‘
als einer der zentralen konzeptuellen Domänen
der historiographischen Werke des Mittelalters..........................................................323
Vlastimil Brom
Vorwort
Zentrum und Peripherie wurde zum leitenden Thema der gleichnamigen Konferenz,
die vom 25. bis 27. Mai 2016 an der Schlesischen Universität Opava stattfand.
Die Tagung, an der beinahe 90 Fachleute aus 9 Ländern teilnahmen, wurde vom
Germanistenverband der Tschechischen Republik und der Germanistischen Abteilung des Instituts für Fremdsprachen der Schlesischen Universität Opava organisiert. Die Tagung verfolgte das Ziel, Zentrum und Peripherie in unterschiedlichen
Bereichen zu untersuchen und einen Überblick über neue Methoden und
Erkenntnisse im Bereich der sprachwissenschaftlichen, literarischen und didaktischen Forschungen in fünf Sektionen zu bieten: Die deutsche Sprache: Zentrum
und Peripherie; Korpuserstellung und –analyse; Literatur interkulturell vs. transkulturell; Kanon und Norm in Literatur und Literaturdidaktik; Fehler und ihre Behandlung, und stellte eine Vielzahl an Fragestellungen und eine Vielzahl an Ansätzen vor.
Jede Sprache ist ein dynamisches System. Deswegen interessieren sich
die Sprachwissenschaftler besonders dafür, welche sprachlichen Einheiten
im Zentrum des Sprachsystems stehen und welche eher peripher sind.
Die korpuslinguistische Sicht auf die Theorie von Zentrum und Peripherie
bietet viele neue Erkenntnisse auf dem Gebiet der germanistischen Forschungen. In der Korpuslinguistik sollte das Prinzip gelten, dass für jedes
Projekt ein eigenes Korpus erforderlich ist, auch wenn man auf vorhandene
Korpora zurückgreift. Dank korpuslinguistischer Forschungen können
Daten über die funktionale Belastung von verschiedenen grammatischen
Phänomenen und lexikalischen Einheiten gewonnen werden. Auf diese
Weise zeigt sich deren Ort im Zentrum oder an der Peripherie des Sprachsystems.
Zur Zeit sind auch die inter- und transkulturelle Sicht auf Kultur und
Literatur von großer Bedeutung. Schwerpunkt der literaturwissenschaftlichen
Forschung sind z.B. die „inter- oder transkulturelle Literatur“, der „Kulturtransfer“ oder der „transkulturelle Vergleich“. Auch in der Sprachwissenschaft
hat das Thema „Zentrum und Peripherie“ in den vergangenen Jahren an Bedeutung gewonnen. Hier sind es vor allem Themen wie Sprachkontakt und Sprachvergleich, die untersucht und analysiert werden. Transkulturalität oder eine
‚transkulturelle‘ Gesellschaft sollen die Hierarchie von Zentrum und Peripherie
auflösen und Austausch sowie Neuformierung von Kulturelementen egalisieren.
Die didaktische Sicht auf Zentrum und Peripherie stellt ins Zentrum der Überlegungen unter anderem das Thema ‚Fehler‘, das eine fächerübergreifende Problematik, mit der sich neben Linguisten, Pädagogen, Didaktikern auch Soziologen und
Psychologen beschäftigen, darstellt. Moderne Untersuchungen suchen z.B.
Antworten auf die Fragen, was die Ursachen von Fehlern sind, und wie man sie
9
klassifizieren kann. Man stellt sich auch die Frage, ob Fehler immer negativ zu
betrachten sind, oder ob sie beim Lernen und Lehren auch von Nutzen sein
können. Diskutiert werden auch Fragen nach dem Verhältnis von System, Norm,
Kanon und Praxis.
Die meisten verschriftlichten Beiträge der Tagung werden in drei selbständigen
Bänden präsentiert.
Die im Band „Zentrum und Peripherie. Aus sprachwissenschaftlicher Sicht“ versammelten Beiträge decken eine breite Palette von Themenbereichen ab, die
unterschiedliche Aspekte der Spannung zwischen Zentrum und Peripherie widerspiegeln. Den Band eröffnen zwei Plenarvorträge. NORBERT R. WOLF vergleicht
die Sprache mit einem Sprachspiel, erklärt, dass das Sprachspiel einen systemischen Charakter hat und betrachtet einen Text als sein Zentrum. LUDWIG M.
EICHINGER widmet sich unterschiedlichen grammatischen Variationen an der
Peripherie der deutschen Sprache und diskutiert die Variation als Systemfrage.
VERONIKA KOTŮLKOVÁ zeigt in ihrem Beitrag die Vorteile einer korpusbasierten Datenerhebung für das Entdecken des Zentralen und des Peripheren im
System der deutschen Sprache auf. Mehrere Beiträge suchen das Zentrum und die
Peripherie im fachsprachlichen Bereich. LENKA VAŇKOVÁ widmet ihre Aufmerksamkeit der Begriffsbestimmung und Abgrenzung von Fachwörtern sowie
der Erläuterung ihrer Stellung in nicht-fachlichen Kontexten zweier seriöser überregionaler Zeitungen, und EWA M. MAJEWSKA nimmt den Fachlichkeitsgrad
der Fachwörter in deutschen medizinischen Zeitschriften unter die Lupe. MILAN
PIŠL und MARTIN MOSTÝN untersuchen den Fachwortschatz in ausgewählten
Ratgeber- und Diskussionsforen, die ihrer Ansicht nach einen neuen Kanal für
die Vermittlung von Fachwissen bzw. für professionelle Beratung darstellen. Die
folgenden Beiträge widmen sich der Sprache der Politik. EVA MOLNÁROVÁ stellt
mehrere Forschungsansätze der Untersuchung von Sprache in der Politik sowie
Charakteristika und Klassifikationen der politikbezogenen Wörter vor, KAMILA
PUCHNAROVÁ untersucht typische Merkmale von Formulierungsverfahren bei
Antworten in der politischen Diskussion und untersucht somit die gesprochene
Sprache. Zusammenhänge zwischen dem Kollektivgedächtnis der Kommunikationspartner in einer soziokulturellen Kommunikation und ihren Erfahrungen, Einstellungen, Werten und Interessen zeigt anhand konkreter Beispiele
ZDENKO DOBRÍK. MICHAL RUBÁŠ diskutiert in seinem Beitrag die hermeneutische Zeichentheorie von Manfred Frank im Kontext der neuesten diskursanalytischen Ansätze. TEREZA HRABCOVÁ stellt sich in ihrem Beitrag die Frage,
durch welche sprachlichen Mittel des medialen Diskurses zur Beeinflussung der Meinung und folglich auch Handlung Wirkungen beim Leser erzielt werden. Zentrum
und Peripherie in der deutschsprachigen Literatur im Vergleich mit der tschechischen Literatur wählte zum Thema ZDEŇKA VYMEROVÁ, die Erkenntnisse
ihrer Forschungsarbeit anhand von Übersetzungen in beiden Sprachrichtungen
vorstellt. GABRIELA RYKALOVÁ beschreibt in ihrem Beitrag unterschiedliche
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Verwendungsmöglichkeiten von deutschen Partizipien, und zwar auf der Basis
analysierter Korpusdaten, die als authentisches Sprachmaterial den tatsächlichen
Gebrauch des Partizips widerspiegeln. MOJMÍR MUZIKANT und ROLAND
WAGNER untersuchen zentrale und periphere Varianten des Lexems abfallen und
zeigen interessante linguistische Besonderheiten an der Peripherie dieses Lexems.
Den metasprachlichen Markierungen von Phrasemen im Spiegel der phraseologischen Basisliteratur widmet sich der Beitrag von MICHAELA KAŇOVSKÁ. JANA
HOFMANNOVÁ zeigt anhand von korpusbasierten Untersuchungen die Spezifika des Gebrauchs der geschlechtspezifischen Phraseologismen im Deutschen.
JÜRGEN EHRENMÜLLER stellt sich die Frage, ob die Metaphorik ein peripheres
oder zentrales Phänomen der Sprache darstellt und widmet sich der konventionalisierten Spielmetaphorik im Gegenwartsdeutschen. Im Zusammenhang mit dem
Prozess der Grammatikalisierung beschreibt PETRA SZATMÁRI zentrale und
periphere Passiv-Konstruktionen. Aus sprachhistorischer Sicht widmen sich dem
Zentrum und der Peripherie die letzten beiden Beiträge. Familiennamen deutscher
Herkunft in den Kirchenbüchern an der Wende vom 19. zum 20. Jh. sind Thema des
Beitrags von HENRYK DUSZYŃSKI-KARABASZ. Ins 13., 14. und 15. Jahrhundert
führt uns VLASTIMIL BROM, der anhand ausgewählter, vor allem deutschsprachiger historiographischer Texte des Hoch- und Spätmittelalters die Strategien der
Versprachlichung von ‚Herrschaft‘ untersucht.
Gabriela Rykalová
Veronika Kotůlková
Foreword
Zentrum und Peripherie (Centre and Periphery) was the main topic of the
conference with the same title that was held from 25th to 27th May 2016 at Silesian
University in Opava. The gathering of almost 90 experts from nine countries was
organized by the Association for German Studies in the Czech Republic together
with the Department of German Studies at Silesian University in Opava. The main
objective of the conference was to investigate the centre and the periphery of the
language from various points of view and provide an overview of new methods
and findings in the field of linguistic, literary and didactic research. Within the
individual contributions, many questions were posed and many different
approaches presented in relation to the given issues, all of which took place in five
sections: Centre and Periphery of the German Language, Creation and Analysis of
a Language Corpus, Literature Approached Interculturally vs. Transculturally, Canon
and Norm in Literature and Didactics of Literature, Error and How to Deal with It.
Each language system is dynamic. That is why linguists are chiefly interested in the
question of which units of the language system are to be found in the centre of the
system and which units tend to occur on the periphery. The corpus-linguistic view
of the centre and periphery theory offers many new findings in the field of German
studies. In corpus linguistics it applies that every project requires its own corpus
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although existing corpora may be utilized as well. Owing to studies in corpus
linguistics it is possible to gain information about the functional load of various
grammatical phenomena and lexical units. Their position in the centre of the
language system or on its periphery thus becomes perfectly clear. Inter- and
transcultural view of culture and literature has also been recently growing in
importance. Among the pillars of the current literary research are “inter- or
transcultural literature“, “cultural transfer“, and “transcultural comparison“.
The topic of “centre and periphery“ has increased in importance in the field of
linguistics as well, namely topics such as language contact or comparison of
languages. Transculturality and transcultural society erase the hierarchy of the
centre and the periphery and recreate the contact among cultural elements.
The didactic view of the centre and the periphery is dominated by the research
in the area of errors, which is a topic that pertains to linguistics, pedagogy,
and didactics as well as sociology and psychology. Modern studies search for
answers to the questions of what are the causes of errors and how errors might be
classified. Whether errors must only be viewed negatively or whether it is possible
to utilize them when learning and teaching also remains a question to be answered.
Often discussed is the relation between the system and the norm, the canon and the
praxis. The majority of the conference contributions are published in three separate
volumes.
The contributions included in the volume entitled “Centre and Periphery. The
Linguistic Viewpoint“ offer a wide range of views of the centre and periphery
issue. The volume opens with the texts of two plenary lectures. It is NORBERT
R. WOLF’S opinion that it is text that stands in the centre. He compares the
language with language play and explains that language play has a systemic character.
LUDWIG M. EICHINGER focuses his attention on various grammatical variations on the periphery of the German language system and discusses variation as
a system question. In her contribution VERONIKA KOTŮLKOVÁ highlights the
benefit of corpus data for identifying the central language phenomena and their
differentiation from the peripheral ones. Many authors search for the centre and
the periphery in the area of specialist texts. LENKA VAŇKOVÁ studies specialist
terminology and its relevance to non-specialist context of two interregional
broadsheet newspapers, and EWA M. MAJEWSKA investigates the various degrees
of specialist expressions in medical journals. MILAN PIŠL and MARTIN MOSTÝN
devote their attention to specialist terminology in advisory and discussion forums,
which they consider as the new channel for mediation of expert findings. Other
contributions deal with the language of political discourse. EVA MOLNÁROVÁ
presents various methods of investigating the language of politics, and she also
studies the characteristics and classification of the vocabulary of politics. KAMILA PUCHNAROVÁ leads us into the field of spoken language by examining the
typical features of forming an answer in political discourse. ZDENKO DOBRÍK
points out the correlation between the collective memory of communication part12
ners in the course of socio-cultural communication, and their experience, opinions,
values and interests. MICHAL RUBÁŠ discusses Manfred Frank’s hermeneutic
theory of the language sign in the context of the most recent findings in the
field of discourse analysis. In her contribution TEREZA HRABCOVÁ poses the
question of which language devices are used in the media to influence the readers’
opinion. The topic of ZDEŇKA VYMEROVÁ’S paper is the centre and the
periphery in the German-language literature in comparison with the Czech
literature. Her findings are based on her study of translations from both
languages. GABRIELA RYKALOVÁ describes the various ways of using German
participles based on an analysis of corpus data, which constitute authentic material
mirroring the real usage of this grammatical form. MOJMÍR MUZIKANT and
ROLAND WAGNER investigate the central and the peripheral variants of the
lexeme abfallen, and they point out interesting linguistic oddities on the
periphery of this lexeme. MICHAELA KAŇOVSKÁ devotes her attention to the
metalanguage of naming phrases in the field of basic literature on phraseology.
Based on an analysis of corpus data JANA HOFMANNOVÁ demonstrates the
particularities of using gender-specific phrases in the German language. JÜRGEN
EHRENMÜLLER poses a question of whether metaphor is a peripheral or central
language phenomenon. From the viewpoint of the grammaticalisation process
PETRA SZATMÁRI describes the central and the peripheral passive
constructions. The contributions concluding the volume examine the issue of centre and
periphery from the historical viewpoint. HENRYK DUSZYŃSKI-KARABASZ
focuses his attention on family names of German origin in religious books
dating back to the 19th and 20th centuries. VLASTIMIL BROM guides the readers
to the 13th, 14th and 15th centuries by analysing selected, particularly German
historiographical texts of the mid and late Middle Ages and directing his attention
to the various language forms of the expression ‘Herrschaft’.
Gabriela Rykalová
Veronika Kotůlková
13
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Der Text als Zentrum des Sprachspiels
Norbert Richard Wolf
Annotation
Die Sprache kann mit einem Schachspiel verglichen werden: Einerseits ist der
jeweilige Spielstand ein System, in dem einzelne Figuren in einer bestimmten Relation zu anderen Figuren stehen. Darüber hinaus aber ist jedes Spiel ein dynamischer
Vorgang, in dem aufgrund von Spielregeln und der Strategie der Spieler permanent
neue Spielstände erreicht werden. In diesem Sinn hat das Sprachspiel systemischen Charakter. Das Prinzip von Zentrum und Peripherie kennzeichnet auch das
System des Sprachspiels. Das Sprachspiel ist also ein Gebilde mit einem kompakten
Kern und einer diffusen Peripherie, die in die Peripherie einer oppositiven Kategorie oder Klasse übergeht. Die Kategorien oder Klassen des Sprachspiels sind aber
nicht oppositive Einheiten mit jeweils bestimmten Merkmalen. Die Kategorien
des Sprachspiels sind vielmehr Situationen, in denen sich Texte gewissermaßen
,bewähren’ müssen, also Situationen, die von Texten bewältigt werden müssen. Dies
betrifft sowohl die Produktion als auch die Rezeption von Texten.
Schlüsselwörter
Sprachspiel, Text, Textlinguistik
Mehrere Werke des 20. Jahrhunderts, die sich mit fundamentalen Fragen der
Sprache befassen, bringen als Beispiel und als Metapher das Schachspiel. Daraus
möchte ich zwei auswählen. Diesen beiden Werken ist gemeinsam, dass sie erst
postum veröffentlicht worden sind. Des Weiteren ist beiden Werken gemeinsam,
dass sie unser Fach, die Sprachwissenschaft, ganz wesentlich beeinflusst haben.
Das erste Werk ist Ferdinand de Saussures ‚Cours de linguistique générale‘, der von
Schülern auf der Basis von Vorlesungsmitschriften herausgegeben und im Jahre
1916, also vor rund 100 Jahren, veröffentlicht worden ist. Unter dem Titel ‚Grundfragen der Allgemeinen Sprachwissenschaft‘ ist der ‚Cours‘ in der Übersetzung
von Herman Lommel im Jahre 1931 erschienen und hat so im Deutschen gewirkt;
allerdings hat das Werk seine große Wirkung erst nach dem Zweiten Weltkrieg
erreicht. Vor diesem Krieg wurde es von der deutschen Sprachwissenschaft
kaum zur Kenntnis genommen. Dies könnte auch erklären, warum es nach dem
Zweiten Weltkrieg zu dieser Überrezeption vor allem US-amerikanischer Linguistik
gekommen ist und man im deutschen Sprachraum, besonders in der Germanis15
tik, die reiche eigene wissenschaftliche Tradition nahezu vergessen hat; man wollte
nicht noch einmal etwas versäumen.
Zurück zu de Saussure:
„Unter allen Vergleichen, die sich ausdenken lassen, ist am schlagendsten der zwischen dem Zusammenspiel der sprachlichen
Einzelheiten und einer Partie Schach. Hier sowohl als dort hat man
vor sich ein System von Werten, und man ist bei ihren Modifikationen zugegen. Eine Partie Schach ist gleichsam die künstliche Verwirklichung dessen, was Sprache in ihrer natürlichen Form darstellt.“
(de Saussure, 1967, S. 104–105)
Für de Saussure ist immer nur die Synchronie sprachlich relevant, gewissermaßen
der jeweilige Zustand, in dem die Figuren zueinander in bestimmten Relationen
stehen; in diesem Sinn stellt ein Schachbrett ein System dar. Zwischen zwei
systematischen Zuständen gibt es nur einzelne Züge von Figuren, die das
System verändern (können). Ansonsten haben die verändernden Spielzüge keinerlei
systematische Funktion und keinerlei systematischen Charakter. Für die Position
einer Figur im System des Schachbretts verwendet de Saussure den Begriff „valeur“
(de Saussure, 1985, S. 125) bzw. „Wert“ (de Saussure, 1967, S. 105), also einen
Begriff aus der Nationalökonomie. Daraus ergeben sich zwei Aspekte:
•
„Da die Sprache ein System ist, dessen Glieder sich alle gegenseitig
bedingen und in dem Geltung und Wert des einen nur aus dem gleichzeitigen
Vorhandensein des andern sich ergeben“ (de Saussure, 1967, S. 136), können
wir im Sinn der strukturellen Semantik die Bedeutung sprachlicher Zeichen als
eine Relation zwischen „Signifiés“ (de Saussure, 1985, S. 158), also zwischen
Inhaltseiten sprachlicher Zeichen ansehen. Auf diese Weise unterscheidet sich
die ‚Bedeutung‘ vom Signifié bzw. vom Inhalt.
•
Die ‚Bedeutung‘ eines Zeichens ist also eine Relation eines Zeicheninhalts zu den Inhalten anderer Zeichen. Die Summe aller Relationen konstituiert
ein System. Das will sagen, dass die Elemente eines Systems unterschiedliche
Positionen einnehmen (können); bei einer Änderung des Systems ändern sich
die Positionen der Elemente bzw. die Relationen, die dieses System ausmachen.
Änderungen eines Systems und innerhalb eines Systems sind also in dem Vergleich
mit dem Schachspiel einzelne Züge, die allerdings nicht willkürlich getan werden
können:
„Zweitens ist das System immer nur ein augenblickliches; es verändert
sich von einer Stellung zur andern. Allerdings hängen die Werte auch
und ganz besonders von einer unveränderlichen Übereinkunft ab:
nämlich der Spielregel, welche vor Beginn der Partie besteht und
nach jedem Zug bestehen bleibt. Diese ein- für allemal anerkannte
Regel besteht auch in sprachlichen Dingen; es sind die feststehenden
Grundsätze der Semeologie.“ (de Saussure, 1967, S. 105)
16
Die Sprache in der Zeit ist demnach eine Abfolge von Zuständen. Einfache Vorgänge
dazwischen führen von einem Zustand zu einem anderen; „in der Sprache“ beziehen sich „die Veränderungen nur auf isolierte Elemente“. Doch „nur die Zustände
sind von Wichtigkeit“ (de Saussure, 1967, S. 105). Die „Veränderungen“ sind trotz
ihrer Isoliertheit nicht willkürlich, sondern sind regelgesteuert. Das heißt, dass
Änderungen nicht gegen die Struktur des Systems möglich sind.
Andererseits nimmt de Saussure nicht zur Kenntnis, dass es keinen Zustand auf
einem Schachbrett gibt, den nicht zwei Spieler herbeigeführt haben. Er hypostasiert
somit das Sprachsystem, das aus sich und für sich existiert und sich verändert.
Das zweite Werk, das auf das Schachspiel als eine Vergleichsgröße zurückgreift
und auf das ich hier etwas näher eingehen will, sind die ‚Philosophischen Untersuchungen‘ (PU) Ludwig Wittgensteins. Dieses Werk erscheint, im Gegensatz zum
frühen ‚Tractatus logico-philosophicus‘, der das erste Mal im Jahre 1921 erschienen
ist und die ideale Sprache, also die Sprache der Logik, des klaren Denkens und der
Mathematik zum Thema hat, „als eine verwirrende Sammlung von Überlegungen,
die zwar manchmal, für sich genommen, glänzend sind, aber keine Einheit besitzen,
kein Gedankensystem bieten“ (Malcolm, 1968, S. 7) Wittgenstein hat sich in den
30er und 40er Jahren intensiv mit den ‚Philosophischen Untersuchungen‘ beschäftigt, zudem ist „gewiß […], daß Wittgenstein bis 1949 oder 1950 am Text gearbeitet
hat“ (Schulte, 2006, S. 620). Im Gegensatz zum ‚Tractatus‘ geht es in den ‚Philosophischen Untersuchungen‘ um die Philosophie der normalen Sprache. „Normal“
ist für Wittgenstein ein Adjektiv, das Alltagssituationen, wie wir sie täglich erleben
und in und mit denen wir unsere Sprache erworben haben, kennzeichnet:
„Nur in normalen Fällen ist der Gebrauch der Worte uns klar
vorgezeichnet; wir wissen, haben keinen Zweifel, was wir in diesem
oder jenem Fall zu sagen haben. Je abnormaler der Fall, desto
zweifelhafter wird es, was wir nun hier sagen sollen. Und verhielten
sich die Dinge ganz anders, als sie sich tatsächlich verhalten – gäbe es
z.B. keinen charakteristischen Ausdruck des Schmerzes, der Furcht,
der Freude; würde, was Regel ist, Ausnahme und was Ausnahme, zur
Regel; oder würden beide zu Erscheinungen von ungefähr gleicher
Häufigkeit – so verlören unsere normalen Sprachspiele damit ihren
Witz.“ (PU Nr. 142).
Das Register zu den ‚Philosophischen Untersuchungen‘ von Wolfgang Breidert
(in Wittgenstein, 2006) nennt als Synonyme für normal die Adjektive „alltäglich,
gebräuchlich, gewöhnlich“. Die normale Sprache ist also die Sprache der normalen
Fälle; sie ist das Werkzeug für das „Sprachspiel“: „Ich werde auch das Ganze: der
Sprache und der Tätigkeiten, mit denen sie verwoben ist, das ‚Sprachspiel‘ nennen.“
(PU Nr. 7)
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Sprachspiele sind demnach „Verhaltensabläufe, in denen Sprechen und anderes
Handeln miteinander ‚verwoben‘ sind“ (von Savigny, 2011, S. 8). Ein Sprachspiel
umfasst zwei Systeme, die beide sowohl als Regelsysteme als auch in der ‚konkreten‘
Verwendung relevant sind: das System der Sprache („das Ganze der Sprache“)
und das System der Sprachverwendung („das Ganze der Tätigkeiten“). „Sprache“
ist demnach „eine regelgeleitete Tätigkeit“, in der die beiden Regelsysteme unterschiedlich funktionieren: Das System der Sprache, also „die Regeln der Grammatik
[…] bestimmen […] nicht, welche Züge/Äußerungen erfolgreich sein werden,
sondern vielmehr, was richtig und sinnvoll ist, und definieren damit das Spiel/die
Sprache“ (Glock, 2000, S. 325f.). Aus dem „Ganzen der Tätigkeiten“ folgt auch, dass
einzelne Elemente wie etwa die Wörter eine Bedeutung haben, die aber „nicht der
Gegenstand“ ist, „für den es [das Wort, NRW] steht“, sondern sie „ist durch die
Regeln bestimmt, die seine Funktion bestimmen“ (Glock, 2000, S. 326).
In diesem Zusammenhang bekommt die Analogie zum Schachspiel ihre Aufgabe:
„Wenn man jemandem die Königsfigur im Schachspiel zeigt und
sagt ‚Das ist der Schachkönig‘, so erklärt man ihm dadurch nicht den
Gebrauch dieser Figur, – es sei denn, daß er die Regeln des Spiels
schon kennt.“ (PU Nr. 31)
Entscheidend für die Definition einer Schachfigur ist nicht deren Aussehen, das
sind vielmehr die Möglichkeiten, die man mit dieser Figur aufgrund der Regeln in
einem Spiel hat. Man kann mit einer Figur mehrere, will sagen: unterschiedliche
Züge machen, welchen Zug man in einer bestimmten Situation wählt, hängt von
der Spielerstrategie ab, die wiederum sowohl von den Fähigkeiten des Spielers als
auch von seiner Bewertung der Spielsituation abhängt. Mit anderen Worten: die
Intention des Spielers bzw. der Spieler ist etwas Komplexes:
„‘Das ist ja das Merkwürdige an der Intention, am seelischen Vorgang, daß für ihn das Bestehen der Gepflogenheit, der Technik, nicht
nötig ist. Daß es z.B. denkbar ist, zwei Leute spielten in einer Welt,
in der sonst nicht gespielt wird, eine Schachpartie, ja auch nur den
Anfang einer Schachpartie, - und würden dann gestört.‘
Ist aber das Schachspiel nicht durch seine Regeln definiert? Und wie
sind diese Regeln im Geist dessen gegenwärtig, der beabsichtigt,
Schach zu spielen?“ (PU Nr. 205)
Dieses Zitat zeigt sehr schön, dass Wittgenstein seine Argumentation ebenfalls
als ein Sprachspiel gestaltet: Zuerst wird eine These geäußert bzw. zitiert; die
Anführungszeichen machen deutlich, dass es sich um die Äußerung einer anderen
Person handelt. Die Erwiderung wird in zwei Fragen gekleidet, die die kommunikative Funktion von rhetorischen Fragen haben; der Fragende setzt voraus, dass die
Antworten bekannt und akzeptiert sind. Wenn eine Person Schach spielt, muss sie
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Regeln kennen, und die Regeln kennen heißt, dass sie „im Geist gegenwärtig“ sein
müssen.
An anderer Stelle verdeutlicht Wittgenstein den sozialen Charakter der Regeln und
somit der Sprache:
„Ist, was wir ‚einer Regel folgen‘ nennen, etwas, was nur ein Mensch,
nur einmal im Leben, tun könnte? - Und das ist natürlich eine
Anmerkung zur Grammatik des Ausdrucks ‚der Regel folgen‘.
Es kann nicht ein einziges Mal nur ein Mensch einer Regel gefolgt
sein. Es kann nicht ein einziges Mal nur eine Mitteilung gemacht,
ein Befehl gegeben, oder verstanden worden sein, etc. – Einer Regel
folgen, eine Mitteilung machen, einen Befehl geben, eine Schachpartie
spielen sind Gepflogenheiten (Gebräuche, Institutionen).“ (PU Nr. 199)
Da „einer Regel folgen“ oder eine Sprache verwenden „Gepflogenheiten“ sind, sind
sie Konventionen, die in einer Gesellschaft existieren und auch das Leben dieser
Gesellschaft bestimmen. Die „Regeln“ des Sprachspiels „regieren“ den Gebrauch
von sprachlichen Einheiten „in der Sprache“; und die Konventionen des Sprachgebrauchs sind die „Gepflogenheit“, den Regeln „zu folgen“ (Fann, 1971, S. 73–74).
Die Gepflogenheiten „setzen eine Gesellschaft, eine Lebensform voraus“ (Fann,
1971, S. 74).
Wittgenstein verwendet den Vergleich mit dem Sprachspiel also in ganz anderem
Sinn als vor ihm de Saussure. Für de Saussure wird durch diesen Vergleich klar,
dass er die Sprache als ein statisches System sieht, das sich durch vereinzelte,
isolierte Züge ändert; die Sprachgeschichte wird dadurch eine Aufeinanderfolge
von synchronischen Zuständen.
Demgegenüber hat Wittgensteins Vergleich deutlich gemacht, dass es Sprache ohne
Sprecher und ohne deren Einbettung in die Gesellschaft nicht gibt. Ein Schachspiel
ist eine regelgeleitete Interaktion, bei der aber nicht das Regelwerk allein den Gang
der Dinge bestimmt, sondern die Strategie und die Einschätzung der Lage durch
die Spieler. Auf diese Weise sind nicht nur die Sprecherintention, sondern auch die
Modalität als „Ausdruck des sprechenden Menschen“ (Wolf, 2009, S. 25) konstitutive Elemente des Sprachspiels. Damit wird natürlich auch jeder rein formalen
Grammatik widersprochen, weil nur Grammatiken, die auch Bedeutungen berücksichtigen, ihre Rolle im Sprachspiel und in dessen Beschreibung adäquat wahrnehmen können.
Wittgenstein weiß auch, dass es nicht nur interaktive Spiele, also Spiele von zwei
oder mehr Personen, gibt, sondern dass eine einzelne Person auch ein Spiel für
sich allein spielen kann. Wittgenstein erwähnt da die Patience oder das Spiel eines
Kindes mit einem Ball:
19
„Betrachte z.B. einmal die Vorgänge, die wir „Spiele“ nennen. Ich
meine Brettspiele, Kartenspiele, Ballspiel, Kampfspiele, usw. Was ist
allen diesen gemeinsam? – Sag nicht: ‚Es muß ihnen etwas gemeinsam sein, sonst hießen sie nicht ‚Spiele‘‘, sondern schau, ob ihnen
allen etwas gemeinsam ist. – Denn wenn du sie anschaust, wirst du
zwar nicht etwas sehen, was allen gemeinsam wäre, aber du wirst
Ähnlichkeiten, Verwandtschaften, sehen, und zwar eine ganze Reihe.
Wie gesagt: denk nicht, sondern schau! – Schau z.B. die Brettspiele
an, mit ihren mannigfachen Verwandtschaften. Nun geh zu den
Kartenspielen über: hier findest du viele Entsprechungen mit jener
ersten Klasse, aber viele gemeinsame Züge verschwinden, andere
treten auf. Wenn wir nun zu den Ballspielen übergehen, so bleibt
manches Gemeinsame erhalten, aber vieles geht verloren. – Sind sie
alle ‚unterhaltend‘? Vergleiche Schach mit dem Mühlfahren. Oder
gibt es überall ein Gewinnen und Verlieren, oder eine Konkurrenz
der Spielenden? Denk an die Patiencen. In den Ballspielen gibt es
Gewinnen und Verlieren; aber wenn ein Kind den Ball an die Wand
wirft und wieder auffängt, so ist dieser Zug verschwunden. Schau,
welche Rolle Geschick und Glück spielen. Und wie verschieden ist
Geschick im Schachspiel und Geschick im Tennisspiel. Denk nun
an die Reigenspiele: Hier ist das Element der Unterhaltung, aber wie
viele der anderen Charakterzüge sind verschwunden! Und so können wir durch die vielen, vielen anderen Gruppen von Spielen gehen.
Ähnlichkeiten auftauchen und verschwinden sehen.“ (PU Nr. 66)
Auch ein Sprachspiel muss nicht immer Interaktion oder Kommunikation sein,
sondern kann dem Bedürfnis einer einzelnen Person dienen. Ein ganz persönliches Tagebuch – um ein einfaches Beispiel zu bringen – dient nur selten der
Kommunikation; oft genug wird behauptet, dass gerade ein Tagebuch die Form
sei, in der eine Person mit sich selbst kommuniziert. Diese ‚Meinung‘ halte ich für
einen Taschenspielertrick. Viel plausibler ist die Auffassung, dass eine Person ein
Tagebuch deshalb führt, weil sie gewisse Erlebnisse, Eindrücke, Einsichten einfach
ausdrücken muss, um mit ihnen in irgend einer Form fertig zu werden. Sprache ist
nicht nur das wichtigste Kommunikationsmittel unter Menschen, sondern in erster
Linie ein Mittel, Bewusstseinsinhalte, also Inhalte der Kognition und der Emotion
auszudrücken. Nur auf diese Weise können diese Inhalte dann auch kommunizierbar werden.
Im Gegensatz zu seinem Frühwerk, dem ‚Tractatus logico-philosophicus‘, verwendet Wittgenstein später keine besondere Fachterminologie, die auf formalisierter
Grundlage beruht, mehr, sondern terminologisiert Alltagswörter wie ‚Spiel‘ oder
‚Gepflogenheit‘, allerdings nicht dadurch, dass er sie präzise definiert, sondern,
seiner Spieltheorie entsprechend, dadurch, dass er diese Wörter gebraucht und
dadurch Regeln schafft. Dem entspricht auch die Textstruktur des Werkes. Es hat
20
nicht die logisch ausgeklügelte Dezimalnummerierung wie der ‚Tractatus‘, die in
wissenschaftlicher Prosa geradezu musterbildend gewirkt hat:
„Der Tractatus logico-philosophicus ist ein merkwürdiges und
einzigartiges Buch, bestehend aus sieben ‚Hauptsätzen‘, denen der
logischen Gewichtung nach, in Dezimalnummerierung, erklärende
Nebensätze untergeordnet sind. Mit seiner Kürze, Redundanzvermeidung und seinem prägnanten Stil wurde er zu einem der
einflussreichsten Texte des 20. Jahrhunderts.“ (Eggers, 2014, S. 27)
Es ist gerade die Gliederung, die den ‚Tractatus‘ zum Text macht. Demgegenüber
bestehen die ‚Philosophischen Untersuchungen‘ aus teilweise fragmentarisch
wirkenden Textteilen, von denen jeder für sich selbständig zu sein scheint. Sie
machen den Eindruck von Tagebucheintragungen, die isoliert voneinander
entstanden sind. Mit anderen Worten, die ‚Philosophischen Untersuchungen‘ sind
ein Supertext, der aus insgesamt 693 Einzeltexten besteht. Die kürzesten dieser
Texte werden von nur einem Satz gebildet, etwa: „Ein ‚innerer Vorgang‘ bedarf
äußerer Kriterien.“ (PU Nr. 580) Es ist deutlich, dass dieser eine Satz die Funktion
eines Textes hat und somit selbständig für sich stehen kann, d.h. keines Kontextes
bedarf.
Trotz dieses Befundes ist festzuhalten, dass Wittgenstein in der grammatischen
Tradition seiner Zeit bleibt, indem er besonders die sprachlichen Einheiten Wort
und Satz ins Zentrum stellt und schon nicht mehr beachtet, dass die Figuren des
Schachspiels ihre ‚Bedeutung‘ auch dadurch erhalten, dass sie für verschiedene
Züge in ihren Kontexten gebraucht werden (können). Ich habe den Eindruck,
dass sich Wittgenstein um die Art der ‚Produkte‘ des Sprachspiels nicht allzu viele
Gedanken macht:
„Wieviele Arten der Sätze gibt es aber? Etwa Behauptung, Frage und
Befehl? – Es gibt unzählige solcher Arten: unzählige verschiedene
Arten der Verwendung alles dessen, was wir ‚Zeichen‘, ‚Worte‘, ‚Sätze‘,
nennen. Und diese Mannigfaltigkeit ist nichts Festes, ein für allemal
Gegebenes; sondern neue Typen der Sprache, neue Sprachspiele,
wie wir sagen können, entstehen und andre veralten und werden
vergessen.“ (PU Nr. 23)
Zeichen, Worte oder Wörter und Sätze sind, wie gesagt, in diesem Zusammenhang
nur Produkte von Sprachspielen. Welchen sprachlichen und sprachwissenschaftlichen Status diese Produkte haben, interessiert Wittgenstein, zumindest in diesem
Zusammenhang, nicht. Wohl aber macht Wittgenstein deutlich – dies sei am Rande
erwähnt –, dass die Sprachspiele etwas Historisches sind, genauso wie die Sprecher
und deren Bedürfnisse. Aus all dem ergibt sich eine große Vielfalt von Sprachspielen:
21
„Führe dir die Mannigfaltigkeit der Sprachspiele an diesen Beispielen,
und anderen, vor Augen:
Befehlen, und nach Befehlen handeln –
Beschreiben eines Gegenstands nach dem Ansehen, oder nach Messungen –
Herstellen eines Gegenstands nach einer Beschreibung (Zeichnung) –
Berichten eines Hergangs –
Über den Hergang Vermutungen anstellen –
Eine Hypothese aufstellen und prüfen –
Darstellen der Ergebnisse eines Experiments durch Tabellen und
Diagramme –
Eine Geschichte erfinden; und lesen –
Theater spielen –
Reigen singen –
Rätsel raten –
Einen Witz machen; erzählen –
Ein angewandtes Rechenexempel lösen –
Aus einer Sprache in die andere übersetzen –
Bitten, Danken, Fluchen, Grüßen, Beten.“
(PU Nr. 23)
Diese Vielfalt ist natürlich nur eine kleine Auswahl aus allen Möglichkeiten.
Wittgenstein geht über jede Philosophie oder Logik der Alltagssprache hinaus,
indem er die sprachliche Realität nicht auf einige wenige Typen reduziert, sondern
vielmehr auf die nahezu unendliche Vielfalt menschlichen Lebens verweist.
Nicht nur die Internetenzyklopädie ‚Wikipedia‘ führt Wittgensteins ‚Philosophische
Untersuchungen‘ als Vorläufer der sogenannten Sprechakttheorie, die in der
linguistischen Pragmatik eine große Rolle spielt, an:
„Die Philosophischen Untersuchungen übten einen außerordentlichen Einfluss auf die Philosophie der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts
aus; unter anderem die Sprechakttheorie bei John Langshaw Austin
und John Rogers Searle sowie der Erlanger Konstruktivismus (Paul
Lorenzen, Kuno Lorenz) bauen auf den hier entwickelten Ideen auf.“
(URL 1)
Eine Äußerung Wittgensteins in den ‚Philosophischen Untersuchungen‘ könnte
diese Annahme bestätigen: „Das Wort ‚Sprachspiel‘ soll hier hervorheben, daß das
Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Lebensform.“ (PU Nr. 23)
Wittgenstein verwendet hier nicht den Begriff der ‚Handlung‘, wie ihn
z.B. schon Karl Bühler in seiner Sprachtheorie, die 1934 in erster Auflage erschienen ist, gebraucht (Bühler, 1934, S. 45 et passim). Er spricht von „Tätigkeit“ und sagt
22
zudem, dass Sprechen „ein Teil einer Tätigkeit“ ist, dass also zum Sprechen noch
mehr gehört als nur die Äußerung sprachlicher Elemente. Wichtig aber ist, dass
Wittgenstein für das Syntagma „Teil einer Tätigkeit“ die Alternative „Teil einer
Lebensform“ anbietet und damit von vornherein – ich formuliere absichtlich überspitzt – die Reduktion der Vielfalt menschlichen Lebens auf fünf Sprechakttypen
ablehnt.
Die scheinbare terminologische Unschärfe bei der Bezeichnung der Produkte verweist uns darauf, dass die grundlegende Einheit des Sprechens oder des Sprachspiels
eben nicht das Wort oder der Satz ist, sondern der Text, auch wenn dieser Begriff,
der die fundamentale sprachliche Einheit bezeichnet, in den ‚Philosophischen
Untersuchungen‘ fehlt, was dem damaligen sprachwissenschaftlichen Wissensund Bewusstseinsstand entspricht. Der Text ist, einem klassischen Dictum Peter
Hartmanns zufolge, das „originäre sprachliche Zeichen“ (Hartmann, 1971, S. 10).
Unser Denken und Erkennen geht immer in komplexen Gefügen vor sich, nie in
einzelnen Sätzen oder gar in einzelnen Wörtern: „Wenn wir anfangen, etwas zu
glauben, so nicht einen einzelnen Satz, sondern ein ganzes System von Sätzen.“
(Über Gewißheit, zit. nach Kenny, 1996, S. 300)
Die Wörter existieren im Lexikon einer Sprache, für die Bildung von Sätzen bestehen relativ feste Regeln. Demgegenüber ist die Bildung von Texten ziemlich frei
und variabel, weil sich ein Text immer einer Situation anpassen muss. Ein Satz
kann allein mit sprachlichen Mitteln definiert werden, zu einem Text kommen
notwendigerweise außersprachliche Elemente dazu. Ich sage gerne: Ein Text ist ein
sprachliches Gefüge, das in einer Situation als Einheit gilt. D.h., dass die Situation
ein wesentliches Definiens des Textes ist.
Das Sprachspiel hat, wie wir gesehen haben, systemischen Charakter. Daher gilt
auch dafür die Feststellung, dass das Prinzip von Zentrum und Peripherie auch
das System des Sprachspiels kennzeichnet. František Daneš charakterisiert „die
sprachlichen Kategorien oder Klassen“ nicht als „geschlossene[] Schachteln“,
sondern als „Gebilde mit einem festen oder kompakten Kern (oder Zentrum) und einer
diffusen Peripherie, die in die Peripherie einer oppositionalen Kategorie oder Klasse
übergeht oder in sie eindringt“ (Daneš, 1982, S. 133). Auf diese Weise können wir
heute sehr schön die dialektale Gliederung des deutschen Sprachraums beschreiben, bei der wir Kernregionen mit den Kennzeichen eines Dialektareals haben und
dazwischen Übergangszonen, in denen die Merkmale des einen Areals ab- und die
des anderen Areals zunehmen.
Die „Kategorien oder Klassen“ des Sprachspiels sind indes nicht oppositive Einheiten mit jeweils bestimmten Merkmalen. Die „Kategorien“ des Sprachspiels sind
vielmehr Situationen, in denen sich Texte gewissermaßen ‚bewähren‘ müssen,
also Situationen, die von Texten bewältigt werden müssen. Je weiter wir uns vom
Zentrum eines solchen Systems entfernen, desto weniger ist ein Text
23
situationsadäquat. Ein solcher Text kann im sozialen Leben zu Problemen führen.
Dies betrifft sowohl die Produktion als auch die Rezeption von Texten.
„Meier geht zu dem Mieter, der die Wohnung unter ihm hat, und
sagt: ‚Ich will meinen Flur tapezieren – wieviele Rollen Tapete haben
Sie denn damals für Ihren gekauft?‘
‚Sieben.‘
Herr Meier bedankt sich, und geht wieder nach oben. Eine Woche
später kommt er erneut: ‚Was haben Sie denn da erzählt? Ich habe
ganze fünf Rollen übrig behalten!’
‚Das war bei mir damals genauso …‘“
(URL 2)
Herr Meier hat seine Frage nicht optimal formuliert, und der Nachbar ist nicht der
optimale Rezipient.
Für die Sprachwissenschaft ergeben sich aus diesen Überlegungen zwei zentrale
Aufgaben des Faches:
• Die Beschreibung des Baus einer Sprache, dies allerdings zuvörderst sub specie textus, sodass auch die Regeln der Sprachverwendung Teil des ‚Sprachbaus‘
werden.
• Zu unseren wesentlichen sozialen Aufgaben gehört es, die Texte, die
unsere Mitmenschen produzieren, zu verstehen. Einen Text verstehen heißt
diesen Text analysieren. Die Sprachwissenschaft muss also das Instrumentarium
zur Textanalyse, zur Analyse aller Sprachspiele und Sprachspielarten erarbeiten
und zur Verfügung stellen.
Wir hier in Opava, wir – die ‚Troppauer Schule der sprachwissenschaftlichen
Textanalyse‘ – haben begonnen, eine Text-, Satz- und Wortgrammatik zu
konzipieren und zu erstellen, die die Grundlage(n) für die Textanalyse liefert.
Abstract
Language can be compared with a game of chess: on the one hand, a particular stage
of the game is a system, in which the single figures are in a special relation with one
another. Moreover, each game is a dynamic process in which the rules of the game
and the strategy of the players constantly obtain new stages. In this way, a game
with words has a systemic character. The principle of centre and periphery also
characterizes the system of the language-game. Thus it is a construct with
a solid nucleus and a vague periphery merging into the periphery of an oppositional
category or class. The categories or classes of the language-game, however, are
no oppositive units with particular distinguishing features. The categories of the
language-game are rather situations in which texts have to cope with the situation,
24
i. e. in situations that have to be expressed by texts. This refers to the production of
texts as well as to their reception.
Keywords
language-game, text, text linguistics
Literaturverzeichnis
Bühler, Karl (1934). Sprachtheorie. Stuttgart: Gustav Fischer.
Daneš, František (1982). Zur Theorie des sprachlichen Zeichensystems. In: Scharnhorst, Jürgen / Ising, Erika (Hg.). Grundlagen der Sprachkultur. Beiträge der Prager
Linguistik zur Sprachtheorie und Sprachpflege. Tl. 2. Berlin: Akademie, S. 132-173.
Eggers, Katrin (2014). Ludwig Wittgenstein als Musikphilosoph. Freiburg/München:
Alber.
Fann, K. T. (1971). Die Philosophie Ludwig Wittgensteins. München: List.
Glock, Hans-Johann (2000). Wittgenstein-Lexikon. Aus dem Englischen übers.
von Ernst Michael Lange. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
Hartmann, Peter (1971). Texte als linguistisches Objekt. In: Stempel, Wolf Dieter
(Hg.). Beiträge zur Textlinguistik. München: Fink, S. 9-29.
Kenny, Anthony (Hg.) (1996). Ludwig Wittgenstein. Ein Reader. Stuttgart: Reclam.
Malcolm, Norman (1968). Wittgensteins ‚Philosophische Untersuchungen‘.
In: Über Ludwig Wittgenstein. Mit Beiträgen von Norman Malcolm, Peter Frederick
Strawson, Newton Garver u. Stanley Cavell. Frankfurt (Main): Suhrkamp, S. 7-51.
Saussure, Ferdinand de (1967). Grundfragen der Allgemeinen Sprachwissenschaft.
2. Aufl. Berlin: de Gruyter.
Saussure, Ferdinand de (1985). Cours de linguistique générale. Édition critique
préparée par Tullio de Mauro. Saint-Germain: Éditions Payot.
Savigny, Eike von (2011). Sprachspiele und Lebensformen: Woher kommt die Bedeutung? In: Savigny Eike von (Hg.). Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen. 2. Aufl. Berlin: Akademie, S. 7-32.
Schulte, Joachim (2006). Notiz zu den Texten. In: Wittgenstein, Ludwig. Tractatus
logico-philosophicus. Tagebücher 1914-1916. Philosophische Untersuchungen. Frankfurt (Main): Suhrkamp, S. 619-621.
Wittgenstein, Ludwig (2006). Tractatus logico-philosophicus. Tagebücher 1914-1916.
Philosophische Untersuchungen. Frankfurt (Main): Suhrkamp.
25
Wolf, Norbert Richard (2009). Modalität als Ausdruck des sprechenden Menschen.
In: Spáčilová, Libuše / Vaňková, Lenka (Hg.). Germanistische Linguistik und die
neuen Herausforderungen in Forschung und Lehre in Tschechien. Brno: Vaydal, S.
25-33.
Internetquellen
URL 1: Philosophische Untersuchungen. In: Wikipedia. https://de.wikipedia.org/
wiki/Philosophische_Untersuchungen [15.03.2016].
URL 2: www.witze-planet.de/schlagwort/missverstandnis [15.03.2016].
26
Grammatische Variation.
Am Rande der deutschen Standardsprache
Ludwig M. Eichinger
Annotation
Eine am Gebrauch orientierte Sprachbeschreibung ist auch in der Grammatik
mit sprachlicher Variation und mit Veränderungen des Gebrauchs konfrontiert.
Anhand dreier Beispiele aus dem zentralen Bereich der deutschen Grammatik
soll gezeigt werden, dass sich in der Variation, die man dort beobachtet, eine
funktionale Nutzung des vorhandenen Inventars darstellt. Diese funktionale
Nutzung ist dadurch gekennzeichnet, dass seltenere und daher synchron
auffälligere Konstruktionen für spezifische Funktionen genutzt werden. Der Genitiv
ist tatsächlich aus formalen Gründen seiner Morphologie auffällig. Er ist nicht vom
Dativ unterschieden beim Femininum, doppelt markiert bei den starken Maskulina
und Neutra und nur beschränkt bildbar im Plural. Diese Eigenheiten beschränken
seine Nutzung als normaler Kasus. Gerade aber die auffällige Markierung mit
dem Element {-(e)s} hat dazu geführt, dass der Genitiv nun zur Anzeige genereller
Abhängigkeit genutzt wird, und zwar als Genitivattribut wie als unmarkierte Form
bei einer Gruppe von Präpositionen (wie dank, trotz, wegen, entlang usw.). Beim
zweiten Fall, dem Verhältnis von starken und schwachen Verben, zeigt sich, dass
der Übergang von der starken zur schwachen Flexion, die erkennbar den Normalfall im morphologischen System darstellt, gerade häufige und in ihrer Bedeutung
grundlegende Verben (wie geben, nehmen usw.) nicht betrifft, so dass die starke
Flexion als Markierung für solch einen zentralen Status gelten kann. Der dritte
Punkt hängt damit zusammen: das Ausgreifen der würde-Form als Konjunktiv II
(auch bei gut markierten starken Verben) ist so im größeren Zusammenhang der
Nutzung von Klammerformen zu sehen.
Schlüsselwörter
Markiertheit, Variation, funktionale Nutzung, Gebrauchsveränderungen, zentraler
Status
1. Zum Rahmen: Der Strukturalismus und seine Folgen
Seit gut hundert Jahren haben wir uns im Gefolge des de Saussure’schen
Cours daran gewöhnt, die Sprache als ein System zu sehen, in dem sich alles
gegenseitig stützt. Diese grundlegende Abstraktion der seither so genannten
27
modernen Linguistik fokussiert auf die Verlässlichkeit des Zusammenhalts. Schon
früh wird aber auch, nicht zuletzt im Prager Funktionalismus, auf Abstufungen in
der funktionalen Belastung hingewiesen. Es gibt Unterschiede, die auch in einer
systembezogenen Betrachtung einen Platz finden sollten. Noch weiter gehen
Überlegungen, die man mit dem Namen Eugenio Coserius verbinden wird,
letztlich spielt bei ihm erstmals die Gebräuchlichkeit bestimmter Formen eine
Rolle: Seine Norm lässt sich als ein System des Gebrauchs verstehen. In sprachphilosophischen Überlegungen wird eigentlich schon parallel zu solchen Entwicklungen an Erklärungen des Gebrauchs, wenn man so will an einer pragmatischen
Grammatik, gearbeitet. Vor allem mit dem Namen Ludwig Wittgensteins wird
unter dem Stichwort der „Sprachspiele“ die Beschreibung von Mustern
sprachlichen Gebrauchs verbunden und zu einer Aufgabe sprachwissenschaftlicher
Beschreibung. Was immer man aus dieser sehr groben Skizze lesen kann, klar ist,
dass der Blick auf Variation intensiver wird, dass Variation einen zentraleren Platz
in der Beschreibung einnimmt.1
Man kann sich fragen, ob das nur eine wissenschaftshistorische Entwicklung
beziehungsweise eine Diskussion spiegelt, oder ob mit der Variation etwas in den
Blick genommen wird, was unsere sprachliche Welt zunehmend prägt. Vermutlich ist
es nicht verwunderlich, dass in bestimmtem Ausmaße beides wahr ist.
2. Stabilität und Variation
Man kann also auch schon auf zwei Ebenen Antworten auf die Frage suchen, was
das Deutsche sei und was es gewesen sei. Man kann die empirischen Fragen zu
diesen sprachlichen Zuständen von zwei Seiten her angehen, einerseits von der
Seite des Systems her, und daher nach Verschiebungen im System und nach den
Folgen solcher Verschiebungen für die Architektonik der Systemzusammenhänge
suchen, oder andererseits nach der Veränderung der Interaktionsbedingungen
durch die gesellschaftlichen Zeiten und Situationen fragen und danach, was die
Konsequenzen aus Veränderungen auf dieser Ebene sind. Beiden Arten von Fragen
soll im Weiteren exemplarisch nachgegangen werden.
Für beide Ebenen ist von Bedeutung, dass man die sprachliche Entwicklung als
die Phasen eines atmenden Systems verstehen kann, also eines Systems, in denen
Phasen der Diffusion mit solchen der Konzentration wechseln. Längere Phasen der
Geschichte des Neuhochdeutschen auf dem Weg der Standardisierung sind vom
Sog zur Einheitlichkeit gekennzeichnet. Je ausgebauter die Interaktionsmöglichkeiten auf dieser Basis werden, desto stärker eröffnen sich paradigmatische
Möglichkeiten der Realisierung, es gibt eine parallele Bandbreite von systematischen
Optionen2.
1 Zu diesen Überlegungen s. Eichinger (2016).
2 Diese Zusammenhänge werden ausführlich dargelegt in Eichinger (2017).
28
3. Variation als Systemfrage: vom Genitiv (und vom Dativ)
Die Diskussion um den Status, und normalerweise um den schwindenden Status,
des Genitivs ist ein Klassiker der sprachkritischen Diskussion, deren systematische und deren Gebrauchsseite erst in den letzten Jahren sprachwissenschaftlich
erhellt wurde. Wenn man das zusammenfasst und interpretiert, kommt man zu vier
Punkten, die wir anschließend behandeln wollen. Zum ersten kann man in etwas
provokanter Form feststellen, dem Genitiv gehe es gut, er ist aber kein Kasus mehr.
Dieser – etwas weniger provokant gesagt – marginale Status im deutschen Kasussystem hat zur Folge, dass es zu einer gewissen Umfunktionalisierung kommt. Diese
Umfunktionalisierung nutzt die Eignung der Genitivformen, oder zumindest eines
Teils von ihnen, ihn als einen starken Marker von Abhängigkeit auszubauen. Diese
Verschiebung hat merkliche Folgen am Übergang zwischen Konstruktions-Eigenheiten und stilistischer Nutzung. Es ist letztlich nicht überraschend, dass sich damit
Schwankungen am Rande der üblichen Gebräuche ergeben, die zu normativen
Diskrepanzen führen.
Dass es dem Genitiv insgesamt gut gehe, ist eine überraschende Behauptung. Sie
bedarf der Begründung. Der vermutlich unbestrittenste Punkt in dieser Richtung
ist, dass der Genitiv der strukturelle Marker für die Abhängigkeit im nominalen Bereich ist, also substantivisches Attribut. Das gilt systematisch, die GenitivMorphologie indiziert eigentlich nicht mehr als „Abhängigkeit“, die verschiedenen Namen für die Genitivattribute spezifizieren Kontextbedingungen, ggf. auch
syntaktische („genitivus subiectivus“), die dann in spezifischere semantische
Interpretationen der Abhängigkeitsrelation führen. Dieser Tatbestand und auch
die Stellung der Genitiv-Konstruktionen zu relativ beschränkten verwendbaren
Alternativen lassen sich durch die folgenden Beispiele andeuten. In ihnen wird
auch unmittelbar sichtbar, dass mit ihrer Nutzung, wenn sie im gleichen Kontext
verwendbar sind, eine stilistische Markierung verbunden ist.3
(1)
(2)
(3)
(4)
Das Thema meines Vortrags / meiner Vorlesung
Das Thema von meinem Vortrag / von meiner Vorlesung
?Meines Vortrags Thema / ??Meiner Vorlesung Thema
[meinem Vortrag sein Thema / ???meiner Vorlesung ihr Thema]
Tatsächlich ist die Lage noch etwas komplizierter, so spielt unter anderem
gelegentlich auch der weiträumigere Kontext mit seinen Anschlussmöglichkeiten
eine Rolle. So mag man sich auf den ersten Blick fragen, warum in den folgenden
beiden Beispielen einmal der Genitiv und im anderen Fall an einer äquivalenten
Stelle die von-Konstruktion gewählt wird:
3 Das natürlich ungeachtet der Verwendungen, bei denen es sich nicht um Alternativen handelt, etwa artikellose
Plurale, Typ: die Hörer von Vorlesungen.
29
(5)
(6)
Für die vielen Beweise der Anteilnahme am Tod meines Mannes,
unseres Vaters. (Vorarlberger Nachrichten, 03.04.1998)
die Anteilnahme, die wir anlässlich des Todes von meinem
Lebensgefährten, unserem Papa, Schwiegervater, Bruder und Opa.
(Vorarlberger Nachrichten, 09.09.2000)
Man darf vermuten, dass es im zweiten Fall um die Vermeidung des zweiten
Attributs in der Reihe, also unseres Papas, ging, deren Akzeptabilität gering ist –
was sicher mit einer der Gründe ist, warum man in solchen Fällen, auch bei Wahl
eines ersten Genitivs, hier mit dem Dativ rechnen könnte, als eine Art constructio
ad sensum, bei der der Genitiv an dieser Stelle implizit mit von reanalysiert wird.
Man kann das auch als Beleg dafür sehen, dass tatsächlich der Genitiv und die
von-Konstruktion über ein Paradigma verrechnet werden. Das kann man in
anderer Weise auch an den folgenden beiden Beispielen sehen. Selbst die determinierende und individualisierende Funktion des attributiven Adjektivs lässt die
starken Genitive bei den beiden Kollektiva Obst und Gemüse auffällig erscheinen,
die von-Konstruktion ist da ohnehin der Normalfall, und auch mit Adjektiv
erscheint von jahreszeitgerechtem Obst und Gemüse zumindest stilistisch normaler4.
(7)
(8)
Die gesundheitsbewussten Gäste konnten anhand eines beispielhaften
Tagesplans mitverfolgen, wie man unter Verwendung jahreszeitgerechten
Obsts und Gemüses ganz leicht und schmackhaft sogar mehr als die
geforderte Menge von 450 bis 600 Gramm pro Tag zu sich nehmen
kann. (Rhein-Zeitung, 23.03.2004)
Außerdem lernen sie vieles über den Anbau und die Verwendung von
Obst und Gemüse. (Mannheimer Morgen, 05.09.2003)
Dennoch geht es dem Genitiv als Normalfall des substantivischen Attributs gut,
wozu die relative Auffälligkeit des {-s}-Morphems das ihre beiträgt. Vor allem
in komplexen attributiven Gefügen hilft eine solche wiederkehrende, deutlich
sichtbare Abhängigkeitsmarkierung, die Konstruktionen durchsichtiger zu machen.
Auffällig ist das etwa in Rechts- und Verwaltungstexten, bei denen die Setzung in
nominalen Komplexen ein zentrales Texttypenmerkmal ausmacht.
(9)
Die Wirkungen der Entscheidung 2004/535 werden bis zum
30. September 2006, jedoch nicht über den Zeitpunkt des
Außerkrafttretens des genannten Abkommens hinaus, aufrechterhalten. (http://www.springerlink.com/content/)
(10) In Anerkennung der Bedeutung grundlegender Rechte und Freiheiten,
insbesondere des Schutzes der Privatsphäre, und deren Achtung bei
der Verhütung und Bekämpfung des Terrorismus und damit verbundener
4 Was nun seinerseits wieder mit der hohen phonetischen wie systematischen Auffälligkeit dieser Flexion am
Substantiv zusammenhängt; s. Eichinger (2012).
30
Verbrechen sowie sonstiger schwerer Verbrechen transnationaler Art,
einschließlich der organisierten Kriminalität. (http://eur-lex.europa.eu/)
An diesen Texten sieht man einerseits diese Funktion, die Funktion dieser am
Artikel und Substantiv gedoppelten starken Markierung sehr deutlich, sie wird
ergänzt durch weitere vergleichsweise auffällige Marker, nämlich das {-er} bei
den Adjektiven genitivischer Pluralformen und eines Pronomens wie deren. Es ist
zumindest für diesen Texttyp zudem nicht untypisch, dass durch die Position bei
einem deverbalen Kernsubstantiv die formal kritischen Fälle des Genitiv Singulars
des Femininums, der ja mit dem Dativ formgleich ist, die Abhängigkeit positionell
und syntaktisch („genitivus subiectivus“) verdeutlicht wird.
In dieser Lesart kann man jedenfalls annehmen, dass der formal gänzlich übermarkierte {-s}-Genitiv, in der Terminologie Tesnières gesprochen, ein Translativ
darstellt, das den attributiven Charakter, d.h. einen speziellen Fall von Dependenz,
kennzeichnet. In diesem Denkmodell bedeutet das, dass dadurch signalisiert wird,
dass hier eine substantivische Form „eigentlich“ nicht in substantivischer Funktion verwendet wird.5 Das passt, was verschiedentlich schon angemerkt wurde,
zu weiteren Verwendungen des {-s}-Elements, dem damit eine Art derivationeller
Ausdruck einer „uneigentlichen“ Verwendung eines Substantivs zugeschrieben
wird. Einschlägige Fälle wären etwa die sogenannten adverbialen Genitive – zudem
auch bei Feminina und in schwierigen Konstruktionen:
(11) eines Tages, eines Nachts, tags darauf
Aber auch - klassischer - der sogenannte sächsische Genitiv von und
sonstige Eigennamen (hier genusbezogen: Neutrum) sowie verwandte
(auch postponierte) Verwendungen, auch hier unabhängig vom Genus:
(12) Vaters/Mutters Haus, *das Haus Vaters/Mutters; Ottos/Marias Haus,
das Haus Ottos/Marias; Malis Besetzung/die Besetzung Malis,
*Kongos Besetzung/*die Besetzung Kongos
Man kann auch die Nutzung des Fugenelements insgesamt und daher der deutlich
ihren flexivischen Geltungsbereich (Maskulina und Neutra) überschreitenden {s}Fuge als zusätzliches Signal einer unselbständigen Verwendung sehen – neben
Zusammenschreibung und der morphologischen Isolierung, die nur den Bezug
auf das Zweitelement zulässt. Typisch ist geradezu die Verwendung bei abgeleiteten
Feminina:
(13) Schönheitsoperation, Steuerungsprozess
Wir befinden uns ganz offenkundig in einem Randbereich grammatischer
5 In der sehr wortartorientierten Konzeption Tesnières hieße das: „wird zum Adjektiv“ (s. Werner 2003); Weinrich
betont in seiner Textgrammatik (Weinrich 2005) die funktionale Ähnlichkeit zu präpositionalen Verbindungen, was
die Paradigmatik mit der von-Konstruktion nahelegt.
31
Funktionalisierung eines im Satzsyntaktischen marginal gewordenen, aber recht
auffälligen und daher funktional belastbaren Elements.
In diesem funktionalen Zusammenhang kann man auch die im letzten Jahrhundert zunehmende Vereindeutigung der Nicht-Akkusativ-Rektion einer Reihe
von Präpositionen sehen, die historisch teils auf Genitive und teils auf Dative zu
beziehen wären.6 Von Vereindeutigung kann man sprechen, da das ja wiederum nur
die Maskulina und Neutra betrifft, während es im morphologischen Zwei-KasusSystem des Singulars des Femininums um eine Nicht-Akkusativ-Markierung geht.
Ein Beispiel dafür wäre etwa eine historische Dativ-Präposition wie dank:
(14) Sind erst einmal alle Widersacher - und dank des Zaubertranks bald
Liebenden - auf der Insel verstreut, geht das rasante Wirr-Warr auch
schon los. (Niederösterreichische Nachrichten, 01.07.2010)
Dabei erscheinen die nach wie vor belegten Dativ-Fälle zunehmend als
Ausdruck einer informelleren Ausdrucksweise:
(15) Diese gibt es nun dank dem Ludwigshafener Anwaltsverein.
(Mannheimer Morgen, 02.07.2010)
Wenn man ansieht, welches Bild sich anhand einer Korpusuntersuchung von drei
Zeitscheiben, nämlich zu Beginn, in der Mitte und am Ende des Zwanzigsten
Jahrhunderts, zeigt, sieht das folgendermaßen aus:
(16)
100
50
0
3. ZS
Genitiv
2. ZS
Dativ
1. ZS
Femininum Singular
Was immer geschieht, die Dativ-Verwendung geht deutlich zurück, und ein
Großteil der in Texten an dieser Stelle vorkommenden Substantive sind ohnehin
unterdifferenzierte Feminina.
6 Die historische Entwicklung dieser als gegenwärtiges Schwanken länger diskutierten Verteilung wird in Eichinger
(2013) dargelegt.
32
Dass wir uns auch hierbei den Regeln am Rande der üblichen Morphologie
befinden, mögen einige Belege zeigen, bei denen vor allem bei artikellosen Pluralen,
aber auch anderen Fällen, letztlich die Markierung allein auf der Präposition liegt
bzw. bei Substantiven, die nicht von Hause aus einen {-(e)n}-Plural haben, die
einzige verfügbare Markierung – die des Dativs – gewählt wird:
(17) Es sei wichtig, trotz Kinder die Partnerschaft und Freundschaften
nicht zu vernachlässigen. (Frankfurter Rundschau, 11.03.1999, S. 3)
(18) Will eine Mutter im Beruf trotz Kind flexibel sein. (Rhein-Zeitung,
11.07.2005)
(19) Viele Frauen wollten trotz Kindern Karriere machen. (Mannheimer
Morgen, 31.03.2001)
Der Funktionsverschiebung auf diese Art der Signalisierung von Abhängigkeit
entspricht auf der anderen Seite eine Spezialisierung der verbleibenden Gebräuche
als Genitivkomplement. Die Verwendungen, die sich da finden, sind einerseits ein
juristischer Sonderfall, andererseits stilistisch markiert oder konstruktionsmäßig
gebunden (vgl. Eichinger 2012). Aber selbst bei diesen Fällen zeigen sich Übergangserscheinungen, die eine Angleichung an die üblichen Systemverhältnisse
versuchen. So zeigt sich etwa beim Verb harren eine Angleichung an das präpositionale Muster des semantisch nahe stehenden Verbs warten auf:
(20) Er harrte schon seit aller Herrgottsfrühe auf den von Trier kommenden
Dampfzug. (Rhein-Zeitung, 06. 04.2010)
4. Variation als Normfrage: Verben
4.1. Nutzen und Nachteil starker Verben
Im verbalen Bereich gibt es bei den Sprechern und Schreibern des Deutschen
eine Reihe von Unsicherheiten. Viele von ihnen haben mit Verschiebungen im
Gebrauch von starken und schwachen Verbformen zu tun – und mit deren Folgen
im Bereich der Konjunktiv-Verwendung. Viele von ihnen werden in dem folgenden
Ausschnitt angesprochen und ironisiert:
(21) Auch in anderen Bereichen lassen sich die gleichen Entwicklungstendenzen beobachten, etwa im System des Konjunktivs. Hier geht die
Entwicklung unaufhaltsam zu einem mit “würde” gebildeten Einheitskonjunktiv und zur Ersetzung der Möglichkeitsformen durch die
Wirklichkeitsformen hin. Zu sehr klingen Sätze wie “O, hülfe er mir
doch!” oder “Wenn er den Fluß durchschwömme, wäre er in
Sicherheit” nach Grimms Hausmärchen oder altem Gesangbuch, zu
groß ist offenkundig die Angst, falsche Formen zu verwenden. Lauten
33
die richtigen Formen “hülfe” oder “hälfe”, “beföhle” oder “befähle”,
“gewänne” oder “gewönne”, “stände” oder “stünde”? “Alle glaubten,
daß der Fisch tot ist” oder “... tot sei” oder aber “...tot wäre”, “Sie
hätte das nicht behauptet, wenn sie ihn besser kennte” oder “besser
kännte”? Wie unproblematisch ist da doch die würde-Umschreibung,
wie verlockend die Flucht in die vertrauten Wirklichkeitsformen:
“O, würde er mir doch helfen!”, “Wenn er den Fluß durchschwimmen
würde, wäre er in Sicherheit”, “Sie hätte das nicht behauptet, wenn sie
ihn besser kennen würde.” (taz, 06.06.1989, S. 12-13)
Über alles gesehen haben diese Veränderungen damit zu tun, dass es zwei in
gewissem Umfang gegenläufige Entwicklungen gibt. Einerseits hat sich bekanntlich
die schwache Flexion zum regelhaften Normalfall entwickelt, was man unter anderem
daran sieht, dass neue, im Kontext von Entlehnung entstandene, Verben nach
diesem Muster flektiert werden, auch wenn das am Anfang nicht immer ganz
einfach erscheint, wie man am Beispiel von Verben wie liken oder recyceln sehen kann:
(22) Werden tolle Bilder zigmal gelikt, tut das schon gut. Es kommen auch
viele Kommentare: Du bist so schön, du siehst super aus. Man kann sich
so sehr viel Bestätigung und Beachtung holen. (SonntagsBlick,
13.07.2014)
(23) Kein Material kann so leicht recycelt werden wie Glas - wenn es von
Beginn an sauber nach Farben getrennt wird. (Rhein-Zeitung,
02.01.2003)
Zudem ist eine Reihe von ehemals starken Verben, meist partiell, zu dieser Flexionsweise übergetreten, es geht um Verben wie backen, dingen, fechten, gären, saugen,
sieden oder triefen.7 Dieser Prozess ist aber andererseits offenkundig zum Stillstand
gekommen, die jetzige Situation für die verbliebenen starken Verben erscheint
ungefährdet, es ist vielmehr geradezu so, dass es geradezu ein Merkmal für die
semantisch-funktional zentrale Stellung ist, dass und wenn in einem bestimmten
Bereich ein starkes Verb existiert. Es bleibt aber wahr, dass durch diese Veränderungen das ursprüngliche, etwa im Mittelhochdeutschen noch existente, relativ
einfache System der starken Verben seine Struktur weithin verloren hat, so dass
Unklarheiten beim genauen Vokalismus einzelner Formen auftreten. Damit
gibt es zunächst im Wesentlichen zwei Problempunkte, nämlich die Übergänge
zwischen starken und schwachen Verben und die Unsicherheiten über den richtigen Vokalismus:
(24) Das, was man backte oder kochte, wenn die Familie zusammenkam.
(Die Zeit, 26.05.2011)
7 Zu einer Liste der starken und unregelmäßigen Verben, in der auch die genannten Verben aufgeführt sind,
vgl. Duden (2016: § 704).
34
(25) Ende April buk die Konditorin Fiona Cairns eine achtstöckige Torte.
(Die Zeit, 02.06.2011)
(26) Bier-Brot, das mit dem neuen Kirner Landbier gebackt wurde.
(Rhein-Zeitung, 04.06.2011)
(27) Der Ausbau solcher Angebote hälfe ihnen mehr als das bürokratisch
komplexe Feigenblatt namens „Bildungs-Chip“. (Nürnberger
Nachrichten, 06.12.2010)
(28) Und wie müsste eine Liebe aussehen, die der Erkenntnis gewissermaßen
auf die Sprünge hülfe? (Hannoversche Allgemeine, 10.09.2009)
Zudem ist es so, dass auch diese Entwicklungen zum Teil durch Weiteres überlagert
werden. So kann man am Beispiel des Verbs saugen eigentlich dreierlei sehen,
nämlich erstens, dass über das Zwanzigste Jahrhundert hin tatsächlich der
Gebrauch der starken Formen ab- und der der schwachen Formen entsprechend
zunimmt. Allerdings sieht man zum zweiten, dass die Verwendung der starken
Formen nach wie vor deutlich überwiegt.
(29)
100
50
0
saugte/gesaugt
1. ZS
sog/gesogen
2. ZS
3. ZS
Zum dritten sieht man aber, dass mit dieser Verschiebung eine Bedeutungsdifferenzierung verbunden ist, die sich erst im Verlauf des Jahrhunderts zu
stabilisieren scheint, mit einer „konkreteren“ Bedeutung bei der schwachen Form
und einer eher fast metaphorischen und konstruktionell gestützten für die starken
Formen, die mit ihrer relativen Auffälligkeit das signalisieren und diese Domäne
beherrschen. So erscheinen jetzt die Beispiele (29) und (30) als sehr auffällig,
während die Verteilung der Gebrauchsweisen in (31) und (32) den gegenwärtigen
Normalfall repräsentiert:
(30) Er verschluckte den Rauch, sog ihn in den Magen, mehr und immer
mehr. (Ewers, Hanns Heinz, Alraune, München: Müller 1911)
(31) der zerschlagene Mund, der gierig immer neue Mengen Wodka in
diesen geschändeten Leib sog, stöhnte in weltferner Trauer.
(Dürrenmatt, Friedrich, Der Verdacht, Einsiedeln: Benziger 1955).
35
(32) Und so sog sie viele Einflüsse dieses kunsthistorischen Paradieses in
sich auf. (Nürnberger Nachrichten, 19.02.2009, S. 7)
(33) Die Putzfrau hat bestimmt drum herum gesaugt. (Beate Dölling, Hör
auf zu trommeln, Herz, Weinheim: Beltz & Gelberg 2003)
Zu den bisherigen Ambivalenzen kommt noch dazu, dass sich der Konjunktiv
II offenbar in zweierlei Weise an einer kritischen Stelle befindet. Einerseits von
der Form her, andererseits von der Funktion. Offenkundig ist das System der
schwachen Verben an der hier einschlägigen Stelle formal unterdifferenziert,
Konjunktiv II und Präteritum fallen in allen Positionen zusammen – was für
Konjunktiv I und Präsens in mindestens drei der sechs Formen auch stimmt.8 Hier
bietet sich zur Klärung das Ausweichen auf die würde-Form an, die zudem Vorteile
im Hinblick auf die Informationsverteilung hat. Von ihr wird noch die Rede sein;
das folgende vielzitierte Bertolt-Brecht-Beispiel zeigt jedenfalls den stilistischen
Nutzen des damit verbundenen Informationsverhalts:
(34)
Wenn die Haifische Menschen wären
Vorfeld
würden
sie natürlich auch untereinander
Mittelfeld
Krieg führen
Satzklammer
In diesen wiederum zweiseitigen Prozess ist es einzuordnen, dass die eigentlich
ja sehr deutlichen Konjunktiv II-Formen der starken Verben auch bei Lexemen,
die im Indikativ häufig sind und keine Schwächung des starken Formeninventars
zeigen, wie etwa sprechen, ebenfalls von dieser „Konjunktivschwäche“ betroffen
sind. An diesem Beispiel sieht man, dass die noch vor hundert Jahren stark
vertretene Form der ersten und (wohl vor allem) der dritten Person Singular deutlich
an Bedeutung verloren hat, zwar die erste und dritte Person Plural auf niedrigem
Niveau stabil geblieben ist, die Formen der zweiten Person aber schon lange keine
Rolle mehr spielen:
8 Vgl. ich liebe/fürchte, du liebest[!]/fürchtest, wir/sie lieben/fürchten, ihr liebet[!]/fürchtet.
36
(35)
60
50
40
30
20
10
0
1. ZS
2. ZS
3. ZS
4.2. Vorteile der Satzklammer
Die relativ restringierte Verwendung solcher Formen hängt wie gesagt auch damit
zusammen, dass mit der würde-Form eine Option zur Verfügung stand und weitere
Verbreitung fand, die gut ins System der Informationsverteilung bei komplexen
Verbformen passt. Die grammatische Information kommt an der zweiten Stelle, der
inhaltliche Kern am Ende des Mittelfeldes. Die Attraktivität und Modulierbarkeit
dieser Struktur führt zu allerlei Versuchen des Systemausbaus an dieser Stelle.
Die meisten sind allerdings eher im mündlichen Gebrauch üblich und haben sich
standardnah nicht so recht durchgesetzt.
Den vermutlich meistdiskutierten Fall dieses Typs stellt das sogenannte DativPassiv dar9, das eine einfache Thematisierung einer Dativ-Ergänzung erlaubt. Wie
es zu dieser Konstruktion kommt, kann man an dem folgenden Beleg (35) mit
seinen zwei parallel geführten Teilen gut sehen, die einen am Ende dann doch
überraschen:
(36) Eine Gruppe bekommt das Original-Präparat, eine andere ein
Placebo, also ein Präparat ohne Wirkstoff, verabreicht. (Saarbrücker
Zeitung, 02.04.2003)
Gängiger ist diese Konstruktion in eher sprechsprachlichen Kontexten, dann gerne
mit dem Verb kriegen:
9 Das ja auch schon einen Platz in den Standardgrammatiken gefunden hat, vgl. DUDEN (2016: § 807).
37
(37) Gehst Du als Anfänger in einen Skatekurs, dann kriegst Du dort als
allererstes genau das ausgetrieben. (Wikipedia; Diskussion:
Inlineskaten 29.10.2011)
Weitere Konstruktionen dieses Typs stellen die verschiedenen Varianten der
tun-Periphrase dar.10 Dabei gibt es einen auch im standardnahen Sprechen
akzeptierten Fall, nämlich, wenn das Vollverb des Satzes thematisiert wird und so
in das Vorfeld des Satzes rückt.
(38) Finanziell lohnen tut sich das trotz aller Vorurteile nicht.
(taz, 19.07.2004)
Zwei andere Fälle, in denen die Formen des Verbs tun wie eine modalitätsmäßig
unmarkierte Form eines Modalverbs behandelt werden – also kein sollen, müssen,
können signalisieren –, gelten als mehr oder minder umgangssprachlich und sind
in ihrer Verwendung regional begrenzt. Sie finden sich dominant im Südosten des
deutschen Sprachgebiets:
(39) “Der eine häkelt, der andere strickt: Ich tu gern basteln”, verrät Ida
Pois. (Niederösterreichische Nachrichten, 03.04.2007)
(40) Jein, nicht unbedingt, also man hat mehr Freizeit, täte ich jetzt einmal
sagen. (Oberstufenschüler aus München, IDS-Korpus “Deutsch
heute”).
Letztlich gehört in diese Reihe die sogenannte Verlaufsform mit am, die
einerseits einen deutlichen regionalen Kern im westdeutschen Raum („rheinische
Verlaufsform“) hat, wo sie systematisch bei ganz vielen Verben als ein Element
einer regionalsprachlichen Grammatik vorkommt. Belege wie der folgende gelten
eindeutig als regional markiert:
(41) [ich] bin da am Umbauen und gleichzeitig bin ich auch noch meine
Wohnung am Renovieren. (Oberstufenschüler aus Koblenz, „Deutsch
heute“)
Dagegen gibt es einige wenige Verben – eigentlich nur überlegen, arbeiten und
verzweifeln –, bei denen es sich um eine gängige, aber eben praktisch lexikalisch
gebundene Konstruktion handelt:
(42) Ich bin ziemlich hart am Arbeiten, meine Schulter wieder zu stärken.
(Braunschweiger Zeitung, 15.05.2007, DeReKo)
10 Beispiele und Erläuterung nach Brinckmann/Bubenhofer (2012).
38
Diese drei Erscheinungen, der Gebrauch des würde-Konjunktivs, die Ausweitung
im Bereich der tun-Periphrase und die Art der Nutzung der am-Verlaufsform,
zeigen, wie sich Variation aus der funktionalen Attraktivität erklärt, die für das
Deutsche in der Distanzstellung des Verbs liegt.
Fazit
Variation muss man – auch im „harten“ grammatischen Bereich – als Element des
Normalzustandes einer modern ausgebauten Sprache begreifen, wie das z.B. die
europäischen Sprachen sind. Wir haben in diesem Beitrag versucht, zum einen das
an Beispielen zu zeigen, und zum anderen an drei ausgewählten grammatischen
Bereichen den Zusammenhang der Folgen von Systemveränderungen und von
Präferenzen im Gebrauch darzustellen. Zusammenfassend kann man drei Punkte
festhalten. Erstens: Wie das Beispiel aus dem Kasus-System gezeigt hat, verhalten
sich Sprachen und Sprecher ökonomisch – auch systematisch eher marginale
Formen werden funktional eingesetzt. Zweitens: Gebrauchshäufigkeit korreliert
mit funktionaler und praktischer Bedeutung – in diesem Sinn bilden „stabile“
starke Verben trotz und in ihrer formalen Vielfalt den Kern des Verbwortschatzes.
Drittens: Zentrale Strukturmodelle sind aus dem Grund zentral, weil sie funktional
attraktiv sind – die Klammerstrukturen im verbalen Bereich üben offenbar einen
strukturellen Sog aus.
Auf einer anderen Ebene kann man sagen, dass diese Variationsphänomene, die
gerne als eine Schwächung der Sprache angesehen werden, eigentlich von ihrer
Stärke zeugen.
Abstract
Variation is a central feature of language usage, and it even affects the central areas
of the grammatical system. The choice of variants does not happen by chance, but
rather, functional distinctions are to be signaled with it. Thus, rare and therefore
more marked constructions are used for specific functions. This will be discussed
with respect to three examples. The first relates to the case system of the German
language. The genitive is a case with morphological peculiarities: in feminine nouns
it is not distinguished from the dative; in male and neutral strong nouns it is marked
in two places with the very clear ending -es, in the plural it cannot be formed in all
contexts. These peculiarities restrict its use as a case on the sentence level. The clear
identification by the element { es} however can be used in other contexts. It serves
as a dependency signal for the genitive attribute and for a group of prepositions
such as dank, trotz, wegen, etc. The second example relates to the fact that the weak
inflection has developed into the normal case of the verbal inflection. Many former
strong verbs have, at least partly, joined this pattern. On the other hand a large
group of basic and frequent verbs such as geben or nehmen still form their forms
39
according to the strong inflection. Thus the use of strong forms on the other hand
is evidence of the central position of the corresponding verb. The third example
is about the extended use of the würde-form as a subjunctive II. It is to be seen in
the context of the general significance of bracket constructions for the information
structure of German sentences.
Keywords
markedness, variation, functional use, changes in language usage, central position
Literaturverzeichnis
Brinckmann, Caren / Bubenhofer, Noah (2012): „Sagen kann man’s schon, nur
schreiben tut man’s selten - die tun-Periphrase. In: Konopka, Marek / Schneider,
Roman (Hg.): Grammatische Stolpersteine digital. Festschrift für Bruno Strecker zum
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Eichinger, Ludwig M. (2017): Standarddeutsch – die beste aller möglichen Sprachen.
In: Konopka, Marek / Wöllstein, Angelika (Hg.): Grammatische Variation. Empirische
Zugänge und theoretische Modellierung. (= Jahrbuch des Instituts für Deutsche
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Weinrich, Harald (2005): Textgrammatik der deutschen Sprache. 3. Aufl. Hildesheim
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Werner, Edeltraud (2003): Das Translationskonzept Lucien Tesnières. In: Vilmos Ágel
u.a. (Hg.): Dependenz und Valenz. Ein internationales Handbuch der zeitgenössischen
Forschung. 1. Halbband. (= HSK 25.1). Berlin/New York: de Gruyter, S. 115-129.
40
Zentrum und Peripherie in der Korpuslinguistik
Veronika Kotůlková
Annotation
Um die zentralen Spracherscheinungen von den peripheren unterscheiden zu
können, braucht man sprachliche Daten. Nicht nur aus dem Bedürfnis heraus,
authentische Beispiele einfach und schnell finden zu können, greift man heutzutage
nach Textkorpora unterschiedlicher Art. Im Beitrag wird am Beispiel des deutschen
Verbs lassen gezeigt, wie man sich ein Parallelkorpus bei sprachvergleichenden
Analysen zu Nutze machen kann und wie man die Korpusbelege auswertet, um die
zentralen Phänomene des jeweiligen Sprachsystems hervorzuheben.
Schlüsselwörter
Zentrum, Peripherie, Infinitivkonstruktionen, Textkorpus
1. Zentrum und Peripherie
Das Begriffspaar ,Zentrum‘ und ,Peripherie‘ war in der sprachwissenschaftlichen
Forschung immer bedeutsam. Es waren vor allem die Vertreter der Prager Schule
(vgl. Daneš, 1982, S. 135), die die Sprache als ein sich ständig in Bewegung
befindendes, sich immer weiter entwickelndes und deshalb als stets offenes
System aufgefasst haben. Für die Zuordnung eines sprachlichen Phänomens zum
Sprachzentrum oder zur Sprachperipherie sind vor allem die Distribution und die
Frequenz maßgebend. Während zentrale Erscheinungen häufig gebraucht werden,
ist für periphere Erscheinungen eine geringere Frequenz charakteristisch. Diese
Tendenzen regeln wiederum den Usus und die Norm auf verschiedenen Ebenen
der Sprache. (vgl. Heller, 1980, S. 163.)
Um die zentralen Spracherscheinungen von den peripheren unterscheiden zu
können, brauchen Sprachwissenschaftler sprachliche Daten. Grundsätzlich ist es
möglich, sprachliche Daten aus vier unterschiedlichen Quellentypen zu gewinnen:
durch Introspektion, durch Informantenbefragung, durch eine Belegsammlung
oder durch ein Textkorpus. Diese Verfahrensweisen leisten Unterschiedliches.
Besonders im Kontrast stehen die Introspektion und Korpusbelege. Das Befragen
der eigenen Intuition führt meistens dazu, dass man in Grammatikbüchern auf
Sätze wie den folgenden stößt: „Adam läßt Eva Monika Peter Paul ein Schwein
schlachten lassen lassen lassen.“ (Erben, 1998, S. 369). Dieses Beispiel soll die
41
Komplexität der Infinitivkonstruktionen demonstrieren, der jeweilige Grammatiker macht sich jedoch nicht so viele Gedanken darüber, ob man tatsächlich so
spricht. Man fragt sich also, was überhaupt ein Beispiel resp. ein Beispielsatz ist
und was es / er leisten soll. Im herkömmlichen Sprachgebrauch ist ein Beispiel
ein „beliebig herausgegriffener, typischer Einzelfall (als Erklärung für eine
bestimmte Erscheinung od. einen bestimmten Einzelfall)“ (Duden, 1999, Bd. 2,
S. 510). Selbstkonstruierte Sätze sind aber keine Beispiele im Sinne der oben aufgeführten Definition, sondern der Versuch, etwas zu beweisen, was ein Grammatiker nicht oder nicht so leicht gefunden hat, sodass er sich den Beweis für eine
These selbst schafft.
Eine sinnvolle Grammatik soll den Bau einer Sprache beschreiben, sie geht also
von dem individuellen Sprechakt (Parole) aus zur Norm (im Sinne Eugenio
Coserius) und kommt möglicherweise zum abstrakten System von Regeln (Langue).
Es scheint also nicht sehr sinnvoll zu sein, eine Grammatik auf der Basis von
selbstkonstruierten Beispielen zu schreiben.
Nicht nur wegen des Bedürfnisses, authentische Beispiele einfach und schnell zu
finden, sind in den letzten Jahrzehnten korpuslinguistische Studien sehr beliebt.
Textkorpora bieten mehr oder weniger feste Sammlungen von Texten an, die
immer als Ganzes untersucht und auch mit statistischen Methoden befragt werden
(vgl. Scherer, 2006, S. 3). Auf diese Weise können wir sehen, was tatsächlich
einmal verwendet wurde oder wird, was also nicht nur vom System her möglich ist,
sondern was auf alle Fälle schon in den Bereich der Norm (wiederum im Sinn
Coserius) eingetreten ist, und wie häufig etwas genutzt wird, also wie stark eine
bestimmte Form, ein bestimmter Ausdruck, eine bestimmte Struktur funktional
belastet ist. Anders gesagt, Korpusrecherchen helfen uns zu bestimmen, welche
sprachlichen Phänomene im Zentrum des Sprachsystems stehen, welche eher an
der Peripherie.
2. Ein Textkorpus im Einsatz
Im Folgenden soll an einem konkreten Beispiel gezeigt werden, wie Textkorpora nutzbar gemacht werden, um zentrale Sprachphänomene von den peripheren
unterscheiden zu können.
Stellen wir uns zu Anfang eine einfache Frage: Wie wird die Konstruktion ‚lassen
+ Infinitiv‘ ins Tschechische übersetzt? Wenn man eine Sprache wissenschaftlich
untersucht, findet bewusst oder unbewusst immer ein Vergleich mit anderen
Sprachen statt. Eine sprachliche Erscheinung fällt einem auf, wenn sie keine
Entsprechung in einer anderen Sprache hat, eine deutliche Abweichung aufweist,
oder wenn in zwei typologisch unterschiedlichen Sprachen, wie das Deutsche
und das Tschechische sind, zwei Konstruktionen vorkommen, die sich in ihrer
Form und Funktion sehr ähnlich sind (vgl. Manshu Ide, 1996, S. 11). Das deutsche
42
Verb lassen und das tschechische Verb nechat geben uns in dieser Hinsicht ein
interessantes Beispiel.
Die Recherche in dem größten deutsch-tschechischen Wörterbuch von Hugo
Siebenschein ergibt für das deutsche lassen zwei tschechische Äquivalente: nechat
(nebránit, dopustit, připustit) und dát (vgl. Siebenschein, 2001). Da entsteht aber
eine neue Frage: Mit welchem der zwei Verben wird lassen öfter übersetzt und
in welchen Kontexten?
Die Frage nach den quantitativen Angaben zum Vorkommen der jeweiligen
sprachlichen Phänomene passt wunderbar in den Bereich der Korpuslinguistik.
Für die Recherche wurde das deutsch-tschechische Parallelkorpus (vgl. URL 1)
gewählt, als ein Repräsentant von kleinen Korpora. In einem kleinen Korpus kann
man nämlich alle Daten zu einem Problem erheben und vollständig bewerten. Das
grammatische Phänomen kann somit sehr gut untersucht werden.
Die Ergebnisse der ersten Korpusrecherche werden in dieser Tabelle dargestellt:
210 (token)
Tschechische Äquivalente
der Konstruktion lassen+Infinitiv
dát / dávat
53
(26%)
nechat
43
(20%)
andere
114
(54%)
Es haben sich zwei mehr oder weniger vergleichbar große Gruppen gebildet, in
denen die Konstruktion lassen + Infinitiv ins Tschechische entweder mit nechat +
Infinitiv oder mit dát + Infinitiv wiedergegeben wird. In 54% der Fälle erscheint im
tschechischen Text kein formales Äquivalent der deutschen Konstruktion.
Diese quantitativen Angaben sind zwar sehr interessant, bringen in die Problematik
jedoch kein klares Licht. Die rein korpusgesteuerte Untersuchung ist hier nicht
ausreichend. Bei der Analyse der Daten muss sowohl die Intuition des
Sprechenden einer Sprache und seine Fähigkeit, die Daten zu interpretieren, zum
Tragen kommen, als auch das Wissen, das Linguisten über die Sprache haben.
Ohne theoretische Kenntnisse kommen wir nicht weiter.
2.1. Dateninterpretation
Schaut man sich die Beispielsätze, die die Korpusrecherche ergeben hat, genauer
an, stellt man fest, dass die einleitende Forschungsfrage modifiziert werden muss.
In erster Linie ist es nötig, nach der Funktion der Konstruktion lassen + Infinitiv in
43
den untersuchten Texten zu fragen. Das deutsche Verb lassen zeichnet sich durch eine
Vielfältigkeit an unterschiedlichen Verwendungen aus, sodass die Sätze mit lassen +
Infinitiv je nach ihrem Kontext unterschiedlich verstanden und interpretiert werden.
Dank der Interpretation der Korpusdaten wurden vier unterschiedliche Verwendungen von lassen ermittelt:
2.1.1. Kausative Lesart
Er ließ den Laden sofort schließen. (BCz 60)
Dal obchod okamžitě zavřít. (Bde 88)
Das Subjekt des finiten Verbs lassen gilt hier als der Veranlasser des Geschehens
(ein kausativisches Subjekt). Außerdem drückt die Form schließen, die formal als
Infinitiv Aktiv gilt, die Kategorie Passiv aus. Der Akkusativ wird hier also als Objekt
des Infinitivs gelesen. Wir können den Satz etwa mit ‚Er veranlasste / bewirkte, dass
der Laden sofort geschlossen wurde‘ paraphrasieren. Dem deutschen Kausativverb
in diesem Satz entspricht das tschechische Verb dát.
2.1.2. Permissive Lesart
Sie ließ Micha stehen und lief schnell zum Ausgang. (BCz 23)
Nechala Mikiho stát a spěchala k východu. (Bde 31)
Im Vergleich zu dem vorherigen Beispielsatz wird hier ein Zustand genannt,
der nicht vom Subjekt des finiten Verbs veranlasst wird. Das Verb lassen drückt
hier aus, dass der Zustand, in dem sich Micha befindet (Micha steht), bestehen
bleiben kann. Das Verb lassen hat hier also die permissive Bedeutung. Als Äquivalent
kommt im Tschechischen das Verb nechat vor.
2.1.3. Modale Lesart
Sie hatten im Dienstunterricht gelernt, woran sich Republikflüchtlinge erkennen lassen. (BCz 83)
Při průběžném zvyšování kvalifikace se učili, jak poznat člověka,
který chce opustit republiku. (Bde 122)
Die modale Lesart von sich lassen zeichnet sich dadurch aus, dass das
Reflexivpronomen hier ein Indikator für die Passiv-Diathese ist, und dass man
die Konstruktion mit Hilfe eines Modalverbs paraphrasieren muss (…woran
Republikflüchtlinge erkannt werden können). In den entsprechenden tschechischen
Sätzen kommt im Falle der modalen Bedeutung das Verb dát se vor.
44
2.1.4. Feste Wortverbindungen
Am Rückweg habe sie sich die Vorhänge etwas durch den Kopf gehen
lassen. (VCz 122)
Na zpáteční cestě trochu uvažovala o závěsech. (Vde 114)
Eine spezielle Gruppe bilden dann Konstruktionen, in denen lassen in festen
Verwendungen gebraucht wird.
Erst jetzt, nachdem die unterschiedlichen Lesarten der Konstruktion lassen +
Infinitiv analysiert worden sind, kann erneut die Frage gestellt werden, welche
tschechischen Äquivalente den unterschiedlichen Interpretationen von lassen
entsprechen? Bei der folgenden kontrastiven Untersuchung werden nur die zwei
häufigsten Lesarten von lassen betrachtet, in denen die Konstruktion lassen +
Infinitiv entweder eine kausative (,etwas veranlassen’) oder eine permissive (,etwas
zulassen’) Lesart aufweist.
Die folgende Tabelle zeigt die Ergebnisse der kontrastiven Analyse.
kausativ (123 tokens)
permissiv (55 tokens)
nechat
20
16%
23
55%
dát / dávat
35
28%
0
0%
Verb
44
36%
9
16%
andere
24
19%
16
29%
Aus der Tabelle geht eindeutig hervor, dass das deutsche lassen im Tschechischen
nur im Falle der kausativen Lesart sowohl mit dem Verb nechat als auch mit dát/
dávat wiedergegeben wird, bei der permissiven Lesart kommt jedoch nur nechat
in Frage. Das tschechische nechat weist genau wie das deutsche lassen sowohl die
permissive als auch die kausative Lesart auf. Es entsteht somit die Frage, ob nechat
im Falle der kausativen Lesart durch dát/dávat ersetzt werden kann.
Um diese Frage beantworten zu können, war es nötig, auf das große Nationalkorpus
der tschechischen Sprache zurückzugreifen. Bei der Korpusrecherche wurde zu
allen kausativen Konstruktionen mit nechat + Infinitiv mindestens eine Variante
mit dát/dávat gefunden. Es hat sich weiterhin gezeigt, dass das tschechische Verb
dát die Doppeldeutigkeit des Verbs nechat eliminiert, indem es eindeutig die
kausative Lesart signalisiert. Dies demonstriert auch das folgende Korpusbeispiel:
45
Der Keller, den Onkel Helmut aushob oder ausheben ließ, ...
Sklep, který vykopal anebo nechal vykopat strýc Helmut ...
Sklep, který vykopal anebo nechal vykopat strýc Helmut ...
= Sklep, který vykopal anebo dal vykopat strýc Helmut ...
Das Verb dát impliziert hier einen Agens als einen aktiven Veranlasser des Geschehens.
Aus diesem Grund kann in Konstruktionen mit der permissiven Bedeutung das
Verb nechat nicht durch dát ersetzt werden.
In der Mehrzahl der Belege steht der deutschen Konstruktion mit kausativem lassen
+ Infinitiv keine formal entsprechende Konstruktion gegenüber, sondern ein Verb.
Sehr oft ist es ein Verb mit einem Präfix:
... [sie] schnitt die Pilze zu kleinfingerdicken Scheiben, die sie auf
mittlerer Flamme brutzeln ließ.
... houby rozkrájela na plátky silné jako malíček, jež pak osmažila
na menším plameni.
Beim Vergleich der zwei Sätze zeigt sich, dass die Kausativität im Tschechischen
verloren geht, die Geschichte wird entschärft. Das tschechische Verb hat höchstens
einen kausativen Verbalcharakter.
In die Restgruppe wurden dann alle Sätze eingereiht, die eine gegenüber den
deutschen Sätzen unterschiedliche syntaktische Satzstruktur aufwiesen. Die genauere
Analyse der sogenannten Restgruppe hat eine interessante Erscheinung gezeigt.
Während in deutschen Sätzen die Bedeutung ‚ein Geschehen veranlassen‘ durch
das Verb lassen zum Ausdruck gebracht wird, wird in 90% der tschechischen Sätze
aus dieser Restgruppe die Tatsache, dass das Subjekt von lassen der Veranlasser
des Geschehens ist, explizit ausgedrückt, mit Verben wie z.B. vydat rozkaz (Befehl
geben), na pokyn (auf Anordnung) oder muset (müssen), was jedoch Veränderungen
der Satzstruktur mit sich bringt.
Als der eine schon lallte und der andere schielte, gingen sie allein zum
Grenzübergang in die Sonnenallee, hielten schicke Mercedesse an,
ließen die Fahrer aussteigen … (BCz 59)
Když už jeden šišlal a druhý šilhal, vydali se sami k hraničnímu
přechodu na Sluneční třídě, kde zastavovali luxusní mercedesy, řidiči
museli vystoupit, ... (Bde 86)
Im Deutschen werden hier drei Handlungen miteinander koordiniert verbunden;
diese syntaktische Struktur geht im Tschechischen aber verloren, weil hier die Fahrer
das Subjekt sind. Die Konstruktionen sind zwar sachlich identisch, dass Modalverb
muset (müssen) hat hier jedoch eine ganz andere Wirkung – es drückt eher die
externe Notwendigkeit aus.
46
Was die permissive Lesart betrifft, überwiegen hier in der Restgruppe Fälle, wo
die Konstruktion mit lassen + Infinitiv mit dem Verb dovolit (erlauben, zulassen)
wiedergegeben wird, sodass der permissive Charakter der Konstruktion erhalten
bleibt:
In fast allen Fächern überdurchschnittlich gut, ließ er zwar von sich
abschreiben, wollte dafür aber gelobt, von allen gelobt werden.
Ač téměř ve všech předmětech byl nadprůměrně dobrý, dovoloval
sice, aby se od něho opisovalo, chtěl však, aby se mu za to dostávalo
chvály, ode všech chvály.
3. Fazit
Wovon kontrastive Studien nur profitieren können, ist das Zusammenspiel von
kleineren Korpora, die eine vollständige Untersuchung des jeweiligen Phänomens
ermöglichen, und großen Korpora, die moderne Nationalsprachen repräsentieren.
Die Recherche in einem kleinen Parallelkorpus hat es ermöglicht, das sprachliche
Phänomen vollständig zu untersuchen und quantitativ auszuwerten. Bei der
detaillierten Analyse wurden auch große Nationalkorpora untersucht. Ohne
entsprechende sprachwissenschaftliche Beschreibung wären die vorgelegten
Ergebnisse der kontrastiven Untersuchung allerdings nicht komplett.
Die dargestellte Untersuchung hat ihre Relevanz auch im DaF-Bereich. Die Beispiele
aus Korpora haben nämlich den Vorteil, dass sie die verschiedenen Verwendungen
des jeweiligen Wortes auf der Grundlage realer Textbeispiele widerspiegeln.
Besonders für deutsche Nichtmuttersprachler ist es dann wichtig, das Häufige
und Wahrscheinliche im Sprachgebrauch zu beschreiben, weniger das Seltene, das
vielleicht aber grammatikalisch möglich ist.
Abstract
To find central and peripheral phenomena of a particular language, we need
language data. Nowadays, the usual way is to use text corpora. The aim of the
paper is to demonstrate the use of a parallel corpus for an analysis of the German
verb lassen. The results of the corpus queries help us to focus on central language
phenomena which are relevant for the field German as a foreign language.
Keywords
Center, periphery, infinitive constructions, text corpus
47
Quellenverzeichnis1
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1 Zitate aus Korpustexten werden im vorliegenden Beitrag nur mit in eckigen Klammern angeführten Kurzsiglen
gekennzeichnet.
48
Siebenschein, Hugo (2001): Německo-český slovník I. + II. Velehrad: ICK Ráček.
Dieser Beitrag entstand im Rahmen des Forschungsprojektes SGS/12/2016
„Moderne Herangehensweisen an die Textanalyse und -interpretation“ („Moderní
přístupy k analýze a interpretaci textu“) am Institut für Fremdsprachen der
Schlesischen Universität Opava.
49
50
Fachsprachen und der Alltag.
Eine Untersuchung anhand der deutschen Tagespresse
Lenka Vaňková
Annotation
In der Gegenwart muss man sich im Alltag mit vielen Fachwörtern auseinandersetzen, sowohl im fachlichen als auch im nicht fachlichen Kontext. Im Folgenden
wird der Frage nachgegangen, mit welchen Fachausdrücken ein Leser / eine Leserin
deutscher Zeitungen konfrontiert wird, also wie viel Fachwissen ihm / ihr zugemutet
wird. Das Untersuchungskorpus besteht aus insgesamt zehn Ausgaben zweier
seriöser überregionaler Zeitungen (der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der
Süddeutschen Zeitung). Die Aufmerksamkeit wird vor allem den theoretischen
Ausgangspositionen und der methodischen Vorgehensweise bei der Ermittlung
von Fachwörtern sowie der Erläuterung ihrer Stellung in nicht-fachlichen
Kontexten gewidmet.
Schlüsselwörter
Fachwort, Medien, Fachwortschatz in Zeitungen, Zentrum der Fachwortschätze
1. Einleitung
Wir leben in einer Gesellschaft, die oft mit dem Label Wissens- oder Informationsgesellschaft versehen wird. Diese Bezeichnung hängt mit der enormen
technischen und wissenschaftlichen Entwicklung der letzten Jahrzehnte zusammen:
So wie sich die Menge der Erkenntnisse vergrößert und der Erkenntnisprozess
immer schneller vorangeht, wächst parallel damit der intensive Bedarf, all die
neuen Erkenntnisse und Tatsachen in Begriffe zu fassen und diese Begriffe zu
benennen. Das führt zu einem enormen Anstieg von Fachwortschätzen alter
sowie ganz neuer Disziplinen, so dass man von einer Fachsprachenexplosion
sprechen kann. Der Wortschatz der Fachsprachen ist schon seit Langem weitaus
umfangreicher als der der Gemeinsprache. Viele Fachwörter sind nicht mehr nur
exklusiver Besitz von Experten des entsprechenden Faches, sondern sie werden
breiteren Bevölkerungsschichten präsentiert, wobei als Transportmittel für die
fachsprachlichen Elemente die Massenmedien, darunter auch die Tagespresse
dienen. Peter von Polenz (1999, S. 495) spricht von der „Verwissenschaftlichung
der Sprache des öffentlichen Lebens“. Es besteht jedoch die Gefahr, dass
„der unreflektierte Gebrauch fachsprachlicher Elemente zum Kommunika51
tionshindernis werden kann“ (Stolze, 2013, S. 48). In Anbetracht dessen stellten
wir uns im Rahmen des Ostrauer Zentrums für Fachsprachenforschung folgende
Fragen:
Wie viel Fachwissen wird eigentlich einem Bürger / einer Bürgerin zugemutet?
Mit wie viel Fachwörtern muss man sich in einer Alltagssituation, beim Lesen
einer Tageszeitung auseinandersetzen? Gibt es auf diesem Gebiet interkulturelle
Unterschiede? Kann man also Unterschiede zwischen deutschen und tschechischen
Tageszeitungen bei der Vermittlung von Fachinhalten – in deren Ausmaß oder
Frequenz – finden? All diesen Fragen gehe ich mit meinen Studierenden im
Rahmen eines kleinen Projekts1 unseres Zentrums für Fachsprachenforschung nach.
2. Zu Methode und Korpus der Untersuchung
Das Ausgangskorpus (A-Korpus) bilden je fünf gedruckte Ausgaben zweier
überregionaler Zeitungen - der Süddeutschen Zeitung und der Frankfurter
Allgemeinen Zeitung. Es werden alle Fachwörter, die in diesem Korpus, d.h. in den
einzelnen Ressorts der genannten Zeitungen, vorkommen, ermittelt und
gesammelt, so dass eine Datenbank von Fachwörtern gewonnen werden soll, mit
denen der Leser dieser Zeitungen (wenn auch in einem beschränkten Zeitraum)
in Kontakt kommt.
Um spezifizieren zu können, welche dieser Wörter zum Zentrum, d.h. zu den
frequentiertesten Fachwörtern, gehören, wird ein größeres Korpus (V-Korpus)
herangezogen. Dieses wird anhand des DeReKo, also dem Mannheimer Referenzkorpus, zusammengestellt, wobei dahinein vor allem regionale, zwischen
2010 und 2015 publizierte Zeitungen eingegliedert werden. Den letzten
Schritt stellt der Vergleich mit der Situation in den tschechischen Zeitungen
dar, der uns Aufschluss darüber geben soll, ob es wirklich Unterschiede in der
Präsentation von Fachinhalten in Tschechien und in den deutschsprachigen
Ländern gibt.
Im Folgenden möchte ich auf einige Probleme eingehen, mit denen wir uns am
Anfang des Projekts auseinandersetzen mussten. Bei den Recherchen von
Zeitungstexten hieß unsere grundlegende Frage: Was ist eigentlich ein Fachwort,
und was soll dementsprechend in unsere Datenbank eingegliedert werden?2
1 Es handelt sich um das Projekt „Präsentation von fachlichen Informationen im fachlichen und nichtfachlichen
Kontext“ (Prezentace odborných informací v odborném i neodborném kontextu), SGS21/FF/2016–2017, in dessen
Rahmen auch der vorliegende Beitrag entstanden ist.
2 Wie ein Fachwort / Terminus identifiziert werden kann, ist eine der zentralen Fragen auch bei der Suche nach
Methoden und Instrumenten, die ein automatisches Erfassen von Fachwörtern in großen Korpora ermöglichen
würden (vgl. Šrajerová, 2009).
52
3. Alltagssprache / Gemeinsprache – Bildungssprache –
Fachsprache?
Das Problem, wie ein Fachwort zu identifizieren und von einem Alltagswort
abzugrenzen ist, hängt mit der seit Langem im Rahmen der Fachsprachenforschung
geführten Diskussion darüber zusammen, wie man die Alltagssprache /
Gemeinsprache und die Fachsprache voneinander abgrenzen kann. Es ist gerade
der spezifische Wortschatz, der eine Fachsprache kennzeichnet, während es keine
speziellen grammatischen Mittel von Fachsprachen gibt, sondern nur die größere
Frequenz bestimmter grammatischer und textueller Mittel.
Im Rahmen der Fachsprachenforschung gab es mehrere Versuche, eine Gliederung
innerhalb der (Fach)wortschätze vorzunehmen. Hoffmann (1988, S. 118) spricht
vom allgemeinsprachlichen Wortschatz, allgemeinwissenschaftlichen Wortschatz
und fachspezifischen Wortschatz. Roelcke (2010, S. 57f.) führt eine Einteilung in
vier Gruppen an: Er unterscheidet intrafachliche, interfachliche, extrafachliche
und nicht fachliche Wörter. Die vertikale Gliederung innerhalb von Fachsprachen
bemühte sich, die Gliederung in Termini, deren Inhalt durch eine Definition
festgelegt ist, Halbtermini, die nicht definiert sind, und Fachjargonismen, die
keinen Anspruch auf Exaktheit erheben, zu berücksichtigen (vgl. z.B. Hoffmann,
1988, S. 118). Es wird auch eine Unterscheidung zwischen der harten und weichen
Terminologie vorgenommen (vgl. Teubert, 1999, S. 13). Harte Termini werden als
Termini im klassischen Sinn aufgefasst, sie benennen fest definierte Begriffe, die
innerhalb fixierter Grenzen statisch, unwandelbar sind, während die weichen
Termini durch keine verbindlichen Definitionen festgelegt sind, sondern
durch kontextuell eingeschränkte, partielle und als vorläufig gekennzeichnete
Definitionsansätze, die oft an unvorhersehbaren Stellen in die Texte eingestreut
werden. „Gerade in Bereichen, in denen besonders intensiv geforscht wird,
gehört zur Weiterentwicklung von Theorien auch die permanente Definitionsarbeit
an den zueinander in Beziehung gesetzten Begriffen.“ (Teubert, 1999, S. 13).
Stolze (2013, S. 87ff.) macht darauf aufmerksam, dass während im Rahmen der
Naturwissenschaften und Technik von Termini die Rede ist, im Rahmen der
Sozial- und Geisteswissenschaften eher von Begriffswörtern gesprochen werden
sollte. Solche Begriffswörter werden im wissenschaftlichen Diskurs konventionell
vereinbart und sind daher oft strittig und damit vorläufig, oft an eine geisteswissenschaftliche Denkschule gebunden.
Es wird manchmal auch eine Trennlinie zwischen Fachwort und Terminus
gezogen: Dem Fachwort wird ein vorwissenschaftlicher Status zugewiesen, wobei
es den Status eines Terminus dann erreicht, wenn seine Bedeutung durch eine
Definition genau festgelegt ist (vgl. Fraas, 1998, S. 429). Fraas betont, dass sich jedoch
diese Unterscheidung in der Fachsprachenforschung nie vollkommen etablieren
konnte, „wohl weil sie weder besonders praktikabel noch sehr sinnvoll ist.” (Fraas,
1998, S. 429). Sie weist darauf hin, dass sogar die DIN-Norm beide Benennungen
53
synonym verwendet: „Ein Terminus ist als Element einer Terminologie die Einheit
aus einem Begriff und seiner Benennung (auch Fachwort)” (DIN 2342, 1986, S. 6).
Die lange Diskussion darüber, wie man das Fachwort vom gemeinsprachlichen
Wort unterscheiden kann, führte zur Feststellung, dass keine scharfe Grenzziehung
zwischen dem Fach- und Gemeinwort möglich ist, und dass man in Betracht ziehen
muss, dass Fachwörter einen unterschiedlichen Fachlichkeitsgrad auf einer Skala
aufweisen können.3
Im Zusammenhang mit der Sprache der Medien erscheint manchmal auch der
Begriff ‚Bildungssprache‘, die als Brücke zwischen der Alltagssprache und Fachsprache
angesehen wird. So ist nach Habermas (1981, S. 345) die Bildungssprache
„die Sprache, die überwiegend in den Massenmedien, in Fernsehen,
Rundfunk, Tages- und Wochenzeitschriften benutzt wird. Sie
unterscheidet sich von der Umgangssprache durch die Disziplin
des schriftlichen Ausdrucks und durch einen differenzierten,
Fachliches einbeziehenden Wortschatz; andererseits unterscheidet
sie sich von den Fachsprachen dadurch, daß sie grundsätzlich für alle
offensteht, die sich mit den Mitteln der allgemeinen Schulbildung ein
Orientierungswissen verschafft haben.“
Bergmann (2015) weist darauf hin, dass die Auslegung dieses Begriffs heute nicht
einheitlich ist und im Zusammenhang mit verschiedenen Denkansätzen erscheinen
kann: „Aus linguistischer Sicht ist der Begriff der Bildungssprache bisher weder
definiert noch sind seine Merkmale in überschaubarer Weise beschrieben“
(Bergmann, 2015, S. 257). Peter von Polenz (2000, S. 43) verbindet diesen
Begriff mit der Allgemeinbildung, Fremdsprachenkenntnis und Fachkompetenz.
Die Markierung ‚bildungssprachlich‘ kann man z.B. auch im Duden4 finden,
wobei sie als Stilmerkmal aufgefasst wird. Darunter versteht man: ‚Wörter (meist
Fremdwörter), die eine hohe Allgemeinbildung voraussetzen‘ (z.B. Koryphäe,
adäquat) (vgl. URL 1).
In unserem Korpus wurden jedoch nur ganz wenige Wörter gefunden, die im
Duden mit der Markierung ‚bildungssprachlich‘ gekennzeichnet sind. Außerdem
3 Die skalaartige Abstufung von Termini wird auch bei Šrajerová (2009, S. 15) erörtert. Nach ihr bewegt sich der
Fachlichkeitsgrad eines Terminus zwischen zwei Grenzpolen: ‚ein starker Terminus‘ und ‚ein starker Nicht-Terminus‘.
Sie stellt die Frage, ob es möglich wäre, eine weitere Gliederung innerhalb dieser Skala vorzunehmen, z.B. den
Fachlichkeitsgrad nach Prozenten oder zwischen 1 und 10 zu unterscheiden. [„Termíny tedy mají škálovitou povahu,
některé jsou slabší, jiné velmi silné. Tato škála prozatím nemá pevné vymezení, jen krajní body: výrazný termín […]
a výrazný netermín […] mezi těmito dvěma extrémy se pohybují všechna slova v textu. Zůstává otázkou pro budoucí
výzkum, jestli je možné další rozdělení škály (například rozdělení procentuální, nebo na deset stupňů termínovosti
…“].
4 Es wurde die Repräsentation der einzelnen Stichwörter sowie deren Interpretamente im Duden 2011 (CD-ROM)
und im Duden online-Wörterbuch (vgl. URL 2) verglichen, weil festgestellt wurde, dass beide Duden-Versionen einige
kleinere Abweichungen aufweisen.
54
erscheint bei mehreren Wörtern eine Zuweisung sowohl zur Bildungssprache als
auch zur Fachsprache, z.B.
Effiziẹnz, die; -, -en [lat. efficientia] (bildungsspr., Fachspr.):
Wirksamkeit u. Wirtschaftlichkeit:
die E. einer Methode, eines Systems. (Duden 2011)
Man sieht also, dass eine genaue Abgrenzung zwischen Bildungs- und Fachsprache
nicht leicht durchzuführen ist. Deshalb haben wir das Konzept der Bildungssprache
nicht herangezogen, auch wenn – wie zum Beispiel Niederhauser und Adamzik
(1999, S. 9) feststellen – sich der Bildungssprachenbegriff anbieten würde, um
„die starre Dichotomie von Fachsprache und Gemeinsprache [zu] überwinden
und gleichzeitig den im täglichen Sprachgebrauch immer wieder vorkommenden
Situationen fachsprachlich bedingter Vertikalität Rechnung [zu] tragen.“
Beim Aufbau unserer Datenbank haben wir uns für eine breite Auffassung des
Fachwortes entschieden.5 Die oben erwähnten Einteilungen wurden zwar erwogen,
jedoch nicht berücksichtigt: Ausschlaggebend ist, dass mit dem betreffenden Wort
Fachinhalte benannt werden. Eine wichtige Rolle bei der Beurteilung des Status des
entsprechenden Wortes spielen der Kontext und die Konsituation.6
4. Zu Vorkommen und Markierung von Fachwörtern
in Wörterbüchern
Im Folgenden wird versucht, an Beispielen aus der Rubrik ‚Wirtschaft‘ der
untersuchten Zeitungen auf Probleme hinzuweisen, auf die man bei der Ermittlung
und Identifizierung von Fachwörtern stoßen kann. Bei der Entscheidung, ob ein
Wort als Fachwort zu bezeichnen und in unsere Datenbank einzugliedern ist,
können Wörterbücher als Berater herangezogen werden. Dabei wird die Markierung
in einem allgemeinen Wörterbuch (Duden) und einem spezialisierten Wörterbuch
berücksichtigt. Im Falle der Rubrik Wirtschaft wurde das Gabler Wirtschaftslexikon
gewählt, das auch online zur Verfügung steht (vgl. URL 3). Dass in der Rubrik
Wirtschaft die Fachlexik in hohem Maße verwendet wird, lässt sich am Lead zum
Artikel Draghis neue Zinswelt demonstrieren:
Was bedeutet die Zinssenkung der EZB für Verbraucher und Anleger?
Kann es mit Spar- und Bauzinsen überhaupt noch weiter nach unten
gehen? Es kann. (FAZ, 11.3.2016, S. 23)
5 Diese geht von der heutigen breiten Auffassung von Fachsprachen und Fachkommunikation aus, die nicht nur
die Kommunikation zwischen Fachleuten, sondern auch zwischen Experten und Laien bzw. nur die Kommunikation
zwischen fachinteressierten Laien über Fachinhalte einbezieht.
6 Auf die Tatsache, dass für das Erfassen von Fachwörtern im Text (manuell sowie automatisch) nicht nur ihre
semantischen und pragmatischen Charakteristika von Bedeutung sind, sondern dass formale Kriterien wie Frequenz
oder Distribution eine wichtige Rolle im Text spielen können, weist Šrajerová (2009, S. 3) hin.
55
In diesem kurzen Textausschnitt kommen mehrere Wörter vor, die in diesem
Kontext als Fachwörter wahrzunehmen sind. Das Wort Verbraucher kann als
allgemein verständlich vorausgesetzt werden, trotzdem ist es im Duden (2011) mit
der Markierung ‚Wirtschaft‘ versehen:
Verbraucher, der; -s, - (Wirtsch.):
jmd., der Waren kauft u. verbraucht; Konsument:
die Interessen der V.
Im Gabler Lexikon ist Verbraucher ebenso erfasst, wobei sogar drei Auslegungen
des Lemmas angeboten werden:
Verbraucher:
I. Wirtschaftswissenschaften: Konsument (Endverbraucher),
Verbrauch, Verbrauchsgüter, Verbrauchsforschung. II. Lebensmittelund Futtermittelgesetzbuch: derjenige, an den Lebensmittel,
Tabakerzeugnisse, kosmetische Mittel oder Bedarfsgegenstände
zur persönlichen Verwendung oder zur Verwendung im Haushalt
abgegeben werden. III. Bürgerliches Recht: natürliche Person, die
ein Rechtsgeschäft zu einem Zweck abschließt, der weder ihrer
gewerblichen noch ihrer selbstständigen beruflichen Tätigkeit
zugerechnet werden kann.
Das Wort Anleger findet man dagegen als selbstständiges Lemma im Gabler
Lexikon nicht, es kommt lediglich mit einer näheren Spezifizierung nach
Anlegertypen vor (Substanzorientierter Anleger, Ertragsorientierter Anleger,
Wachstumsorientierte Anleger, Chancenorientierte Anleger). Im Duden (2011)
werden bei Anleger drei fachsprachliche Bedeutungen angegeben:
Ạnleger, der, -s, -:
1. (Druckw.) jmd., der bei der Druckpresse das Papier einführt
(Berufsbez.).
2. (Wirtsch.) Investor.
3. (Seemannsspr.) Landungsplatz.
Daraus folgt, dass die konkrete Bedeutung dieses Fachwortes kontextuell angelegt
ist und sich erst kontextuell entfaltet. Es kann als Beispiel dienen, dass das Postulat
der Eineindeutigkeit7 der Termini, das in der älteren Phase der Fachsprachenforschung betont wurde (vgl. Wüster, 1967, S. 100, zit. n. Gerzymisch-Arbogast,
1996, S. 10), nur ein (in der Praxis wahrscheinlich selten vorkommendes) Ideal
7 Die Forderung der Eineindeutigkeit geht auf Wüster (1967) zurück: „die Zuordnung zwischen einem Begriff und
einer Benennung ist dann eineindeutig, wenn dieser Begriff nur diese eine Benennung hat und wenn diese Benennung
keine andere Bedeutung hat.“ (Wüster, 1967, S. 100).
56
ist, weil man im Rahmen der Fachsprachen viele Homonyme bzw. Polyseme sowie
Synonyme belegen kann, und dass der Kontext, in dem das Wort erscheint, eine
wichtige Rolle spielt. Dies bedeutet, dass auch das Postulat der Kontextunabhängigkeit, das früher im Zusammenhang mit den Fachtermini erhoben wurde, nicht
mehr zutreffend ist.
Im oben genannten Textauszug treten des Weiteren zwei Komposita auf, die als
potenzielle Fachwörter in Frage kommen: Sparzins kommt im Duden vor, das Lemma
ist jedoch im Duden nicht fachsprachlich markiert, Bauzins ist im Duden
überhaupt nicht erfasst:
Sparzins, der <Pl. -en>:
1. Zins auf Sparguthaben:
-en zahlen, bekommen.
2. für Sparguthaben geltender Zinssatz:
hohe, niedrige -en.
Im Gabler Wirtschaftslexikon ist das Lemma Sparzins nicht belegt. Daraus lässt
sich schließen, dass für Fachexperten das Wort zu gemeinsprachlich ist und als
Fachwort nicht wahrgenommen wird. Bei der Angabe Bauzins wird auf das
Lemma Hypothekenzins verwiesen: Man kann also annehmen, dass Bau- und
Hypothekenzins synonym verwendet werden, wobei Bauzins als eher laienhafte
Benennung oder Fachwort mit einem niedrigen Fachlichkeitsgrad verwendet
wird.8 Auch wenn auf den ersten Blick die Bedeutung von Bauzins durchsichtig
ist, ist das Wort bei Nicht-Experten meist nur mit der vagen Vorstellung ‚Zins,
der in irgendeiner Weise mit der Finanzierung des Baus eines Eigenheims
zusammenhängt‘ verbunden. Wenn man sich verschiedene in den untersuchten
Zeitungstexten vorkommende Benennungen für verschiedene Typen von
Zinsen anschaut, stellt man fest, dass davon nur Leitzins im Duden mit (Wirtsch.)
markiert ist. Die anderen Typen von Zinsen sind zwar im Duden zum Teil
erfasst, aber die Markierung fehlt, was sich so interpretieren ließe, dass entweder
diese Zinsbezeichnungen der Gemeinsprache angehören oder – eher – dass die
Markierung im Duden inkonsequent durchgeführt wird. Aus der Tatsache, dass alle
im Duden ermittelten Zinsbezeichnungen im Gabler Wirtschaftslexikon (vgl. die
Tabelle 1) vorkommen, ergibt sich, dass eher die zweite Möglichkeit in Betracht zu
ziehen ist und dass es sich auch in diesen Fällen um Fachwörter handelt.
8
Nach Fraas (1998, S. 431) existieren in den Fachsprachen mehrere Benennungen nebeneinander, eine
gemeinsprachliche, laienhafte Benennung und eine fachsprachliche.
57
Im Duden erfasst und als fachsprachlich
nicht markiert:
Im Gabler Wirtschaftslexikon erfasst:
Hypothekenzins
Hypothekenzins
Kreditzins
Darlehenszins
Darlehenszins
Kapitalmarktzins
Kapitalmarktzins
Zinseszins
Zinseszins
Negativzins
Im Duden nicht erfasst:
Im Gabler Wirtschaftslexikon nicht erfasst:
Bauzins
Bauzins
Strafzins
Strafzins
Negativzins
Kreditzins
Einlagenzins
Einlagenzins
Tagesgeldzins
Tagesgeldzins
Dispo-Zins
Dispo-Zins
Tab. 1: Das Vorkommen von Komposita mit -zins im Duden und im Gabler
Wirtschaftslexikon
In unserem begrenzten Korpus treten jedoch auch mehrere weitere Benennungen
für Zinsen auf, die nur im Gabler (Negativzins) bzw. weder im Duden noch im
Gabler zu finden sind.
Um zu überprüfen, ob solche Bezeichnungen nicht z.B. zu den sogenannten
Ad-hoc-Bildungen gehören, und um die Frequenz ihres Vorkommens als ein
wichtiges Kriterium bei der Identifizierung von Fachwörtern festzustellen, musste
ein größeres Korpus gebildet werden. Dieses virtuelle Korpus (V-Korpus) wurde
anhand des Mannheimer Korpus DeReKo zusammengestellt, wobei dahinein die
in den Jahren 2010–2015 herausgegebenen Zeitungen eingegliedert wurden und
darauf geachtet wurde, dass unterschiedliche Regionen des deutschsprachigen
Gebietes vertreten sind.
Wenn man die Korpusbelege vergleicht, sieht man, dass sich die Bedeutung ein
und desselben Wortes mit der Zeit verändern kann. In den untersuchten Texten
der FAZ und der Süddeutschen Zeitung wird häufig das Wort Strafzins verwendet.
Im V-Korpus wurden 368 Treffer für Strafzins gefunden, wobei das Wort in den
meisten Belegen die Bedeutung ‚Zins, den man für verspätete Zahlungen abgeben
muss‘, hat, vgl. den folgenden Beleg:
58
Was alle Elektronik leider nicht erklärt: Warum für Vorauszahlungen
ein Prozent Zins gutgeschrieben, für verspätete Zahlungen aber vier
Prozent Strafzins belastet werden. (St. Galler Tagblatt, 22.01.2010,
S. 29; Die Steuerformulare sind da; was ist neu?)
Heute hat sich für Strafzins eine neue Bedeutung konstituiert, die an folgenden
Beispielen demonstriert werden kann:
Der zweite wichtige Schritt betrifft den Einlagenzins, der zuletzt stark
in der Diskussion war: Es ist der Zinssatz, den Banken zahlen müssen,
wenn sie kurzfristig Geld bei der EZB parken. Er ist schon seit
eineinhalb Jahren negativ, deshalb wird er auch „Strafzins“ genannt.
(SZ, 11.03.2016, S. 17)
Draghi bestritt in der Pressekonferenz zudem, dass der Strafzins den
Bankensektor insgesamt belaste. (FAZ, 11.03.2016, S. 15)
Strafzins wird in den Zeitungstexten als Fachwort, das in den Wirtschafts- und
Finanzkreisen von Fachleuten (als Fachjargonismus) gebraucht wird (wird „Strafzins“
genannt), betrachtet: Als Synonym dazu wird Negativzins verwendet. Strafzins weist
– ähnlich wie Bauzins – einen niedrigen Fachlichkeitsgrad auf, nichtsdestoweniger
wurden beide Wörter in die Datenbank einbezogen, weil beide Wörter vorwiegend
in spezifischen fachlichen Kontexten erscheinen.
In der Datenbank werden bei solchen Wörtern statt des fehlenden Interpretaments
des Lemmas passende Beispiele aus dem Korpus angeführt.
Man könnte eine Reihe von weiteren Belegen anführen, die bestätigen, dass
Markierungen in allgemeinen Wörterbüchern oft willkürlich und zufällig sind und
deshalb höchstens nur als erstes Hilfsmittel benutzt werden können. Bei unserer
Arbeit hat sich immer wieder gezeigt, dass oft nicht klar zu begründen ist, warum
ein Lemma als fachsprachlich (nach den einzelnen Fächern) markiert ist und ein
anderes (dessen Bedeutung sehr ähnlich ist) nicht.
Vergleichen wir die Interpretamente von Bezeichnungen von drei Aktienindizes
(Dow-Jones, DAX, MDAX), die in den Texten der Wirtschaftsrubrik häufig zu
verzeichnen sind. Alle drei sind im Gabler Wirtschaftslexikon enthalten. Sie erscheinen
auch im Duden online,9 wobei Dow-Jones und MDAX darin als fachsprachlich
markiert sind, DAX nicht.
Dow-Jones, der
Gebrauch: Wirtschaft
9 Im Duden 2011 (CD-ROM) kommt MDAX nicht vor.
59
Verzeichnis, Aufstellung der errechneten
der dreißig wichtigsten Aktien in den USA.
Durchschnittskurse
DAX/Dax, der
Kennzahl für die Wertentwicklung der 30 wichtigsten deutschen
Aktien.
Vermutlich wurde vorausgesetzt, dass jeder Bürger / jede Bürgerin so oft – nicht nur
in der Presse, sondern auch im Fernsehen und anderen Medien – mit diesem Wort
konfrontiert wird, dass es schon zum gemeinsprachlichen Wortschatz gerechnet
werden kann. Sicher sind viele Fachwörter auch für Laien verständlich: Dabei hat
aber der Laie manchmal nur eine ungefähre Vorstellung vom entsprechenden
fachlichen Phänomen oder Sachverhalt und verfügt nicht über das gesamte
Fachwissen, das ein Spezialist mit diesem Terminus verbindet. Davon, dass die
Bedeutung der angeführten Indizes nicht allgemein bekannt sein muss, zeugt
die Diskrepanz in der Auslegung des Lemmas MDAX im Duden online und im
Gabler Wirtschaftslexikon. Nach Duden online handelt es sich beim MDAX um die
Durchschnittskurse von 70 Aktien; dabei werden nur 50 Aktien miteinbezogen,
vgl. die Definition im Gabler Wirtschaftslexikon.
MDAX, der (nach Duden online) Gebrauch:
Wirtschaft Aufstellung der Durchschnittskurse von siebzig Aktien
mittelgroßer deutscher Unternehmen.
MDAX (nach Gabler Wirtschaftslexikon):
Aktienindex von 50 im Prime Standard der Frankfurter Wertpapierbörse (FWB) gehandelten Aktien mittelgroßer Gesellschaften,
die sog. Mid Caps. Ihre Marktkapitalisierung und ihr Börsenumsatz
liegen direkt unterhalb der DAX-Werte. Der MDAX bezieht nur
Unternehmen klassischer Branchen ein. (Hervorhebungen von L.V.)
Fachwörter werden oft als Modewörter oder als Prestige-Wörter verwendet. Im
folgenden Beispiel hat der Autor das Fachwort (Aggregatzustand) eines
anderen Fachgebietes (Chemie) in den wirtschaftlichen Kontext eingegliedert, um
metaphorisch auf die neue Situation Bezug zu nehmen. Das Fachwort dient hier
also als Mittel der Metaphorisierung: Ein Wort wird aus seinem normalen Kontext
genommen und in einen neuen eingesetzt:
Und Kritiker der Währungsunion wissen, dass der Wechsel in den neuen
Aggregatzustand eines Regimes fester Wechselkurse mit so
unüberschaubaren Risiken und langfristigen Kosten verbunden wäre,
dass sich die Rückabwicklung letztlich eben doch nicht rechnet. (FAZ,
11.03.2016, S. 16)
60
Aggregatzustand, der (Chemie):
Erscheinung u. Zustandsform, in der die Materie existiert:
fester, flüssiger, gasförmiger
In die Datenbank wurden viele Lexeme eingegliedert, die auch in der Gemeinsprache existieren. In der Fachsprache bekommen sie eine neue Bedeutung: man
spricht in diesem Zusammenhang von der Terminologisierung. Es geht jedoch
nicht immer um die Entstehung neuer Termini, also Fachwörter, deren Bedeutung durch eine Definition festgelegt ist. Da auch viele Fachjargonismen durch
diesen Prozess entstehen, wäre es vielleicht angebrachter, vom Übergang in den
Fachwortschatz zu reden. Im Duden sind solche neuen Bedeutungen manchmal
erfasst, siehe z.B. das Interpretament des Verbs parken im Duden:
Bayerns Sparkassen überlegen schon, ihr Bargeld lieber im eigenen
Tresor zu lagern, statt bei der EZB fürs Parken Strafzinsen zu zahlen.
(SZ, 11.3.2016, S. 17)
pạrken <sw. V.; hat> [engl. to park, zu: park = Abstellplatz]:
1. (ein Fahrzeug) vorübergehend an einer Straße, auf einem Platz
o. Ä. abstellen:
[…]
Ü einen Betrag auf einem Tagesgeldkonto p. (Finanzw. Jargon;
vorläufig anlegen).
Interessant ist, dass die heute gängige Bedeutung des Verbs abfischen (‚einen
Kontodatenzugang illegal bekommen‘), das als Fachjargonismus bzw. Fachwort mit
einem niedrigen Fachlichkeitsgrad zu bezeichnen ist, weder im Duden noch im
Gabler Wirtschaftslexikon erfasst ist. In dieser Bedeutung kommt das Verb sowohl
in unserem Zeitungskorpus als auch im V-Korpus vor:
Wenn die Täter die Passwörter von mehreren Konten abgefischt und
sich selbst Geld überwiesen haben, ... (SZ, 8.03.2016, S. 16)
Die Skepsis vieler Kunden basiert auch auf Sicherheitsbedenken, wie
eine Umfrage von PwC aus dem Frühjahr zeigt. Viele Konsumenten
befürchten, dass ein Dieb persönliche Informationen aus dem
Smartphone «abfischen» könnte, dass sie nach dem Verlust des Geräts
ohne Bargeld dastünden und dass zu viele Informationen auf ihrem
elektronischen Portemonnaie gespeichert seien. (Neue Zürcher
Zeitung, 07.12.2013, S. 35; Das elektronische Portemonnaie zieht
langsam in die Schweiz ein)
61
5. Fazit
Bei der Suche nach der Antwort auf die Frage „Mit wie viel Fachwörtern muss
sich ein Bürger / eine Bürgerin beim Lesen der Tagespresse auseinandersetzen?“
musste zuerst die grundlegende Frage gelöst werden: Was ist ein Fachwort, und
wie kann es im Text identifiziert werden? Unsere Erfahrungen, die wir bei den
Textrecherchen gemacht haben, bestätigen, dass die früher mit Fachwörtern
verbundenen Eigenschaften wie (Ein-)Eindeutigkeit, Exaktheit, Autonomie oder
expressive Neutralität dabei wenig ausschlaggebend sind und dass vor allem der
Kontext, die konkrete Verwendung des Wortes über seinen Status entscheidet. Es
wurde auch überprüft, in welchem Maße beim Erfassen von Fachlexik Wörterbücher
helfen können. Es hat sich gezeigt, dass allgemeine Wörterbücher (und zwar nicht
nur gedruckte), die traditionellerweise Auskünfte nicht nur über die Stilebene,
sondern auch über die Zugehörigkeit zu einem Fachgebiet zur Verfügung stellen,
mit der schnellen Entwicklung von Fachwortschätzen kaum Schritt halten können und dass die darin vorgenommenen Markierungen oft unzuverlässig sind.
Auch online zugängliche spezialisierte Nachschlagewerke, die die Entwicklung in
viel höherem Maße berücksichtigen, sind oft nicht imstande, Fachwörter in ihrer
breiten Skala zu erfassen. Die hier beschriebene Fachwörterdatenbank soll den
aktuellen Stand (wenn auch in einem begrenzten Umfang) widerspiegeln und
Material für weitere Analysen zur Verfügung stellen. Darüber hinaus kann sie einen
didaktischen Effekt haben, d.h. im Unterricht eingesetzt werden.
Abstract
Currently we can encounter numerous examples of specialist vocabulary in our
everyday lives, not only in a specialist or professional context. The article presents
the results of pilot research seeking to identify the specialist vocabulary contained
in German newspapers. The corpus consists of 10 editions of two supraregional
newspapers (Frankfurter Allgemeine Zeitung, Süddeutsche Zeitung). The article
describes the theoretical basis and methodology used when gathering the
material. The aim of the research is to determine which specialist lexemes are central
(i.e. frequently used); the occurrence and frequency of these lexemes are
verified not only in the two above-mentioned newspapers, but also in a wider corpus
compiled from the Mannheim DeReKo corpus.
Keywords
Specialist vocabulary, media, specialist vocabulary in newspapers, central specialist
lexemes
62
Quellenverzeichnis
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URL 2: http://www.duden.de/woerterbuch
URL 3: http://wirtschaftslexikon.gabler.de/
64
Kommunikation zwischen Experten und Laien.
Am Beispiel des Internetforums Conrad
Milan Pišl
Annotation
In der heutigen Zeit haben digitale internetbasierte Kommunikationskanäle den
Zugang zu Informationen und Fachinhalten stark vereinfacht. Das Fachwissen wird
größtenteils demokratisch durch neue Technologien erreichbar. Diese Veränderung
steht im Zentrum der sprachwissenschaftlichen Untersuchung. Mit diesem
Zustand eröffnen sich neue Möglichkeiten für die gegenseitige Kommunikation
zwischen Experten und Laien in unterschiedlichsten Fachbereichen. Im Rahmen dieses
Artikels wird ein fachorientiertes Internetforum untersucht, das zu einer etablierten
Kommunikationsplattform wurde. Es stellt einen neuen Kanal für die Vermittlung
von Fachwissen bzw. für professionelle Beratung mit einer Reihe von unterschiedlichen Optionen dar. Die Merkmale der Experten-Laien-Kommunikation
werden am Beispiel des Internetforums des Computer- und Elektrohändlers Conrad
erläutert.
Schlüsselwörter
Internetforum, Experten-Laien-Kommunikation, Beratung, Computertechnik,
Elektronik
1. Einleitung
Die wissenschaftliche Literatur und viele Forschungsstudien1 belegen, dass das
Thema Fachsprachen und Fachsprachenforschung zwar in vielerlei Hinsicht
ausführlich behandelt wurde, und dass es jedoch neue Aspekte gibt, die Aufmerksamkeit verdienen. In diese Kategorie gehört die Kommunikation mittels
fachbezogener Internetforen, die heutzutage mehr und mehr an Bedeutung gewinnt.
Sie hat sich als eine neue effektive Möglichkeit erwiesen, durch neue interaktive Kanäle
die Kommunikationsbarrieren zwischen Fachleuten und Laien zu überwinden
(vgl. Satzger, 2013, S. 44). Da die Reichweite und Laientauglichkeit von internetbasierten Werkzeugen ständig zunehmen, verbreitet sich sowohl die gesellschaftliche
als auch die akademische Nutzung von Informationen. Die Bemühung um eine
1 Unter anderem Vaňková/Satzger/Wolf (2015). Siehe auch die Aktivitäten des Zentrums für Fachsprachenforschung
an der Philosophischen Fakultät der Universität Ostrava unter URL 1.
65
populärwissenschaftliche Wissensvermittlung geht Hand in Hand mit der
Digitalisierung, Vernetzung und Globalisierung der Gesellschaft (vgl. Vaňková/
Satzger, 2015, S. 10). Damit verändert sich auch die Perspektive, in der Laien
wahrgenommen werden können. Es handelt sich um eine heterogene Gruppe von
Personen, „die zwar von den Problemen betroffen sind, für die die Experten zuständig
sind, und die insofern auch über Alltagswissen und Einstellungen zu diesem
Problem verfügen, denen aber die Ausbildung und die Rahmenbedingungen
für eine eigenständige Problemlösung fehlen“ (Bromme/Jucks/Rambow, 2004,
S. 116). Die Laien vertreten also nicht die Rolle von Neulingen bzw. Anfängern,
sondern die der (potentiellen) Kunden, Klienten und Ratsuchenden. Diese Personen
treten in Kontakt mit einem Experten, um von ihm sein Wissen, öfter jedoch seine
Ansichten zu einem Problem, praxisorientierten Kenntnisse und heutzutage vor
allem den neuesten (technologischen) Stand des jeweiligen Fachgebiets zu erfahren.
Mit der Verbreitung des Internets der Dinge kommen neue Problemstellungen auf:
die gegenseitige Kooperation von Geräten, ihre korrekte drahtlose Verbindung
und optimale Arbeitsweise usw. Der technische Fortschritt spiegelt sich auch in
internetbasierten Kommunikationswerkzeugen wider. Sie nehmen Einfluss auf den
Wissenstransfer zwischen Experten und Laien und liefern neue Aspekte in dieser
Kommunikationssituation.
2. Kommunikationsplattform: Internetforum
Als Untersuchungsmedium für diese Studie gelten die Fachforen im Internet, die
von vielen Elektrohändlern, Onlineshops und spezialisierten Internetportalen
betrieben werden. Beginnt man mit einer begrifflichen Abgrenzung und sucht man
nach Definitionen des Begriffs Internetforum, bekommt man folgende Definition:
Internetforum, bezeichnet auch als Webforum, Diskussionsforum, Computerforum,
Online-Forum oder Bulletin Board, stellt einen virtuellen Ort zum Austausch und
zur Archivierung von Gedanken, Meinungen und Erfahrungen dar (vgl. Ebner,
2008, S. 11). Man kann also beobachten, dass die Merkmale eines Internetforums
auf Diskussion, Virtualität und Austausch von Inhalten im Rahmen eines bekannt
gegebenen Themenbereichs basieren. Wichtig und neu – vor allem aus der
Laienperspektive – ist die Eigenschaft der Archivierbarkeit. Die gesammelten
und geteilten Erfahrungen, Meinungen und Ratschläge können jederzeit wieder
abgerufen werden. Da es sich um eine zeitlich asynchron entstandene Kommunikation aus einzelnen Beiträgen handelt, entsteht somit eine Art Archiv. Ein weiterer
Vorteil besteht darin, dass die Internetforen über Suchfunktionen verfügen, über
die nach konkreten Begriffen gesucht werden kann. Aufgrund der gegebenen
Strukturierung kann man auch in einzelnen threads (‚Kommunikationsfäden‘)
und Themen (topics) suchen und blättern. Die Diskussionsbeiträge können von
mehreren Diskutierenden beantwortet werden, und so entstehen – je nach Attraktivität des Themas – ständig neue threads und Diskussionen.
66
Internetforen werden zu einem Themenbereich errichtet und umfassen sowohl
alltägliche Probleme als auch aktuelle Themen wie Politik, Sport oder Modetrends. Es gibt fachbezogene Internetforen für die unterschiedlichsten Aspekte des
menschlichen Lebens – vor allem Hilfe-Foren für Medizin, Jura, Technik, IT,
Bauwesen usw. (vgl. Ebner, 2008, S. 12). Mittels Internet wird eine Hilfestellung
angeboten, die bei speziellen Schwierigkeiten und fehlenden Informationsquellen
die einzige Hilfe darstellen kann. Dieses Verfahren hat sich als effektiv erwiesen
und gewährleistet einerseits die Distribution von Informationen und ermöglicht
andererseits eine schnelle Reaktion darauf.
Das Internet ist ein wichtiges Instrument des modernen Marketings geworden. Aus
diesem Grund haben viele fachbezogene Internetforen auch den wirtschaftlichen
Profit zum Ziel. So haben zahlreiche Onlineshops wie Ikea, Saturn, MediaMarkt
und viele andere ihr Verkaufsangebot mit einem Beratungsforum verbunden. Es
gibt Unternehmen, die seriös auftreten möchten und gleichzeitig die wirtschaftliche,
an möglichst hohen Umsätzen orientierte Perspektive nicht vernachlässigen
möchten. Sie verbinden also die informierende, beratende und wissensvermittelnde
Funktion zusammen mit dem ökonomischen Profit. Diese Strategie kann als
sehr gelungen bezeichnet werden2, und innerhalb des Computer- und Elektrotechnik- Fachhandels gehört Conrad zu den Spitzenreitern. Hier wird das Konzept
eines Internetforums noch weiter entwickelt und um viele Komponenten erweitert.
Diese Dienstleistung wird bei Conrad nicht als bloßes Fachforum, sondern als eine
„Community“ definiert (vgl. URL 2). Die Funktionalitäten wurden somit erweitert,
und die positive Wahrnehmung und ein hohes Maß an Vertrauen gegenüber einer
Gruppe, die sich als Nutzer- oder Usergemeinde definiert, können dadurch gestärkt
werden. Das Fachforum soll als eine Schnittstelle für diejenigen verstanden werden,
die eine professionelle Beratung im Bereich „Technik und technische Innovationen“
(vgl. URL 3) suchen. Dem entspricht auch die Grafik auf der Homepage, die einen
jungen seriös aussehenden Mann abbildet und mit dem Slogan „Kommen Sie mit
einem Problem, gehen Sie mit einer Lösung“ versehen ist (vgl. Abb. 1).
Das Conrad-Community-Team verfasste Richtlinien für die Diskutierenden
(vgl. URL 3), in der die Experten als „Professionals & Brain“ kategorisiert werden,
und in denen das Ziel formuliert ist, fundierte Ratschläge zu geben, von denen
alle Mitglieder der Community kostenlos profitieren können. Zu den grundlegenden Faustregeln gehört die Aufforderung zur korrekten Kommunikation, wobei
unerwünschte oder illegale Inhalte zum Sperren des Zugangs in die Community
führen können. Des Weiteren wird auch eine sorgfältige Kommunikation verlangt,
und es wird betont, dass es sich in erster Linie um Austausch von Fachwissen
handelt. Für die Mitglieder bedeutet das, dass diese es kenntlich machen sollen,
2 Eine ausführliche Liste der Internetforen mit der höchsten Anzahl der Nutzer und Diskussionsbeiträge ist unter URL
4 zugänglich. Wenn man die Größe der Nutzergemeinde(n) und z.B. den Profit durch Werbung in Betracht zieht, sieht
man, dass es sich um erfolgreiche Unternehmenskonzepte handelt.
67
wenn sie sich mit dem Lösungsweg nicht ganz sicher sind und diesen als eine
Userempfehlung formulieren. Die Anforderung an die sachliche und technikrelevante Kommunikation steht im Zusammenhang damit, dass es hier oft zum
Austausch von unterschiedlichen Meinungen kommt, und in persönlichen
Äußerungen müssen andere (auch kritische) Ansichten zugelassen und toleriert
werden. Der letztere Hinweis bezieht sich darauf, dass die Mitglieder fair kommunizieren sollen und dass Verstöße gegen Urheberrechte, das Kopieren von fremden
Inhalten oder unnötige Werbung und Spam untersagt sind. Es wird hinzugefügt,
dass stimmige Formulierungen eine Voraussetzung sind, um klar und kompetent
Themen und Informationen in der Community auszutauschen (vgl. URL 3). Eine
Hemmschwelle für unerwünschte Inhalte (z.B. durch Trolling in den Diskussionen)
stellt jedoch eine Registrierung entweder mit einer E-Mail-Adresse und einem
Benutzernamen oder mit einem Facebook-Profil dar. Es ist also keine totale
Anonymität vorhanden, und dies ermöglicht es, auf fehlerhafte Informationen
zu reagieren, bzw. diese können von den Verwaltern des Internetforums gelöscht
werden.
Die Beiträge werden sowohl chronologisch als auch nach der Länge des threads
sortiert. Auf der Übersichtsseite werden jeweils nur der Titel des ersten Postings
einer Diskussion und die Anzahl an Diskussionsbeiträgen angezeigt, während
der komplette thread angeklickt werden muss. Die viel beachteten und viel
diskutierten Themen werden auf eine attraktive Stelle platziert, meistens ganz oben.
Somit werden die Benutzer auf die Postings mit höchster Aktivität aufmerksam
gemacht.
3. Ausgewählte Besonderheiten der Experten-Laien-Kommunikation
Diese Studie reflektiert eine Veränderung von Kommunikationsplattformen für
Menschen, die Fachinformationen über Technik, insbesondere über Computerund Elektrotechnik suchen. Noch vor wenigen Jahren gab es unterschiedliche
Kanäle für die relevante Vermittlung von Fachwissen: entweder Fachliteratur
in Form von Zeitschriften und Handbüchern oder persönliche Gespräche mit
den Händlern oder Verkäufern. Beides käme auch heute in Frage, aber die
Bedingungen und vor allem die Effektivität dieser Kommunikationssituation
haben sich deutlich verändert. Die elektrotechnische Fachliteratur wird
aufgrundder raschen Entwicklung in der Branche immer öfter digitalisiert, wobei
gedruckte Medien überwiegend hoch spezialisierte Inhalte für Fachleute liefern
(z.B. Computer- und Wirtschaftsperiodika), und ihre Auflage stagniert bzw.
sinkt.3 Der zweite Kanal, die persönliche Beratung direkt bei den Computer- und
Elektrohändlern, kann zwar auch nützlich sein, die Umfragen4 bei den Kunden
der größten Elektroketten und Computeranbieter zeigen aber überwiegend eine
3 Zum Beispiel die Fachzeitschrift für Elektronik elektro.net, die in ein Internetportal umgewandelt wurde.
4 Vgl. die Umfragen, Kundenrezensionen und Erfahrungen mit Computer- und Elektrohändlern im Portal trusted.
shops.de.
68
negative Einstellung zu persönlichen Interaktionen. Nach einer Recherche in den
oben angeführten Diskussionsforen wurden folgende Gründe genannt, warum die
Kunden die professionelle Fachberatung in den Computer- und Elektrogeschäften
nicht mehr aufsuchen:
- konkrete Fragen bezüglich Eigenschaften, Kompatibilität und Installation konnte
das Personal nicht beantworten, und die genaue Antwort wusste nicht einmal
die zuständige Kundenbetreuung;
- das Fachpersonal benimmt sich überheblich, reagiert unhöflich, man wird sogar
ausgelacht;
- die Händler bevorzugen gewisse Marken und Produkte und sind dazu
bereit, Kunden zu belügen vor allem deswegen, weil sie für den Verkauf bestimmte
Provisionen bekommen;
- Kunden sind mit Fachinformationen ausgerüstet und wissen mehr als das
Fachpersonal;
- professionelle, fachliche Kundenbetreuung wird durch das chaotische Suchen in
Gebrauchsanweisungen ersetzt.
Aus den erwähnten Gründen suchen heutzutage Laien – hier in der Rolle der
(potentiellen) Kunden – Fachinformationen vornehmlich im Internet. Hier
können Menschen mit heterogenen Vorkenntnissen interagieren. Die Computer- und
Elektrohändler sind sich dieser Tatsache bewusst und betreiben ein Fachforum,
anstatt ausgebildetes Fachpersonal einzustellen. Es liegt auf der Hand, dass diese
Lösung von wirtschaftlichen Aspekten motiviert wird, denn oft werden die
Beratungsforen mit einer kommerziellen Webpräsentation und einem Onlineshop verbunden. Man kann beobachten, dass sich die Kommunikation von
Fachinhalten über Computer, Elektronik und Elektrotechnik im Laufe der Zeit
von einer Face-To-Face-Kommunikation zur Plattform eines Internetforums
verschoben hat. Die Impulse für diesen Wandel sind jedoch unterschiedlich und
reflektieren nicht nur die neuen Kommunikationsmedien, sondern auch die
ökonomischen Ziele.
Im Endeffekt geht es aber immer darum, dass der Kunde eine informierte
Entscheidung treffen muss. Er beabsichtigt (potentiell) Geld auszugeben,
wobei logischerweise seine Entscheidung sich am Preis-Leistungs-Verhältnis
orientiert. Es handelt sich um seine eigene Verantwortung, und dafür muss er alle
Konsequenzen tragen. Die Verständigung spielt immer eine wichtige Rolle, in
diesem Fall lässt sie sich bestätigen – durch den realisierten Einkauf. Heterogene
Vorkenntnisse und Wahrnehmungsperspektiven zwischen Experten- und
Laienwissen erschweren jedoch die wechselseitige Verständigung. Die
unterschiedlichen Wissenssysteme erfordern einen gemeinsamen Bezugsrahmen
69
und Voraussetzungen für die gelungene Kommunikation – dazu gehören eine
gemeinsame Sprache, die vermutete Perspektive des Kommunikationspartners,
der Wortschatz, die Antizipation des Wissens sowie Adaptionsprozesse und
gemeinsame Rahmenbedingungen. Dabei ist das Kommunikationsmedium eine
der wichtigsten Rahmenbedingungen. Hinzu kommt außerdem eine realistische
Einschätzung der Laienwahrnehmung. Probleme gibt es vor allem dann, wenn
das Fachwissen an der Grenze zwischen Fach- und Alltagswissen angesiedelt ist.
Dies kommt in der Elektro- und Computerbranche häufig vor, und die Bemühung
um alltagssprachliche Formulierungen kann irreführend sein (vgl. Bromme/Jucks,
2003, S. 23). Diese Aspekte werden im analytischen Kapitel näher untersucht.
4. Analyse
Das Ziel der folgenden Analyse ist es, anhand einer Teiluntersuchung etwas zum
Thema der aktuellen Kommunikation zwischen Experten und Laien beizutragen.
Als Untersuchungsmaterial wurde das etablierte Internetforum im spezialisierten
Webportal des Computer- und Elektrohändlers Conrad ausgewählt, das seit 2009
in Betrieb ist.
Die Darstellung der Homepage (URL 2) deutet an, dass es sich um eine
Webpräsentation mit vielen Merkmalen einer ausgeprägten Corporate Identity
handelt. Die blaue Firmenanschrift zusammen mit dem Logo sind immer am Kopf
der Seite präsent, das Layout der Webseite ist in den Firmenfarben blau, schwarz
und weiß ausgeführt, und die visuelle Markenführung tritt einheitlich in Erscheinung.
Von Anfang an wird eine Absicht formuliert; Conrad möchte die interessierte
Öffentlichkeit dazu bewegen, sich mit Fragen, Problemen und Schwierigkeiten
bezüglich Technik, Elektrotechnik bzw. Elektronik, IT oder Computern und
deren Eigenschaften, Auswahl, Einkauf, Installation usw. an das Internetforum
zu wenden. Es präsentiert sich also als eine fachliche, beratende Instanz für die
interessierte Öffentlichkeit auf einer eigenen Seite bzw. über die Community
hinaus, wovon auch diese Grafik zeugt:
Abb. 1, Quelle: URL 2
70
In der Rolle eines Blickfangs erscheint hier eine schematische Abbildung eines
jungen Mannes. Die genaue Wirkung dieses beinahe piktografischen Symbols kann
in zwei Richtungen gedeutet werden: Einerseits geht es um die Mühe, einen seriösen
Eindruck zu evozieren (z.B. durch eine Brille). Andererseits kann der abgebildete
Mann mit seinem Bart und den halb geöffneten Augen ein bisschen suspekt wirken.
Es handelt sich um einen jungen Mann, und diese Grafik dient der Identifikation
mit dem Zielpublikum. Man kann es nur schwer überprüfen, weil die Nutzer ihr
Geschlecht nicht angeben müssen, und die Benutzernamen verraten es auch nicht
immer, aber Conrad zielt in erster Linie auf eine jüngere Generation von Männern.
Der Slogan „Kommen Sie mit einem Problem, gehen Sie mit einer Lösung“ weist
einen stark persuasiven Charakter auf, wobei diese Intention noch durch die
Hervorhebung der Wörter „Problem“ und „Lösung“ verstärkt wird. Es ist eine
Aufforderung an die Ratsuchenden, die Schwierigkeiten technischer Art haben,
sich mit ihrer Suche an dieses Internetforum zu wenden. Zugleich kann man den
Slogan auch als eine Deklaration von Selbstbewusstsein wahrnehmen: Der
Computer- und Elektrohändler Conrad sieht sich in einer starken Marktposition
und geht davon aus, dass er bei jedem Problem helfen und kompetente
Lösungen anbieten kann. Die blaue Farbe hebt den unteren Teil des Slogans hervor
und weist darauf hin, dass die Firmenfarbe mit der Lösung und nicht mit dem Problem
verbunden werden soll. Das ist ein gutes Beispiel dafür, wie visuelle und sprachliche
Mittel kooperieren und zusammenwirken können, und dient dem Aufbau von
Vertrauen. Dazu trägt auch die Strukturierung der Inhalte auf der Startseite in
Kategorien wie Feedback und Support, Community-Informationen, Datenschutz,
Nutzungsbedingungen usw. bei, die auch rechtliche Grundlagen der Internetkommunikation reflektieren und heutzutage für ein seriöses und vertrauenswürdiges
Internetforum unabdingbar sind.
Die komplette Kommunikation der Conrad Community beinhaltet mehr als 57.000
Diskussionsbeiträge5, und dies bedeutet, dass es sich um eines von den meist
besuchten und aktivsten Foren im deutschsprachigen Internet überhaupt handelt6.
Der Zuwachs beträgt ca. 100 Beiträge pro Tag. Da dies eine unübersichtliche Menge
von threads und Themenbereichen darstellen würde, werden die Diskussionsbeiträge
in Kategorien geordnet und weisen folgende Struktur auf:
5 Stand vom 01.10.2016.
6 Eine ausführliche Liste der Internetforen mit der höchsten Anzahl der Nutzer und Diskussionsbeiträge ist unter URL
4 zugänglich. Es werden hier aber auch Allgemeinforen einbezogen. Wenn man den Filter auf die deutsche Sprache,
Themenbereiche Computer und Elektronik (und verwandte) einstellt, kommt man zu der Feststellung, dass Conrad
eindeutig zu den drei am meisten besuchten und aktivsten deutschen Fachforen gehört.
71
Abb. 2: Quelle: URL 2
Die Bausteine und die Organisation des Forums unterliegen der Optimierung für
übliche Internetbrowser und ermöglichen auch eine korrekte Abbildung durch
mobile Endgeräte (Tablets, Smartphones usw.). Die Inspiration zur kachelartigen
modularen Gestaltung z.B. durch die Benutzeroberfläche von Windows bzw.
von heutigen Smartphones ist offensichtlich. Der Slogan „technology powered by
people“ ist eine Lizenz des Unternehmens Conrad, und obwohl es sich um ein
deutsches Internetforum mit ausschließlich deutschen Diskussionsbeiträgen
handelt, wird sie hier auf Englisch angeführt. Dies kann als ein Zeichen der
zunehmenden Internationalisierung wahrgenommen werden.
Es ist erkennbar, dass die Architektur des Fachportals eine ausgeprägte und logische
Gliederung aufweist. Das Navigationsmenü ist übersichtlich in drei Sektionen
gegliedert –Start, Inhalte und Erstellen. Durch diese lineare, aktivitätenorientierte
Darstellung stehen in komprimierter Form alle Grundfunktionen des
Internetforums zur Verfügung. Aufgrund der Tatsache, dass die kommunizierten Fachinhalte im Bereich der Elektronik, Computer- und Elektrotechnik
sehr dispers sein können, wurde die Kategorisierung der Beiträge durch ein
Cluster-Verfahren veranschaulicht (vgl. Pišl, 2015, S. 149-151). Das bedeutet, dass die
zusammenhängenden Beiträge in Kategorien unterteilt und einzelnen Themenbereichen zugeordnet werden. Sowohl die Diskussionsbeiträge als auch verwandte
threads werden verlinkt bzw. durch kurze Hypertexthinweise verbunden und
dementsprechend graphisch markiert.
Des Weiteren besteht die Menüleiste aus sechs Themenbereichen, die durch
Piktogramme ergänzt sind. Diese von Conrad verwendeten Symbole (icons)
dienen der visuellen Veranschaulichung (vgl. Emrich, 2013, S. 52). Wir können bei
der Benennung der Themenbereiche beobachten, dass in den Fällen, in denen die
englische Variante kürzer, verständlicher und gebräuchlicher ist, diese englischen
Bezeichnungen auch ausgewählt wurden. In diesem Fall können die Ausdrücke
HowTos, Startup und Contests als Beispiele gelten. Dies ist ein weiterer Beleg
dafür, wie häufig Anglizismen (nicht nur) in der Elektronik und IT-Branche ihre
Anwendung finden.
Wenn ein Mensch zum Internetforum beitragen möchte, erfordert dies eine
Registrierung und Anmeldung. Nach dem Einloggen kann man entweder zu einer
72
schon existierenden Diskussion beitragen oder eine Frage stellen und damit einen
neuen thread bzw. eine neue Diskussion begründen. Die Fragen werden mittels
separaten Fenstern formuliert, es gilt jedoch die Begrenzung, dass der Text 100
Zeichen nicht überschreiten darf. Optional kann man zur Frage einen längeren
Kommentar hinzufügen, der jedoch einem anderen Darstellungsmodus unterliegt.
Die Inspiration durch Twitter und soziale Netzwerke ist hier offensichtlich (vgl. URL
2). Dieser Modus des Fragenstellens läuft unter der Voraussetzung, dass die Nutzer
fähig sind, ihre Frage in den vorgeschriebenen 100 Zeichen zu formulieren. Diese
Bedingung kann hinterfragt werden – vor allem bei komplexen Problemen, die im
Bereich der Computer- und Elektrotechnik zu erwarten sind. Jedoch bringt sie einen
enormen Vorteil mit sich: Die Fragen und Themenbereiche sind übersichtlich und
verständlich. Es folgen einige Beispiele, die direkt von URL 1 entnommen wurden:
- Wie kann ich alle Daten restlos von Laptop löschen?
- Externes CD/DVD Laufwerk – Worauf sollte man beim Einkauf achten?
- Gibt´s es eine Möglichkeit unter WIN7 einen 3. Monitor mit nur einer
Grafikkarte anzuschließen???
- iPhone 5 Akku selbst austauschen?
- Welche Auflösung sollte ein guter Monitor haben?
- Was brauche ich um vom iPhone aus zu drucken?
Es kann als überraschend bezeichnet werden, dass die Nutzer eine breite Palette
von Sprachinstrumenten auswählen, um ihre Frage richtig und sinngemäß zu
formulieren: Es sind vollständige Ergänzungsfragen, die aus einer individuellen,
persönlichen Perspektive formuliert werden. Viele Fragen beziehen sich auf ein
konkretes Gerät, meistens Hardware (Laptop, Laufwerk, Monitor, Grafikkarte,
Akku etc.). Des Weiteren werden Produktnamen genannt (Windows 7, iPhone)
und diesbezüglich eine Frage gestellt. Da die Fragetexte möglichst ökonomisch
und genau formuliert werden müssen, tauchen auch Kurzwörter auf (WIN7); über
die Verkürzung des Akkumulators auf Akku wundert sich heutzutage niemand
mehr. Bei der Formulierung der Frage muss entschieden werden, in welche der
Themenbereiche bzw. Unterkategorien sie gehören wird. Sowohl für die Nutzer als
auch für die Diskutierenden erwies sich die Gliederung der Themen in vorbereitete
Kategorien als hilfreich. Die Kategorien sind verständlich und sehr detailliert
vorstrukturiert (Laptop – Verkaufen; Laufwerk – externes Laufwerk), und wenn
es sich um konkrete Produkte handelt, ist die Kategorisierung noch detaillierter
nach Produktreihen und Modellen (Computertechnik – Software – Windows 7;
Smartphone – iPhone – iPhone5) unterteilt. Der vorgeschriebene Umfang der
Fragetexte eliminiert Fachtermini, die keine Geräte- oder Produktbenennungen
sind. Es steht nur wenig Platz zur Verfügung. Um trotzdem die Frage
grammatikalisch vollständig formulieren zu können, werden Verben verwendet,
die mit dem Bereich der Elektro- und Computertechnik verbunden sind (löschen,
anschließen, austauschen, drucken).
73
Die Analyse zeigt, dass die Rolle der Diskutierenden in keinem Falle die Rolle von
absoluten Laien ist. Es sind also keine Laien im echten Sinne (vgl. Jucks, 2001,
S. 19-21). Es handelt sich eher um Menschen, die vor einem Problem stehen, das für
sie neu ist, oder für das sie zwar eine mögliche Lösung hätten, da sie die Methoden
der Informationsgewinnung aus anderen vertrauenswürdigen Quellen beherrschen,
die diese Lösung jedoch innerhalb der Community bestätigen oder ergänzen
lassen möchten. Die Mitglieder, also vor allem (potentielle) Kunden, eine interessierte
Öffentlichkeit bzw. Ratsuchende teilen somit ihr Fachwissen und profitieren davon.
Sie verfügen oft über breites Vorwissen und langjährige Erfahrungen.
Abb. 3.: Quelle: URL 2
Es folgt eine Analyse einer ausgewählten Frage-Antwort-Relation im Diskussionsforum aus dem Themenbereich Computertechnik – Haustechnik: Wie der
Screenshot zeigt, wird jede Frage als Blickfang mit blauer Markierung einheitlich
im oberen Teil des Bildschirms abgebildet. Dazu kann fakultativ ein ergänzender
Kommentar formuliert werden, welcher unter dem Fragetext unmarkiert positioniert
wird. Hier gibt es die Möglichkeit, die Frage zu präzisieren bzw. wichtige
Einzelheiten zu ergänzen. In diesem Fall geht es um eine Konkretisierung von
räumlichen Verhältnissen (Entfernung von Gebäuden), technischen Details
(Kabelanschluss) und der erwünschten Funktionalitäten (Ziel ist die hohe
Geschwindigkeit des Internetanschlusses) von einem Netzwerkrouter. Man
kann sehen, dass der Fragetext einige Abweichungen von den orthographischen
Normen aufweist, die jedoch mit der exponentiellen Verbreitung von digitalen
Online-Kommunikationsmöglichkeiten als nicht mehr so streng wahrgenommen
werden. Wenn sie die Verständlichkeit der Frage nicht erschweren, werden
sie akzeptiert (keine Großschreibung bei Substantiven oder am Satzanfang,
Kommasetzung, Leerzeichen).
Conrad bietet bei jeder Frage eine direkte Verlinkung zu den sozialen Netzwerken
(Facebook, Twitter, Google+, Pinterest, LinkedIn, Xing) via die dazugehörigen Icons
74
an. Zusätzlich gibt es ein gebräuchliches Symbol für die E-Mail-Kommunikation
nicht nur unter den Mitgliedern, sondern auch mit der Firma Conrad. Es gibt
also die Möglichkeit, die Frage bzw. den ganzen thread elektronisch an jede
beliebige E-Mailadresse abzusenden. Dies ermöglicht eine schnelle Verbreitung
des besprochenen Fachinhaltes. Die sozialen Netzwerke machen die jeweilige
Kommunikation zugänglich für eine breite Masse von Prosumenten (vgl. URL 5). So
werden die Nutzer bezeichnet, die die Inhalte nicht nur konsumieren, d.h. suchen
und durchlesen, sondern auch selbst produzieren, indem sie beispielsweise neue
Diskussionen öffnen, Fragen stellen und reagieren. Diese Eigenschaft ist für
das Internetforum bei Conrad signifikant: Es handelt sich um eine interaktive
Dienstleistung, die sich an eine Zielgruppe richtet, die zwischen den einfachen
Konsumenten und den professionellen Anwendern steht. Charakteristisch dafür
sind die Leistungen, die über die Bedürfnisse des Gelegenheitsnutzers hinausgehen
und oft eine erweiterte Sachkenntnis zur Benutzung erfordern (vgl. URL 5). Dies
ist ein weiterer Beleg dafür, dass die Kommunikation zwischen Experten und Laien
heutzutage eine neue Perspektive gewinnt.
Die Frage ist zwar von einem Laien geschrieben, aber die verwendete Fachterminologie deutet auf einen eher erfahrenen Nutzer hin (Router, Kabelanschluss,
überbrücken). Diese hochspezialisierten Fachtermini werden nicht weiter erklärt.
Es kann daraus geschlossen werden, dass die Frage von einem geübten und
sachkundigen Menschen gestellt wird. Hier bestätigt sich die Prämisse der
Einleitung: Die Nutzer möchten Probleme diskutieren, mit denen sich die Experten
auskennen. Sie suchen nach einer Lösung, aber es fehlen die Ausbildung und vor
allem Erfahrungen für eine eigenständige Problemlösung und Einblick in den
aktuellen Wissensstand.
Ein anderer Aspekt dieser Kommunikationssituation ist die Einbeziehung von
Experten. Diese kann bei Conrad auf zwei Wegen eintreten. Entweder arbeitet das
Internetforum mit den registrierten Fachleuten zusammen, wobei die Auswahlkriterien intern bleiben und die Legitimation dieser Menschen sich nur dadurch
bestätigen lässt, dass sie bei Conrad den Registrierungsprozess erfolgreich absolviert
haben. Oder es können auch registrierte Nutzer zur Diskussion beitragen, ihre
Ratschläge sind jedoch anders markiert, der Status eines Nicht-Experten kann
erkannt werden. In der Abbildung gibt es eine Antwort auf die vorherige Frage
von einem registrierten und von Conrad geprüften Experten. Die Gestaltung des
Expertenprofils wurde offensichtlich durch Twitter inspiriert – man wählt einen
Profilnamen sowie ein Profilfoto aus. Diesem Profil kann man „folgen“, und es wird
die Anzahl an „Followern“ gezeigt. Des Weiteren wird über die Anzahl der geführten
Diskussionen und begonnenen threads informiert. Es folgt zudem eine Übersicht
von gegebenen Antworten zusammen mit der Bewertung anderer Diskutierender,
die durch die Vergabe von Sternen die Nützlichkeit des erteilten Ratschlages
bewerten. Von dem sozialen Netzwerk Facebook angeregt erscheint eine vertikale
Leiste mit Zeitangaben und Informationen über Aktivitäten auf dem Profil.
75
Diese detaillierten Auskünfte haben die Steigerung der Glaubwürdigkeit bzw.
auch die Bestätigung, dass sich der registrierte Experte tatsächlich im jeweiligen
Themenbereich auskennt, zum Ziel.
Abb. 4: Quelle: URL 2
Die Antwort aus dem Expertenprofil „Wlanman“ ist breit angelegt und beinhaltet
sieben Textaussagen und zwei Hypertexthinweise. Diskussionsbeiträge in dieser
Länge stellen jedoch bei Conrad keine Ausnahme dar. Das deutet darauf hin, dass
die Experten viele Aspekte der Frage in Betracht ziehen möchten. Die Formulierungen verzichten oft auf eine einleitende und abschließende Passage, oder sie
versuchen diese Phase zu minimieren, was die verwendete Grußformel im Beispiel
oben (Hallo) belegt. Die Antwort bietet eine Lösungsmöglichkeit des Problems bezüglich eines Hardwareproduktes (Router) und äußert einen hohen Grad
der Überzeugung (müsste klappen) hinsichtlich der angebotenen Hilfe. Diese
Perspektive wird durch einen Hypertexthinweis zum Installationsschema und durch
die Kenntnis derselben Installation bei zwei unterschiedlichen Produktmodellen
verstärkt. Des Weiteren kommen Informationen zur optimalen Positionierung
des Gerätes sowie Hinweise zur Grundeinstellung vor. Sprachlich handelt es sich
um eine Handlungsanweisung mit appellativ-informierender Funktion, in der die
Sprechhandlung einer Instruktion bzw. Aufforderung übermittelt wird. (vgl.
Werbová, 2015, S. 170). Die Antwort berücksichtigt viele Aspekte der gestellten
Frage und sieht außerdem mögliche Schwierigkeiten voraus: Es wird die
Grundeinstellung präzisiert, eine Anleitung wird gefunden und wieder durch
einen Hypertexthinweis effektiv vermittelt. Es wird darüber hinaus die Eventualität
erwähnt, dass weitere technische Geräte oder drahtlose Internetverbindungen
möglicherweise angewendet werden sollen, sowie eine Lösung, wie dies realisiert
76
werden kann. Es folgt noch die Einschätzung des beschriebenen Vorgangs für
einen Laien, wobei dieser tatsächlich so benannt wird. Als eine nur eingeschränkt
brauchbare Empfehlung kann man den Vorschlag empfinden, sich an einen
Computer-Freak zu wenden. Es wird damit gerechnet, dass jeder Mensch in
seinem Bekanntenkreis einen Computer-Fan finden kann. Es wird zudem
vorausgesetzt, dass dieser sich mit drahtlosen Internetverbindungen auskennt, was
nicht zwangsläufig der Fall sein muss. Da in der gestellten Frage die erwünschte
hohe Geschwindigkeit des Internetanschlusses erwähnt wurde, fügte der Experte
eine Bemerkung an, dass dieser Wunsch aus technischen Gründen nicht realisiert
werden kann. Die Anredeform änderte sich im Verlauf der Antwort von der
unpersönlichen Ausdrucksweise zum Duzen. Dies kann man als Bemühung um
eine Verstärkung des Gefühls der Gruppenzugehörigkeit interpretieren. Der
Experte zeigt dadurch außerdem eine engere Beziehung zum Hilfesuchenden, und
das kann als ein Signal für erhöhte Empathie verstanden werden. Man kann also
Merkmale einer Emotionalisierung ausmachen, die heutzutage im Bereich der
Fachsprache eine signifikante Rolle spielen (vgl. Vaňková / Satzger, 2015, S. 10).
Die Strukturierung und die Vermittlung des Fachinhalts im Rahmen der Antwort
zeigen, dass sich der Experte der heterogenen Vorkenntnisse des Fragenden und
seiner Wahrnehmungsperspektive bewusst ist. Er nutzt die Rahmenbedingungen
des Internetforums und der interaktiven Relation einer Frage mit mehreren
Antworten aus, um das Wissen effektiv zu distribuieren. Er bringt eine realistische
Einschätzung der Laienperspektive zum Ausdruck und antizipiert die möglichen
Schwierigkeiten im Voraus. Das Kommunikationsmedium eines internetbasierten
Fachforums erleichtert die Vermittlung von visualisierten Inhalten durch
Hypertexthinweise („Link Text“) bzw. direkte Verlinkung von Fachinhalten
(„Klick“). Der Nutzer bekommt somit auf eine verständliche Weise ausführliche
Informationen, Zugang zu relevanten Abbildungen und Einstellungen und kann
von weiteren relevanten Zusammenhängen profitieren. Von Vorteil ist auch
die Möglichkeit, jederzeit mittels direkten Durchklickens zum Onlineshop zu
kommen. Conrad bietet außerdem eine neue Modalität in der Experten-LaienKommunikation: Der Nutzer kann sich dazu äußern, ob ihm die vermittelten
Informationen geholfen haben und diese Antwort als „Beste Lösung“ und mit
einem blauen Stern bewerten. Dieser Vorgang stellt eine Art von Feedback
dar, das im System angezeigt wird, und weitere Nutzer können diese Lösung
kommentieren. In dem untersuchten Fall beschreibt der Experte verständlich
und hilfreich einen Vorgang, vermittelt eine Methode und formuliert nützliche
Informationen mit vielen Aspekten, die kaum bzw. nur angedeutet in dem Fragetext
ausgedrückt wurden. Seine Bemühung um Verständlichkeit, um Einbeziehung von
unterschiedlichen Wahrnehmungsperspektiven, um einen eindeutigen Sprachausdruck, um Antizipation des heterogenen Vorwissens oder um Veranschaulichung
mittels interaktiver Funktionalitäten des Internetforums wurden positiv bewertet.
77
5. Fazit
Anhand dieser Untersuchung kann man zu den nachfolgenden Schlussfolgerungen
kommen, die im Zentrum der sprachwissenschaftlichen Beschäftigung mit
diesem Thema stehen. Die bisherigen Strategien bei der Vermittlung und
Verbreitung von Fachwissen haben sich aufgrund der interaktiven technischen
Rahmenbedingungen verändert. Die Kommunikation zwischen Experten
und Laien wird zunehmend über Computer (d.h. internetbasiert, digital und
online) realisiert. Die Struktur und Verwaltung des untersuchten Internetforums
ermöglichen es, aktiv, über eine einfache Registrierung, in den direkten Dialog
mit der Community, in der Experten, Halb-Experten und Ratsuchende tätig sind,
zu treten. Dies stellt jedoch eine wesentliche Veränderung des Kommunikationsparadigmas in dieser Branche dar: Auf einer öffentlichen Kommunikationsplattform treffen die interessierte Öffentlichkeit, registrierte Experten, (potentielle)
Kunden, Menschen mit konkreten Produkterfahrungen oder mit Erfahrungen
bei dessen Installation bzw. korrekter Verwendung zusammen. Es wird ein
direkter Austausch von Tipps, Ratschlägen, Erfahrungen, Anweisungen und
visuellen Unterlagen auf einer interaktiven Plattform ermöglicht. Eine grundlegende
Eigenschaft eines Internetforums ist es, Abbildungen, Schemen und komplexe
visualisierte Vorgänge technisch leicht einbeziehen und jederzeit abrufen zu können.
Es hat sich gezeigt, dass für die wechselseitige Verständigung zwischen Experten und
Laien gewisse Anforderungen erfüllt werden müssen. Aufgrund des heterogenen
Vorwissens findet man auf der Expertenseite Antizipationen des Fachwissens aus
der Laienperspektive und die darauf basierenden Adaptionen. Der sprachliche
Ausdruck und die konkrete Formulierung einzelner Kommunikationsbeiträge auf
die (vermutete) Perspektive des Gesprächspartners hin haben sich als notwendig
und hilfreich erwiesen. Aus den untersuchten Belegen geht hervor, dass durch
Selektion und Umstrukturierung der Fachinhalte die Verständlichkeit bzw.
Gebrauchstauglichkeit der geleisteten Hilfe wesentlich erhöht werden können.
Die Untersuchung der Fachkommunikation zwischen Experten und Laien
bestätigt, dass zu den wichtigsten Rahmenbedingungen für die Vermittlung von
Fachinhalten das Kommunikationsmedium gehört. Des Weiteren ist es eine
realistische Einschätzung der Laienwahrnehmungen, zusammen mit Hinweisen
auf mögliche zusätzliche Schwierigkeiten, die man in den Formulierungen der
geleisteten Hilfestellungen beobachten kann. Aus der Analyse dieses Themas geht
hervor, dass der Bereich der Computer- und Elektrotechnik heutzutage viel mehr
an der Grenze zwischen Fach- und Alltagswissen liegt. Viele Menschen, die als
interessierte Öffentlichkeit, Hobby-Techniker oder Handwerker bezeichnet werden
können, bewegen sich in diesem Bereich. Die Gruppe der Nutzer (also die Community) des untersuchten Internetforums ist heterogen.
78
Zu den weiteren grundlegenden Aspekten gehört, dass die Kommunikation
in Internetforen zeitlich asynchron ist. Das stellt einen weiteren Unterschied
zur Face-To-Face-Kommunikation dar: Informationen werden nicht nur auf
Anfrage mitgeteilt, man wird zum Austausch von Fachwissen herausgefordert, und
alle Diskussionsbeiträge werden archiviert. Die Erstellung eines Profils bzw. die
Registrierung bietet die Möglichkeit, innerhalb der Community zudem dafür
zu sorgen, dass die Nutzer sofort wissen, dass die Informationen direkt von dem
konkreten Menschen (je nach dem zugeteilten Status kann man ihn als einen
Experten bezeichnen) kommen. Damit scheint die Problematik der Qualitätssicherung von erteilten Informationen und der fachlichen Qualität der Inhalte
geklärt zu sein.
Die fachliche Beratung über das Internet und ähnliche Beratungsformen gewinnen
zunehmend an Bedeutung und dienen als Ergänzung bzw. als Ersatz für die persönliche Fachberatung von Experten im Rahmen der Face-To-Face-Kommunikation.
Es ist gelungen, eine realitätsnahe Beratungssituation durch das Medium Internet
zu schaffen. Es ist jedoch notwendig, sich auf diese besondere Kommunikationssituation umzustellen. Das Potenzial der fachlichen Beratung über das Internet
ist enorm, und es kann davon ausgegangen werden, dass diese Beratungsformen
zunehmend an Bedeutung gewinnen werden, da sie die schnelle und umfassende
Versorgung breiter Bevölkerungsschichten mit Fachinformationen ermöglichen.
Abstract
This article deals with new platforms of communication between professionals and
laymen – with internet forums. The analyzed internet forum is provided by the
German computer and electronics company Conrad. The aim was to show, how
the communication between professionals and laymen was changed in that case, it
was relocated to an interactive digital setting. After a necessarily theoretical basis
follows an analysis of chosen communication situations and as well a presentation
of achieved conclusions.
Keywords
Internet forum, professionals-laymen-communication, consulting, computer
technology, electronics
Literaturverzeichnis
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verstehen. In: Forschungsjournal der WWU 3. Münster: Universität Münster, S. 20-25.
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im Wandel – The Changing Landscape of Professional Discourse. Ostrava: Ostravská
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URL 5: http://www-05.ibm.com/de/media/news/medienstudie-28-04-08.html
[26.09.2016]
80
Dieser Text entstand im Rahmen des SGS-Projektes „Prezentace odborných
informací v odborném i neodborném kontextu“ (SGS21/FF/2016-2017), das am
Lehrstuhl für Germanistik der Philosophischen Fakultät der Universität Ostrava
realisiert wurde.
81
82
Zentrum und Peripherie des medizinischen
Fachwortschatzes
am Beispiel der fachexternen Online-Kommunikation
zwischen Ärzten und Patienten Martin Mostýn
Annotation
Im vorliegenden Beitrag werden Ergebnisse einer kontrastiv angelegten deutschtschechischen Analyse von ausgewählten Ratgeber- und Diskussionsforen
präsentiert, die auf eine konkrete Hauterkrankung namens Pityriasis rosea Gibert
(dt. Röschenflechte) ausgerichtet sind. Die Aufmerksamkeit wird auf den Gebrauch
einschlägiger medizinischer Terminologie einerseits durch Ärzte und andererseits
durch Patienten und deren Angehörige gerichtet, wobei der Frage nachgegangen
wird, welche außer- sowie innersprachlichen Faktoren die Verwendung der
medizinischen Terminologie beeinflussen und welche kontextuellen Modifizierungen
diese erfährt. Anhand eines interlingualen Vergleichs wird demonstriert, welche
Ausdrücke im „terminologischen Zentrum“ und welche an der „terminologischen
Peripherie“ bei den Usern solcher Foren in den beiden Sprachen stehen und
ob diesbezüglich irgendwelche Unterschiede feststellbar sind.
Schlüsselwörter
Pityriasis rosea Gibert, medizinischer Fachwortschatz, Online-Kommunikation,
Arzt-Patienten-Kommunikation, Diskussionsforum
1. Einleitung
Die Arzt-Patienten-Kommunikation hat in den letzten Jahrzehnten einen merklichen
Wandel durchgemacht.1 Dieser wurde dadurch verursacht, dass man in
modernen Gesellschaften unter dem Einfluss der Massenmedien einen deutlich
besseren Zugang zum medizinischen Fachwissen hat. Das Expertenwissen ist
dementsprechend nicht mehr nur Ärzten und medizinischem Personal vorbehalten,
sondern auch bei Laien zu finden. So hat sich ein neuer Patienten-Typus
herausgebildet, der sogenannte „informierte Patient“ (Braun/Marstedt, 2011, S. 47).
1 S. dazu ausführlich in Mostýn (2016) und vgl. ebd. auch für das Folgende. Zur Arzt-Patienten-Kommunikation
s. auch Löning/Rehbein (1993) und Menz (2010). Eine ausführliche Übersicht einschlägiger Sekundärliteratur zu dieser
Thematik findet sich bei Roelcke (2016).
83
Zurzeit spielt insbesondere das Internet als Fundgrube des medizinischen
Fachwissens eine unübersehbare Rolle. Patienten und deren Angehörige nutzen
oft verschiedene Ratgeber- und Diskussionsforen, die nach Erkrankungen oder
Beschwerden organisiert sind, um nach Ratschlägen eines Experten oder eines
ähnlich Betroffenen zu suchen oder ihre eigenen Erfahrungen mit verschiedenen
Behandlungsmethoden oder Arzneimitteln auszutauschen.
Eben solche Diskussions- und Ratgeberforen bilden den Gegenstand einer
kontrastiv angelegten deutsch-tschechischen Analyse, die auf Diskussionsbeiträge zu einer häufig auftretenden Hauterkrankung namens Pityriasis rosea Gibert
(dt. Röschenflechte oder Schuppenröschen, vgl. Abeck, 2011, S. 71, tschechisch
neben der bereits erwähnten fremdsprachigen Bezeichnung auch růžová pityriáza,
vgl. URL 1) ausgerichtet sind. Im Fokus der Analyse steht der kontextuelle
Gebrauch medizinischer Terminologie, vornehmlich der konkurrierenden
Bezeichnungen der Hauterkrankung sowie deren Symptome in Bezug auf
verschiedene Kommunikationsteilnehmer, und zwar Experten auf der einen Seite
und Patienten und deren Angehörige auf der anderen.
Das Ziel der Analyse ist es, festzustellen, welche außer- sowie innersprachlichen
Faktoren sich auf den Gebrauch medizinischer Terminologie durch Ärzte und
Patienten auswirken und welche kontextuellen Modifizierungen diese erfährt.
Die Analyse soll unter Einbeziehung eines interlingualen Aspekts erfolgen, um
potenzielle Gemeinsamkeiten sowie Unterschiede im Hinblick darauf aufzudecken,
welche Ausdrücke das „terminologische Zentrum“ und welche die „terminologische
Peripherie“ in den auf Deutsch und in den auf Tschechisch verfassten Beiträgen
darstellen (s. u. zum Textkorpus). Auf eine kurze Charakteristik der Hauterkrankung und der beiden Subkorpora (Deutsch und Tschechisch) einschließlich
einiger zentraler Forschungsschwerpunkte folgen die wichtigsten Ergebnisse
meiner Analyse.
2. Die Hauterkrankung Pityriasis rosea2
Die Erkrankung Pityriasis rosea, bisweilen auch Pityriasis rosea Gibert oder
Gibert-Erkrankung (vgl. Traupe/Hamm, 2006, S. 405) genannt, gehört zu den
häufig vorkommenden und ziemlich harmlosen Hauterkrankungen, die vor allem
Patienten zwischen 19 und 29 Jahren betreffen. Obwohl es sich um eine häufig
auftretende Dermatose handelt, ist sie relativ wenig erforscht: Bis heute ist beispielsweise der Krankheitserreger unbekannt. Es wird vermutet, dass diese Hauterkrankung
durch die humanen Herpesviren der Gruppe 6 und 7 hervorgerufen wird. In der
Publikation Häufige Hautkrankheiten in der Allgemeinmedizin: Klinik, Diagnose,
Therapie von Dietrich Abeck (2011) wird ein typischer Verlauf dieser Dermatose
folgendermaßen charakterisiert:
2 Für das Folgende vgl. auch Mostýn (2016).
84
„Bei etwa der Hälfte der Patienten entwickelt sich initial das
Primärmedaillon (Harald’s Patch) in Form eines scharf begrenzten
Erythems mit typischer randständiger colleretteartiger Schuppung
[…]. Für die klinische Diagnose entscheidend ist die typische
Schuppenkrause in einem Erythem […]. Bei Vorliegen multipler
Läsionen ist der Nachweis dieses Befundes ausschlaggebend. Nach
2 Tagen – in der Regel 3-5 Tagen, in einzelnen Fällen auch noch
nach Wochen – entstehen weitere Läsionen, die häufig kleiner als die
Primärläsion sind. Bei exanthematischer Aussaat ist die Anordnung
der Hautveränderungen am Rumpf in den Hautspaltlinien typisch.“
(Abeck, 2011, S. 71-72)
Erytheme treten meist am Rumpf, in den Achseln, im Genitalbereich oder im
Gesicht auf, und zwar allein oder in Kombination. Pityriasis rosea heilt meistens
innerhalb von 5-7 Wochen ohne Behandlung aus. Der Verlauf kann sehr unterschiedlich sein. Einige Patienten bleiben beschwerdefrei, andere beklagen sich
über sehr starken Juckreiz (Abeck, 2011, S. 71-72). Betrachtet man die oben
zitierte Charakteristik etwas näher, stößt man auf eine Reihe medizinischer Termini
wie Primärmedaillon samt seinem englischen Äquivalent Harald’s Patch, die den
anfänglichen, auffälligen Ausschlag bezeichnen, ferner auf den Terminus Erythem, der
laut dem Duden-Onlinewörterbuch (im Folgenden abgekürzt als DOW, URL 2) die
Bedeutung ,entzündliche Rötung der Haut infolge verstärkter Durchblutung durch
Gefäßerweiterung (Med.)‘ trägt. Kennzeichnend sind ebenfalls terminologische
Wortverbindungen mit attributiven Adjektiven wie randständige colleretteartige Schuppung und das Determinativkompositum Schuppenkrause, welche die
Form der Hautschuppung näher charakterisieren und eine wichtige differenzialdiagnostische Funktion erfüllen. Die Hauptsymptome dieser Hauterkrankung – rote
Ausschläge (Flecken) – werden hier als Läsionen (,Verletzung oder Störung
der Funktion eines Organs oder Körperglieds‘ (Med.), DOW) oder Exantheme
(,[entzündlicher] Hautausschlag‘, (Med.) DOW) bezeichnet, wobei diese
Hautveränderungen in den sogenannten Hautspaltlinien verlaufen (,unabhängig
vom Haarstrich in Richtung der geringsten Hautdehnbarkeit (senkrecht zu den
Hautspannungslinien, den Linien stärkster Zugspannung) verlaufende Linien der
Haut in deren Feinrelief ’) (URL 3). Es handelt sich in allen Fällen um Termini,
die einen hohen Fachlichkeitsgrad aufweisen und der höchsten Ebene hinsichtlich der vertikalen Schichtung der Fachsprache der Medizin (speziell der Dermatologie) zuzuschreiben sind. Sie kommen dementsprechend in der theorie- oder
anwendungsbezogenen Kommunikation unter Experten vor.3
Neben dem Terminus Pityriasis rosea finden bei der Bezeichnung dieser
Hauterkrankung zwei deutschsprachige Äquivalente Verwendung, und zwar
3 Zur vertikalen Schichtung fach(fremd)sprachlicher Kommunikation im Bereich der Medizin s. Roelcke (2016, S.
109-122).
85
Röschenflechte und Schuppenröschen. Den beiden Determinativkomposita liegt
die unmittelbare Konstituente Röschen – entweder als Bestimmungs- oder Grundwort
– zugrunde. Dabei handelt es sich um eine metaphorische Bezeichnung des
Hauptsymptoms dieser Hauterkrankung, der roten Erytheme (Flecken), deren
Erscheinungsbild kleinen Röschenblüten ähnelt (vgl. Mostýn, 2016).
Um entsprechende medizinische Terminologie in Bezug auf diese Hauterkrankung
im Tschechischen zu finden, wurde als Paralleltext die Publikation Dermatovenerologie von Jiří Štork et al. (2013) herangezogen. Hier wird das Krankheitsbild
folgendermaßen beschrieben:
„Onemocnění zpravidla začíná často nepovšimnutým primárním
(„mateřským“) ložiskem představovaným až několik centimetrů
v průměru velkou růžovou makulou s jemnými (pityriaziformními)
šupinkami na povrchu, které po jejich odloučení v centru ložiska
vytvářejí na jeho periferii límeček dovnitř nadzdvižených šupinek
[…]. Zpravidla po týdnu dochází v embolizační lokalizaci (postranní
partie trupu vnitřní strany paží a stehen) k postupnému, několik dní
trvajícímu, symetrickému výsevu menších oválných makul stejného
vzhledu orientovaných podélnou osou v čarách štěpitelnosti kůže
[…].“ (Štork et al., 2011, S. 176)
Auch im oben zitierten Text findet man zahlreiche Termini der medizinischen
Fachsprache:
Das erste sichtbare Symptom wird primární („mateřské“) ložisko [Primärherd
(„Mutterherd“)] genannt, wobei es sich um einen Ausdruck handelt, der ebenfalls
im deutschsprachigen Subkorpus vertreten ist (s. u.). Die roten Läsionen werden
sehr ähnlich wie in der deutschsprachigen Definition beschrieben. Allerdings
wird in der Definition nicht von den Termini léze [Läsion] oder erytém [Erythem]
Gebrauch gemacht, sondern es wird der dermatologische Terminus makula [Makula –
in der Bedeutung ,fleckförmige Veränderung (z.B. der Haut)‘, (Med.), DOW]
herangezogen. Es werden auch die differentialdiagnostischen Merkmale, randständige
colleretteartige Schuppung‘, im Tschechischen ložiska vytvářejí na jeho periferii
límeček dovnitř nadzdvižených šupinek, und ,Anordnung in den Hautspaltlinien‘, im
Tschechischen orientovaný v čarách štěpitelnosti kůže, thematisiert.
Aus diesen Ausführungen ergibt sich die Frage, welche der konkurrierenden Bezeichnungen für diese Dermatose sowie für deren Symptome durch Ärzte und Patienten
im analysierten Korpus (s. u.) verwendet werden, und welche gruppenspezifischen
bzw. individuellen Unterschiede (hinsichtlich der kommunikativen Rolle der Kommunizierenden) sich feststellen lassen, und dies auch in Bezug auf die beiden Sprachen.
86
3. Das Textkorpus und einschlägige Forschungsfragen
Das untersuchte Textkorpus bilden zwei Subkorpora; das eine schließt
tschechischsprachige Beiträge und das andere deutschsprachige Beiträge ein, die
verschiedenen Ratgeberforen für Betroffene und Angehörige von Betroffenen, die
an Pityriasis rosea leiden, entnommen wurden. Insgesamt wurden Diskussionsbeiträge im Gesamtumfang von etwa 500 000 Zeichen (jeweils etwa 250 000 Zeichen
pro Sprache) untersucht. Dabei handelt es sich um folgende Ratgeberseiten:
board.netdoktor.de; community.netdoktor.at; gesundheit.de; gesund
heitsfrage.net; med1.de; medizin-forum.de; onnmeda.de und patientenfragen.net + forum.gofeminin.de und justanswer.de;
diskuse.apatykar.info; doktorka.cz; ona.idnes.cz/dermatologickaporadna; ulekare.cz; + baby-cafe.cz; babyonline.cz; emimino.cz; omlazeni.cz
Es wurden sowohl spezielle medizinische Foren mit Threads zum Thema Pityriasis
rosea als auch allgemeiner ausgerichtete Foren, in denen diese Hauterkrankung
behandelt wird, berücksichtigt. Wir haben hier mit mehreren Kommunikationsrichtungen: Betroffener – Arzt, Angehöriger – Arzt, Angehöriger – Betroffener und
Betroffener – Betroffener zu tun, und im Korpus sind Posts unterschiedlicher Länge
anzutreffen, die, wie manche Texte, die im Rahmen der Internetkommunikation
verfasst werden, Merkmale des sogenannten Cyberslangs aufweisen (Vorkommen
von Tippfehlern, Verwendung ikonografischer Mittel, Hervorhebungen durch
typografische Zeichen, bisweilen Verzicht auf Diakritika (im Tschechischen),
manchmal auch Verzicht auf Großschreibung von Substantiven (im Deutschen)
und dergleichen).
Im Zentrum meines Interesses steht die Frage, wie einschlägige Termini in die Posts
eingebettet werden, welche verbalen und paraverbalen Mittel dabei herangezogen
werden (typografische Markierungen wie Fettdruck, Kursivschrift, Anführungszeichen und dergleichen), und welche metasprachlichen Formulierungen4 diese
in beiden Subkorpora begleiten. Zugleich wird der Gebrauch entsprechender
Fachlexik auf der lexikalisch-semantischen Ebene analysiert, wobei das Augenmerk
auf verschiedene lexikalische Modifizierungen wie die Verwendung von
Synonymen, Hyperonymen, aber auch auf die lexikalisch-morphologische Ebene –
vordergründig auf die Wortbildung – gerichtet wird. In diesem Zusammenhang
soll festgestellt werden, ob in den untersuchten Posts überwiegend konstante oder
davon abweichende Benennungen der oben genannten Hauterkrankung und ihrer
Symptome vorkommen, und ob sich einerseits gruppenspezifische, andererseits
interlinguale Unterschiede aufdecken lassen (vgl. Mostýn, 2016).
4 Göpferich (1995, S. 383) hat acht Typen metasprachlicher Elemente in Fachtexten identifiziert: Definitionen,
Explikationen, Präzisierungen; Einführung neuer Termini; Einführung von Synonymen; Einführung von
Abkürzungen, Formelzeichen, Symbolen; Angabe einer Benennungsmotivation; Kommentierung der Verwendungsweise
von Termini; Überblick über Begriffshierarchien und Sonstige.
87
4. Ergebnisse der Analyse
4.1. Gebrauch medizinischer Fachlexik im Hinblick auf
kommunikative Rollen
Beim Gebrauch medizinischer Terminologie lassen sich in beiden Subkorpora
erwartungsgemäß gruppenspezifische Differenzen in Bezug auf entsprechende
kommunikative Rollen (Experte – Laie) feststellen, was auf unterschiedlich
umfangreiches Fachwissen der Kommunikationsteilnehmer zurückzuführen ist.
Diejenigen, die in den Diskussionsforen den Status eines Fachexperten innehaben,
also vorzugsweise Dermatologen, verwenden in ihren Posts häufiger medizinische
Termini lateinischer oder griechischer Herkunft, die der höchsten Abstraktionsstufe hinsichtlich der vertikalen Schichtung der medizinischen Terminologie
zuzuschreiben sind. Ein häufigeres Vorkommen von Fremdwörtern lässt sich
ebenfalls in Beiträgen von anderen Vertretern des medizinischen Bereichs
verzeichnen, wie z.B. in Posts von Ärzten, die selbst keine Dermatologen sind, oder
auch von anderem medizinischem Personal, wie etwa von Krankenschwestern,
aber auch von Menschen mit fachspezifischer Ausbildung.
Der folgende Beitrag einer Userin, die im Forum gesundheitsfrage.net den Status
einer „Expertin“ aufweist, aber selbst keine Dermatologin ist, behandelt eines der
empfohlenen Hilfsmittel bei der Röschenflechte – das Arzneimittel Desloratadin,
wobei die Userin dessen Anwendung für nicht geeignet hält. Dieser Behauptung
stellt sie folgendes Argument voran:
Desloratadin ist ein Arzneistoff aus der Gruppe der Antihistaminika,
der zur Behandlung der allergischen Rhinitis und chronischen Urtikaria
(Nesselsucht) eingesetzt wird. Halte ich hier nicht für angebracht.
(gesundheitsfrage.net)
Neben dem Arzneistoff Desloratadin, der selbst den Status eines medizinischen
Terminus aufweist, treten im Beleg drei weitere Termini mit fremdsprachigen
Elementen auf: Antihistaminikum (,Arzneimittel gegen allergische Reaktionen‘,
DOW), allergische Rhinitis (allergische ,Entzündung der Nasenschleimhaut‘, DOW)
und chronische Urtikaria. Lediglich dem letzten Terminus, der eine Krankheitsbezeichnung darstellt, fügt die Autorin in runden Klammern eine Art Verständnishilfe in Form eines deutschsprachigen Äquivalents (Nesselsucht) bei. Die
Verwendung verschiedener metasprachlicher Mittel, im obigen Beleg die
Anführung von Synonymen deutscher Herkunft in runden Klammern, ist eine im
entsprechenden Subkorpus häufig zu verzeichnende metakommunikative Strategie
beim Umgang mit den Termini. Da mit einer solchen Verständnishilfe nicht
alle Termini versehen sind, könnte die Userin deren Bekanntheit oder einfache
Recherchierbarkeit vorausgesetzt haben.
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Ähnliches trifft auch auf das tschechischsprachige Subkorpus zu. Im folgenden
Post einer tschechischen Dermatologin wird eine Vermutung im Hinblick auf eine
mögliche Diagnose geäußert – Pityriasis rosea.
Mohlo by jít o pityriasis rosea, což je tzv. paravirový exantém, tzn.
vzniká v souvislosti s virovým infektem, není to nijak nebezpečné
a léčba není nutná. Většinou po několika týdnech spontánně zmizí.
[Es könnte sich um Pityriasis rosea handeln, was ein paravirales
Exanthem ist, d.h. es entsteht im Zusammenhang mit einem viralen
Infekt, es ist harmlos und keine Behandlung ist notwendig. Meistens
verschwindet es nach einigen Wochen spontan von selbst.]5 (ulekare.cz)
So wie im vorigen Beleg aus dem deutschsprachigen Subkorpus werden auch in
diesem metasprachliche Mittel herangezogen. Mit deren Hilfe werden Teilhandlungen wie z.B. ERLÄUTERN realisiert, die dem Stilmuster VERSTÄNDLICH
MACHEN zuzuordnen sind (s. dazu Petkova-Kessanlis, 2009, S. 246). Die
Röschenflechte wird in einem Relativsatz als paravirový exantém [paravirales
Exanthem] (,durch Viren hervorgerufener Hautausschlag‘, s. Kap. 2 dieser Arbeit)
erläutert. Auch das Syntagma paravirový exantém wird in der nachgestellten
asyndetisch verknüpften Aussage erklärt, denn es wird wahrscheinlich angenommen,
dass es nicht allgemeinverständlich ist. In der eigentlichen Erklärung sind ebenfalls
Termini lateinischer Herkunft zu beobachten. Als Ursache dieser Dermatose
wird ein virový infekt [viraler Infekt] (,durch Viren hervorgerufene Infektionserkrankung‘, DOW) genannt.
Während Experten in ihren metasprachlichen Äußerungen meist die Hauterkrankung Pityriasis rosea näher charakterisieren, deren vermutete Auslöser nennen,
zusammenhängende Fachbegriffe oder deutschsprachige synonyme Ausdrücke für
Fremdwörter anführen, erfüllen metasprachliche Äußerungen von Betroffenen
bzw. deren Angehörigen auch andere kommunikative Funktionen, wie die folgenden
Belege zeigen. Im deutschsprachigen Subkorpus werden von Usern bisweilen
deutschsprachige Synonyme zu Pityriasis rosea thematisiert, wobei sie sich eine
Aufklärung darüber wünschen, ob die von ihnen gefundenen Bezeichnungen
Schuppenröschen und Röschenflechte denselben Referenten haben. In solchen Posts
finden metasprachliche Verben wie nennen, heißen oder andere Abkürzungen,
z.B. Formen wie sog., d.h. Verwendung. Der Ausdruck Schuppenröschen macht lediglich etwa 5,1% der im Korpus befindlichen Konkurrenzformen von Pityriasis
rosea aus (die folgenden zwei Beispiele zitiert nach Mostýn, 2016):
Der Arzt diagnostizierte SCHUPPENRÖSCHEN. Im ganzen Internet
habe ich geschaut. Zu diesem Thema konnte ich nichts finden. Dann
5 Eigene Übersetzung von M.M.; gilt ebenfalls für die folgenden Belege aus dem tschechischen Subkorpus.
89
stand auf irgendeiner Seite, dass Schuppenröschen auch Röschenflechte
heißen. Stimmt das? (med1.de)
Schuppenröschen ist wohl dasselbe wie Röschenflechte. (med1.de)
In tschechischsprachigen Posts lassen sich Belege finden, in denen einige User
die Unverständlichkeit der fremdsprachigen Bezeichnung Pityriasis rosea zum
Ausdruck bringen:
Diagnóza: „Pityriasis rosea Gibert” (Myslel jsem si že mi nadává.)
Je to hnus a svědí mě to čím dál více [Diagnose: „Pityriasis rosea Gibert”
(Ich dachte, sie beschimpft mich.) Es ist eklig und juckt immer mehr
(diskuse.apatykar.info),
oder wo sie sich bei Unsicherheit eine terminologische Aufklärung ebenso wie im
deutschsprachigen Subkorpus wünschen. Dabei ist der Autorin des folgenden Posts
nicht bekannt, dass Pityriasis rosea lediglich die gekürzte Form von Pityriasis rosea
Gibert darstellt.
....Chci se také zeptat, stále tu píšete o Pityriasis Rosea – je rozdíl
mezi touto formou, a Pityriasis Rosea Gibert???? […Ich möchte auch
fragen, ihr schreibt hier immer über Pityriasis rosea – gibt es einen
Unterschied zwischen dieser Form und Pityriasis rosea Gibert?]
(diskuse.apatykar.info)
Des Weiteren wurde im deutschsprachigen Subkorpus noch ein weiterer
Unterschied in Bezug auf das Vorkommen bestimmter terminologischer Varianten
von Röschenflechte beobachtet, und zwar bei der Verwendung des Ausdrucks
Rosenflechte. Dieser wird in den von mir durchgesehenen Büchern zu Pityriasis
rosea meist nicht erwähnt, lediglich in Abeck (2010, S. 133) ist er im Sachregister
zu finden und verweist auf die behandelte Dermatose. Im deutschsprachigen
Subkorpus fällt auf, dass, während dieser Ausdruck in Posts von Betroffenen
vereinzelt belegt ist (etwa 1,5%):6
Hallo,
Bei mir wurde vor knapp 3 Wochen Rosenflechte festgestellt. Ich gehöre
leider zu denen, die es besonders schlimm getroffen hat! (justanswer.de)
Experten neben Pityriasis rosea (etwa 3%) ausschließlich die Variante
Röschenflechte und nie Rosenflechte gebrauchen, was auch bei der Antwort eines
6 Die in Klammern angeführten Prozentangaben geben an, wie groß der Anteil des entsprechenden Ausdrucks
in Bezug auf andere im Subkorpus vorkommende Bezeichnungen von Pityriasis rosea (Gibert) (Röschenflechte,
Rosenflechte, Schuppenröschen und Flechte) ist.
90
Arztes auf die vorangehenden Posts (s. o.) der Fall ist, in der der Experte keinerlei
Bezug auf den Ausdruck Rosenflechte nimmt und den im entsprechenden Subkorpus
geläufigen Terminus Röschenflechte (etwa 79,6%) heranzieht.
Guten Tag,
für die Röschenflechte ist wahrscheinlich ein Virus verantwortlich.
Die genaue Ursache ist unbekannt. (justanswer.de)
Für das tschechischsprachige Subkorpus ist eine solche Vielfalt an konkurrierenden
Bezeichnungsvarianten für die Hauterkrankung nicht kennzeichnend, was darauf
zurückzuführen ist, dass in der tschechischen Terminologie neben dem lateinischen
Terminus pityriasis rosea lediglich seine bohemisierte Variante růžová pityriáza
existiert. Die lateinische Bezeichnung ist ebenfalls in Belegen von Nicht-Experten
vorherrschend. Unabhängig von der kommunikativen Rolle der User macht der
lateinische Terminus etwa 89,9% der Bezeichnungen der Hauterkrankung aus.
4.1.1. Verwendung falscher Terminologie
Vergleicht man den Gebrauch der den Terminus Pityriasis rosea substituierenden
Varianten, lassen sich in beiden Subkorpora Belege finden, in denen User,
ausschließlich Nicht-Experten, falsche bzw. nicht gebräuchliche Varianten
verwenden. Im deutschsprachigen Subkorpus handelt es sich vor allen Dingen
um verschiedene Modifizierungen der ersten unmittelbaren Komponente
des Determinativkompositums Röschenflechte, die mitunter als Rösleinflechte
wiedergegeben wird. Der Ausdruck Rösleinflechte ist als eine Analogiebildung
mit einer unterschiedlichen, gegebenenfalls nicht korrekten Diminutivform des
Bestimmungswortes entstanden:
Hallo Ihr Lieben, Bei meinem neunjährigen Sohn wurde vor einer
Woche die Rösleinflechte diagnostiziert.. … (onmeda.de)
Den tschechischsprachigen Posts lässt sich entnehmen, dass einige User
insbesondere bei der Wiedergabe der lateinischen Bezeichnung Pityriasis rosea
Gibert verschiedene falsche Varianten bilden, die im Korpus als Okkasionalismen
auftreten. Obwohl es sich um falsche Termini handelt, ist auch hier ihre Verständlichkeit dank einer klar gegebenen Referenz nicht beeinträchtigt.
Tak mě teda paní doktorka poslala na kožní, kde mi identifikovali
nemoc jako pithyriais rosea [Also die Ärztin hat mich in die Abteilung
für Dermatologie geschickt, wo bei mir die Krankheit pithyriais
rosea diagnostiziert (wortwörtlich übersetzt: identifiziert) wurde]
(diskuse.doktorka.cz)
91
Také jsem bohužel obětí pythiriasi rosae gilbert. [Auch ich bin leider
ein Opfer von pythiriasi rosae gilbert] (diskuse.apatykar.info)
Auch im folgenden Beleg wird von einer tschechischen Userin von einem
gegebenenfalls falschen Terminus Gebrauch gemacht.
No... bude to znít blbě, ale díky bohu za to, že to je jenom tahle “růžovka”,
jak jí ode dneška říkám. :-) [Na…es wird vielleicht blöd klingen, aber
Gott sei Dank handelt es sich nur um diese „růžovka“, wie ich sie seit
heute nenne] (diskuse.doktorka.cz)
In der metasprachlichen Äußerung tahle „růžovka“, jak jí ode dneška říkám kreiert
die Userin für den medizinischen Terminus Pityriasis rosea ihre eigene Benennung
růžovka. Metasprachliche Handlungen werden in beiden Subkorpora häufig mit
Hilfe von Interpunktionszeichen signalisiert, im Beleg oben wird die eigene Benennung mit Anführungszeichen hervorgehoben. Dass der Ausdruck růžovka im
Tschechischen auf eine andere Hauterkrankung, nämlich auf Rosazea (Kupferrose)
(s. URL 4) referiert, die sich durch ein ganz anderes Krankheitsbild auszeichnet, ist
der Userin wahrscheinlich nicht bewusst.
4.2. Weitere kontextuelle Aspekte des Gebrauchs medizinischer
Terminologie
In beiden untersuchten Subkorpora treten auch weitere kontextuelle Modifizierungen der einschlägigen medizinischen Terminologie in Erscheinung. Sie werden
vornehmlich auf der Ebene der Orthografie bzw. Typografie, der Morphologie, aber
auch auf der lexikalischen Ebene realisiert. Im Folgenden wird die Aufmerksamkeit
gerade diesen kontextuellen Modifizierungen von Pityriasis rosea sowie einigen
ihrer Symptome gewidmet.
4.2.1. Typografische und orthografische Modifizierungen
Sowohl in den auf Deutsch als auch in den auf Tschechisch verfassten Beiträgen
lassen sich verschiedene Schwankungen in der Schreibweise der Bezeichnungen
der Hauterkrankung beobachten. Dies ist vornehmlich bei solchen Varianten der
Fall, die in den beiden Subkorpora vergleichsweise am häufigsten zu verzeichnen
sind – im deutschsprachigen Subkorpus handelt es sich um den Ausdruck
Röschenflechte (s. Abschnitt 4.1.), der verschiedenartig als Rösschenflechte, Röschen
Flechte, Röschen-Flechte oder röschen flechte wiedergegeben wird.
heey..leute... ich bin 13 jahre und habe hatte auch eine sogenannte
röschen flechte.. ich wardamit beim algemein mediziner und der sagte
mir es sei ein pilz... (cyberdoktor.de)
92
Im tschechischsprachigen Subkorpus überwiegt im Vergleich zu den deutschsprachigen Posts eindeutig die fremdsprachige Variante mit einigen typografischen
Modifizierungen (s. Abschnitt 4.1.): pitiriasis rosea, Pityriasis rosea, Pityriasis
Rosea, pytiriasis rosea gibert, pityriasis rosea GIBERT, wobei diese nicht dekliniert
werden. Darüber hinaus kommen im Subkorpus auch die bohemisierten Varianten
Pityriáza oder pityriáza (etwa 1,6%) bzw. Übergangsformen (Schreibweise mit
s, aber deklinierte Form) vor:
všem, kdo se s pityriasou potýkají držím palce a přeju pevnou vůli
při léčbě :) [allen, die mit Pityriasis kämpfen, drücke ich die Daumen
und wünsche einen starken Willen bei der Behandlung :)]
Der synonyme Terminus růžová pityriáza ist im tschechischsprachigen Subkorpus
kein einziges Mal belegt, andere Synonyme tschechischer Herkunft sind im Korpus
nicht gebräuchlich. Die fremdsprachige Bezeichnung, und zwar in ihrer vollständigen Form Pityriasis rosea Gibert, kommt im Gegensatz zum deutschsprachigen
Subkorpus in den auf Tschechisch verfassten Beiträgen schon zum Vorschein,
dennoch handelt es sich auch hier um eine Randerscheinung (etwa 1,6%).
4.2.2. Morphologische Modifizierungen
Unter morphologischen Modifizierungen sind vornehmlich solche zu nennen,
die mit Hilfe von Wortbildungsmitteln, insbesondere von Kürzungsverfahren,
vorgenommen werden. Dabei lässt sich beim Vergleich beider Subkorpora ein
Unterschied feststellen, denn im tschechischsprachigen Subkorpus wird von den
Initialbuchstabenabkürzungen PRG (etwa 4,4%) bzw. PR (etwa 2,5%), die für die
lateinische Bezeichnung Pityriasis rosea Gibert stehen, Gebrauch gemacht. Da es
sich um einen Xenismus handelt, dessen richtige Wiedergabe den Usern bisweilen
Probleme bereitet (s. Abschnitt 4.1.1.), wird dieser auch aus sprachökonomischen
Gründen durch die entsprechende Abkürzung substituiert.
Čau, přidávám se do klubu infikovaných PRG. [Hi, ich schließe mich
dem Klub der PRG-Infizierten an] (diskuse.doktorka.cz)
Beide oben beschriebenen Abkürzungen wurden in den auf Deutsch verfassten
Posts kein einziges Mal verzeichnet. Im deutschsprachigen Subkorpus lassen sich
dagegen andere Kürzungsverfahren beobachten, die der semantischen Kürzung
zuzuschreiben sind. Dabei handelt es sich insbesondere um sogenannte Schwanzformen (zum Begriff s. Bär/Roelcke/Steinhauer, 2007, S. 119).
Hallo,
“Habe die Flechte nun schon 6 Wochen aber so langsam wird es besser”
typischerweise heilt die Erkrankung langsam über einige Wochen.
(cyberdoktor.de)
93
Im obigen Beleg aus dem Ratgeberforum cyberdoktor.de handelt es sich um eine
Reaktion eines Experten auf eine Beschreibung des momentanen Zustandes eines
Betroffenen. Diese wird als direktes Zitat in den Post des Experten eingebettet
und enthält die Schwanzform Flechte (etwa 10,8%), die für die deutschsprachige
Variante Röschenflechte steht. Obwohl der Ausdruck Flechte in terminologischer
Hinsicht unpräzise ist, denn es handelt sich um ein Hyperonym zu verschiedenen
die unmittelbare Komponente Flechte enthaltenden Determinativkomposita wie
z.B. Schuppenflechte, Schmetterlingsflechte, Knötchenflechte usw. (vgl. Mostýn, 2016)
und darüber hinaus um ein Polysem (vgl. mit den Lesarten 1. ,(gehoben) Zopf ‘;
2. ,niedere Pflanze aus Algen und Pilzfäden, die in Symbiose leben und zu krustigen,
strauchigen Körpern zusammenwachsen‘ und 3. ,schuppiger oder krustiger
Hautausschlag‘, DOW), ist die Verständlichkeit auf Grund der aktuellen (kontextuellen) Referenz nicht beeinträchtigt.
Im Gegensatz dazu lässt sich die semantische Kürzung in den auf Tschechisch
verfassten Beiträgen nur sehr selten finden (lediglich zwei Belege). In den folgenden
zwei Belegen werden die gekürzten Formen rosea und „gibert“ verwendet, wobei
die letztgenannte Variante zugleich als Metonymie aufgefasst werden kann, denn
diese Hauterkrankung wurde nach ihrem Entdecker Camille Melchior Gibert
(1797-1866) benannt, einem französischen Dermatologen, vgl. auch die englische
Bezeichnung Gibert disease (Bartolucci / Forbis, 2005, S. 272).
mam rosea uz delsi dobu [habe rosea schon seit längerem] (diskuse.
apatykar.info)
Ahoj vsichni, pred dvema dny mi doktorka diagnostikovala “giberta”
[Hallo alle, vor zwei Tagen hat bei mir meine Ärztin „Gibert“
diagnostiziert] (diskuse.apatykar.info)
4.2.3. Weitere lexikalische Modifizierungen
Für beide Subkorpora ist kennzeichnend, dass User über verschiedene Modifizierungen mit Hilfe von Wortbildungsmitteln hinaus auch weitere Benennungen
der Röschenflechte benutzen, die der kontextuellen Synonymie zuzuordnen sind.
So finden in beiden Subkorpora substituierende Hyperonyme, überwiegend mit
dem attributiven Demonstrativpronomen diese – tato (bzw. tahle) Verwendung wie
z.B. diese Krankheit, diese Hauterkrankung, diese Hauterscheinung tato kožní nemoc
[diese Hauterkrankung], tato diagnóza [diese Diagnose], tato dermatitida [diese
Dermatitis]. Das Demonstrativpronomen signalisiert auf der Textoberfläche die
kontextuelle Referenz auf Pityriasis rosea.
Naja, durchweg schön findet man sich ja nicht mit dieser grossartigen
Krankheit... Ich habe auch Allergie und Stress vereint und nun die
Röschenflechte. (onmeda.de)
94
Ahoj, Lenko jsem velice ráda, že jsem narazila na tyto stránky. I mi
byla stanovana před týdnem tato diagnoza. [Hallo, Lenka, ich bin
sehr froh, dass ich auf diese Internetseiten gestoßen bin. Auch bei
mir wurde diese Diagnose gestellt.] (diskuse.doktorka.cz)
In beiden Subkorpora wird häufig eine Topikrelation durch Pronominalisierung
realisiert, wobei anstelle von Pityriasis rosea aus sprachökonomischen Gründen die
Demonstrativpronomen das – to verwendet werden, die hier anaphorisch auf das
Hyperthema Röschenflechte verweisen.
Hallo, das hatte ich auch mal, das hat aber gute 8 Wochen gedauert,
bis das wieder völlig wg war. Mein Arzt meinte damals auch, dass ich
vermeiden sollte zu schwitzen (wegen der feuchtigkeit) und hat mir
auch so ne Salbe gegeben, ich weiß aber nciht mehr, ob da Cortison
drin war. (onmeda.de)
Im folgenden Beleg wird das Pronomen to typografisch durch Großschreibung und
obendrein durch Anführungszeichen hervorgehoben, wodurch ein emotionales
Erleben eines Betroffenen signalisiert wird. In der Aussage wird seine Hoffnung,
dass die Röschenflechte bei ihm nie wieder auftritt, zum Ausdruck gebracht.
Haló,haló,už týden nemám ani vyrážky ani nic nesvědí, doufám, že už
se “TO” ke mně NIKDY nevrátí. [Hallo, hallo, schon seit einer Woche
habe ich keine Ausschläge mehr, es juckt auch nicht mehr, ich hoffe,
das ”DAS” NIE wieder zu mir zurückkommt.] (diskuse.apatykar.cz)
Das emotionale Erleben des Textverfassers wird nicht nur typografisch signalisiert.
Da diese Hauterkrankung auch die Psyche der Betroffenen beeinflusst, lassen
sich in beiden Subkorpora verschiedene expressive Ausdrücke finden, die auf
Unzufriedenheit und Verärgerung hindeuten. Im deutschsprachigen Subkorpus
sind es beispielsweise dieser sch.../ Scheiß dieser Mist dieser Spuk.
Bei mir wurde letzten Freitag, nach einer Fehldiagnose und Arztwechsel
die Röschenflechte diagnostiziert. Ich kann nur sagen, für jeden
Quatsch haben die ein Gegenmittel, aber für diesen Scheiss nicht.
(forum.gofeminin.de)
Im tschechischsprachigen Subkorpus wurde eine größere Varianz von emotional
konnotierten Ausdrücken beobachtet wie z.B. tato potvora [dieses Biest], tahle
ošklivost [diese Scheußlichkeit], tohle svinstvo [dieser Mist], tahle příšernost [diese
Schrecklichkeit], ta mrcha [dieses Luder] oder tato hnusná svědivá diagnóza [diese
abscheuliche juckende Diagnose]. Vom emotionalen Erleben zeugt ebenfalls die
Verwendung von Ironie, verzeichnet in beiden Subkorpora (vgl. das Beispiel oben
mit diese großartige Krankheit).
95
Ahoj, tak já mám tuto parádu asi týden… Svědí to neskutečně, připadám
si docela odporně a výhled, že s tím strávím x týdnů je fakt strašná [sic]
[Hallo, ich habe diese Parade seit etwa einer Woche… Es juckt schrecklich,
ich komme mir ganz abscheulich vor und der Ausblick, dass ich damit
x Wochen verbringe, ist echt fürchterlich] (emimino.cz)
4.2.3.1. Symptomatik – Vielfalt von konkurrierenden Bezeichnungen
In beiden Subkorpora kommen ähnliche Bezeichnungen des initialen Hauptsymptoms der Röschenflechte zum Vorschein. In der folgenden Tabelle wird die
Wiedergabe des Terminus Primärmedaillon verglichen.
ein (sogenanntes) Primärmedaillon,
eine sogenannte Primärplaque;
der erste große Mutterfleck, dieser/der
Mutterherd;
ein größerer einzelner roter Fleck, ein roter,
rauer Fleck;
nur ein „Pickel”; ein juckendes Bläschen
iniciální primární skvrna
mateřský flek, mateřská skvrna,
mateřské ložisko
hlavní flíček/flek; velký (oválný) flek;
první flek; oválný růžový flek
menší tečka; malé „kousnuti”
Tab. 1 Wiedergabe des Terminus Primärmedaillon in beiden Subkorpora
Es machen sich einige interlinguale Gemeinsamkeiten bemerkbar, die auf einen
jahrhundertelangen Sprachkontakt zwischen Deutsch und Tschechisch hindeuten
wie beispielsweise die Verwendung der konkurrierenden Bezeichnungen
Mutterfleck – mateřský flek. Wie viele Germanismen im Tschechischen gehört auch
der Ausdruck flek der Umgangssprache an (OWTS).7
Bei einem Vergleich der Wiedergabe der roten Exantheme (Flecken) lassen sich
zahlreiche konkurrierende Formen verzeichnen, die in interlingualer Hinsicht
ebenfalls einige Gemeinsamkeiten und Unterschiede aufweisen.
die Ausschläge, die Bläschen, die Dinger,
die Ekzeme, die (Röschen)Flechten,
die Flecken / Fleckchen, die Pickel,
die Pöckchen, die Punkte, die Pünktchen,
die Pusteln, die Rosen, die Röschen,
die Schuppen, die Teile
exantém, fleky, oft auch Diminutivform
flíčky, puchýře, (malé) pupínky, (červená)
skvrna, vyrážky, nějaké/takové pupence
Tab. 2 Wiedergabe der Termini Exanthem/Erythem bzw. Läsion in beiden Subkorpora
In beiden Subkorpora treten die Ausdrücke Flecken (211 Belege) – fleky (152
Belege) und Ausschläge (77 Belege) – vyrážky (146 Belege) am häufigsten auf, sie
7 Online Wörterbuch der tschechischen Schriftsprache (URL 5).
96
werden sowohl von Experten als auch von Nicht-Experten verwendet, des Weiteren
sind beide Subkorpora dadurch gekennzeichnet, dass medizinische Termini wie
Exanthem Erythem Läsion bzw. Makula (s. Kapitel 2) entweder überhaupt nicht
oder nur selten Verwendung finden, und wenn dies der Fall ist, dann ausschließlich
in Posts von Experten. Interlinguale Unterschiede lassen sich in Bezug auf die
Frequenz einiger Konkurrenzformen beobachten. In den auf Tschechisch
verfassten Posts ist der letztgenannte Ausdruck oft auch in seiner Diminutivform
flíčky [Fleckchen] vertreten (102 Mal belegt), was in den auf Deutsch verfassten
Beiträgen nur selten der Fall ist (lediglich zwei Belege). Im deutschsprachigen
Subkorpus fällt allerdings eine größere Varianz von konkurrierenden Formen auf.
Metaphorische Ausdrücke wie Rosen oder Röschen bzw. Punkte/Pünktchen oder
verallgemeinernde Ausdrücke wie Dinger oder Teile als Ersatzform für rote
Läsionen treten lediglich im deutschsprachigen Subkorpus auf.
5. Fazit
Im Hinblick auf die eingangs formulierte Frage, welche Termini in den untersuchten Diskussions- und Ratgeberforen zum Thema Pityriasis rosea im „terminologischen Zentrum“ und welche an der „terminologischen Peripherie“ stehen,
kann Folgendes konstatiert werden: Der Gebrauch medizinischer Terminologie
wird durch bestimmte außer- sowie innersprachliche Faktoren beeinflusst. Unter
den außersprachlichen (textexternen) Faktoren ist der Einfluss der kommunikativen Rollen – Experte / Nicht-Experte – zu nennen, und die damit verbundenen
Unterschiede in Bezug auf erworbenes Fachwissen von Kommunikationsteilnehmern. Dies hat zur Folge, dass Termini wie beispielsweise Primärmedaillon –
primární ložisko Exanthem – exantém bzw. Läsion – léze, also solche, die hinsichtlich
der vertikalen Schichtung der Fachsprache der Medizin einer hohen Abstraktionsebene zuzuschreiben sind, in beiden Subkorpora fast ausnahmslos von Experten
gebraucht werden. Es handelt sich um fremdsprachige Termini, meist lateinischer,
bisweilen auch griechischer Herkunft. Nichtsdestotrotz werden auch diese von
Experten selten verwendet, weil dadurch die Verständigung beeinträchtigt werden
könnte. Wenn von fremdsprachigen Termini Gebrauch gemacht wird, wird mithilfe
von verschiedenen metasprachlichen Äußerungen (Anführung von Synonymen
in Klammern, Verwendung von explikativen Relativsätzen oder Abkürzungen wie
d.h. sog. u. a.) deren Bedeutung erläutert.
Unter innersprachlichen Faktoren kann die Substituierbarkeit der einschlägigen
fremdsprachigen Terminologie erwähnt werden. Während sich im
Deutschen nationalsprachliche Termini wie Röschenflechte Schuppenröschen
u. a. herausgebildet haben, sind im Tschechischen ähnliche nationalsprachliche
Konkurrenzformen nicht vorhanden. Unterschiede zwischen beiden Subkorpora
wurden dementsprechend in Bezug auf die Präferenz fremdsprachiger Bezeichnungen dieser Hauterkrankung aufgedeckt. Während in den auf Deutsch verfassten
Posts die deutschsprachige Konkurrenzform Röschenflechte mit einem Anteil von
97
79,6% deutlich vorherrscht, ist es in den auf Tschechisch verfassten Beiträgen der
lateinische Terminus pityriasis rosea, dessen Anteil fast 90% beträgt. Die bohemisierte Variante růžová pityriáza wird so gut wie gar nicht verwendet, die Schwanzform pityriáza ist im entsprechenden Subkorpus ebenfalls selten belegt (nur etwa
1,6%). Die auf Deutsch verfassten Beiträge von Experten zeichnen sich durch eine
niedrigere Frequenz von Konkurrenzformen des Ausdrucks Röschenflechte aus,
demgegenüber wurden in Beiträgen von Nicht-Experten auch andere Bezeichnungen
verzeichnet, wie z.B. Rosenflechte oder auch Rösleinflechte. In Beiträgen von
Nicht-Experten wurden in beiden Subkorpora typografische und auch orthografische Modifizierungen der meistverwendeten Bezeichnungen der Röschenflechte beobachtet.
Darüber hinaus konnten einige Unterschiede auf der morphologischen Ebene in
Bezug auf die funktionale Auslastung bestimmter Kürzungsverfahren festgestellt
werden – auf die semantische Kürzung und auf die Initialbuchstabenabkürzung.
Im deutschsprachigen Subkorpus wird die Schwanzform Flechte in fast 11% der
Fälle herangezogen, in den auf Tschechisch verfassten Beiträgen ist die semantische
Kürzung nur in zwei Posts belegt. Initialbuchstabenabkürzungen wie PRG
oder PR (beide Varianten zusammen in etwa 6,9%) kommen hingegen nur im
tschechischsprachigen Subkorpus vor.
Betrachtet man weitere substituierende Ausdrücke, die stellvertretend für Pityriasis
rosea stehen, lassen sich in beiden Subkorpora ähnliche lexikalische Mittel
identifizieren – die Verwendung von Hyperonymen mit dem Demonstrativpronomen dieser – tento, des anaphorischen Demonstrativpronomens das – to und
von expressiven Ausdrücken, die auf Verärgerung oder Verzweiflung hindeuten.
Hinsichtlich der Emotionalität wurde im tschechischsprachigen Subkorpus eine
größere Varianz festgestellt.
Des Weiteren wurden die Beschreibung der Symptomatik und die einschlägige
Terminologie unter die Lupe genommen. Dabei machen sich einige interlinguale
Gemeinsamkeiten bemerkbar wie beispielsweise die Verwendung der konkurrierenden Bezeichnungen Mutter fleck – mateřský flek. Sowohl von Experten als auch
von Nicht-Experten werden am häufigsten die Ausdrücke Ausschlag bzw. Fleck,
im tschechischsprachigen Subkorpus vyrážka bzw. flek verwendet, im Vergleich
zu den auf Deutsch verfassten Beiträgen ist die Form häufig auch als Diminutivum
belegt. Beiden Subkorpora ist gemeinsam, dass Termini wie Exanthem Erythem
Läsion bzw. Macula nur äußerst selten Verwendung finden, was auf die kommunikative Funktion der Beiträge zurückzuführen ist. Im deutschsprachigen Subkorpus
fällt eine größere Varianz von konkurrierenden Formen bei der Beschreibung der
Symptomatik auf.
98
Abstract
The paper presents the results of a contrastive Czech-German analysis of selected
advisory and discussion forums focusing on the skin disorder called Pityriasis rosea
Gibert. Attention is paid to the use of the relevant medical terminology by doctors,
patients and their relatives. The aim of the analysis was to identify the internal and
external linguistic factors influencing the use of medical terms associated with the
skin disease and how they are modified in context. Using a contrastive approach,
this study demonstrates which expressions are situated in the “terminological
center” and which stand on the “terminological periphery” and what differences
occur in both languages.
Keywords
Pityriasis rosea Gibert, medical terminology, online communication, communication
between doctor and patients, discussion forum
Quellenverzeichnis
Das deutschsprachige Subkorpus:
http://www.board.netdoktor.de/, [10.05.2016].
http://www.community.netdoktor.at/, [13.05.2016].
http://www.gesundheit.de, [10.05.2016].
http://www.gesundheitsfrage.net, [10.05.2016].
http://www.gofeminin.de/world/communaute/forum/forum0.asp, [30.05.2016].
http://www.justanswer.de/ [20.08.2016]
http://www.med1.de, [12.06.2016].
http://www.medizin-forum.de, [20.06.2016].
http://www.onnmeda.de, [30.06.2016].
http://www.patientenfragen.net, [05.07.2016].
http://www.wunschkinder.net/forum/, [25.04.2016].
Das tschechischsprachige Subkorpus:
http://www.baby-cafe.cz, [22.08.2016].
http://www.babyonline.cz, [25.08.2016].
99
http://www.emimino.cz, [12.06.2016].
http://www.diskuse.apatykar.info, [18.06.2016].
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http://www.ulekare.cz, [25.04.2016].
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in Online-Diskussionsforen. In: Brünner Beiträge zur Germanistik und Nordistik,
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URL 3: Online verfügbar unter http://www.gesundheit.de/lexika/medizin-lexikon/
hautspaltlinien-langerverlaufen, [11.07.2016].
URL 4: Online verfügbar unter http://www.ulekare.cz/clanek/ruzovku-zdolajiantibiotika-i-laser-12814, [22.08.2016].
URL 5: Online
[25.08.2016].
verfügbar
unter
http://ssjc.ujc.cas.cz/search.php?db=ssjc,
Dieser Beitrag ist im Rahmen des Projekts „Präsentation von fachlichen
Informationen im fachlichen und nichtfachlichen Kontext“ („Prezentace
odborných informací v odborném i neodborném kontextu“), SGS21/FF/20162017, entstanden.
101
102
Zentrum und Peripherie in der deutschen Sprache
der Mediziner anhand von Fachzeitschriften
Ewa M. Majewska
Annotation
Die medizinische Fachsprache nimmt eine Sonderstellung unter den Fachsprachen
ein, was auf ihren umfangreichen Wortschatz zurückzuführen ist. Im medizinischen Fachvokabular lassen sich Zentrum und Peripherie unterscheiden. Die
Einteilung der Fachwörter vollzieht sich auf unterschiedlichen Ebenen, sowohl auf
der morphologischen Ebene, als auch auf der semantischen. Der Fachlichkeitsgrad
der Fachwörter stellt ein weiteres Einteilungskriterium dar. Im Zentrum befinden
sich Substantive und Adjektive, die anderen Wortarten treten in den Hintergrund
der medizinischen Fachsprache. Nach dem semantischen Kriterium kann man
Organe und Krankheiten dem Zentrum des Wortschatzes zuordnen, während
andere medizinische Einheiten, wie z.B. physiologische Prozesse, Operationen,
Instrumente u.a. die Peripherie bilden. Die medizinischen Fachwörter haben
einen unterschiedlichen Fachlichkeitsgrad und werden dadurch auf verschiedenen
Kommunikationsstufen verwendet. Das untersuchte Sprachmaterial stammt aus
den deutschsprachigen medizinischen Zeitschriften Ärztewoche und Ärzteblatt.
Schlüsselwörter
Fachsprachen, Medizin, Fachwortschatz, Krankheiten, Organe
1. Einleitung
Das Hauptmerkmal der medizinischen Fachsprache ist ihr umfangreicher
Wortschatz. Der Gesamtumfang dieses Wortschatzes ist schwer zu bestimmen.
Nach Schätzungen umfasste der medizinische Fachwortschatz im 20. Jahrhundert
rund 500.000 Einheiten, wovon 20.000 als Bezeichnungen für organische
Funktionen, 60.000 für Krankheiten Untersuchungs- und Operationsmethoden
verwendet wurden (Porep/Steudel, 1974, V, S. 9). Hierzu vgl. Ahlheim (1992) und
Schipperges (1988). Nach Schätzungen beläuft sich die Zahl der medizinischen
Fachwörter gegenwärtig auf zwei Millionen (Kempcke, 1989, S. 843).
103
2. Zentrum und Peripherie in der Medizin
Das Wortpaar Zentrum und Peripherie kann sofort Assoziationen aus dem Bereich
der Anatomie hervorrufen, nämlich mit dem Zentralnervensystem (ZNS) und
dem peripheren Nervensystem, was Abbildung Nr. 1 zeigt:
NERVENSYSTEM
Peripheres
Nervensystem:
Rückenmarks- und
Gehirnnerven
Zentrales
Nervensystem (ZNS):
Gehirn und Rückenmark
Abbildung Nr. 1
Gehirn und Rückenmark bilden das Zentralnervensystem (ZNS). Den übrigen
Körper steuert das periphere Nervensystem, ein Netzwerk von Nerven, das über
das Rückenmark Signale zwischen dem Gehirn und Muskeln, Haut und Organen
des Körpers weiterleitet. Zusammen machen die beiden Systeme das Nervensystem
des Körpers aus. Sie stehen in ständiger Verbindung, indem sie jede bewusste und
unbewusste Bewegung und Handlung kontrollieren.
Das Wortpaar Zentrum und Peripherie kann auch in der medizinischen Fachsprache
als Einteilungskategorie gebraucht werden. Die Abgrenzung des Zentrums von der
Peripherie im medizinischen Fachwortschatz kann sich auf drei Ebenen vollziehen.
Jede Ebene enthält Wörter, die sich dem Zentrum oder der Peripherie zuordnen
lassen.
104
2.1. Gliederung nach den Wortarten in der medizinischen
Fachsprache
Die Abbildung Nr. 2 veranschaulicht die erste Einteilung innerhalb der medizinischen Fachsprache:
ZENTRUM
PERIPHERIE
Pronomina
Adverbien
Substantive
Verben
Adjektive
e
Zahlwörter
Präpositionen
n
Konjunktionen
Abbildung Nr. 2
Im Zentrum des medizinischen Wortschatzes stehen Substantive und Adjektive.
Der Anteil anderer Wortarten an der medizinischen Fachsprache, z.B. Verben und
Adverbien, ist viel geringer (Kühtz, 2007, S. 40; Filipec, 1969, S. 410). Zusammen
mit Pronomina, Zahlwörtern, Präpositionen und Konjunktionen bilden sie die
Peripherie der medizinischen Fachsprache. Im Fachwortschatz sind verschiedene
Wortbildungstypen der Substantive vertreten. Das Determinativkompositum stellt
das produktivste Wortbildungsverfahren dar (Kühtz, 2007, S. 43).
105
2.2. Gliederung nach der Semantik der Fachbegriffe
Von Zentrum und Peripherie kann man auch in Hinblick auf die Semantik
der Fachbegriffe sprechen. Das wird am Beispiel der Abbildung Nr. 3 aufgewiesen.
Physiologische
Prozesse
Bakterien, Viren,
Parasiten
Chirurgische
Eingriffe
Medikamente
Verfahren
Organe
Krankheiten
Instrumente
Methoden
Abbildung Nr. 3
Im Zentrum stehen bestimmte medizinische Einheiten, während andere mehr in
den Hintergrund treten, obwohl zwischen den Einheiten beider Gruppen konkrete
Relationen hergestellt werden. Im Zentrum des medizinischen Fachwortschatzes
stehen Benennungen der einzelnen Organe (anatomische Begriffe) und ihrer
Krankheiten (Fachwörter der Nosologie). Sie stehen im Verhältnis zueinander –
die Krankheiten befallen die Organe. Zu der Peripherie gehören also verschiedene
diagnostische Methoden, Heilungsmethoden, chirurgische Eingriffe, Verfahren,
Instrumente, physiologische Vorgänge, Medikamente, Krankheitserreger, u.a.
2.3. Gliederung nach dem Fachlichkeitsgrad des Wortschatzes
Die Einteilung in Zentrum und Peripherie betrifft auch den Grad der Fachlichkeit
der medizinischen Fachwörter. Man kann im Fachwortschatz eine gewisse
Hierarchie aufbauen. Die Fachwörter sind uneinheitlich, haben eine unterschiedliche morphologische Form und einen unterschiedlichen Fachlichkeitsgrad
und werden auf verschiedenen Stufen der Kommunikation verwendet. Die Arten
106
der Fachwörter zeigt die Abbildung Nr. 4:
Trivialbezeichnungen
Gemeinsprachliche
Bezeichnungen
Termini
technici
Hybridbildungen
Abbildung Nr. 4
Die Kommunikation zwischen den Ärzten verläuft auf eine andere Weise als
zwischen dem Arzt und dem Patienten. Die Gesprächspartner verwenden oft ein
anderes Vokabular und bedienen sich anderer Kommunikationsstrategien. Im
Zentrum des medizinischen Fachwortschatzes stehen Termini technici, deren
Begriffsinhalt und Form international verbindlich sind. Sie sind diejenigen
Fachwörter, die hauptsächlich in der schriftlichen Kommunikation verwendet
werden (DUDEN, 2007, S. 29). Zu Termini werden sie erst dann, wenn sie mit
Adjektiven mit lateinischen Endungen zusammen auftreten und dadurch näher
bestimmt werden, indem sie sich mit ihnen zu übergeordneten und funktionell
eindeutigen Informationseinheiten verbinden. Daraus kann man schließen, dass
(im Gegensatz zur Anatomie) eine Krankheitsbezeichnung als Terminus immer aus
mehreren Wörtern mit jeweils lateinischer Endung bestehen sollte. Eingliedrige
Krankheitsbezeichnungen gehören nach DUDEN den Trivialbezeichnungen an,
auch wenn sie eine lateinische oder neulateinische Form haben. Die Trivialformen
sind in der Endung eingedeutscht (DUDEN, 2007, S. 34), z.B. Appendicitis
gangrenosa, Acne vulgaris, Caries dentum, Diabetes mellitus: Appendizitis, Akne,
Karies, Diabetes. Die Termini und die Trivialbezeichnungen werden in allen
Fachbereichen der Medizin verwendet.
Auch griechisch-lateinische bzw. lateinisch-deutsche bzw. griechisch-deutsche
Mischkompositionen, so genannte Hybridbildungen (lat. Hybrida ‚Mischling‘),
kommen häufig vor, sie bestehen aus Elementen unterschiedlicher sprachlicher
Abstammung, z.B. Appendektomie ‚operative Entfernung des Wurmfortsatzes (am
Blinddarm, lat. Appendix ‚Anhang‘, gr. ektomie ‚das Ausschneiden‘); Sonographie
‚Ultraschalluntersuchung‘ (lat. Sonus = Schall, gr. graphe ‚das Schreiben,
Aufzeichnung‘, ultra ‚darüber hinaus‘); Herzinsuffizienz statt kardiale Insuffizienz
‚Herzschwäche‘ (lat. insuffientia) ‚ungenügende Leistung‘, gr. kardia ‚Herz‘
107
(Willmanns / Schmitt, 2002, S. 21). Neben dem Fachwort griechisch-lateinischer
Herkunft enthält der medizinische Wortschatz muttersprachliches Wortgut
(z.B. Zuckerkrankheit, Herz-Kreislauf-Stillstand). In der Peripherie stehen
Trivialbezeichnungen, Hybridbildungen und gemeinsprachliche Wörter, die sich vor
allem auf Bezeichnungen der Krankheitssymptome beziehen, z.B. Erbrechen,
Fieber, Abgeschlagenheit, Müdigkeit, Schwäche, Trockenheit usw.
3. Anatomische Begriffe und Krankheitsnamen im Zentrum
des Wortschatzes
Das hierarchische System der Fachwörter bezieht sich auf alle Fachgebiete der
Medizin. Die Anatomie bildet die strukturelle Grundlage für alle medizinischen
Fachgebiete. Der Fachwortschatz der Anatomie ist ziemlich übersichtlich, so dass
es keine Schwierigkeiten gibt, die echten Termini von den Trivialbezeichnungen
zu unterscheiden (DUDEN, 2007, S. 31). Die anatomische Nomenklatur hat
die Benennung, Systematisierung und Ordnung der einzelnen Strukturen des
menschlichen Körpers zum Inhalt. Die Fachbegriffe bezeichnen Knochen,
Sehnen, Muskeln, Organe, Organteile, Gewebe usw. Die Fachsprache der Anatomie
ist überwiegend auf der lateinischen Sprache aufgebaut (Willmanns / Schmitt,
2002, S. 35). Die meisten anatomischen Begriffe sind mehrgliedrig (Ruff, 2001,
S. 59). Beispiele: ossa manus ‚Handknochen’, Articulatio cubiti ‚Ellbogengelenk‘,
Arteria pulmonalis dextra ‚rechte Lungenarterie‘, Glandula suprarenalis
‚Nebenniere‘, Canaliculi lacrimales ‚Tränenkanälchen‘, Sinus frontalis ‚Stirnhöhle‘.
Heute gibt es ungefähr 6000 Nomina Anatomica. Sie setzen sich aus einer Anzahl
lateinischer Wortstämme, Präfixe und Suffixe zusammen (Willmanns / Schmitt,
2002, S. 35). Im untersuchten Sprachmaterial der Fachzeitschriften wurden
hauptsächlich deutsche Bezeichnungen der Organe verwendet:
-
-
Die neue Versorgungsform soll den Nachweis erbringen, dass mehr
Autonomie in der physiotherapeutischen Therapie bei muskuloskelettalen Erkrankungen der Wirbelsäule, des Beckens oder der
unteren Extremität die Effektivität und Effizienz der Patientenversorgung steigert (DÄ, 4, A 132).
Auch im Rahmen der Blutanalyse ergaben die Hämoglobinkonzentration und die Funktionsparameter der Schilddrüse
normale Messergebnisse. (ÄW 24, S. 5).
Anders verhielt sich dagegen der visuelle Kortex – also jener Bereich,
der bei Sehenden Eindrücke des Auges verarbeitet (ÄW, 24, S. 10).
Speise und Speichel in der Luftröhre führen häufig zu einer Lun
genentzündung (ÄW, 20, S. 8).
Krankheiten sind Gegenstand der Nosologie - gr. nosos ‚Krankheit‘ und gr. logos
‚Lehre‘. Der vielfältige Fachwortschatz umfasst Namen der Krankheiten und ihrer
108
Stadien, Syndrome, Symptome sowie aller pathologischen Prozesse und Zustände,
die zum Ausbruch einer Krankheit beitragen können. Es gibt für die Krankheitsbezeichnungen keine international vereinbarte Nomenklatur, wie dies für die Anatomie
der Fall ist. Die Benennungsstrukturen von Krankheitsbezeichnungen sind vor
allem Ausdruck der historischen Entwicklung der medizinischen Terminologie
(Wiese, 1984, S. 49). Das älteste Sprachgut stammt aus der Antike. Ein erheblicher
Teil der medizinischen Terminologie besteht deswegen aus griechischen und
lateinischen Wörtern und Wortelementen. Im Laufe der Entwicklung der
medizinischen Fachsprache haben sich bestimmte Prinzipien für die Bildung
ihrer Termini herausgebildet. Eine wichtige Rolle kommt dabei griechischen und
lateinischen Präfixen und Suffixen zu. So werden z.B. akute entzündliche Krankheitserscheinungen dadurch bezeichnet, dass an die Organbenennung das Suffix
–itis angefügt wird, z.B. Bronchitis (Bronchien), Meningitis (Meningen), Vaskulitis
(Blutgefäße):
-
Primär ist Dauerhusten auf eine chronische Bronchitis, Asthma
bronchiale oder COPD zurückzuführen (ÄW, 2, S. 1).
Häufige Ursache eines CRSTyp 5 ist die Sepsis, seltener sind eine
Vaskulitis, ein systemischer Lupus erythematodes oder eine
Amyloidose. (ÄW, 45, S. 30).
Bislang wurden drei Fälle ermittelt, bei denen die Laborergebnisse
sogar für das Vorliegen einer Mumpsmeningitis sprechen (DÄ, 8, A 362).
Ein weiteres Beispiel für die Bezeichnung pathologischer Zustände ist das Suffix:
-om. Es steht ganz allgemein für die Bezeichnung von Geschwülsten. Die Endung
wurde von antiken griechischen Geschwulstbezeichnungen, die auf –ma ausgehen, übernommen und verallgemeinert (Schulze, 2003, S. 27). Die Endung –om
bedeutet also ‚Geschwulst, Neubildung, Tumor‘ (Lippert-Burmester / Lippert,
2008, S. 10). Beispiele sind: Adenom ‚Drüsengeschwulst‘, Lymphom ‚Geschwulst der
Lymphknoten‘, Hämangiom ‚gutartige Blutgefäßgeschwulst‘:
-
Histopathologisch konnte ein mikrofollikuläres Adenom mit
zystischer Transformation festgestellt werden (ÄW, 24, S. 5)
Hierzu gehören bösartige Veränderungen des Knochenmarks und
Immunsystems, wie Leukämien und Lymphome (ÄW, 20, S. 8).
Aus den sogenannten kavernösen Hämangiomen oder Kavernomen,
einer weiteren Gefäßneubildung, blutet es selten (ÄW, 20, S. 7).
Karzinom bedeutet Krebsgeschwulst. Man versteht darunter eine bösartige
Geschwulst (vom altgr. Karkinoma). Beispiele: Mammakarzinom: ‚Brustkrebs‘,
Prostatakarzinom ‚Prostatakrebs‘, Bronchialkarzinom ‚Bronchialkrebs‘, Ovarialkarzinom ‚Eierstockkrebs‘:
109
-
Die prophylaktische Mastektomie mindert das Risiko, am Mammakarzinom zu erkranken (ÄW, 46, S. 13).
Bezogen auf den Primärtumor findet man in absteigender Häufigkeit
ein Mamma-, Prostata- oder Bronchialkarzinom. (DÄ, 5, S. 71).
Die prophylaktische Adnexektomie reduziert das Ovarialkarzinom
um 96%. (ÄW, 46, S. 13)
Das Suffix -ose/-osis steht ganz allgemein für eine Krankheit, einen krankhaften
Zustand, häufig eine degenerative, chronische Erkrankung, (einen degenerativen
Prozess) (Schulze, 2003, S. 26), z.B. Phimose ‚Verengung der Vorhaut des Penis‘,
Zirrhose ‚narbige Schrumpfung‘, Fibrose ‚Vermehrung des Bindegewebes‘:
-
Für Notfallseingriffe ist die Erhöhung von Leberwerten oder die
Präsenz einer Leberzirrhose im Wesentlichen irrelevant (ÄW, 40, K 6).
Derzeit sind 1139 rezessive Erkrankungen bekannt, darunter
zystische Fibrose, Tay-Sachs-Erkrankung, Sichelzellanämie und
Betathalassämie (DÄ, 7, A-327).
In vielen Fällen sieht man bei der Erstuntersuchung bereits eine
weiße porzellanartige sklerotische Vernarbung […], die zu einer
zunehmenden Phimose geführt hat (DÄ, 4, S. 55).
Das Suffix -ismus dient der Bezeichnung eines krankhaften Zustandes. Diese
Endung geht auf gr. –ismos zurück. Beispiele sind: Strabismus ‚Schielen‘, Astigmatismus ‚nicht punktförmige Abbildung‘.
-
Neun Patienten hatten einen Strabismus und 14 eine Kombination
von Schielen und Brechungsfehlern (DÄ, 6, A-269).
Unter letzteren war der Astigmatismus am häufigsten. (DÄ, 6, A-269).
Das lateinische Wort für Krankheit ist morbus. Das Wort Morbus wird häufig mit dem
Eponym, meistens dem Namen des Entdeckers oder Erstbeschreibers verbunden,
um die betreffende Krankheit zu benennen, z.B. Morbus Alzheimer, Morbus Crohn.
-
Patienten mit Morbus Alzheimer und anderen Formen der Demenz
leiden im Endstadium unter Gewichtsverlust, […] (ÄW 20, S. 8).
Beim Morbus Crohn wurde der Nachweis der Effektivität von
Kortikosteroiden zur Remissionsinduktion vor etwa 30 Jahren
erbracht (ÄW 24, S. 7).
Die Eponyme kommen auch mit den Syndrombezeichnungen vor:
-
110
Dabei scheinen sich beide Prozesse, die Atherosklerose und der
Alterungsprozess per se, mit dem Auftreten einer Sarkopenie-
-
-
Osteopenie und des konsekutiven Frailty-Syndroms zu beeinflussen
(ÄW 40, K 21).
Bei Pneumokokkeninfektionen scheint der Schweregrad der Infektion
bis hin zum lebensbedrohlichen Waterhouse-Friderichsen-Syndrom
eine Assoziation mit der Intensität der immunosuppressiven Therapie
aufzuweisen (DÄ, 7, S. 105).
Die Diagnose lautet Reye-Syndrom (DÄ, ½, S. 12).
Das Suffix –pathie findet oft Anwendung in der Beschreibung der Ätiologie
der Krankheit, der ‘Gesamtheit der ursächlichen Faktoren, die zu der Krankheit
beigetragen haben‘: z.B. Vestibulopathie ‚Erkrankung des Gleichgewichtsorgans im Ohr‘:
-
Die bilaterale Vestibulopathie ist eine in der Neurologie unterdiagnostizierte Ursache von Gleichgewichtsstörungen (ÄW 20, S. 28).
Neben den Suffixen spielen auch bestimmte Präfixe eine bedeutende Rolle bei der
Fachwortbildung im Rahmen der Krankheitslehre:
Hyper- bedeutet nach DUDEN (2007, S. 374): ‚über, übermäßig‘. In den folgenden
Sätzen kommen solche Belege wie Hyperlipidämie ‚erhöhte Konzentration des
Cholesterins‘, Hypertrophie ‚übermäßige Größenzunahme‘ und Hypertonie
‚Bluthochdruck‘ vor:
-
Gerade bei nephrologischen Patienten sollten alle kardiovaskulären
Risikofaktoren wie Hypertonie, Hyperlipidämie oder Nikotinabusus
konsequent behandelt werden (ÄW45, S. 30).
Endorganschäden der Hypertonie am Herzen umfassen die linksventriukuläre Hypertrophie, […] (ÄW, 45, S. 26).
Das Präfix Hypo- hat die Bedeutung ‚unter, darunter, unterhalb des Normalen‘
(DUDEN, 2007, S. 379). Im Sprachmaterial wurden folgende Belege gefunden:
Hypoöstrogenismus ‚Östrogenmangel‘, Hypothyreose ‚Schilddrüsenunterfunktion‘:
-
[…] und führen so zu einer vollständigen ovariellen Suppression mit
ausgeprägtem Hypoöstrogenismus (ÄW, 46, S. 9).
Angeborene Hypothyreose und adrenogenitales Syndrom (AGS) sind
behandelbare Endokrinopathien, die durch das Neugeborenenscreening erfasst werden (DÄ, ½, S. 14).
Dys- wird gebraucht, um etwas Übles, Widerwärtiges, Schwierigkeiten auszudrücken.
Dieses Präfix hat die ‚Bedeutung von der Norm abweichend, schlecht, krankhaft‘
(DUDEN, 2007, S. 248). Beispiele mit diesem Präfix sind: Dyspnoe ‚erschwertes
Atmen‘, Dysphagie ‚Schluckstörung‘:
111
-
Bei der Patientin war die Ursache der Dyspnoe nicht bekannt
(ÄW, 24, S. 5).
Eine 58-jährige Frau stellte sich aufgrund einer akuten Schwellung
des Halses sowie Dyspnoe Dysphagie und [...] in einer Klinik vor
(ÄW 24, S. 5).
4. Zur Peripherie im medizinischen Fachwortschatz
In der Peripherie stehen Bezeichnungen der diagnostischen Verfahren, chirurgischen Eingriffe, Operationstechniken, ärztlichen Instrumente, Therapien,
physiologischen Vorgänge, Medikamente, Krankheitserreger u.a.
Physiologische Prozesse ( Bezeichnungen für Hormone, Enzyme,
Stoffwechsel)
-
Bereits gut abhustbares Sekret soll nicht weiter verflüssigt werden,
da damit die Bronchialreinigung erschwert wird (ÄW, 2, S. 18).
Dies betrifft vor allem die Knochendichte, die Körperzusammensetzung, den Glukosestoffwechsel und die Serum-Lipide […]
(ÄW, 40, K 7).
Operationen / chirurgische Eingriffe
-
-
Das etablierte Operationsverfahren bei mittelschwerer und schwerer
OSA ist die Uvulopalatopharyngoplastik (PPP) (ÄW, 2, S. 13).
Ähnlich wie für die Risikobewertung bei Patienten mit isolierter
Bypass-Operation und Patienten mit kombinierter Bypass- und
Aortaklappenoperation wurde das STS-Modell […] untersucht
(ÄW, 40, K 18).
Eine isolierte Nasenoperation zur Verbesserung der Nasenluftpassage
ist nicht in der Lage, eine obstruktive Schlafapnoe effektiv zu
behandeln (ÄW, 2, S. 13).
Die UPPP mit Tonsillektomie erscheint bei entsprechendem
pathologischen Befund als Therapie […] (ÄW, 2, S. 13).
Therapien
-
112
Zusätzlich zur Operation, Chemo- und Radiotherapie wird die spezifische
Immunisierung als neues Element einer multimodalen Strategie gegen
das Glioblastom erprobt (DÄ, 4, S. 163).
Daneben zählen Lungen- oder Brustbestrahlungen sowie Chemotherapeutika zu den häufigsten Verursachern von Spätschäden.
(ÄW, 2, S. 18).
-
Studienbelegen,dasseineMonotherapiemitValecidovirkeineRemissionder
Vestibularisfunktion bewirkt (ÄW, 20, S. 22).
Diagnostische Verfahren
-
Zahllose Minibiopsien kommen aus der Urologie, Gastroenterologie,
Hepatologie und Gynäkologie […] (DÄ, 4, A170).
Feinnadelbiopsien sind Standard bei einer Prostata-Untersuchung
(DÄ, 4, A 170).
Das Koloskopie-Screening hat bisher nur zu einer marginalen
Reduzierung fortgeschrittener Tumorstadien geführt (DÄ, 4, S. 45).
Medikamente
-
Hohe Dosen von Opioiden und Hypnotika […] sind mit einem
signifikanten Abfall von Herzfrequenz und Bluthochdruck behaftet.
(ÄW, 46, S. 24).
Etablierte therapeutische Optionen sind Analgetika, v.a. nichtsteroidale Antirheumatika (NSAR), orale Kontrazeptiva (OC)
(ÄW, 46, S. 9).
Daneben zählen Lungen- oder Brustbestrahlungen sowie Chemotherapeutika zu den häufigsten Verursachern von Spätschäden
(ÄW, 2, S. 18).
Beim Morbus Crohn wurde der Nachweis der Effektivität von
Kortikosteroiden zur Remissionsinduktion vor etwa 30 Jahren
erbracht (ÄW 24, S. 5).
Heilungsverfahren
-
Die Urologen untersuchten bei 82 Patienten die Spülflüssigkeit nach
Blasenspülungen (ÄW, 46, S. 17).
Krankheitserreger
-
DieserTeildesImmunsystemsistinsbesonderewichtiginderImmunabwehr
gegen Meningokokken (ÄW, 20, S. 10).
Bei Bordatella pertusis handelt es sich um ein kleines bekapseltes, aerobes,
gramnegatives Stäbchen, das sich auf dem respiratorischen […]
Epithel vermehrt (ÄW, 20, S. 13).
Die durch Listeria monocytogenes ausgelöste zerebrale Listeriose
ist eine durch Lebensmittel übertragene Infektion (ÄW 49, S. 7).
113
Instrumente
-
Eine Behandlung von Gefäßfehlbildungen ist mittels Katheter,
durch eine Operation oder eine Strahlentherapie möglich (ÄW, 20, S.7).
Das mechanische Entfernen von abgestorbenem Gewebe (Nekrose)
und festhaftenden trockenen Belägen mit dem Skalpell oder der
Cürette ist meist schmerzhaft (ÄW, 40, S. 10).
5. Fazit
Im Sprachmaterial der österreichischen und deutschen Fachzeitschriften Ärzteblatt
und Ärztewoche kommen Fachbegriffe vor, die man nach morphologischen und
semantischen Kriterien sowohl dem Zentrum als auch der Peripherie des medizinischen Wortschatzes zuordnen kann. Im Zentrum befinden sich Substantive und
Adjektive, die anderen Wortarten, wie z.B. Adverbien oder Verben treten in die
Peripherie. Im Sprachgut wurden Einheiten aus verschiedenen Fachgebieten der
Medizin angetroffen. Das Zentrum der medizinischen Fachsprache bildet der anatomische Wortschatz zusammen mit den Krankheitsnamen. In den Hintergrund,
also in die Peripherie, treten alle anderen medizinischen Einheiten, die mit den
Organen und mit den sie befallenden Krankheiten verbunden sind. Im Bereich der
Nosologie tauchen verschiedene Bezeichnungen auf, viele lateinische und griechische
Termini, aber auch deutsche Entsprechungen, Eponyme und Anglizismen. Der
Wortschatz der Fachpresse zeichnet sich dadurch aus, dass hier alle Stufen der
Fachwörter mit unterschiedlichem Fachlichkeitsgrad vertreten sind, sowohl
Termini technici, als auch Trivialbezeichnungen, Hybridbildungen und gemeinsprachliches Wortgut.
Abstract
Medical language takes a special position among the languages for special purposes
because of its very extensive vocabulary. This vocabulary can be divided into the
center and the periphery. This distinction is shown on several levels, both morphological and semantic. It also applies to the degree of scientific level of the individual
terms. The medical terms in the center of the vocabulary are mostly nouns or
adjectives. On the periphery of the medical language, there are other parts of speech
such as adverbs, verbs, prepositions or conjunctions, which are not as frequentative.
Another possibility of division has to do with the names of various medical units.
The center is represented by names of anatomic organs and of illnesses which attack
these organs. The periphery includes names of instruments, diagnostic methods,
therapies, operations, physiological processes, medicines, viruses, etc. In the medical
vocabulary there we can find also the third platform which is based on the level of
scientific quality of the terms. In the center there are technical terms which are the
most specialised and on the periphery other vocabulary, also that borrowed from
the standard language, such as names of symptoms.
114
Keywords
Languages for special purposes, medical language, organs, illnesses.
Quellenverzeichnis
Ärztewoche 2011: Nr. 2, 20, 24, 40, 45, 46, 49.
Ärzteblatt 2011: Nr. ½, 4, 5, 6, 7, 8.
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115
116
Politische Lexik in der deutschen, slowakischen
und russischen Sprache.
Zentrum und/oder Peripherie?
Eva Molnárová
Annotation
Jede Wortschatzschicht hat ihren begrifflichen Kern, und ebenso gilt dies auch für
die politische Lexik, deren Schichtung sich aus der ständigen Entwicklung der
Sprache und Gesellschaft ergibt. Diese Schichtung reflektiert aktuelle gesellschaftlich
-politische Ereignisse. Benennungen von diesen landeskundlichen Gegebenheiten –
Politemen –, die Objekt unserer Untersuchungen sind, werden durch die
Gesellschaftsentwicklung aktualisiert oder neu gebildet, d.h. sie sind durch den
zeitlichen Kontext determiniert.
Außerdem werden in unserem Beitrag mehrere Forschungsansätze von Sprache
in der Politik, den Charakteristika und der Klassifikation der politikbezogenen
Wörter behandelt.
Schlüsselwörter
politische Lexik, politikbezogene Wörter, Politolinguistik
1. (Fachsprachen-)Linguistische Forschungsansätze
Bei interlingualen Untersuchungen ist aus methodologischen Gründen die Frage
zu klären, was und in welchem Umfang verglichen bzw. analysiert werden muss.
In diesem Zusammenhang werden in unserem Beitrag folgende Hauptfragen gestellt:
1. Sind die Untersuchungen im Forschungsbereich Sprache und Politik
etabliert und stehen sie im Zentrum oder an der Peripherie
des Forschungsinteresses?
2. Welche Herangehensweise (welcher Ansatz) wird in diesen Untersuchungen bevorzugt?
3. Sind die politikbezogenen Wörter nach bestimmten Prinzipien (Kriterien)
systematisiert und klassifiziert?
4. Was wird dem Kern und was der Peripherie der politischen Lexik zugeordnet?
Für die deutsche Sprache sind diese Fragen teilweise irrelevant, aber für die russische
und vor allem für die slowakische Sprache werden sie für sehr wichtig gehalten. Auf
117
dem deutschsprachigen Gebiet werden die meisten Untersuchungen zur Sprache in
der Politik im Rahmen der Politolinguistik durchgeführt. Erst seit ein paar Jahren
versuchen einzelne Wissenschaftler fachsprachenlinguistische und politologische
Forschungsansätze miteinander zu verbinden. Bis heute kann man von keiner
auf dem Gebiet der Slowakei etablierten Politolinguistik sprechen. Deswegen
entstehen bei den Untersuchungen zahlreiche Fragen, nicht nur methodologischen,
sondern auch terminologischen Charakters. Zu den Hauptbegründern der russischen
Politolinguistik wird vor allem Chudinov (Чудинов, 2008) gezählt. Außerdem
berufen sich mehrere russische Wissenschaftler auf die Forschungsergebnisse der
russischen Linguistin Vorobiova (Воробьева, 2000).
Die linguistischen Untersuchungen von Sprache in der Politik in Russland und in
der Slowakei können den folgenden Forschungsansätzen zugeordnet werden:
a) Der linguistische Ansatz. Sprachwissenschaftler erforschen die Struktur der
politischen Lexik, ihre semantischen, wortbildenden, syntaktischen und stilistischen Spezifika. Sie widmen ihre Aufmerksamkeit dynamischen Prozessen,
die die Entwicklung der politischen Lexik beeinflussen (Жданова, 1996;
Воробьева, 2000; Ошеева, 2004; Vaňko, 2008).
b) Der soziolinguistische Ansatz. Erforschung der Beziehungen zwischen
linguistischen Erscheinungen im Rahmen der politischen Lexik und außerlinguistischen Faktoren (Крючкова, 1989; Odaloš, 2009). Dabei wird die
Aufmerksamkeit dem Bewertungspotential einzelner lexikalischer Einheiten
(Полуэктов, 1991) und Wortbildungsmodelle sowie der Aktivierung bestimmter
Affixe gewidmet (Абдул-Хамид, 2005).
c) Der psycholinguistische Ansatz. Spiegelung des Bewertungspotentials
der politischen Lexik im Bewusstsein des Einzelnen oder einer bestimmten
Gruppe (Полуектов, 1991), Abhängigkeit der Auswahl der Lexik vom Persönlichkeitstyp (Sprachpersönlichkeit inbegriffen) des politischen Vertreters
(Соколовская, 2002; Уша – Титоренко, 2007).
d) Der komparative Ansatz. Vergleich der politischen Lexik in verschiedenen Sprachen mit dem Ziel, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu bestimmen sowie die allgemeinen Entwicklungsregeln der politischen Lexik und ihre
Abhängigkeit von gesellschaftlichen und politischen Faktoren zu charakterisieren (Крючкова, 1991; Абдул-Хамид, 2005).
e) Der kommunikative Ansatz. Analyse der politischen Lexik im Rahmen
politischer Kommunikation hinsichtlich der Manipulation der öffentlichen
Meinung (Mинаева, 2007; Михалева, 2009; Odaloš, 2000; Tito, 2008; Orgoňová
– Bohunická, 2007).
f) Der kognitive Ansatz. Entdeckung der Mechanismen des Gewinns von
Erkenntnissen über die Wirklichkeit und von Denkspezifika mittels der
Erforschung einzelner lexikalischer Einheiten, die im Prozess der politischen Kommunikation zustande kommen (Жданова, 1996; Чудинов, 2001;
Трофимова, 2006).
118
g) Der politolinguistische Ansatz. Ihm liegen nicht nur linguistische Theorien,
sondern auch politologische Erkenntnisse und Theorien zugrunde. Er bezieht
sich auf politologische Zusammenhänge und auf die Bezugslinie Politik –
Macht – Staat – Ideologie – politische Lexik (Чудинов, 2008; Tito, 2008;
Rošteková, 2010; Dulebová, 2009).
In unseren Untersuchungen wird eine politolinguistische, also eine interdisziplinäre
Herangehensweise bevorzugt, in der die politische Lexik als das strukturierte
Inventar jener Wörter und Wortverbindungen betrachtet wird, die eine semantische Komponente mit Bezug zur Politik enthalten. Durch diese kann ein direkter
Zusammenhang mit Innen- und/oder Außenpolitik und/oder dem politischen
Leben eines Staates (dem Staatshandeln) hergestellt werden.
2. Klassifikation und Gliederung der politikbezogenen Wörter
Von einer allgemeingültigen (anerkannten) Klassifikation bzw. Gliederung der
politikbezogenen Wörter kann vor allem in der deutschen Forschung zu Sprache
und Politik gesprochen werden.
Laut Girnth (2002) betrifft die Zusammensetzung der politikspezifischen Lexik
zwei Teilbereiche. Erstens: Wörter in der politischen Fachwelt, die von politischen Experten an politische Experten gerichtet sind und im Rahmen des institutionsinternen Bereichs verwendet werden, wie z.B. Vermittlungsausschuss oder
ratifizieren. Zweitens: Wörter in der politischen Auseinandersetzung, also allgemeinsprachliche Wörter, die von politischen Experten an politische Laien gerichtet sind;
diese betreffen Schlagwörter, wie z.B. Einheit, Globalisierung. Der Wortschatz in
diesem Bereich wird vor allem dort benutzt, wo sich die Politik an die Öffentlichkeit
wendet (in Wahlkämpfen, auf Wahlplakaten, in TV-Duellen).
Klein (1989, S. 3–50) gliedert den in der Politik verwendeten Wortschatz in vier
Hauptteile:
Das politische Lexikon
Institutionsvokabular
Ressortvokabular
allg. Interaktionsvokabular
Ideologievokabular
Abb. 1: Klassifikationen des politischen Lexikons nach Klein
119
a) das Institutionsvokabular – Wörter in Texten, in denen das politische System
thematisiert wird (Bundesrat, Mandat, Fraktionssitzung);
b) das Ressortvokabular – spezifische Sachbereiche wie Außenpolitik, Finanzen
und Umwelt;
c) das allgemeine Interaktionsvokabular – im Wettbewerb um Zustimmung und
Macht;
d) das Ideologievokabular – die Eigenschaft der Ideologiegebundenheit bezieht sich
auf die Determination der sprachlichen Bedeutung durch die einer Gesellschaft
oder politischen Gruppe zugrunde liegenden Deutungen und Wertungen sozialer
Tatsachen (Demokratie, Freiheit, Gerechtigkeit).
In der russischen Erforschung der Sprache in der Politik gelten mehrere Klassifikationen der politischen bzw. gesellschaftlich-politischen Lexik (im Folgenden GPL).
Die folgende Gliederung von Shdanova (Жданова, 1996, S. 25-29) gehört zu den
Klassifikationen, denen die Gliederung des Wortschatzes in Kernwortschatz und
peripheren Wortschatz zugrunde liegt. Außerdem beruht diese Klassifikation
auf drei begrifflichen Konzepten: Macht, Staat und Gesellschaft. Der wörtlichen
Erklärung entspricht folgende graphische Darstellung (Molnárová, 2013, S. 43):
Abb. 2: Klassifikation der gesellschaftlich-politischen Lexik (GPL)
nach Shdanova (Жданова)
Dieser Klassifikation liegt die Behauptung zugrunde, dass Macht und Machtbeziehungen die inhaltliche Grundlage der politischen Lexik repräsentieren, wobei
120
das Machtkonzept die konzeptuelle Dominante darstellt. Macht wird durch die
intersubjektive Beziehung ARB repräsentiert, in der die Subjekte A und B durch
die bestimmte Machtbeziehung R verbunden sind. Der gesellschaftlich-politischen
Lexik werden alle lexikalischen Einheiten zugeordnet, in deren Bedeutung die
semantische Komponente Macht / Machtbeziehung R beinhaltet ist, und alle Wörter,
die mit dem Machtsubjekt (A) oder Machtobjekt (B) verbunden sind.
a) Die eigene GPL stellt den Kern der gesellschaftlich-politischen Lexik vor. Hierzu
zählen Wörter, die direkte Nominationen der Beziehungskomponenten ARB,
Personen, Orte, Erscheinungen, Strukturen sind und die das politische Leben
indirekt formieren (Macht, Gewalt, Staat, Abgeordnete, Regierung, Flagge…).
b) Ideologiegebundene Lexik ist mit dem gesellschaftlich-politischen Wirkungsgebiet
der Machtbeziehungen verbunden. Die Realisierung dieser Beziehungen ist mit
dem axiologischen (Totalität, Staatsform, Imperialismus…) und / oder pragmatischen Bedeutungskonzept verbunden (Subbotnik, Aktion Z…).
c) Der Thematischen Lexik werden lexikalische Einheiten aus verschiedenen
gesellschaftlichen Gebieten zugeordnet, wo die Machtbeziehungen ARB zur
Wirkung kommen, und die mit der Staatstätigkeit verbunden sind, aber mit der
Politik nur indirekt in Beziehung stehen. Diese werden in folgende sieben Gruppen
gegliedert: Recht, Ökonomie, Religion, Außenpolitik, Philosophie, militärisches
und administratives Gebiet.
d) Die Periphere GPL stellen einige Wörter der Gemeinlexik mit einer Bedeutungskomponente vor, die eine Wirkung von Machtbeziehungen ohne nähere
Bestimmung des Wirkungsgebietes zulässt (Kapitän, unterordnen…).
In der slowakischen Erforschung von Sprache in der Politik gelten bisher keine
allgemeingültigen Klassifikationen der politischen Lexik.
3. Charakteristische Merkmale der politischen Lexik
Wie schon im ersten Teil unseres Beitrags erwähnt wurde, wird die politische Lexik
als das strukturierte Inventar jener Wörter und Wortverbindungen betrachtet, die
eine semantische Komponente mit Bezug zur Politik enthalten. Die Schichtung
der politischen Lexik ergibt sich aus der ständigen Entwicklung von Sprache
und Gesellschaft. Diese Schichtung reflektiert aktuelle gesellschaftlich-politische
Ereignisse. Benennungen dieser landeskundlichen Gegebenheiten werden gemäß
der Gesellschaftsentwicklung von der Sprechergemeinschaft aktualisiert oder neu
gebildet, d.h. sie sind durch den zeitlichen Kontext determiniert. Diese zeitlich
determinierten Ausdrücke für landeskundliche Gegebenheiten werden Politeme
genannt. Politemen können folgende relevante Merkmale zugeordnet werden durch diese sind sie zugleich von den anderen lexikalischen Einheiten zu
unterscheiden (vgl. Dobrík, 1999, S. 37-46):
a) ihre semantische Struktur enthält eine politische Komponente;
b) sie haben funktional-anthropologischen Charakter;
121
c) sie sind durch eine zeitliche und politische Determiniertheit charakterisiert;
d) sie können eine symbolische Bedeutung erhalten (nationale oder
übernationale).
Politeme enthalten in der denotativen Struktur ihrer Grundbedeutungen eine
dominante Komponente mit Bezug zur politischen Kommunikation, durch die das
nationale sprachliche Bild der Welt zustande kommt.
Politeme benennen jene Gegebenheiten, die mit der Rolle des Menschen in einer
Gesellschaft und / oder in einem Staat verbunden sind. Die semantische Analyse
von einzelnen Politemen kann das sprachliche Bild der Welt, das sich in einzelnen
Texten widerspiegelt (Lauková, 2015, S. 48-53), aufdecken, wodurch festgestellt
werden kann, dass im Hintergrund eines jeden Textes eine „sprachliche
Persönlichkeit“steht, die das sprachliche System beherrscht (Караулов, 1987,
S. 8). Zugleich stehen die Politeme in Beziehung zu den konkreten Persönlichkeiten
des politischen Handelns, wodurch ihr funktional-anthropologischer Charakter
hervortritt. Mit dem Namen des ehemaligen deutschen Kanzlers Helmut Kohl
wurden die Politeme Kohlplantage, Ko(h)lonisation, Ko(h)lonie DDR, KOHLonie,
mit Gerhard Schröder Kanzler Audi, mit dem ehemaligen slowakischen Premierminister Vladimír Mečiar die Politeme demokratúra LenOn, OnaSIS, lenontodokažizmus, mečiarizmus, antiprezident, mit dem slowakischen Premierminister Róbert Fico vlakoví freerideri (Anweisung der Regierung, dass Studenten im
Präsenzstudium und Rentner mit dem Zug kostenlos fahren können) und
mit dem Namen des ehemaligen russischen Präsidenten Michail Gorbatshow
демократизация, гласность, перестройка, ускорение verbunden.
Politeme sind nicht statisch, sondern weisen eine große Dynamik auf. Von einer
Stabilität kann nur im zeitlich begrenzten politischen Kontext gesprochen werden.
Wenn eine landeskundliche politische Gegebenheit als nicht mehr aktuell gilt, wird
das Politem zum Historismus, aber nie zum Archaismus, weil es zu den Symbolen
einer bestimmten Zeitperiode gehört und alle diese Symbole eine feste Stellung in
der Geschichte einer Gesellschaft einnehmen.
Das folgende Beispiel zeigt, wie das russische gemeinsprachliche Wort батька
in ein Politem umgewandelt wurde, indem es in einem bestimmten politischen
Kontext symbolische Bedeutung erwarb und schließlich in einem Phraseologismus
verfestigt wurde.
In der Allgemeinsprache bedeutet батька ‚der Vater‘. Im politischen Diskurs
wird mit diesem Wort der Präsident von Weißrussland, Alexander Lukashenko,
benannt. In den Jahren 2010–2011 zeigte der russische Fernsehsender NTV den
Dokumentarfilm Крестный батька (‚Taufvater‘), der die politische Tätigkeit und
das politische Handeln des weißrussischen Präsidenten sehr offen kritisiert. Der
Filmtitel ähnelt dem Roman Der Pate von Mario Puzo, einem Mafia-Familienepos,
122
bzw. dem gleichnamigen Film von Francis Coppola. In diesem Fall wurde die negative
Bewertung des politischen Handelns indirekt durch den Titel ausgedrückt. Wenn
ein Lexem in neue politische Kontexte, in neue Umgebungen eintritt, entstehen
durch metonymische Verschiebungen und metaphorische Übertragungen neue
Sememe.
Das Politem als Sprachsymbol einer bestimmten Zeitperiode kann nationale oder
übernationale Geltung haben. Das nationale Politem ist für eine einzelne Nation
oder genauer für einen Staat charakteristisch. In nationalen Politemen überwiegen
nationale Spezifika vor Universalien, weil jede Nation sowohl die Welt als auch das
gesellschaftlich-politische Leben auf ihre Art und Weise behandelt und sprachlich
gestaltet.
Ein typisches nationales Politem in der slowakischen Sprache ist tunelovanie
(deutsch: ‚Tunnelierung, Tunnelbau‘, hier: ‚Missbrauch von Finanzen‘). Dieses
Politem gehört seit den 1990er Jahren zu den Leitbegriffen des slowakischen
politischen Diskurses. Ursprünglich wurde es mit der ersten Regierung unter
Premierminister Vladimír Mečiar verbunden. Obwohl andere Politeme dieser politischen Periode in der Gegenwart zu den Historismen gehören, stellt das Politem
tunelovanie auch heute noch einen Bestandteil des aktiv verwendeten politischen
Wortschatzes dar.
Zu den russischen nationalen Politemen können vor allem die Politeme тандем
(deutsch: Tandem), диархия und дуализм (deutsch: Diarchie und Dualismus)
gezählt werden. Mit diesen Politemen wurden die zwei russischen Spitzenpolitiker
Vladimir Putin und Dmitri Medvedev bezeichnet, die schon mehrmals ihre politischen Rollen wechselten.
Zu den übernationalen Politemen gehören dominante Politeme – Politik (slow.
politika, russ. политика), Macht (slow. moc, russ. власть), Staat (slow. štát, russ.
государство,) und Ideologie (slow. ideológia, russ. идеология). Diese Politeme
stellen zugleich die wichtigsten politologischen Termini vor, und politische
Macht gehört zu den universalen politologischen Kategorien, die alle politischen
Erscheinungen betrifft.
Die Vorkommenshäufigkeit dieser übernationalen Politeme wurde in dem Slowakischen Nationalen Korpus (im Folgenden nur SNK), in dem Grundkorpus des
Nationalen Korpus der russischen Sprache (im Folgenden nur NKRJ – grund.), in
dem publizistischen Korpus des Nationalen Korpus der russischen Sprache (im
Folgenden nur NKRJ – publ.) und dem Digitalen Wörterbuch der deutschen
Sprache (im Folgenden nur DWDS) untersucht. Es handelt sich um repräsentative elektronische Textkorpora, die lexikografisch geprüfte Einträge enthalten und
statistische Angaben zu einzelnen untersuchten Lexemen bieten. Die Politeme Politik,
Macht und Staat zeigen eine große Vorkommenshäufigkeit in den nationalen
Korpora, obwohl die Treffer in unterschiedlicher Reihenfolge angezeigt wurden.
123
Abb. 3: Die Vorkommenshäufigkeit von drei übernationalen Politemen
in Nationalen Korpora
Im slowakischen Korpus zeigt das Politem štát (deutsch Staat, russ. государство)
eine größere Häufigkeit an Treffern als das Politem moc (deutsch Macht, russ.
власть), das nur den dritten Platz einnimmt. In der Gegenwart wird der Staat mehr
mit der Politik (2. Stelle) und den politischen Parteien, die um Macht kämpfen,
in Beziehung gesetzt. Im russischen Korpus ist es anders. Das hängt mit den
nationalen Spezifika zusammen, weil die Macht bzw. Gewalt, die über dem Bürger
steht und in der Praxis vom „starken“ Präsidenten ausgeübt wird, das wichtigste
Politikum des in Russland vorherrschenden politischen Weltbildes ist. Die
dominante Position des Politems Macht im Russischen wird mit Rang 76
unter jenen im Computerkorpus angeführten 100 meistfrequentierten Wörtern,
die aus Zeitungstexten gegen Ende des 20. Jh.s generiert wurden, verdeutlicht
(Компьютерный корпус текстов русских газет конца XX-ого века). Dem
Russischen entspricht auch die Reihenfolge von Politemen im deutschen Korpus.
Der Grund liegt vielleicht darin, dass die Kanzlerin die zurzeit politisch stärkste
Frau im Staat ist und in der Regierung jahrelang zumeist Vertreter von denselben
stärksten politischen Parteien tätig sind.
4. Fazit
Für die Erforschung von Sprache in der Politik in Deutschland, Russland und in
der Slowakei wird nur das gemeinsame Untersuchungsobjekt (politische Sprache,
politische Texte, politische Kommunikation, politischer Diskurs ...) festgelegt,
weil in der Gegenwart unterschiedliche konzeptionelle Auseinandersetzungen zu
124
Methodologie und Terminologie stattfinden. Die Ergebnisse aus unseren Untersuchungen werden für offen gehalten und müssen daher noch vertiefend diskutiert
werden.
Abstract
Political lexis represents a set of words and phrases containing a semantic
component referring to the relationship to domestic or foreign policy, and to the
political life of the state. It is therefore bound to the national specificities of political
events, which find their reflection in the language.
As in any lexis, the basic item of political lexis is a lexical item. Definitions of the
lexical items of political lexis are too heterogeneous and do not correspond in
contents. However, their objects are still the same types of lexical items. For their
integral connection with political events, for purposes of our article, as well as for
further research we use the term “an ideologeme“, respectively a politeme.
The article emphasizes a politeme exists as the basic unit of political lexis with specific
characteristics, typically merely for the given language layer. National politemes
refer to political events within a particular country and are flag to the particular
nation, while multinationals are universal and of general application.
Relevance of our research issues is also affirmed by the absence of a unified terminology for political lexis, particularly in Slovakia and Russia. The detailed profiling
of research in political lexis in Slovakia has so far not been recorded, and / or for
this reason, we discuss characteristics of various approaches in current research.
Respecting the significant political component of the very concept of political
lexis we prefer an interdisciplinary political-linguistic approach based not only on
linguistic theories, but also on knowledge and theories of political science as a key
science of policy.
Keywords
political lexikon, policy-related words, political linguistics
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127
128
Zentrum und Peripherie in der deutschen Sprache.
Am Beispiel der Formulierungsverfahren in der Sprache
der Politik in der Talkshow „Günther Jauch“
Kamila Puchnarová
Annotation
Der folgende Text beschäftigt sich mit der gesprochenen Sprache, und zwar konkret
mit der Sprache der Politik am Beispiel der politischen Talkshow „Günther Jauch“.
In der Analyse ist die Hauptaufmerksamkeit den Antworten der Talkshow-Gäste
gewidmet, wobei die Antworten unter dem Aspekt des Formulierungsverfahrens
untersucht werden. Das Ziel des Textes ist, die typischsten Merkmale von Formulierungsverfahren bei den Antworten in der politischen Diskussion vorzustellen.
Einzelne Formulierungsverfahren werden dann an ausgewählten authentischen
Beispielen demonstriert, die durch Transkriptionen aus der Talkshow „Günter
Jauch“ gewonnen wurden.
Schlüsselwörter
Gesprochene Sprache, Sprache der Politik, Formulierungsverfahren, Antwort,
Transkription
1. Einleitung
Die Menschheit spricht schon seit ihren Anfängen, und das ist viel länger im
Vergleich damit, seit wann die Menschen zu schreiben begannen. Das gesprochene
Wort war und ist immer für jeden, während das geschriebene Wort lange Jahrhunderte nur für eine ausgewählte Elite zugänglich war. Heute ist die Situation schon
ganz anders; dank der Ausbildung kann schon fast jeder schreiben. An manchen
Orten der Welt sind aber noch Menschen zu finden, die das Schreiben noch immer
nicht beherrschen. Deshalb ist es bemerkenswert, dass sich die wissenschaftliche
Aufmerksamkeit immer eher auf die geschriebene Sprache konzentriert hat und
die gesprochene Sprache irgendwie an der Peripherie stand. Erst ,,am 1. Oktober
1899 hielt Otto Behaghel vor der Hauptversammlung des Deutschen Sprachvereins
in Zittau einen Vortrag über das Thema ,,Geschriebenes Deutsch und gesprochenes
Deutsch“ (Schwitalla, 2006, S. 18). Und noch später, nämlich erst ,,seit Mitte der
60er Jahre beschäftigen sich in Deutschland Sprachwissenschaftler mit gesprochener
Sprache“ (Hennig, 2006, S. 7). Heutzutage hat die gesprochene Sprache auf dem
129
Gebiet der Sprachwissenschaft schon eine viel bessere Position als in der Vergangenheit. Ins Zentrum zu der geschriebenen Sprache führt aber immer noch ein
langer Weg, weil die Untersuchung der gesprochenen Sprache technisch und
materiell vielleicht zu kompliziert ist. Ähnlich sieht die Situation bei der Betrachtung der sprachwissenschaftlichen Literatur zu Fragen und Antworten aus.
In dieser Hinsicht stehen die Fragen im Zentrum des wissenschaftlichen Interesses
und die Antworten sind dann irgendwo ganz weit an der Peripherie. Der folgende
Text möchte das ändern, und deshalb wird die Aufmerksamkeit der gesprochenen
Sprache in Verbindung mit der Sprache der Politik gewidmet sein, und die Hauptrolle werden dabei die Formulierungsverfahren der Antworten spielen.
2. Ein paar Worte zum analysierten Material
Als Material für die Analyse wurde die politische Talkshow „Günther Jauch“ ausgewählt, die von 2011 bis 2015 von der ARD gesendet wurde. Der Moderator
Günther Jauch hatte jeden Sonntag etwa fünf oder sechs Gäste in den Berliner
Gasometer eingeladen, wo sie gemeinsam über aktuelle politische Themen diskutiert haben. Unter den Gästen waren sowohl Politiker als auch Experten für die
gegebene Problematik oder Journalisten. Jede Diskussion hat ungefähr 60 Minuten
gedauert. Diese Diskussion musste vor der Analyse transkribiert werden, und
zwar nach dem Transkriptionssystem GAT 2. Danach soll sich die Analyse vor
allem auf die Antworten konzentrieren, weil die Antworten im Vergleich mit den
Fragen in der sprachwissenschaftlichen Literatur deutlich im Hintergrund stehen.
Es ist auch wichtig zu sagen, was unter dem Begriff Antwort verstanden wird. Als
Antwort wird in der Analyse die vollständige Reaktion eines Diskussionsteilnehmers aufgefasst. Die Analyse verläuft dann im Rahmen des Dissertatiosprojektes nach folgenden festgelegten Untersuchungskriterien: Wie reagieren die
Diskussionsteilnehmer auf Fragen? Welche Formulierungsstrategien werden bei
den Antworten in politischen Fernsehdiskussionen benutzt? Mit welchen Sprachmitteln? Sind einige gemeinsame Merkmale der Antworten zu beobachten? Und
geben die Antworten wirklich „Antworten“ auf die vorher gestellten Fragen?
Diese erwähnten Forschungsfragen sollten am Ende des Wintersemesters 2016
beantwortet werden, und zwar im Rahmen des Dissertationsprojekts der Autorin.
Obwohl sich diese erwähnte Dissertation noch nicht in der finalen Phase befindet,
deutet die folgende Art von „Voranalyse“ schon manche markante Merkmale des
Formulierungsverfahrens der Antworten an.
3. Ankündigen
Das erste Formulierungsverfahren, das vorgestellt werden muss, ist das Ankündigen.
Es handelt sich darum, wie die Antworten eigentlich beginnen, was am Anfang
der Antwort steht. Und da können mehrere Varianten beobachtet werden. Am
häufigsten können Antworten gefunden werden, die mit einer Formulierung mit
„ja“ beginnen:
130
Bsp.:
ES:
ja ich glaube ja
ich meine
________________________________________________
ES:
ja natürlich
ja natürlich
________________________________________________
FM:
ja
˚h wir erleben ja derzeit eine (.)1
völkerwanderung
________________________________________________
MS:
ja es ist also
((räuspert sich)) wenn wenn es so ist
Die zweithäufigste Möglichkeit sind dann die Formulierungen mit „nein“. Es kann
an dieser Stelle also auch vorausgesetzt werden, dass dem Sprecher in beiden
Fällen eine klare geschlossene Frage gestellt wurde, damit eine Antwort mit „ja“
oder „nein“ folgen kann:
Bsp.:
JK:
nein wir haben folgeantragstellen
___________________________________________
ES:
nein stimmt nicht
sondern
____________________________________________
ES:
nein
ist das nicht
____________________________________________
JK:
nein
das stimmt so nicht
Bei den folgenden Beispielen ist zu sehen, dass die Antwort wahrscheinlich
komplizierter wird. Der Sprecher hat entweder eine offene Frage bekommen, auf
die er nicht „ja“ oder „nein“ sagen kann, oder er hat doch eine geschlossene Frage
bekommen, aber er will sie nicht so klar beantworten.
Bsp.:
JK:
also
also haftlager
______________________________________________
1 Alle Transkriptionszeichen werden auf Seite 39 erklärt:
URL 2: Gesprächsforschung - Online-Zeitschrift zur verbalen Interaktion (ISSN 1617-1837) Ausgabe 10 (2009),
Seite 353-402 (www.gespraechsforschung-ozs.de). Online verfügbar unter http://www.gespraechsforschung-ozs.de/
heft2009/px-gat2.pdf
131
JK:
wenn das so wäre
wenn das so wäre
______________________________________________
ES:
(1.0) herr jauch
(1.0) die frage ist doch wie schaut
unsere verfassungslage aus
______________________________________________
MS:
ich will eins sagen
In den Formulierungen sind dann verschiedene Variationen zu sehen, wie z.B. also;
wenn das so wäre; dann verschiedene Bewertungen der vorher gestellten Frage oder
Bemühungen um ein gewisses Ausweichen vor der Antwort.
4. Antithese, Kontrast
Weiter befindet sich in den Antworten ein typisches Merkmal der gesprochenen
Sprache, und das sind die Antithesen; also Formulierungen, bei denen die Sprecher
in ihren Äußerungen Kontraste benutzen:
Bsp.:
ES:
wir schützen die asylberechtigten
˚h das ist keine frage
˚h aber wir sind ein europäischer
MS:
[ja ich weiß ]
ES:
[ein europäischer] verbund
_____________________________________________
FM:
˚h dass (.) neben der bundespolizei und
den hilfsorganisationen und den
bürgermeistern
˚h vor allen viele ehrenamtliche die
arbeit machen
˚h aber das kann nicht wochen und
monate so weitergehen
Das kann mehrere Gründe haben, im Fall einer politischen Diskussion geht es aber
überwiegend um politische Korrektheit, wenn der Sprecher Kontraste benutzt,
damit er seine Einstellung oder Meinung etwas differenziert. Fast in allen Fällen
werden die Antithesen im analysierten Text mit „aber“ gebildet.
5. Formelhaftes Sprechen
Zu gesprochener Sprache gehört unbedingt auch formelhaftes Sprechen, also
Redensarten, Redewendungen und Sprichwörter, und anders ist es auch nicht bei
132
der Kombination gesprochener Sprache mit der Sprache der Politik:
Bsp.:
ES:
es geht ja nicht darum (.)
wer sein gesicht wahrt
_______________________________________________
FM:
wenn vor allem der winter vor der tür steht
_______________________________________________
ES:
an der grenze muss die spreu vom weizen
getrennt werden
_______________________________________________
JK:
˚h auch bei uns in rheinland pfalz in
trier ist es gewesen
˚h dass menschen unter freiem himmel
übernachten mussten
Wie aus den Beispielen deutlich werden kann, wirken die Redensarten, Redewendungen und Sprichwörter in der Sprache der Politik als elegante Formulierungen,
die eine gewisse Situation oder ein Ding distinguierter beschreiben können, als es
die übliche neutrale Sprache schaffen würde.
6. Wiederholung
Bei der Analyse der Antworten hat sich gezeigt, dass die Diskussionsteilnehmer
häufig auch Wiederholungen benutzen, und zwar aus zwei Hauptgründen. Ein
Grund ist, dass sie etwas wirklich deutlich betonen wollen. Das passiert am
häufigsten in Situationen, in denen die Diskussion eskaliert und die Sprecher
langsam und leicht affektiv sprechen:
Bsp.:
ES:
˚h alle kommen rein (.)
alle kommen rein (.)
oder fast alle kommen rein
______________________________________________
FM:
˚h dass (-) der transport der flüchtlinge
organisiert aus wien
von der regierung
direkt an die grüne grenze
˚h so nicht weitergehen kann
˚h so kann es nicht weitergehen
Der zweite Grund hat seinen Ursprung in der Geschwindigkeit der gesprochenen
Sprache. Die Sprecher wissen im unmittelbaren Augenblick noch nicht, wie sie ihre
Äußerung richtig formulieren und welche Worte sie benutzen sollen:
133
Bsp.:
ES:
an der grenze an der grenze (-)
an der grenze ist so zusagen zu
entscheiden
_____________________________________
JK:
sein sein aspekt ist ja ist ja
ein richtiger
_____________________________________
JK:
wir haben ja unterschiedlichen
(-) unterschiedlichen status
Durch die Wiederholung gewinnen sie eine gewisse Zeit, während der sie ihre Rede
im Kopf ordnen und dann die gewünschte Formulierung äußern können.
7. Aufzählung, Liste
So wie die Wiederholung im ersten Fall der Bekräftigung gedient hat, erfüllt dieselbe
Aufgabe auch die Aufzählung.
Bsp.:
ES:
˚h du kommst aus einem sicheren
drittstaat
˚h der mann ist in österreich
der mann ist in kroatien
˚h der mann ist in bulgarien
__________________________________________
ES:
lenkung ordnung ˚h bekämpfung
_________________________________________
RS:
die meisten die jetzt kommen
sind flüchtlinge aus syrien
˚h aus pakistan aus afghanistan
aus eritrea
Die Aufzählung oder Liste bringt in die Rede außerdem auch eine gewisse
Rhythmik. Wie an den Beispielen zu sehen ist, besteht eine Aufzählung in der Regel
fast immer aus drei Gliedern, wobei das letzte Beispiel sogar viergliedrig ist.
8. Paraphrase
Das nächste Formulierungsverfahren, das in den Antworten zu beobachten ist, ist
die Paraphrase.
134
Bsp.:
ES:
˚hh dann letztenendes auch diejenigen
(.) nicht mehr so abschieben können
die überhaupt kein recht auf (.) asyl
haben
oder kein ˚h (.) recht als
kriegsflüchtling anerkannt zu werden
_______________________________________________
RS:
dann müsste man doch das
was die es pe de vorgeschlagen hat
nämlich dass wir einreise ˚h zonen
schaffen
dass menschen die bei uns (.) zu uns
kommen (-) schnell registriert werden
das heißt bundesweit registriert werden
Die Paraphrase formuliert eine vorherige Mitteilung um und führt so zur
Konkretisierung und Präzisierung oder im Rahmen der schon genannten
politischen Korrektheit zur Verbesserung und zum Verfeinern der Mitteilung.
9. Resümee
Am Ende der Reihe der Formulierungsverfahren steht noch das Resümee, also wie
eine Antwort eigentlich endet. An den Beispielen ist zu sehen, dass es sich um eine
zusammenfassende Formulierung handelt, die die erwähnten Informationen in der
Antwort abschließen soll.
Bsp.:
MS:
was meine analyse ist
___________________________________________
ES:
das ist unsere verfassungslage
_______________________________________________
JK:
und deshalb sind diese transitzonen
der zentrale punkt ˚h
___________________________________________
ES:
und das müssen wir lösen
Diese Formulierung ist in den analysierten Antworten nur zu beobachten,
wenn der Sprecher seine Antwort selbst beendet. Falls er von jemand anderem
unterbrochen wird, dann befindet sich kein Resümee am Ende seiner Antwort.
So eine Unterbrechung durch den Moderator oder durch einen anderen
Diskussionsteilnehmer passiert ungefähr in der Hälfte der Fälle.
135
10. Andere Merkmale
Was noch andere bemerkenswerte Merkmale betrifft, kann gesagt werden, dass fast
alle Fragen vom Moderator gestellt werden. In manchen seltenen Fällen fungiert
aber eine Antwort eines Diskussionsteilnehmers gleichzeitig auch als Frage an
einen anderen Diskussionsteilnehmer. Die Antworten sind in der Regel auch
vielfach länger als die Fragen - durchschnittlich 3-mal und im Extremfall auch
mehr als 10-mal. Die Diskussionsteilnehmer sprechen meistens solange sie Zeit
haben, also bis zur Unterbrechung durch den Moderator oder einen anderen
Diskussionsteilnehmer.
11. Fazit
Dieser vorliegende Text, der sich mit der gesprochenen Sprache der Politik und
konkret mit den Formulierungsverfahren in Antworten beschäftigt, hat eine
Voranalyse im Rahmen des Dissertationsprojektes vorgestellt. Nach dieser Analyse
der Antworten in der Talkshow „Günther Jauch“ hat sich gezeigt, dass diese
Antworten am häufigsten mit der Formulierung „ja“ oder „nein“ beginnen.
In diesen Antworten der Diskussionsteilnehmer können auch ziemlich häufig
Antithesen und Kontraste beobachtet werden, die ihren Ursprung in der
politischen Korrektheit haben. In den Antworten befinden sich auch verschiedene
Redensarten, Redewendungen und Sprichwörter, die die gesprochene Sprache
der Politik sozusagen elegant bereichern. Falls die Diskussionsteilnehmer
etwas in ihrer Rede betonen wollen oder nur noch mehr Zeit für die richtige
Formulierung brauchen, dient ihnen dazu die Wiederholung. Ziemlich beliebt sind
in den Antworten auch Aufzählungen und Listen, die so wie Wiederholungen zur
Bekräftigung dienen, aber dazu in die Rede noch eine gewisse Rhythmik bringen.
Die schon erwähnte politische Korrektheit spiegelt sich dann auch in häufig
benutzten Paraphrasen wider. Was schließlich noch die Beendigung der Antworten
betrifft, kann da beobachtet werden, dass so ein Resümee nur bei den Antworten
vorkommt, die der Sprecher selbst freiwillig beendet und zusammenfasst. Falls er
aber von jemand anderem unterbrochen wird, dann ist kein Resümee am Ende
der Antwort zu finden. Nach dieser Analyse ist es also klar, dass die gesprochene
Sprache der Politik unter dem Aspekt der Formulierungsverfahren von Antworten
ein reiches Material darstellt und wirklich einer größeren Aufmerksamkeit der
Sprachwissenschaftler würdig ist.
Abstract
This essay which deals with the spoken language of politics, in particular with formulation means of answers, introduces the analysis of answers in the political talk
show “Günther Jauch”. This analysis has discovered that most of the answers start
with a formulation with “yes” or “no”. A lot of answers contains antitheses and
136
contrasts which have their origin in the political correctness. In the answers there
can also be found proverbs and sayings which can elegantly enhance the spoken
language of politics. If the discussion participants want to emphasize something
in their speech or they need only some time for the right formulation, they use
repetitions. The next favourite means of formulation is enumeration and listing,
this is used for emphasizing, too and it brings to the speech a specific rhythmicity.
The mentioned political correctness can be observed in the frequent using of
paraphrases. At the end of the answers there is a résumé or summary, but only
in case if the discussion participant ends his answer himself. If his answer was
interrupted there can not be found any résumé. After this analysis it can be claimed
that the spoken language of politics from the point of view of the formulation
of answers represents a rich material and it certainly deserves greater attention by
linguistic experts.
Keywords
spoken language, language of politics, means of formulation, answer, transcription
Quellenverzeichnis
URL 1: Seehofers Ultimatum: Begrenzt Merkel jetzt den Flüchtlingszustrom?
Online verfügbar unter http://mediathek.daserste.de/G%C3%BCnther-Jauch/
Seehofers-Ultimatum-Begrenzt-Merkel-jet/Video?bcastId=8109878&documentId=31409234
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dem Prüfstand. Frankfurt a.M.: Lang.
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137
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Online verfügbar unter http://mediathek.daserste.de/G%C3%BCnther-Jauch/
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URL 2: Gesprächsforschung - Online-Zeitschrift zur verbalen Interaktion (ISSN
1617-1837) Ausgabe 10 (2009), S. 353-402 (www.gespraechsforschung-ozs.de).
Online verfügbar unter http://www.gespraechsforschung-ozs.de/heft2009/px-gat2.pdf
138
Kollektivgedächtnis im Sprachbild
und soziokultivierte Kommunikation
Zdenko Dobrík
Annotation
Die soziokultivierte (effiziente) Kommunikation hängt von der Motivationswelt
(von den Erfahrungen, Einstellungen, Bedürfnissen, Werten, Interessen usw.) der
einzelnen Kommunikationsakteure und von der Erhaltung der Proportionalität
zwischen den Akkommodations- und Assimilationsprozessen in der Kommunikation ab. Bei der Durchsetzung der Motivationswelt der Kommunikationsakteure
spielt in einigen Kommunikationssituationen „die Beschäftigung“ mit dem
Kollektivgedächtnis eine bedeutende Rolle, d.h. welche Erinnerungen werden und
in welchem Ausmaß aus dem Kollektivgedächtnis herausgezogen, und welche
bleiben zielbewusst deaktiviert. Diese Tatsache bestätigt auch die linguistische
Analyse der Äußerungen, die auf die Persönlichkeit von Ferdinand Porsche zielen.
Schlüsselwörter
Ferdinand Porsche, Sprachbild, Kollektivgedächtnis, Sprachäußerungen, kultivierte
Kommunikation
Da nur die Individuen dazu in der Lage sind, sich zu erinnern, schöpft das Kollektivgedächtnis die Dauerhaftigkeit und Kraft aus der ganzen Gruppe von Individuen. Die Erinnerung wird in der Interaktion mit den anderen verwirklicht; das
Einzelindividuum jedoch identifiziert sich mit der Erinnerung unterschiedlich.
Jeder Mensch erinnert sich so, wie es für ihn selbst günstig ist, wie es seinem
Welt- und Selbstbild entspricht. Von der Motivationswelt des Einzelindividuums,
d.h. von seinen Erfahrungen, Bedürfnissen, Interessen, Zielen, Einstellungen usw.
hängt ab, was und wer im Zentrum und wer in der Peripherie seiner Erinnerung
steht. Die Gültigkeit der vorangehenden Gedanken über die Erinnerungen im
Hinblick auf das Kollektivgedächtnis wird im folgenden Text anhand eines
Fallbeispiels verifiziert. Das Fallbeispiel beinhaltet unterschiedliche Interpretationen (Wahrnehmungen) zum Umgang mit Ferdinand Porsche. Die in diesem
Beitrag angeführten Sprachäußerungen wurden in tschechischen regionalen
und überregionalen Massenmedien veröffentlicht. Diese Sprachäußerungen der
Individuen sind deshalb repräsentativ, weil sie die Einstellungen eines großen Teils
der Gemeindebevölkerung ausdrücken.
139
Die kleine tschechische Gemeinde Vratislavice (deutsche Ortsbezeichnung
Maffersdorf) liegt in Nordböhmen am Fuße des Isergebirges und gehört
verwaltungsmäßig zur Stadt Liberec (deutsche Ortsbezeichnung: Reichenberg).
Dieses Gebiet wurde mehrere Jahrhunderte hindurch bis zum Ende des Zweiten
Weltkriegs überwiegend von Deutschen besiedelt. Ansonsten ist es aber kaum
jemandem bekannt gewesen, bis im Jahre 2013 ein Schilderstreit entbrannte. Es
handelte sich um Schilder an den Ortseingängen. Sie zeigten das Stadtwappen
und begrüßten die Durchfahrenden mit der Aufschrift „Geburtsort von Ferdinand
Porsche.“ Die Schilder gehören seit einiger Zeit der Vergangenheit an. Der
Gemeinderat hat sie ein paar Tage vor Weihnachten 2013 abnehmen lassen. „… Die
Marke mit Klang. In keinem anderen Auto wehen Frauenhaare so schön wie in einem
Porsche Cabrio...“. Dieser Lobgesang war im Jahr 2013 auf der offiziellen
Webseite des Geburtsortes von Ferdinand Porsche zu lesen. Ferdinand Porsche
ist zum größten lokalen Anlass für Auseinandersetzungen geworden. Der Streit
um Ferdinand Porsche hat Vratislavice in mehrere Meinungslager gespalten. Das
erste, relativ kleine Lager hebt ausschließlich Porsches politische Tätigkeit im
Dritten Reich hervor. Wegen der Willkommensschilder entschied sich ein Bürger
aus Vratislavice, eine Petition aufzusetzen; er sammelte hundertfünfzig Unterschriften von 8.500 Bewohnern der Gemeinde und stellte Strafanzeige gegen die
Stadtväter wegen „Propagierung des Nationalsozialismus.“ Das zweite, viel größere
Lager betont vor allem Porsches technische Begabung und seine Erfindungen.
Jedoch weisen die Vertreter dieses Lagers auf seine Schattenseiten hin, konkret
auf seine Zusammenarbeit mit den Prominenten des NS-Regimes. Ende
November 2013 initiierte ein Programmierer aus dem benachbarten Liberec eine
zweite Petition für die Unterstützung von Ferdinand Porsche und für die
Willkommensschilder. Diese Petition unterzeichneten mehr als 1.500 Bewohner.
Aus der Sicht der kulturorientierten Linguistik drängen sich zwei sehr eng
miteinander zusammenhängende Fragen auf: Was liegt den unterschiedlichen
Wahrnehmungen von Ferdinand Porsche zugrunde? Wie ist es möglich, dass die
Gemeindebewohner zwar dieselbe Sprache beherrschen, d.h. Tschechisch, aber
trotzdem nicht mit derselben Stimme sprechen? Die Antwort heißt: Unterschiedliche Kulturen, präziser gesagt: unterschiedliche Subkulturen der Gemeindebewohner liegen den unterschiedlichen Wahrnehmungen von Ferdinand Porsche
zugrunde. Laut dem niederländischen Anthropologen Fons Trompenaars
istKultur mit einem Eisberg vergleichbar. Den sichtbaren Teil des Eisbergs
bilden Sprache, Literatur, Theater, Musik, Spiele, Essen, Kleidung, Festivitäten,
Kommunikationsformen usw. Unter der Oberfläche befindet sich ein nicht sofort
erkennbarer Teil, bestehend aus Werten und Normen, Kommunikationsstilen,
Einstellungen, Auffassungen, Gefühlen, Verpflichtungen, Beziehungen, Überzeugungen, Verhaltensweisen, Erwartungen, Bedürfnissen und Wahrnehmungsmustern.1
1 URL 1: http://lehrerfortbildung-bw.de/bs/bsa/bgym/lehrga, [zuletzt geprüft am 12.2.2016].
140
Subkulturen verfügen über Spezifika, durch die sie sich von Kulturen unterscheiden. Unter Subkulturen versteht man Lebensformen, die Teil eines größeren
kulturellen Gebildes sind. Sie verfügen über Normenordnungen, die von der
Gesamtkultur abweichen.
Das Maß dieser Abweichungen schwankt. Es reicht vom Status von Teilkulturen,
die in das übergeordnete soziale System weitgehend eingebettet sind, bis hin zu
Gruppen, die als Gegenkultur auftreten. Die Merkmale, die Subkulturen kennzeichnen, differieren je nach Lage, sie können in unterschiedlicher ethnischer
Herkunft, in regionalen Besonderheiten, in der Berufszugehörigkeit, in unterschiedlichen Interessengruppen (Hobbygruppen), in der politischen Zugehörigkeit
oder generell im sozioökonomischen Bereich begründet sein. In jedem Fall gilt,
dass die Zugehörigkeit(en) zu Subkulturen Abweichungen zum Ausdruck bringen,
die lebensweltlich nicht nur periphere Bedeutung haben, sondern für die Gruppe
einen zentralen, musterwirksamen Rang einnehmen (vgl. Endruweit / Trommsdorff, 1989, S. 711).
Und nun zurück zur Anwendung der Trompenaars’schen Kulturdefinition.
In Bezug auf unser Thema sind aus dem „nicht sofort erkennbaren Teil des
Eisbergs“ folgende Faktoren relevant: Einstellungen, Auffassungen und Überzeugungen der Gemeindebewohner von Vratislavice, die sich im „sichtbaren Teil des
Eisbergs“, nämlich im Bereich der Sprache (oder präziser gesagt: im Bereich der
Äußerungen), befinden.
Es zeigt sich, dass in einigen Äußerungen das Kollektivgedächtnis – konkret:
Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg – sehr intensiv aktiviert wurde. Aus diesem
Grund bewerten vor allem jene Leute, die das ‚Protektorat Böhmen und Mähren‘
unmittelbar erlebt haben, Porsches Verbundenheit mit dem Nazi-Regime als
negativ. Derselben Meinung sind auch einige jüngere linksorientierte Mitbürger, die meistens Sympathisanten oder Mitglieder der Kommunistischen Partei
Böhmens und Mährens sind. Für beide Seiten ist Ferdinand Porsche vor allem ein
Symbol des Nazi-Regimes; vgl. folgende Zitate:
Der ehemalige Bürgermeister Aleš Preisler:
„Die Sache (der [sic!] Willkommensschild) könnte uns als Propagierung
des Nationalsozialismus ausgelegt werden, wir bewegen uns am Rande
der Legalität.“ […] „Ferdinand Porsche mit seiner dunklen Vergangenheit
würde ich hier diplomatisch-taktisch verschweigen“. (URL 2)
Vize-Bürgermeister Vladimír Braun:
„Bis 1989 mussten wir Denkmäler für Lenin oder Stalin aufstellen.
Dann wurden die abgerissen und neue gebaut. Warum? Das gilt
auch für die kleine Porsche-Aufschrift auf dem Willkommensschild.
Warum müssen wir das ostentativ nach außen kehren, dass Porsche hier
141
geboren wurde? Dann sollten wir auch sagen, dass gleich zwei Häuser
neben Porsche der Sudetenführer und Hitlergetreue Konrad Henlein
geboren wurde“. […] Die Porsche-Zentrale in Stuttgart habe übrigens
keinen Heller in Vratislavice investiert, erklärt Braun und redet sich in
Rage: „Aber wir sollen immer für alles dankbar sein? Wir Tschechen
sollten endlich einmal stolz auf uns sein. Wir sind immer zu etwas
gezwungen worden. Früher mussten wir die Sowjet-Fahne heraushängen,
heute die Fahne der Europäischen Union. Warum?“ (URL 3)
Der Anti-Porsche-Aktivist Pavel Hrstka, der sich auf das Buch des deutschen
Historikers Guido Knopp „Hitlers Manager“ beruft:
„Dabei war er ein SS-Oberst, der initiativ mit den größten Verbrechern
verhandelte wie Himmler und Hitler. Und dadurch bekam er Zwansarbeiter für seine Fabrik, in der Waffen hergestellt wurden. Diese
Dinge wurden beim hiesigen ‚Denkmal‘ verschwiegen. Porsche bekam
auch einen SS-Totenkopf-Ring verliehen“. […] „Drei Porsche-Autos
und ein paar Informationen hatten in der Porsche-Ausstellung Platz.
Für die nationalsozialistische Vergangenheit Ferdinand Porsches hat
es nicht gereicht – Leerstelle. Dazu kamen noch später die Willkommensschilder“.
„Erst durch unseren Protest sind diese Informationen heute in der
Porsche-Ausstellung hier zu lesen – erst nach vier Jahren, das ist
traurig.“ (URL 4)
In diesen Äußerungen sind mehrere negativ bewertende Ausdrücke (Wortverbindungen) vertreten. Sie erfüllen folgende Funktionen: a) Sie dienen der Charakterisierung von Ferdinand Porsche (Ferdinand Porsche mit seiner dunklen Vergangenheit;
... er war ein SS-Oberst, der initiativ mit den größten Verbrechern verhandelte;
Porsche bekam auch einen SS-Totenkopf-Ring verliehen); b) Sie drücken die inneren
ärgerlichen und skeptischen Befindlichkeiten von Sprachbenutzern aus (Warum
müssen wir das ostentativ nach außen kehren, dass...; wir sind immer zu etwas
gezwungen worden usw.).
Für Bürger der Gemeinde Vratislavice, die das ‚Protektorat Böhmen und Mähren‘
nicht miterlebt haben und / oder eine positive Beziehung zur Technik (zu Autos)
haben, ist Ferdinand Porsche vor allem eines der größten Symbole des technischen
Fortschritts, vgl. dazu folgende Zitate:
Offizielle Webseite der Gemeinde Vratislavice: „[…] Die Marke mit
Klang. In keinem anderen Auto wehen Frauenhaare so schön wie in
einem Porsche Cabrio [...]“ (URL 5)
Eisenwarenhändler: „Ausgezeichneter Konstrukteur, ich bin froh, dass
er hier geboren wurde.“ (URL 6)
Anonymer Bewohner: „Ich bin stolz auf Porsche.“ (URL 7)
142
Busfahrer Milan Bumba: „Gut, Porsche habe damals einen SS-Orden
bekommen. Im Kommunismus wiederum seien die Leute hier zu
Helden der Arbeit gekürt worden, vergleicht Bumba“. […] „Ich
behaupte, er hatte keine Wahl, wenn er seine Autos konstruieren
wollte. Wenn er Hitlers Hand ausgeschlagen hätte, dann wäre auch
er im Knast oder im Konzentrationslager gelandet“. (URL 8)
Milan Bumba präsentiert über zwanzig Exponate von Volkswagen und Porsche
in seinem privaten Museum in Vratislavice. Fast seit dreißig Jahren organisiert er
jedes Jahr zum Geburtstag von Ferdinand Porsche eine Zusammenkunft von über
hundertfünfzig Autos. Diese regelmäßig organisierte Veranstaltung zeugt davon,
dass Milan Bumba zur Entwicklung eines kulturellen Gedächtnisses als Bestandteil
des Kollektivgedächtnisses seiner Mitbürger und Autoliebhaber beiträgt. Laut
J. Assmann besteht das Kollektivgedächtnis aus dem kommunikativen und kulturellen Gedächtnis. Die wichtigsten Begriffe des kulturellen Gedächtnisses sind
Tradition und Wiederholung. Das kulturelle Gedächtnis manifestiert sich in
Gedenktagen und religiösen Festen (vgl. Assmann, 2001, S. 83).
In den vorangehenden Äußerungen kommen mehrere positiv bewertende
Ausdrücke vor, die a) zur Charakterisierung von Ferdinand Porsche dienen
(ausgezeichneter Konstrukteur; die Marke mit Klang usw.); b) innere zustimmende
Befindlichkeiten von Sprachbenutzern ausdrücken (ich bin froh, ich bin stolz).
Aus dieser letzten Äußerung ergibt sich, dass einer der Befürworter von Porsche
dessen Verbundenheit mit dem Nazi-Regime zwar nicht verschweigt, sich jedoch
bemüht, Porsches Zusammenarbeit mit diesem Regime zu entschuldigen.
Die effiziente bzw. soziokultivierte Kommunikation bedeutet eine kultivierte Konfrontation der Selbstprojektionen der Kommunikationsteilnehmer. Soziokultivierte
Kommunikation ist dadurch gekennzeichnet, dass sie korrekt ist. Das Wesen
der Korrektheit jeder Kommunikation bildet die Proportionalität zwischen den
Akkommodations- und Assimilationsprozessen. Diese Proportionalität bedeutet,
dass alle beteiligten Kommunikationsteilnehmer über eine angemessene Egomobilität verfügen. Diese beruht auf dem Gleichgewicht zwischen Egozentrismus
und Allozentrismus (vgl. Dolník, 2010, S. 76-78). Die einzelnen Kommunikanten
bemühen sich nicht nur um die Durchsetzung der eigenen Selbstinterpretation
(der eigenen Werte und Normen, Kommunikationsstile, Einstellungen, Gefühle,
Verpflichtungen, Beziehungen, Überzeugungen, Verhaltensweisen, Erwartungen,
Bedürfnisse usw.), sondern gleichermaßen um das Verständnis der Selbstinterpretation ihres Kommunikationspartners (vgl. Lauková, 2015, S. 43). Der Konfliktverlauf in der Diskussion um Ferdinand Porsche zeigte, dass eine Lösung des Konflikts
unmöglich war, weil die Kommunikationsteilnehmer nicht dazu in der Lage waren,
eine kultivierte Konfrontation ohne Selbstprojektionen zu führen. Deshalb konnte
auch kein Kompromiss gefunden werden. Die Ursache der nicht-soziokultivierten
143
Kommunikation bestand darin, dass einige Kommunikationspartner nicht dazu
bereit waren, die Proportionalität zwischen den Akkommodations- und Assimilationsprozessen in der Kommunikation zu respektieren. Sie haben nur einige der
wesentlichen Informationen über Ferdinand Porsche aus dem Kollektivgedächtnis
herausgezogen. Die effiziente soziokultivierte Kommunikation hätte zum Beispiel
folgende Ergebnisse gebracht: 1. Kommunikationsteilnehmer hätten beiderseits
akzeptiert, dass Ferdinand Porsche ein hervorragender Konstrukteur war, d.h. der
Gemeinderat hätte die Schilder nicht abnehmen lassen müssen; 2. Alle wichtigen
Informationen über die Zusammenarbeit von Ferdinand Porsche mit dem NSRegime hätten in Porsches Automobilmuseum veröffentlicht werden müssen.
Fazit
Das Phänomen der unterschiedlichen Interpretationen von prominenten Persönlichkeiten aus der Vergangenheit kommt im Rahmen der Kollektivkulturen nicht
selten vor. Zu den prominenten Persönlichkeiten zählt man auch Ferdinand
Porsche, der von den Vertretern der tschechischen Kollektivkultur unterschiedlich
wahrgenommen wird. Das zeugt davon, dass die tschechische (und nicht nur die
tschechische) (Kollektiv-)Kultur kein homogenes Gebilde ist; sie ist nach innen
heterogen organisiert und besteht aus mehreren Sub(kollektiv)kulturen (z.B.
Subkultur der Autoliebhaber, Subkultur der Nazi-Gegner). Jede von diesen
Subkulturen bewahrt ihre Normen, Werte, Traditionen und Rituale. Bei den
Vertretern der Nazi-Gegner-Subkultur steht das Konzept „Ferdinand Porsche als
Kollaborateur mit dem Nazi-Regime“ im Zentrum der kognitiven und folglich auch
der sprachlichen Verarbeitung, wohingegen das Konzept „Ferdinand Porsche als
Konstrukteur“ in der Peripherie angesiedelt ist. In der Autoliebhaber-Subkultur
steht das Konzept „Ferdinand Porsche als Konstrukteur“ im Zentrum der
kognitiven Verarbeitung und Versprachlichung, wobei die Vertreter dieser Kultur
aber nicht vergessen, auch das Konzept „Ferdinand Porsche als Kollaborateur mit
dem Nazi-Regime“ zu versprachlichen.
Abstract
Cultivated (effective) communication depends on the motivational world (views,
needs, values, interests, etc.) of individual communication actors and on the
compliance with the proportionality between accommodation and assimilation
processes in communication. In pursuing the motivational world of communication partners the “treatment” of collective memory has a significant role in some
communication situations, i.e. which memories and to what extent are intentionally
selected from the collective memory and which remain purposefully nonactivated.
This fact is also confirmed by the linguistic analysis of selected discourses which
relate to the personality of Ferdinand Porsche.
144
Keywords
Ferdinand Porsche, linguistic image, collective memory, speech discourses,
cultivated communication
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URL 1: Online verfügbar unter http://lehrerfortbildung-bw.de/bs/bsa/bgym/
lehrga, [12.2.2016].
URL 2: Online verfügbar unter http://www.radio.cz/de/rubrik/kaleidoskop/streit
-um-ferdinand-porsche-spaltet-tschechischen-ort-vratislavice, [19.3.2016].
Dieser Beitrag wurde im Rahmen des Projekts VEGA „Mentálno-jazykové inakosti
a kultivovaná komunikácia“ (ITMS: 1/0326/16) verfasst.
145
146
Manfred Franks hermeneutische Zeichentheorie
im Kontext der neuesten diskursanalytischen Ansätze
Michal Rubáš
Annotation
Es werden heute im Rahmen der germanistischen Diskursanalyse weitreichende
Diskussionen über die anzuwendende Bedeutungs- und Sprachwandeltheorie
geführt, sowie auch Fragen gestellt nach dem epistemologischen Status der zu
beschreibenden Diskursstrukturen und nach der Rolle der individuellen und
sozialen Faktoren innerhalb der Prozesse der Diskurskonstitution. Die inhaltsorientierten Linguisten dieser Strömung befassen sich also mit den Themen, die von
einem der bedeutendsten deutschen Sprachtheoretiker Manfred Frank bearbeitet
wurden, und zwar in Auseinandersetzungen mit denjenigen strukturalistisch
geprägten Forschern und Sprachphilosophen, von denen die zeitgenössischen
Diskurstheoretiker maßgeblich beeinflusst sind. Mein Beitrag beabsichtigt, Franks
sprachtheoretischen Ansatz in der laufenden Debatte unter den Diskursanalytikern
hypothetisch zu verorten.
Schlüsselwörter
Diskursanalyse nach Foucault, Hermeneutik, Bedeutungstheorie, Manfred Frank,
Wolfgang Teubert
Im Sammelband Linguistische Diskursanalyse: Neue Perspektiven (Busse/Teubert,
2013) stellen Dietrich Busse und Wolfgang Teubert eine Idee zur linguistischen
Operationalisierung des Diskursbegriffes von Michel Foucault vor. Dies geschieht
erstens im gemeinsam verfassten programmatischen Aufsatz Ist Diskurs ein sprachwissenschaftliches Objekt? (Busse/Teubert, 2013, S. 13-30) und zweitens in den
anschließenden Texten, die Busse und Teubert je selbständig schrieben und in
denen sie gegeneinander ziemlich scharf auftreten (Busse/Teubert, 2013, S. 31-185).
Ihre exemplarische Dissonanz ist nach meiner Meinung auf die Widersprüche
zurückzuführen, die im Diskurs- und Methodenbegriff des französischen Denkers
selbst ruhen und die einer der scharfsinnigsten Kritiker des Strukturalismus, der
Autor einer hermeneutischen Zeichentheorie Manfred Frank, schon vor einiger
Zeit schöpferisch analysierte.
Der vorliegende Aufsatz beabsichtigt es, eine strukturalistische Sprachauffassung
in einer lebendigen Diskussion mit der hermeneutischen Theorie der Sprache
147
darzustellen. Nach einer kurzen Vorstellung der linguistischen Diskursauffassung
von Busse und Teubert (1) werden Teuberts Bedeutungstheorie (2) und deren
Ablehnung seitens Busses (3) geschildert. Des Weiteren wird auf Franks linguistisch untermauerte Kritik am Diskursbegriff von Foucault eingegangen (4), worauf
wir anlässlich der kurz geschilderten Zeichentheorie Manfred Franks eine allgemeinere sprachwissenschaftliche Konsequenz für das Projekt der linguistischen
Diskursanalyse formulieren (5).
Busse und Teubert stellen am Anfang ihres Aufsatzes (Busse/Teubert, 2013, S. 13)
die Frage, warum die aus Frankreich stammende Diskursanalyse in Deutschland
ganz an der Peripherie steht und kaum rezipiert wird.1 Ihre Antwort lautet,
dass subjektphilosophisch orientierte Autoren und Vertreter der rationalistisch
geprägten Pragmatik in ihrem Selbstverständnis erschüttert würden, müssten sie
ernst nehmen, dass nicht nur Sprache Denken beeinflusst, sondern dass man auch
durch die Gesellschaft determiniert ist. Der Kurs von Saussure stecke den Bereich
der Linguistik zu eng ab, und ebenso wie die pragmatischen Kategorien von
Illokution, Präsupposition und Handlung in die Linguistik den Vorurteilen zum
Trotz aufgenommen wurden, gelte es, eine satz- und textübergreifende Semantik
weiterzuentwickeln, welche eine die diachrone und die Parole-Ebene einbeziehende Perspektive mit sich bringt (vgl. Busse/Teubert, 2013, S. 14-15).
In den sprachlichen Zeichen ist nach Busse und Teubert „gesellschaftliches Wissen“
aufbewahrt (Busse/Teubert, 2013, S. 27). Dieses Wissen ist implizit relevant für die
Realisierung von Sinn. Was vorausgesetzt werden muss, damit man eine Äußerung
oder einen Text versteht, wird von den Autoren großzügig breit aufgefasst: Es sind
logische Prinzipien, Raum, Zeit, die Grenzen zwischen Gegenstand und Umgebung,
zwischen ego und alter, die Ausschließungsmechanismen (Wahrheit vs. Wahnsinn)
u.a. Erst diese epistemischen Kategorien machen die Aussagen möglich, verleihen
den Texten Kohärenz und werden natürlich als im Voraus gesetzte Konstrukte nicht
in den Aussagen oder Texten konstituiert, woraus sich auch eine eigenartige Textanalyse ergibt, die den Text nicht unbedingt als eine „abgeschlossene Einheit“ sieht,
sondern seine „einzelnen Äußerungen“ für „potentiell wichtiger als eine künstlich
hergestellte Gesamtidee“ (Busse/Teubert, 2013, S. 43) hält. Die Ebene der „thematischen Tiefenstrukturen“, die über den Text hinausgehen, sei von zentraler Bedeutung (Busse/Teubert, 2013, S. 27-28).
Diskurse sind nach Busse und Teubert „virtuelle Textkorpora“, die sich durch
„semantische Kohärenz“ auszeichnen. Methodisch ist ausschlaggebend, dass
die Textsemantik nicht lexemgebunden ist. Die Satzaussagen innerhalb eines
Textkorpus muss der Textanalytiker explizit in Beziehung setzen, um die Voraussetzungen
für die semantische Ausgestaltung der einzelnen Lexeme und Sätze finden zu
1 Der Text Ist Diskurs ein sprachwissenschaftliches Objekt? Zur Methodenfrage der historischen Semantik wurde
ursprünglich bereits 1994 publiziert und als programmatischer Einführungsartikel in den Sammelband eingereiht.
148
können. Aus diesem Grund muss die Wort- und Satzsemantik überschritten
werden (Busse/Teubert, 2013, S. 28). Der Diskurs scheint eine semantische Basis
für die Konstitution der Bedeutungen von Lexemen zu sein.
Kritisch gesehen, ist diese vielversprechende Diskursauffassung auf den ersten
Blick in mehreren Hinsichten problematisch. z.B. die Beziehung zwischen Text
und Diskurs: Wir suchen textexternes Vorwissen, das für die Kohärenz des
Textes verantwortlich ist, anders formuliert suchen wir diskursives Wissen, indem
wir nach den Bedingungen der Textkohärenz fragen. Auf der anderen Seite halten
wir in unserer Textinterpretation “einzelne Äußerungen“ für „potentiell wichtiger“
als die „Gesamtidee“ des Textes, die eine „abgeschlossene Einheit“ darstelle, was
mit anderen Worten bedeutet, dass die Textkohärenz für die Bedeutung einzelner
Textaussagen irrelevant ist (die Aussagen müssen zumindest eine eigengesetzliche
Identität haben, die sich gegen die Textidee behaupten kann). Gleich am Anfang
stehen wir da also vor einem hermeneutischen Zirkel, der sich aber dreht zwischen
Elementen, die auf gegenseitige Kompatibilität nicht auszurichten sind, wie es im
Fall von Teil und Ganzem üblich wäre.
Wolfgang Teuberts Aufsatz Die Wirklichkeit des Diskurses (Teubert, 2013) will immer
noch aus Foucaults Diskursbegriff ein „operationalisierbares Programm“ für die
Linguistik machen. Er hebt von neuem ein gesellschaftskritisches Ethos hervor,
denn die linguistische Diskursanalyse soll dazu beitragen, dass aus „Diskurskonsumenten aktive Teilnehmer“ werden, die als bisher Unprivilegierte „gemeinsame
Gegenentwürfe“ zu vermeintlich alternativlosen hegemonialen Diskursen entwickeln
(Teubert, 2013, S. 70). Die Linguistik legt Widersprüche der herrschenden Weltauslegungen offen, damit „Betroffene kollaborativ eigene Wirklichkeitsversionen
konzipieren“ können (Teubert 2013, S. 70).
Diskurs ist für Teubert autopoietisch, selbst-referentiell, unergründlich und
unvorhersehbar. Er bewegt sich von selbst, indem seine Momente permutieren,
sich rekombinieren und variieren (Teubert, 2013, S. 55). Diskursive Ereignisse sind
also keine Ergebnisse des individuellen Wollens oder Handelns. Denksubjekte sind
bloße Diskursprodukte (wie alle anderen gesellschaftlichen Phänomene und Praktiken; Teubert, 2013, S. 58), „der Diskurs schafft sich Denksubjekte als Relaisstationen“ (Teubert, 2013, S. 55). Die allumfassenden Diskurse sind aber auch nichts
Natürliches. Sie können nicht zu Gegenständen der Naturwissenschaften werden,
denn diskursive Outputs sind nichts Kausal-Gesetzmäßiges. Sie seien „Phänomene
der dritten Art“ im Sinne von Rudi Keller.
Die engagierte Linguistik führt Teubert zu einer radikalen Bedeutungstheorie, die
potentielle Spannung in den strukturalistischen Begriffsapparat bringt: Was uns
Wirklichkeit ist, ist „Resultat von Aushandlungen“ - als Teilnehmer am Diskurs
„können wir sie jederzeit neu verhandeln, wenn wir mit ihr nicht einverstanden
sind“. „Sinn entsteht nur, indem wir ihn gemeinsam vereinbarten sprachlichen
149
Zeichen zuschreiben“ (Teubert, 2013, S. 57). Zugleich gilt eine allgemeine Sprachgebundenheit jedes Sinnes: Erleben ohne Sprache sowie diskursiv unvermittelte
Wirklichkeit bedeuten nichts. „Alles /Bedeutsame/ ist Diskurskonstrukt“ und „ob
es mit externer Realität etwas zu tun hat, lässt sich nicht überprüfen“ (Teubert,
2013, S. 61). Nur das Gesagte hat einen Sinn, und nur auf Gesagtes kann man sich
beziehen (Teubert, 2013, S. 56).
Für Teubert ist Text eine „einzigartige Kombination von rekurrenten Elementen“,
deren Bedeutung darin besteht, „was über sie in einzelnen Kontexten gesagt ist“,
und dieses Gesagte nennt er „periphrastischen Gehalt“. Für die Bedeutungen gibt es
„keinen gemeinsamen Nenner“, und Bedeutung ist ein „Ensemble aller Aussagen“
oder Periphrasen. Bedeutung ist demnach „prinzipiell kontingent“, bei jeder
Verwendung „wird unweigerlich etwas Neues hinzugefügt“, weshalb es „keine Regel
für den Gebrauch besagten Textsegments“ geben kann. Die innovative Kraft, die
die Bedeutungen permanent gestaltet, ist natürlich Teubert zufolge nicht interpretierenden Individuen zuzuschreiben, weil es nicht „sinvoll“ ist, über „das solitäre
Individuum [...] zu reden, das sich mit seiner Umwelt kognitiv auseinandersetzt“
(Teubert, 2013, S. 59), und weil Interpretieren „ein kollaborativer Akt“ ist (Teubert,
2013, S. 72).
Da „nicht-sprachliches Vorverständnis unbeschreibbar ist“, und da es „widersinnig“
und „unmöglich“ ist, vorsprachliche oder sprachlose epistemische Voraussetzungen
und unbewusstes, nicht-explizites Wissen freizulegen, muss der kognitive Ansatz
(mitsamt der Phänomenologie) abgelehnt werden: „Um zu beschreiben, wie sich
vorsprachliches Erleben in sprachliche, sozial konventionalisierte Repräsentation
übersetzt, müssten wir vorsprachliches Wissen sprachlich repräsentieren können“,
und das ist nach Teubert unmöglich. „Individueller Geist“ ist kein einer naturwissenschaftlichen Methode zugängliches Objekt, diese Auffassung teilt Teubert mit
Stephen Stich, und „der Blick in den Kopf erübrigt sich“ ohnehin, was auch als
Stellungnahme gegenüber Chomsky gelesen werden kann. Was „verstehen“ heißt,
ist „unergründlich“, wir wissen nur, was darüber gesagt wird. Anderes Beispiel: „[...]
was genau man gelernt hat, wenn man nun endlich schwimmen kann, und wie es
sich anfühlt, lässt sich nicht in Worte fassen.“ (Teubert, 2013, S. 58).
Teubert ist der Meinung, dass nicht-sprachliches Können als stummes „direktes
Erleben“ historisch ersetzt wurde durch „bewusste Vorstellungen von diesem
Erleben“ (mit dem Auftreten des homo sapiens), was den Umgang mit Zeichen und
die explosionsartige Entwicklung von Werkzeugen brachte (Teubert, 2013, S. 62).
Die Arbeit des Diskursanalytikers ist Teubert zufolge als „Hebammenkunst in
Bezug auf die Bedeutung des Gesagten“ zu fassen (Teubert, 2013, S. 56), weil sie
in Freilegung dessen bestehe, wie wir die Wirklichkeit wahrnehmen. Der Sprachforscher soll das Gesagte so aufbereiten, dass der Diskursausschnitt zugänglich
wird, der „für die Klärung einer Sinnfrage relevant ist“. Diese Rekontextualisierung
150
des Sinnes hat Teubert wahrscheinlich im Sinn, wenn er Gadamers Hermeneutik
ablehnt mit der Begründung, dass Gadamer die Analyse nicht von der Interpretation trennt (Teubert, 2013, S. 73).
Um ein paar vorläufige Zweifel hinsichtlich dieser interessanten Ausführungen
anzuführen, halten wir zweierlei für schwer nachvollziehbar. Erstens kann man nie
in einem hegemonialen Diskurs einen Widerspruch finden, wenn die einzelnen
Bedeutungen von rekurrenten Elementen bloß Juxtapositionen ihrer in Texten
vorfindlichen Umschreibungen darstellen und „keinen gemeinsamen Nenner“
haben. Zweitens ist die Beziehung zwischen zwei von Teubert verwendeten Begriffen
des Subjekts noch erklärungsbedürftig, weil das Subjekt als „Diskurskonstrukt“
jedenfalls etwas anderes zu sein scheint als das Subjekt als nicht-interpretierender,
Hebammenkunst ausübender „Analytiker“. Es kommt dazu in Teuberts Analysen
sogar noch ein drittes Subjekt vor: dasjenige, das Bedeutungen mit anderen
Subjekten „kollaborativ aushandelt“.
Busses Kritik an Teuberts Theorie geht einen anderen Weg. Er stimmt der These zu,
dass die einzige Wirklichkeit die im Diskurs vermittelte ist. Busse lehnt es aber ab,
dass irgendein Diskursanalytiker oder relevanter Kognitivist ein „nicht-sprachliches
Wissen“ zum Gegenstand der Diskursanalyse machen möchte. Was zu „eruieren“
ist, ist „jetzt unbewusst prägend“, aber „ursprünglich war es bewusst explizit“, es ist
anderswo explizit vorgekommen, „von einem Menschen“ explizit gemacht worden,
wenn auch „nicht in diesem Diskurs“ (Busse, 2013, S. 169-170).
Fügen wir gleich hinzu, dass diese Erklärung Busses aussagt, dass nicht nur in
verschiedenen Texten, sondern in verschiedenen Diskursen dieselben Bedeutungselemente (einmal implizit, ein andermal explizit) vorkommen. Daraus aber folgt,
dass nicht der Diskurs das Wissen produziert oder „prädeterminierend“ wirkt (wie
sich Busse anderswo ausdrückt), weil sonst dasselbe in verschiedenen Diskursen
etwas Verschiedenes sein müsste. Auf diese Weise werden nicht nur Grenzen
zwischen Texten weggewischt, sondern auch zwischen Diskursen, und was daraus
paradoxerweise siegreich hervorgeht, sind die einzelnen Bedeutungen der Lexeme
in ihrer jeweiligen Identität, die diskursimmun werden.
Ein weiterer Vorwurf Busses ist, dass Teubert „Ausgehandeltes“ in der Bedeutung
„bewusst Verhandeltes“ versteht: Teubert unterstellt damit eine freie Verfügungsgewalt der Subjekte über die in ihren Diskursen verhandelten Inhalte (Busse, 2013,
S. 171), wodurch er gegen seine eigene Auffassung verstieße, dass Diskurselemente
Phänomene der dritten Art sind (Busse, 2013, S. 168), also unintendierte Folgen
von individuellen bewussten Intentionen. Unprivilegierte könnten also nicht
zielbewusst andere Wirklichkeitsauslegungen in der Sprache durchsetzen, lässt sich
daraus ableiten.
151
Busse ist der Ansicht, dass die Diskursanalyse die Beziehung zwischen zwei
Momenten zum Gegenstand hat: einerseits die „Sozialität der Genese“ der
Diskursgestalten, ihre „Iteration“ und „Prädetermination“, andererseits die recht
hermeneutisch klingende „unhintergehbare Individualität und Subjektivität des
Verfügens, Prozessierens und kognitiven Konstruierens“ (Busse, 2013, S. 180).
Aus dem Konglomerat von individueller Intention und sozialer Prädetermination
entsteht nach Busse gerade das „Phänomen der dritten Art“ - womit jedoch
Foucaults Auffassung ganz verloren ginge, wie gleich hinzuzufügen ist.
Historisch gesehen ist das moderne Konzept der unsichtbaren Hand ein Relikt
der philosophischen Denkweise der Barockzeit, als die „prästabilierte Harmonie“
eine Innovation erfuhr, die auf dem ontologischen Primat des absoluten Individualismus / Nominalismus im Gedanken beruht, dass, wenn alle Einzeldinge nur
durch ihr eigenes Gewicht wie im griechischen Atomismus ihre eigene Wege, blind
und die Umgebung ignorierend, hinunterstürzen, die Welt, sozusagen beiläufig,
zu einer Ordnung gelangt. In der Ökonomie erfüllte das Konzept zu seiner Zeit
eine ideologische Aufgabe, in den Humanwissenschaften sucht man damit heute
manchmal einen eigenständigen Status gegenüber den Naturwissenschaften für
sich zu behaupten.
Als Beispiele für Phänomene der dritten Art nannte Rudi Keller Staus oder
Trampelpfade (Keller, 2000, S. 8). Das sind Wirklichkeiten, die in die Handlungen
der Subjekte natürlich als determinierende Kräfte eingreifen können. Er nennt auch
Wörter, die ihren bisherigen unterscheidenden Wert verloren haben usw., aber es
bleibt eine These, dass die zu erklärenden Bedeutungs- oder Wertveränderungen
der Wörter nach der Art der Staus oder Rasenpfade zu verstehen sind, die als
Explanans gebraucht werden.
Im Falle des Sprachsystems oder des „Diskurses“ sind dessen Outputs ausschließlich
Konventionen oder (Gebrauchs-)Regeln. (Manfred Frank nennt sie virtuell, und
unsere beiden Autoren nennen Diskurse so.) Wie diese Virtualitäten konstituiert,
rezipiert oder gültig gemacht werden - und das alles hängt mit ihrer Entstehungsweise zusammen -, lässt sich nicht von der Seinsweise der äußeren Objekte ableiten.
Ein Stau kann mit dem Übergang in einen anderen Diskurs seine Bedeutung
wechseln, aber der Sinn oder der Wert eines Ausdrucks oder eine Regel können
nicht dieselben bleiben, wenn sie ihre Bedeutung oder Verbindlichkeit verlieren.
Durch einen Stau entsteht nichts Regelhaftes. Ein Stau ist vielmehr durch einen
Grundsatz (etwa „Vermeide den Zusammenprall mit anderen Autos“) auf vorhersehbare Weise zustande gekommen, aber jener existierte schon zuvor.
Kommen wir jedoch zu Busses fortschreitender Kritik zurück. Er hält es für „geistfernen Positivismus“, wenn Teubert das Verstehen als unergründbar bezeichnet.
152
Dazu kann an dieser Stelle noch Folgendes über den Rahmen der Kritik Busses
hinaus gesagt werden: Teubert spricht, wie im Falle des Schwimmens, von nichtsprachlichem Können oder von „Wissen wie“, das als „direktes Erleben“ sprachlos und
somit „bedeutungslos“ ist (Teubert, 2013, S. 58). Falls für Teubert „bedeutungslos“
und „unergründbar“ Synonyme sind, stehen wir hier einer Analogie zum
Kantischen Ding an sich gegenüber, das aber jede Pluralität von unterscheidbaren
Einheiten als widersinnig ausschloss. Teuberts bedeutungslose, aber unterschiedliche
Wirklichkeiten (z.B. Verstehen, Schwimmen, den Finger rühren) müssen demnach
diskursexterne Entitäten sein, deren Existenz er ausdrücklich mit Busse verleugnet.
Beide Diskursanalytiker scheinen die allgemeine Eigenschaft der Sprache, etwas
zu bezeichnen, zu unterschätzen. Sie ignorieren referenztheoretische Ansätze von
Kripke oder Putnam: Periphrasen sind einfach nicht synonym mit zumindest einigen
sprachlichen Ausdrücken. Aus diesem Grund kann man nicht Wortbedeutungen
mit Diskurskonstrukten gleichsetzen.
Busse konnte bereits Teuberts Einschätzung von Verstehen, Schwimmen usw. als
„Wissen wie“ bezweifeln. Vielmehr handelt es sich bei diesen Phänomenen um
„Nicht-Wissen wie“. Wenn ich schwimme oder einen Finger rühre, weiß ich, was ich
tue; was ich jedoch nicht verstehe, ist, wie ich das ausführe. Wie schaffe ich es, dass
ich den Finger rühre? Es wäre sinnvoller, dies als unergründbar zu bezeichnen. Ich
muss jedoch wissen, was ich nicht (prozessual) beschreiben kann. „Wie“ bezeichnet
ein Können, nicht ein Wissen. Es ist aber durchaus relevant, diesen Gedanken Teuberts zu bedenken, der etwas Gemeinsames mit dem Spontaneitätsbegriff
des Taoismus oder Nietzsches Betrachtungen über Subjektlosigkeit und Bewusstlosigkeit von natürlichen oder vollkommenen Ereignissen bzw. „Handlungen“
hat. In beiden Fällen schließt das beste „Können“ eine Begleitung durch bewusste
Reflexion oder kontrollierendes Wissen aus: Was man wirklich kann, stütze sich
nicht nur auf kein Wissen, sondern sei auch damit nicht verknüpfbar. Sicher ist,
dass sich das Bewusstsein sowie Verstehen nicht auf den Prozess der Verarbeitung
von Informationen zurückführen lässt, und insofern halten wir hier Teuberts Kritik
am Kognitivismus mitsamt seinem Begriff der „Unergründbarkeit“ des Verstehens /
Bewusstseins für kontextuell angemessen.
Schließlich erwähnen wir noch einen Vorwurf Busses, und zwar seinen Kommentar
zu Teuberts Aussage, dass sich die Diskursanalyse nur damit beschäftigen soll,
was im Diskurs gesagt ist. „Woher weiß Teubert, was das Gesagte ist?“, fragt Busse.
Teubert sei naiv, weil er glaubt, es gebe einen unmittelbaren Zugang zu dem im
Diskurs Gesagten (Busse, 2013, S. 180). Einen Zugang ohne Interpretation, lesen
wir zwischen den Zeilen.
Nach Busse existieren Bedeutungen, auch ohne ausgesagt worden zu sein,
und zwar „im kollektiven Verstehen(svermögen)“ (Busse, 2013, S. 180).
Die Frage, die wir jetzt an Busse stellen können, ist natürlich folgende: Ist dieses
kollektive Reservoir ein Diskurskonstrukt, ein Diskurs neben anderen, oder der Diskurs?
153
Diskursexterne Subjekte und Objekte, die nicht existieren dürfen, aber der Wissenschaft wegen existieren müssen, übervölkern sonderbarer Weise das diskursive Feld
und sind nach unserer Meinung auch ein großes, wenn auch wohl unterschwelliges
Thema von Michel Foucault, was aus der kritischen Interpretation Manfred Franks
hervorgeht.
Für Foucault bedeutet „der Diskurs“ zunächst (in Les mots et les choses) die
Ordnung des Wissens im „klassischen Zeitalter“. Diese ist durch das „Repräsentationsmodell“ des Denkens gekennzeichnet, das der „logischen“ Zeichentheorie
von Port-Royal entspricht und durch Saussures „Rückkehr“ zur Semiotik des
18. Jahrhunderts zurück ins Leben gerufen worden sei. Das Modell ist auf den
Transparenzbegriff gegründet:2 Indem es etwas Anderes bezeichnet, repräsentiert
sich das bezeichnende Zeichen selbst; jede Beziehung des Zeichens zu Anderem
ist zugleich seine Selbstmanifestierung. Das Zeichen affiziert sozusagen nicht
das Bezeichnete, seine Durchsichtigkeit als „vertikales“ Selbstbewusstsein oder
Selbstwissen macht das Bezeichnete als solches zugänglich.3 Mit dem Aufkommen
der Romantik werde mit der Transparenz und Arbitrarität gebrochen. Foucault
verurteilt die „nachklassische“ Verdunkelung des Repräsentationsmodells durch
Historisierung oder Materialisierung der Zeichensynthesis, die das transparente
Selbstwissen des Zeichens ersetzt durch den geschichtlich determinierten, sich
seiner selbst nur intransparent bewussten „Menschen“, die Erfindung dieser Zeit.
Durch „den Tod“ des jene Transparenz zerstörenden menschlichen Subjekts, der
sich in formalisierten Grammatiken der modernen Sprachwissenschaft anmeldet,
die davon abstrahieren, wie die Subjekte mit den Kodes umgehen, wird das Denken
Foucault zufolge wieder möglich gemacht. Durch den Tod des unter dem nicht
kontrollierbaren Einfluss des „Unbewussten“ Erfahrungen machenden Menschen
- welches in sein Wahrnehmen und Verstehen unabtrennbar eintritt -, wird das
transparente subjektlose Denken des „âge classique“ erneuert.
Nach Frank reduziert Foucault auf diese Weise den „Diskurs“ auf langue: „Foucault
will das, wovon das Wissen abhängig sein soll, als kodifiziertes System beschreiben,
2 „En fait le signifiant n´a pour tout contenu, toute fonction et toute détermination que ce qu´il représente: il lui
est entièrement ordonné et transparent: mais ce contenu n´est indiqué que dans une représentation qui se donne
comme telle, et le signifié se loge sans résidu ni opacité à l’ intérieur de la représentation du signe.“ (Foucault, 1966,
S. 78) „Das Bezeichnende hat keinen anderen Gehalt, keine andere Funktion und keine andere Bestimmung als das,
was es repräsentiert: dem ist es ganz zugeordnet und für das ist es ganz transparent; dieser Gehalt zeigt sich jedoch
nur in derjenigen Repräsentation, die als solche gegeben wird, und das Bezeichnete situiert sich restlos und ohne
Undurchsichtigkeit in der Repräsentation des Zeichens.“ (Übersetzung vom Verf., M.R.)
3 MC 79: „Une idée peut être signe d´une autre non seulement parce qu´ entre elles peut s´établir un lien de
représentation, mais parce que cette représentation peut toujours se représenter à l´interieur de l´idée qui représente.
Ou encore parce que, en son essence propre, la représentation est toujours perpendiculeur à elle-même: elle est
à la fois indication et apparaître; rapport à un objet et manifestation de soi.“ (Foucault, 1966, S. 79) „Eine Idee kann
Zeichen einer anderen nicht nur darum sein, weil zwischen ihnen ein Repräsentationsband gebildet werden kann,
sondern auch darum, weil sich diese Repräsentation immer innerhalb der Idee repräsentieren kann, die repräsentiert
[die die Repräsentierende ist]. Oder auch deshalb, weil sich die Repräsentation wesentlich immer senkrecht auf sich
selbst richtet. Sie ist zugleich Indikation und Erscheinen, Beziehung zu einem Gegenstand und Selbstmanifestierung.“
(Übersetzung vom Verf., M.R.)
154
dessen Ordnung auf die Durchsichtigkeit gerade dieses Wissens zu überführen ist“
(Frank, 2000, S. 165). Nur als geschlossenes System ist nämlich der Diskurs ein für
sich durchsichtiges, selbstrepräsentierendes Denken.
Für die Auseinandersetzung von Busse und Teubert hinsichtlich des
Gegenstandes und der Methode ihrer linguistischen Epistemologie ist bereits
hier ersichtlich, dass Foucault (ebenso wie sein Lehrer Louis Althusser4) die
Eigenschaften des Subjekts in das System (oder in die „Ordnung des Wissens“)
projiziert. Subjektivität als Eigenschaft des diskursiven Feldes selbst gründet sich auf
den Transparenzbegriff. Die Transparenz ist ein anderes Wort für Repräsentation
(welche Foucault nach Frank synonym mit „Denken“ benutzt, vgl. Frank, 2000,
S. 164). Da langue nur dann transparent sein kann, wenn der Zeichengebrauch nichts Neues bringt, wenn Kodes in ihren Performationen unendlich oft
unverändert auftreten können, wenn Performanz bloß ein „Befolgen von
Imperativen des Systems“ ist (Frank, 2000, S. 165), ist Foucaults Diskurs- und
Subjektbegriff nicht verknüpfbar mit irgendeiner diachronen oder die Parole-Ebene
einbeziehenden (linguistischen) Theorie.
Foucault ist wie Frank der Auffassung, dass Zeichensysteme nicht stabil und nicht
unveränderbar sind. Dieser Tatsache gegenüber ist jedoch Foucault nach Frank
„ratlos“ (Frank, 2000, S. 166). Ein Widerhall dieser Ratlosigkeit überträgt sich
nach unserer Meinung auf die Diskussion zwischen Dietrich Busse und Wolfgang
Teubert. Es kann für Foucault keine Diskurse im Plural geben. Und daran ändert
seine spätere Umstellung der Terminologie nichts, wenn Diskurse auf die jeweilige
„episteme“ zurückgeführt und auf diese Weise pluralisiert werden. (Die Episteme ist
ein unbewusstes historisches Apriori, das die Totalität der Beziehungen konstituiert,
die den Wissensformationen je ihre Einheit verleiht). Und wieder wird nichts daran
geändert, wenn die episteme noch später de facto ihre letzte Verwandlung in den
jede Einheit stiftenden „Willen zur Macht“ erfährt (Foucault, 1971, S. 35-36, vgl.
Frank, 2000, S. 181). Aus diesem Grund nannte J.-P. Sartre Foucaults Methode
Geologie (statt Archäologie; Sartre, 1968, S. 87): Beschreibbare „Diskurse“ stellen
nur eine Pluralität der Totalitäten dar, die miteinander keineswegs zusammenhängen können, und keine Möglichkeit sich zu entwickeln haben.
Foucault gelang nach Frank also dasjenige nicht, was die Tatsache der Unstabilität aller Kodes fordert, nämlich das Repräsentationsmodell zu revidieren: „es /
das Repräsentationsmodell/absentiert bloß periodisch, um wieder auf einmal zu
erscheinen“ (Frank, 2000, S. 166).
4 „[...] la vue est le rapport de réflexion immanent du champ de la problématique sur ses objets et ses problèmes.”
(Althusser, 1968 S. 25 ; vgl. Frank, 2000, S. 100); “L´Ordre, c´est [...] ce qui se donne dans les choses comme leur loi
intérieure, le réseau secret selon lequel elle se regardent en quelque sorte les unes les autres [...]” (Foucault, 1966,
S. 11).
155
Im Anschluss daran stellt Frank diese vorhersehbaren Fragen: Ist Foucaults
Archäologie eine definitive Theorie des Nacheinanders von Diskursen oder ein
eigener Diskurs? Situiert sie sich außerhalb der westlichen Diskurse, oder ist
sie einer neben anderen? Worauf gründet sie ihr Recht, Hermeneutik oder
Historismus zu kritisieren (Frank, 2000, 168)?
Selbst der Psychoanalyse wirft Foucault vor, das Unbewusste in Repräsentation
zu überführen. Das ist ganz im Einklang mit Teuberts Weigerung, das Verstehen
zu theoretisieren – eine solche Theorie wäre einfach ein neuer Diskurs und keine
„Analyse“ oder „archéologie“. Für Foucault ist aber das Unbewusste als Undurchsichtiges etwas, das das Denken (= Repräsentation) ex definitione unmöglich
macht. Tatsächlich wirft Foucault den „Humanwissenschaften“ folgenden Zirkel
in der Argumentation vor: Sie respektieren das Unbewusste hinter dem Subjekt
(Arbeit, Leben, Rede) und geraten somit in Widerspruch mit dem Paradigma der
universalen Selbstrepräsentation des Bewusstseins. Andererseits brauchen sie die
Selbstrepräsentation, die immer eine für das Bewusstsein ist, um sich als Wissenschaften etablieren zu können. Und beides ist nach Foucault nicht vereinbar
(Foucault, 166, S. 373-6; vgl. Frank, 2000, S. 159-160). Franks Bemerkung dazu
ist einfach: Das Determinierende (das Unbewusste, das historisch Transzendentale bei Schlegel oder Herder) der Humanwissenschaften ist diesem Foucaultschen
Einwand ganz auf die gleiche Weise ausgesetzt wie Foucaults „Diskurs“ oder
episteme selbst (die auch nichts anderes sein kann als ein Historisch-Transzendentales). Foucault greift also in den Humanwissenschaften seine eigene „archéologie“
mit an, indem er sie als unmöglich bezeichnet.
Die misslungene Bemühung, das Subjekt zu eliminieren, ist Frank zufolge neben der
damit zusammenhängenden Unfähigkeit, das System unabgeschlossen zu denken,
der Grund, warum die Entwicklung (und Pluralität) der Diskurse in Foucaults
Denken unerklärbar ist:
„Hier sehe ich eine grundsätzliche Schwäche der theoretischen Basis,
auf der Les mots et les choses beruhen. Einerseits muss Foucault auf
der unverfügbaren Diskontinuität der Epochen beharren, weil die
Alternative Kontinuität wäre, d.h. Überdauern des Einen, das in
allen Umwandlungen identisch bleibt. Dieses Einzige wäre letztlich
als Subjekt zu denken. Ein Subjekt der Geschichte in Erwägung zu
ziehen bedeutet aber die Konzeption - die ursprüngliche fundamentale Idee - der Archäologie zu verraten. Foucault gerät auf diese
Weise in einen Widerspruch: Er muss scharf die moderne, d.h.
nachklassische Episteme ablehnen, aber diese Ablehnung muss er
mit den Mitteln des Repräsentationsmodells führen, dessen innere
Folge [...] (unbewusst oder unabsichtlich) das Modell des sich selbst
156
reflektierenden Subjekts der Vorstellungen (représentations) ist.“5
(Frank, 2000, S. 139, meine Übersetzung).
Wir vertreten hier die Ansicht, dass sich Teuberts Annahme einer denkbaren
Unterscheidung zwischen „Analyse“ und „Interpretation“ auf das Foucaultsche
Repräsentationsmodell gründet. Nur dank diesem ist es sinnvoll zu behaupten, dass
eine Analyse keine Herstellung eines neuen Diskurses über einen (Objekt-)Diskurs
ist. Nach Frank, wie wir sahen, lässt aber dieses (Subjekt- und Zeichen-)Modell
keine Erklärung für den Diskurs- oder Sprachwandel zu.
Darüber hinaus sollte von Teubert noch geklärt werden, ob der „virtuelle“
Charakter des Diskurses einerseits und das Repräsentationsmodell mit dem von
ihm eingeführten Analysebegriff andererseits kompatibel sind. Was bedeutet
das Virtuelle bei Busse und Teubert? Ist es als solches zu „analysieren“, oder wird
der zu analysierende Diskurs erst durch einen Akt der „Interpretation“ oder der
„Analyse“ zusammengestellt? Kann etwas Virtuelles determinierend wirken und
Diskurskonstrukte herstellen? Ist die Zusammenstellung ein Aktualisierungsprozess,
der das „Virtuelle“ (= Potentielle) wirklich macht? Nach Frank kann Virtuelles (alle
Systemregeln) nur mit einer irreduziblen und jeden Diskurs durch ihre Spontaneität überschreitenden Subjektivität korreliert werden. Beide Prinzipien treten
in seiner Zeichentheorie auf.
In Foucaults „klassischem“ Zeichen gibt es nichts, was dem Gedanken einen
Widerstand entgegensetzen würde, der sich durch das Zeichen repräsentiert.
Voraussetzung dafür ist eine zeitlose Ordnung. Dagegen ist diejenige Zeichensynthesis aus Signifikat und Signifikant, die durch Zeit vermittelt wird, im strengen
Sinn keine Repräsentation, da sie einfache Präsenz ausschließt (Frank, 2000, S. 130).
„Denn re-präsentieren bedeutet: die vorangehende Präsenz wieder
im Zeichen anwesend machen. Ist jedoch der im Zeichen repräsentierte Gegenstand ein Faktum der geschichtlichen Welt, dann trägt
auch das Zeichen einen Zeitindex, d.h. es zeigt in sich selbst an,
dass spätere Generationen die semiologische Synthesis, die in ihm
realisiert ist, wohl anders verwirklichen werden“ (Frank, 2000,
S. 130).6
5 „Zde vidím zásadní slabinu teoretického základu, na kterém spočívají Les mots et les choses. Na jedné straně musí
Foucault trvat na nevypočitatelné diskontinuitě epoch, protože alternativou by byla kontinuita, tj. přetrvávání jediného,
jež ve všech proměnách v zásadě zůstává totožné. V posledním důsledku by toto jediné bylo nutno myslet jako subjekt.
Ale uvažovat o nějakém subjektu dějin znamená zrazovat koncepci – původní fundamentální ideu – archeologie.
Foucault se tak dostává do rozporu: musí ostře odmítnout moderní, tj. poklasickou epistémé, avšak toto odmítnutí musí
vést prostředky reprezentačního modelu, jehož vnitřním důsledkem [...] je (nevědomky či nezamýšleně) model sebe
sama reflektujícího subjektu představ (répresentations); [...].“
6 „Neboť re-prezentovat znamená: znovu zpřítomňovat předchůdnou přítomnost ve znaku. Je-li však předmět
reprezentovaný znakem faktum dějinného světa, pak i znak nese index časovosti, tj. sám v sobě poukazuje na to,
že sémiologickou syntézu, jež je v něm realizována, budou pozdější generace uskutečňovat možná i jinak.“
(Meine Übersetzung.)
157
Die Zeitlichkeit ist jedoch hinsichtlich dieser ihrer Konsequenz, jede prästabilierte
Zuordnung von Signifikat und Signifikant zu vereiteln, ohne „Virtualität“ undenkbar.
Jede Konvention (Regel) ist nach Frank „bloß virtuell“ (Frank, 2000, S. 390),
und das wirkliche Sprechen setze sie immer außer Kraft. Damit will Frank vor
allem ausdrücken, dass die Regel nicht auf die gleiche Weise wirkt wie eine
natürliche Ursache, also determinierend. Im Anschluss an Derrida erklärt er, dass die
Ko-Präsenz von Sender und Empfänger sowie die Synchronie zwischen concept
und image acoustique unmöglich ist. „Und sobald der Sinn des Zeichens durch
die Lücke der Iteration hindurchgegangen ist, wer ist imstande zu beweisen, dass
er jetzt in der gleichen Synthese mit der Substanz ist wie zuvor?“, fragt Frank mit
Derrida (meine Übersetzung: Frank, 2000, S. 400).
Von Peirce übernimmt Frank nun den Gedanken, dass jedes Urteil, das die Wiederholung eines Zeichens / Ereignisses als die Wiederholung des Gleichen auslegt, ein
erweiterndes Urteil sei (Frank, 2000, S. 424). Dies ist nicht deduktiv, da es an einem
Prinzip mangelt, aus dem die Einheit der durch das Urteil vereinigten Elemente
herzuleiten wäre. Dieses Prinzip ist nur vorläufig, hypothetisch anzunehmen (als
etwas, was nicht durch ein besser begründetes Urteil zu ersetzen ist, vgl. z.B. Frank,
1986, S. 101).
Keine Regel kann also nach Frank die Identität der Bedeutung des Zeichens
gewährleisten, sie sei nur hypothetisch feststellbar, und der Agens dieser Annahme
sei eine individuelle und freie Subjektivität. Hinter dem Sprachwandel steht deshalb
in erster Linie der virtuelle Charakter der Regel, also ihre Eigenschaft, erst durch
eine sie als Regel auslegende Kraft wirksam zu werden. In der Spontaneität und
Unkontrollierbarkeit dieser Kraft, die der Nichtgebundenheit der Regel an
Kausalität entspricht, gründet der nicht vorhersagbare Sprachwandel (Frank, 2000,
S. 392; Frank, 1986, S. 120).
Da das Verstehen nach Frank synthetisch und spontan „verfährt“, lässt sich daraus
ableiten I.), dass eine „Analyse“ durch den Diskursanalytiker undenkbar ist
(es sei denn, er analysiert ex post eigene Synthesen, also keinen transsubjektiven
„Diskurs“), und II.), dass Subjektivität kein Diskurskonstrukt sein kann. Die
entgegengesetzten Annahmen der Diskursanalytiker hängen Frank zufolge
direkt mit dem fehlerhaften Diskursordnungsmodell Foucaults zusammen, das als
zeitloses und geschlossenes System vorgestellt wird.
Für wichtig halten wir, dass Franks Schlichtung der Widersprüche der Diskursanalyse aus deren Immanenz heraus entwickelt wird. Franks negierende Kritik hat den
Charakter eines Nachweises der Präsenz des Verdrängten (oder des „Ausgeschlossenen“): Die konstitutiven Faktoren der Diskursanalyse werden benannt, und eine
hermeneutische Theorie ist das Ergebnis. Aus der Korrektheit seiner Kritik ergibt
sich jedoch nicht, dass auch seine Grundannahmen, die er möglicherweise mit den
meisten Neostrukturalisten und Hermeneutikern teilt, sachgemäß sind. Es lässt
158
sich z.B. das Zeichen nicht allgemein als Gegenstand der Interpretation begreifen,
was nach unserer Meinung am besten aus Franks neuerem Artikel (Frank, 2001)
hervorgeht, ohne aber vom Autor mit genügender Konsequenz reflektiert zu
werden. Das ist aber ein Thema, das größeren Raum fordert.
Schließen wir lieber mit einem Zitat, das aus Franks Unhintergehbarkeit stammt
und das die ethische Bedenklichkeit der Diskursanalyse noch einmal unterstreicht.
Sollte die Wissenschaft nach Foucault, Teubert und Busse emanzipatorisch wirken:
Sind es dann Subjekte als Diskurskonstrukte, die emanzipiert werden können?
„Dass die Produktivkraft der menschlichen Individualität unter dem
Zwang verschmachtet, sich nur als „Fall“ geltend zu machen, der
unter einer Regel begriffen ist, ist gerade nicht der Gesichtspunkt der
jüngsten Modernismuskritik. Aus der Einsicht, dass die Individualitätsvergessenheit der exakten Wissenschaften und der sie ins Werk
setzenden Technik dem idealistischen Subjektivismus nur in letzter
Konsequenz die Treue hält, begründet sie einen Theoretischen
‚Antihumanismus‘. Damit scheint die äußerste Spirale der Entfremdung erreicht. Statt unter dem Korsett einer totalitär gewordenen
„Rationalität“ ein gequältes und verstummtes Subjekt zu gewahren,
gibt sie es endgültig auf “ (Frank, 1986, S. 19).
Abstract
The discourse analysis based on Foucault asserts itself in the linguistic circles in
Germany only with difficulties, that were ascribed by the very exponents Dietrich
Busse and Wolfgang Teubert to the prejudices of the rationalistic and subjectoriented mainstream. Now, after some time, as these main protagonists of the
linguistic adaptation of the thoughts of the French philosopher find themselves
in a sharp mutual controversy in regard to the principles of their own historical
semantics, it comes out that their contemporary dissensions are to be traced back
to some contradictions in Foucault´s discourse and subject theory itself. These
contradictions have been analyzed by Manfred Frank with the conclusion that
they are to be resolved only by a hermeneutic language theory consisting in
the principle of irreducible individual subjectivity. The study, for one thing,
recapitulates these conclusions and, for another, shows that the peripheral branch of the
discourse analysis presented by Busse and Teubert deserves more attention because
it does not hedge while facing up to the central questions of linguistics as well as
the human sciences.
159
Keywords
discourse analysis according to Foucault, hermeneutics, theory of meaning,
Manfred Frank, Wolfgang Teubert
Literaturverzeichnis
Althusser, Louis (1968). Lire le Capital. Bd. I. Paris: Maspero.
Busse, Dietrich / Teubert, Wolfgang (Hg.) (2013). Linguistische Diskursanalyse:
Neue Perspektiven. Wiesbaden: Springer VS.
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In: Busse, Dietrich / Teubert, Wolfgang (Hg.). Linguistische Diskursanalyse: Neue
Perspektiven. Wiesbaden: Springer VS, S. 147-185.
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Frank, Manfred (2000). Co je neostrukturalismus? Praha: Sofis, Pastelka.
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Bildung, Politik. Herausgegeben von der österreichischen Forschungsgemeinschaft,
Band 5: Der Mensch und seine Sprache(n). Wien/Köln/Weimar: Böhlau, S. 109-130.
Keller, Rudi (2000). Sprachwandel. In: BDÜ 2000: Faszination Sprache – Herausforderung Übersetzung. Online verfügbar unter http://www.phil-fak.uni-duesseldorf.de/uploads/media/Sprachwandel.pdf, [30. 06. 2016].
Sartre, Jean-Paul (1968). Jean-Paul Sartre répond (Interview). In: L´ Arc, Nr. 30.
Paris, S. 87-96.
Teubert, Wolfgang (2013). Die Wirklichkeit des Diskurses. In: Busse, Dietrich /
Teubert, Wolfgang (Hg.). Linguistische Diskursanalyse: Neue Perspektiven.
Wiesbaden: Springer VS, S. 55-146.
Dieser Beitrag entstand im Rahmen des von der Philosophischen Fakultät der
Palacký-Universität Olomouc geförderten Projekts ‘Hermeneutische Linguistik’/
’Hermeneutická lingvistika’ (IGA_FF_2016_020).
160
Die Macht der Presse aus der Peripherie.
Der nationalpolitische Diskurs
in der nordböhmischen Presse
Tereza Hrabcová
Annotation
Am Beispiel des Diskurses um die Besetzung des Landesschulrates, die im Rahmen
der Wiener Punktationen von 1890 erfolgen sollte, wird in dem folgenden Beitrag
der potenzielle Einfluss von Zeitungen in der Peripherie auf die Einstellungen des
Lesepublikums exemplifiziert. Unter die Lupe wird dabei der Aussiger Anzeiger
genommen, der sich in erster Linie an das nordböhmische Publikum wendete. Es
wird vor allem die Frage verfolgt, mit welchen sprachlichen Mitteln der Diskurs
im Aussiger Anzeiger geführt wurde, und auf welche Art und Weise somit dieses
Periodikum die Meinungen und daher schließlich auch Handlungen seiner Leser
zu beeinflussen suchte. Der Diskurs um die Besetzung des Landesschulrates ist ein
Teildiskurs des Diskurses um die Wiener Punktationen, wobei Letzterer wiederum
einen Teildiskurs des nationalpolitischen Diskurses in den böhmischen Ländern
des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts darstellt.
Schlüsselwörter
Diskursanalyse, böhmischer Landesschulrat, Aussiger Anzeiger, nationalpolitischer
Diskurs, böhmische Länder
1. Einleitung
Im Jahre 1828 bemerkte der im südmährischen Poppitz [Popice] geborene Schriftsteller Charles Sealsfield1 mit Verachtung, dass „[d]ie einzige Zeitung [in Österreich], welche diesen Namen überhaupt verdient, […] der von Herrn von Pilat,
dem Privatsekretär Metternichs, redigierte ‚Österreichische Beobachter‘ [ist]“
(Sealsfield, 1919, S. 193). Bereits zwanzig Jahre später jedoch, im Revolutionsjahr
1848, avancierte das Medium Zeitung zu einem Massenmedium, das ein immer
breiteres Lesepublikum zu erreichen vermochte, und daher auch die Meinungen,
Einstellungen und somit schließlich Handlungen von immer mehr Menschen
beeinflussen konnte. Seit der Erscheinung der ersten gedruckten Zeitung
1 1793-1864.
161
in Straßburg vergingen also 243 Jahre, bevor dieses Medium breitere Beachtung
fand.2
Der große Aufschwung, den die Zeitung 1848 erlebte, wurde zwar in den nachfolgenden Jahrzehnten noch durch verschiedene Hindernisse eingedämmt,3 aber
dennoch gediehen Zeitungen insofern, als dass sie ihre Erscheinungsfrequenz4
und / oder Auflage erhöhten, oder dass es zu neuen Zeitungsgründungen kam.
Je höher dabei die Auflage einer Zeitung ist, desto mehr Menschen können von den
meinungssteuernden und somit handlungssteuernden Strategien dieser Zeitung
erreicht werden. Die Zeitung wurde nach 1848 zu einem Massenmedium im
wahrsten Sinne des Wortes, und sie spielte die Rolle des dominanten Massenmediums bis tief ins 20. Jahrhundert hinein, da der Rundfunk wegen des finanziellen
Aufwands nur langsam Fuß fasste.5 Hand in Hand mit der immer größeren Verbreitung der Zeitung geht ihr Potenzial zur Einflussnahme auf eine breitere
Öffentlichkeit. Dieses Potenzial scheint nach 1848 umso größer gewesen zu sein,
je mehr Zeitungen auch in kleineren Städten außerhalb der Metropolen ins
Leben gerufen wurden. Regionale Zeitungen dürften für die Bevölkerung der
Peripherie6 zum einen besser zugänglich, zum anderen attraktiver gewesen sein,
da sie nicht zuletzt stärker deren Interessen berücksichtigten, spezifische regionale
Themen zur Sprache brachten sowie Ratschläge oder Ankündigungen im Bereich
der Landwirtschaft veröffentlichten. Überdies rezipierten regionale Zeitungen auch
Konkurrenzblätter aus der Metropole und aus benachbarten Regionen und gaben
ausgewählte, diesen Konkurrenzzeitungen entnommene Inhalte wieder. Die immer
größere Verbreitung von Zeitungen in der Peripherie und deren damit einhergehender potenzieller Einfluss auf das Lesepublikum soll im Folgenden am Diskurs
um die Wiener Punktationen von 1890 exemplifiziert werden, wie er in der
nordböhmischen Zeitung Aussiger Anzeiger zutage trat.
2. Diskursiver Kontext und Textkorpus
Nachdem 1859 die Ära des sogenannten Bachschen Absolutismus7 vorüber
war, das Oktoberdiplom von 1860 jedoch an der bisherigen zentralistischen
Beschaffenheit der Habsburgermonarchie nur wenig änderte, zeigten sich
2 Die erste gedruckte Zeitung erschien 1605 (Nagel, 2008, S. 19 u. 23).
3 Eine Belastung stellte etwa der Zeitungsstempel dar, eine Art Steuer, die aber zugleich ein Mittel der Kontrolle
und Beaufsichtigung war und in Österreich von 1798 bis zum 27. 12. 1899 gültig war (im Deutschen Reich wurde
der Zeitungsstempel schon 1874 aufgehoben). Durch das Pressegesetz von 1862 wurde weder die Kautions- und die
Stempelpflicht, noch die Inseratensteuer abgeschafft (vgl. Zenker, 1900, S. 62).
4 z.B. wurde aus einem Wochenblatt eine zweimal wöchentlich erscheinende Zeitung.
5 Der Rundfunk verbreitete sich ab den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts. z.B. wurde in der südmährischen Stadt
Znaim [Znojmo] die erste Konzession für das Radio im Sommer 1924 erteilt (vgl. Vrbka, 1927, S. 538).
6 Hier im Sinne von ‚Grenzregionen‘, d.h. ‚Randgebiete eines Landes, die sich näher zur Grenze zu dem Nachbarland
befinden, als zu der Hauptstadt bzw. Landeshauptstadt‘
7 Die Bezeichnung geht auf Alexander Freiherr von Bach zurück, der von 1849 bis 1859 österreichischer
Innenminister war.
162
einige um nationale Gleichberechtigung bemühte tschechische Politiker enttäuscht.
František Ladislav Rieger hatte bereits im Juni 1860 „zur Begründung seines Gesuchs
um die Bewilligung einer politischen Zeitung“ (Křen, 1996, S. 119) ein politisches
Programm formuliert, in welchem er insbesondere die Förderung der tschechischen Sprache betont hatte sowie einige Selbstverwaltungskompetenzen im
Rahmen des Habsburgerreichs und die Gleichberechtigung der deutschen und
tschechischen Nation (Hoensch, 1997, S. 351ff.). Die Zeitung, die die Durchsetzung
dieser Forderungen unterstützen sollte, trug den Titel Národní listy [Nationalblätter]8
und sollte laut Rieger der „Förderung der politischen und allgemeinen Bildung“
des tschechischen Volkes dienen, „damit es aus eigener Kraft im Verein der
österreichischen Völker zu innerer konstitutioneller Selbständigkeit gelange“
(Hoensch, 1997, S. 354). Rieger kritisierte zwar die „germanisierenden Tendenzen
des Zentralismus“, hob jedoch explizit die „Notwendigkeit der deutschen Sprache
für die Monarchie“ (Křen, 1996, S. 120) hervor und sah, ähnlich wie František
Palacký, die Zukunft des tschechischen Volkes innerhalb des Habsburgerreiches.
Die Forderung nach einer „inneren konstitutionellen Selbständigkeit“ (Hoensch,
1997, S. 354) zog nach sich die Forderung vieler tschechischer Politiker nach
„eine[r] trialistische[n] Aufteilung der Gesamtmonarchie“ (Opitz, 1983, S. 35).
Die dualistische Aufteilung von 1867 stieß bei ihnen deshalb auf Kritik und wurde
zum Ausgangspunkt für die Bemühungen um einen böhmischen Ausgleich und
eine Neuordnung der staatsrechtlichen Stellung der böhmischen Länder. Die
nachfolgenden Jahrzehnte standen daher im Zeichen von Ausgleichsverhandlungen.
Überraschenderweise haben die tschechischen Politiker aber bereits in den Fundamentalartikeln von 1871 auf den Trialismus verzichtet und den zuvor kritisierten
Dualismus sowie die Dezemberverfassung vom 21. 12. 1867 akzeptiert (vgl. Křen,
2007, S. 95ff.). Das Scheitern der Fundamentalartikel und vor allem die Tatsache,
dass der Kaiser am 30. Oktober 1871 sein Versprechen, sich zum böhmischen
König krönen zu lassen, zurücknahm, empfanden die Tschechen als eine besonders
schmerzliche Enttäuschung (vgl. Křen, 2007, S. 107). Ihre Erbitterung ließ sie alle
weiteren Kompromissvorschläge zurückweisen (vgl. Křen, 1996, S. 154). Eine Gelegenheit zu einem „staatsrechtlichen österreichisch-tschechischen Ausgleich“ (Křen,
2007, S. 107) hat sich aber nie wieder gefunden; in späteren Verhandlungen ging
es höchstens um Versuche eines „tschechisch-deutschen nationalen Ausgleich[s]
in den böhmischen Ländern“ (Křen, 2007, S. 108), so auch in den sogenannten
Wiener Punktationen.
Dieser Ausgleichsversuch fiel in den Anfang der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts: Die Gespräche begannen offiziell am 4. Januar 1890, und schon innerhalb von 15 Tagen fand man einen Konsens in Bezug auf 11 Punkte: Es sollten
unter anderem „gesonderte[.] Sektionen im Landeskulturrat und Landesschulrat“
8 Ins Deutsche wurde der Zeitungstitel auch als „Nationalblatt“ übersetzt (vgl. Hall, 2008, S. 55). Die erste Nummer
der Národní listy erschien zu Beginn des Jahres 1861.
163
geschaffen werden, man verpflichtete sich zum „Aufbau von Minderheitenschulen
bei mehr als 40 andersnationalen Kindern“ sowie etwa zu einer „Neugliederung
der Gerichtssprengel unter nationalen Gesichtspunkten“ (Hoensch, 1997, S. 374).
Da sich jedoch der Meinungsaustausch im Landtag „wegen der jungtschechischen
Opposition“ (Hoensch, 1997, S. 374) in die Länge zog, wurde schließlich kein
Ausgleich erzielt, sondern die Verhandlungen wurden am 1. 4. 1892 „für gescheitert
erklärt“ (Hoensch, 1997, S. 375). Die Brisanz dieses Themas machte es im Aussiger
Anzeiger zu Problem Nummer eins, das immer wieder reflektiert und kommentiert
wurde. Der Aussiger Anzeiger war lediglich eines der zahlreichen Periodika, die
in den böhmischen Ländern – sei es in den Landeshauptstädten oder in anderen
Regionen, inklusive der Grenzregionen – die Meinungen ihrer Leser zu beeinflussen
suchten. Im Jahre 1890 war er dabei die einzige Zeitung, die in der nordböhmischen
Stadt Aussig [Ústí nad Labem] erschien; Konkurrenzzeitungen in deutscher oder
tschechischer Sprache gab es in den umliegenden Städten Nordböhmens, nicht
aber in Aussig selbst. Im Folgenden soll nun der Diskurs um die Besetzung des
Landesschulrates skizziert werden, die in Anlehnung an die Wiener Punktationen
erfolgen sollte. Dabei soll anhand einer Analyse sprachlicher Mittel, mit welchen
der Diskurs geführt wurde, aufgezeigt werden, welche Position der Aussiger
Anzeiger vertrat und seinem Lesepublikum zu vermitteln suchte. Der Diskurs um
die Besetzung des Landesschulrates ist ein Teildiskurs des Diskurses um die Wiener
Punktationen, wobei Letzterer wiederum einen Teildiskurs des nationalpolitischen
Diskurses in den böhmischen Ländern des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts
darstellt.
Das Textkorpus umfasst alle Texte, die im Juli 1890 in der damals zweimal wöchentlich9 erscheinenden Zeitung Aussiger Anzeiger10 veröffentlicht wurden und
entweder direkt die Besetzung des Landesschulrates thematisieren oder andere auf
die Wiener Punktationen und das deutsch-tschechische Zusammenleben bezogenen
Ereignisse reflektieren.
3. Die „Heinrichiade“11
Diese auf die Wahl des Politikers Josef Heinrich12 zum deutschen Vertreter im
9 Mittwochs und samstags.
10 Gegründet 1857; die erste Nummer kam am 18. 8. 1857 heraus.
11 Die Bezeichnung entstammt dem folgenden Artikel: N. N.: Die Folgen der „Heinrichiade.“ In: Aussiger Anzeiger,
23. 7. 1890.
12 Geb. 1837 in Nieder-Georgenthal [Dolní Jiřetín] – gest. 1908 in Oberkrč [Horní Krč]. Zunächst als Lehrer tätig,
gründete 1864 in Prag den ersten Kindergarten im Sinne des Reformpädagogen und Begründers des Kindergartens,
Friedrich Wilhelm August Fröbel. Diesem Kindergarten schloss er später eine deutsche Knaben- und Mädchenschule
an, die er bis 1884 leitete; 1884 löste er sie auf (vgl. URL 1). Über Heinrichs politische Karriere informiert das
Österreichische Biographische Lexikon und Biographische Dokumentation (vgl. URL 1) folgendermaßen: „1873
Reichsratsabg., bald darauf Landtagsabg. Im Reichsrat stets in Opposition zum Min. Auersperg, gehörte er 1873-79
dem Fortschrittsklub an. 1879 zog er sich aus dem polit. Leben zurück, bis zur Gründung der Wirtschaftspartei in
Böhmen, als deren Kandidat er 1885 neuerlich in den Reichsrat gewählt wurde, wo er sich in allen nationalen
Schulfragen den Tschechen anschloß. 1890 kam er, zum Mißfallen der dt. Bevölkerung, in den Landesschulrat.“
164
Landesschulrat bezogene Bezeichnung erschien auf den Seiten des Aussiger
Anzeigers erst rund zwei Wochen, nachdem die Redaktion ihr Lesepublikum mit der
Nachricht von Heinrichs Kandidatur für den Landesschulrat vertraut gemacht
hatte. Der ironisch-kritische Ausdruck Heinrichiade signalisiert Abstand, zusätzlich
zu seiner pejorativen Konnotation scheint ihm aber ebenfalls eine ironischspielerische Bedeutungskomponente inhärent zu sein. Der Ausdruck steht daher
in diesem Beitrag als Überschrift desjenigen Kapitels, in welchem der Diskurs um
die Besetzung des Landesschulrates und insbesondere um die Kandidatur Josef
Heinrichs skizziert wird, weil sich im Aussiger Anzeiger der Diskurs um die
Besetzung des Landesschulrates fast ausschließlich gerade auf die Persönlichkeit
Heinrichs und seine Kandidatur beschränkt; andere Umstände werden kaum
berührt. Der tschechische Kandidat etwa wird in der Zeitung lediglich mit wenigen
Worten erwähnt:
[...] Alt- und Jungtschechen waren auch hierüber [über „die
Kandidatenfrage“] bald einig. Zuerst wurde der von den
Alttschechen vorgeschlagene tschechische Vertreter Dr. Mestecky
über Einspruch der Jungtschechen fallen gelassen – weil er einmal im
Landtage den Minister Gautsch gelobt, und als tschechischer Kandidat
der Advokat Dr. Srb nominirt. Als deutschen Vertreter brachte
Bürgermeister Dr. Scholz – den bekannten Reichsratsabgeordneten
Heinrich in Vorschlag und der Uebermut der Herren war so groß,
daß sogar die Jungtschechen nicht säumten, diesem Deutschen
ihre Stimmen zu geben, so daß Herr Heinrich mit allen gegen zwei
Stimmen als deutscher Kandidat aufgestellt wurde.13
Diese Entscheidung sei „eine Provokazion der Deutschen“14 gewesen, wobei der
Aussiger Anzeiger vermutet, dass sich dessen auch die Prager Stadtverordneten
bewusst waren.
In derselben Nummer wird in Bezug auf eine „Meldung des ‚Prager Tagblatt‘“
betreffs „Aenderung der allgemeinen Landtags-Wahlordnung“ konstatiert, dass
„[d]er richtige Geist des Ausgleiches, der die Deutschen eher gewinnen als ihnen
wo möglich etwas abzwacken möchte, [...] die Prager Stadtverordneten jedenfalls
noch nicht überschattet [hat].“15 Der Ausgleich – die sogenannten Wiener Punktationen – wurden also von der Redaktion des Aussiger Anzeigers befürwortet, da sie
als vorteilhaft für die Deutschen erachtet wurden, und das Handeln der politischen
Vertreter der Tschechen, die weniger Begeisterung für den Ausgleich bekundeten,
13 N. N.: Tschechische Herausforderung. In: Aussiger Anzeiger, 9. 7. 1890.
14 N. N.: Tschechische Herausforderung. In: Aussiger Anzeiger, 9. 7. 1890.
15 N. N.: Zum „Ausgleich“ in Böhmen. In: Aussiger Anzeiger, 9. 7. 1890.
165
wurde kritisch dargestellt.16 Aus dieser diskursiven Position heraus kommentierte
der Aussiger Anzeiger das Geschehen rund um die Schaffung und Besetzung der
gesonderten Sektionen im Landesschulrat, welche in Anlehnung an die Wiener
Punktationen unternommen werden sollten. Bereits der ironisch-kritische Titel des
Leitartikels vom 9. Juli 1890 verrät, dass die Entscheidung der Prager Stadtverordneten mit großer Anteilnahme und somit auch Emotionen verfolgt und präsentiert
wurde: Mit dem Titel „Der Fibel-Heinrich als Muster-Deutscher“ spielte der
Aussiger Anzeiger auf die Lesebücher (Fibeln) an, die Heinrich verfasst hatte und die
an den Schulen der Habsburgermonarchie bis ins 20. Jahrhundert hinein verwendet
wurden.17 Die ironische Bezeichnung Fibel-Heinrich fand im Aussiger Anzeiger
in dem Diskurs um die Besetzung des Landesschulrates auch später wiederholt
Verwendung, z. T. mit uneinheitlicher Schreibweise: Fibelheinrich oder FibelHeinrich. In den folgenden Teilkapiteln werden diejenigen Artikel erörtert und
zitiert, die den Diskurs um die Besetzung des Landesschulrates besonders treffend
repräsentieren und daher zum detaillierteren Verständnis der diskursiven Position
des Aussiger Anzeigers beitragen können.
3.1. „Der Fibel-Heinrich als Muster-Deutscher“18
Der Leitartikel eröffnet mit den Worten: „Der tschechische Stadtrat von Prag
hat stets gewußt, sich als Stadtrat des ‚goldenen slavischen Prag‘ zu fühlen.“19
Dass dem Attribut goldene[s] slavische[s] [Prag] kritische Ironie zugrunde liegt,
die den vermeintlich slawischen Charakter Prags in Frage stellt, könnten zum
einen die Anführungszeichen signalisieren,20 zum anderen wird das aus dem
nachfolgenden Satz ersichtlich: „Er [der tschechische Stadtrat von Prag] thut, als
ob in Prag nicht auch 40.000 Deutsche wohnen würden, die den größten Theil der
Steuern tragen.“21 Die Zeitung postuliert somit erstens, dass in Prag eine erhebliche
Anzahl Deutscher lebte und die Stadt daher zumindest als eine binationale
wahrgenommen werden sollte. Unklar bleibt dabei, ob das Substantiv Deutsche
auf Menschen verweist, deren Mutter- und / oder Umgangssprache22 Deutsch
16 Kritisiert wurde in erster Linie das Vorgehen der jungtschechischen Politiker; da sich jedoch laut Aussiger Anzeiger
zunehmend gezeigt habe, dass „sich die Alttschechen bei jeder Gelegenheit von den Jungtschechen ins Schlepptau
nehmen lassen“ (N. N.: Zum „Ausgleich“ in Böhmen. In: Aussiger Anzeiger, 9. 7. 1890), wurde immer häufiger auch das
Vorgehen der Alttschechen kritisch quittiert.
17 Z.B. Jos. Heinrich’s Schreib-Lese-Fibel, herausgegeben 1869 vom Deutschen pädagogischen Verein in Prag. Heinrichs
Lese- und Lehrbücher für den Sprachunterricht erfuhren auch nach seinem Tode Neuauflagen (z.B. im Falle von
Jos. Heinrichs Schreib-Lese-Fibel für die österreichischen allgemeinen Volksschulen von 1904 handelte es sich bereits
um die „50., nach der neuen Rechtschreibung umgearbeitete Auflage“).
18 N. N.: Der Fibel-Heinrich als Muster-Deutscher. In: Aussiger Anzeiger, 9. 7. 1890.
19 N. N.: Der Fibel-Heinrich als Muster-Deutscher. In: Aussiger Anzeiger, 9. 7. 1890. Die bibliographischen Angaben
bei Zitaten aus Zeitungen erfolgen der Übersichtlichkeit halber nicht als Kurzbelege im Text, sondern als vollständige
Angaben in den Fußnoten.
20 Die Anführungszeichen könnten jedoch auch lediglich deshalb eingefügt worden sein, weil der Ausdruck
möglicherweise der Zeitung Fremdenblatt entnommen wurde (vgl. N. N.: Tschechische Herausforderung. In: Aussiger
Anzeiger, 9. 7. 1890).
21 N. N.: Der Fibel-Heinrich als Muster-Deutscher. In: Aussiger Anzeiger, 9. 7. 1890.
22 ‚Die Sprache des alltäglichen, gewöhnlichen Umgangs.‘
166
war, oder aber auf solche, die sich zusätzlich zum Gebrauch der deutschen
Sprache auch als ‚Angehörige der deutschen Nationalität‘ identifizierten. Sollte die
Bezeichnung Deutsche im letztgenannten Sinne verwendet worden sein, so muss
beachtet werden, dass bei der Volkszählung nur die Umgangssprache erhoben
wurde,23 nicht aber die Nationalität (also nationale Selbstidentifizierung). Ob ein
Gleichheitszeichen zwischen Umgangssprache und Nationalität gesetzt werden
kann, ist dabei fraglich, zumal die Volkszählung in den böhmischen Ländern
Ende des 19. Jahrhunderts von massiver nationalistischer Propaganda in deutschsowie in tschechischsprachigen Zeitungen begleitet wurde. Diese Propaganda hatte
zum Ziel, möglichst viele Menschen dazu zu bewegen, sich bei der Volkszählung
zu der vom jeweiligen Produzenten gewünschten Umgangssprache zu bekennen,
damit die jeweilige Sprachgruppe bzw. nationale Gruppe als die zahlenmäßig
größere erscheint.24 Die Angaben zur nationalen Zusammensetzung der
Bevölkerung in den böhmischen Ländern sind daher zwangsläufig unzuverlässig.
Zweitens wird mit der oben zitierten Aussage die Überzeugung zum Ausdruck
gebracht, die Gelder zur Finanzierung diverser Einrichtungen würden in erster
Linie von deutschen Steuerzahlern stammen, nicht von tschechischen. Dieses
Argument verdient aus dem Grunde Erwähnung, weil es in der böhmischen sowie
mährischen Presse nicht vereinzelt erscheint: Das deutschliberale Znaimer Sonntagsblatt aus der südmährischen Stadt Znaim [Znojmo] etwa formulierte 1902,
also zwölf Jahre später, die Überzeugung, dass die Steuern „zum weitaus größeren
Teile von den steuerkräftigeren Deutschen aufgebracht werden“.25 Demgegenüber
war die tschechischsprachige Zeitung Jihlavské listy [Iglauer Blätter] bereits 1896
der Meinung, dass es die Tschechen waren, die höhere Steuern als die Deutschen
zahlten.26 Dem Aussiger Anzeiger zufolge würden außerdem „mit den deutschen
Steuergeldern tschechischnazionale Instituzionen so freigebig unterstützt [...], als
hätte die ‚slavische Stadt Prag‘ so viel Baarvermögen, als sie Schulden hat.“27
Ein weiterer Streitpunkt, der sodann genannt wird, sind „[d]ie Prager deutschen
Schulen“. Diese seien „die Stiefkinder der Stadt, was geschehen kann, um sie zu
Grunde zu richten, das geschieht.“28 Dieses „grausamen Spieles“ sei es noch nicht
genug, und auf die skizzierten „Leiden der Deutschen“ hätten die Tschechen „auch
noch Spott und Hohn [ge]häuf[t]“, indem sie zur Wahl in den Landesschulrat
23 Zum ersten Mal bei der Volkszählung von 1880 (vgl. Teibenbacher et. al. in URL 2).
24 Beispielsweise tritt dies am Diskurs zur Volkszählung von 1890 im Aussiger Anzeiger und in der tschechischsprachigen
Zeitung Česká stráž sehr deutlich zutage. Menschen, die sowohl in deutscher als auch in tschechischer Sprache Umgang
pflegten und sich bei der Volkszählung vom 31. Dezember 1890 zur Umgangssprache des „nationalen Gegners“
bekannten, wurden von nationalistisch gesinnten Redakteuren auf den Zeitungsseiten harsch kritisiert, und in einigen
Fällen wurden sogar Maßnahmen eines wirtschaftlichen Boykotts in die Wege geleitet. Vgl. z.B. N. N.: Episteln eines
Volkszählungs-Kommissärs II. In: Aussiger Anzeiger, 10. 1. 1891, N. N.: Echte tschechische „Patrioten“ in unserem Bezirke.
In: Aussiger Anzeiger, 14. 1. 1891, N. N.: Von der Trebnitzer Sprachgrenze. In: Aussiger Anzeiger, 17. 1. 1891 u. a. m.
25 N. N.: Tschechisierungsgefahr auf wirtschaftlichem Gebiete. In: Znaimer Sonntagsblatt, 30. 11. 1902.
26 Vgl. z.B. N. N.: Jihlaváci chtějí německou universitu! In: Jihlavské listy, 11. 1. 1896.
27 N. N.: Der Fibel-Heinrich als Muster-Deutscher. In: Aussiger Anzeiger, 9. 7. 1890.
28 N. N.: Der Fibel-Heinrich als Muster-Deutscher. In: Aussiger Anzeiger, 9. 7. 1890.
167
als deutschen Vertreter Josef Heinrich entsendeten. Die „ehrsamen Stadtväter,
Alt- und Jungtschechen“ hätten „in gewohnter ‚Objektivität‘ beschlossen [...] für die
am Mittwoch stattfindende Wahl als deutschen Vertreter den bekannten Abgeord.
Josef Heinrich – den Fibelheinrich zu entsenden.“29 Die Einschätzung des Aussiger
Anzeigers zu dieser Entscheidung wird im nächsten Satz wie folgt spezifiziert:
Es liegt in diesem Beschluße eine solche Unverfrorenheit, eine
derartige Herausforderung, ein derartiger empörender Mißbrauch
der Majorität, der einem Deutschen, der doch für politischen
Anstand noch Sinn hat, die Sprache versagt. Wer kennt nicht den Namen
Josef Heinrich, bei dessen Nennung jeder echte, nazionalfühlende
Deutsche sich mit Verachtung abwendet.30
Die Häufung von Satzgliedern in dem ersten Satz, welche aus negativ konnotierten
Ausdrücken besteht und einer Klimax nahe kommt (wobei aber der progressive
Charakter dieser Aufzählung diskutabel ist), signalisiert intensive Emotionen. Die
Erklärung, warum sich von Josef Heinrich „jeder echte, nazionalfühlende Deutsche
[...] mit Verachtung abwende[n]“ müsste, gestaltet sich nicht minder kritisch,
diesmal aber, im Gegensatz zu den zuletzt zitierten Zeilen, mit Ironie: Heinrich
habe „sich seinerzeit der ‚jungdeutschen‘ Partei, also der nazionalen Richtung
angeschlossen“, dann aber „plötzlich tschechische Bruderschmerzen“ bekommen
und sich zugunsten „d[er] armen Tschechen“ engagiert. „Die Entdeckung seines
tschechischen Herzens kostete ihm [sic!] das deutsche Mandat, aber dafür wurde er
der Liebling der Tschechen. Immer mehr und mehr vertschechte sich der gute Mann
[…]“.31 Die Zeitung schlussfolgert, dass er gerade deshalb „als großer Versöhnungskandidat bei den letzten Reichsrathswahlen im Bezirke Leitomischl [Litomyšl]
aufgestellt [ward]“. Dem „Abtrümmling [sic!] und tschechischen Konvertiten“ sei
es daraufhin gelungen, „[m]it Hilfe der tschechischen und einer Anzahl verrätherischer deutscher Stimmen [...] den Deutschen den Wahlbezirk zu entreißen“.32
Der Aussiger Anzeiger interpretiert die Aufstellung Heinrichs als deutschen Kandidaten für den Landesschulrat als Protest gegen den Ausgleich und zugleich als
„Schmach“, die die Tschechen den Deutschen zufügen wollten, um ihnen zu zeigen:
„seht, das ist einer von Euch!“33 Die tschechischen Stadträte hätten sich für Josef
Heinrich deshalb entschieden, „weil sie wissen, dass er [Josef Heinrich] keiner [kein
Deutscher] ist, denn sie wollen keinen Deutschen“.34 Abschließend fragt sich das
Blatt, ob „der Mensch auch die Stirne haben [wird], den Sitz im Landesschulrat
29
30
31
32
33
34
N. N.: Der Fibel-Heinrich als Muster-Deutscher. In: Aussiger Anzeiger, 9. 7. 1890.
N. N.: Der Fibel-Heinrich als Muster-Deutscher. In: Aussiger Anzeiger, 9. 7. 1890.
N. N.: Der Fibel-Heinrich als Muster-Deutscher. In: Aussiger Anzeiger, 9. 7. 1890.
N. N.: Der Fibel-Heinrich als Muster-Deutscher. In: Aussiger Anzeiger, 9. 7. 1890.
N. N.: Der Fibel-Heinrich als Muster-Deutscher. In: Aussiger Anzeiger, 9. 7. 1890.
N. N.: Der Fibel-Heinrich als Muster-Deutscher. In: Aussiger Anzeiger, 9. 7. 1890.
168
einzunehmen“, und versichert, dass sich die „Deutschen in ganz Böhmen [...]
diese [unerhörte Herausforderung] jedenfalls nicht gefallen lassen werden. Die
Unverschämtheit geht zu weit!“35
3.2. „Tschechische Herausforderung“36
Die Einstellung der Prager Stadtverordneten zum Ausgleich wird ebenfalls in
dem zweiten Artikel auf der Titelseite dieser Zeitungsausgabe thematisiert. Der
Beschluss, Josef Heinrich als deutschen Kandidaten aufzustellen, lasse „erkennen,
daß der Ausgleich, trotzdem er, wie bekannt, durchgeführt werden muß, selbst
in Prag, wo man den jungtschechischen Einfluß noch nicht dominirend glaubte,
auf keinerlei Sympathien zu rechnen hat“.37 Auch die ironische Feststellung, „die
Beratung über die Wahl“ sei „in solch‘ würdiger, ausgleichs-freundlicher Weise
eingeleitet worden“,38 signalisiert, dass die Prager Stadtverwaltung gerade nicht
ausgleichsfreundlich gestimmt war. Der Aussiger Anzeiger fährt mit Zitaten aus
anderen Zeitungen fort und sucht so Unterstützung für seine eigene Haltung.
In den Zitaten werden zum Teil dieselben Ausdrücke verwendet und dieselben
Argumente angeführt, denen die Leser bereits in dem Leitartikel „Der Fibel-Heinrich
als Muster-Deutscher“39 begegneten, was die Vermutung nahe legt, dass der
Verfasser des Leitartikels gerade in den zitierten Zeitungen Inspiration fand.
Das „Fremdenblatt“ schreibt: „Der Protest des Prager Stadtrates
[...] soll offenbar den [...] Beweis liefern, daß seine Mitglieder von
Ausgleich und Versöhnung nichts wissen und nur die Fikzion des
goldenen slavischen Prag standhaft festhalten wollen.40
Außerdem habe diese Zeitung die Kandidatur Heinrichs als „die wirksamste
Ausgleichsbosheit“41 bezeichnet.
Des Weiteren werden die Neue Freie Presse und die Deutsche Zeitung zitiert. Letztere
habe die Kandidatur als „ein Meisterstückchen tschechischer Herausforderung“
bezeichnet und den Kandidaten Josef Heinrich als einen „bekannten Abtrünnling“:42
„[...] Nicht genug, daß der tschechische Stadtrat von Prag die Deutschen
so gerne als ‚nicht vorhanden‘ betrachtet, daß er keinen Kreuzer für
deren Institute und Einrichtungen hat, daß er alles thut, um das Prager
deutsche Schulwesen niederzudrücken, es ist mit der Vernachlässigung
35
36
37
38
39
40
41
42
N. N.: Der Fibel-Heinrich als Muster-Deutscher. In: Aussiger Anzeiger, 9. 7. 1890.
N. N.: Tschechische Herausforderung. In: Aussiger Anzeiger, 9. 7. 1890.
N. N.: Tschechische Herausforderung. In: Aussiger Anzeiger, 9. 7. 1890.
N. N.: Tschechische Herausforderung. In: Aussiger Anzeiger, 9. 7. 1890.
N. N.: Der Fibel-Heinrich als Muster-Deutscher. In: Aussiger Anzeiger, 9. 7. 1890.
N. N.: Tschechische Herausforderung. In: Aussiger Anzeiger, 9. 7. 1890.
N. N.: Tschechische Herausforderung. In: Aussiger Anzeiger, 9. 7. 1890.
N. N.: Tschechische Herausforderung. In: Aussiger Anzeiger, 9. 7. 1890.
169
nicht genug, es muß auch für Hohn und Spott gesorgt werden. [...] Es
mußte zu einer empörenden Herausforderung des Deutschtums in
ganz Böhmen geschritten werden, es mußte ein Heinrich vorgeschlagen
werden, der Mann, der den Deutschen einen Wahlbezirk entriß, der sich
offen auf die Seite der nazionalen Gegner stellt, mit dem kein Deutscher
verkehren und beisammen sitzen kann.“43
Die Alttschechen würden – so die Deutsche Zeitung – nur „Versöhnungsgesäusel“
von sich geben sowie „heuchlerische[.] Versicherungen, den Ausgleich ehrlich zu
wollen, und zu wünschen“.44
3.3. „Freche, tschechische Herausforderung“45
Der Leitartikel vom 12. Juli 1890 nahm abermals den Ausdruck tschechische
Herausforderung auf und formulierte die Meinung, „die eigentliche Absicht der
ganzen Heinrich-Posse“ sei gewesen, „den ‚Ausgleich‘ wie von ungefähr von einem
Sockel zu stürzen, damit er in tausend Stücke zerschelle“.46 In ihrer „verlogene[n],
heuchlerische[n] Denkweise“ hätten die „Jung- und Alttschechen im Prager
Stadtverordnetenkollegium“ denjenigen ausgesucht, „welcher den Deutschen
der Unangenehmste von Allen wäre; denjenigen, gegen welchen sie sich auf das
Nachdrücklichste verwahren müßten; eine Persönlichkeit, deren Wahl sie als
einen angethanen Schimpf, als einen Hauptschlag in das Gesicht ansehen müßten.“47
Die bildliche Ausdrucksweise (in tausend Stücke zerschellen, ein angethaner Schimpf,
ein Hauptschlag in das Gesicht), die Verwendung des Superlativs (der Unangenehmste) und Elativs (auf das Nachdrücklichste) sowie des Parallelismus tragen
maßgeblich zur Emotionalisierung der Aussage bei. Dies trifft ebenfalls auf die
Klimax und die negativ konnotierten Ausdrücke im weiteren Text zu:
Es ist gut, es ist vortrefflich, es ist nicht mit Gold zu bezahlen, daß
die Welt einmal bei dieser Gelegenheit unwiderleglich erfährt,
mit welcher Sorte von politischen und nazionalen Gegnern es die
Deutschen in Böhmen zu thun haben [...]. Sie [die „Stadtväter“]
schicken schließlich einen kniffigen Recht-Verdreher, den Dr. Milde,
mit einer albernen Erklärung ins Feld, der von „Beschränkung der
Autonomie“ faselt und auf der wahnsinnigen Theorie herumreitet,
daß Alles in Böhmen nach der Kopfzahl der Stammesangehörigen
getheilt werden müsse, so daß in Prag auf die Deutschen von den
zwei Vertretern im Landesschulrate just nur das Bein oder der Arm
eines Delegirten käme.48
43
44
45
46
47
48
N. N.: Tschechische Herausforderung. In: Aussiger Anzeiger, 9. 7. 1890.
N. N.: Tschechische Herausforderung. In: Aussiger Anzeiger, 9. 7. 1890.
N. N.: Freche, tschechische Herausforderung. In: Aussiger Anzeiger, 12. 7. 1890.
N. N.: Freche, tschechische Herausforderung. In: Aussiger Anzeiger, 12. 7. 1890.
N. N.: Freche, tschechische Herausforderung. In: Aussiger Anzeiger, 12. 7. 1890.
N. N.: Freche, tschechische Herausforderung. In: Aussiger Anzeiger, 12. 7. 1890.
170
Anschließend stellt der Aussiger Anzeiger eine rhetorische Frage in Bezug auf
František Ladislav Rieger, den Vorsitzenden der alttschechischen Partei,49 welche
von den Deutschen zunächst als gemäßigter und den Ausgleichsverhandlungen
geneigter betrachtet wurde (anders als die jungtschechische Partei50): „Und
Rieger [...]? Insbesondere Rieger, der sein Wort für eine anständige Behandlung
der Deutschen gegeben, er hüllte sich daheim in seinen Schlafrock [...] Und mit
solchen Leuten, solchen Jammergestalten von Politikern [...] soll der ‚Ausgleich‘ zu
Stande gebracht werden?“51 Der Artikel schließt mit der wiederholten Versicherung
bzw. Drohung, dass „[d]ie deutsche Antwort auf die freche Herausforderung der
Prager Stadtvertretung [...] nicht ausbleiben [wird]“ und dass mit „der strammen
Unterstützung des ganzen deutschen Volkes in Böhmen“ zu rechnen sei. „Die
deutsche Antwort wird nicht ausbleiben.“52
3.4. „Zur Wahl Heinrich des ‚Deutschen‘ in den Landesschulrat“53
Der Name Rieger erscheint ebenfalls auf der zweiten Seite derselben Nummer:
Rieger habe sein Versprechen nicht eingelöst, dass die Vertreter der Stadt Prag
„einen ‚anständigen‘ Deutschen“ wählen würden. „[D]ie nun erfolgte Wahl“ sei
daher „höchst lehrreich“.54
Man kann den sattsam bekannten Herrn Heinrich einreihen, wohin
man wolle – der deutschen Partei gegenüber ist er die Versinnbildlichung des Verrates und seine Wahl zum Vertreter der Deutschen
Prag’s ist kein Akt des „Anstandes“, wie er unter anständigen
Menschen auch dem politischen Gegner gegenüber gewahrt zu
werden pflegt.55
Die Deutschen sollen dabei „die Thätigkeit des Herrn Heinrich im Landesschulrate
nicht zu fürchten“ brauchen. Seine Wahl beleuchte jedoch „wie ein greller Blitz den
ganzen Abgrund dieser tschechischen ‚Versöhnlichkeit‘ und die Verlogenheit in
der ganzen Stellung der Tschechen der Regierung gegenüber [...] überall Falschheit
und Verlogenheit“.56 Neben der Wiederholung der Ansicht, dass mit der Wahl
Heinrichs den Deutschen ein „empörende[r] Hohn [...] angethan werden sollte“,
kommt somit abermals die Überzeugung zum Ausdruck, dass die Tschechen in
Wirklichkeit keine Versöhnung anstreben. Vielmehr würden sie solche Schritte
veranlassen, die die Regierung lediglich glauben machen sollen, dass sie um
49 Die offizielle Bezeichnung lautete Národní strana [Nationalpartei].
50 Die offizielle Bezeichnung lautete Národní strana svobodomyslná [Freisinnige Nationalpartei].
51 N. N.: Freche, tschechische Herausforderung. In: Aussiger Anzeiger, 12. 7. 1890.
52 N. N.: Freche, tschechische Herausforderung. In: Aussiger Anzeiger, 12. 7. 1890.
53 N. N.: Zur Wahl Heinrich des „Deutschen“ in den Landesschulrat. In: Aussiger Anzeiger, 12. 7. 1890.
54 N. N.: Zur Wahl Heinrich des „Deutschen“ in den Landesschulrat. In: Aussiger Anzeiger, 12. 7. 1890.
55 N. N.: Zur Wahl Heinrich des „Deutschen“ in den Landesschulrat. In: Aussiger Anzeiger, 12. 7. 1890. Hervorhebung
im Original gesperrt.
56 N. N.: Zur Wahl Heinrich des „Deutschen“ in den Landesschulrat. In: Aussiger Anzeiger, 12. 7. 1890.
171
Versöhnung bemüht sind. Die diesbezüglichen Zweifel des Verfassers treten
nicht zuletzt in der ironischen, Distanz erzeugenden Bezeichnung die Herren
Tschechen zutage, die in dem Artikel wiederholt vorkommt und in der die
vorangestellte Apposition Herren eine pejorative Konnotation erzeugt (ähnlich
auch in dem Ausdruck jene Herren Alttschechen). Eine vergleichbar ironischpejorative Konnotation kennzeichnet ebenfalls den wiederholt verwendeten
Ausdruck Herr Heinrich.
Dass die politischen Vertreter der Tschechen in Wirklichkeit keinen Ausgleich
anstreben würden, geht ebenfalls aus weiteren, nicht unbedingt auf die Wahl Josef
Heinrichs bezogenen Artikeln hervor. So sucht in derselben Nummer etwa der
Artikel „Der Feldzug der Jungtschechen gegen den Ausgleich“ diese Sichtweise
durch die Erwähnung der „zweistündige[n] Rede“ des jungtschechischen Politikers
Grégr zu unterstützen. Diese Rede Grégrs habe mit den Worten geschlossen: „Fort
mit dem Wiener Ausgleich!“57
4. Fazit
Die auf Heinrichs Wahl in den Landesschulrat bezogenen Artikel wiederholen zum
Teil dieselben Argumentations- und Darstellungsmuster, wobei kaum Begründungen der ablehnenden Haltung gegenüber Josef Heinrich angeführt werden.
Andeutungsweise finden sich Letztere etwa in dem Leitartikel „Der Fibel-Heinrich
als Muster-Deutscher“, jedoch auch da werden zum Teil nur vage Formulierungen gewählt, die in erster Linie Emotionen vermitteln (bekam plötzlich tschechische Bruderschmerzen, die Entdeckung seines tschechischen Herzens). Zu solchen
semantisch vagen Ausdrücken zählt auch der damals bereits allgemein gebräuchliche
Neologismus sich vertschechen,58 dessen negative Konnotation im gegebenen
Zusammenhang unverkennbar ist, seine Denotation geht jedoch weder aus
dem Kontext eindeutig hervor, noch wird sie explizit festgelegt. Als eine weitere
Begründung der ablehnenden Haltung Josef Heinrich gegenüber wird in dem
Leitartikel erwähnt, dass sich Heinrich „auf das Dichten [verlegte] [...] und begeistert
die Tschechen [besang]: O Hußgeschlecht! / Du bist im Recht!“59 Die Quelle, der
Kontext oder die Gelegenheit, anlässlich der die Verse entstanden waren, werden
aber nicht genannt. Eine weitere, wiederum in erster Linie emotionalisierende
Begründung der „gerechte[n] Entrüstung der Deutschen“60 über die Wahl
Heinrichs in den Landesschulrat bietet der Leitartikel vom 16. Juli 1890:
Oft wol fragte sich schon so Mancher, wie denn ein Mensch überhaupt
so schmählich handeln, wie man so offenen Verrat am eigenen
57 N. N.: Der Feldzug der Jungtschechen gegen den Ausgleich. In: Aussiger Anzeiger, 12. 7. 1890.
58 „Immer mehr und mehr vertschechte sich der gute Mann […]“ (N. N.: Der Fibel-Heinrich als Muster-Deutscher.
In: Aussiger Anzeiger, 9. 7. 1890).
59 N. N.: Der Fibel-Heinrich als Muster-Deutscher. In: Aussiger Anzeiger, 9. 7. 1890.
60 N. N.: Der Fibel-Ehrenmann Josef Heinrich. In: Aussiger Anzeiger, 16. 7. 1890.
172
Volke üben könne, so wie es Josef Heinrich gethan. Jetzt hat
der große Mann das psychologische Räthsel gelöst. Das hat er
von seinem Großvater,61 da kann er nichts dafür. Heinrich’s Vater
heiratete die Tochter eines Tschechen und daher ist Heinrich mit
Tschechomanie erblich62 belastet. [...] Dieser Großvater ist Schuld
[...] an den vielen Heinrich’schen Aufsätzen in der „Politik“ gegen die
Deutschen, dieser Großvater ist Schuld an der berühmten Ode an
das Huß-Geschlecht und den übrigen Dichtungen Heinrich’s.63
Das Pauschalurteil [Aufsätze] gegen die Deutschen wird dabei nicht weiter
spezifiziert, so dass damit dem Lesepublikum lediglich die negative Wertung dieser
Aufsätze vermittelt wird, nicht deren tatsächlicher Inhalt. Ob der Verfasser davon
ausgegangen ist, dass dem Lesepublikum der Inhalt dieser Aufsätze bekannt
war, kann kaum mehr mit Sicherheit ermittelt werden. Ebenso unklar ist, ob der
Verfasser angenommen hat, dass allen Lesern (oder zumindest der Mehrheit) die
Ode an das Huß-Geschlecht und d[ie] übrigen Dichtungen Heinrich’s bekannt waren.
Bis auf zwei Verse, die vom Aussiger Anzeiger Josef Heinrich zugeschrieben und in
dem Leitartikel vom 9. Juli angeführt werden, erscheinen auf den Zeitungsseiten
keine weiteren Beispiele.
Unter den häufig vorkommenden Argumenten zur Unterstützung der ablehnenden
Haltung zur Wahl Heinrichs in den Landesschulrat fallen insbesondere verschieden
formulierte Behauptungen auf, die Prager Stadtverwaltung sowie die politische
Repräsentanz der Tschechen würden dem Ausgleich ablehnend gegenüber stehen
und die Absicht, einen Ausgleich zu erzielen, lediglich vortäuschen. Besonders
häufig erscheint in dem Diskurs ebenfalls die Überzeugung, die Wahl Heinrichs in
den Landesschulrat sei eine bewusste Provokazion der Deutschen, eine [unerhörte]
bzw. [freche] Herausforderung, ein Verrat, Spott, Hohn bzw. eine Schmach, die den
Deutschen der böhmischen Länder angetan werden sollten. In der Zeitung werden
zahlreiche, teilweise sich wiederholende emotionalisierende Stilmittel und negativ
wertende Ausdrücke verwendet, die vor allem zwei Ziele verfolgt haben dürften:
Zum einen drückte sich in ihnen der Unmut der Redakteure über die Besetzung
des Landesschulrates aus, zum anderen sollten die Leser die emotiv vermittelten
Botschaften internalisieren. Inwiefern die „sprachliche Konstruktion der
Wirklichkeit“ (Niehr, 2014, S. 48) im Aussiger Anzeiger bei dem Lesepublikum
Anklang fand und inwiefern die in der Zeitung vermittelten Inhalte von den Lesern
internalisiert wurden, ist schwer zu ermitteln. Diesbezügliche Hinweise könnten in
den Ereignissen sowie in dem Diskurs der späteren Monate gesucht werden.
Ein solches wichtiges Ereignis stellte etwa die Volkszählung dar, die in der
Habsburgermonarchie am letzten Dezembertag 1890 stattfinden sollte.
61 Hervorhebung im Original gesperrt.
62 Hervorhebung im Original gesperrt.
63 N. N.: Der Fibel-Ehrenmann Josef Heinrich. In: Aussiger Anzeiger, 16. 7. 1890.
173
Der Aussiger Anzeiger schrieb im Nachhinein von einem „Krieg auf dem
Zählbogen“64:
Die leichtblütigen Fanatiker unter den Tschechen hatten sich nämlich
große Hoffnungen gemacht, daß die seit den letzten zehn Jahren mit
ganz besonderem Nachdruck betriebene Wühlarbeit im deutschen
Gebiete Böhmens bei der Volkszählung durch glänzende, alle
Erwartung übersteigende, dem Tschechentum günstige Ergebnisse
offen zu Tage treten werde. Es ist aber ganz anders gekommen! Nach
den allerdings noch nicht abgeschlossenen Zählungsergebnissen
weist das Tschechentum im deutschen Sprachgebiete einen hier und
da erheblichen Rückgang auf. […] Zehn Jahre der eifrigsten Arbeit
unter den fördersamsten Umständen, die ganz außerordentlichen
Anstrengungen im letzten Jahre vor der Volkszählung – und bisher
wenigstens noch kein ausgesprochener Sieg!65
Auch in dem Artikel „Volkszählung in Kolloletsch“ äußert der Verfasser im
Zusammenhang mit einem Angriff auf „die deutschen Zählungskommissär“ in
Kolloletsch [Kololeč] bei Lobositz [Lovosice] die Überzeugung, dass „[t]rotz des
tschechischen Terrorismus [...] das Zählungsergebnis für die Deutschen günstiger
als vor zehn Jahren ausfallen [wird]“.66 Genaue Ergebnisse der Volkszählung, die im
Aussiger Anzeiger angeführt werden,67 enthalten jedoch lediglich Gesamtzahlen –
keine Angaben dazu, wie viele Menschen sich zur deutschen und wie viele zur
tschechischen Umgangssprache bekannten, geschweige denn Angaben zur
Nationalität. Letztere wurde bei der Volkszählung auch nicht erhoben, sodass das
Bekenntnis zur Umgangssprache das einzige Signal für die Zuordnung einer Person
zu einer nationalen Gruppe war.
Falls „das Zählungsergebnis [vom Dezember 1890] für die Deutschen“ tatsächlich
„günstiger als vor zehn Jahren [1880]“68 ausgefallen ist, so könnte dies nicht zuletzt
gerade den emotiven und emotionalisierenden Darstellungen und Kommentaren
zur Wahl des deutschen Vertreters in den Landesschulrat zuzuschreiben sein, die
im Juli 1890 im Aussiger Anzeiger veröffentlicht wurden.
Abstract
Following the “Wiener Punktationen” of 1890, the School Council of Bohemia
was supposed to be divided in a German section and a Czech section. Based on
64 N. N.: Der Krieg auf dem Zählbogen. In: Aussiger Anzeiger, 17. 1. 1891.
65 N. N.: Der Krieg auf dem Zählbogen. In: Aussiger Anzeiger, 17. 1. 1891.
66 N. N.: Bei der Volkszählung in Kolloletsch. In: Aussiger Anzeiger, 17. 1. 1891.
67 Vgl. z.B. N. N.: Volkszählungs-Ergebnisse. In: Aussiger Anzeiger, 17. 1. 1891; N. N.: Das Ergebnis der Volkszählung
in Aussig. In: Aussiger Anzeiger, 14. 1. 1891.
68 N. N.: Bei der Volkszählung in Kolloletsch. In: Aussiger Anzeiger, 17. 1. 1891.
174
the analysis of the discourse on the school council candidates and scrutinizing the
North Bohemian newspaper Aussiger Anzeiger, this paper explores and exemplifies
the potential influence of regional newspapers on the attitudes and opinions
of the readers. Particular attention is being paid to the question which language
means had been used by the editors of the Aussiger Anzeiger and thus, in what way
they had tried to influence the views and thus also the actions of the readers. The
discourse on the school council candidates is part of the discourse on the “Wiener
Punktationen”, while the latter itself is part of the national political discourse in the
Bohemian Lands in the 19th and beginning of the 20th century.
Schlüsselwörter
discourse analysis, School Council of Bohemia, Aussiger Anzeiger, national political
discourse, Bohemian Lands
Quellenverzeichnis
Aussiger Anzeiger, 1890-1891
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Rechtschreibung umgearbeitete Auflage. Wien: F. Tempsky.
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Kontinents. Wien: Kunstverlag Anton Schroll & Co.
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den Beziehungen zwischen Deutschen, Tschechen und Slowaken 1848-1989. Essen:
Klartext, S. 85-110.
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URL 2: Teibenbacher, Peter, Kramer, Diether, Göderle, Wolfgang: An Inventory of
Austrian Census Materials, 1857-1910. Final Report. In: Mosaic Working Paper
WP2012-007, Max Planck Institute for Demographic Research: December 2012.
http://www.censusmosaic.org/sites/default/files/downloads/publications/mosaic
WP/MOSAIC-WP-2012-007.pdf [17. 5. 2016].
176
Zentrum und Peripherie in der deutschsprachigen
Literatur im Vergleich mit der tschechischen Literatur.
Korpuserstellung und Korpusanalyse
Zdeňka Vymerová
Annotation
Ich stelle in meinem Vortrag Kriterien der Auswahl meiner deutsch-tschechischen
und tschechisch-deutschen Teilkorpora für die Analyse der deutsch-tschechischen
Wortstellungsunterschiede, einen Kommentar zu meiner Analyse der Dependenzgrammatik und der Thema-Rhema-Gliederung und die Veröffentlichung einiger
Erkenntnisse meiner Forschungsarbeit vor.
Schlüsselwörter
Wortstellung, Syntax, Syntaxvergleich, Analyse, deutsch-tschechische Wortstellungsunterschiede
1. Die Korpuserstellung
Das Thema meiner Dissertation ist „Die deutsche Wortstellung im Vergleich mit
der tschechischen Wortstellung“. Meine Forschungsarbeit spezialisiert sich auf die
Untersuchung der Vielfalt in der deutschen und der tschechischen Wortstellung,
die in der deutschen und der tschechischen Belletristik und deren professionellen
Übersetzungen existiert und noch nicht in der wissenschaftlichen Syntax-Literatur
publiziert wurde. Um festzustellen, ob zwischen der deutschen und der tschechischen
Wortstellung unbekannte Unterschiede vorkommen, erstellte ich mein eigenes
Korpus. Die Kriterien der Auswahl meiner deutsch-tschechischen und tschechisch
-deutschen Teilkorpora beruhen auf den vollkommenen Sprach- und Syntaxkenntnissen ihrer Autoren. Ich wählte für meine wissenschaftliche Arbeit Romane
und Theaterstücke von anerkannten Schriftstellern und professionelle Übersetzungen
von den ausgesuchten Romanen und Theaterstücken aus. Ich erhoffte mir von
meinem Korpus, darin eine überdurchschnittlich blumige Sprache zu finden, die
syntaktisch geschickt gestaltet wurde.
177
1.1. Kriterien für die literarischen Texte in der Originalsprache
- hohes Sprachniveau
- zum Teil nicht alltägliche Syntaxkonstruktionen
- positive Referenzen von Literaturkritikern oder Kollegen (der Fachwelt)
- Beliebtheit bei den Lesern oder bei den Theaterbesuchern
- das Erscheinungsjahr ⁄ das Aufführungsdatum
1.2. Kriterium für die professionellen Übersetzungen
- genaue ⁄ getreue Übersetzung des Originals
2. Übersicht der von mir untersuchten Korpora
2.1. Deutsche Belletristik + tschechische Übersetzungen
Grass, Günter (1959). Die Blechtrommel. Roman. Berlin: Volk und Welt.
Grass, Günter, übersetzt von Vladimír Kafka (2001). Plechový bubínek. Román.
Brno: Atlantis.
Müller, Herta (2009). Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt. Eine Erzählung.
Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag.
Müllerová, Herta, übersetzt von Radka Denemarková (2010). Cestovní pas. Novela.
Praha: Mladá Fronta.
Lenz, Siegfried (1986). Exerzierplatz. Roman. Berlin/Weimar: Aufbau.
Lenz, Siegfried, übersetzt von Anna Siebenscheinová (1989). Cvičiště. Soudobá
světová próza. Praha: Odeon.
2.2. Österreichische Belletristik + tschechische Übersetzungen
Jelinek, Elfriede (2005; zuerst 1983). Die Klavierspielerin. Roman. Reinbek bei
Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag.
Jelinek, Elfriede, übersetzt von Jitka Jílková (2004). Pianistka. Román. Praha:
Lidové noviny.
2.3. Schweizerische Belletristik + tschechische Übersetzungen
Frisch, Max (1998; zuerst 1957). Homo faber. Ein Bericht. Frankfurt am Main:
Suhrkamp.
Frisch, Max, übersetzt von Helena Nebelová (1967). Homo faber. Zpráva. Praha:
Odeon.
178
2.4. Schweizerische und österreichische Theaterstücke +
tschechische Übersetzungen
Frisch, Max (1975; zuerst 1949). Andorra. Stück in zwölf Bildern. Frankfurt am
Main: Suhrkamp.
Frisch, Max, übersetzt von Bohumil Černík (1964). Andorra: hra o dvanácti
obrazech. Praha: Orbis.
Jelinek, Elfriede (1984; Premiere 1979). Theaterstücke. Was geschah, nachdem Nora
ihren Mann verlassen hatte oder Stützen der Gesellschaften. Köln: Prometh.
Jelinek, Elfriede, übersetzt von Jílková Jitka (1994). Co se stalo, když Nora opustila
manžela aneb opory společnosti. Praha: Translation.
2.5. Tschechische Belletristik + deutsche Übersetzungen
Kohout, Pavel (1991; zuerst auf Tschechisch 1982 bei Sixty-Eight Publishers
in Toronto). Nápady svaté Kláry. Román. Praha: Mladá fronta.
Kohout, Pavel, übersetzt von Alexandra Baumrucker (1980). Die Einfälle der heiligen
Klara. Roman. Wien/LaButibamba/Anacapri: Goldmann.
Lhotová, Dagmar (1991). Cesta k Betlému. Brno: Petrov.
Lhotová, Dagmar (1992). Der Weg nach Bethlehem. Brno: Petrov.
Škvorecký, Josef (1982; Bassaxofon; zuerst 1967). Dvě Legendy. Red Music, Legenda
Emöke, Bassaxofon. Toronto: Sixty-Eight Publishers.
Škvorecký, Josef, übersetzt von Andreas Tretner, Marcela Euler und Kristina Kallert
(2005). Das Basssaxophon. Jazz-Geschichten. München: Deutsche Verlags-Anstalt.
2.6. Tschechische Theaterstücke + deutsche Übersetzungen
Kohout, Pavel (1990; zuerst 1967). August August, August. Cirkusové představení
s jednou pauzou. Praha: Dilia.
Kohout, Pavel, übersetzt von Lucie Taubová (1980). Theaterstücke. So eine Liebe;
Reise um die Erde in 80 Tagen; August August, August. Luzern: Hoffmann und
Campe / Editin Reich .
3. Resümee zur Korpuserstellung
Die Zahl der geeigneten Teilkorpora für die Erstellung eines optimalen Korpus für
meine Forschungsarbeit ist gering, weil mehrere Kriterien gleichzeitig erfüllt sein
müssen:
- hohe Sprach- und Syntaxqualität
- genaue Übersetzung des Originals
- Feststellung von unbekannten Wortstellungsunterschieden
179
Die Zahl geeigneter literarischer Texte in der Originalsprache ist höher als die Zahl
geeigneter Übersetzungen: In einigen Übersetzungen fehlen durchgehend viele
Passagen, oder die Übersetzungen wurden ungenau durchgeführt, weil die Aussage
des Satzes und nicht die Wortstellung im Vordergrund stand, wie zum Beispiel im
Werk Homo faber von Max Frisch, übersetzt von Helena Nebelová. Es gibt auch
geeignete Romane und Theaterstücke, die nicht übersetzt wurden.
Die Erstellung eines geeigneten Korpus für meine Forschungsarbeit nahm sehr
viel Zeit in Anspruch. Ich musste für das endgültige Korpus viele Romane und
Theaterstücke überprüfen.
Die meisten Wortstellungsunterschiede zwischen dem Deutschen und dem
Tschechischen, die in der deutschen und der tschechischen Belletristik und deren
professionellen Übersetzungen existieren und die noch nicht in der wissenschaftlichen Syntax-Literatur publiziert wurden, fand ich in folgender Literatur:
Elfriede Jelinek: Die Klavierspielerin (Roman) und dessen Übersetzung Pianistka,
übersetzt von Jílková, Jitka; Kohout, Pavel: Nápady svaté Kláry (Roman) und dessen
Übersetzung Die Einfälle der heiligen Klara, übersetzt von Alexandra Baumrucker;
Lhotová, Dagmar: Cesta k Betlému (Erzählung für Kinder) und deren
Übersetzung Der Weg nach Bethlehem, übersetzt von Lhotová, Dagmar, und in dem
Theaterstück: Kohout, Pavel: August August, August. Cirkusové představení s jednou
pauzou und dessen Übersetzung August August, August übersetzt von Taubová, Lucie.
3.1. Kommentar zu meiner Analyse der Dependenzgrammatik
Ich erstelle für den deutschen und den tschechischen vollständigen Haupt- oder
Nebensatz ein Bäumchendiagramm, dessen Wörter ich in Satzglieder und
Gliedteile einteile: Satzglieder sind für mich Phrasen, die unmittelbar vom Prädikat
abhängen oder sich auf den Satz als Ganzes beziehen (z.B. die Satzadverbien).
Gliedteile sind in meiner Dependenzanalyse Phrasen, die in Satzglieder eingebettet
sind. Die Visualisierung der Satz-Strukturen realisiere ich
a) nach Eroms (2000), der hier zwischen funktional selbständigen und funktional
weniger selbständigen (von einem anderen Wort abhängigen) Wörtern unterscheidet
b) nach der X-Bar-Theorie, deren graphische Darstellungsweise übersichtlich
die Einbettung von mehreren Phrasen innerhalb einer Phrase abstrakt in einer
Baumstruktur (dem sog. X-Bar-Schema) erscheinen lässt.
3.2. Kommentar zu meiner Analyse der Thema-Rhema-Gliederung
Ich stelle die deutsche Thema-Rhema-Gliederung (TRG) graphisch durch das
Diagramm des Satzfeldschemas nach der Duden Grammatik (2009) dar oder durch
das Diagramm des Satzfeldschemas-Äußerungsschemas nach Zeman (2002). Die
abstrakte Struktur der TRG wird graphisch nach der Duden Grammatik (2009)
präsentiert. Die tschechische TRG analysiere ich nach Aleš Svoboda (1989).
180
4. Veröffentlichung einiger Erkenntnisse - Neue
Wortstellungsunterschiede zwischen dem Deutschen und dem
Tschechischen
1)
„Die Mutter steht mit reduziertem Kopfhaar greinend im Wohnzimmer,
in dem ihre Erika oft Privatkonzerte gibt, in denen sie die Allerbeste ist,
weil in diesem Wohnzimmer außer ihr nie jemand Klavier spielt.“ (Jelinek,
2005, S. 12)
Die Mutter steht mit reduziertem Kopfhaar greinend1 im Wohnzimmer, […].
1a) „Matka pobrekává a stojí s prořídlým porostem hlavy v obývacím
pokoji, kde Erika často dává soukromé koncerty, v nichž je ze všech
nejlepší, protože v tomhle obýváku nikdo kromě ní na klavír nehraje.“
(Jelinek, 2004, S. 9)
Matka pobrekává a stojí s prořídlým porostem hlavy v obývacím pokoji, […].
Hier wird die Wortstellung des prädikativen Adjektivs greinend und des Verbs
pobrekává verglichen.
2)
„Das neue Kleid hält die Mutter immer noch in der zitternden
Hand. Wenn sie es verkaufen will, muss sie das bald tun, denn solche
kohlkopfgroßen Mohnblumen trägt man nur ein Jahr und nie wieder.
Der Kopf tut der Mutter dort weh, wo ihr die Haare jetzt fehlen.“
(Jelinek, 2005, S. 12)
i)
Der Kopf tut der Mutter dort weh, […].
ii)
[…], wo ihr die Haare jetzt fehlen.
2a) „Nové šaty matka stále ještě drží v třesoucí se ruce. Jestli je chce
prodat, musí to udělat brzy, protože takové vlčí máky velké jako holá
lebka se nosí jen rok a pak už nikdy. Matku bolí hlava tam, kde jí teď
chybějí vlasy.“ (Jelinek, 2004, S. 9)
i)
Matku bolí hlava tam, […].
ii)
[…], kde jí teď chybějí vlasy.
Im Beispiel 2i) wird die Wortstellung des Substantivs im Dativ der Mutter und des
Substantivs im Akkusativ matku verglichen, und im Beispiel 2ii) wird die Betonung
1 Die Stellung des freien Prädikativs im Satz beeinflusst den Informationsstatus. Vgl. Duden (2009), S. 1120, § 1861.
181
des temporalen Adverbs jetzt aus dem deutschen Original mit dem tschechischen
teď der tschechischen Übersetzung verglichen.
3)
„Sie beschimpft die Mutter als gemeine Kanaille, wobei sie hofft, dass die
Mutter sich gleich mit ihr versöhnen wird.“ (Jelinek, 2005, S. 12)
[…],dass die Mutter sich gleich mit ihr versöhnen wird.
3a) „Nadává matce do sprostých kanálií, přičemž doufá, že se s ní matka
hned udobří.“ (Jelinek, 2004, S. 9)
[…], že se s ní matka hned udobří.
Hier wird die Betonung der Präpositionalphrasen mit ihr und s ní und die Betonung
der temporalen Adverbien gleich und hned verglichen.
4)
„Tikal měl neodbytný pocit, že na povel čekají naopak oni.
Představoval si, co by se stalo, kdyby třída sborově vykřikla Sednout!
Propukli by v smích? Nebo by běželi na policii?“ (Kohout, 1991, S. 11 f)
[…], že na povel čekají naopak oni.
4a) „Tikal wurde das Gefühl nicht los, dass im Gegenteil die beiden
der Aufforderung harrten. Er stellte sich vor, was geschähe, wenn die
Klasse unisono „Setzen!“ riefe. Würden sie in lachen ausbrechen?
Oder zur Polizei laufen?“ (Kohout, 1980, S. 10)
[…], dass im Gegenteil die beiden der Aufforderung harrten.
In diesem Beispiel wird das Personalpronomen in der semantischen Satzfunktion
des pronominalen Subjektes aus dem tschechischen Original oni mit dem deutschen
Numerale in der semantischen Satzfunktion des numeralen Subjekts der deutschen
Übersetzung die beiden verglichen.
5)
„Důvěřivě pohlédla na otce a promluvila dětskou řečí, která nezná konce
a začátky vět.“ (Kohout, 1991, S. 26)
Důvěřivě pohlédla na otce […].
5a) „Sie schaute vertrauensvoll ihren Vater an und begann in der
Kindersprache, deren Sätze keinen Anfang und kein Ende kennen:
[…].“ (Kohout, 1980, S. 27)
Sie schaute vertrauensvoll ihren Vater an […].
Hier wird die Wortstellung der Adverbien důvěřivě und vertrauensvoll verglichen.
6)
182
„Přece ne, kruci, proto, aby tu směl tajně zahlédnout holku, které ještě před
týdnem na potkání nastavoval nohu?? Směšnost takového úmyslu cítil
dokonce sám!“ (Kohout, 1991, S. 144)
[…], aby tu směl tajně zahlédnout holku, […].
6a) „Doch nicht etwa, verdammt, um heimlich ein Mädchen erspähen zu
dürfen, dem er noch vor einer Woche bei jeder Gelegenheit ein Bein
gestellt hatte??“ (Kohout, 1980, S. 171)
[…], um heimlich ein Mädchen erspähen zu dürfen, […].
In diesem Beispiel wird die Wortstellung der Substantive im Akkusativ holku und
ein Mädchen verglichen.
7)
„Uklání se a jako poslední opustí manéž, odváděje dvorně svou ženu
a dceru. Sotva za ním stavěči uctivě zatáhnou červenou oponu a zahájí
horečnou přestavbu, postoupí kupředu Inspektor manéže
s mikrofonem.“ (Kohout, 1990, S. 4.)
[…] postoupí kupředu Inspektor manéže s mikrofonem.
7a) „Er verbeugt sich und verlässt zusammen mit seiner Frau und seiner
Tochter, denen er galant den Arm bietet, die Manege. Sie schließen das
Defilee der Artisten ab. Während die Manegendiener den roten Vorhang
zuziehen und rasch mit dem Umbau beginnen, kommt der Stallmeister mit
dem Mikrophon nach vorn.“ (Kohout, 1980, S. 8)
[…] kommt der Stallmeister mit dem Mikrophon nach vorn.
Hier wird die Wortstellung des tschechischen Adverbs kupředu und des deutschen
Adverbs mit der Präposition nach vorn verglichen.
Abstract
The amount of suitable subcorpora for the creation of optimal corpora for my
activities of research is small, because several criteria have to correspond with each
other at the same time:
- high quality of language and syntax
- exact translation of the original
- discovery of unknown differences in word order.
The amount of suitable literature in the original language is higher than the amount
of suitable translations: In some translations there are constantly missing passages
or the translation was done inaccurately, where the statement of the sentence and
not the word order was in the foreground. Take as an example the book Homo faber
by Max Frisch, translated by Helena Nebelova. There are eligible novels and theater
pieces, too, that weren’t translated. The creation of a suitable corpus for my research
183
took a lot of time. I had to examine lots of novels and theater pieces for my definite
corpus. Most of the word order differences between German and Czech language,
which exist in the professional translations of German and Czech fiction and which
weren’t publishedin the scholarly syntax-literature yet, I found in the following pieces
of literature: Jelinek, Elfriede: Die Klavierspielerin and its translation Pianistka
translated by Jílková, Jitka; Kohout, Pavel: Nápady svaté Kláry and its translation
Die Einfälle der heiligen Klara translated by Baumrucker, Alexandra; Lhotová,
Dagmar: Cesta k Betlému and its translation Der Weg nach Betlehem translated by
Lhotová, Dagmar and in the play Kohout. Pavel: August August, August. Cirkusové
představení s jednou pauzou and in the play August August, August translated by
Taubová, Lucie.
Keywords
word order, syntax, syntax comparison, analysis, German-czech differences in word
order
Ich möchte an dieser Stelle meinen besonderen Dank meinem Doktorvater
doc. PhDr. Jaromír Zeman, CSc. für seine wissenschaftlichen Konsultationen
aussprechen. Seine freundliche Hilfsbereitschaft ermöglichte mir, Wortstellungsunterschiede zwischen dem Deutschen und dem Tschechischen zu finden,
die noch nicht in der wissenschaftlichen Literatur verankert sind.
Quellenverzeichnis
Jelinek, Elfriede (2005). Die Klavierspielerin. Roman. Reinbek bei Hamburg:
Rowohlt Taschenbuch Verlag.
Jelinek, Elfriede (2004). Pianistka. Román. Übers. von Jitka Jílková. Praha: Lidové
noviny.
Kohout, Pavel (1991). Nápady svaté Kláry. Román. Praha: Mladá fronta.
Kohout, Pavel (1980). Die Einfälle der heiligen Klara. Roman. Übers. von Alexandra
Baumrucker Wien/LaButibamba/Anacapri: Goldmann.
Kohout, Pavel (1990). August August, August. Cirkusové představení s jednou
pauzou. Divadelní hra. Praha: Dilia.
Kohout, Pavel (1980). Theaterstücke. So eine Liebe; Reise um die Erde in 80 Tagen;
August August, August. Übers. von Lucie Taubová. Luzern: Hoffmann und Campe
/ Editin Reich.
184
Literaturverzeichnis
DUDEN (2009). Duden. Die Grammatik. Bd. 4. Mannheim/Zürich: Dudenverlag.
Internetquellen
URL 1: Gallmann, Peter. Grundlagen der deutschen Grammatik: Vorlesung/
Satzglieder, Universität Jena, Winter 2016, letzter Zugriff Mai 2016. Online verfügbar
unter:
http://www2.uni-jena.de/philosophie/germsprach/syntax/Dokumente/
Vorlesung/Skript/Skript_G.pdf, S. 11.
URL 2: Gallmann, Peter. Grundlagen der deutschen Grammatik: Seminar/Phrasenstrukturen I, Universität Jena, Winter 2016, letzter Zugriff Mai 2016. Online verfügbar
unter:
http://www2.uni-jena.de/philosophie/germsprach/syntax/Dokumente/
Vorlesung/Skript/Skript_Q.pdf, S. 3.
185
186
Das deutsche Partizip im Zentrum
und an der Peripherie
Gabriela Rykalová
Annotation
Den Untersuchungsgegenstand dieses Beitrags bilden Partizipien in der deutschen
Sprache. Der Begriff ‚Partizip‘ wird in der Form, in der ihn die Lerner in Grammatiken und Schulbüchern als Partizip I (laufend) und Partizip II (gelaufen) kennen
lernen, je nach zugrundeliegender Auffassung als ‚Mittelwort‘, ‚Verb‘, ‚Adjektiv‘,
‚Verbaladjektiv‘, ‚adjektivisches Verb‘ oder ‚verbalbasiertes Adjektiv‘ bezeichnet.
Diese Benennungen spiegeln auf der einen Seite die vielfältigen Eigenschaften
des Partizips wider, auf der anderen Seite führen sie zu zahlreichen Fragen,
denen in dieser Arbeit nachgegangen wird. Da die Verwendungs- und Wortbildungsmöglichkeiten eines Partizips sehr vielfältig sind und da es anscheinend nicht
eindeutig als Wort einer einzigen Wortart einzustufen ist, stellt das deutsche
Partizip einen vielversprechenden Untersuchungsgegenstand dar. Der Beitrag setzt
sich zum Ziel, die Verwendungsmöglichkeiten von Partizipien zu beschreiben,
und zwar auf der Basis analysierter Korpusdaten, die als authentisches Sprachmaterial den tatsächlichen Gebrauch des Partizips in der modernen deutschen Sprache
widerspiegeln.
Schlüsselwörter
Partizip, Korpusdaten, authentisches Sprachmaterial, der tatsächliche Gebrauch
des Partizips
1. Das Partizip
Nach dem Metzler Lexikon Sprache stammt die Bezeichnung Partizip von dem
lateinischen ‚Particeps‘ und bedeutet ‚teilhabend‘:
Partizip n. (lat. Particeps >teilhabend<. In Schulbüchern auch:
Mittelwort. Eng. participle, frz. participe) Infinite Form des Verbs,
deren Bezeichnung darauf zurückzuführen ist, dass das Part.
sowohl an verbalen als auch an nominalen Eigenschaften partizipiert.
Im Dt. wird wie in vielen idg. Spr. unterschieden zwischen Part. I
(Part. Präsens), gebildet mit -(en)d, das einen Verlauf charakterisiert,
z.B. liebend, und Part. II (Part. Perfekt), das ein Resultat
charakterisiert, gebildet von starken Verben mit (ge)- … -en, von
schwachen Verben mit (ge)- … -t, z.B. gesehen, geliebt. […] (Glück,
2010, S. 496)
187
Partizipien, genauer gesagt das Partizip I und das Partizip II, gehören laut dem
Metzler Lexikon Sprache und auch laut deutschen Grammatiken zusammen mit
dem Infinitiv zu den drei infiniten Verbformen des Deutschen, die im Unterschied
zu finiten Verbformen in Hinsicht auf die Person nicht kategorisiert sind. (vgl.
Eisenberg, 1999, S. 100): Infinitiv (weinen), Partizip I (weinend) und Partizip II
(geweint). Die Duden-Grammatik nennt fünf infinite Verbformen: Infinitiv Präsens,
Infinitiv Futur, Infinitiv Perfekt, Partizip Präsens und Partizip Perfekt (vgl. Duden,
1998, S. 114), wobei sie auch zwei Partizip-Formen erwähnt. Wie zu sehen ist,
werden beide Partizipien als Verbformen bezeichnet. Infinite Verben können nicht
konjugiert werden. Sie sind meistens Bestandteile anderer Komplexe. Nicht nur von
Verbalkomplexen, sondern oft auch von Nominalphrasen. (vgl. Engel, 1996, S. 430)
Falls sie in der attributiven Position auftreten oder substantiviert werden, dann
werden sie dekliniert. Laut Grammatiken können also beide Partizipien sowohl
in der attributiven (in einer flektierten Form) als auch in der prädikativen Stellung
(in einer unflektierten Form) gebraucht werden.
2. Problemstellung
Obwohl die besprochenen Formen die gleiche Bezeichnung – ‚Partizipien‘ tragen,
verfügen sie über unterschiedliche semantische Merkmale und ganz andere morphosyntaktische Eigenschaften: „Partizipien I sind Ausdrücke, die zusammen mit den
angebundenen Komplementen und Supplementen Elemente der syntaktischen
Klasse Adjektivphrase bilden. Partizipien II sind morphologische Formen von
Elementen der Wortklasse Verb, die nach Anbindung von Komplementen und
Supplementen durch Konversion auch in die syntaktische Klasse der Adjektivphrasen übergehen können.“ (Zifonun/Hoffmann/Stecker, 1997, S. 2205)
Schon aus dem oben Gesagten ist ersichtlich, dass die Zuordnung der beiden
Partizipien zu einer bestimmten Wortklasse nicht unproblematisch ist. Deswegen
werden im folgenden Kapitel die morphologischen Merkmale der beiden Partizipien
untersucht, charakterisiert und erläutert. Dabei steht die Frage im Mittelpunkt,
ob die traditionelle Definition, nach der beide Partizipien als ‚infinite Verbformen‘,
die in Grammatiken unter Verben ihren Platz haben, bezeichnet werden sollen,
nicht ihre Geltung verliert, wenn sie „Bestandteile von Nominalphrasen“ sind, „in
der attributiven Stellung auftreten“ und „dekliniert werden“ (siehe Zitate oben).
3. Die Wortartenzugehörigkeit
Einzelne Wörter können nach verschiedenen Kriterien einzelnen Wortarten
zugeordnet werden. Traditionell werden Wortklassen nach grammatischen
Kriterien und der Flexionsart unterschieden, d.h., ob sie flektierbar/unflektierbar,
deklinierbar/konjugierbar/komparierbar sind, nach semantischen Kriterien oder
nach syntaktischen Kriterien, d.h. in Hauptsächliche Wortarten und Funktions-
188
wörter (z.B. Helbig/Buscha, Bergenholtz/Schaeder). Bei ihrer Beschreibung der
Möglichkeiten einer Wortklassifizierung äußern sich einige Grammatiker gegen
die zwei klassischen Sichtweisen „nach ihrer Veränderlichkeit“ und „nach ihrer
Semantik“ sehr kritisch. Engel (2009, S. 38) fügt zahlreiche Beispiele hinzu, die
Mängel dieser Klassifikationsmöglichkeiten zeigen: „Die Methode, die Wörter nach
ihrer Semantik, nach einer Art Grundbedeutung, zu klassifizieren, ist oft und seit
langem angewandt worden.“ – und lehnt diese Methode als ungeeignet ab. „Wir
können uns leicht darauf einigen, dass Nomina ‚Sachen‘, Verben Vorgänge oder
Zustände, Adjektive Eigenschaften bezeichnen. Aber das Nomen Vorgang bezeichnet
eben auch einen Vorgang, das Wort Eigenschaft auch eine Eigenschaft.“ (Engel 2009,
S. 39). Štícha (2013, S. 80) macht darauf aufmerksam, dass die Kategorisierung
einzelner Wortarten auf allen drei miteinander zusammenhängenden Eigenschaften
eines konkreten Wortes beruht, und das sind seine Semantik, seine syntaktische
Rolle und seine morphologische Charakteristik in einem konkreten Kontext.
Innerhalb der deutschen Wortarten hat die Wortklasse Partizip eine lange Tradition. Nach dem Muster der lateinischen Grammatik (Nomen, Pronomen, Verbum,
Partizipium1, Adverbium, Coniunctio, Präpositio und Interjectio) wird sie bereits
von Johann Christoph Gottsched in seine „Deutsche Sprachkunst“, eine Grammatik
des Deutschen, als eine selbstständige Wortklasse in die Liste unter der Bezeichnung
„Mittelwörter (Partizipia)“ übernommen (vgl. Schaeder/Knobloch, 1992,
S. 6ff). Partizipien gelten somit seit dem 17. Jh. als eine selbstständige Wortart.
Womit sich Partizipien die Bezeichnung „Mittelwort“ verdient haben, erklärt der
Duden: Das Partizip I wird als Partizip Präsens oder Mittelwort der Gegenwart und
das Partizip II als Partizip Perfekt oder Mittelwort der Vergangenheit bezeichnet,
da es eine Mittelstellung zwischen dem Verb und dem Adjektiv dadurch einnimmt,
dass es Merkmale beider Wortarten aufweist (vgl. www.duden.de). „Bis ins
19. Jahrhundert herrschte die Meinung vor, dass die Wortartensysteme, die dem
klassischen Griechisch und Latein zu Grunde liegen, allen Sprachen eigen und
universal seien.“ (Dorado, 2008, S. 59) In den Grammatiken des 20. Jahrhunderts
gibt es die eigenständige Wortklasse ‚Partizip‘ nicht mehr. Das heißt, dass sich die
Grammatiken bei diesem Mittelwort doch für die Zuordnung zu einer anderen
Wortklasse entschieden haben. Dass diese Einstufung nicht ohne Probleme sein
wird, liegt auf der Hand.
Im folgenden Punkt sind sich verschiedene Linguisten einig (vgl. z.B. Helbig/
Buscha, 2001; Duden, 1998; Engel, 1996): Partizipien, genauer gesagt das Partizip I
und das Partizip II, gehören zusammen mit dem Infinitiv zu den infiniten Verbformen.
Zugleich formulieren Zifonun und Eisenberg, dass es sich nur bei Infinitiv und
Partizip II um infinite Verbformen handele. (vgl. Zifonun/Hoffmann/Stecker, 1997;
Eisenberg, 1999) Im Falle von Partizipien I gehe es um die Kategorie der Adjektive,
1 Im Lateinischen gibt es drei verschiedene Partizipien: amans (ein präsentisches oder aktives Partizip), amatus
(ein perfektives oder passives Partizip) und amaturus (ein futurisches Partizip), vgl. Valentin, 1994, S. 33.
189
denn die flektierten Formen bilden „ein dreidimensionales Paradigma, deren
Formen nach Kasus, Numerus und Genus variieren“. (Poitou, 1994, S. 110). Diese
Adjektive können syntaktisch auch als Substantive fungieren. (vgl. Poitou, 1994,
S. 111). Eisenberg (1999, S. 101) und Zifonun/Hoffmann/Stecker (1997, S. 2205)
sehen das Partizip I als ein Adjektiv und „nur das sog. Partizip Perfekt oder
Partizip II als Bestandteil des „[v]erbalen Paradigmas“ an: „Partizipien I sind durch
Wortbildung aus Verben entstandene Adjektive.“ (Zifonun/Hoffmann/Stecker, 1997,
S. 2205)
Engel (2009) charakterisiert Partizipien wie folgt: „Partizipien werden, wo sie
als Attribute des Nomens verwendet werden, zu den Adjektiven gezählt […], sie
entsprechen in den meisten Fällen einem zentralen Verb, das einen Satz regiert,
indem es dessen Struktur bestimmt.“ (Engel, 2009, S. 104f). Helbig und Buscha
(2001) machen darauf aufmerksam, dass attributive Formen homonym sind und
sowohl als Partizipien verbalen Charakters als auch Partizipien adjektivischen
Charakters verstanden werden können. Nach Eisenberg ist nur das Partizip II
als Bestandteil eines verbalen Paradigmas anzusehen, wobei das Partizip I „nicht
innerhalb irgendwelcher Verbformen verwendet“ wird und als Adjektiv gilt.
(vgl. Eisenberg, 1999, S. 101)
4. Flektierbarkeit vs. Nicht-Flektierbarkeit
Anhand eines Textabschnittes sollen die morphologischen Eigenschaften von
verschiedenen Partizipialformen vorgestellt werden, um zu zeigen, wie heterogen
diese Gruppe von Wörtern mit gleicher Form ist:
Eines schönen Wintertags im Februar 1905 (da war ich schon fünf
Jahre alt, und Rußland wurde gerade von den Unruhen des Blutigen
Sonntags in Petersburg geschüttelt, wo ein entfernter Verwandter
meines Großvaters und ein noch entfernterer Großonkel von mir,
der Pope Georgij Gapon, eine mächtige Prozession anführte, die dem
Zaren Nikolaus II. eine Petition überreichen wollte, der Winterpalast
empfing sie aber mit Schüssen und einem fürchterlichen Massaker,
bei dem mehr als tausend Menschen umkamen, sie lagen dort
übereinander und zwischen ihnen die orthodoxen Ikonen und Banner,
die ebenfalls von Schüssen durchlöchert und blutverschmiert waren,
die Mutter Gottes mit löchrigen Augen, der Erzengel Gabriel mit
zerschossener Brust und der auferstandene Lazarus wie ein
abgestochenes Ferkel kreischend, und über dem Platz schwebte das
Röcheln der Sterbenden wie ein dunkler Chorgesang) trippelte ich mit
meiner Mutter gemütlich am winterlichen Ufer des Flusses Schwarzau
entlang, auf dem Weg in das Dorf Kinitz (in das Dorf, das einmal,
in ferner Zukunft, von einem riesigen See — dem Brünner Stausee
nämlich — überflutet wird, und in dieser fernen Zukunft werde ich
190
dann über die Eisschale, über die zugefrorene Oberfläche des Stausees
gehen, und — stellen Sie sich das bloß vor — einundsechzig Jahre alt
sein, und an einer Stelle werde ich mich aufs Eis knien und durch das
Eisfenster nach unten schauen und in der Tiefe des Stausees, aber auch
in der Tiefe der Zeit das längst vergangene, untergegangene Dorf Kinitz
sehen, mit Häuschen, die in der Tiefe verstreuten Eichhörnchenzähnen
gleichen, und auch mit seiner strahlend weißen kleinen Kirche, ich
werde in dieser fernen Zukunft auf dem Eis knien, einundsechzig Jahre
alt sein, nach unten schauen und auf dem Grund des Sees mich selbst
als Fünfjährige neben meiner Mutter am winterlichen Ufer des Flusses
Schwarzau entlangtrippeln sehen, in jener längst vergangenen Zeit,
als Rußland gerade von den Unruhen des Blutigen Sonntags in Petersburg geschüttelt wurde), wir eilten nach Kinitz, weil uns die Horáčeks
geschrieben hatten, daß wir uns was vom Schlachtfest abholen sollten.
(KDe:24)
Alle in diesem Textausschnitt unterstrichenen Wörter haben die Form eines
Partizips, verfügen jedoch über unterschiedliche morphologische Eigenschaften
und auch unterschiedliche Funktionen im Satz.
1)
2)
3)
4)
5)
6)
7)
8)
Sie kommen einerseits flektiert (z.B. zerschossener, vergangene, untergegan
gene, zugefrorene, auferstandene, abgestochenes, Sterbenden), andererseits
unflektiert vor (z.B. durchlöchert, blutverschmiert, kreischend, überflutet,
strahlend, geschüttelt, geschrieben),
sind Bestandteile entweder mehr oder weniger erweiterter Attributkon
struktionen (z.B. das längst vergangene, untergegangene Dorf Kinitz),
und/oder erweitern andere Komponenten (mit seiner strahlend weißen
kleinen Kirche).
Einige treten als Bestandteile analytischer Verbkomplexe auf (z.B. überflutet
wird, geschrieben hatten).
Sie werden sowohl von einfachen Verben (strahlend),
als auch von Verben mit einer trennbaren oder untrennbaren Vorsilbe
(vergangene, untergegangene) gebildet.
Im Text ist auch ein komponiertes (blutverschmiert),
wie auch ein substantiviertes Partizip (Sterbenden) vorhanden.
Wie aus diesen verschiedenen Beispielen ersichtlich ist, kann die Frage nach
der Wortartzugehörigkeit von Partizipien nicht mit Vollständigkeit beantwortet
werden. Es gibt eine ganze Reihe von Publikationen und Fachaufsätzen, die sich
mit der Frage beschäftigen, ob Partizipien der Wortklasse Verb oder der Wortklasse
Adjektiv zugeordnet werden sollten. Nach der einen Auffassung sollen als Partizipien
nur diejenigen Partizipialformen bezeichnet werden, die auf ein Verb zurückgehen,
während die Form ohne Bezug auf ein entsprechendes Verbum finitum als Adjektiv
bezeichnet werden soll. Eisenberg formuliert den Status eines Partizips in Bezug
191
auf das Adjektiv so: „Mit Partizip kann aber auch darauf Bezug genommen werden,
dass Formen dieser Art, die eindeutig nicht als Adjektive lexikalisiert und also in
einem regelhaften Form- und Bedeutungsverhältnis zu einem Verbstamm stehen,
dem Verhalten von Adjektiven mehr oder weniger nahe kommen.“ (Eisenberg,
1994, S. 70)
Alle oben unterstrichenen Formen entsprechen der Partizip-Definition, nach der
sie auf eine Verbbasis zurückgehen (bis auf die letzten zwei Beispiele, die einen
Sonderfall darstellen), sie partizipieren sowohl an verbalen als auch an nominalen
Eigenschaften (übernehmen mehr oder weniger die Rektion des Basisverbs und
lassen sich deklinieren) und werden nach dem oben beschriebenen Wortbildungsmuster gebildet:
geschüttelt
entfernter
durchlöchert
zerschossener
auferstandene
kreischend
sterbenden
überflutet
<
<
<
<
<
<
<
<
schütteln
sich entfernen
durchlöchern
zerschießen
auferstehen
kreischen
sterben
überfluten
vergangen
<
untergegangen <
verstreut
<
strahlend
<
geschüttelt
<
geschrieben
<
zugefroren
<
blutverschmiert <
vergehen
untergehen
verstreuen
strahlen
schütteln
schreiben
zufrieren
*blutverschmieren
Wie aus dem Textabschnitt zu sehen ist, gibt es im Deutschen eine ganze Reihe
von Wörtern, die die gleiche Form wie das Partizip I oder II aufweisen, die aber
keine Partizipien im Sinne der traditionellen Definition sind oder als andere
Partizipialformen nicht der Wortklasse Verb angehören, da sie aus anderen
Wortarten entstanden sind: benachbart, interessiert, behost u.a.
Bernstein nennt die Wörter, die die Form eines Partizips haben und doch keine
Partizipien sind, ‚Pseudopartizipien‘ (Bernstein, 1992, S. 5), und teilt sie in zwei
Gruppen:
1) „Partizipien“, die keine Partizipien mehr sind
Es handelt sich um Wörter, die zwar auf einem Verb basieren, ihre ursprüngliche
Bedeutung jedoch verloren haben. Sie werden nun in anderen Kontexten gebraucht:
glänzendes Geschirr x glänzende Studienergebnisse
2) „Partizipien“, die es nie waren
Die Wörter sind nach dem gleichen Muster wie Partizip I oder II gebildet worden,
sind aber auf kein existierendes Verb zurückzuführen:
während, einverstanden
Die Pseudo- bzw. Scheinpartizipien sind also „Wörter, die der Form nach Partizipien
sind, denen aber ein zugehöriges Verblexem fehlt“ (Haig, 2005, S. 1).
192
Die Versuche, die deutschen Partizipien einer bestimmten Wortklasse zuzuordnen,
mündeten in folgender Feststellung, die für Partizipien in einem viel intensiveren
Maße als für andere Wortformen zutraf: „Es gibt in den einzelnen Wortarten
(analog zur Prototypen-Semantik) eher klassische oder zentrale und eher
randständige oder periphere Mitglieder, und es gibt kraft abnehmender Typizität zu
den Rändern der Wortarten hin, unscharfe Grenzen und Übergänge zwischen den
Wortarten.“ (Schaeder/Knobloch, 1992, S. 35)
5. Ergebnisse der Analyse
Im Folgenden werden Ergebnisse einer umfangreichen Korpusrecherche und der
Analyse von authentischen Beispielen vorgestellt, die aufgrund von rund 600 Belegen
dokumentiert sind und zu Fazit 1 – 5 führen. Für die moderne Sprachwissenschaft
stellen maschinenlesbare Textkorpora (vgl. Rykalová, 2013) eine umfangreiche
Datenbank dar, die es erlaubt, Informationen über einen natürlichen Kontext
der untersuchten sprachlichen Phänomene sowie über Gebrauchsfrequenzen zu
bekommen. Zur empirischen Untersuchung von Partizipien wird in dieser Untersuchung auf digitale Textkorpora zurückgegriffen - das Deutsche Referenzkorpus
des IDS Mannheim (DeReKo) und das Parallelkorpus DeuCze, in Einzelfällen
jedoch auch auf Wörterbücher (Wahrig, 2007).
5.1. Fazit 1
‚Partizip I‘, ‚Partizip II‘ sind Benennungen für grammatische Formen, die nach
einem bestimmten Muster gebildet werden und in verschiedenen Kontexten
unterschiedliche semantische Merkmale und grammatische Funktionen haben
und die Rolle unterschiedlicher Wortarten übernehmen können. Als Partizip
(im engeren Sinne) kann das Partizip II in periphrastischen Formen
bezeichnet werden, wo es in Verbindung mit den Hilfsverben haben, sein und
werden zum Ausdruck von Tempus, Genus und Modus dient. Nur in dieser
Funktion handelt es sich beim Partizip um eine verbale Form. In dieser Arbeit
werden alle nach dem Muster: -(en)d, (ge)- … -en / (ge)- … -t und zu -(en)dgebildeten Formen als Partizipialformen bezeichnet. Die Korpusanalyse hat gezeigt,
dass die untersuchten Partizipialformen nach ihren charakteristischen Merkmalen
in mehrere Gruppen eingeteilt werden können:
Typ: weinend
Das Partizip weinend vertritt hier diejenigen Partizipialformen, die
1) aus Verben entstanden sind:
weinend < weinen
2)
ihre ursprüngliche Bedeutung beibehalten haben:
„Tränen vergießen, heulen, schluchzen“ (Wahrig, 2007)
193
3)
fähig sind, als Angaben Kernpropositionen zu erweitern:
Das drittemal kam er weinend auf Knien gerutscht und bettelte darum,
Bürger der DDR zu werden. (BDe 138)
4)
d.h. in ihrer unflektierten Form als Adverbialangabe zum Verb und
5)
in ihrer flektierten Form als Attribut zum Nomen auftreten können:
Mario fühlte sich so hilflos wie noch nie, und in seiner Verzweiflung fiel ihm
nichts anderes ein, als bittende und flehende Gesten in Richtung der
verdunkelten Staatskarossen zu machen. (BDe 155)
6)
Diese Partizipien sind nicht fähig, sich an der ist-Prädikation zu beteiligen:
*Er ist weinend.
Die als Adverbialangabe gebrauchten Partizipialformen dieser Gruppe haben
gegenüber anderen Adverbialangaben (heute, zu Hause, schnell) die besonderen
Eigenschaften, dass sie
1) eine zweite, gleichzeitig verlaufende Handlung benennen:
Als Micha an diesem Nachmittag Miriam verließ und mit einem
Hochgefühl nach Hause ging, öffnete ihm Frau Kuppisch weinend die Tür.
(BDe 149)
2)
die Umstände der Handlung benennen:
Micha, Sabine und Bernd, Herr und Frau Kuppisch betrachteten eine
Minute lang schweigend den Inhalt der Dose. (BDe 151)
3)
durch Orts- und Zeitbestimmungen erweitert werden können:
eine Minute lang schweigend / durstig und an den Händen blutend
Von anderen Adjektiven unterscheiden sich die Partizipialadjektive dadurch, dass
sie in der attributiven Funktion durch Adverbialattribute der Orts-, Umstands- und
Zeitbestimmung erweitert werden können:
Also hat er mich doch nach all den Jahren überflügelt, sagte er, und ihm war, als
antwortete nicht Minna, sondern der bereits in einer Schnellkutsche nach Sankt
Petersburg rasende Humboldt. (KeDe 290)
Metallene Kapseln schoben sich in Ameisenkolonnen die Straßen entlang, ein
tiefes Brummen erfüllte die Luft, hing unter dem Himmel, schien sogar von
der schwach vibrierenden Erde aufzusteigen. (KeDe 283)
Im Grunde nicht erst das Verlöschen und die Sekunden des Übergangs, sondern
schon das lange Nachlassen davor, jene sich über Jahre dehnende Erschlaffung;
[…]. (KeDe 263)
194
Typ: pfeiferauchend
Das Partizip pfeiferauchend vertritt alle komponierten Partizipialformen, die
1) sowohl zusammen als auch getrennt geschrieben werden können:
pfeiferauchend / eine Pfeife rauchend
2)
wobei der verbale Ursprung bei der zusammen geschriebenen Form nicht
so deutlich ist, als wenn das Verb vom Nomen getrennt ist:
eine Pfeife rauchend
<
eine Pfeife rauchen
pfeiferauchend
<
*pfeiferauchen
Es konnte belegt werden, dass durch die Komposition und Zusammenbildung
zusammengesetzte Partizipien im Gegensatz zu den einfachen Partizipien verbalen
Charakters ihre Fähigkeit, als Prädikate des Satzes zu fungieren, verlieren und nicht
mehr fähig sind, als finite Verben aufzutreten.
Die Korpusanalyse hat auf die Schwankungen in der Zusammen- und
Getrenntschreibung hingewiesen, was sich in den Verwendungsmöglichkeiten
widerspiegelt, wobei in den meisten Fällen die Zusammenschreibung überwiegt.
3)
Die komponierten Formen dieses Typs können als Angaben die
Kernpropositionen erweitern:
Er sagt es pfeiferauchend und gemütlich.
4)
In ihrer flektierten Form können sie als Attribut zum Nomen auftreten:
Vielleicht hatten sie einen netten alten, pfeiferauchenden Professor dort
ans Telefon gesteckt, und ich kramte in aller Eile ein paar lateinische Vok
abeln zusammen und sagte demütig: “sum frater leonis”. (DeReKo)
5)
Die Verwendbarkeit im Rahmen der ist-Prädikation (*Er ist pfeiferauchend)
sowie die Möglichkeit, das Attribut zu erweitern (*Er ist pfeiferauchendlaut),
sind blockiert. Somit haben diese komponierten Formen die gleichen
syntaktischen Eigenschaften wie die Partizipien des ersten Typs.
Typ: glänzend
Das Partizip glänzend vertritt hier diejenigen Partizipialformen, die
1) aus Verben entstanden sind:
glänzend < glänzen
2)
aber im Unterschied zum ersten Typ polysemantisch sind:
1. „leuchtend, strahlend, blendend […]“
2. „mit einer glänzenden Schicht versehen“
3. „ausgezeichnet, hervorragend“ (Wahrig, 2007)
195
Über die syntaktischen Eigenschaften entscheiden der Ursprung und die Bedeutung
der Partizipialform:
1) Falls die Partizipialformen einen verbalen Ursprung haben, dann sind sie
fähig, eine zweite Handlung zu benennen und gleichzeitig als Angaben
Kernpropositionen zu erweitern:
Silbern glänzend taucht der Milchtankwagen auf, hält hinter der Molkerei
mitten im Dorf. (DeReKo)
2)
und als Attribute das Nomen näher zu bestimmen:
Silbern glänzende Pfeifen in allen Grössen soweit das Auge reicht: (DeReKo)
3)
Die metaphorische Bedeutungsübertragung öffnet weitere
Verwendungsmöglichkeiten. So entstandene Adjektive sind auch fähig,
entweder das attribuierte Adjektiv:
Die Lomatia hat 10 bis 20 Zentimeter grosse, glänzend grüne, ledrige,
zergliederte Blätter, an deren Spitzen rote Blüten erscheinen. (DeReKo)
4)
oder das Adjektiv in einer ist-Prädikation näher zu bestimmen:
„Hallo, Micha!“ rief Wuschel, der glänzend aufgelegt war. (BDe 140)
5)
In einigen Kontexten können sie sogar eine doppeldeutige Wirkung haben:
Am Sonntag zirkulierten dann Musikantinnen und Musikanten in strenger
Uniform mit glänzend geputzten Instrumenten. (DeReKo)
6)
In ihrer flektierten Form können sie als Attribut zum Nomen auftreten:
Mario fühlte sich so hilflos wie noch nie, und in seiner Verzweiflung fiel
ihm nichts anderes ein, als bittende und flehende Gesten in Richtung der
verdunkelten Staatskarossen zu machen. (BDe 155)
Es hat sich gezeigt, dass die Tatsache, ob die Partizipialformen in der attributiven
Position ihren verbalen Charakter beibehalten haben oder nicht, u.a. einen Einfluss
auf die Ergänzung durch eine andere Partizipialform hat (gewinnbringend
angesetzt, glänzend aufgelegt).
Typ: ohrenbetäubend
Das Partizip ohrenbetäubend vertritt hier die komponierten Partizipialformen,
die im Gegensatz zum Typ 3 (pfeiferauchend) in allen untersuchten syntaktischen
Rollen verwendbar sind:
1) Als Angaben charakterisieren sie das Prädikat des Satzes näher:
Dass einige Feuerwerks-Artikel ohrenbetäubend krachen und knallen,
kann ergötzen oder stören. (DeReKo)
2)
196
Sie können als Bestandteile des Prädikats auftreten:
Der Lärm ist ohrenbetäubend. (DeReKo)
3)
Sie haben eine besondere Eigenschaft – sie haben, ähnlich wie Steigerungspartikel, eine steigernde Funktion:
Ohrenbetäubend laut tönen die Dudelsäcke, Ohrenpfropfen, die den Lärm
dämpfen, sind deshalb Pflicht. (DeReKo)
4)
Nicht zuletzt sind sie fähig, als Attribute zu Nomen zu fungieren:
550 Flugzeuge donnern täglich über die nur knapp 300 Meter entfernte
Rollbahn, 550 ohrenbetäubende und luftverpestende Starts und
Landungen. (DeReKo)
Genauso wie bei den komponierten Partizipialformen des Typs pfeiferauchend
schwankt die Zusammen- und Getrenntschreibung:
Der Lärm ist Ohren betäubend, der Boden bebt. (DeReKo)
Dank der Korpusanalyse kann die Frage beantwortet werden, ob es Bedeutungsunterschiede bei der Zusammen- und Getrenntschreibung gibt. Dies soll an
folgenden Belegen gezeigt werden:
Dieses Angebot ist für mich ein Greuel. Es heißt doch: Man nehme Menschen,
stopfe sie in Flugzeuge, damit diese nur ja ganz voll sind, und fliege um des
Fliegens willen, Treibstoff vergeudend, die Luft verpestend mit Gedröhn über
Europa. (DeReKo)
Wenig überraschend war ich vorerst der einzige Fahrgast. Jahraus, jahrein brummen
diese Busse luftverpestend umher und kaum je sieht man Leute darin. (DeReKo)
In dem Satz […] und fliege um des Fliegens willen, Treibstoff vergeudend, die Luft
verpestend […] wird das Objekt die Luft fokussiert. Hervorgehoben wird die Tatsache,
dass die Luft verpestet wird. Dagegen wird in dem Satz […] brummen diese Busse
luftverpestend umher […] der Umstand, die Art und Weise, wie die Busse fahren, in
den Vordergrund gestellt.
Typ: gewohnt / gehabt / gekommen
Die Partizipien gewohnt, gehabt und gekommen vertreten alle rein verbalen Formen.
1) Sie kommen nur als infinite verbale Formen in Verbalkomplexen vor (wir
haben hier gewohnt, er hat gehabt, sie ist gekommen).
Gerade erst, verborgen reisend, sei er Zeuge geworden, wie ein Greis und
ein Student, ein deutscher Vater und sein Sohn, zwei treue Männer,
polizeischikaniert worden seien, weil sie kein Papierzeug bei sich gehabt
hatten. (KeDe 232)
197
2)
Nur einige Formen sind fähig, sich am Passiv zu beteiligen (hier wird
gewohnt).
3)
Die attributive und adverbiale Funktion ist bei einigen dieser
Partizipialformen auf Grund ihrer Semantik blockiert (*die gewohnte
Stadt, *die gehabte Wohnung).
Typ: gehäkelt
Das Partizip gehäkelt vertritt diejenigen passivfähigen Partizipialformen, die
1) immer in ihrer flektierten Form oder als Attribut zum Substantiv
(des gehäkelten Erbstücks, kommentierte Fotos) auftreten können,
2)
fähig sind, als Prädikatsteil zusammen mit dem Kopulaverb sein das
Prädikat zu bilden (es ist gehäkelt, sie sind kommentiert) und
3)
sich zusammen mit dem Hilfsverb werden an passivischen
Konstruktionen beteiligen können (es wurde gehäkelt, sie wurden
kommentiert).
4)
Sie können nicht als Adverbiale auftreten und ein Verb modifizieren
(*er kommt gehäkelt).
Kommentierte Fotos von Klassentreffen sagten ihm, wie viele restliche,
inzwischen hochbetagte Schüler immer noch reiselustig waren. (GDe 95)
Typ: zerfallen
Zerfallen vertritt diejenigen Partizipialformen, die
1) nicht passivfähig sind (*sie wurden zerfallen),
2)
nicht fähig sind, als Adverbiale das Prädikat zu modifizieren (*sie sind
zerfallen groß).
Anders die weltweiten Krisen: War es hier die arabische Wüste, in der
neue Waffensysteme erprobt werden sollten, war es dort die Sowjetunion,
die in ihre weit voneinander entfernt liegenden Bestandteile zu zerfallen
drohte. (GDe 154)
3)
Als Attribute sind sie ohne Begrenzung verwendbar (die überwucherte
Wiese, die zerfallenen Salzkartoffeln).
Die Witwe hatte zum Schluß Sahne an die Pilze gerührt, das Ganze leicht
gepfeffert und die gehackte Petersilie über die mehlig zerfallenen
Salzkartoffeln gestreut. (GDe 36)
4)
In der Verbindung mit dem Hilfsverb sein handelt es sich entweder um
198
die Perfektform (sie sind zerfallen), wobei sich das Hilfsverb sein als
Auxiliar an einer analytischen Verbform beteiligt, oder um eine
ist-Prädikation (sie sind zerfallen – in einem bestimmten Zustand / sie
sind überwuchert – in einem überwucherten Zustand), in der sich die
Partizipialform zerfallen zum Adjektiv nominalisierte und das Hilfsverb
sein die Funktion eines Kopulaverbs übernimmt.
Dieser Doppelgrabstelle sage ich nach, daß sie, buchsbaumumrandet,
weniger überwuchert ist als die benachbarten Grabstellen. (GDe 23)
Typ: ungelesen
Eine spezielle Gruppe bilden Formen, die
1) eine verbale Basis haben (lesen > gelesen, verletzen > verletzt),
2)
durch die un-Präfigierung jedoch ihren verbalen Charakter verloren
haben und der Wortklasse Adjektive angehören (ungelesen, unverletzt):
Die ersten zwei Male entkamen sie unverletzt, […] (KeDe 41)
3)
Die verbale und adverbiale Verwendung ist blockiert.
Typ: bemoost
Diese besondere Gruppe von Partizipialformen
1) wurde durch eine kombinatorische Ableitung aus einem Präfix und einem
Partizipialsuffix direkt aus dem Substantiv oder Adjektiv gebildet:
Moos <
*bemoosen
<
bemoost
2)
Genauso wie bei den ornativen Partizipialformen behaart, behost, bebrillt
handelt es sich bei den Partizipialformen des Typs bemoost um Formen,
die durch eine direkte Konversion aus Substantiven ohne ein Basisverb
entstanden sind.
3)
Aus diesem Grund kommen sie nicht in Verbalkomplexen vor (*sie haben
/ hatten / wurden bemoost),
4)
während ein okkasioneller Gebrauch in passivischen Konstruktionen
jedoch nicht auszuschließen ist:
Die Natur hat den Menschen behaart. Was sich mit Haaren alles anstellen
lässt, zeigen die Macher der Internet-Seite www.fiese-scheitel.de (DeReKo)
> Der Mensch ist von der Natur behaart worden.
5)
Diese Partizipialformen können ohne Begrenzung attributiv gebraucht
werden:
Wo Herbstlaub raschelte, schlurfte er auf bemoosten Wegen. (GDe 22)
6)
und sind fähig, als Prädikatsteil zusammen mit dem Kopulaverb sein das
Prädikat zu bilden (er ist behaart, sie sind bemoost).
199
5.2. Fazit 2
Die Korpusanalyse hat bestätigt, dass sich die attributiv gebrauchten Partizipien
analog zu reinen Adjektiven ähnlich wie Adjektive verhalten und die Bezeichnung
Verbaladjektive angemessen ist. Die attributiv gebrauchten Partizipialformen (und
zwar sowohl die Partizip-I-Form als auch die Partizip-II-Form) haben sich aufgrund
ihrer morphologisch-syntaktischen Eigenschaften konsequent zu Adjektiven
transformiert und bilden somit als Partizipialadjektive eine Untergruppe der
Wortklasse Adjektive mit spezifischen Eigenschaften.
Die Partizipialadjektive können durch Adverbialattribute der Orts-, Umstands- und
Zeitbestimmung erweitert werden:
Ortsbestimmung:
Also hat er mich doch nach all den Jahren überflügelt, sagte er, und ihm war, als
antwortete nicht Minna, sondern der bereits in einer Schnellkutsche nach Sankt
Petersburg rasende Humboldt: (KeDe 290)
Umstandsbestimmung:
Metallene Kapseln schoben sich in Ameisenkolonnen die Straßen entlang, ein
tiefes Brummen erfüllte die Luft, hing unter dem Himmel, schien sogar von der
schwach vibrierenden Erde aufzusteigen. (KeDe 283)
Zeitbestimmung:
Er selbst habe, nicht zuletzt eines vor langer Zeit gegebenen Versprechens wegen,
damit begonnen. (KeDe 266)
Adjektivisch gebrauchte Partizipien bilden eine geeignete Grundlage für
Zusammenbildungen und einen kreativen Umgang mit der Sprache, so wie in dieser
jäh unterbrochenen Tirade:
„Keine Mätzchen schätzt der pfeiferauchende, pullovertragende, aus Roscommon
gebürtige, lyriklesende, kaugummikauende, an bösartiger Anämie leidende,
schweinsäugige, stupszehige, fahlhäutige, mopszahnige, glubschgesichtige -Das
einfache irische Volk: Na, machen Sie schon, los!“ (DeReKo)
Attributiv verwendete Partizipialformen verbalen Ursprungs bilden als Partizipialadjektive einerseits eine Untergruppe der Wortart Adjektive, andererseits eine
Untergruppe aller Partizipialformen.
5.3. Fazit 3
Einen Übergang aus der Gruppe der Partizipialadjektive in die Gruppe der „reinen“
Adjektive erleben die Partizipialformen beim Prozess der Metaphorisierung, auf
200
dem der oben erwähnte Prozess der Grammatikalisierung beruht. Bei diesem
Prozess verlieren die Partizipialformen ihren verbalen Charakter und einen mehr
oder weniger sichtbaren Bezug zum Bezugsverb. Als Beispiel für eine auf einer
Metapher beruhende Umwandlung wurde das Partizip glänzend vorgestellt.
Nebeneinander existieren zwei homonyme Formen: glänzend mit der Bedeutung
,Glanz ausstrahlend, leuchtend, strahlend’, das ein aus dem Verb glänzen
entstandenes Partizipialadjektiv darstellt und um weitere Bestimmungen (seidig,
seitlich, stundenlang) erweitert werden kann. Und glänzend als ,ausgezeichnet,
hervorragend’, das die Merkmale eines reinen Adjektivs trägt:
Sie zog den mausgrauen Regenmantel, die Kostümjacke aus, stand vor ihm in
hellblauer, seidig glänzender, unter den Achseln dunkel verschwitzter Bluse und
war immer noch atemlos. (GDe 77)
„Eine glänzende Rede“, sprach ich bewegt.
Diese Multifunktionalität der Partizipialformen wurde dank einer Bedeutungsübertragung geschaffen und erweitert die syntaktischen Verwendungsmöglichkeiten
in verschiedenen Kontexten:
Was er sagte, war ausreichend, um ihn auf Dauer nichts werden zu lassen.
(BDe 133)
Es war immer so kompliziert und anstrengend, aber der Schlußstrich war ganz
einfach zu ziehen. (BDe 133)
5.4. Fazit 4
Diejenigen Partizipialformen, die nicht aus Verben, sondern aus anderen Wortarten
(Substantiv, Adjektiv) nach dem gleichen Muster wie Partizipien gebildet worden
sind und aufgrund ihres Ursprungs als Pseudopartizipien bezeichnet werden, tragen
Merkmale eines Adjektivs in allen ihren syntaktischen Rollen und werden deshalb
der Wortklasse Adjektive zugeordnet. Wie beschrieben wurde, werden zahlreiche
Partizipialformen analog zu echten Partizipien okkasionell gebildet. Vor allem bei
der be-Präfigierung handelt es sich um ein sehr produktives Wortbildungsmuster.
Zahlreiche Belege nicht verbalen Ursprungs sind für diese Art Wortbildung vor
allem unter Partizip-II-Formen zu finden (bemoost, bebrillt, beringt). Auch andere
verbbildende Präfixe wie ver- oder ge- weisen eine hohe Produktivität auf (verfettet,
gegiebelt). Die Analyse hat gezeigt, dass diese Partizipialformen ohne Ausnahme
nominale Merkmale tragen und der Wortklasse Adjektiv angehören.
Am Beispiel eines mehrfachen Attributs kann gezeigt werden, dass die Partizipialformen und Adjektive die gleiche syntaktische Funktion im Satz haben können
und dass die Bezeichnung ‚Partizipialadjektiv‘ berechtigt ist. In der syntaktischen
Position eines pränuklearen Attributs wird die Partizipialform (schwitzend) genau
201
wie die anderen attributiv verwendbaren Adjektive (kalt, feucht, schlecht) flektiert
und kongruiert wie diese mit dem Bezugswort in Kasus, Genus und Numerus: kalte
Finger, feuchte Hände, schlechten Atem oder schwitzende Achseln:
Micha wurde in dem Moment klar, daß Tanzschule auch bedeutet, daß er Miriam
sehr, sehr nah sein wird, und wenn er kalte Finger, feuchte Hände, schlechten
Atem oder schwitzende Achseln haben wird, dann würde sich das nicht verbergen
lassen. (BDe 46)
Auch als Nachträge in der unflektierten Form werden von den Sprachbenutzern
keine Unterschiede zwischen reinen Adjektiven und Partizipialadjektiven gemacht:
Alle Blicke der Umsitzenden waren auf die Familie M. gerichtet. Interessiert,
wohlwollend, spöttisch, lächelnd, fragend... (DeReKo)
Auf der anderen Seite gibt es zwischen reinen Adjektiven und Partizipialadjektiven
bedeutende Unterschiede:
1. Partizipialadjektive haben ihre Verbvalenz beibehalten und sind somit
fähig, Leerstellen für Bestimmungen adverbialer Art zu öffnen (jene sich
über Jahre dehnende Erschlaffung).
2. Partizipialadjektive tragen zu einer Informationsverdichtung und
Hervorhebung eines modifizierenden Zustandes bei, und das:
a) als Adverbialangabe: Rauchend führte die Witwe den Witwer aus der
Stadt,
b) als Partizipialkonstruktion: Stockend, seiner Muttersprache entwöhnt,
fragte Humboldt nach Brombachers Heimatstadt, der Höhe ihres
Kirchturms, der Zahl ihrer Bewohner,
c) als erweitertes Attribut: der bereits in einer Schnellkutsche nach Sankt
Petersburg rasende Humboldt,
d) als Apposition: Jede Nacht sitzt er da, nachdenkend.
3.
Durch die Transposition kommt es dazu, dass aus einem Handlungen
oder Prozesse ausdrückenden Verb ein Partizipialadjektiv entsteht, das
die verbalen Merkmale behält und gleichzeitig fähig ist, die adjektivischen
Merkmale zu übernehmen, d.h. in einer attributiven Position Eigenschaften
zu benennen. Die so gebildeten Partizipialadjektive sind besonders
aussagekräftig und dienen einer präzisen Ausdrucksweise vor allem bei
Beschreibungen.
5.5. Fazit 5
Bei prädikativ gebrauchten Partizipialformen handelt es sich auf der einen Seite
um Partizipialadjektive mit adverbialer Funktion, die bei ihrem Gebrauch in jedem
Kontext unflektiert bleiben, auf der anderen Seite um rein verbale Formen, die als
202
Partizipien im engeren Sinne Bestandteile periphrastischer Verbformen sind. Einen
interessanten Fall bilden Verbindungen mit sein. Die Partizipialformen des Typs
zerfallen in den Wortverbindungen mit sein (siehe unten) sind homonym. Auf
der einen Seite drücken sie den in der Vergangenheit abgeschlossenen Prozess
(Perfekt), auf der anderen Seite einen andauernden Zustand (ist-Prädikation) aus,
der als Ergebnis dieses Prozesses zu verstehen ist:
die Salzkartoffeln sind während des Kochens zerfallen
< Ergebnis eines aktivischen Prozesses
die Salzkartoffeln sind nun zerfallen
< Zustand
Genauso kann es sich um die Homonymie eines Zustandspassivs und einer
Kopulakonstruktion, die aus einem Kopulaverb und einem Partizipialadjektiv
besteht, handeln:
das Erbstück ist gehäkelt
< Ergebnis einer passivischen Handlung
das Erbstück ist gehäkelt
< Zustand
Partizipialformen bilden eine funktional vielfältige Gruppe von formal ähnlich
gebildeten Wörtern mit unterschiedlichen syntaktischen Funktionen, die als
einzigartige Formen verstanden werden sollen.
Aus diesem Grund kann die Frage nach der Wortartzugehörigkeit des deutschen
Partizips nicht mit einem Wort beantwortet werden. Wie aus der Analyse zu sehen ist, sind an der Wortartbestimmung mehrere Faktoren beteiligt. Nach der
Definition sind Partizipien Mittelwörter, die ihren Platz zwischen dem Verb und
dem Adjektiv haben. Obwohl die Sprache einen ständigen Wandel erlebt, für
den hier der Begriff ‚Grammatikalisierung‘ übernommen wurde, oder vielleicht
gerade dank dem ständigen Sprachwandel, verhalten sich einige Partizipialformen
wie Verben, andere wie Adjektive. Und fragt man nach der Grenze zwischen den
Partizipialformen, die verbale Eigenschaften haben und den Partizipialformen mit
adjektivischen Eigenschaften, dann kommt man zu dem Ergebnis, dass es keine
Grenze gibt, wie auch folgende Abbildung zeigt:
verbale
weinend
pfeiferauchend
glänzend 1
gehabt
gehäkelt
gewohnt zerfallen
gekommen
adjektivische
Eigenschaften
glänzend 2
ohrenbetäubend
ungelesen
bemoost
203
Damit soll nicht gesagt werden, dass man die Wortart der einzelnen Formen nicht
bestimmen kann; sondern, dass einzelne Partizipialformen im Zusammenhang
mit ihrer syntaktischen Funktion und dem Kontext über verschiedene Merkmale
verfügen (wie z.B. die Partizipialformen glänzend, gehäkelt, zerfallen u.a.), und
somit beiden Wortarten angehören können.
Auf der Basis analysierter Korpusdaten, die als authentisches Sprachmaterial
den tatsächlichen Gebrauch des Partizips in der modernen deutschen Sprache
widerspiegeln, wurden die morphologischen, syntaktischen und lexikalischen
sowie auch die stilistischen Möglichkeiten des deutschen Partizips beschrieben. Die
Untersuchung ging von zahlreichen Korpusbelegen aus, die es ermöglichten, eine
systematische, vollständige und detaillierte Darstellung verschiedener Verwendungsweisen des deutschen Partizips vorzustellen und zu diskutieren.
Partizipialformen bilden eine funktional vielfältige Gruppe von formal ähnlich
gebildeten Wörtern mit unterschiedlichen syntaktischen Funktionen, die als
einzigartige Formen verstanden werden sollen. Aus diesem Grund kann die
Frage nach der Wortartzugehörigkeit des deutschen Partizips nicht mit einem
Wort beantwortet werden. Nach der Definition sind Partizipien Mittelwörter, die
ihren Platz zwischen dem Verb und dem Adjektiv haben. Und fragt man nach der
Grenze zwischen den Partizipialformen, die verbale Eigenschaften haben und den
Partizipialformen mit adjektivischen Eigenschaften, dann kommt man zu dem
Ergebnis, dass es zwischen dem Zentrum und der Peripherie keine Grenzen gibt.
Abstract
This text deals with the grammatical forms „Partizip“, that constitute a relatively
complex phenomenon in terms of a systematic description of a language. It is due to
their formal as well as functional variety that modern grammarians find them rather
difficult to grasp. In German grammar books participles tend to be classified as
indefinite (non-finite) verb forms, but the term ‘participle’ itself suggests that it is
a form that does not fit into any word class. This is also evident in names such as
‘Mittelwort‘, ‘Verb‘, ‘Adjektiv‘, ‘Verbaladjektiv‘, ‘adjektivisches Verb‘ and ‘verbalbasiertes
Adjektiv‘. There is only a general consensus on the conclusion that it is a very specific
category that carries verbal as well as nominal features. That is why this text aims
at features of German participles, and it aims at doing so by a systematic analysis
of relevant corpus data, which as an authentic reference language material reflect
the real usage of participles in present-day German. Due to their currency, corpus
data also facilitate the observation of recent development tendencies in this area of
grammar.
204
Keywords
German participles, corpus data, reference to authentic language material, real
usage of participles
Quellenverzeichnis
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Fischer Taschenbuch Verlag 2001.
[GDe] Grass, Günther: Unkenrufe. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1999.
[KeDe] Kehlmann, Daniel: Die Vermessung der Welt. Hamburg: Rowohlt 2010.
[KDe] Kratochvíl, Jiří: Unsterbliche Geschichte oder Das Leben der Sonja TrotzkijSammler oder Karneval. Übers. von Kathrin Liedtke und Milka Vagadayová. Zürich:
Ammann 2000.
[VDe] Viewegh, Michael: Erziehung von Mädchen in Böhmen. Übers. von Hanna
Vintr. Wien/München: Deuticke1998.
[DeReKo] Das Deutsche Referenzkorpus. Unter: http://www.idsmannheim.de/kl/
projekte/korpora/
Institut für Deutsche Sprache, Mannheim.
[DeuCze] DeuCze: Deutsch-tschechisches Parallelkorpus. Unter: www.deucze.org.
Literaturverzeichnis
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Behördensprache und seine spanischen Äquivalenzen. Dissertation. Universidade
de Santiago de Compostela.
DUDEN (1998): Grammatik der deutschen Gegenwartssprache. Bd. 4., 6. Aufl.
Mannheim usw.: Dudenverlag.
Engel, Ulrich (1996): Deutsche Grammatik. 3. Aufl. Heidelberg: Groos.
Engel, Ulrich (2009): Syntax der deutschen Gegenwartssprache. 4. Aufl. Berlin: Erich
Schmidt.
Glück, Helmut (Hg.) (2010): Metzler Lexikon Sprache. 4. Aufl. J. Stuttgart/Weimar:
Metzler.
Helbig, Gerhard / Buscha, Joachim (2001): Deutsche Grammatik. Ein Handbuch für
den Ausländerunterricht. Berlin/München: Langenscheidt.
205
Poitou, Jacques (1994): Morphologische Analyse und Kategorisierung der Partizipien.
In: Bresson, Daniel / Dalmas, Martine (Hg.): Partizip und Partizipialgruppen im
Deutschen. Tübingen: Narr, S. 100-120.
Rykalová, Gabriela (2013): Kleine Korpora, große Korpora und Textsammlungen.
Versuch einer korpustypologischen Zusammenschau. In: Kratochvílová, Iva / Wolf,
Norbert R.: Grundlagen einer sprachwissenschaftlichen Quellenkunde. Tübingen:
Narr, S. 185-198.
Schaeder, Burkhard / Knobloch, Clemens (Hg.) (1992): Wortarten. Beiträge zur
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und Lexikon. Online erhältlich unter: http://www.linguistik.uni-kiel.de/haig.htm
#manuscripts. [4.11.2014]
Dieser Beitrag entstand im Rahmen des Forschungsprojektes SGS/12/2016
„Moderne Herangehensweisen an die Textanalyse und -interpretation“ („Moderní
přístupy k analýze a interpretaci textu“) am Institut für Fremdsprachen der
Schlesischen Universität Opava.
206
Verbale und nominale Valenzrahmen
bei zentralen und peripheren Lexemvarianten
Mojmír Muzikant und Roland Wagner
Annotation
Der Beitrag ist im Rahmen der Ausarbeitung eines derivationellen Valenzlexikons entstanden, in dem Valenzträger des Deutschen und Tschechischen für
verschiedene kategoriale Kontexte erfasst werden sollen. Anhand des
Musterlemmas für abfallen wird diskutiert, welche Kriterien zur Festlegung von
zentralen und peripheren Varianten des jeweiligen Lexems geeignet sind und
welche linguistischen Besonderheiten an der Peripherie des genannten Lexems auftreten.
Schlüsselwörter
Valenzrealisierung – Aktantenrahmen – Valenzvererbung – Valenzlexikographie –
Nebenbedeutung
1. Einführung
Die Begriffe Zentrum und Peripherie sind in der Sprachwissenschaft bekanntlich
fest mit der Prager Schule verbunden. Sie könnten aus trivialer Sicht als Opposition
„häufig“ versus „selten“ im Bereich der Frequenz sprachlicher Erscheinungen
ausgelegt werden. Diese Sichtweise ermöglicht es u. a., solche sprachliche Erscheinungen, die häufig vorkommen, im Gegensatz zu jenen, die sich nur an der Peripherie
befinden, zu kodifizieren. In der linguistischen Praxis können allerdings nicht
selten breitere Zusammenhänge in die Dichotomie Zentrum und Peripherie
einbezogen werden, wie dies übrigens das vor kurzem an der Würzburger Universität
veranstaltete Forum „Junge Romanistik“ zeigt.1 Erörtert wurden dort unter dem
Motto „Zentrum und Peripherie“ Themen wie die Auftretenshäufigkeit von
Textelementen in einer bestimmten Textsorte (Arztbewertungen) aus vergleichender
Sicht Deutsch – Französisch, Bewegungen bei den Wortarten (Übergänge, Affinität
zu Nachbarkategorien), Entwicklung vom Mono- zum Plurizentrismus sowie
konkrete Beziehungen zwischen Zentrum und Peripherie in den romanischen
Sprachen.
1 „Zentrum und Peripherie“ (32. Forum Junge Romanistik, 16. – 19. März 2016, Julius-Maximilians-Universität
Würzburg), abrufbar unter: www.romanistik.uni-wuerzburg.de (URL 1).
207
In unserem Beitrag wollen wir anhand eines Musterlemmas aus einem
geplanten Valenzlexikon der Frage nachgehen, wie die einzelnen ermittelten
Bedeutungsvarianten und ihre Valenz-Realisierungsstrukturen beim Basisverb
und seinen Derivaten unter dem Blickwinkel Zentrum und Peripherie zu charakterisieren sind. Im ersten Abschnitt beziehen wir die Begriffe „Zentrum“ und
„Peripherie“ auf die in der Lexikographie verbreitete Gliederung von Lexikoneinträgen in Haupt- und Nebenbedeutungen. Wir diskutieren dabei verschiedene
Kriterien, die für diese Unterscheidung in der Literatur als relevant erachtet
werden. In Abschnitt 2 stellen wir den Beitrag in den Kontext der Erarbeitung eines
kleinen Valenzlexikons, wie es am Lehrstuhl für deutsche Sprache und Literatur an
der Pädagogischen Fakultät der Masaryk-Universität in Brünn konzipiert worden
ist.2 Wir klären die theoretischen Grundannahmen, die der Konzeption zugrunde
liegen, und stellen das Format von Lexikoneinträgen anhand des Musterlemmas
abfallen vor. Die folgenden Abschnitte sind der Frage gewidmet, welche Ergebnisse
die in Abschnitt 1 diskutierten Kriterien bei ihrer Anwendung auf die Varianten
von abfallen liefern. Zunächst prüfen wir das Frequenzkriterium, wobei wir –
entsprechend der Konzeption unseres Valenzlexikons – sowohl den verbalen
als auch den nominalen Bereich berücksichtigen (Abschnitt 3). Anschließend
untersuchen wir in Abschnitt 4 zwei Varianten genauer auf Besonderheiten bei
der Realisierung des Valenzpotentials. Dabei lassen wir uns von der Frage leiten,
ob zentrale und periphere Varianten Unterschiede hinsichtlich der Realisierungsforderungen aufweisen. In Abschnitt 5 analysieren wir die Struktur des Aktantenrahmens einer peripheren Variante und weisen auf Abweichungen von der
kanonischen Strukturierung hin, die den peripheren Status der Variante bestätigen.
Die Diskussion im anschließenden Kapitel zeigt, dass die von uns diagnostizierten
Abweichungen von der kanonischen A-Struktur grammatisch relevant sind.
In Abschnitt 7 untersuchen wir schließlich anhand von Sprachmaterial aus dem
parallelen Korpus [InterCorp], ob sich der Unterschied zwischen zentralen und
peripheren Varianten in Unterschieden bei der lexikalischen Besetzung von
tschechischen Parallelstellen zu deutschen Konstruktionen mit abfallen niederschlägt. Konkret betrachten wir die Streuung der Übersetzungsäquivalente im
Tschechischen, die dem Verb abfallen im Deutschen im Korpus zugeordnet sind.
Der Beitrag schließt mit einigen Schlussfolgerungen hinsichtlich der Brauchbarkeit
der einzelnen Kriterien, die die Analyse unseres Musterlemmas abfallen nahelegt.
2. Zentrum und Peripherie in der Struktur von Lexikoneinträgen
In lexikologischen Arbeiten wird im Rahmen eines Lexikoneintrags oder Lemmas
gewöhnlich zwischen einer oder mehreren Hauptbedeutung(en) und einer
oder mehreren Nebenbedeutung(en) unterschieden (vgl. z.B. Schlaefer, 2002,
S. 23-24). Diese Unterscheidung stützt sich auf verschiedene Kriterien, die in
2 Die Arbeiten werden unter der Projektnummer GA15-05356S von der Forschungsagentur der Tschechischen
Republik (GAČR) finanziell gefördert. Der vorliegende Beitrag ist im Rahmen dieses Projekts entstanden.
208
der einschlägigen Literatur mehr oder weniger explizit ausgeführt sind. Als Hauptbedeutung gilt nach Schlaefer zunächst rein intuitiv diejenige Bedeutung eines
Lexems, die ohne Kontext vom Hörer zuerst assoziiert wird. Es handelt sich dabei
um das Semem, das die eigentliche oder wörtliche Bedeutung, die sich auf etwas
Konkretes, Dingliches bezieht, repräsentiert. Diese Ansicht steht im Einklang mit
Schmidt (1965, S. 26), für den die Hauptbedeutung die aktuelle Bedeutung ist, die
als die gesellschaftlich wichtigste Bedeutung bei isolierter Nennung des Wortes im
Bewusstsein der meisten Sprecher zuerst realisiert wird. Schippan (1992, S. 167)
wendet allerdings ein, dass bei vielen polysemen Wörtern infolge subjektiver Faktoren
sehr schwer festzulegen ist, welches der Sememe die Hauptbedeutung darstellt.
Diese Frage versucht laut Schippan die Psycholinguistik zu beantworten, indem
sie die Rangfolge der Sememe eines bestimmten Wortes experimentell durch
Assoziationstests zu ermitteln sucht. Dabei hat sich gezeigt, dass bestimmte
Sememe vor anderen in Abhängigkeit von der Häufigkeit ihres Gebrauchs rangieren.
Solche Sememe sind meist die nicht übertragenen Bedeutungen, die neutral und
nicht phraseologisch gebunden sind. Auch Čermák (1992, S. 253-254) misst dem
Frequenzkriterium im Aufbau eines Lemmas eine führende Rolle bei; Angaben
zur Frequenz sollten daher den stilistischen Angaben übergeordnet sein. Die
Zugehörigkeit zum Zentrum oder zur Peripherie des Wortschatzes macht
nach Filipec und Čermák (1985, S. 76) einen der acht Typen der lexikalischen
Bedeutung aus. Demnach sind zentrale, d.h. merkmallose, geläufige Bedeutungen
und periphere Bedeutungen, die nicht mehr geläufig sind, zu unterscheiden (vgl.
Filipec und Čermák, 1985, S. 87). Jede Wortart hat nach Filipec und Čermák (1985,
S. 77) im Zusammenhang mit ihrer primären und sekundären Funktion Zentrum
und Peripherie. So sind z.B. bei Verben finite Formen das grammatische Zentrum,
die Peripherie bilden Partizipien. In semantischer Hinsicht stehen nicht abgeleitete
Vollverben im Zentrum.
Der kurze Literaturüberblick im vorangegangenen Absatz zeigt, dass für die per
se anzunehmende Strukturierung des Bedeutungsfeldes von Lexemen in Zentrum
(„Hauptbedeutungen“) und Peripherie („Nebenbedeutungen“) verschiedene
Faktoren verantwortlich gemacht werden, zwischen denen in unterschiedlichem
Grade Abhängigkeitsbeziehungen angenommen werden. Betrachtet man die
einzelnen Faktoren isoliert, erhält man aufgrund des oben Gesagten folgende
Kriterien, auf die man sich bei der Festlegung von Haupt- und Nebenbedeutungen
stützen kann:
•
Häufigkeit (Frequenz): Bedeutungen mit hoher Token-Frequenz sind
zentral, solche mit niedriger Token-Frequenz peripher;
•
Präsenz im Bewusstsein der Sprecher: Bedeutungen, die von Sprechern
bei isolierter Nennung des Wortes zuerst assoziiert werden, sind zentral, solche,
die zunächst nicht assoziiert werden, sind peripher;
•
Kontextabhängigkeit: Bedeutungen, die ohne unterstützenden Kontext
zustande kommen, sind zentral, solche, die sich erst aus einem größeren
Kontext ergeben, peripher;
209
•
Wörtliche und übertragene Bedeutung: Die wörtlichen oder konkreten
Bedeutungen eines Wortes sind zentral, die übertragenen oder metaphorischen
Bedeutungen dagegen peripher.
Neben dem Problem der Praktikabilität bei der konkreten lexikographischen
Arbeit (vor allem beim zweiten, psycholinguistischen Kriterium) wirft die obige
Zusammenstellung zahlreiche Fragen auf, die genauer beleuchtet werden müssen.
So ist z.B. die Frequenz eines Lexems in einer bestimmten Bedeutung ein äußerst
relativer Wert, der stark von der Auswahl der Texte abhängt, auf denen die
Frequenzanalyse fußt. Die großen elektronischen Korpora versuchen zwar, diesem
Problem durch eine repräsentative Auswahl der Quellentexte3 beizukommen, ob
die Auswahlstrategien im Hinblick auf die ausdifferenzierte Sozialstruktur in den
westlichen Gesellschaften überzeugend sind, sei an dieser Stelle dahingestellt. Das
Problem verschärft sich noch, und dies wird der folgende Beitrag zeigen, wenn man
als Repräsentanten eines bestimmten Semems Wortformen zulässt, die verschiedenen Wortarten angehören. Daneben ergibt sich bei der Verwendung von
mehreren Kriterien das grundsätzliche Problem, wie die Entscheidung ausfallen
muss, wenn die unterschiedlichen Kriterien zueinander in Konflikt geraten. Trotz
der behaupteten Abhängigkeitsbeziehungen zwischen den einzelnen Faktoren
gibt es z.B. zunächst keinen Grund anzunehmen, dass die wörtliche Bedeutung
eines Lexems immer auch die Bedeutung mit der höchsten Token-Frequenz im
Korpus sein muss. Zudem sind manche der Kriterien zu vage, um ein zuverlässiges
Ergebnis zu garantieren. Dies betrifft in erster Linie das Kriterium der Kontextabhängigkeit, weil wir es hier offenbar mit einem Kontinuum zu tun haben und es
im Einzelfall sehr schwer sein kann zu entscheiden, wo das Zentrum endet und die
Peripherie beginnt.
Ein Kriterium, das bei Erstellung eines derivationellen Valenzlexikons (vgl.
Abschnitt 2) ins Blickfeld rückt, nämlich das grammatische Verhalten der Lexemvarianten bei der Realisierung in syntaktischen Kontexten, bleibt in der obigen
Zusammenstellung völlig unberücksichtigt. Der zentrale oder periphere Status einer
Lexikoneinheit sollte sich aber zumindest ebenso deutlich in ihrem valenzgrammatischen Verhalten wie in ihrer Frequenz in bestimmten Texten niederschlagen.
Schlussfolgerungen, zu denen man aufgrund von Beobachtungen zur Frequenz
gelangt, sollten sich also durch Beobachtungen zum grammatischen Verhalten der
3 Zur Frage, wie eine repräsentative Textauswahl für große elektronische Korpora auszusehen hat, gibt es eine
umfangreiche Fachliteratur, die hier nicht gebührend gewürdigt werden kann. Es sei lediglich auf Atkins, Clear und
Ostler (1992) hingewiesen, die auf den Unterschied zwischen Textrezeption und Textproduktion aufmerksam machen,
wobei zwischen beiden Bereichen erhebliche Unterschiede in der Vorkommenshäufigkeit der einzelnen Textsorten
bestehen können. Biber (1993) schätzt, dass bei der Textproduktion im Durchschnitt 90% der sprachlichen Aktivität
eines Sprachbenutzers auf die mündliche Produktion entfällt. Legt man diesen Wert als Kriterium für Repräsentativität
zugrunde, dann ist keines der großen Korpora auch nur annähernd repräsentativ. Derselbe Autor hebt gleichzeitig hervor, dass die linguistische Forschung im Allgemeinen nicht an Repräsentativität in diesem Sinne interessiert
ist: „Repräsentativ“ im linguistischen Sinne ist ein Korpus, in dem alle sprachlichen Erscheinungen vertreten sind,
nicht ein Korpus, das genau die Anteile der einzelnen Kontexte widerspiegelt, in denen Sprache produziert wird
210
Lexemvarianten entweder stützen oder aber korrigieren lassen.
Im Folgenden werden wir prüfen, ob man durch die Anwendung der oben
aufgezählten Kriterien in einem konkreten Fall zu eindeutigen Ergebnissen kommt.
Bei der Diskussion stützen wir uns auf das Sprachmaterial, das wir im Zuge der
Arbeiten an dem oben erwähnten Valenzlexikon bei der Erstellung des Lemmas
abfallen ausgewertet haben. Die Argumentation geht von bestimmten Grundannahmen aus, die der Konzeption unseres Valenzlexikons zugrunde liegen und die
wir im folgenden Abschnitt kurz darstellen.
3. Zur Konzeption eines derivationellen und kontrastiven
Valenzlexikons
Wie bereits erwähnt, ist der vorliegende Beitrag im Rahmen der Arbeiten an einem
kleinen Valenzlexikon entstanden, das seit 2015 an der Pädagogischen Fakultät der
Masaryk-Universität in Brünn erstellt wird. Die Projektgruppe ist dabei bemüht,
neuere Entwicklungen in der Valenztheorie zu berücksichtigen und für die lexikographische Praxis nutzbar zu machen. In unserem Zusammenhang ist zunächst
die klare Trennung zwischen Valenzpotential und Valenzrealisierung relevant
(vgl. Ágel, 2000; Karlík, 2000, 2004; Ágel Fischer, 2010). Das Valenzpotential ist
prinzipiell unabhängig von der morphosyntaktischen Realisierung der Aktanten.
Zwar können von Valenzträgern (VT) auch Forderungen nach spezifischen
Formmerkmalen ausgehen (vgl. Jacobs, 1994), diese sind aber keine notwendige
Voraussetzung für die Zuerkennung des Aktantenstatus an Begleiter im
syntaktischen Umfeld von VT. Bestimmte Formmerkmale ergeben sich aus dem
morphosyntaktischen Kontext der Realisierungsstruktur und müssen daher nicht
im Valenzpotential des VT festgelegt werden (vgl. die valenztheoretische Adaption
des Begriffes „struktureller Kasus“ bei Ágel, 1995 und Karlík, 2000).
Im Unterschied zu anderen valenztheoretischen Darstellungen wie etwa in VALBU
(Schumacher Kubczak Schmidt de Ruiter, 2004) oder Djordjević und Engel
(2009) definieren wir die Ergänzungen bzw. Aktanten daher nicht durch morphosyntaktische Merkmale (SubE, AkkE etc.), sondern durch thematische Rollen und
die Position im Aktantenrahmen. Dadurch wird eine einheitliche Erfassung des
Valenzpotentials von VT unterschiedlicher Wortarten möglich. Wir gehen z.B.
davon aus, dass man die Valenz-Realisierungsstrukturen im Umfeld des Verbs
abfallen und im Umfeld der Nominalisierungen Abfallen und Abfall auf einen
gemeinsamen Aktantenrahmen beziehen kann. Eine systematische lexikographische
Erfassung der entsprechenden Valenz-Realisierungsstrukturen auf der Folie eines
einheitlichen Aktantenrahmens als tertium comparationis macht es möglich, die
formalen Alternationen und Schwankungen bei der Valenzrealisierung in
(was angesichts der großen Unterschiede zwischen den verschiedenen Sprechern einer Sprache wohl auch utopisch und
gleichzeitig sinnlos sein dürfte).
211
verschiedenen Kontexten zu verfolgen, und bietet der weitere linguistischen
Forschung eine empirische Grundlage für die Formulierung entsprechender
Modelle.
Der zweite Punkt, der hier hervorgehoben werden soll, betrifft die (obligatorische
oder fakultative) Realisierung der Aktanten. Mit Jacobs (1994, 2003) nehmen wir an,
dass von VT Realisierungsforderungen ausgehen können, die einer eigenständigen
Valenz-Dimension NOT(wendig) zuzuordnen sind. Mit Grimshaw (1990) (für das
Englische) und Blume (2004) (für das Deutsche) nehmen wir weiter an, dass solche
Realisierungsforderungen auch von nominalen VT ausgehen können, sofern bei
der Nominalisierung die Ereignisstruktur erhalten bleibt.4 Weichen verbale und
nominale Realisierungen von VT in diesem Bereich voneinander ab, lassen sich
Schlussfolgerungen hinsichtlich der Vererbung des Valenzpotentials oder des
valenztheoretischen Status des jeweiligen VT ziehen.
Die von uns angesetzten Aktantenrahmen lassen sich gleichzeitig als tertium
comparationis für den Sprachvergleich nutzen. In der letzten Projektphase ist daher
geplant, die deutschen Lemmata um tschechische Äquivalente zu ergänzen,
wodurch Unterschiede bei der Valenzrealisierung und -vererbung in beiden
Sprachen durchsichtig gemacht werden können. Weiter unten im Beitrag
(Abschnitt 7) finden sich einige vorläufige Beobachtungen, die den Vorteil einer
kontrastiven Darstellung illustrieren.
Kommen wir nun zu unserer Fallstudie. Wie in der Lexikographie üblich, setzen wir
innerhalb des Lemmas abfallen verschiedene Varianten an, unter die wir allerdings
nicht nur die verbalen Realisierungen des Lexems, sondern auch die nominalen
Realisierungen subsumieren. Wir gehen dabei nicht davon aus, dass jede Variante
automatisch Vertreter aller Kategorien aufweist: Das weiter unten präsentierte
Material wird gerade zeigen, dass es Varianten gibt, die gegen bestimmte Nominalisierungen resistent sind.
4 Leider sehen wir uns außer Stande, den entsprechenden Unterschied (komplexe Ereignisnominalisierungen
vs. einfache Ereignisnominalisierungen) in unserem Valenzlexikon systematisch zu notieren. Hier sind die authentischen
Korpusbelege, die den Einträgen zugrunde liegen, häufig zu vage. Spätere Benutzer des Valenzlexikons, die mit der
genannten Unterscheidung arbeiten, müssten den Unterschied aufgrund unserer Notierung der Aktanten als
obligatorisch bzw. fakultativ erschließen. Resultatsnominalisierungen (oder „Sachbezeichnungen“ wie z.B. Abfall
‚weggeworfenes Material‘) betrachten wir allerdings grundsätzlich nicht als VT und nehmen entsprechende Belege
nicht in unser Valenzlexikon auf.
212
Aufgrund eines Subkorpus5 von 105 Belegen, das wir per Zufallsauswahl aus den
Belegen im Referenzkorpus des Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim
[DeReKo] zusammengestellt haben, identifizieren wir für abfallen in verbalen
Kontexten insgesamt sieben Bedeutungsvarianten, die sich hinsichtlich der
thematischen Rollen der Aktanten, der Selektionsbeschränkungen für die Besetzung
der Valenzpositionen und / oder bestimmter Bedeutungskomponenten in der
lexikalischen Struktur unterscheiden. Einen Überblick bietet Tabelle 1, die neben einer
Bedeutungsparaphrase und der thematischen Struktur der jeweiligen Variante ein
authentisches (ggf. gekürztes oder vereinfachtes) Beispiel für eine Verwendung des
VT in verbalem Kontext zeigt.
Variante
Bedeutungsparaphrase
thematische
Struktur
Beispiel
abfallen1
‚sich von etwas
lösen‘
Thema, Origo, Direktiv (Benifizient)
Der Putz ist hohl geworden
und fällt fast von selber ab.
‚in eine (schlechtere) Position
geraten‘
Thema, Direktiv
abfallen2
Die Jugendlichen fallen in die
Kriminalität ab.
abfallen3
‚sich vermindern,
abnehmen‘
Patiens
Beim VW Passat fällt die
Drehzahl rapide ab.
‚sich im Hinblick
auf einen Wert
verschlechtern‘
Ferens, Patiens
abfallen4
Lediglich einige Spieler fielen
in ihren Leistungen etwas ab.
abfallen5
‚eine psychische
Belastung verlieren‘
Thema, Origo
Auf dem Flughafen fällt alle
Last von den Helfern ab.
‚sich in einer
abschüssigen Lage
befinden‘
Ferens
abfallen6
Das sandige Ufer fällt nach
wenigen Metern steil ab.
abfallen7
‚einen Gewinn von
etwas haben‘
Thema, Benefizient
Für die Vertreter fällt keine
Provision ab.
Tab. 1: Varianten des VT abfallen
5 Insgesamt enthält unser Subkorpus 105 verbale Kontexte (abfallen), 441 Infinitiv-Nominalisierungen (Abfallen)
und 202 Wurzel-Nominalisierungen (Abfall, allerdings nur in Ereignislesart, nicht als Sachbezeichnung im Sinne von
‚weggeworfenes Material‘). Auf dieses Subkorpus beziehen sich auch die Frequenzangaben in den folgenden
Abschnitten. Die ungeraden Zahlen kommen dadurch zustande, dass aus dem Subkorpus einerseits falsche Treffer
entfernt werden mussten, andererseits Ergänzungen notwendig waren, wenn bestimmte Varianten in bestimmten
Kategorien sehr schwach oder gar nicht belegt waren. Bei den Ergänzungen wurden dann aber nicht gezielt Belege für
die fehlenden Varianten hinzugefügt, sondern alle weiteren Belege registriert, so dass es nicht zu Verzerrungen in der
prozentualen Vertretung der einzelnen Varianten kommen sollte.
213
Variante 1 teilen wir außerdem in zwei Subvarianten ein, je nachdem, ob eine
Bewegung im wörtlichen Sinne bezeichnet wird (abfallen1a, z.B. Der Putz fällt ab.)
oder ob nur im bildlichen Sinne von einer Loslösung gesprochen werden kann
(abfallen1b, z.B. Die Gläubigen fallen vom Islam ab.).
Als Bezugspunkt für die folgende Diskussion ist es eventuell sinnvoll, den kompletten
Lexikoneintrag für eine der Varianten von abfallen vor Augen zu haben. Wir wählen
dafür Variante 1 ‚sich von etwas lösen‘, die wir als zentral für das Lemma betrachten.
Aus dem Musterlemma wird zugleich die Struktur von Lexikoneinträgen deutlich,
wie wir sie für unser Valenzlexikon vorsehen.
abfallen1
‚sich von etwas lösen‘
← fallen1
Aktionsart: punktuell / iterativ
A-2 (Thema)
[–hum]
PER (Origo)
ERW (Benefizient)
[+hum]
Realisierungsschema:
A-2
PER
mikro
ERW
makro
aktiv:
Nom
ab-
(von+Dat)
Infinitiv-Nominalisierung:
Gen/von+Dat ab(Poss)
(von+Dat)
Wurzel-Nominalisierung:
(Gen/von+Dat/ abPoss)
(von+Dat)
(Dat)
Beispiele:
Der Putz ist hohl geworden und fällt fast von selber ab.
Ihre Samen fallen von der Pflanze ab.
Der falsche Schnurrbart ist dem Schauspieler abgefallen.
[…] durch ihr Abfallen schleudern die Eisklumpen Schottersteine nach
oben.
Der Stoff verhindert das vorzeitige Abfallen der Birnen von den
Bäumen.
Beim Abfall der Blätter zerreißen sie […]
Das Herzstück des Eintrags stellt das Realisierungsschema dar. Aus diesem Schema
ist z.B. zu entnehmen, dass der Zweitaktant mit der Rolle „Thema“ (sich bewegender
214
Partizipant) im verbalen Kontext als Nominalgruppe mit dem Realisierungsmerkmal „Nominativ“ realisiert wird, im Kontext von Nominalisierungen
dagegen als Nominalgruppe mit dem Realisierungsmerkmal „Genitiv“ oder als
Präpositionalgruppe mit der Präposition von, u. U. auch als pränominaler Possessor.
Die Klammerung zeigt fakultative Realisierung an.
4. Frequenzanalyse bei verbaler und nominaler Realisierung
des Valenzträgers
Wie bereits erwähnt, betrachten wir die Variante mit der Bedeutung ‚sich von etwas
lösen‘ (wie z.B. in Die Samen fallen von der Pflanze ab) als die zentrale Variante
des VT. Wir stützen uns dabei zunächst rein auf die Intuition, dass bei dieser
Variante die wörtliche, konkrete Bedeutung des Verbs vorliegt. Wenn die in
Abschnitt 1 ausgeführte Annahme, die zentrale Variante eines Lemmas sei zugleich
die am häufigsten in Texten auftretende Variante, richtig ist, müsste Variante 1 in
unserem Material die höchste Frequenz aufweisen. Umgekehrt müsste Variante
4 ‚sich im Hinblick auf einen Wert verschlechtern‘, die wir (wegen „übertragener“
Bedeutung: Spieler fallen nicht im wörtlichen Sinn, wenn sie in ihren Leistungen
abfallen) als peripher betrachten, eine relativ niedrige Frequenz aufweisen.
Die tatsächlichen Verhältnisse sind Tabelle 2 zu entnehmen, die den prozentuellen
Anteil von drei Varianten am Gesamtvorkommen von abfallen – bezogen auf
den jeweiligen kategorialen Kontext – zeigt. Varianten 1a und 1b sowie Variante
4 wurden oben bereits vorgestellt; Variante 3 (‚sich vermindern, abnehmen‘ wie
z.B. in Der Druck fällt rapide ab) wird noch einmal genauer in Abschnitt 4 (zusammen
mit abfallen4) diskutiert und stellt u.E. eine weitere zentrale Variante des Lexems
dar.
VT-Kategorie
Variante
verbal
Infinitiv-Nominalisierung Wurzel-Nominalisierung
abfallen1a
13%
38%
1%
abfallen
1%
12%
43%
abfallen
12%
37%
44%
abfallen
26%
4%
7%
1b
3
4
Tab. 2: Token-Frequenz für VT-Realisierungen von abfallen (Subkorpus aus DeReKo)
Betrachten wir zunächst die verbalen Kontexte. Entgegen der ursprünglichen
Erwartung ist Variante 1 hier keineswegs die am häufigsten auftretende Variante.
Auch wenn man die beiden Subvarianten für die wörtliche und übertragene
215
Bedeutung zusammennimmt, macht das Vorkommen von Variante 1 lediglich
14% des Gesamtvorkommens von abfallen im verbalen Bereich aus. Unter allen sieben Varianten nimmt Variante 1 im Hinblick auf die Frequenz gerade einmal den
4. oder 5. Platz ein. Die häufigste Variante in unserem Subkorpus ist überraschenderweise gerade die von uns als peripher betrachtete Variante 4. In unserem
Subkorpus ist sie mit 27 verbalen Kontexten vertreten, was bei einer Gesamtmenge
von 105 Belegen ca. 26% des Gesamtvorkommens von abfallen entspricht. Würden
wir uns bei der Gliederung des Lemmas nach dem Frequenzkriterium richten,
müssten wir ‚sich im Hinblick auf einen Wert verschlechtern‘ demnach als
Hauptbedeutung des Lexems abfallen festlegen.
Beziehen wir nun im nächsten Schritt die nominalen Kontexte in die Betrachtung
mit ein. Ein Blick in Tabelle 2 zeigt, dass sich die Verhältnisse im Vergleich zum
verbalen Bereich hier geradezu umkehren. Besonders die Frequenz der InfinitivNominalisierung (das Abfallen) entspricht nunmehr ziemlich genau unseren
Erwartungen. Am häufigsten ist im Subkorpus die von uns als zentral eingeschätzte
Variante 1a vertreten (in der Tabelle durch graue Schattierung hervorgehoben), es
folgt die ebenfalls zentrale Variante 3 und erst ganz am Ende (mit 4%) die von uns
als peripher eingestufte Variante 4.
Auch die Frequenz der Wurzel-Nominalisierung (der Abfall) folgt dieser hierarchischen Ordnung, nimmt man die übertragen gebrauchte Variante 1b als
Realisierung von abfallen1 mit hinzu. Die Tabelle zeigt aber auch, dass hier offenbar
eine Spezialisierung stattgefunden hat: Die Wurzel-Nominalisierung deckt bei
abfallen1 den übertragenen Gebrauch (Abfall vom Glauben) ab, die InfinitivNominalisierung dagegen den wörtlichen Gebrauch (das Abfallen der Samen).
Woran liegt es nun, dass sich im verbalen Bereich Frequenzwerte ergeben, die
unserer Intuition hinsichtlich des zentralen bzw. peripheren Status der Varianten
zuwiderlaufen, wohingegen die Frequenz im nominalen Bereich ein zuverlässiger
Indikator für Zentrum und Peripherie zu sein scheint? Was den verbalen Bereich
betrifft, so macht sich hier sicher die Textsorte bemerkbar, die in [DeReKo] am
stärksten vertreten ist. In Zeitungstexten, die auch dem Kultur- und Sportteil der
jeweiligen Blätter entnommen sind, besteht vermehrter Benennungsbedarf für
das Schwanken von Werten, deren Träger Sportler oder Kulturschaffende bzw. die
Werke dieser Personengruppen sind, d.h. Bedarf für Variante 4. Derselbe Faktor
müsste allerdings auch bei den Nominalisierungen wirksam sein. Eine Erklärung,
die nur auf die Textsorte rekurriert, greift daher zu kurz.
Um das Ungleichgewicht bei der Frequenz der verschiedenen Varianten erklären zu
können, müsste man annehmen, dass die Nominalisierung der peripheren Variante
aus irgendeinem Grund blockiert oder zumindest gehemmt ist. In diesem Falle
würde durch die im Korpus vertretenen Textsorten zwar einheitlich das Auftreten
von abfallen4 einseitig auf Kosten der anderen Varianten favorisiert, diese Tendenz
216
könnte sich aber nur beim verbalen VT bemerkbar machen; das „überschüssige“
Potential für nominale Bildungen bei abfallen4 würde durch die Bildungsbeschränkungen aus dem faktisch vorhandenen Korpusmaterial gewissermaßen
herausgefiltert.
Ob die Bildungsbeschränkungen eine linguistische Basis haben, ist im Moment
schwer zu sagen. Es könnten auch stilistische Faktoren für die niedrige Frequenz
von nominalem abfallen4 verantwortlich sein, da die Variante, wie bereits gesagt,
vor allem im Kontext der Berichterstattung zu kulturellen und sportlichen
Ereignissen zu erwarten ist, d.h. in Texten, die generell wohl eher wenig nominalisierungsfreudig sind. Die beiden zentralen Varianten 1 und 3 eignen sich dagegen
auch zur Beschreibung von technischen Abläufen, wie sie in Fachtexten enthalten
sind. Solche Texte zeichnen sich nach allgemeinen Annahmen (z.B. Möhn Pelka,
1984, S. 19-21; Eroms, 2008, S. 119-120) durch eine hohe Frequenz an Nominalisierungen aus. Wir wollen es an dieser Stelle dabei bewenden lassen und prüfen im
Folgenden die Valenzrealisierung in der Umgebung von peripheren Varianten auf
Besonderheiten.
5. Valenzrealisierung in der Umgebung von peripheren Varianten
Um festzustellen, ob die von uns als peripher eingestufte Variante 4 von abfallen
Besonderheiten bei der Realisierung des Valenzpotentials aufweist, haben wir das
Material in unserem Subkorpus einer weiteren statistischen Analyse unterzogen.
Dabei haben wir untersucht, wie häufig die im Aktantenrahmen des virtuellen VT
verankerten Aktanten tatsächlich realisiert wurden. Die Ergebnisse für abfallen3
(als zentrale Variante) und abfallen4 (als periphere Variante) sind aus Tabelle 3
ersichtlich.
A-2
A-3
PER
PER
Patiens / Ferens
Patiens
Origo
Direktiv
verbal:
100%
–
8%
23%
Inf.-Nom.:
92%
–
3%
11%
Wurzel-Nom.:
81%
–
3%
11%
verbal:
100%
0%
–
–
Inf.-Nom.:
74%
5%
–
–
Wurzel-Nom.:
14%
36%
–
–
Variante
Kontext
abfallen3
abfallen
4
Tab. 3: Valenzrealisierung bei zwei Varianten von abfallen (Subkorpus aus DeReKo)
217
Um zu verstehen, wie der hohe Wert bei der A-2-Realisierung im nominalen
Bereich von abfallen3 zustande kommt, ist ein kurzer Exkurs erforderlich.
Die Verhältnisse in der syntaktischen Umgebung von nominalen VT weisen
starke Ähnlichkeit zu den Verhältnissen auf, die für verbale Konstruktionen in der
Rektions- und Bindungstheorie (Chomsky 1981) mit Bindungsprinzip C erfasst
werden. Betrachten wir zur Illustration das konstruierte Beispiel (1):
(1) Der Mitarbeiter befürchtet, dass der Mitarbeiter den Job verliert.
Sieht man einmal von der stilistischen Fragwürdigkeit des Beispiels ab, so
lässt sich der Satz nur so interpretieren, dass sich die beiden Vorkommen der
Nominalgruppe (NG) der Mitarbeiter auf zwei verschiedene Personen beziehen.
Will man sich zwei Mal auf denselben Mitarbeiter beziehen, so muss man die
zweite NG durch ein Pronomen ersetzen. Alternativ kann man ganz auf die
Realisierung des Erstaktanten von verlieren verzichten, muss aber dann – wegen
der im Deutschen strukturell obligatorischen Subjektposition bei finiten Verben im
Aktiv – die Konstruktion infinit formulieren:
(2) Der Mitarbeiter befürchtet, den Job zu verlieren.
Angesichts von Konstruktionen wie (2) lässt sich die weit verbreitete These von
der Subjektergänzung als obligatorischer Ergänzung (von der auch wir implizit
bei der quantitativen Auswertung der verbalen Kontexte in Tabelle 3 ausgegangen
sind) nur dann aufrechterhalten, wenn man in (2) eine verdeckte Realisierung des
A-1 von verlieren ansetzt.6 Nach derselben Strategie sind auch wir bei der Analyse
der nominalen Kontexte vorgegangen. (3a) zeigt einen authentischen Beleg für
abfallen3 aus [DeReKo]. Die Realisierung von A-2 fehlt. Würde man in diesem
Kontext A-2 realisieren, erhielte man einen Satz wie (3b), der u. E. nicht mehr als
grammatisch einwandfrei betrachtet werden kann.
(3)
a. […] droht daraus den Bezügen aus dem Versorgungswerk das beschriebene
Abfallen.
b. *droht daraus den Bezügen aus dem Versorgungswerk das beschriebene
Abfallen der Bezüge.
Fälle wie (3a) haben wir daher als verdeckte Valenzrealisierung verbucht und in
der statistischen Auswertung den Fällen von offener Valenzrealisierung zugerechnet. Bei der Infinitiv-Nominalisierung von abfallen3 machen Fälle von offener A-2Realisierung in unserem Subkorpus 86% aller registrierten Fälle von abfallen3 aus,
hinzu kommen 6% verdeckte Realisierungen im oben umrissenen Sinne. Dadurch
entsteht die in Tabelle 3 angeführte Realisierungsquote von 92%.
6 Eine alternative Ansicht vertritt Herbst (2003), der „obligatorisch“ im Sinne der Valenztheorie von „obligatorisch“ im
strukturellen Sinne unterscheidet. Damit wird allerdings die These von der Subjektergänzung (im Deutschen) als einer
generell obligatorischen Ergänzung hinfällig.
218
Eine Realisierungsquote von 92% lässt sich wohl kaum anders denn als
obligatorisch bezeichnen. Unser Material belegt also, dass – entgegen einer weit
verbreiteten Annahme – auch von Substantiven Realisierungsforderungen im Sinne
von Jacobs (1994) ausgehen können (so auch Grimshaw 1990; Blume 2004). Tabelle 3
zeigt aber auch, dass es zwischen den Varianten des VT deutliche Unterschiede
bei der Realisierung des Valenzpotentials gibt. Bei abfallen4 beträgt die Quote der
A-2-Realisierung im Kontext der Infinitiv-Nominalisierung nur noch 74%, bei
der Wurzel-Nominalisierung gar nur noch 14%. Diesen Unterschied muss man
zunächst einmal zur Kenntnis nehmen. Ob es sich hier um einen Zufall handelt
(ggf. bedingt durch die relativ bescheidene Menge an Belegstellen in unserem
Subkorpus)7 oder ob sich ähnliche Regularitäten auch bei anderen Lexemen zeigen,
wird sich erst im Zuge der weiteren Arbeit am Valenzlexikon klären lassen.
Prinzipiell ließen sich zwei Hypothesen formulieren, die den Befund erklären könnten.
Zum einen könnte man annehmen, dass die Nominalisierung von peripheren Varianten
eher zum Verlust der Ereignisstruktur und damit (laut Grimshaw 1990 und Blume
2004) gleichzeitig zum Verlust des Aktantenrahmens führt als die Nominalisierung
von zentralen Varianten. Alternativ könnte man annehmen, dass der Aktantenrahmen auch bei der Nominalisierung von peripheren Varianten erhalten bleibt,
dabei aber die Realisierungsforderungen schwinden, die vom verbalen VT und
von nominalen VT der zentralen Varianten ausgehen. Wir müssen die Frage hier
offen lassen und betrachten im Folgenden den Aktantenrahmen der u. E. peripheren
Variante 4 etwas genauer.
6. Verschiebungen im Aktantenrahmen von peripheren
Lexemvarianten
Wenn man die syntaktischen Umgebungen, in denen abfallen4 realisiert wird,
genauer untersucht, dann fällt zunächst auf, dass die höchste Valenzposition
merkwürdigen Selektionsbeschränkungen unterliegt. Das Verb abfallen ist ein
Vorgangsverb und sollte daher für die A-2-Position primär Ausdrücke selegieren,
die unbelebte Partizipanten bezeichnen. Abfallen4 verhält sich in dieser Hinsicht
aber gerade umgekehrt: Die A-2-Position ist primär durch Substantive besetzbar,
die Menschen, Menschengruppen oder menschliche Institutionen bezeichnen,
vgl. (4). Sekundär sind auch Produkte menschlicher Tätigkeit zugelassen, (5).
Beispiel (6) zeigt eine Kombination von beiden Typen.
(4)
(5)
a. Lediglich einige Spieler fielen in ihren Leistungen etwas ab.
b. Für Experten ist das Abfallen Wiens allerdings leicht erklärbar.
Das folgende Album […] war dann üppig mit digitalen Beats und anderem
Krimskrams ausgestattet, die Lieder aber, die fielen ab.
7 Für abfallen4 verfügen wir über 19 Belege mit Infinitivnominalisierungen und 14 Belege mit Wurzelnominalisierungen.
219
(6)
Schostakowitschs recht oberflächliche „Festliche Ouvertüre“ fällt gegenüber
seinen Jazz-Suiten noch deutlicher ab als Bernstein mit seiner „Candide“
-Ouvertüre.
Zum anderen lassen sich Besonderheiten bei der Realisierung der lokalen Aktanten
feststellen. Wie dem Realisierungsschema im Lexikoneintrag in Abschnitt 2 (Abb.
1) zu entnehmen ist, betrachten wir das Präfix ab- als Mikrorealisierung eines
lokalen Aktanten mit der thematischen Rolle „Origo“ (zu Präfixen als Mikrorealisierungen, vgl. Ágel, 2000, S. 144; Eroms, 2012, S. 40). Bei den zentralen Varianten
von abfallen ist die Expansion der Mikrorealisierung auf Makroebene – in
Übereinstimmung mit dem üblichen Realisierungsschema des Deutschen –
problemlos möglich. In unserem Korpus finden sich dagegen kaum Belege von
abfallen4, bei denen die Origo sowohl auf Mikro- als auch auf Makroebene realisiert
wäre. Dies scheint kein Zufall zu sein. Die Expansion der Mikrorealisierung führt
in vielen Fällen zu grammatisch fragwürdigen Ergebnissen, wie (7a) zeigt. Man
vergleiche (7a) mit dem Beleg (7b) für die zentrale Variante abfallen1 und (7c) für
die ebenfalls zentrale Variante abfallen3, bei denen die Makrorealisierung völlig
unauffällig ist.
(7)
a. *Lediglich einige Spieler fielen in ihren Leistungen von Höchstwerten etwas ab.
b. Vor kurzem fielen auch zahlreiche Backsteine von der Südwand der Ruine ab.
c. Die Elektronegativität fällt von 1,5 bei Beryllium auf 1,0 bei Calcium ab […]
Die Makrorealisierung ist nur bei einigen Beispielen möglich, die nach
unserer Klassifizierung im Übergangsbereich zu abfallen2 ‚in eine (schlechtere)
Position geraten‘ anzusiedeln sind.8 (8a) zeigt ein Beispiel im Übergangsbereich,
(8b) ein klares Beispiel für Variante 2.
(8)
a. Bei der CDU, die von 39 auf 34,4% abgefallen war, wächst die Besorgnis über
das Schicksal ihres Bündnispartners.
b. Nach vier Spielen ohne Sieg sind die Gäste vom dritten auf den neunten
Tabellenplatz abgefallen.
Sieht man von den Beispielen in der Grauzone zwischen abfallen2 und
abfallen4 ab, dann ließe sich für abfallen4 sagen, dass die Makrorealisierung der
Origo blockiert ist. Dies ist bemerkenswert, da die entsprechende Bedeutungskomponente, wie die Mikrostruktur zeigt, integraler Bestandteil der Bedeutungsstruktur des VT ist. Eine Blockade auf Makroebene muss daher als Anomalie gelten,
was weiter für den peripheren Status der Variante spricht.
8 Dass es sich um zwei verschiedene Fälle handelt, zeigt die (In-)Kompatibilität mit einer in-Gruppe (vgl. weiter
unten im Haupttext). Bei (8a) ist eine in-Gruppe möglich, bei (8b) nicht: Die CDU ist in den Wählerpräferenzen von
39 auf 34,4% abgefallen vs. *Die Gäste sind in ihren Leistungen vom dritten auf den neunten Tabellenplatz abgefallen.
Entsprechend kann (8a) zu Die Wählerpräferenzen der CDU sind von 39 auf 34,4% abgefallen umgeformt werden, (8b)
dagegen nicht (*Die Leistungen sind vom dritten auf den neunten Tabellenplatz abgefallen).
220
Die dritte bemerkenswerte Eigenschaft von abfallen4, die für uns gleichzeitig
das Definitionskriterium für die Abgrenzung dieser Variante darstellt, ist das
Vorkommen einer Präpositionalgruppe (PG) mit der Präposition in. Eine in-PG ist
weder bei Variante 1 (vgl. 9a), noch bei Variante 3 (vgl. 9b) möglich.
(9)
a. *Die Samen fallen in ihrer Höhe von der Pflanze ab.
b. *Die Drehzahl fällt in ihrer Geschwindigkeit beim Passat rapide ab.
Der Kontrast zwischen (4a) und (9) belegt, dass die in-PG subklassenspezifisch ist und daher nach allgemeiner Auffassung (vgl. z.B. Engel, 1994, S. 99;
Welke, 2011, S. 54) als Aktant betrachtet werden muss. Dafür gibt es noch weitere
Belege.
(a) Die in-PG ist sinnnotwendig. Beispiele für abfallen4, bei denen keine in-PG
realisiert ist, sind ohne unterstützenden Kontext kaum interpretierbar, vgl. (10a):
(10)
a. ?Wir haben festgestellt, dass die Modeartikel abgefallen sind.
Beispiel (10a) ist nach einem authentischen Beleg aus [DeReKo] konstruiert, den
wir in (10b) anführen. Hier stellt die nunmehr realisierte in-PG eine problemlose
Interpretation sicher:
(10)
(11)
b. Die Trend- und Modeartikel fallen schnell in der Käufergunst ab.
(b) Im Umfeld von abfallen4 können modifizierende Adjektive auftreten,
die auf eine Bedeutungskomponente in der semantischen Struktur des
VT Bezug nehmen, vgl. (11).
a. Fünf neue Songs werden ins Programm gestreut, […] nur „Anything
Goes“ fällt stimmungsmäßig etwas ab.
b. Die Töne sitzen formidabel, niemand fällt gesanglich ab.
c. Gleichzeitig stellte er einen „qualitativen Abfall“ des Bundestages fest.
Die Möglichkeit des Auftretens von Modifikatoren wie stimmungsmäßig, gesanglich oder qualitativ belegt, dass die entsprechende Komponente in der Bedeutungsstruktur des VT tatsächlich vorhanden sein muss. Der VT enthält offenbar eine
Leerstelle für Ausdrücke wie Stimmung, Gesang oder Qualität, auf die (bei ausbleibender Realisierung in einer Valenzposition) durch entsprechende Adjektive oder
Adverbien Bezug genommen werden kann. Leerstellenbesetzung (vgl. Der Bundestag fällt qualitativ ab ↔ Der Bundestag fällt in seiner Qualität ab) ist nun aber
wiederum ein Kriterium für die Zuweisung des Aktantenstatus an einen Begleiter.
Wenn die in-PG in der Umgebung von abfallen4 ein Aktant ist, muss im nächsten
Schritt bestimmt werden, welche thematische Rolle diesem Aktanten zuzuweisen
ist. Betrachtet man die Beispiele in (4a), (10b) und (11), dann drängt sich der
Eindruck auf, dass die in-PG hier dieselbe Rolle realisiert, die bei der zentralen
Variante 3 ‚sich vermindern, abnehmen‘ in der Subjektposition realisiert wird. In
221
(4a) sind es z.B. nicht die Spieler, die sich vermindern oder abnehmen, sondern
deren Leistung. Eine Verminderung oder eine Abnahme stellt eine
Zustandsänderung dar, womit der entsprechende Aktant nach unserer Definition
als „Patiens“ charakterisiert werden muss. Der Aktant, der bei abfallen4 in der
Subjektposition realisiert wird, ist nicht die abnehmende Größe, sondern der Träger
dieser Größe. Den Träger einer Größe oder Relation klassifizieren wir nach Engel
(1991, S. 360) als „Ferens“ (FER).
Derselbe Eindruck entsteht, wenn man deutsche Strukturen, die abfallen4
enthalten, mit möglichen Übersetzungsäquivalenten im Tschechischen vergleicht.
In (12) stellen wir einem authentischen Beleg aus [DeReKo] (oben bereits unter 10b
angeführt) eine konstruierte tschechische Übersetzung gegenüber, die zwar kein
genaues strukturelles Äquivalent zu abfallen enthält,9 dafür aber die Satzbedeutung von (12a) in flüssiges Tschechisch überträgt. (Die wörtliche Übersetzung des
tschechischen Satzes ist dem Beispiel 12b beigefügt.)
(12)
a. Die Trend- und Modeartikel fallen schnell in der Käufergunst ab.
b. Módní a trendové zboží rychle ztrácí přízeň spotřebitelů.
= ‚Die Trend- und Modeartikel verlieren rasch die Gunst der Käufer.‘
Man erkennt, dass der Aktant, der im Deutschen als in-PG realisiert wird, in
der tschechischen Übersetzung eine Entsprechung im direkten Objekt des Verbs
ztrácet ‚verlieren‘ findet. Eine Klassifizierung als „Patiens“ (‚Der Partizipant, der
einer Veränderung in der Besitz-Relation unterliegt‘) liegt daher nahe. Der Träger
der Pertinenzrelation (FER), der im Deutschen die Subjektposition einnimmt,
erscheint im Tschechischen dagegen als Attribut des direkten Objekts. Stellt man
den Aktantenrahmen für abfallen4 im Deutschen dem Aktantenrahmen von ztrácet
im Tschechischen gegenüber, dann ergibt sich folgendes Bild:
A-1
A-2
A-3
Ferens
Patiens
Rezipient
Patiens
abfallen
4
ztrácet
Tab. 4: Aktantenrahmen von abfallen im Sprachvergleich
Das Patiens von abfallen4 erscheint gegenüber dem Patiens von ztrácet als in eine
tiefere Position des Aktantenrahmens (A-3) verschoben. Der Aktant mit der Rolle
„Ferens“, der im Tschechischen keine Aktantenposition des Rahmens besetzt
(nicht „aktantifiziert“ ist), nimmt im Deutschen die höhere Position (A-2) ein. Ein
ähnliches Bild ergibt sich, wenn man die (unserer Ansicht nach) periphere Variante
4 mit der zentralen Variante 3 vergleicht: Wieder ließe sich von einer
„Demovierung“ des Patiens in eine niedrigere Position des Aktantenrahmens sprechen.
9 Zu authentisch belegten Übersetzungsäquivalenten für abfallen4 im Tschechischen kommen wir genauer in
Abschnitt 7.
222
A-2
abfallen3
Patiens
abfallen
Ferens
4
A-3
Patiens
PER
PER
Origo
Dir
Origo
Tab. 5: Aktantenrahmen einer zentralen und einer peripheren Variante von abfallen
Was sagt diese Analyse nun hinsichtlich des Status der Variante abfallen4 aus?
Zunächst ist festzustellen, dass ein Aktantenrahmen der Form (Ferens (Patiens
(Origo))) den üblichen Annahmen über die Abbildung von thematischen Rollen
auf syntaktische Positionen widerspricht. Die Abbildung eines Patiens auf eine
niedrigere Position im Aktantenrahmen setzt die Anwesenheit eines höheren
Aktanten mit Proto-Agenseigenschaften voraus. Fehlt ein solcher Aktant (wie bei
abfallen4), müsste das Patiens in die höchste verfügbare Position des Aktantenrahmens (bei abfallen3 ist dies A-2) aufrücken. Der Rahmen von abfallen4 verstößt
also gegen die gängigen thematischen Hierarchien, die in der Literatur vorgeschlagen
wurden (vgl. Levin Rappaport Hovav, 2005, S. 163). Wir interpretieren diesen
Befund dahingehend, dass es sich bei abfallen4 um eine stark markierte und damit
periphere Variante von abfallen handelt, bei der allgemeingültige sprachliche
Regularitäten bei der Organisation von Aktantenrahmen umgangen werden.10
7. Kompositabildung bei der zentralen und peripheren
Variante von abfallen
Die traditionelle Lexikographie würde abfallen4 wohl als Fall von metonymischer
Ausdehnung der Bedeutung von abfallen3 interpretieren. Für die sich vermindernde
Größe tritt metonymisch der Träger dieser Größe ein. Eine solche Analyse würde
die Regularitäten, die wir hier mit Hilfe eines grammatischen Apparats beschrieben
haben, von der grammatischen Darstellung ausschließen und in den Bereich
der Rhetorik verweisen. Es stellt sich daher die Frage, ob die von uns diagnostizierten Unterschiede im Aktantenrahmen von abfallen3 und abfallen4 grammatisch
relevant sind bzw. ob sie sich in objektiv nachprüfbaren Grammatikalitätskontrasten niederschlagen. Uns scheint, dass dies tatsächlich der Fall ist.
Einen ersten Anhaltspunkt liefert bereits der weiter oben im Text unter dem
Stichwort „Subklassenspezifik“ beschriebene Kontrast zwischen (4a) und (9).
Betrachtet man die in-PG als Patiens-Realisierung, dann ergibt sich die
Ungrammatikalität der Beispiele in (9) aus dem Prinzip, dass jeder Aktantenrahmen
10 Wie Variante 4 mit diesen Regularitäten wieder in Einklang zu bringen wäre, ist eine Frage, die die analytischen
Möglichkeiten eines Valenzlexikons übersteigt. Denkbar wäre, dass wir es hier mit etwas Ähnlichem wie mit der
Possessor-Anhebung beim Pertinenzdativ (vgl. z.B. Apresjan, 1974, S. 153; Meľčuk, 2004, S. 264) zu tun haben. Auf die
Implikationen, die eine solche Analyse mit sich bringen würde, können wir hier nicht eingehen.
223
jeweils nur eine thematisch festgelegte Rolle enthalten darf. In (9) ist das Patiens bereits in
der Subjektposition realisiert. Eine weitere Patiens-Realisierung ist daher nicht mit
dem „Ein-Mal-pro-Satz-Prinzip“ (vgl. Starosta, 1988, S. 138) vereinbar. Beispiel (4a)
weist dagegen nach unserer Analyse kein Patiens in der Subjektposition auf; das
im Aktantenrahmen implizierte Patiens kann daher in Form einer PG realisiert
werden, ohne dass der Satz ungrammatisch wird.
Ein weiterer Hinweis ergibt sich aus den Verhältnissen bei der Kompositabildung.
In (13) listen wir einige häufig in [DeReKo] belegte Komposita mit -abfall als
Zweitglied auf.
(13) Blutdruckabfall, Druckabfall, Energieabfall, Hormonabfall, Konzentrationsabfall,
Leistungsabfall, Östrogenabfall, Qualitätsabfall, Temperaturabfall
Es fällt auf, dass das Vorderglied in allen Fällen das Patiens des Basisverbs
spezifiziert. So verringert sich bei einem Druckabfall der Druck, bei einem
Hormonabfall sinkt die Konzentration des Hormons usw. Testen wir nun, wie
die oben angeführten Beispiele für abfallen4 auf die Kompositabildung reagieren.
Relevante Beispiele finden sich in (14):11
(14) *Spielerabfall, *Liederabfall, *Ouvertürenabfall, *Bernstein-Abfall, *Modeartikelabfall
Wie immer man die Daten in (13) und (14) auch deuten mag, es bleibt zumindest
die Feststellung, dass sich der Aktant, der in der Subjektposition von abfallen3
realisiert wird, grammatisch anders verhält als der Aktant, der in der Subjektposition von abfallen4 realisiert wird. Im ersten Fall steht er für die Interpretation
des Vordergliedes eines Kompositums zur Verfügung, im zweiten Fall nicht. Die
einfachste Deutung der Verhältnisse in (13) und (14) könnte daher von einem
Rollenunterschied bei A-2 ausgehen, wobei nur eine der angesetzten Rollen im
Inneren eines Kompositums zugelassen wäre. Genau einen solchen Unterschied bei
der Rolle von A-2 konstatieren wir in Tabelle 5.
Eine weitergehende Erklärung könnte sich auf die Reihenfolge der Aktanten im
Aktantenrahmen stützen. So nehmen z.B. Lieber (1983) und Grimshaw (1990) an,
dass es eine Hierarchie bei der Sättigung der Argumente des Basisverbs gibt. Im
Inneren eines Kompositums muss immer zuerst der rangniedrigere Aktant
realisiert bzw. absorbiert werden, ein weiterer Aktant kann dann außerhalb des
Kompositums realisiert werden. Der rangniedrigere Aktant ist im Falle von abfallen4
das Patiens; die Realisierung von Ferens als Vorderglied eines Kompositums wie in
(14) würde daher gegen die Realisierungshierarchie verstoßen, da der rangniedrigere
11 Die Grammmatikalitätsurteile beziehen sich auf die Interpretation des Basis-Substantivs als Ereignisnominalisierung.
Wenn Abfall als „Sachbezeichnung“ (Schippan, 1968) interpretiert wird, sind einige der konstruierten
Komposita akzeptabel.
224
Aktant nun nicht mehr innerhalb, sondern höchstens außerhalb des Kompositums
realisiert werden kann. Kehrt man die Reihenfolge der Realisierung um, scheinen
die Beispiele tatsächlich grammatisch zu werden, vgl. (15).12
(15) der Leistungsabfall der Spieler, der Qualitätsabfall der Lieder
Ob man (15) wirklich noch von abfallen4 ableiten sollte, kann aber als fraglich gelten.
Vermutlich wäre es einfacher, direkt von abfallen3 auszugehen und die Genitiv-NG
als Possessor ohne Anbindung an den Aktantenrahmen oder als „gestrandeten“
Bestandteil des Kompositum-Vorderglieds zu betrachten. In beiden Fällen käme
man zu dem Schluss, dass man mit abfallen4 überhaupt keine Komposita bilden
kann.
Wir wollen die Problematik hier nicht weiter vertiefen. Die Analyse von Komposita
nach Lieber und Grimshaw ist mit einer Reihe von Schwierigkeiten verbunden,13
die im Rahmen dieses Beitrags (und im Rahmen eines Valenzlexikons
allgemein) weder befriedigend gelöst werden können noch gelöst zu werden
brauchen. Festzuhalten ist, dass die Kompositabildung die grammatische Relevanz
der Unterscheidung von Variante 3 und Variante 4 belegt und dass Variante 4
Beschränkungen bei der Bildung von Ableitungen unterliegt, die wiederum auf den
peripheren Status dieser Variante hindeuten.
8. Übersetzungsäquivalenz bei zentralen und peripheren Varianten
Das letzte Kriterium für die Unterscheidung von zentralen und peripheren
Varianten, das wir in diesem Beitrag noch prüfen wollen, ist das Kriterium der
Kontextabhängigkeit. Wie in Abschnitt 1 ausgeführt wurde, wird vielfach angenommen, dass zentrale Varianten auch ohne stützenden Kontext interpretierbar sind;
die Bedeutungszuweisung an periphere Varianten ist dagegen stark kontextabhängig.
Nun sind Kriterien, die sich auf die Bedeutung beziehen, notorisch vage. Wie
soll man genau messen, welche der angenommenen Varianten eines Lexems
hinsichtlich der Bedeutung stärker vom Kontext abhängig sind als andere
Varianten? Wir glauben, dass man hier zu einer Präzisierung gelangen kann, wenn
man (wie dies bei unserem geplanten Valenzlexikon der Fall ist) kontrastiv arbeitet
und Übersetzungen der zugrunde gelegten Belege in eine andere Sprache in die
12 Allerdings gibt es auch „Ausreißer“, bei denen auch durch die Umkehr der Abfolge bei der Realisierung keine grammatische Struktur zu erzielen ist, siehe (i) *der Käufergunstabfall der Modeartikel.
13 Im Falle von Grimshaw (1990) kommt als komplizierender Faktor hinzu, dass man die Semantik des Hintergliedes
genauer prüfen müsste. Die Autorin unterscheidet Nominalisierungen mit einer komplexen Ereignisstruktur von
allen anderen Nominalisierungen. Die im Text angedeuteten Beschränkungen bei der Aktanten-Realisierung innerhalb
von Komposita gelten nur im ersten Fall, da alle anderen Nominalisierungen laut Grimshaw (1990, S. 68–70) über
keinen Aktantenrahmen verfügen und die ggf. vorhandenen Vorderglieder von Komposita damit sowieso nicht als
Aktanten-Realisierungen gelten können.
225
Untersuchung einbezieht. Wenn es stimmt, dass die Bedeutung von peripheren
Varianten stark vom jeweiligen Kontext abhängig ist, dann sollte sich bei der
Übersetzung für solche Varianten eine breitere Streuung bei den jeweils gewählten
Übersetzungsäquivalenten ergeben als bei zentralen Varianten, die qua Hypothese
stabil in ihrer Bedeutung und damit tendenziell in allen Kontexten durch ein oder
einige wenige Äquivalente übersetzbar sind.
Um zu prüfen, ob sich bei unseren Varianten von abfallen bei der Übersetzungsäquivalenz tatsächlich maßgebliche Unterschiede ergeben, die auf den
zentralen oder peripheren Status einer Variante hindeuten könnten, haben wir in
der parallelen Sektion des Tschechischen Nationalkorpus [InterCorp] tschechische
Parallelstellen zu den deutschen Korpusbelegen ermittelt, die abfallen in Bedeutungsvariante 1, 4 oder 5 enthalten. Es muss darauf hingewiesen werden, dass die
Bedeutungsvarianten, wie oben gesagt, aufgrund einer Stichprobe aus [DeReKo]
festgesetzt wurden, nicht aufgrund der in [InterCorp] vertretenen Belege. Da in
beiden Korpora jeweils andere Textsorten überwiegen, und zwar Zeitungstexte
in [DeReKo] und literarische Texte in [InterCorp], ist nicht damit zu rechnen,
dass sich die Frequenzwerte für die Varianten, die wir weiter oben im Beitrag
angeführt haben, auch anhand des Materials aus [InterCorp] reproduzieren
lassen. Da es im gegenwärtigen Zusammenhang aber nicht um die Frequenz der
einzelnen Varianten im Parallelkorpus, sondern nur um die Streuung der gewählten
Übersetzungsäquivalente14 für je eine Variante geht, halten wir unsere Daten
dennoch für einigermaßen aussagekräftig.
Bei der Auswertung haben wir Fälle vernachlässigt, bei denen die Äquivalente in den tschechischen Parallelstellen offensichtlich falsch bzw. ungenau sind.
Typische Beispiele (mit einer von uns hinzugefügten wörtlichen Übersetzung der
tschechischen Korpusparallele) finden sich in (16) und (17):
(16)
a. Der Nationalsozialismus ist hochmütig von Jesu Christi abgefallen.
b. Národní socialismus se nabubřele opírá o Ježíše Krista.
‚Der Nationalsozialismus stützt sich schwülstig auf Jesus Christus‘
(17)
a. Als der Kaiser ihn im Januar 1634 zum zweitenmal absetzte […],
fielen fast alle Offiziere […] von Wallenstein ab.
b. Když ho císař v lednu 1634 podruhé sesadil […], nechali ho všichni
jeho důstojníci na holičkách ‚ließen ihn alle seine Offiziere im Stich‘
Im ersten Fall handelt es sich um eine grobe Verzerrung des dargestellten
Sachverhalts in der deutschen Vorlage, indem in der tschechischen Parallele gerade
14 Wir sprechen hier von „Übersetzungsäquivalenten“, ohne dabei die Richtung der Übersetzung zu berücksichtigen.
[InterCorp] enthält sowohl Übersetzungen vom Deutschen ins Tschechische als auch Übersetzungen vom
Tschechischen ins Deutsche und Übersetzungen von einer weiteren Sprache ins Deutsche und Tschechische.
Entscheidend für uns ist nur die Äquivalenzbeziehung von tschechischen und deutschen Lexemen im jeweiligen
Kontext, die durch die Kompetenz der jeweiligen Übersetzer garantiert ist (vgl. aber auch die Anmerkung im Haupttext
zu offenbar falschen Äquivalenten).
226
das Gegenteil zum Ausdruck gebracht wird. Das deutsche Verb abfallen im Sinne von
‚sich von jmdm. lossagen‘ wird in der tschechischen Fassung durch das antonyme
Verb opírat se o někoho ‚sich auf jmdn. stützen‘ ersetzt. Solche Fälle einer
völligen Desinterpretation der Ausgangssatzstruktur sind ziemlich selten anzutreffen. Demgegenüber kommen freie Übersetzungen wie (17) verhältnismäßig
häufig vor. Das deutsche Verb abfallen wird in (17) in der tschechischen Parallele
durch das Phrasem nechat někoho na holičkách ‚jmdn. im Stich lassen‘ wiedergegeben. Darüber hinaus zeigt sich, dass die Palette der ermittelten Bedeutungsvarianten in [InterCorp] (wenigstens beim Stichwort abfallen) breiter ist als die
der Bedeutungsvarianten, die wir aufgrund von [DeReKo] ermittelt haben, was
allerdings für unsere weiteren Ausführungen ohne Relevanz ist.
Im Folgenden präsentieren wir die Ergebnisse der Auswertung unserer Stichprobe
aus [InterCorp] in tabellarischer Form. Betrachten wir zunächst die Übersetzungsäquivalente für abfallen1a in verbalen Kontexten. Zur Erinnerung sei angemerkt,
dass wir abfallen1a ‚sich von etwas lösen und zu Boden fallen‘ für die zentrale
Variante des Lexems halten.
Tschechische FreÄquivalente quenz
Anteil Wurzel Anteil
pad-
Tschechische
Äquivalente
Frequenz Anteil
upadnout
16%
urodit
1
15
80
82%
1%
padat
8
8%
sejmout
1
1%
spadnout
14
14%
podklesnout
1
1%
spadat
3
3%
odskočit
1
1%
vypadat
2
2%
překonat
1
1%
opadat
9
9%
uvolnit se z
1
1%
odpadnout
15
16%
rozpadnout se
1
1%
opadávat
4
4%
ulomit se
1
1%
odpadávat
6
6%
spustit se
1
1%
popadat
1
1%
rupnout
1
1%
odpadat
1
1%
skapávat
1
1%
dopadnout
1
1%
svézt se
1
1%
ulítnout
1
1%
odrolovat
1
1%
jít do háje
1
1%
blednout
1
1%
klouzat
1
1%
29 Typen
96 Token
30%
Streuung:
Tab. 6: Übersetzungsäquivalente für abfallen1a in [InterCorp]
227
In Tabelle 6 sind alle aus [InterCorp] ermittelten Übersetzungsäquivalente mit
Token-Frequenz und relativer Frequenz bezogen auf das Gesamtvorkommen der
Variante in unserem Korpus angeführt. Zusätzlich haben wir die Streuung der
Übersetzungsäquivalente errechnet, d.h. die Zahl der verwendeten Übersetzungsäquivalente bezogen auf die Gesamtzahl der im Korpus befindlichen Belege
(in Tabelle 6 also 29 verschiedene Äquivalente : 96 Belege × 100 = 30,21 %). Mit
dieser Zahl haben wir einen Wert an der Hand, der den Vergleich der einzelnen
Varianten ermöglicht, auch wenn diese in unterschiedlicher Belegzahl im Korpus
vertreten sind.
Zunächst scheint die Zahl der gewählten Übersetzungsäquivalente (29 verschiedene
tschechische Lexeme) überraschend hoch zu sein. Diese Aussage wird sich
allerdings gleich relativieren, wenn wir die Streuung der Übersetzungsäquivalente
bei abfallen1a mit der Streuung bei den beiden anderen untersuchten Varianten
vergleichen. Zudem fällt auf, dass viele Äquivalente die Wurzel pad- ‚fallen‘
aufweisen. Unseres Erachtens gibt es gute Gründe dafür, diese Äquivalente zu einer
Gruppe zusammenzufassen. Zum einen handelt es sich – im Unterschied zu den
anderen belegten Äquivalenten – um genaue strukturelle Äquivalente des deutschen
Verbs abfallen, die wie das deutsche Verb um eine einheitliche Wurzel organisiert
sind (Präfix-Wurzel-Suffix; die Wurzel pad- im Tschechischen kann dabei als
nächstes Äquivalent der Wurzel fall- im Deutschen gelten). Zum anderen bringen
die verschiedenen Präfixe und Suffixe, die sich im Tschechischen mit der Wurzel
pad- verbinden, lediglich Unterschiede in bestimmten grammatischen Kategorien
wie Aktionsart oder Aspekt zum Ausdruck, von denen beim Vergleich zunächst
abgesehen werden kann. Fasst man alle Äquivalente mit der Wurzel pad- zu einer
Gruppe zusammen, dann kommt man zu dem Schluss, dass 82 % (80 Token) aller
Übersetzungsäquivalente dieser Gruppe zuzurechnen sind. Damit ergibt sich bei
den Übersetzungsäquivalenten eine deutliche Konzentration, die für hohe Stabilität
bei der Bedeutung von abfallen1a sprechen würde.
Kommen wir nun zu einer Variante, die wir als peripher betrachten. Dabei
handelt es sich um abfallen4 ‚sich im Hinblick auf einen Wert verschlechtern‘,
d.h. um die Variante, die wir bereits in Abschnitt 5 und 6 intensiv betrachtet haben.
Die Verteilung auf die Übersetzungsäquivalente in [InterCorp] lässt sich Tabelle
7 entnehmen:
Tschechische Äquivalente Frequenz
Anteil
zaostat/zaostávat
25%
2
propadnout se
1
13%
pokulhávat
1
13%
zhoršit se
1
13%
zůstat pozadu
1
13%
228
Wurzel pad-
Anteil
2
25%
shořet
1
13%
odpadnout
1
13%
Streuung: 7 Typen
8 Token
88%
Tab. 7: Übersetzungsäquivalente für abfallen4 in [InterCorp]
Die deutsche Ausgangsform ist mit sieben Übersetzungsvarianten vertreten, die auf
acht Belege entfallen. Daraus ergibt sich eine Streuung von 88 %. Vergleicht man
diesen Wert mit dem Wert, den wir für abfallen1a errechnet haben (30 %), dann lässt
sich feststellen, dass die Streuung bei abfallen4 deutlich größer ist als bei abfallen1a.
Dies entspricht völlig unseren Erwartungen. Nimmt man die Streuung als Indiz für
den zentralen oder peripheren Status einer Variante, dann belegen die Zahlen aus
Tabelle 6 und Tabelle 7 – entgegen den Frequenzwerten, die wir in Abschnitt 3 diskutiert
haben – dass es sich bei abfallen4 um eine periphere Variante des Lemmas handelt.
Die Belegzahl für abfallen4 in [InterCorp] ist relativ gering. Betrachten wir daher
noch eine weitere, u. E. ebenfalls periphere Variante, nämlich abfallen5 ‚eine
psychische Belastung verlieren’. (18) und (19) zeigen zwei Verwendungskontexte
für das Lexem aus [InterCorp]. In (18) erscheint ein tschechisches Übersetzungsäquivalent (opadala ‚fiel ab‘), das mit der charakteristischen Wurzel
pad- konstruiert ist, in (19) findet sich dagegen ein Übersetzungsäquivalent
(zmizelo, wörtl. ‚ist verschwunden‘), das man als freie Übersetzung für abfallen
bezeichnen könnte.
(18)
a. Und so fiel zu meiner Verwunderung das anfängliche Mißtrauen, mit
dem ich den chaotischen Ritt der Könige aufbrechen sah, von mir ab.
b. A tak počáteční nedůvěra, s níž jsem pozoroval zmateně se rozjíždějící
jízdu králů, k mému údivu ze mne opadala. [InterCorp: Kundera, Žert]
(19)
a. Nun, im Flugzeug, […] fiel der Höhenrausch vollends von ihm ab.
b. Teď, v letadle, […] jeho opojení z nadmořské výšky zcela zmizelo.
[InterCorp: Konsalik, Das Weiberschiff]
Tabelle 8 zeigt, dass abfallen5 frequenzmäßig mit abfallen1a Schritt hält. Auch die
Streuung der Übersetzungsäquivalente entspricht mit 29% in etwa der Streuung
bei abfallen1a (30%). Ein Unterschied ergibt sich allerdings dann, wenn man speziell
diejenigen Äquivalente betrachtet, die von der charakteristischen Wurzel padabgeleitet sind: Bei abfallen5 sind dies 66% aller Übersetzungsäquivalente,
bei abfallen1a dagegen über 80%. Dies könnte darauf hindeuten, dass die
Übersetzungsäquivalenz bei abfallen1a stärker auf der Kernbedeutung basiert, die
in der Wurzel zum Ausdruck kommt, wohingegen die Äquivalenzbeziehung bei
abfallen5 stärkeren Schwankungen unterliegt.
229
Tschechische
Äquivalente
Frequenz
Anteil Wurzel
pad-
padat
6
7%
56
Anteil
66 %
Tschechische
Äquivalente
Frequenz
Anteil
zmizet
1
1%
opadnout
8
9%
polevovat
3
4%
spadnout
36
42%
vzít za své
1
1%
opadávat
4
5%
opršet
1
1%
odpadnout
4
5%
uvolnit se
1
1%
odpadávat
1
1%
utišit
1
1%
opadat
1
1%
probrat se
1
1%
vyprchávat
1
1%
zbavit se
1
1%
být ty tam, ta tam
3
4%
ztratit
1
1%
opustit/opouštět
4
5%
přestat
předstírat
1
1%
puknout
1
1%
zapomenout
1
1%
vytratit se
1
1%
setřást
1
1%
pozbýt
1
1%
25 Typen
85 Token
29 %
Streuung:
Tab. 8: Übersetzungsäquivalente für abfallen5 in [InterCorp]
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich unsere Ausgangshypothese, periphere
Varianten könnten zu breiterer Streuung bei den Übersetzungsäquivalenten neigen,
anhand der drei untersuchten Varianten von abfallen (immer vorausgesetzt, dass
unsere Annahmen hinsichtlich des Status der Varianten richtig sind) zumindest
teilweise bestätigen lässt. Ein eindeutig peripheres Verhalten zeigt die Variante 4, die
bei einer kleinen Belegzahl verhältnismäßig viele unterschiedliche Übersetzungsvarianten aufweist. Der Unterschied zwischen Variante 1 und 5 ist dagegen weniger
deutlich, tritt aber stärker hervor, sobald man die innere Struktur der Äquivalente
(mit oder ohne Wurzel pad-) berücksichtigt. An dieser Stelle sollte man allerdings
hinzufügen, dass es einen Zusammenhang zwischen Frequenz und Streuung der
Übersetzungsäquivalente geben könnte. Variante 1 und 5 sind in unseren Texten
wesentlich häufiger anzutreffen als Variante 4. Es ist nicht auszuschließen, dass die
höhere Frequenz der ersten beiden Varianten zu einer statistischen Nivellierung der
Kontraste bei der Wahl der Übersetzungsäquivalente führt.
230
9. Fazit
Welche Schlussfolgerungen lassen sich nun hinsichtlich der Aussagekraft der in
Abschnitt 1 isolierten Kriterien (Frequenz, Kontextabhängigkeit, grammatisches
Verhalten) für den zentralen oder peripheren Status von Lexemvarianten innerhalb eines Lemmas aufgrund des von uns untersuchten Lexems abfallen ziehen?
Zunächst einmal ist das Frequenzkriterium zu relativieren. Die nach den anderen
Kriterien als zentral zu betrachtende Variante 1 ist (im verbalen Bereich) weder
die häufigste Variante, noch deckt sich die Frequenz im verbalen mit der Frequenz im nominalen Bereich. Damit liefert das Frequenzkriterium Ergebnisse,
die zu den Ergebnissen, die man bei der Anwendung weiterer Kriterien erzielt, in
Widerspruch stehen und gleichzeitig – bei der Betrachtung verschiedener Wortarten –
inkohärent ausfallen.
Das grammatische Kriterium liefert bei abfallen dagegen Indizien dafür, dass die
intuitiv vorgenommene Einteilung in zentrale (abfallen1 und abfallen3) und
periphere (abfallen4) Varianten korrekt ist. Variante 4 weist Eigentümlichkeiten
im Aktantenrahmen auf, die den allgemein angenommenen Regularitäten bei der
Strukturierung von Aktantenrahmen zuwiderlaufen (Selektionsbeschränkungen,
Ferens > Patiens). Im nominalen Bereich erfolgt die Realisierung des Valenzpotentials bei den peripheren Varianten zudem weniger regelmäßig als bei den
zentralen Varianten, und es zeigen sich Derivationsbeschränkungen (z.B. bei der
Kompositabildung).
Auch die Streuung bei den Übersetzungsäquivalenten im Parallelkorpus, die
wir zur Objektivierung des Kriteriums der Kontextabhängigkeit herangezogen
haben, weist auf den zentralen Status von abfallen1 und den peripheren Status
von abfallen4 (und weniger deutlich auf den peripheren Status von abfallen5) hin:
Bei der zentralen Variante ist die Streuung geringer und konzentriert sich auf
Übersetzungsäquivalente, die auf der charakteristischen Wurzel pad- basieren; bei
den peripheren Varianten ist die Streuung breiter, und Äquivalente auf pad- sind
prozentual weniger dominant.
Diese Ergebnisse sind nicht so überraschend, wie es auf den ersten Blick scheinen
mag. Die Frequenz ist eine Größe, die der Sprache zunächst äußerlich ist und stark
vom Benennungsbedarf im jeweiligen Kontext abhängt. In diesem Zusammenhang
drängt es sich förmlich auf, die klassische Unterscheidung von langue und parole
von de Saussure zu bemühen und darauf hinzuweisen, dass Beschreibungen
des Systems einer Sprache (zu denen auch Valenzlexika gehören) auf die langue
Bezug nehmen müssen, will man zu grammatisch relevanten Aussagen kommen.
Eine oberflächliche Einengung des Begriffes „Zentrum“ auf die Frequenz bestimmter Phänomene ist daher nicht sinnvoll; was zum Zentrum und was zur
Peripherie der Sprache gehört, sollte sich zumindest ebenso deutlich am grammatischen Verhalten der untersuchten Einheiten zeigen.
231
Zwei abschließende Bemerkungen scheinen uns noch angebracht. Zum einen soll
hier natürlich nicht dafür plädiert werden, das Frequenzkriterium bei der lexikographischen Arbeit völlig zu vernachlässigen. Wir möchten lediglich die
Notwendigkeit betonen, weitere, genuin linguistische Kriterien als Korrektiv heranzuziehen. Zum anderen gestehen wir bereitwillig zu, dass sich anhand eines
einzigen Lexems (abfallen) keine generell gültigen Schlussfolgerungen ziehen
lassen. Die recht detaillierte Untersuchung von abfallen in diesem Artikel hat aber
immerhin ermöglicht, bestimmte Hypothesen zu formulieren, die als Leitlinien
bei der Untersuchung weiteren sprachlichen Materials dienen können. Und wie
dies allgemein bei Hypothesen der Fall ist, wird dann die Ausarbeitung weiterer
Lemmata für das geplante Valenzlexikon zeigen, wie weit uns die Ausgangshypothesen tragen und wo Korrekturen notwendig werden.
Abstract
In the lexicological literature, several criteria have been suggested to distinguish between central and peripheral meanings of a lexical unit. We apply these
criteria to authentic language material collected during work on a derivational
valency dictionary at the Pedagogical faculty of Masaryk University in order to
determine whether unambiguous results can be achieved. In the paper, we show
that in the case of abfallen ‘to drop down’, the exclusive application of criteria based
on frequency would lead to unintuitive results. The basic meaning of abfallen
neither is the most frequent meaning of the verb in our corpus nor is its frequency
constant across verbal and nominal contexts. The results can be improved if
additional criteria are taken into consideration. It turns out, that the subunits of the
lexeme abfallen which we consider on intuitive grounds as peripheral show noncanonical grammatical behaviour as to the structure of their valency frames and the
realization of their valency potential. In addition, the set of translational equivalents
documented in the parallel corpus [InterCorp] is more fragmentised than it is the
case with the central subunits of the lexeme. We take both observations as evidence
for the peripheral status of the subunits under consideration.
Keywords
valency realization – actant frames – valency inheritance – valency lexicography –
secondary meaning
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intercorp
URL 1: Zentrum und Peripherie. 32. Forum Junge Romanistik, 16. – 19. März
2016, Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Online verfügbar unter
http://www.romanistik.uni-wuerzburg.de, [16. 5. 2016]
234
Grammatik und Phraseologie
Michaela Kaňovská
Annotation
Das Ziel des Beitrags ist festzustellen, inwieweit die metasprachliche Markierung
von Phrasemen im Lehr- und Übungsbuch der deutschen Grammatik (Dreyer und
Schmitt, 2009) der Terminologie in der phraseologischen Basisliteratur entspricht,
und in welchem Ausmaß die metasprachlich markierten Phraseme in dieser
Übungsgrammatik das Zentrum bzw. die Peripherie der Phraseologie darstellen.
Im Zusammenhang damit wird auch dem Ort des Vorkommens dieser Phraseme
Aufmerksamkeit geschenkt. Von den vier am häufigsten verwendeten Bezeichnungen bezieht sich der Ausdruck „Redensarten“ bis auf Ausnahmen auf (Teil-)
Idiome, d.h. Phraseme, die zum Zentrum des Phraseolexikons gehören. Sie kommen
fast nur in den Übungen vor. Mit dem Ausdruck „feste Wendungen“, der vor
allem als Einleitung von Beispielen in den theoretischen Erläuterungen verwendet
wird, werden häufiger (57-mal) periphere Phraseme (nicht- oder schwachidiomatische und strukturelle Phraseme sowie Modellbildungen) als die zentralen
(Teil-) Idiome (40-mal) bezeichnet, aber der Unterschied im Umfang beider
Gruppen ist nicht so groß wie bei den als (verbale) „feste Verbindungen“ bzw.
„Funktionsverbgefüge“ (FVG) bezeichneten Phrasemen. In dieser Gruppe sind
263 der 287 Wortverbindungen nicht- oder schwach-idiomatische Phraseme,
Kollokationen nach Burger (2010), allerdings können bei Weitem nicht alle
zugleich den (prototypischen) FVG zugeordnet werden. Die 24 in dieser
Gruppe angeführten Idiome haben zwar dieselbe syntaktische Struktur wie die
Kollokationen, und einige bilden auch wie FVG aktionale Reihen, aber aufgrund
anderer semantischer Eigenschaften müssen sie von beiden Phrasemtypen unterschieden werden.
Schlüsselwörter
Phrasem, Idiom, Kollokation, Zentrum und Peripherie
1. Enleitung
Im Seminar Morphosyntax in den ersten drei Semestern des Bakkalaureatsstudiums
sollen sich die Germanistikstudenten in Olmütz grammatische Regeln, Terminologie
und zugleich den gesamten Wortschatz des Lehr- und Übungsbuchs der deutschen
Grammatik (Dreyer und Schmitt, 2009, im Folgenden DS oder DS-Grammatik)
235
aneignen. Dabei lernen sie auch viele Phraseme, auf die man sich später in den
Kursen zur Phraseologie berufen kann. Die in dieser Übungsgrammatik verwendeten Phraseme stellen verschiedene Phrasemtypen dar, was eng damit zusammenhängt, an welchem Ort des Textes sie vorkommen. Dabei sind die theoretischen
Passagen, in denen die grammatischen Regeln erläutert werden, von den Übungstexten zu trennen, die den aktuellen alltagssprachlichen Wortschatz enthalten (vgl.
DS, S. 3). In den theoretischen Erläuterungen, die nach der Klassifikation von Löffler
der mittleren vertikalen Ebene der Fachsprache, der Lehrbuchsprache, zuzuordnen
sind (vgl. Löffler, 2010, S. 104) kommen vor allem phraseologische Termini1 (wie
der bestimmte Artikel oder Umstandsbestimmung der Zeit) und (idiomatische wie
nicht idiomatische) Phraseologie des allgemeinwissenschaftlichen Diskurses wie
im Allgemeinen, im Vergleich zu etw. vor (vgl. Bukovčan, 2009, S. 79‒80; Kunkel,
1991, S. 103-104). Dieser Gruppe von Texten sind auch die Übungsanweisungen
zuzuordnen. Umgekehrt gehören die Beispielsätze in den Erläuterungen zur zweiten
Textgruppe, zu den alltagssprachlichen Texten, in denen eher satzglied- und
satzwertige (teil-) idiomatische Phraseme oder kommunikative Formeln dominieren.
In beiden Typen von Textpassagen können jedoch auch die weniger typischen
Phraseme vorkommen, wie es auch einige der folgenden Beispiele illustrieren
(die ursprüngliche Schriftart wurde nicht beibehalten, Phraseme werden kursiv
markiert):
(1) „Modale Nebensätze können aus der Frage nach der Art und Weise
entstehen.“ (DS, S. 188, Theorie = T)
(2) „Der Wechsel des Subjekts von der Position I zur Position III wird im
Folgenden Umstellung genannt.“ (DS, S. 140, T)
(3) „Wenn Sie Ihre Forderung verstärken wollen, setzen Sie auf keinen Fall
oder unter (gar) keinen Umständen an die Stelle von nicht: […]“ (DS,
S. 127, Übungsanweisung = Ü/Anw.)
(4) „Singular ohne Artikel […] 7. Bei vielen Sprichwörtern und festen Wendungen: a) Ende gut, alles gut. […] / b) Pech haben […] / c) Er arbeitet Tag
und Nacht, Jahr für Jahr.“ (DS, S. 25, Beispiele in einer theoretischen Passage = T/B)
(5) „Jedes Ding hat seine zwei Seiten – wie man es macht, ist es falsch.“ (DS,
S. 163, Überschrift einer Übung = Ü/Üs.)
(6) „Die Straßenbahn fuhr ihm gerade vor der Nase weg.“ (DS, S. 74, Übungssatz = Ü)
Wie das Beispiel (4) zeigt, werden die in der DS-Grammatik vorkommenden
Phraseme gelegentlich metasprachlich markiert. Daneben gibt es ein ganzes
Kapitel, § 62, das „Funktionsverbgefüge (Verben in festen Verbindungen)“
behandelt und mehrere Listen solcher fester Ausdrücke anführt (s. u.). Aufgrund
der Fülle des phraseologischen Materials, das dieses Übungsbuch enthält, möchte
sich der folgende Beitrag nur darauf konzentrieren, inwieweit die metasprachliche
1 Hinsichtlich des Fachlichkeitsgrads wird die Terminologie charakterisiert als Begriffe, die heute im Bereich Deutsch
als Fremdsprache üblich sind (vgl. DS, S. 3).
236
Markierung von Phrasemen in diesem Buch der Terminologie entspricht, die in
der phraseologischen Basisliteratur – den Einführungen in die Phraseologie von
Burger (2010) und Fleischer (1982, 1997) – und in einigen zum Vergleich herangezogenen Aufsätzen verwendet wird, und in welchem Ausmaß die metasprachlich
markierten Phraseme in der DS-Grammatik das Zentrum bzw. die Peripherie der
Phraseologie (des Phraseolexikons) darstellen.
2. Phraseologische Grundtermini und das Zentrum und
die Peripherie der Phraseologie
Sowohl Burger als auch Fleischer verwenden für die sprachlichen Einheiten, die
Objekt der Phraseologieforschung sind, als Oberbegriff den im deutschsprachigen
Bereich weit verbreiteten Terminus „Phraseologismus“, Burger macht aber darauf
aufmerksam, dass im Handbuch Phraseologie von Burger et al. (Hg.) (2007) der
international leichter handhabbare Terminus „Phrasem“ vorgezogen wurde (vgl.
Burger, 2010, S. 35-36). Als mit dem Terminus Phraseologismus äquivalente
Ausdrücke erwähnt Burger weiter „feste Wortverbindung“ bzw. „phraseologische
Wortverbindung“ (vgl. Burger, 2010, S. 11, 36). Fleischer bezeichnet sowohl die
zentralen als auch die peripheren Einheiten mit den Oberbegriffen „Phraseologismus“, „(feste) Wendung“, „feste Wortverbindung / Wortgruppe“ (vgl. Fleischer,
1982, S. 9, 73). In diesem Beitrag wird als Oberbegriff „Phrasem“ verwendet.
Nach Burger werden Phraseme definiert als sprachliche Einheiten, die sich durch
Polylexikalität und eine relative Festigkeit auszeichnen und darüber hinaus
einen bestimmten Grad von Idiomatizität aufweisen können, was zur Unterscheidung der Phraseologie im engeren Sinne (der idiomatischen Phraseme,
Idiome) und der Phraseologie im weiteren Sinne führt (vgl. Burger, 2010,
S. 14, 37-38). Zur Phraseologie i. w. S. gehören auch die nicht- oder schwachidiomatischen Phraseme, die Burger als Kollokationen bezeichnet (vgl. Burger, 2010,
S. 38, 52-55, mehr s. u.). Nach Fleischer wird das Zentrum des Phraseolexikons
von den sogenannten Phraseolexemen gebildet, d.h. von Wortverbindungen
mit wenigstens einem Autosemantikon, die (vollständig oder teilweise)
idiomatisch, stabil, lexikalisiert und nicht festgeprägte Sätze sind (vgl. Fleischer, 1982,
S. 72). Durch die Bedingung einer autosemantischen Komponente und durch das
syntaktische Strukturmerkmal unterscheidet sich Fleischers Abgrenzung des
Zentrums von Burgers Bestimmung der Phraseologie i. e. S., die etwa neben den
idiomatischen nominativen / satzgliedwertigen Phrasemen (einschließlich solcher
aus Synsemantika wie an (und für) sich ,eigentlich, im Grunde genommen‘2 ) auch
idiomatische propositionale / satzwertige Phraseme, z.B. Sprichwörter, umfasst
2 Falls nicht anders angegeben, werden die Phraseme und ihre Bedeutungsparaphrasen nach Duden. Deutsches
Universalwörterbuch (DU) angeführt (s. Literaturverzeichnis).
237
(vgl. Burger, 2010, S. 38, 108).3 Zu den peripheren Bereichen rechnet
Fleischer (1) potentielle oder individuelle Phraseolexeme (d.h. okkasionelle
Modifikationen von Phrasemen und Autorphraseme), (2) sogenannte
Nominationsstereotype (d.h. nicht-idiomatische Wortverbindungen, deren
Komponenten aber einander stärker determinieren als Komponenten von völlig
freien Wortverbindungen), (3) kommunikative Formeln (festgeprägte Sätze, die
als textgliedernde oder kommunikationssteuernde Signale verwendet werden – im
Unterschied zu den nominativen Phrasemen mit der Benennungsfunktion) und
(4) Phraseoschablonen (d.h. syntaktische Strukturen mit einer festgeprägten
Modellbedeutung, vgl. Fleischer, 1982, S. 63, 70-73, 130-131, 135-136). Fleischers
Phraseoschablonen werden von Burger als Modellbildungen bezeichnet und wie
die Autorphraseme als eine der speziellen Klassen behandelt (vgl. Burger, 2010,
S. 44-45, 48). Für einen Spezialfall der Phraseoschablonen hält Fleischer die
mehrteiligen Konjunktionen und Präpositionen, die Burger als sogenannte
strukturelle Phraseme, eine der Basisklassen seiner semiotischen Klassifikation,
behandelt (neben den referentiellen und den kommunikativen Phrasemen,
vgl. Burger, 2010, S. 36). Den Phraseoschablonen ordnet Fleischer auch die
Funktionsverbgefüge (FVG) zu, die Burger als einen Typ von (nicht-idiomatischen) Kollokationen behandelt. Im Zusammenhang mit Modellbildungen
erwähnt er sie nicht und sagt sogar, dass Modellbildungen im Unterschied zu
den anderen speziellen Klassen nicht von der Basisklassifikation erfasst werden
(vgl. Burger, 2010, S. 44). Trotz der unterschiedlichen Zuordnung werden die
FVG in beiden Fällen als nicht zentrale Phraseme angesehen (mehr s. u.). Die
kommunikativen Formeln in Fleischers Auffassung entsprechen bei Burger
den situationsgebundenen kommunikativen Phrasemen (Routineformeln wie
auf Wiedersehen) und einem Teil seiner festen Phrasen (einer Subklasse der
referentiellen satzwertigen Phraseme): denjenigen, die an bestimmte Situationen
gebunden und deshalb funktional definierbar sind (z.B. das schlägt dem Fass den
Boden aus ,jetzt ist es aber genug; mehr kann man sich nicht gefallen lassen‘, vgl. Stein,
2007, S. 226). Die idiomatischen kommunikativen Formeln würden nach Burger
zur Phraseologie i. e. S., das heißt noch zum Zentrum, gehören (vgl. Burger, 2010,
S. 39-41, 50-57). Die okkasionellen, textgebundenen Modifikationen behandelt
Burger im Zusammenhang mit der Festigkeit von Phrasemen und mit ihrer
Verwendung im Text (vgl. Burger, 2010, S. 26-27, 159-170).
Fleischers Nominationsstereotype entsprechen nur ungefähr Burgers Auffassung
von nicht-idiomatischen Phrasemen, Kollokationen. Sie schließen auch drei von
Burgers speziellen Klassen ein – onymische Phraseme, phraseologische Termini
und Klischees (vgl. Burger, 2010, S. 38, 49-55). Burger geht allerdings auch auf
fachsprachliche Kollokationen ein (vgl. Burger, 2010, S. 54-55). Beide Phraseologen
3 Nach Lüger (2007), der die Grenze wiederum anders zieht, bilden Burgers feste Phrasen (z.B. da liegt der Hund begraben
(ugs.) ,das ist der Punkt, auf den es ankommt, die Ursache der Schwierigkeiten’) die Übergangszone zur Peripherie
der Phraseologie, den „satzwertigen“ Phrasemen, zu denen er Sprichwörter, Gemeinplätze und Routineformeln
zählt (vgl. Lüger, 2007, S. 452).
238
erwähnen als einen Subtyp der peripheren Phraseme nicht-idiomatische
Wortpaare (Kaffee und Kuchen), Fleischer hebt die Verbindungen eines Substantivs
mit einem Attribut in der Rolle eines nur schmückenden bzw. verstärkenden
Epithetons hervor (blaues Meer), Burger macht auf Wortverbindungen aufmerksam,
in denen eine bestimmte Präposition verwendet wird (z.B. – mindestens
gesamtdeutsch – in der Sonne liegen, nicht an oder unter), und behandelt ausführlicher die Substantiv-Verb-Kollokationen (mehr s.u.). Burger hält die Bezeichnung der nicht-idiomatischen Phraseme als „Nominationsstereotype“ für „nicht
zweckmäßig“, weil „Stereotyp“ „zu sehr mit anderen Bedeutungen vorbelastet ist“
(Burger, 2010, S. 38). Nach Fleischer sind die Termini Kollokation und Nominationsstereotyp „das begriffliche Ergebnis unterschiedlicher Denkansätze“, aufgrund
der Merkmale „bevorzugte Verbindung und semantische Transparenz“ treffen sie
sich aber „in einem – je nach Auffassung mehr oder weniger großen – Bereich
,habitualisierter‘ Konstruktionen“ (Fleischer, 1997, S. 252).
Damit korrespondiert u. a. die Definition der Kollokation von Wotjak und Heine
als „präferiertes Zusammenvorkommen von lexikalischen Einheiten im Text – mit
Abstufungen in der Vorhersagbarkeit“, eine Erscheinung „zwischen langue und
parole“, z.B. den Tisch abräumen, schallende Ohrfeige (Wotjak und Heine, 2005,
S. 145, 147), oder ihre Definition als „eine hierarchisch organisierte binäre
Konstruktion“, die „sich aus einem übergeordneten Element, der Basis, und einem
untergeordneten Element, dem Kollokator, zusammensetzt“, wobei die Grundlage
für die Unterscheidung „kein syntaktisch-morphologisches Kriterium, sondern ein
kognitives und primär in fremdsprachendidaktischer und lernerlexikographischer
Hinsicht relevantes“4 Kriterium ist (Konecny, 2010, S. 78).5 So aufgefasste
Kollokationen werden meistens nach ihrer syntaktischen Struktur klassifiziert,
z.B. Adj + S (ein heikles Thema); S + V (den Tisch decken, das Herz klopft);
(adverbial verwendetes) Adj + Adj (strategisch wichtig); (adverbial verwendetes)
Adj + V (automatisch verlängern). Zwei Kollokationen können zu einer TripelStruktur verschmelzen, z.B. massive / scharfe Kritik erfahren (vgl. Hausmann, 2004,
S. 315‒316; Konecny, 2010, S. 79; Kratochvílová, 2011, S. 111; WK, S. IX; FW,
S. XVI).
Als eine Untergruppe der S-V-Kollokationen hebt Burger die Funktionsverbgefüge
(FVG) heraus. Die FVG sind ihm zufolge solche Kollokationen, die ein deverbales Substantiv und ein semantisch leeres Verb enthalten, wobei mit dem Verb
die Aktionsart differenziert werden kann: zur Entscheidung kommen / stehen; etw.
zur Entscheidung bringen / stellen (vgl. Burger, 2010, S. 54). Fleischer diskutiert in
4 Entscheidend ist, dass eine Kollokation „als Verbindung im mentalen Lexikon der Sprecher verfügbar und jederzeit
abrufbar sein muss, unabhängig davon, wie oft sie tatsächlich abgerufen wird“ (Konecny, 2010, S. 80).
5 Nach einer weiten Auffassung werden unter Kollokationen „usuelle Wortverbindungen“ überhaupt verstanden.
(Teil-) Idiome werden dann als „restringierte Kollokationen“ bezeichnet, und die nach Burgers und Fleischers Auffassung peripheren Phraseme werden einerseits als „stereotype“, andererseits als „präferierte“ und „konventionalisierte“
Verbindungen angesehen (vgl. Kratochvílová, 2011, S. 46, 100‒109).
239
der zweiten Auflage seiner Phraseologie einige neuere Auffassungen von FVG,
und daraus wird nur klar, dass Verbindungen mit einem Konkretum wie jmdn.
auf die Palme bringen (ugs.) ,jmdn. aufbringen, wütend machen, erzürnen‘ keine
FVG, sondern zentrale Phraseme, Idiome, sind. Aufgrund der Zwischenstellung
zwischen Syntax und Lexik spricht er sich weiterhin für die Behandlung der FVG
als Phraseoschablonen aus (vgl. Fleischer, 1982, S. 139-142; 1997, S. 134-138,
253-254). In der bereits erwähnten Phrasem-Auffassung von Wotjak und Heine werden
Kollokationen und FVG als zwei Subklassen der nicht-idiomatischen Phraseme
unterschieden.6 Die FVG werden genauer definiert als komplexe Prädikatsausdrücke aus einem Substantiv (einem Abstraktum, das Zustände oder Vorgänge
beinhaltet, weder idiomatisiert noch unikale Komponente ist und die Hauptbedeutung trägt), einem Fügemittel zu diesem Substantiv (einer Präposition oder
einer nicht passivfähigen Akkusativfügung) und einem Funktionsverb (FV), das
Träger grammatischer Funktionen ist und eine zur Reihenbildung führende Bedeutung aufweist wie ,kausativ‘, ,inchoativ‘, ,durativ‘, ,passiv‘ (z.B. etw. zum Ausdruck
bringen; zum Ausdruck kommen; in Verbindung stehen; Kritik erfahren). Substantiv
und Verb sind zusammen Valenzträger, daher ist das Substantiv unter Anderem
nicht pronominalisierbar (vgl. Wotjak und Heine, 2005, S. 145, 146, 148). Ptashnyk
ordnet dagegen die meisten FVG den teilidiomatischen Phrasemen zu, und zwar
aufgrund der verblassten Bedeutung des Verbs (die Gesamtbedeutung ist „weitgehend durch die Bedeutungen der substantivischen Komponenten verstehbar“, wie
bei eine Entscheidung treffen ,entscheiden‘, Lob zollen ,loben‘, vgl. Ptashnyk, 2009,
S. 33–34). Die Frage ist nun, welche Verben als Funktionsverben angesehen werden.
Während Fleischer z.B. die Verben erheben, treffen, leisten, zollen (noch) nicht zu
den FV zählt (und daher Verbindungen wie Anklage erheben oder Respekt zollen als
Teilidiome ansieht, vgl. Fleischer, 1982, S. 142), werden das eine oder das andere
dieser Verben in den Grammatiken der deutschen Sprache unter den FV erwähnt
(vgl. beispielsweise DG, 2006, S. 425-431; Helbig und Buscha, 2001, S. 70-83). In
diesem Beitrag werden die FVG einschließlich der S-V-Verbindungen wie der
zuletzt genannten als nicht-idiomatische Phraseme angesehen, und zwar deshalb,
weil die abgeschwächte Verbbedeutung nicht auf eine oder wenige Verbindungen
begrenzt ist, sondern zu einer Reihenbildung führt. Dabei wird berücksichtigt, dass
die Grammatikalisierung bei den einzelnen FV unterschiedlich weit fortgeschritten
ist (vgl. Burger, 2010, S. 54; Pottelberge, 2007, S. 441; Helbig und Buscha, 2001,
S. 85). Die Tatsache, dass man auch unter den FVG zentrale (prototypische) und
periphere Einheiten unterscheiden kann (vgl. Helbig und Buscha, 2001, S. 85)
und die Grenze zwischen den FVG und anderen festen S-V-Verbindungen daher
fließend ist, rechtfertigt Burgers Auffassung von FVG als einer Untergruppe der
S-V-Kollokationen und kommt auch in den Kollokationenwörterbüchern zum
Ausdruck (vgl. FW).
6 Kratochvílová zählt z.B. FVG nicht zu (lexikalischen) Kollokationen, sondern zu (grammatischen) „Kolligationen“
(vgl. Kratochvílová 2011, S. 73, 80, 100).
240
3. Metasprachliche Hinweise auf Phraseme in der DS-Grammatik
In der DS-Grammatik werden die Termini „Phrasem“ / „Phraseologismus“
nicht verwendet. Der Ausdruck „Idiom“ kommt nur im Vorwort vor,
allerdings in seiner anderen Bedeutung – als ,eigentümliche Sprache, Sprechweise
einer regional od. sozial abgegrenzten Gruppe‘ (DU; vgl. Fleischer, 1982, S. 9):
Es wird erwähnt, dass „die Beispielsätze und Übungstexte [...] sowohl im Hinblick
auf den Wortschatz als auch auf dessen Gebrauch aktualisiert wurden, ohne
allerdings allzu viel Kurzlebigem aus Gruppenidiomen nachzugehen“ (DS, S. 3).
In der DS-Grammatik wird für Phraseme der Terminus „feste Verbindungen“
verwendet, zum ersten Mal im Zusammenhang mit der Rektion der Verben, wo
auch „Verben, die mit einem Akkusativobjekt in einer festen Verbindung stehen“
und „mit ihm zusammen eine Einheit“ bilden, erwähnt werden (DS, S. 85). Dabei
wird auf § 62, das Kapitel „Funktionsverbgefüge (Verben in festen Verbindungen)“
(DS, S. 336-351) verwiesen, wo der Terminus als solcher mit Anführungszeichen
markiert ist: „Im Deutschen [...] nimmt der Gebrauch ,fester Verbindungen‘
immer mehr zu.“ (DS, S. 336). Daneben kommen in der DS-Grammatik auch
andere Bezeichnungen vor: „feste Wendungen“ (in Erläuterungen, vor allem
als Einleitung von Beispielen auf S. 25, 307-308, 310-311, 314-317, 319-322,
324-326), „feste Ausdrücke“ (in einer Übungsanweisung, S. 345), „feste Redewendungen“ (in einer theoretischen Erläuterung, S. 336), „Redensarten“ (in Übungsanweisungen auf S. 239‒240 und als Kapitelüberschrift auf S. 350-351),
„Sprichwörter“ (als Einleitung von Beispielen für eine grammatische Erscheinung,
S. 25, 360), ggf. nur „Wendungen“ (als Einleitung von konkreten Verbindungen in
theoretischen Teilen, S. 79, 177) bzw. auch „präpositionale Wendungen“ (als Einleitung von Beispielen, S. 172) oder „nominale Wendungen“ (S. 304), womit allerdings nicht immer Phraseme bezeichnet werden.
So ist mit „nominalen Wendungen“ (DS, S. 304, T) die Rektion der Substantive
gemeint (z.B. die / eine Erinnerung an + Akkusativ, vgl. DS, S. 304, T), die Fleischer
aus der Phraseologie ausschließt, denn „der anzuschließende nominale Teil ist
variabel, und die Festlegung der Präposition lässt sich als syntaktisch-morphologisches Merkmal des Verbs fixieren“ (Fleischer, 1982, S. 34). Für die Rektion eines
Verbs bzw. eines Substantivs wird dreimal auch der Ausdruck „feste Wendung“
verwendet, z.B. „Auf einen Facharbeiter kommen zehn Hilfsarbeiter.“ (DS, S. 320,
T/B; vgl. kommen auf 19. auf jmdn./etw. kommt jmd./etw. „jmd./etw. entfällt rechnerisch auf jmdn./etw.“, Kubczak, 2011).
Als „Wendung“ wird einmal die Konstruktion es gibt bezeichnet (DS, S. 79, T).
Fleischer erwähnt unter Phrasemen mit besonderen Komponenten auch solche mit
Pronomina, unter anderem mit dem Personalpronomen es in der Objektfunktion,
z.B. es jmdm. geben ,jmdn. verprügeln, mit Worten zurückweisen‘ (vgl. Fleischer,
1982, S. 90). Auch Helbig und Buscha erwähnen, dass die Verben, bei denen die
Pronominalform es als formales Objekt steht, „feste Verbindungen (Wendungen)“
241
bilden (vgl. Helbig und Buscha, 2001, S. 244). Von den Konstruktionen mit dem
Pronomen es in der Subjektfunktion sagt Fleischer nur, dass „eine Reihe“ davon
„in diesen Zusammenhang gehört“, z.B. es gibt ,es ist vorhanden‘ (vgl. Fleischer,
1982, S. 90). Im grammatischen Informationssystem des IDS Mannheim Grammis
wird im Artikel „Die Form es und ihre Verwendungen“ auch „fixes es als
semantisch leeres formales Subjekt, insbesondere bei Witterungs- und Existenzverben: es regnet“ und „fixes es als semantisch leeres formales Akkusativkomplement: wie hältst du’s mit der Religion?“ erwähnt (URL 1). Im Valenzrahmen
der Verben stellt dieses es kein Komplement dar. Das es als formales Subjekt wird
im elektronischen Valenzwörterbuch deutscher Verben E-VALBU mit lemmatisiert
(z.B. neben geben auch geben, es: 1. es gibt ,etw. ist vorhanden‘ bis 9. es gibt ,es ist
möglich oder notwendig etw. zu tun‘ (vgl. Kubczak, 2011). Im DU wird solche
unpersönliche Verwendung eines Verbs als eines seiner Sememe angeführt (vgl.
geben 15.‒17., DU). Die Verbindungen eines Verbs mit einem es als formalem
Subjekt werden nur als Bestandteil längerer Phraseme in phraseologischen
Wörterbüchern angeführt; sie haben dann übertragene Bedeutung bzw. sind
situationsspezifisch, z.B. (dann/gleich) gibts was! (ugs.) ,dann/gleich erfolgt eine
Bestrafung, gibt es Schläge‘ (vgl. D, S. 261; Schemann, 1991, S. 294; DU). Das es als
„formales Akkusativkomplement“ kann nach dem Grammis „auch anstelle eines
Akkusativkomplements Bestandteil eines komplexen idiomatischen Prädikats
sein“, z.B. Falls du es auf den Kleinen abgesehen hast, bekommst du es mit mir zu tun!
(vgl. URL 1). Dies wird auch in den Anmerkungen bei einzelnen Verben erwähnt,
z.B. „halten wird auch in dem Ausdruck es mit etwas halten verwendet“ (Kubczak,
2011). Dadurch wird noch einmal bestätigt, dass nur die Verbindungen mit es als
formalem Objekt insgesamt der Phraseologie zugeordnet werden.
In den anderen Fällen beziehen sich die oben erwähnten metasprachlichen
Markierungen auf Phraseme. Die Frage ist nun aber, in welchem Ausmaß die so
markierten Phraseme das Zentrum bzw. die Peripherie der Phraseologie darstellen.
4. Zentrum und Peripherie der Phraseologie in der DS-Grammatik
4.1. „Wendungen“
Als „Wendungen“ werden die konjunktionalen Phraseme wie vorausgesetzt, dass...
oder im Fall, dass... (vgl. DS, S. 177, T/B; DU) bezeichnet: „Um eine Bedingung
auszudrücken, können auch folgende Wendungen gebraucht werden, die meistens
mit einem dass-Satz verbunden sind.“ (DS, S. 177, T). Die Bezeichnung
„präpositionale Wendung“ bezieht sich auf ein präpositionales Phrasem: „bis wird in
präpositionalen Wendungen mit zu verbunden.“ (DS, S. 172, T; vgl. DU). Je ein
präpositionales und konjunktionales Phrasem wird auch als „feste Wendung“
bezeichnet: „in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch (vom Dienstag zum
Mittwoch)“ (DS, S. 315, T/B; vgl. Fleischer, 1982, S. 139; von, DU) und „Auf der
242
einen Seite (,einerseits‘) habe ich viel Geld dabei verloren, auf der anderen Seite
(,andererseits‘) habe ich eine wichtige Erfahrung gemacht.“ (DS, S. 320, T/B; vgl.
Schemann, 1991, S. 107). Diese strukturellen Phraseme stellen die Peripherie der
Phraseologie dar.
4.2. „Feste Redewendungen“ und „Redensarten“
Der Ausdruck „feste Redewendungen“ wird auf Funktionsverbgefüge bezogen,
wenn von der veränderten Verbbedeutung und davon, dass die FVG unabhängig
von den bekannten Verben gelernt werden müssen, die Rede ist (vgl. DS, S. 336,
T). Ähnlich steht auch im Metzler Lexikon Sprache, mit dem die Studenten im
Morphosyntax-Seminar arbeiten, dass FVG „mehr oder weniger feste Redewendungen“ sind (MLS, S. 226), wobei „Redewendungen“ und „Phraseologismen“
unter den Bezeichnungen für den Gegenstand der Phraseologie „mit gleicher,
z.T. mit unterschiedl. Bedeutung“ angeführt sind (vgl. MLS, S. 529).7 Als FVG
werden jedoch in der DS-Grammatik verbale feste Verbindungen verschiedener
Idiomatizitätsgrade bezeichnet (s. u.).
Der Ausdruck „Redensart“ kommt einerseits in Anweisungen von zwei Übungen
zur Adjektivdeklination (DS, S. 239‒240) vor, andererseits als Bezeichnung einer
Gruppe der verbalen festen Verbindungen in der Kapitelüberschrift „Redensarten
und ihre Bedeutungen“ (DS, S. 350). Der Ausdruck wird nicht erklärt, aber an allen
Stellen wird entweder durch die angeführten Bedeutungserklärungen (z.B. jmdn.
mit offenen Armen empfangen ,jmdn. gern / mit großer Freude willkommen heißen‘,
DS, S. 239) oder durch die auf Erklärung gerichtete Aufgabe die Aufmerksamkeit
auf die übertragene Bedeutung dieser Verbindungen gelenkt.
Fleischer erwähnt die Bezeichnungen „Redewendung“ und „Redensart“ als unter
französischem Einfluss entstandene „heimische Ausdrücke“ für feste Wortverbindungen (vgl. Fleischer, 1982, S. 9). Burger (2010, S. 12) bewertet den Ausdruck
„Redensart“ als eine „alltagssprachliche Kategorienbezeichnung“ für verbale und
bildhafte Wortverbindungen wie Öl ins Feuer gießen, die vor allem in volkskundlichen Arbeiten gängig ist, aber sich nicht als linguistischer Terminus eignet, da sie
„in der Alltagssprache zu viele und zu uneinheitliche Phänomene umfasst“ (dies
zeigt er am Beispiel von DU, vgl. Burger, 2010, S. 182, 224, auch S. 35). Von den
insgesamt 70 „Redensarten“ in der DS-Grammatik sind 64 Idiome oder Teilidiome
und nur 6 Kollokationen. Unter den zentralen, (teil-) idiomatischen Phrasemen
überwiegen die verbalen Idiome (52, z.B. in den sauren Apfel beißen ,etw.
Unangenehmes tun oder hinnehmen, für das es keine andere Möglichkeit
gibt‘, DS, S. 239, Ü). Dieser Gruppe wird als semantischer Sonderfall auch ein
Kinegramm zugeordnet, für das die Doppelschichtigkeit der Bedeutung, die
7 Vgl. Redewendung ,feste Verbindung von Wörtern, die zusammen eine bestimmte, meist bildliche Bedeutung haben;
Wendung‘: eine stehende Redewendung ,eine Redewendung‘ (DU).
243
sprachliche Kodierung von konventionalisiertem nonverbalem Verhalten, charakteristisch ist (jmdm. um den Hals fallen ,jmdn. umarmen‘, DS, S. 350, Ü, genauer
,jmdn. in einem plötzlichen, heftigen Gefühl von Zuneigung, Freude od. Kummer
umarmen‘, vgl. DU; Burger, 2010, S. 47‒48, 63‒65). Ein Idiom ist substantivisch: ein
Spiel mit dem Feuer ,eine gefährliche Sache‘ (DS, S. 350, Ü; vgl. DU). Die 11 Teilidiome sind alle verbal, z.B. von der Hand in den Mund leben ,planlos leben; nicht wissen,
wovon man morgen leben soll‘ (DS, S. 350, Ü; vgl. DU). Die Kollokationen sind drei
komparative Phraseme (das adverbiale wie aus der Pistole geschossen ,sofort, schnell,
ohne Zögern‘, DS, S. 351, Ü; vgl. DU, und zwei verbale, z.B. jmdn. / etw. wie ein
rohes Ei behandeln ,jmdn. / etw. mit größter Vorsicht behandeln‘, DS, S. 240,
Ü; vgl. DU). Außerdem wurde das verbale Phrasem ein salomonisches Urteil fällen
,eine besonnene / vernünftige / weise Entscheidung treffen‘ (DS, S. 239, Ü) als
Kollokation (mit einer Tripel-Struktur) bestimmt, da ein Urteil fällen eine
Kollokation ist (vgl. DS, S. 336 T/B, S. 337 Liste, FW 866; DU) und salomonisch
(bildungsspr. ,einem Weisen entsprechend ausgewogen, Einsicht zeigend;
weise‘) in derselben Bedeutung nicht nur in der Verbindung ein salomonisches Urteil
(DU; WK, S. 476) bzw. salomonisch urteilen (DU), sondern in zahlreichen weiteren
Verbindungen verwendet wird (z.B. salomonische Lösung / Antwort / Entscheidung
/ ..., salomonisch antworten / ... usw. im DeReKo). Aus demselben Grund werden
auch zwei substantivische Phraseme als Kollokationen angesehen, z.B. sauer
verdientes Geld (DS, S. 240, Ü; vgl. FW, S. 316 und sauer 2. ,jmdm. als Arbeit,
Aufgabe o. Ä. schwer werdend; nur unter großen Mühen zu bewältigen‘: eine
saure Arbeit, Pflicht; sauer verdientes, erspartes Geld, DU). Alle als „Redensarten“
bezeichneten Phraseme kommen in den Übungen vor, es geht aber meistens um
Auflistungen, nicht um alltagssprachliche bzw. die Alltagssprache nachahmende
Texte.
4.3. „Sprichwörter“
Der Ausdruck „Sprichwort“ wird als bekannt vorausgesetzt, sonst könnte bei seiner
ersten Verwendung nicht ganz klar sein, worauf er sich bezieht. Unter den Regeln
für den Artikelgebrauch wird auch die Verwendung des Nullartikels in „vielen
Sprichwörtern und festen Wendungen“ erwähnt, es folgen dann aber drei Gruppen
von Beispielen (s. o. das Beispiel (4) in der Einleitung). Sprichwörter sind in der
ersten Gruppe (Ende gut, alles gut. Kommt Zeit, kommt Rat),8 in der zweiten
Gruppe kommen verbale feste Wendungen vor (Pech haben, Farbe bekennen u. a.),
mit dem Hinweis auf das bereits erwähnte Kapitel über FVG, die dritte Gruppe
enthält Beispiele für adverbiale feste Wendungen – eine Zwillingsformel und eine
Modellbildung: „Er arbeitet Tag und Nacht, Jahr für Jahr.“ (DS, S. 25, T/B; mehr
s. u.). Der Ausdruck „feste Wendung“ wird hier also nicht als Oberbegriff für alle
8 Vgl. das Sprichwort Ende gut, alles gut ,bei glücklichem Ausgang einer Sache sind die vorangegangenen
Schwierigkeiten nicht mehr so wichtig‘ (DU); kommt Zeit, kommt Rat ,mit der Zeit findet sich eine Lösung‘ (DU).
244
(die satzglied- sowie satzwertigen) Phraseme verwendet,9 sondern Sprichwörter
als satzwertige Phraseme (vgl. Burger, 2010, S. 41-42) bzw. als Mikrotexte (vgl.
Fleischer, 1982, S. 80) werden den nicht satzwertigen festen Wendungen entgegengesetzt. Bei der zweiten Verwendung erscheint die Bezeichnung „Sprichwort“ in einem
Hinweis auf eine formale Modifikation, eine Anspielung auf ein Sprichwort in einem
Beispielsatz für Kommaregeln: „Er hatte kein Glück in der Liebe, trotzdem gewann
er auch im Spiel nicht. (Nach dem Sprichwort Pech im Spiel, Glück in der Liebe.)“
(DS, S. 360, T/B; vgl. DU). Alle drei metasprachlich markierten Sprichwörter sind
nur schwach- oder nicht-idiomatisch und gehören also auch nach Burger zur
Peripherie der Phraseologie.
4.4. „Feste Wendungen“
Der Ausdruck „feste Wendungen“ bezieht sich im Übungsbuch erstens auf 92 (nach
Burgers Terminologie) referentielle nominative Phraseme, sowohl auf (zentrale)
(Teil-) Idiome (40-mal) als auch auf (periphere) Kollokationen (52-mal). Daneben
werden damit auch zwei strukturelle (und somit periphere) Phraseme und
dreimal die (kein Phrasem konstituierende) Rektion eines Wortes bezeichnet (s. Kap.
4.1.). Drittens kommen unter den „festen Wendungen“ drei Modellbildungen bzw.
Phraseoschablonen vor, die nicht von Burgers Basisklassifikation bzw. von
Fleischers Unterscheidung der nominativen und kommunikativen Phraseologismen
erfasst werden, und daher nach Fleischer die Peripherie der Phraseologie, einen
Grenzbereich zur Syntax darstellen, wenn sie auch „eine Art syntaktischer
Idiomatizität aufweisen“ (vgl. Fleischer, 1982, S. 135-136; Burger, 2010, S. 44). Es
geht z.B. um die Modellbildung Jahr für Jahr (DS, S. 25, T/B) bzw. X für X, deren
semantische Leistung im Kapitel über Präpositionen beschrieben wird: „für [...] 6.
zur Reihung gleicher Nomen ohne Artikel (zur Verstärkung): Dasselbe geschieht
Tag für Tag, Jahr für Jahr. Er schrieb das Protokoll Wort für Wort, Satz für Satz ab.“
(DS, S. 307, T/B).10
Bei den referentiellen Phrasemen geht es erstens um 70 verbale Phraseme:
16 verbale Idiome wie Farbe bekennen (DS, S. 25, T/B) (ugs.) ,seine (wirkliche)
Meinung zu etw. nicht länger zurückhalten‘ (DU); 10 verbale Teilidiome, z.B.
zu Fuß gehen (DS, S. 316, T/B) ,einen Weg gehend zurücklegen u. nicht fahren‘
(DU) und schließlich 44 Kollokationen – besonders feste (nach FW „typische“)
Wortverbindungen wie Frieden schließen (DS, S. 25, T/B; DU; FW, S. 181) oder
bei offenem Fenster schlafen (DS, S. 311, T/B; DU; FW, S. 246) sowie andere, z.B.
jmd. ist unter einer Telefonnummer zu erreichen (DS, S. 324, T/B; DU; FW, S. 591).
Einige Kollokationen gehören der Untergruppe der FVG an, z.B. etw. unter Kontrolle
9 Vgl. „Das S[prichwort] ist eine ‚feste‘ Wendung (invariable Konstruktion) mit lehrhafter Tendenz, die sich auf das
prakt. Leben bezieht und i. d. R. einen Einzelfall verallgemeinert als ‚Lebensweisheit‘ empfiehlt.“ (MLS, S. 685).
10 Vgl. für „9. in Verbindung mit zwei gleichen Substantiven zur Angabe der Aufeinanderfolge ohne eine Auslassung“:
Tag für Tag ,jeden Tag‘ (DU; FW, S. 809); Jahr für/um Jahr ,jedes Jahr, alljährlich‘ (DU; FW, S. 412); Wort für Wort
(DU; FW, S. 967).
245
bringen / halten (DS, S. 324, T/B; DU; FW, S. 453). Zweitens werden als „feste
Wendungen“ 22 adverbiale Phraseme markiert: 11 Idiome, z.B. über Nacht (DS, S.
324, T/B) ,ganz schnell, ganz unerwartet, plötzlich‘ (WP/N47), 3 Teilidiome, z.B.
„Wider besseres Wissen hat sie ihm noch einmal verziehen.“ (DS, S. 308, T/B) ,obwohl
man weiß, dass es falsch ist‘ (DU), und 8 Kollokationen, z.B. aus gegebenem Anlass
(DS, S. 310, T/B; DU; vgl. WK, S. 28). Neben den Modellbildungen kommen im
untersuchten Material – als eine andere spezielle Klasse – vier Zwillingsformeln vor
(drei idiomatische und eine schwach idiomatische), z.B. „Sein Besitz wurde samt und
sonders versteigert.“ (,vollständig‘, DS, S. 314,T/B; vgl. DU) oder Tag und Nacht
(DS, S. 25, T/B; S. 26, Ü) ,ständig‘ (DU; FW, S. 809; vgl. Fleischer, 1982, S. 65).
Drei der als „feste Wendungen“ markierten Ausdrücke werden auch unter den
„festen Verbindungen“ mit Verben angeführt und als FVG bezeichnet. Aufgrund der
oben besprochenen Fachliteratur kann aber nur Widerstand leisten (gegen jmdn.
/ etw. / dagegen, dass) (DS, S. 25, T/B; S. 337 u. 344, Listen; FW, S. 949; DG,
S. 426) ,sich widersetzen, auflehnen; jmdm./einer Sache widerstehen‘ (vgl. DU;
Helbig und Buscha, 2001, S. 78) als FVG bezeichnet werden. Für Atem holen (DS,
S. 25, T/B; S. 337, Liste; DU; FW, S. 46) ,atmen‘ (DS, S. 336, T/B; S. 341, Ü) kann
der Oberbegriff S-V-Kollokation verwendet werden, und in Kraft treten (DS, S. 347,
Liste; S. 322, T/B; FW, S. 462) stellt infolge der Bedeutungsverschiebung ein Idiom
dar (vgl. ,wirksam, gültig werden‘, DU; DS, S. 349, Ü).11
Zu den Kollokationen (und FVG) jmd. ist in Gefahr (DS, S. 322, T/B; FW, S. 304;
DU) und jmd./etw. ist außer Gefahr (DS, S. 310, T/B) ,jmd./etw. ist (nicht mehr)
gefährdet‘ (vgl. DU) wird in einer der Listen im Kapitel „Funktionsverbgefüge“ das
inchoative Glied der aktionalen Reihe, in Gefahr geraten (DS, S. 347, Liste; FW,
S. 304, DU) ,gefährdet werden‘ (DS, S. 350, Ü) angeführt. Eine solche aktionale
Reihe bilden auch das als „feste Wendung“ markierte Idiom etw. steht außer Frage
(DS, S. 310, T/B) ,etw. ist ganz gewiss, unbezweifelbar‘ (vgl. DU) und die (als
„FVG“ eigentlich falsch eingeordneten) Idiome etw. in Frage / infrage stellen (DS,
S. 347, Liste; S. 249, Ü/Lösung; S. 252 u. 258, T) ,etw. gefährden, ungewiss, unsicher
machen; etw. anzweifeln‘ (vgl. DU) und in Frage stehen (DS, S. 347, Liste), vgl. etw.
steht in Frage (selten) ,etw. ist gefährdet, unsicher‘ (WP/F889).
Wie bereits erwähnt wurde, dient die Bezeichnung „feste Wendung“ meistens
(78-mal) zugleich als Einleitung von Beispielen in den theoretischen Erläuterungen. 17 Phraseme (verschiedener Idiomatizitätsgrade) kommen daneben
auch in den Übungen vor. In zwei Fällen wird in den Übungen noch eine andere
Kollokation mit derselben Bedeutung verwendet (man könnte von Varianten
desselben Phrasems sprechen), z.B. „in [...] 4. in festen Wendungen: [...] jmd. fällt
in Ohnmacht“ (DS, S. 322, T/B) und „Vor Schreck fiel er in Ohnmacht.“ (DS, S. 325,
T/B), aber „Bevor der Professor in Ohnmacht sank, flüsterte er: [...]“ (DS, S. 355,
11 Kunkel spricht von „Phraseolexemen, die den FVG ähneln“ (vgl. Kunkel, 1991, S. 78, 89, 94, 95, 100, 103).
246
Ü).12 Das adverbiale Idiom vor allem (DS, S. 325, T/B; S. 202, Ü u. a.; DU) kommt in
den theoretischen Passagen auch in der abgekürzten Form vor, z.B. „Diese Formen
werden v. a. in literarischen Texten gebraucht.“ (DS, S. 238, T).
4.5. „Feste Verbindungen“ und „Funktionsverbgefüge“
Das Kapitel § 62 (DS, S. 336‒351) ist den verbalen festen Verbindungen
gewidmet, v. a. den FVG, aber nicht nur diesen, wie es der Titel „Funktionsverbgefüge
(Verben in festen Verbindungen)“ andeuten könnte. Das IV. Unterkapitel ist
nämlich den oben behandelten Redensarten gewidmet, so dass der Nachtrag
in Klammern (und die synonyme Bezeichnung „feste Ausdrücke“ in einer
Übungsanweisung, S. 345) eigentlich der Oberbegriff für die in diesem Kapitel
behandelten sprachlichen Einheiten ist – umso mehr, als die FVG sehr weit
gefasst werden und den S-V-Kollokationen (nach Burger), einige auch den verbalen
(Teil-) Idiomen entsprechen (vgl. die Beispiele Sie trifft eine Entscheidung. Er legt
Beschwerde ein. Er bringt das Problem zur Sprache. Wir legen Wert auf eure
Mitarbeit, DS, S. 342, 369). Mit der Heterogenität der behandelten Wortverbindungen hängt wahrscheinlich zusammen, dass ihre nominalen Bestandteile
vereinfachend als Objekte bezeichnet werden13 – so in den Überschriften der Unterkapitel I bis III (vgl. DS, S. 8, 336, 342, 346), aber auch in der Liste der grammatischen
Begriffe im Anhang (vgl. DS, S. 369). Im Kap. 62 wird aber in Übereinstimmung
mit den oben zitierten Grammatiken des Deutschen erläutert, dass die Funktionsverben „in einer festen Verbindung mit einem Nomen (mit und ohne Präposition)
sowohl eine grammatische Einheit als auch eine Bedeutungseinheit“ bilden. Es wird
betont, dass „das Nomen in der festen Verbindung der Hauptbedeutungsträger ist“,
während die Bedeutung des FV sich auch sehr weit von der des ursprünglichen Verbs
entfernen kann (das wird ausdrücklich bei der Gruppe III, den FVG wie zum Abschluss
kommen, wiederholt, vgl. DS, S. 336, 346; DG, S. 424-425; Helbig und Buscha, 2001,
S. 68–69).
Die Bezeichnung „feste Verbindungen“ wird also in der DS-Grammatik nur im
Zusammenhang mit verbalen Phrasemen verwendet (DS, S. 85, 336–351). Von den
287 so markierten Verbindungen sind 263 Ausdrücke Kollokationen, von diesen
können (mindestens) 93 als FVG14 bestimmt werden, z.B. etw. zum Ausdruck
bringen (DS, S. 347, Liste, S. 44, Ü; S. 292, T und andere; FW, S. 58), Verwendung
finden (DS, S. 337, Liste; WK, S. 503; DU), jmdm. den / einen Befehl geben (DS,
S. 337, Liste; WK, S. 72; DU); Kritik üben an jmdm./ einer Sache / daran, dass / wie
(DS, S. 343, Liste, S. 345, Ü und andere; FW, S. 471; DU). Nach FW sind 107 der
Kollokationen „typische Wortverbindungen“, z.B. (in jmdm.) Erinnerungen wecken
12 Vgl. in Ohnmacht fallen, sinken ,ohnmächtig werden‘ (DU); in Ohnmacht sinken (formell, FW, S. 744).
13 Vgl. „Die Übergänge zwischen Funktionsverbgefügen einerseits und Verbindungen von entsprechenden
Vollverbvarianten mit gewöhnlichen Präpositional- bzw. Akkusativergänzungen sind fließend“ (DG, S. 424).
14 Entsprechend der Definition von Burger (2010) bzw. Wotjak und Heine (2005, s. o.). Mit „mindestens“ werden die
fließenden Grenzen dieser Untergruppe berücksichtigt.
247
(DS, S. 338, Liste; FW, S. 212; DU), darunter kommen (mindestens) 42 FVG vor,
z.B. etw. in Empfang nehmen (DS, S. 347, Liste; FW 195). Zu den anderen (156)
Kollokationen gehören z.B. einen Beruf aufgeben (DS, S. 338, Liste; S. 340, Ü; FW, S.
101; DU), das Rauchen einstellen (DS, S. 339, Liste; WK, S. 354)15 oder – mit einer
Tripelstruktur – eine böse Tat verüben (DS, S. 33, Liste), vgl. eine Tat verüben (FW,
S. 812)16 und böse Tat (FW, S. 812; DU), (mindestens) 51 dieser Kollokationen sind
FVG, z.B. jmdn. zum Lachen / Weinen bringen (DS, S. 347, Liste; DU). Die meisten
Kollokationen werden in den drei Listen des Kapitels 62 angeführt, 6 kommen aber
nur als Beispiele in den theoretischen Teilen des Kapitels vor, z.B. „Der Fotograf
verhalf einem Model zum Erfolg.“ (DS, S. 346, T/B; FW, S. 208; DU). Ungefähr zwei
Drittel der aufgelisteten Kollokationen werden noch an anderen Stellen verwendet,
eine Hälfte kommt z.B. auch in Übungen (zum Teil anderer Kapitel) vor.
Von den festen Verbindungen in den drei Listen sind jedoch 24 Idiome, z.B. etw. in
Kauf nehmen (DS, S. 347, Liste; S. 350, Ü) ,etw. hinnehmen, sich mit Unannehmlichkeiten, Nachteilen im Hinblick auf andere Vorteile abfinden‘ (DU). Die meisten
(16) kommen daneben in Übungen vor. Fünf sind auch in den theoretischen
Passagen zu finden, meist als Beispiel für eine andere Erscheinung, z.B. Bescheid
wissen über etw. / darüber, dass / wie / wann / wo (DS, S. 343, Liste; FW, S. 104)
1. ,von etw. Kenntnis haben, unterrichtet sein‘; 2. ,sich auskennen; etw. gut kennen‘ (DU) und „Er wusste von Anfang an Bescheid.“ (DS, S. 315, T/B; vgl. S. 344,
Ü/Lösung).
5. Fazit
Das primäre Ziel dieses Beitrags war, die in der DS-Grammatik für Phraseme
verwendeten Bezeichnungen, die der fachsprachlichen Ebene eines nichtphraseologischen Lehrbuchs entsprechen, zu der vor allem in der phraseologischen
Basisliteratur verwendeten phraseologischen Terminologie in Beziehung zu setzen
und die metasprachlich markierten Phraseme in diesem Buch unter dem Aspekt
von Zentrum und Peripherie zu beurteilen. Im Zusammenhang damit wurde auch
dem Ort des Vorkommens dieser Phraseme Aufmerksamkeit geschenkt. Von den
vier am häufigsten verwendeten Bezeichnungen kann man zusammenfassend
sagen, dass als „Redensarten“ bis auf Ausnahmen (Teil-) Idiome bezeichnet werden,
d.h. Phraseme im engeren Sinne bzw. Phraseme, die zum Zentrum des Phraseolexikons gehören. Sie kommen fast nur in den Übungen vor. Der Ausdruck „feste
Wendungen“, der vor allem Beispiele in den theoretischen Erläuterungen einleitet,
bezieht sich häufiger auf periphere Phraseme (nicht- bzw. schwach-idiomatische
und strukturelle Phraseme, Modellbildungen, 57-mal) als auf die zentralen (Teil-)
Idiome (40-mal), aber der Unterschied im Umfang beider Gruppen ist nicht so
groß wie bei den als (verbale) „feste Verbindungen“ bzw. „Funktionsverbgefüge“
15 Vgl. das Rauchen aufgeben (DU).
16 Mit dem Beispiel: Von beiden Kriegsparteien wurden schreckliche Taten verübt. (FW, S. 812).
248
bezeichneten Phrasemen. In dieser Gruppe sind 263 der 287 Wortverbindungen
nicht- oder schwach-idiomatische Phraseme, Kollokationen nach Burger (2010),
allerdings können bei Weitem nicht alle zugleich den (prototypischen) FVG
zugeordnet werden. Die 24 in dieser Gruppe angeführten Idiome haben zwar
dieselbe syntaktische Struktur wie die Kollokationen, und einige bilden auch wie
die FVG aktionale Reihen, aber aufgrund anderer semantischer Eigenschaften
müssen sie von beiden Phrasemtypen unterschieden werden.
Ein Zweck dieser Untersuchung war auch, den in den morphosyntaktischen
Seminaren miterlernten phraseologischen Wortschatz bewusst und für weitere
Beschäftigung mit Phraseologie verfügbar zu machen. Die Übersicht könnte auch
als Anregung für die Klassifizierung des weitaus größeren, nicht metasprachlich
markierten phraseologischen Materials in dieser Übungsgrammatik und ggf. auch
als Anregung für seine Untersuchung unter anderen Aspekten dienen.
Abstract
The aim of the paper is to find out, how much the metalingustic expressions
used for phrasemes in the grammar book Lehr- und Übungsbuch der deutschen
Grammatik (Dreyer und Schmitt, 2009) correspond to the terminology used in
the basic literature on German phraseology and to what extent the constructions
marked in this way represent the centre or the periphery of phraseology. At the
same time attention is paid to their place in the book. The first of the four most
frequently used expressions, Redensart (saying), marks (with some exceptions)
total or partial idioms, i. e. phrasemes constituting the centre of phraseology. They
are in nearly all cases used in the exercises of the grammar book. The expression
feste Wendungen (fixed expressions) – used especially when introducing examples
in the theoretical explanations – marks more often (57 times) peripheral phrasemes
(non- or weak idiomatic and structural phrasemes as well as the so-called phraseological patterns) than the central idioms (40 times) but the difference in the size
of both groups is not so great as in case of phrasemes marked by the expression
feste Verbindungen (fixed word combinations) and Funktionsverbgefüge (support
verb constructions, SVC). In this group, 263 out of 287 fixed noun-verb constructions are non- or weak idiomatic phrasemes, i. e. collocations in the terminology of
Burger (2010), but by far not all of them can be considered to be (prototypical)
SVC. 24 expressions are idioms of the same syntactic structure as SVC and in some
cases they are able to differentiate the Aktionsart (manner of action) but their
semantic properties differ from those of collocations or SVC.
Keywords
phraseme, idiom, collocation, centre and periphery
249
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251
252
Zentrum und Peripherie
der geschlechtsspezifischen Phraseologismen
im Deutschen.
Bedeutung und Aspekte ihrer Verwendung
Jana Hofmannová
Annotation
Der vorliegende Beitrag befasst sich mit geschlechtsspezifischen Phraseologismen
im Deutschen. Er setzt sich zum Ziel, sie nach ihrer Verwendung in der Sprachgemeinschaft in Zentrum und Peripherie zu gliedern. Werden die geschlechtsspezifischen Phraseologismen in der Sprachgemeinschaft verständlich und gemäß dem
allgemein üblichen Sprachgebrauch verwendet, dann werden sie dem Zentrum
zugeordnet. Phraseme hingegen, die als abwertend, derb, vulgär und diskriminierend gebraucht werden, werden als peripher angesehen. Die Untersuchung wird
anhand eines Korpus von zwei phraseologischen Wörterbüchern durchgeführt und
mit Belegen aus dem Mannheimer Referenzkorpus (DeReKo) untermauert.
Schlüsselwörter
Geschlechtsspezifik, Phraseologismus, Bedeutung, Verwendung, Deutsch
1. Einleitung
Das Korpus der geschlechtsspezifischen Phraseologismen wird für diese
Forschungsarbeit eingehend analysiert, um in der Folge eine Einteilung
vorzunehmen, inwieweit die Phraseme im Zentrum der heute verwendeten
Sprachen vorkommen oder inwieweit sie grenzwertig sind, also an der Peripherie
des Sprachgebrauchs liegen.
Zuvor muss allerdings geklärt werden, wie Zentrum und Peripherie in dieser
Untersuchung zu verstehen sind. Gewiss war den Veranstaltern, die den Titel
Zentrum und Peripherie für die Germanistentagung 2016 in Opava gewählt haben,
bewusst, dass die beiden Begriffe nicht unumstößlich definiert werden können,
253
sondern je nach Blickwinkel, je nach Standpunkt und je nach zeitlicher Betrachtung
Unterschiede aufweisen.1
Welche sprachlichen Mittel, welche Begriffe und welche Reden aus dem Korpus
der geschlechtsspezifischen Phraseologismen dem Zentrum zuzuordnen sind und
welche peripher sind, hängt demzufolge davon ab, was wir als Zentrum und was
als Peripherie der Sprache betrachten. Im Zentrum der Sprache stehen für diese
Untersuchung die geschlechtsspezifischen Phraseologismen, deren Gebrauch
in der heutigen Sprachgemeinschaft verständlich, gebräuchlich und in keiner
Weise abwertend, derb, vulgär und diskriminierend ist. An der Peripherie sind
entsprechend diejenigen festen Verbindungen angesiedelt, die der sprachlichen
political correctness der heutigen Zeit nicht entsprechen. Dass auch in dieser
Hinsicht alles in Bewegung ist, kann man an zahlreichen Beispielen belegen. Waren
Begriffe wie Krüppel und Neger vor 50 Jahren noch unumstritten und gehörten dem
Zentrum der Sprachverwendung an, so gelten sie heute als nicht nur randständig
und peripher, sondern sogar als außerhalb des Rahmens des korrekten Sprechens
liegend. Auch die feministische Sprachforschung hat eine Reihe von traditionell
verwendeten sprachlichen Mitteln in Frage gestellt und sie aus dem
Zentrum des akzeptierten Sprachgebrauchs hin zur Peripherie verdrängt und neue
Formulierungen ins Zentrum der Sprache gerückt.
Ziel des Aufsatzes ist, das Korpus eingehend zu untersuchen und zu einer
Einteilung zu kommen, wie viele der geschlechtsspezifischen Phraseologismen im
Zentrum des Sprachgebrauchs stehen und aus welchen thematischen Bereichen sie
kommen. Auf der anderen Seite geht es darum, die Gruppe von Phraseologismen
zu umreißen, deren Gebrauch weniger statthaft ist, die somit am Rande des
Sprechens und Schreibens stehen oder die man völlig vermeiden sollte.
Diese Untersuchung leistet nicht nur einen Beitrag im Rahmen der Linguistik,
sondern sie hat auch einen Nutzen für den DaF-Unterricht in der Hinsicht, als
Deutschlerner, die bei dem Gebrauch von geschlechtsspezifischen Phraseologismen
unsicher sind, einen Einblick bekommen, welche festen Wendungen sie verwenden
können und welche sie meiden sollten. Die Lerner können darüber hinaus die
1 Das Reich der Mitte, also China in seinem Selbstverständnis als Zentrum der Erde, liegt in unseren, europäischen
Atlanten ganz am Rande und verschwindet beinahe hinten rechts an der äußeren Kante der Landkarte. Europa hingegen
sehen wir in voller Pracht im Zentrum. Lange Zeit hielten die Menschen, wie die Kirchenleute es ihnen erzählten,
am geozentrischen Weltbild fest, demzufolge die Erde das Zentrum des Weltalls bildet. Bis in die frühe Neuzeit,
bis Kopernikus, Bruno, Kepler und Galilei diese Sichtweise ins Wanken brachten und dem heliozentrischen
Weltbild zum Durchbruch verhalfen; nach deren Sichtweise und vor allem aufgrund ihrer wissenschaftlichen Forschung
ist die Erde nicht mehr der Mittelpunkt des Alls. Und wenn man, um wieder in die heutige Zeit und in unsere
Region zurückzukehren, nach der Mitte Europas fragt, so würden Deutsche gewiss Deutschland/Frankreich als Zentrum
Europas nennen und den neuen EU-Mitgliedern vom Baltikum über Polen, Tschechien bis zum Balkan den Platz an
der Peripherie Europas zuweisen. Polen und Tschechen hingegen sehen ihre Länder in Mitteleuropa, in der Zentrallage.
Zentrum und Peripherie sind, wie in diesem kleinen Exkurs gezeigt wurde, relative Begriffe, abhängig vom Blickwinkel
und von der Zeit, von der Betrachtungsweise und den Interessen.
254
kommunikativen Situationen einschätzen, wenn sie die konkreten Phraseologismen hören oder im Text lesen.
Schreiten wir nun zur Betrachtung der Phraseologismen aus dieser Sicht, nämlich
mit Blick auf Zentrum und Peripherie, des hier zugrunde gelegten Korpus.
2. Abgrenzung der Terminologie
Zunächst wird anhand der Sekundärliteratur für den vorliegenden Beitrag der
Phraseologismus als eine Einheit definiert, die polylexikal ist, d.h. aus mindestens
zwei Wörtern besteht, und weitere Merkmale besitzen kann, z.B. Idiomatizität,
d.h. die Gesamtbedeutung der ganzen Einheit ergibt sich nicht aus den
Bedeutungen der einzelnen Komponenten, Stabilität, d.h. die Komponenten der
phraseologischen Einheit sind nicht oder nur schwer ersetzbar, Lexikalisierung,
d.h. die phraseologischen Einheiten werden ähnlich wie ein Lexem im Lexikon
gespeichert, und Reproduzierbarkeit, d.h. die Phraseologismen werden nicht
wieder von neuem zusammengestellt, sondern als eine Einheit reproduziert.
Synonym zu dem Terminus Phraseologismus werden hier auch Phrasem und feste
Wortverbindung verwendet.
Unter geschlechtsspezifischen Phraseologismen sind phraseologische Einheiten zu
verstehen, die „zum einen […] geschlechtsspezifische Aspekte im Komponentenbestand […], zum anderen […] geschlechtsspezifische Aspekte bei der Verwendung“ (Sternkopf, 1995, S. 413) aufweisen. Im Weiteren beschreibt Sternkopf (1995,
S. 413-417) die Eigennamen, Verwandtschaftsbezeichnungen und die Lexeme
Mann vs. Frau2 als phraseologische Konstituenten und formuliert die geschlechtsspezifischen Aspekte bei der Verwendung fester Wendungen.
Mit der Typologie der geschlechtsspezifischen Phraseologismen sowie mit einer
Klassifizierung der geschlechtsspezifischen Markierung von Idiomen befasste sich
bereits Piirainen (2001, S. 283-307; 2002, S. 373-377). In ihrem Beitrag (Piirainen,
2001, S. 283-307) unterscheidet sie zwei Hauptgruppen der geschlechtsspezifischen
Phraseologismen, und zwar „1. die Restriktion ist bedingt durch die aktuelle
Bedeutung des Phraseologismus [und] 2. die Restriktion ist bedingt durch die
Bildlichkeit des Phraseologismus“ (Piirainen, 2001, S. 287).
In dem vorliegenden Beitrag werden solche Phraseologismen untersucht, und
zwar im Hinblick auf ihre Bedeutung sowie auf die Aspekte ihrer Verwendung in
dem Mannheimer Referenzkorpus (DeReKo). Zu diesem Zweck wurde ein Korpus
von 555 phraseologischen Einheiten aus dem Wörterbuch Deutsche Idiomatik von
2 Bei unseren Recherchen in den phraseologischen Wörterbüchern haben sich weitere Lexeme ergeben, die zu diesem
Konzept passen, d.h. Herr/ Junge/ Kerl/ Knabe/ Bursche/ Männchen mit der Variante Männlein und Dame/ Lady/ Weib/
Mädchen/ Fräulein/ Weibchen mit der Variante Weiblein.
255
Hans Schemann (1993) und 149 phraseologischen Einheiten aus dem Wörterbuch
DUDEN 11 – Redewendungen (2002) zusammengestellt. Die Materialgrundlage
basiert auf insgesamt 704 phraseologischen Einheiten aus diesen Wörterbüchern,
von denen ein kleinerer Teil der Analyse zu Grunde lag.
Die geschlechtsspezifischen Phraseologismen befassen sich oft mit der Sexualität.
Deppert (2001, S. 128) stellte für die einfachen Lexeme fest: „Über
Sexualität läßt sich auf verschiedenen ‚Stil-‘ oder ‚Sprachebenen‘ reden.“ Damit sind
die Sprachschichten Umgangssprache, Standardsprache und Fachsprache gemeint.
Was Deppert für die einfachen Lexeme feststellt, gilt allerdings für die festen
Wendungen meistens nicht. Sieht man sich den Bereich der Phraseologismen an, stellt
man fest, dass „Phraseologismen, die in irgendeiner Weise auf Sexuelles referieren,
[…] in den meisten Fällen stilistisch als ‚vulgär‘ oder ‚derb‘ eingestuft [werden].“
(Piirainen, 2001, S. 286) Für unsere Untersuchung und Fragestellung ordnen wir
diese der Peripherie zu, also dem Bereich der Phraseologismen, die zu verwenden
nicht angemessen ist.
3. Geschlechtsspezifische Phraseologismen im Zentrum
3.1. Weibliche und männliche Eigennamen
In Anlehnung an Sternkopf (1995) befassen wir uns zuerst mit den weiblichen und
männlichen Eigennamen. Aus dieser Gruppe wurden genauso viele weibliche wie
auch männliche Eigennamen als phraseologische Komponenten in dem Korpus
gefunden, wobei bei den weiblichen Eigennamen Lieschen, z.B. Lieschen Müller,
ein fleißiges Lieschen sein und Eva, z.B. die Töchter Evas, im Evaskostüm mehrmals
vertreten sind.
Es wurden auch Dubletten festgestellt, d.h. Varianten, die in doppelten Formen
für jedes Geschlecht getrennt vorkommen, und zwar im Evaskostüm und im
Adamskostüm.
Man kann konstatieren, dass die Phraseologismen mit den weiblichen Vornamen
frauenbezogen, die Phraseologismen mit den männlichen Vornamen männerbezogen verwendet werden. Zu diesem wenig überraschenden Ergebnis gehören
jedoch zwei Ausnahmen, und zwar Otto Normalverbraucher, dessen Bedeutung
für ‚der statistische Durchschnittsmensch, der Durchschnittskonsument‘ (Duden
11, 2002, S. 562) steht und somit Männer wie Frauen betrifft. Die zweite Ausnahme
ist ein Zappelphilipp (sein), womit allgemein ‚unruhige Kinder‘ charakterisiert
werden dürfen, also auch ‚ein unruhiges Mädchen‘.
Das Mannheimer Referenzkorpus DeReKo liefert insgesamt 4.668 Treffer für die
feste Wendung Otto Normalverbraucher. Daran sieht man, dass der Phraseo256
logismus häufig verwendet wird und sich einer großen Beliebtheit erfreut. Dies
zeugt auch davon, dass er unumstritten zum Zentrum des Sprachgebrauchs gehört.
Sammler im Pensionsalter bilden die Mehrheit im kleinen Bodansaal.
Und wer sein Leben lang Briefmarken oder Ansichtskarten in
Alben eingereiht hat, trifft mit der Zeit eine Auswahl. Den
«Allgemein-Sammler» scheint es kaum mehr zu geben, die Pensionierten haben sich zu Spezialisten entwickelt. Die Briefmarke, die
Otto Normalverbraucher täglich achtlos auf den Geschäftsbrief klebt,
interessiert kaum jemanden. Genausowenig wie die Ansichtskarte,
welche die Tante aus den Badeferien auf Mallorca nach Hause schickt.
Was hier interessiert, sind Raritäten und Exklusivitäten. Je älter und
seltener, desto besser.
(A98/APR.21804 St. Galler Tagblatt, [Tageszeitung], 06.04.1998,
Jg. 54. Originalressort: TB-ROM (Abk.); Sammler und Jäger,
[Bericht])
In einem zweiten Beispiel will man den Mann von der Frau unterscheiden, deshalb
wählt man neben dem Phraseologismus Otto Normalverbraucher im Sinne von
‚Durchschnittsmann‘ die feste Wortverbindung Gabi Musterfrau im Sinne von
‚Durchschnittsfrau‘.
Bei Knup in Kesswil ist bis Anfang November Erdbeer-Saison. «Wir
sind der einzige Betrieb in der Schweiz, der von Mai bis November ohne
Unterbruch Erdbeeren liefern kann.» Wie gelingt es dem Verpackungskünstler, dass die Beerensaison bis in den November hinein währt?
«Das ist etwas, was die Leute kaum wissen: Pflanzen kann man
gefrieren und wieder zum Leben erwecken.» Für viele Setzlinge beginnt
nach einem langen Kühlhaus-Winter das Frühjahr erst im Juli. Die
mitten im Hochsommer ausgesetzten Pflanzen tragen erst im September
Früchte. Otto Normalverbraucher und Gabi Musterfrau jagt es bei
dieser Vorstellung kalt den Rücken hinunter. Nur, der Experte aus der
Forschungsanstalt für Obst-, Wein- und Gartenbau in Wädenswil,
Reto Neuweiler, kann hier beruhigen: «Die Setzlinge stehen so eng, dass
der Energieverbrauch im Kühlhaus recht weit unten gehalten wird.»
Gegenüber den Kerosin-Beeren aus Südafrika und Chile weisen die
Knupschen Beeren ganz sicher die bessere Öko-Bilanz auf.
(A99/JUN.45077 St. Galler Tagblatt, [Tageszeitung], 25.06.1999,
Jg. 55. Originalressort: TB-BOD (Abk.); DELFBUCHER: Früchtchen
für jede Jahreszeit, [Bericht])
In dem Referenzkorpus gibt es nur 6 Treffer für die feste Wendung Gabi Musterfrau.
Man findet sie auch nicht in den phraseologischen Wörterbüchern, weshalb
sie auch nicht in das Korpus aufgenommen wurde. Vermutlich trägt diese neue
257
Formulierung der feministischen Sprachkritik Rechnung und wird in Zukunft
vielleicht einmal gleichrangig neben Otto Normalverbraucher zu finden sein.
3.2. Verwandtschaftsbezeichnungen
In dem Korpus wurden insgesamt 62 Phraseologismen mit Verwandtschaftsbezeichnungen gefunden, namentlich Mutter, Vater, Bruder, Schwester, Sohn,
Tochter, Onkel und Tante. Auch hier findet man Dubletten wie z.B. von Vaters
Seite kommen / stammen / etw. haben und von Mutters Seite kommen / stammen /
etw. haben.
Der Phraseologismus eine (richtige/ …) Quasseltante sein im Sinne von ‚zu viel
sprechen, erzählen, Unwichtiges reden‘ lässt sich auch für eine männliche Person
verwenden, wie das nächste Beispiel zeigt.
Gut zwei Stunden mussten die Narren in der Ollmerschhalle ausharren,
bis seine Tollität Heinz Duchscherer und ihre Lieblichkeit Petra
Duchscherer, die auch im richtigen Leben als Ehepaar einen gemeinsamen Weg beschreiten, dem Volk ihre geneigte Huld schenkten. Bei
der im wahren Wortsinn feurigen Prinzenproklamation steigerte
Frank Göbel die Spannung ins schier Unermessliche, unterstützt von
den singenden “Wambachlerchen” und ästhetisch tanzend umrahmt
vom HCV-Junioren- und Seniorenballett. Selbst die geniale “Quasseltante” Wolfgang Gröschen wusste im Interview mit Delf Mehlert
zwar viel Amüsantes aus dem Dorfleben zu berichten, doch die neue
Regentschaft war auch ihr ein Rätsel.
(RHZ04/NOV.14264 Rhein-Zeitung, 15.11.2004; Mit Heinz und
Petra ins Jubiläum)
Das Mannheimer Korpus liefert für den Phraseologismus grüne Witwe
55 Treffer, wobei die meisten sich auf ein Getränk, einen Cocktail des gleichen Namens
beziehen.
Seit ein paar Jahren wohnt die Familie Ruzowitzky in Klosterneuburg. Fast ein Betriebsunfall. “Meine Frau wollte auf keinen Fall ein
Grundstück im Grünen, um nicht als grüne Witwe zu enden, die
immer wochenlang auf ihren Mann wartet, sondern unbedingt ein
altes Haus in Wien. Es ist alles ganz anders gekommen, aber meine
Frau ist inzwischen eine begeisterte Klosterneuburgerin geworden.”
(NON08/JUN.00275 Niederösterreichische Nachrichten, 02.06.2008,
NÖN Großformat S. 59; Reich wird man mit dem Oscar nicht)
Es wurde aber auch ein Beispiel gefunden, das darauf hinweist, dass man den
Phraseologismus auch für Männer verwenden kann.
258
Aber auf einer Leinwand macht er sich ganz gut, und mit Emily Blunt
als Violet gibt er ein gutes Paar ab – ein niedlicher Typ und eine Frau,
die immer ein wenig so rüberkommt, als wäre sie seine Erziehungsberechtigte. Nun sind die beiden in Michigan aufeinander gestellt und
driften prompt auseinander – Violet gefällt der Job, und ihr gefällt ihr
Professor (Rhys Ifans). Klar, dass sie den Vertrag nach Ablauf des ersten
Jahres verlängert. Tom, plüschgewordener Traum aller Frauen, macht
alles mit und gibt sich viel Mühe, sich an die neuen Bedingungen zu
gewöhnen: Schnee, Kleinstadt, Job in einer Sandwichbude. Natürlich
dreht er bald am Rad, er endet als grüne Witwe und entwickelt eine
komische Depression, bei der das Hasenkostüm eine zentrale Rolle
einnimmt.
(U12/JUL.01692 Süddeutsche Zeitung, 12.07.2012, S. 12. - Sachgebiet:
Film, Originalressort: Filmseite; SUSAN VAHABZADEH: Die
Leiden einer grünen Witwe, [Rezension:Filmrezension])
Mit dem Phraseologismus ein kesser Vater (sein) in der Bedeutung ‚maskulin
wirkende homosexuelle Frau‘ (Duden 11 2002: 805) nähern wir uns schon der
Peripherie an, denn die selten gebrauchte feste Wendung wird salopp, oft abwertend
verwendet. Das DeReKo liefert nur 19 Treffer zu diesem Phrasem.
Feminine Lesben hingegen werden aufgrund ihres Äußeren oft für
heterosexuelle Frauen gehalten. Das führt wiederum dazu, dass
der maskuline Stil als lesbischer Stil schlechthin gilt, was nicht den
Tatsachen entspricht, denn es gibt und gab schon immer eine Vielzahl
lesbischer Erscheinungsformen. Individualität wird auch in lesbischen Social Communitys großgeschrieben. Wenn ich mir zum Beispiel
ein Profil bei Lesarion oder in der L-Community (Social Community
der L-MAG) anlege, kann ich zwischen Butch, Femme, Tomboy
(Wildfang), Girlie, KV (Kesser Vater), Lipstick Lesbe oder Kampflesbe
wählen. Und nochmal mindestens genauso viele Adjektive ankreuzen:
klassisch, stylisch, modisch / im Trend, sportlich, lässig, alternativ,
feminin, maskulin, androgyn.
(U10/SEP.00920 Süddeutsche Zeitung, 06.09.2010, S. 33. Originalressort: JETZT.DE; Mode gegen den Mainstream)
3.3. Märchenfiguren
Aus der Märchenwelt kommen in den geschlechtsspezifischen Phraseologismen
vor allem die Komponenten Aschenbrödel, Hexe, Erbsenprinzessin, Teufel und Ritter
vor. Es sind Wendungen wie (das) Aschenbrödel sein, das Aschenbrödel spielen, ein
Aschenbrödeldasein führen / (haben), eine Erbsenprinzessin sein, böse wie eine Hexe
sein, eine richtige / (ausgemachte) Hexe sein, eine kleine Hexe (sein), ein irrender
Ritter, sich zu jemandes Ritter aufwerfen, ein Ritter von der Feder, ein Ritter ohne
259
Furcht und Tadel (sein), Ritter von der Nadel, ein Ritter des Pedals und jemanden
zum Ritter schlagen.
Wie wir es aus den Märchen kennen, weisen Wendungen mit positiven Figuren
durchgehend eine positive Konnotation auf und gehören somit dem Zentrum an.
Negative Figuren in den Phraseologismen, wie zum Beispiel eine ausgemachte Hexe
sein im Sinne von eine ‚gewiefte Frau‘ sein, tendieren dementsprechend eher dem
Randbereich zu. Das DeReKo liefert zu dem Phraseologismus nur einen einzigen
Beleg.
Dass Yoko Ono, geboren am 18. Februar 1933 in Tokio, ihre neue CD
“Yes, I’m A Witch nennt”[sic!], spricht für ihren Humor - und Nehmerqualitäten. Schließlich halten viele Rock-Fans die Fluxus-Künstlerin
für eine ausgemachte Hexe, die sich 1966 John Lennon geangelt hat,
um dann zunächst seine erste Ehe und später die Beatles zu zerstören.
Die Popgeschichte sieht das inzwischen differenzierter, spätestens seit
der “Onobox” (1992) gibt es sogar lobende Worte für die Musikerin
Yoko Ono. Sie lebt noch heute im New Yorker Dakota Building, vor
dem Lennon 1980 ermordet wurde.
(M07/FEB.03829 Mannheimer Morgen, [Tageszeitung], 16.02.2007,
Jg. 62, Stadtausgabe. - Sachgebiet: Kultur, Originalressort: Kultur;
Yoko Ono, [Feuilleton])
3.4. Tierwelt
Die Tierwelt bescherte den Phraseologismen als Komponenten die Lexeme Biene,
Elster, Rabe, Gans, Ente, Entlein, Kröte, Kuh, Küken, Huhn, Löwin, Maus, Schmetterling, Reh, Vogel, Katze, Kater, Hecht und Bär. Phraseologismen mit der Komponente
Kater sind männerbezogen, z.B. verliebt wie ein Kater (sein), wie ein verliebter Kater,
Phraseologismen mit der Komponente Katze sind frauenbezogen, z.B. eine fesche
Katze (sein), schmeicheln wie eine Katze.
Phraseologismen mit den Komponenten Gans, Ente, Kröte und Kuh sind eindeutig
frauenbezogen und pejorativ, z.B. eine dumme / blöde / alberne Gans (sein),
schnattern wie eine Gans / (die Gänse), daherwatscheln / watscheln wie eine Gans,
(daher-)watscheln wie eine Ente, eine freche Kröte sein, eine giftige Kröte sein,
eine kleine Kröte (sein), dumme / blöde Kuh. Mit den letztgenannten Beispielen
bewegt man sich schon in Richtung der Peripherie, wie sie für diesen Beitrag
definiert wurde. Das Korpus DeReKo liefert 521 Treffer zu dem Phraseologismus
blöde Kuh.
Ein geworfener Döner ist nicht als Beleidigung zu werten. Das entschied
das Münchener Amtsgericht und wies damit die Klage einer ImbissMitarbeiterin ab. Die Frau hatte auf 250 Euro Schmerzensgeld geklagt.
260
Einem Gast hatte sein Döner nicht geschmeckt. Nachdem er erfolglos
sein Geld zurückverlangt hatte, hatte er das gefüllte Fladenbrot in ihre
Richtung geworfen. Getroffen hatte er sie nicht. Außerdem habe er
sie als „blöde Kuh“ beschimpft. Diese verbale Beleidigung konnte die
Frau allerdings nicht beweisen, und der Dönerwurf allein reichte dem
Gericht als Grund für Schmerzensgeld nicht aus. Er stelle keine
schwerwiegende Verletzung der menschlichen Würde und Ehre dar,
erklärte das Gericht.
(HAZ08/APR.01232 Hannoversche Allgemeine, 08.04.2008, S. 10;
Döner werfen ist keine Beleidigung)
3.5. Reproduktion, Sex und Ehe
Die männerbezogenen Phraseologismen können im Referenzbereich Reproduktion positiv sein (Vaterfreuden entgegensehen), im Kommunikationsbereich
usuell angemessen sein (hinter jedem Rock her sein / herlaufen, unter den Pantoffel
kommen, unter dem Pantoffel stehen, Frühlingsgefühle bekommen / haben, seinen
zweiten Frühling erleben, das starke Geschlecht, aussehen / …, als wäre einem seine
Frau weggelaufen).
Die frauenbezogenen Phraseologismen übertreffen die Menge der männerbezogenen um ein Vielfaches. Die positiv konnotierten Phraseologismen und somit
diejenigen, die man in gängigen Kommunikationssituationen verwenden kann,
betreffen vor allen den Referenzbereich Schwangerschaft, Geburt und das Kindbett.
Es gibt eine große Menge an solchen phraseologischen Einheiten: hochschwanger
sein, guter Hoffnung sein, ein Kind unter dem Herzen tragen / (haben), ein Kind
bekommen / kriegen, ein Kind erwarten, mit einem Kind gehen, mit einem Kind
schwanger gehen, ein Kind im Leib haben, das Kind im Mutterleib, bei einer Frau
/ einem Mädchen ist ein Kind unterwegs, in andere Umstände kommen, in anderen
/ gesegneten Umständen sein, ins Kindbett kommen, im Kindbett liegen / sein, im
Kindbett sterben, in Kindernöten liegen / sein, in den Wehen liegen, Mutterfreuden
entgegensehen, Mutterfreuden genießen. Es kann auch verhüllend ausgedrückt
werden, wie etwas Kleines erwarten, sich etwas Kleines bestellen, bei einer Frau /
einem Mädchen ist etwas Kleines unterwegs.
Hierher gehören auch Phraseologismen, die auf das Erscheinungsbild referieren,
wie z.B. schön wie ein Bild (sein), sich (fein / …) herausputzen, jung und knusprig,
jung und schön, eine fesche Katze (sein), wie Milch und Blut aussehen, wie das ewige
/ blühende Leben aussehen, (so) frisch wie der junge Morgen aussehen, schön wie der
junge Morgen sein, rank und schlank (gewachsen) (sein), schlank wie ein Reh (sein),
schön wie die Sünde sein.
261
4. Geschlechtsspezifische Phraseologismen in der Peripherie
4.1. Peripherie beim Mann
„Die Umgangs- bzw. Vulgärsprache der Sexualität gilt als die erotisch vielfältigste
und schöpferischste Sprachschicht, mit der Sachverhalte sehr direkt, oft grob,
ordinär und respektlos bis menschenverachtend angesprochen werden, u.U. mit
angeberischer und peinlicher Wirkung.“ (Deppert, 2001, S. 128) Für unsere
Untersuchung werden diese Phraseologismen der Peripherie zugeordnet, also dem
Bereich des kaum noch oder schon gar nicht mehr Sprech- und Schreibbaren. Bei
den hier untersuchten Phraseologismen geht es vor allem um den Ausdruck der
Selbstbefriedigung (sich einen runterholen, sich einen abwichsen, sich geistig einen
runterholen), des stattgefundenen oder nicht stattgefundenen Geschlechtsverkehrs
(einen / keinen (mehr) hochkriegen, (bei jemandem) einen wegstecken). Manchmal
sind die Ausdrücke verschleiert. „Der Mehrdeutigkeit wird oft auch eine verhüllende
Funktion zugeschrieben: Die Standardsprache der Sexualität wie auch anderer
tabuisierter Bereiche nenne die Dinge nicht beim Namen, sie tendiere vielmehr
zum Schönreden und Verschleiern.“ (Deppert, 2001, S. 129) Hier sind die
Phraseologismen zu nennen sich die Gießkanne verbiegen / verbeulen oder sich das
Rohr verbiegen.
„Je jünger, desto besser”, sagt Matti. „Ist doch so.”
Während ihrer Lehre schafften sie von 16 Uhr bis 22 Uhr an. „600
Mark Lehrgeld pro Monat verdienen sie bei mir in ein paar Tagen.”
Jetzt schieben die beiden den ganzen Tag Bereitschaft. Von 11 bis
22 Uhr müssen sie erreichbar sein. Ein bis zwei Jobs pro Tag sind die
Regel, drei das Maximum. Viel mehr geht nicht. „Die müssen ja noch
einen hochkriegen.”Deshalb arbeite die Mafia auch nur mit Frauen,
sagt er. Da lasse sich mehr verdienen.
(T02/JAN.02194 die tageszeitung, 14.01.2002, Jg. 24, Ausgabe Berlin,
S. 22. Originalressort: Berliner Thema; THILO KUNZEMANN: “Auf
was stehst du denn?”, [Bericht])
In der Branche munkelt man, Ihre Frau habe Sie zur Beendigung Ihrer
aktiven Laufbahn gedrängt. Quatsch. Man wollte sogar meinen
Rücktritt dazu benützen, mich fertig zu machen. Es hiess, ich würde
keinen mehr hochkriegen und dergleichen. Die Wahrheit ist: Ich stand
zwanzig Jahre lang vor der Kamera, das ist mehr als genug. Als ich
meiner Frau sagte, ich würde aufhören, fragte sie mich, ob ich mir das
wirklich gut überlegt hätte. Sie wisse nicht, ob sie meinen Hormonhaushalt alleine verwalten könne. Ich habe herzhaft gelacht. Lachen
Sie jetzt immer noch? Ich habe keine Entzugserscheinungen, wenn Sie
das meinen. Ich fahre jetzt etwas rabiater Motocross und mache den
262
Helikopterschein, aber sonst nütze ich die freie Zeit, um mit meiner
Familie zu sein.
(WWO05/NOV.00151 Weltwoche, 17.11.2005, S. 076, Originalressort:
Titelgeschichten; “In Pornos bin ich ich selbst”)
4.2. Die Peripherie bei der Frau
4.2.1. Erscheinungsbild der Frau
Es gibt viel mehr frauenbezogene Phraseologismen, die derb und vulgär sind,
und die in den üblichen Kommunikationssituationen nicht verwendet werden
können. Um sie zu ordnen, müssen wir einige Gruppen festlegen. Die erste Gruppe
enthält den Referenzbereich des Erscheinungsbildes, für den es schon (siehe oben)
viele akzeptierte phraseologische Einheiten gibt. Zu den in der üblichen Kommunikation nicht akzeptierten Phraseologismen in diesem Bereich, die auf die Brust
referieren, lassen sich auflisten: ganz schön / … was in / unter der Bluse haben, flach
wie ein Brett sein, platt wie ein Brett sein, an einer Frau / (einem Mädchen) ist etwas /
nichts dran, wie ein Bügelbrett aussehen, flach / (platt) wie ein Plättbrett sein, etwas /
nichts in / unter der Bluse haben, eine pralle / (satt) gefüllte Bluse haben, ein Plättbrett
mit zwei Erbsen, die weiblichen Reize, ihre Reize spielen lassen und Holz vor der Hütte
haben.
Brüste. Umgangssprachlich auch Titten, Hupen, Ohren oder Holz
vor der Hütte genannt. Der Vorbau bringt es mit sich, das sagt schon
der Name, dass er vor allem anderen gesehen wird. Die Reaktionen
sind dabei sehr unterschiedlich. Männern fallen dazu vor allem drei
Adjektive ein: geil, geil oder auch geil. Frauen sehen das sehr viel
differenzierter: zu groß, zu klein, zu hängend. Gefürchtet ist der
Bleistift-Test. Das ästhetische Empfinden geht eben manchmal seine
ganz eigenen Wege. Die Stirn zu hoch, die Haare zu kraus, die Augen
zu klein und die Beine zu kurz. Wir hängen an der Idealvorstellung,
und die macht auch vor Brüsten nicht halt. Für viele Männer schlicht
und ergreifend die zweiterogenste Zone, für Frauen oft Thema.
(FOC12/FEB.00082 FOCUS, 06.02.2012, S. 98, Sachgebiet:
Kultur, Originalressort: KULTUR UND LEBEN, MEDIEN; Schon seit
50 Jahren lassen sich Frauen »die Brüste machen«. Warum bloß?
Männer achten doch sowieso nicht auf Details)
Weitere Phraseologismen, die das Aussehen der Frauen auf derbe Weise
thematisieren, sind: (ein) hässliches Entlein, eine abgetakelte Fregatte (sein),
aufgetakelt wie eine Fregatte (sein), eine kleine Kröte (sein), blondes Gift, von
hinten Blondine, von vorne Ruine, hinten Lyzeum, vorne Museum, eine (richtige / …)
Tonne.
263
Wir schalten rüber zu Sat.1. Dort beweist die „Quiz Night”, dass die
vielen Scheinwerfer im Studio nicht unbedingt gut für den Teint sind.
Als Alida Kurras die zweite Big-Brother-Staffel gewann, war sie das
Küken. Heute ist sie 29 und sieht aus wie eine Fregatte, die nur mit
Ach und Krach die eine oder andere Seenot überstanden hat. Was ihr
in ihrem Job aber zugute kommt: Alida ist eine Anruf-Animierdame,
ihre leicht rauchig-kratzige Stimme erinnert an die Gurkenhobelverkäufer aus westdeutschen Fußgängerzonen, und bestimmt drücken
ihretwegen ganz viele Menschen 49 Cent in den Call-in-Opferstock
ab. Das Spiel bei Frau Kurras geht so: Die Anrufer müssen unter
Geldscheinen versteckte Wörter mit fünf Buchstaben erraten, die mit
St beginnen, also zum Beispiel Stern oder Stirn. Die Preise liegen
zwischen 100 und 500 Euro, und weil Alida heute nicht bei 9Live,
sondern bei Sat.1 zugange ist, darf sie weniger prollig sein.
(T06/JUL.04919 die tageszeitung, [Tageszeitung], 28.07.2006,
Nr. 8033, Jg. 27, S. 13. Originalressort: tazzwei; MARTIN WEBER:
Sechs Stunden ohne Sinn, [Bericht])
Das DeReKo liefert zu dem Phraseologismus blondes Gift 299 Treffer, wobei
anzumerken ist, dass die meisten Belege sich auf die Talkshow-Sendung Blondes
Gift im WDR, später auf ProSieben, mit Barbara Schöneberger beziehen.
Brühne pflegte jedoch ein Leben, das so gar nicht den Konventionen
der frühen sechziger Jahre entsprach. Im Auge der damaligen
Öffentlichkeit war sie verrucht, ein blondes Gift, schlank,
hochgewachsen, von stolzem Auftreten, raffiniert und berechnend.
Einen Hauch von dieser Verruchtheit wollten die Menschen wohl
spüren, als sie massenhaft den Gerichtssaal im Münchener Justizpalast
stürmten. Die Schaulustigen, so heißt es in Berichten, standen bereits
um Mitternacht Schlange und legten sogar den Verkehr in der
Münchener Innenstadt lahm.
(HAZ08/MAR.02790 Hannoversche Allgemeine, 14.03.2008,
S. 9; Vera Brühnes zweite Chance)
Das DeReKo liefert zum Phraseologismus vorne Museum, hinten Lyzeum insgesamt
15 Treffer. Dieses geringe Vorkommen zeigt an, dass dieser Phraseologismus nur
vereinzelt Verwendung findet, weil er nicht zum Zentrum der üblichen Sprache
gehört.
“Viele Frauen jenseits der 60 lieben die Dauerwelle und machen sich
damit älter als sie sind”, klagt Friseurin Martina Acht aus Offenbach.
Genauso fehl am Platz ist es jedoch, wenn die Frisuren der “Best-Ager”
dank des Jugendwahns ins Gegenteil umschlagen. “Vorne Museum,
hinten Lyzeum” ist ein gängiger Spruch von Friseuren für Frauen mit
264
allzu jugendlichen Frisuren. “Langes wallendes Haar sieht bei vielen
älteren Frauen einfach nicht schön aus, vor allem wenn sie es offen
tragen”, sagt der Friseur Kai-Uwe Dalichow aus Berlin. Wenn
allerdings lang, dann bräuchte es auch Spray. Die Kunst sei es, das Haar
dabei nicht einzubetonieren. “Sehr elegant sieht es bei älteren Damen
allerdings auch aus, wenn das lange Haar hoch gesteckt wird, dann
aber jeden Tag neu”, sagt Dalichow.
(M06/JAN.07293 Mannheimer Morgen, [Tageszeitung], 28.01.2006,
Jg. 61. Originalressort: Modernes Leben; Von dpa-Mitarbeiterin
Britta Schmeis: Weg mit der Dauerwelle - Frisuren jenseits der 60)
4.2.2. Prostitution
Eine eigene Gruppe bilden die Phraseologismen aus dem Bereich der Prostitution.
Die beschreibende Wendung der Prostitution nachgehen ist neutral und kann
bedenkenlos dem üblichen Sprachgebrauch zugeordnet werden, genauso wie die
verschleierte feste Wendung das älteste Gewerbe der Welt. Eine Reihe anderer
Phraseologismen hingegen wie eine (Frau / Puppe) laufen lassen / zu laufen haben,
ein Pferdchen laufen haben / lassen, auf die Straße gehen, ein Mädchen / eine von der
Straße lassen die Frauen als reine Objekte erscheinen oder enthalten eine moralische
Abwertung der Frauen, was beides nicht der sprachlichen political correctness
entspricht.
5. Fazit
Der vorliegende Beitrag setzte sich zum Ziel, die geschlechtsspezifischen Phraseologismen hinsichtlich ihrer Verwendung in der Sprachgemeinschaft nach den
Kriterien Zentrum und Peripherie einzuteilen. Es wurde festgestellt, dass die Phraseologismen der thematischen Bereiche Personennamen, Verwandtschaftsbezeichnungen
und Märchenfiguren zum Zentrum gehören. In dem Referenzbereich Tierwelt,
Reproduktion, Ehe und Sexualität gibt es auch viele Phraseme, die zum
Zentrum gerechnet werden können. Es wurden insgesamt 603 geschlechtsspezifische
Phraseologismen ermittelt, die man dem Zentrum zuordnen kann. Das sind
85,65%.
Geschlechtsspezifische Phraseologismen mit sexueller Thematik und den Referenzbereichen Erscheinungsbild der Frau und Prostitution gehören in der Mehrzahl zur
Peripherie. Es sind 101 Einheiten und somit 14,35%. Überraschenderweise gibt es
im Referenzbereich Reproduktion bei der Frau sehr viele äußerst positiv konnotierte
feste Wortverbindungen, die zum Zentrum zu rechnen sind. Die geschlechtsspezifischen Phraseologismen im Referenzbereich Sex sind weniger im Zentrum,
mehr in der Peripherie vertreten. Die Phraseme aus dem Bereich Tierwelt gehören
überwiegend zum Zentrum, nur eine Minderheit dieser Gruppe ist der Peripherie
zuzuordnen.
265
Abstract
This academic contribution deals with gender-specific phrases in German. The aim
is to classificate them depending on the use into the division of centre and periphery.
Into the centre are assigned those gender-specific phrases, which are used in
the common language. Peripheral are on the other hand those gender-specific
phrases, which are rude, vulgar and discriminating. The analysis is being
performed on the basis of a corpus from two phraseological dictionaries and
illustrated with examples from the Mannheimer Referenzcorpus (DeReKo). The
result is, that the phrases of the thematic areas personal names, relationship links
and characters from farytales belong to the centre. In the area of animals, human
reproduction, marriage and sex there are a lot of phrases which can be counted to
the centre. Alltogether 603 (85,65%) gender-specific phrases were identified as
belonging to the centre. Gender-specific phrases belonging to the area
of sexuality and visual appearance of women and prostitution belong in
the majority to the periphery, alltogether 101 (14,35%). It’s surprising
that in the area of human reproduction there are a lot of extremely
positively connotated phrases for women, which can be counted to the centre.
Gender-specific phrases in the area of sex do not belong as much into the centre, but
more to the periphery. The phrases of the area of animals belong predominantly to
the centre, only a small group of this type belongs to the periphery.
Keywords
Gender, phrase, sense, use, German
Literaturverzeichnis
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englischen und deutschen Bezeichnungen für Geschlechtsverkehr. In: Rudolf
Hoberg (Hg.). Sprache – Erotik – Sexualität. Berlin: Erich Schmidt. S. 128 – 157.
DUDEN 11. (2002): Redewendungen. Wörterbuch der deutschen Idiomatik.
2. Aufl. Mannheim. ISBN 3-411-04112-9.
Institut für Deutsche Sprache. Deutsches Referenzkorpus (DeReKo-2015-II) / alle
öffentlichen Korpora des Archivs W (mit Neuakquisitionen). COSMAS II-Server,
C2API-Version 4.10 – 7. Juni 2016. Mannheim: Institut für Deutsche Sprache.
(http://www.ids-mannheim.de/DeReKo)
Piirainen, Elisabeth (2001). Der hat aber Haare auf den Zähnen! Geschlechtsspezifik
in der deutschen Phraseologie. In: Rudolf Hoberg (Hg.). Sprache – Erotik –
Sexualität. Berlin: Erich Schmidt. S. 283 – 307.
Piirainen, Elisabeth (2002). Geschlechtsspezifisch markierte Idiome: Hochdeutsch
und Niederdeutsch im Vergleich. In: Peter Wiesinger (Hg.). Akten des
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X. Internationalen Germanistikkongresses Wien 2000. „Zeitenwende – die Germanistik
auf dem Weg vom 20. ins 21. Jahrhundert“. Entwicklungstendenzen der deutschen
Gegenwartssprache. Bd. 2. Bern: Peter Lang. S. 373 – 378. Schemann, Hans (1993).
Deutsche Idiomatik. Die deutschen Redewendungen im Kontext. Stuttgart: Ernst
Klett Verlag für Wissen und Bildung GmbH.
Sternkopf, Jochen (1995). Gibt es geschlechtsspezifische Phraseologismen in der
deutschen Sprache der Gegenwart? In: Gotthard Lerchner, Marianne Schröder und
Ulla Fix (Hg.). Chronologische, areale und situative Varietäten des Deutschen in der
Sprachhistoriographie. Festschrift für Rudolf Große. Bd. 2. Frankfurt am Main: Peter
Lang. S. 413 – 419.
267
268
Metaphorik als peripheres oder zentrales
Phänomen der Sprache?
Weltmodellierung mit der konventionalisierten
Spielmetaphorik im Gegenwartsdeutschen
Jürgen Ehrenmüller
Annotation
Dieser Beitrag möchte einerseits darstellen, wie im Gegenwartsdeutschen mit der
konzeptuellen Domäne ‚Spiel‘ Welt metaphorisch modelliert wird. Den Ausgangspunkt der Analysemethode bilden dabei die Theorie der konzeptuellen Metapher
von Lakoff/Johnson (1980/2003) und deren Modifizierung um ‚abstrakte
Subkonzepte‘ (Baldauf, 1997, 2000). Anhand der Ergebnisse der Untersuchung
soll andererseits auch gezeigt werden, inwiefern es sich bei der Spielmetaphorik
in der deutschen Gegenwartssprache um kein peripheres, sondern ein zentrales
Phänomen handelt, das die Wahrnehmung der Welt und die ‚Sicht der Dinge‘
maßgeblich prägt.
Schlüsselwörter
Spielmetapher, konzeptuelle Metapher, metaphorisches Subkonzept, Weltmodellierung
Was ist der Mensch? Nicht nur – wie Aristoteles im antiken Griechenland meinte
– ein ‚Zoon politikon‘, ein ‚gemeinschaftliches Wesen‘: Seit Johan Huizingas
kulturgeschichtlich wirkungsmächtigem Werk „Homo ludens“ (1939) wird zudem
vom ‚spielenden Menschen‘ gesprochen. Die menschliche Spielleidenschaft zeigt
sich auch in der deutschen Gegenwartssprache: Denn ganz gleich, ob wir uns
manchmal nicht in die Karten schauen lassen wollen – vielleicht, weil wir das Gefühl
haben, es stehe zu viel auf dem Spiel –, wir Zug um Zug versuchen, uns unseren
Zielen anzunähern, die hoffentlich nicht wie ein Kartenhaus zusammenfallen,
weil uns womöglich jemand das Spiel verderben möchte, oder wir uns etwas
untereinander ausschnapsen: Das Gegenwartsdeutsche entlarvt uns als leidenschaftliche und begeisterte Spieler/innen.
Doch wird nicht einfach nur ‚spielerisch‘ gesprochen, auch verschiedene Aspekte
unserer Welt, verschiedene Erfahrungsbereiche scheinen in der deutschen Gegenwartssprache als ‚Spiel‘ gedacht zu werden. Mit dem Vokabular des Glücksspiels
269
wird z.B. ‚Risikobereitschaft‘ sprachlich dargestellt: So drücken etwa Hasard
spielen, zocken und gambeln aus, dass Risiken eingegangen werden. Im Gegenwartsdeutschen wird wiederum auch weiterhin in den Köpfen auf von Sand umgebenen
Kegelbahnen gekegelt, die nur mehr selten zu finden sind, wenn z.B. ‚Misserfolg‘
ausgedrückt werden soll: Es wird davon gesprochen, etwas in den Sand zu setzen.
Ausgehend von der sprachlichen Evidenz möchte dieser Beitrag zeigen, dass es sich
bei der konventionalisierten Spielmetaphorik in der deutschen Gegenwartssprache
nicht bloß um ein peripheres sprachliches Phänomen handelt, das den Ausdruck
schmückt, abwechslungsreicher und expressiver gestaltet und manche lexikalische
Lücke schließt, sondern vielmehr um ein zentrales Mittel zur Weltmodellierung
und zur kognitiven und verbalen Erfassung von abstrakten Erfahrungsbereichen.
Um es mit Ortony (1975, S. 45) zu sagen: Auf den folgenden Seiten soll dargestellt
werden, warum die konventionalisierten Spielmetaphern des Gegenwartsdeutschen
„necessary [= zentral, Anmerkung des Verfassers] and not just nice [= peripher,
Anmerkung des Verfassers]“ sind.
1. Metaphorik in der Forschung: Von der Peripherie ins Zentrum
Unter dem Begriff ‚Metapher‘ wurde – im Gefolge von Aristoteles und Quintilian –
oft ein nicht-alltäglicher, ‚außergewöhnlicher‘ Sprachgebrauch verstanden, der als
‚Schmuck‘ der Rede gebraucht werde (Hegel billigt der Metapher z.B. in seinen
Vorlesungen über die Ästhetik [1835-1838] nur diese Funktion zu). Einen
Wendepunkt in der Metapherndiskussion stellt „Metaphors We Live By“ (1980) von
George Lakoff und Mark Johnson dar, die zeigten, dass die Alltagssprache in hohem
Maß auf Metaphern zurückgreift. War ihr Ansatz auch nicht ganz neu (vgl. Liebert,
1992, S. 83-93; Baldauf, 1997, S. 285-296; Jäkel, 1997, S. 121-140; Skirl, 2009,
S. 65-66), so gelang es ihnen im Gegensatz zu ihren Vorläufern jedoch, einen
‚metaphorical turn‘ auszulösen, eine neue Sichtweise auf die Metapher zu etablieren
und sie von der Peripherie ins Zentrum des Interesses der Forschung zu rücken.
2. Das Spiel
Das Spiel dient als Ausgangsbereich einer Vielzahl metaphorischer Konzepte.
Was unter einem ‚Spiel‘ in diesem Beitrag verstanden wird, soll nun an dieser
Stelle kurz erläutert werden: Ein Spiel ist eine Tätigkeit, die zum Zeitvertreib, zur
Unterhaltung sowie zum Vergnügen ausgeübt wird und deren Ausgang bedeutungslos ist, sofern nicht mit Einsätzen gespielt wird (zu einer Diskussion des
Spielbegriffs siehe Ehrenmüller, 2014, S. 19-30). Nicht mit einbezogen werden in
die Analyse der ‚spielerischen’ Weltmodellierung daher metaphorische Ausdrücke,
die sich auf das darstellende, das musikalische oder das als Sport betriebene Spiel
(wie Fußball, Tennis etc.) beziehen.
270
Das Spiel scheint im Leben des Menschen auch schon immer einen bedeutenden
Platz eingenommen zu haben: Sahen die antiken Philosophen zwar die Beschäftigung mit Musik und Literatur in der Freizeit als Ideal (hierzu vgl. Plinius der
Jüngere, Epistulae, 9, 6) und versuchte die Kirche des Mittelalters zum Teil das
Spiel zu verbieten (Meier, 2006, S. 81), so ließen sich die Menschen doch in keiner
Epoche am Spielen hindern – auch nicht daran, in ihrer Spielleidenschaft
manchmal Körperteile buchstäblich aufs Spiel zu setzen, was beispielsweise die
Wiener Stadtobrigkeit im 16. Jh. veranlasste, dagegen ein Verbot auszusprechen
(Borst, 1983, S. 299).
3. Metaphorische (Sub-)Konzepte
Metaphern sind nach Lakoff und Johnson nicht bloß rhetorische Figuren, sondern
prägen die Sprache und das Denken maßgeblich:
„Wir haben dagegen festgestellt, daß die Metapher1 unser Alltagsleben
durchdringt, und zwar nicht nur unsere Sprache, sondern auch unser
Denken und Handeln. Unser alltägliches Konzeptsystem, nach dem
wir sowohl denken als auch handeln, ist im Kern und grundsätzlich
metaphorisch.“ (Lakoff/Johnson, 1980/2003, S. 11)
Lakoff und Johnson (1980/2003) schufen für ihre Theorie den Begriff der ‚konzeptuellen Metapher‘, synonym gebrauchen sie auch ‚metaphorisches Konzept‘: Ein
solches stellt zwischen einem schwer fassbaren, abstrakten Bereich, der ‚target
domain‘, und einem zweiten Bereich, der ‚source domain‘, eine systematische Verbindung her, wodurch die ‚target domain‘2 sprachlich und kognitiv fassbar wird. Ein
metaphorisches Konzept stellt demnach eine dem sprachlichen Ausdruck
übergeordnete Denkstruktur dar:
„Das Wesen der Metapher [Anmerkung des Verfassers: im Sinne von
‚konzeptueller Metapher / metaphorischem Konzept‘] besteht darin,
daß wir eine Sache oder einen Vorgang in Begriffen einer anderen
Sache bzw. eines anderen Vorgangs verstehen und erfahren können.“
(Lakoff/Johnson, 1980/2003, S. 13)
Formuliert wird ein metaphorisches Konzept nach dem Schema ‚X ist Y‘: ‚X‘
steht für die ‚target domain‘, ‚Y‘ für die ‚source domain‘. Damit ein metaphorisches
Konzept gebildet werden kann, muss als Voraussetzung eine von Sprecher/innen
1 Lakoff und Johnson unterscheiden nicht ganz trennscharf zwischen der Metapher im Sinne einer konzeptuellen
Vorstellungsstruktur und der Metapher als sprachlichem Phänomen. In diesem Beitrag wird unter einer ‚Metapher‘ nur
ein metaphorischer Ausdruck verstanden, dahinter vermutbare konzeptuelle Strukturen werden als ‚metaphorische
Konzepte‘ bezeichnet.
2 ‚Target‘ und ‚source domain‘ werden hier, den Konventionen entsprechend, übersetzt als ‚Ziel-‘ und ‚Ausgangsbereich‘
verwendet.
271
empfundene strukturelle Korrelation zwischen den beiden konzeptuellen
Domänen3 X und Y vorliegen.
Auf die ‚target domain‘ wird ein Teil des Wissens über die ‚source domain‘ projiziert.
Übertragen werden jedoch keine isolierten Einzelteile, „sondern ganzheitliche
Wissensbestände[,] wie sie z.B. in Fillmores Frametheorie dargestellt werden“
(Drewer, 2003, S. 6). Sprachlich realisiert wird ein metaphorisches Konzept
über Ausdrücke aus dem konzeptuellen Bereich Y, die sich auf die projizierten
Strukturen beziehen. Sie nehmen eine übertragene Bedeutung an und sind nicht in
ihrer eigentlichen zu verstehen (Lakoff / Johnson 1980/2003, S. 59). Michael Pielenz
(1993) charakterisiert die Beziehung zwischen metaphorischen Konzepten und
metaphorischen Ausdrücken, welche nach der Theorie von Lakoff und Johnson
(1980/2003) deren sprachliche Manifestation darstellen, als Type-token-Verhältnis:
„Als Extrakt einer Menge metaphorischer Äußerungen repräsentiert eine konzeptuelle Metapher jeweils einen type oder Typ (e.g.
‚Argument als Krieg‘), jede einzelne metaphorische Äußerung gilt als
token oder Vorkommnis (e. g. ‚er attackierte ihre Position‘), indem
sie einen type implementiert.“ (Pielenz, 1993, S. 71)
Lakoff und Johnson (1980/2003) illustrieren ihre Theorie mit verschiedenen
Beispielen, angeführt sei hier das metaphorische Konzept THEORIEN (UND
ARGUMENTE) SIND GEBÄUDE, das von ihnen folgendermaßen belegt wird:
„Ist das das Fundament Ihrer Theorie? Die Theorie muß besser
untermauert werden. Dieses Argument steht auf unsicherem Grund.
Wir brauchen weitere Fakten, damit die Argumentation nicht in sich
zusammenfällt. […]“ (Lakoff/Johnson, 1980/2003, S. 59)
Aus diesen Beispielsätzen schließen Lakoff und Johnson (1980/2003, S. 59), dass
wir Theorien und Argumente als Gebäude auffassen. Als weitere Beispiele für
metaphorische Konzepte nennen sie (1980/2003, S. 60, 63) u.a. IDEEN SIND
PLANZEN („Seine Ideen haben schließlich Früchte getragen. Dieser Plan wurde
im Keim erstickt.“) und LIEBE IST KRIEG („Er ist bekannt für seine unzähligen
Eroberungen. Sie kämpfte um ihn.“).
Christa Baldauf (1997, 2000) modifizierte Lakoffs und Johnsons Theorie,
ausgehend von der Beobachtung, dass ein metaphorisches Konzept durch verschiedene
Herkunftsbereiche metaphorisch strukturiert werden kann und vergleichbares
sprachliches Material verschiedene Autor/innen zum Postulat verschiedener
Metaphernkonzepte veranlasst. Die Wasser-Metaphorik z.B. trete im Kontext mit
‚Geld‘ auf, woraus sich das metaphorische Konzept GELD IST WASSER ergebe.
3 Nach Zoltán Kövecses (2002, S. 6) ist eine ‚konzeptuelle Domäne‘ „any coherent organization of experience“.
272
Es sei nach Baldauf (1997, S. 259) aber nicht notwendig, den Bereich des
Geldes metaphorisch zu strukturieren, da er unmittelbar erfahrbar sei. Überdies sei
‚Geld‘ nicht
„[…] grundsätzlich mit Wasser-Metaphorik verbunden [...]. Fließen
kann Geld nur in bestimmten Mengen, 2,80 DM oder 20 Pfennige
fließen nicht, sie können nirgends hingepumpt werden, und nichts
läge uns ferner, als jemanden, der sich von 2,80 DM trennt, als
sprudelnde Geldquelle zu bezeichnen. Die Frage ist daher berechtigt, ob die feststellbare Wasser-Metaphorik auf sprachlicher Ebene
in diesem Falle tatsächlich an den Erfahrungsbereich Geld gebunden
ist, oder ob sie nicht vielleicht von einem anderen, beteiligten Faktor
ausgelöst wird.“ (Baldauf, 1997, S. 259)
Als ausschlaggebend für das Auftreten der Wasser-Metaphorik sieht Baldauf (1997,
S. 259) bei diesem Beispiel nicht den Kontext (‚Geld‘), sondern vielmehr den
Aspekt der ‚Masse‘: Dieser erfülle auch die Forderung nach der Abstraktheit der
Zielbereiche, die eine metaphorische Konzeptualisierung notwendig erscheinen
lasse. Nach Baldauf (1997, S. 259) seien solche Aspekte wie ‚Masse‘ die Zielbereiche
der metaphorischen Konzeptualisierung – und nicht Konzepte wie ‚Leben‘, ‚Zeit‘
oder ‚Karriere‘. Diese ‚Aspekte‘ sieht sie als abstrakte Erfahrungseinheiten und
nennt sie „abstrakte Subkonzepte“ (Baldauf, 1997, S. 259), die wiederum als
Gegenstand der Konzeptualisierung den Zielbereich eines metaphorischen
Konzepts bzw. in diesem Falle eines metaphorischen Subkonzepts darstellen.
Domänenspezifische metaphorische Subkonzepte treten – wie erwähnt – dann in
den Kontext größerer Konzepte, wenn von ihnen strukturierte Aspekte fokussiert
werden, und tragen so die an sie gebundene Metaphorik in die jeweiligen
größeren Konzepte hinein. Ein metaphorisches Konzept setzt sich daher je nach
Fokussierung aus zahlreichen verschiedenen, bereits konzeptualisierten
metaphorischen Subkonzepten zusammen.
Ist z.B. der Aspekt ‚Nicht-Ernsthaftigkeit‘ im Konzept ‚Liebe‘ relevant, tritt die
Spielmetaphorik auf (LIEBE IST EIN SPIEL): „Meint sie es ernst mit mir oder spielt
sie nur mit mir?“ Weitere Aspekte, die bei der Thematisierung des Konzepts ‚Liebe‘
das Auftreten der Spielmetaphorik auslösen können, sind z.B. ‚Risiko‘ („Für die
Liebe setzte er alles aufs Spiel.“) oder eine Relation von offen zu verdeckt („Er legte
die Karten offen auf den Tisch und sprach von Liebe.“).
4. Weltmodellierung mit der konzeptuellen Domäne ‚Spiel‘
Werden die erwähnten abstrakten Erfahrungseinheiten als Gegenstand der
metaphorischen Konzeptualisierung betrachtet, so wird es möglich, ausgehend
von einem repräsentativen Korpus an konventionalisierten Sprachbildern aus
273
einer konzeptuellen Domäne auf die von diesen domänenspezifischen Metaphern
sprachlich realisierten metaphorischen Subkonzepte zu schließen. So können die
Erfahrungsbereiche ermittelt werden, die von einer bestimmten konzeptuellen
Domäne metaphorisch strukturiert werden.
Die Grundlage für die Analyse der ‚spielerischen‘ Weltmodellierung bildete ein
umfangreiches Korpus von ca. 320 konventionalisierten metaphorischen
Ausdrücken aus der Domäne ‚Spiel‘, Lexemmetaphern und idiomatischen
Phraseologismen, die nachweislich noch in der deutschen Gegenwartssprache in
Gebrauch sind.4 Aus ihnen konnten 69 metaphorische Subkonzepte herausgearbeitet
und rekonstruiert werden, die zeigen, welche Erfahrungsbereiche metaphorisch als
‚Spiel‘ konzeptualisiert sind.
4.1 Methode
An dieser Stelle sei nun kurz die Methode erläutert, mit der versucht wurde zu
analysieren, welche Erfahrungsbereiche von der konzeptuellen Domäne ‚Spiel’
metaphorisch strukturiert werden. Die Basis der Studie bildete das oben erwähnte
Korpus an Spielmetaphern.
Schritt 1: Bottom-up-Systematisierung der Spielmetaphern und Identifizierung der
abstrakten Subkonzepte
In diesem ersten Schritt wurden die verschiedenen Spielmetaphern nach den
Aspekten systematisiert, die sie thematisieren. Aus dem Spiel sein und aus dem
Spiel bleiben z.B. drücken aus, dass sich jemand außerhalb von etwas befindet, im
Spiel sein hingegen das Gegenteil. Alle drei scheinen demnach den Aspekt ‚innen
– außen‘ zu thematisieren, der nach der bereits erwähnten Definition von Baldauf
(1997, S. 259) als ‚abstraktes Subkonzept‘ betrachtet werden kann. Manche der
metaphorischen Ausdrücke der Sammlung thematisieren verschiedene Aspekte
und können daher auch unterschiedlichen abstrakten Subkonzepten zugeordnet
werden.
Schritt 2: Formulierung metaphorischer Subkonzepte
Im Anschluss an die Systematisierung der Spielmetaphern nach den von
ihnen sprachlich realisierten abstrakten Subkonzepten wurden die daraus
erschließbaren metaphorischen Subkonzepte formuliert. Den Zielbereich bilden
jeweils die einzelnen abstrakten Subkonzepte, den Ausgangsbereich stellt immer
die konzeptuelle Domäne ‚Spiel‘ dar, sofern möglich noch nach einzelnen Spielen
weiter spezifiziert. Das metaphorische Subkonzept ERFOLG / MISSERFOLG IST
4 Das gesamte Korpus findet sich in Ehrenmüller (2014, S. 59–213), die konventionalisierten Spielmetaphern sind
nach Motivierung, Entstehungszeit, Gebrauchskontext, Diatopik, Diastratik etc. beschrieben.
274
SPIELEN beispielsweise kann noch in fünf weitere Teilkategorien, entsprechend
den spezifischen Ausgangsbereichen, differenziert werden (wie z.B. ERFOLG /
MISSERFOLG IST EIN KARTENSPIEL [die Piksieben / Pik Sieben ziehen, keinen
Stich machen / landen etc.) und ERFOLG / MISSERFOLG IST EIN GLÜCKSSPIEL
[das große Los ziehen, eine Niete ziehen etc.]).
Schritt 3: Top-down-Validierung der metaphorischen Subkonzepte
Im letzten Schritt der Analyse wurden die erschlossenen metaphorischen
Subkonzepte top-down nach folgenden Leitfragen überprüft: Entsprechen sie der
sprachlichen Evidenz? Ist die Zuordnung der metaphorischen Ausdrücke korrekt?
Können die metaphorischen Subkonzepte noch in weitere Subkategorien unterteilt
werden? Gegebenenfalls wurden Anpassungen vorgenommen.
4.2 Streifzug durch die ‚spielerische‘ Weltmodellierung
Insgesamt konnten aus dem vorliegenden Sprachmaterial, den ca. 320 konventionalisierten metaphorischen Ausdrücken aus der konzeptuellen Domäne
‚Spiel‘, 69 metaphorische Subkonzepte nach der oben kurz vorgestellten Methode
herauskristallisiert werden (siehe dazu Ehrenmüller, 2014, S. 227-313). Die
Ergebnisse stellen einen auf eingehender Analyse basierenden Versuch dar,
mögliche Vorstellungsstrukturen aufzuzeigen, die durch metaphorische Ausdrücke
‚greifbar‘ und somit rekonstruierbar werden. Es ist jedoch nicht ausgeschlossen –
dies muss an dieser Stelle eingeräumt werden –, dass in Einzelfällen auch andere
Ergebnisse möglich und denkbar wären.
Die Erfahrungsbereiche, die metaphorisch als ‚Spiel‘ konzeptualisiert sind, werden
einerseits von zentralen Eigenschaften des Spiels strukturiert, wie ‚Spiel als
abgegrenzte Sphäre‘, ‚Spiel als Sphäre der Nicht-Ernsthaftigkeit‘, ‚Spiel als mühelose
Sphäre der Nicht-Arbeit‘, ‚Gewinnen und Verlieren‘ etc., andererseits aber auch
von Charakteristika spezifischer Spielarten wie dem Zufallsprinzip und dem
Risikoaspekt beim Glücksspiel oder von Merkmalen spezifischer Spiele wie dem
Kartenspiel Schwarzer Peter, bei dem das Ab- und Zuweisen von Unangenehmem,
der Karte mit dem Schwarzen Peter, das zentrale Spielelement darstellt. Die konzeptuelle Domäne ‚Spiel‘ hat demnach eine enorme Breite und erscheint daher als
Ausgangsbereich vieler verschiedener metaphorischer Subkonzepte. Dass Spiel und
Spielen als anthropologische Grundkonstanten angesehen werden können, macht
sie noch zusätzlich dafür attraktiv: Der (kommunikative) Erfolg einer Metapher
liegt schließlich auch in ihrer Nachvollziehbarkeit und Anschaulichkeit begründet.
Bei dem folgenden kurzen Überblick über ausgewählte metaphorische Subkonzepte
werden deren sprachliche Repräsentationen nur auszugsweise angeführt. Eine
vollständige Übersicht findet sich in Ehrenmüller (2014, S. 227-313 und in
tabellarischer Form S. 348-357).
275
4.2.1.Eine innen/aussen-relation ist ein spiel
Für das Spiel ist die Dichotomie ‚Sphäre des Spiels – Sphäre des Nicht-Spiels‘
charakteristisch: Jemand ist entweder im Spiel (= Spieler), somit an ihm beteiligt
und in der Lage, es zu beeinflussen, oder er befindet sich außerhalb (= Nicht-Spieler)
und wird vom Spiel und dem Spielgeschehen nicht berührt. Zu einer Überschneidung der beiden Sphären kommt es nur, wenn mit Einsätzen gespielt wird und
Ereignisse im Spiel Auswirkungen auf die Sphäre des Nicht-Spiels haben, es zu
einer Eigentumsverschiebung etc. kommt.
Verschiedene Spielmetaphern wie z.B. im Spiel sein (1), mitspielen (2), aus dem
Spiel bleiben (3) oder aus dem Spiel lassen (4) werden dazu genutzt, eine Relation
von ‚innen‘ zu ‚außen‘ darzustellen. Diese sprachliche Evidenz lässt vermuten, dass
mit dem Spiel – ausgehend von der erwähnten Dichotomie ‚Sphäre des Spiels –
Sphäre des Nichtspiels‘ – ein abstraktes Subkonzept der ‚Innen/außen-Relation‘
metaphorisch konzeptualisiert wurde: EINE INNEN/AUSSEN-RELATION IST
EIN SPIEL.
Dieses metaphorische Subkonzept lässt sich noch weiter subkategorisieren: Eine
Relation ‚innen/außen‘ kann statisch oder dynamisch sein, einen Zustand oder eine
Zustandsänderung beschreiben.5 Auch kann es noch nach spezifischen Spielen
differenziert werden.6
STATISCH
‚innen‘:
(1)
„Bei diesen Stiftungen handelt es sich nicht nur um öffentliche Mittel,
sondern auch um private Schenkungen an den Staat, auf dass der damit
Gutes tue – vor allem im Sozial- und Gesundheitsbereich. Wie
viel Geld dabei im Spiel ist, weiß der Rechnungshof nicht.“ (Die geheimen
Spielwiesen, Wiener Zeitung, 14.06.2013)
(2)
„In den Fällen von Russland und Polen haben nach Meinung von Brunner
drei Faktoren mitgespielt. Der Zustand der Maschine, jener der Landebahn
und die Ausbildung der Piloten.“ („Die vielen Unglücke mit
Tupolew-Maschinen sind kein Zufall“, Tagesanzeiger, 21.06.2010)
‚außen‘:
(3)
„Herr M. empfiehlt dagegen nachdrücklich, mit Herrn Iwasaki zu
sprechen. Schließlich erklärt er sich doch zu einem Gespräch bereit.
5 Ein Graubereich zwischen statisch und dynamisch ergibt sich durch den Gebrauch des Futurs I: „Er ist im Spiel“
versus „Er wird im Spiel sein“. Futurische Varianten der ‚statischen Ausdrücke‘ beschreiben allerdings einen
zukünftigen Zustand – der klarerweise eine Zustandsveränderung voraussetzt –, aber nicht die Veränderung an sich.
Daher kann hier dennoch eine Trennung in ‚statisch‘ und ‚dynamisch‘ vorgenommen werden.
6 Hier soll nur ein kurzer Überblick über die Subkategorisierungen gegeben werden, zu einer Spezifizierung nach dem
Spiel im Allgemeinen und dem Kartenspiel siehe Ehrenmüller (2014, S. 263-268).
276
(4)
Allerdings müsse seine Person dabei völlig aus dem Spiel bleiben. Also
wird aus Herrn M. ab hier eine ‚gut unterrichtete Quelle‘, eine GuQ.“ (Bloß
nicht auffallen, Der Tagesspiegel, 23.11.2003)
„Man müsse die Großbanken an die Leinen nehmen, Hedgefonds stärker
auf die Finger klopfen und bei Banken-Schieflagen den Steuerzahler aus
dem Spiel lassen.“ (Boni-Debatte „für die Show“, Heute, 24.09.2009)
Können die oben erwähnten metaphorischen Ausdrücke zwar zukünftige Zustände
beschreiben (indem sie futurisch gebraucht werden), so beschreiben ins Spiel
bringen (5) und aus dem Spiel nehmen (6) dynamische Handlungen. Thematisiert
wird jeweils der Eintritt in das ‚Innen‘ (ins Spiel bringen) bzw. der Austritt aus dem
‚Innen‘ (aus dem Spiel nehmen):
DYNAMISCH
(5)
„Serbische Diplomaten hatten die Möglichkeit in den vergangenen
Monaten immer wieder ins Spiel gebracht – wenngleich, ohne
zitiert werden zu wollen.“ (Serbien bringt Teilung des Kosovo ins Spiel,
Die Presse, 07.04.2010)
(6)
„Gestern hatte der Präsident, der Ägypten dreißig Jahre lang regiert hatte,
offenbar noch an einen Abschied auf Raten geglaubt – oder zumindest an
die gesichtswahrende Lösung, dass er sich nur de facto, nicht jedoch de iure
aus dem Spiel nimmt.“ (Die Erfüllung aller Wünsche, Der Standard,
11.02.2011)
4.2.2. Eine offen/verdeckt-relation ist ein kartenspiel
Die Opposition offen – verdeckt ist beim Kartenspiel von zentraler Bedeutung,
denn erst durch sie entstehen Spannung und Herausforderung. Idiomatische
Phraseologismen wie z.B. mit offenen Karten spielen (7), sich nicht in die Karten
schauen/sehen lassen (8), die Karten aufdecken (9) oder die Karten offen legen
(10), die sich auf diese Opposition beim Kartenspiel beziehen, legen dar, ob eine
Angelegenheit, Handlung etc. offen oder verdeckt abläuft. Daher scheint es
wahrscheinlich, dass ein abstraktes Subkonzept der ‚Offen/verdeckt-Relation‘
metaphorisch als ‚Kartenspiel‘ konzeptualisiert ist: EINE OFFEN/VERDECKTRELATION IST EIN KARTENSPIEL. Dieses metaphorische Subkonzept kann
noch in die Varianten ‚statisch‘ und ‚dynamisch‘ subkategorisiert werden.
Die dynamische ‚Offen-verdeckt-Relation‘ beschreibt im Gegensatz zur ‚statischen
Offen/verdeckt-Relation‘ keinen Zustand, sondern eine Zustandsveränderung:
Offenes Handeln wandelt sich in verdecktes, verdecktes in offenes. Es erscheinen
allerdings, wie die sprachliche Evidenz zeigt, nur lexikalisierte metaphorische
Ausdrücke, die den Wandel von verdeckt zu offen beschreiben: Das Umgekehrte
unterbleibt, was daran liegen mag, dass es schließlich dem Konzept ‚Kartenspiel‘
bzw. der Spiellogik der meisten Kartenspiele auch nicht entspricht.
277
STATISCH
‚offen‘:
(7)
„Da scheint es kaum einen der 1266 Einwohner zu stören, dass auch auf
ihm ein kommunaler Schuldenberg von weit mehr als 10.000 Euro lastet.
Und dass sein Ort damit weit vorn liegt im Ranking der am höchsten
verschuldeten Gemeinden Österreichs. ‚Die Bürger goutieren die
Investitionen‘, sagt Herbert Bauer, ihr Bürgermeister (SPÖ), ein
ehemaliger Baupolier, der sich nun ausschließlich seinem Amt widmet.
‚Sie kennen die Finanzen der Gemeinde, ich spiele mit offenen Karten.‘“
(Kuckuck ruft vom Kirchturm, Die Presse, 18.06.2011)
‚verdeckt‘:
(8)
„Die wichtigsten Konkurrenten von Zipfer und Gösser – Stiegl und
Ottakringer – wollen sich punkto Bier- und Radlerentwicklung nicht in
die Karten schauen lassen. Der börsenotierte [sic!] Ottakringer-Konzern
verweist darauf, dass über unveröffentlichte Zahlen für das Jahr 2011
keine Auskunft gegeben werden dürfe.“ (Radler sorgt für Plus auf
Biermarkt, Die Presse, 01.03.2012)
DYNAMISCH
(9)
„Der Australier erreichte das Ziel in 1.168 m Höhe mit 1:47 Minuten
Rückstand gemeinsam mit den übrigen Favoriten auf den Gesamtsieg.
Diese werden am Sonntag bei der ersten Bergankunft in Morzine-Avoriaz
wohl erstmals ihre Karten aufdecken.“ (Gipfelstürmer Chavanel, Der
Standard, 10.07.2010)
(10)
„Kogler forderte die Abgeordneten von SPÖ und ÖVP auf, bei dem‚
geplanten Verfassungsbruch‘ der Regierung, die das Budget 2011 nicht
fristgerecht dem Parlament vorlegen will, ‚nicht Schmiere zu stehen‘,
sondern ihren Eid auf die Verfassung einzuhalten. Gerade weil Wahlen
bevorstehen, müsse die Regierung die Karten offen legen und die
Bevölkerung nicht weiter belügen, so Kogler.“ (Grüne bringen
SPÖ-Steuerpaket zur Abstimmung, Die Presse, 24.08.2010)
4.2.3. Leinchtsinnigkeit/verantwortungslosigkeit ist ein spiel
Die sprachliche Evidenz zeigt, dass bestimmte Spielphraseologismen wie z.B. Spiel
mit der Gefahr (11), mit jemandes Gesundheit spielen (12) oder mit dem Leben
spielen immer dann erscheinen, wenn leichtsinniges, dem gegebenen Ernst einer
Situation nicht gerechtes und verantwortungslos scheinendes Handeln thematisiert
wird. Das Spiel stellt bedingt durch die es charakterisierende Dichotomie ‚Spiel –
Ernst‘ einen genuinen Bereich der Nicht-Ernsthaftigkeit dar: Handlungen, die in
seiner Sphäre gesetzt werden, zeitigen schließlich keine Folgen in der Sphäre des
Nicht-Spiels (vorausgesetzt, dass sie nicht mit Einsätzen verbunden sind).
278
(11)
(12)
„Das Spiel mit der Gefahr ist nur ein Aspekt des FMX. Wer sie
einzuschätzen weiß, davon ist Wolter überzeugt, kann sie in akzeptablem
Rahmen halten.“ (Bekloppt genug, für den Sieg alles zu riskieren, FAZ,
16.06.2007)
„‚Wer so etwas fordert, spielt mit der Gesundheit der Menschen und
verharmlost die erhebliche Gefahr, die von diesen Drogen ausgeht‘, sagte
Merk am Mittwoch in München. Eine Legalisierung, in welcher Form
auch immer, komme für sie überhaupt nicht infrage.“ (Merk empört über
Drogenpläne der Linken, Abendzeitung, 25.01.2012)
4.2.4. Mühelosigkeit ein spiel
Das Spiel ist auch durch seinen Gegensatz zur Arbeit definiert: Wird Arbeit als
etwas Mühevolles gesehen, so kommt dem Spiel der Charakter der Mühelosigkeit
zu. Davon ausgehend scheint ein abstraktes Subkonzept der ‚Mühe / Mühelosigkeit‘
metaphorisch strukturiert zu sein, das z.B. von folgenden metaphorischen
Ausdrücken sprachlich repräsentiert wird: ein / kein Spiel (für jemanden) (sein)
(13), spielerisch (14), sich mit etwas spielen (süddt. / österr.).
(13)
(14)
„Halte mich für kein Genie, aber: die AHS war ein Spiel für mich.“
(Internetbeleg, Orthographie unverändert, 05.09.2011. Online unter:
http://diepresse.com/home/bildung/schule/hoehereschulen/690643/
Gewerkschafter_Zu-viele-Kinder-gehen-in-die-AHS [29.0ž.2016])
„Die Siegerin war als 118:10-Außenseiterin ins Rennen gegangen. ‚Das
hat mich überrascht, dass sie das so spielerisch gemacht hat‘, sagte
Siegjockey Pietsch nach dem Rennen.“ (118:10-Außenseiterin siegt,
Hamburger Abendblatt, 29.06.2013)
4.2.5. Nicht-ernsthaftes handeln ist epielen
Charakteristisch für das Spiel ist die Dichotomie ‚Spiel – Ernst‘, wodurch ihm die
Eigenschaft der Nicht-Ernsthaftigkeit zukommt. Was in einem Spiel passiert, bleibt
ohne wirkliche Auswirkungen und verpflichtet die Spieler/innen zu nichts – sofern
nicht, wie bereits erwähnt, mit Einsätzen gespielt wird. Mehrere metaphorische
Ausdrücke aus der konzeptuellen Domäne ‚Spiel‘ thematisieren, dass jemand etwas
nicht wirklich ernst meint oder unverbindlich zu handeln scheint, nur spielen will
(15), ein Spieler / eine Spielerin ist oder mit einem Gedanken spielt (16).
(15)
„Nun möchte ich gerne wissen, ob ich jetzt mit ihm zusammen bin und
ob er mich liebt, oder ob er nur mit mir spielen will!“ (Internetbeleg,
Orthographie unverändert, 30.07.2007. Online unter URL:
http://mein-kummerkasten.de/123071/Liebt-er-mich-oder-willer-nur-spielen.html [29.06.2016])
279
(16)
„Die SPÖ spielt mit dem Gedanken, die Harmonisierung zwar
vorzuziehen, aber nur um fünf Jahre auf 2019. Das ist der ÖVP zu wenig
Bewegung. Andreas Khol schlug in einem Hintergrundgespräch mit
Journalisten vor, mit der Harmonisierung schon 2014 zu beginnen, dafür
das Pensionsalter aber nur um einen Monat pro Quartal zu erhöhen.“
(Pensionsalter für Frauen schon ab 2014 erhöhen, Wiener Zeitung,
19.06.2012)
4.2.6. (Aus-) probieren ist spielen
Das Spiel ist aufgrund seines nicht-ernsthaften Charakters auch eine Tätigkeit,
welche das Aus- und Herumprobieren erlaubt. Das Spiel diente und dient daher
auch dem Einüben von Umgangsformen, Fertigkeiten und Verhaltensweisen und
war und ist demnach ein Ort des Ausprobierens und Versuchens. Darauf scheint
die metaphorische Konzeptualisierung eines abstrakten Subkonzepts des ‚(Aus-)
Probierens‘ mit ‚Spielen‘ zu basieren: (AUS)PROBIEREN IST SPIELEN. Sprachlich realisiert wird es z.B. mit folgenden idiomatischen Phraseologismen: mit etwas
herumspielen (17), etwas durchspielen (18) und explizit im Bereich des gedanklichen
Ausprobierens: etwas in Gedanken durchspielen.
(17)
(18)
„Solange du dich eigenständig finanzierst, kannst du herumspielen
und ausprobieren, solange du lustig bist. Allerdings wird dich kaum
jemand für ‚mal eine Woche schnuppern‘ in seinen Betrieb holen.“
(Internetbeleg, Orthographie unverändert, 24.05.2013. Online
unterURL:http://www.hilferuf.de/forum/beruf/174424-wielange-kann-man-herumspielen-und-ausprobieren.html [29.06.2016])
Im Hintergrund hatten die Planungsexperten im Pentagon freilich längst
alle Möglichkeiten einer militärischen Intervention durchgespielt und
die entsprechenden Vorbereitungen getroffen. (Wenn USA und Europa
al-Qaida-Kämpfern in Syrien Feuerschutz geben, Die Presse,
28.08.2013)
4.2.7. Risiko ist ein spiel mit einsätzen
Sobald bei einem Spiel mit Einsätzen gespielt wird, besteht für die Spieler/innen
das Risiko, diese zu verlieren. Auf diesen Risikoaspekt bezieht sich eine ganze
Reihe von metaphorischen Ausdrücken (wie z.B. auf dem Spiel stehen, alles auf
eine Karte setzen und Gambler). Ausgehend von der sprachlichen Evidenz kann
daher ein metaphorisches Subkonzept RISIKO IST EIN SPIEL MIT EINSÄTZEN
vermutet werden. Dieses lässt sich noch in die Subkategorien RISIKOHAFTIGKEIT IST EIN SPIEL MIT EINSÄTZEN (z.B. Hasardspiel/Hasard-Spiel
[19], auf dem Spiel stehen [20], Vabanquespiel/Vabanque-Spiel/Va-banque-Spiel)
und RISIKOBEREITSCHAFT IST EIN SPIEL MIT EINSÄTZEN (z.B. aufs Spiel
setzen [21], hoch spielen [22], gambeln) differenzieren. Die Subkategorien können
280
wiederum entsprechend den Ausgangsbereichen der metaphorischen Projektion
spezifiziert werden.7
RISIKOHAFTIGKEIT IST EIN (GLÜCKS-)SPIEL MIT EINSÄTZEN
(19)
(20)
„Denn dass etwa Teheran und Pjöngjang durch die Nabelschau der
Amerikaner eine ungewohnt freie Hand bei ihren nuklearen HasardSpielen bekommen könnten, würde auch die elementaren Interessen
Europas berühren.“ (Viel Freund, viel Verantwortung, Der Spiegel,
09.11.2006)
„‚Es gibt tektonische Plattenverschiebungen. Heute steht nicht nur die
Weltwirtschaft, sondern die Weltordnung auf dem Spiel‘, sagte
Rasmussen am Freitag auf der Münchner Sicherheitskonferenz.“
(„Die Weltordnung steht auf dem Spiel“, Die Presse, 04.02.2011)
RISIKOBEREITSCHAFT IST EIN (GLÜCKS-)SPIEL MIT EINSÄTZEN
(21)
(22)
„Warum hält die amerikanische Wirtschaft am Wachstumsparadigma fest,
selbst wenn heute (das Buch ist notabene bereits 1984 erschienen)
nachgewiesen ist, dass damit der Planet aufs Spiel gesetzt wird?“
(Das Brexit-ABC, Wiener Zeitung, 16.06.2016)
„In Berlin, Frankfurt am Main und Wien, aber auch in St. Petersburg,
in Paris und London wurde in dieser bewegten Zeit hoch gespielt. Der
rasche Wechsel der Konstellationen in der Innen- wie der Außenpolitik
war das genaue Gegenteil des ‚Metternichschen Systems der
Regungslosigkeit‘ (Hermann Baumgarten), das die Politik in Deutschland
über Jahrzehnte geprägt hatte.“ (Tiger des Nationalismus, Der Spiegel,
21.08.2007)
5. Fazit
Mit Lakoffs und Johnsons Theorie der konzeptuellen Metapher und dem von
ihnen angestoßenen ‚metaphorical turn‘ rückten konventionalisierte metaphorische
Ausdrücke von der Peripherie zunehmend ins Zentrum des Interesses der
Forschung: Sie wurden nicht mehr nur als bloß peripheres, hauptsächlich
rhetorisches Sprachphänomen, sondern vielmehr als zentrale sprachliche Strategie
gesehen, durch die abstrakte Erfahrungsbereiche erst kognitiv fassbar und
verbalisierbar werden und die unsere Wahrnehmung der Welt maßgeblich prägt.
Der von Baldauf (1997, 2000) ausgehend von Lakoff und Johnson (1980/2003)
vorgeschlagene Fokus auf abstrakte Subkonzepte als Gegenstand der meta7 Hier soll nur ein kurzer Überblick über dieses metaphorische Subkonzept gegeben werden. Zur Spezifizierung nach
Ausgangsbereichen bei RISIKO IST EIN SPIEL MIT EINSÄTZEN siehe Ehrenmüller (2014, S. 284-290).
281
phorischen Konzeptualisierung ermöglicht es, auf Basis eines repräsentativen
Korpus an domänenspezifischen konventionalisierten Metaphern zu erforschen,
welche Erfahrungsbereiche mit einer konzeptuellen Domäne metaphorisch
strukturiert sind. Basierend auf einer Sammlung von ca. 320 metaphorischen
Ausdrücken aus der Domäne ‚Spiel‘ konnten 69 ‚spielerische‘ metaphorische
Subkonzepte herausgearbeitet und rekonstruiert werden. Die Analyse zeigt, dass
vor allem zentrale Erfahrungsbereiche wie z.B. eine Orientierung ‚innen/außen‘
oder ‚offen/verdeckt‘, ‚Risiko‘, ‚Leichtsinn‘, ‚Mühe(losigkeit)‘ oder ‚Nicht-Ernsthaftigkeit‘ metaphorisch als ‚Spiel‘ konzeptualisiert sind.
Die Spielmetaphorik des Gegenwartsdeutschen kann demnach als zentrales
Phänomen betrachtet werden: Sie ist nicht nur auf der lexikalischen Ebene
dominant vertreten, sondern prägt auch maßgeblich die ‚Sicht der Dinge‘ und die
Wahrnehmung der Welt. Was im Grunde auch nicht weiter verwunderlich ist, sind
wir doch alle – manche mehr, manche weniger – ‚Homines ludentes‘.
Abstract
This paper intends to explain methods of forming the world in modern German
metaphors with the help of the conceptual domain ‘game’ and to discover, whether
metaphor is a phenomenon of the periphery or the center of modern German.
The analysis is based on Lakoff/Johnson’s (1980/2003) theory of the conceptual
metaphor and its modification by ‘abstract subconcepts’ (Baldauf, 1997, 2000).
It is possible to infer oral resp. written metaphorical subconcepts from a representative corpus of metaphors of a conceptual domain if these abstract ‘units of
experience’ – which highly influence concepts like ‘life’, ‘love’, ‘communication’,
etc. – are analysed as objects of metaphorical conceptualisation. Thus, 69 metaphorical subconcepts have been created from 320 metaphorical expressions taken
from the domain ‘game’ in modern German to show which domains of experience
are constituted as ‘game’, e.g. ‘success/failure’ or ‘improvidence/irresponsibility’. The
significance of the domain ‘game’ in modern German, be it for the perception or
be it for the description of the world, arises from the fact that it is also used for the
metaphorical conceptualisation of localisation and orientation.
The results of the analysis show not only in which way ‘the game’ influences points
of view in modern German but also that metaphor and especially the ‘playful’
metaphor is a central phenomenon in modern German.
Keywords
game-metaphor, conceptual metaphor, metaphorical subconcept, forming the worl
282
Quellenverzeichnis
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verfügbar
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http://www.abendblatt.de/sport/article117570769/
Ueberraschung-zum-Start-der-Derbywoche-in-Hamburg.html [29.06.2016].
Bekloppt genug, für den Sieg alles zu riskieren, FAZ, 16.06.2007. Online verfügbar
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Bloß nicht auffallen, Der Tagesspiegel, 23.11.2003. Online verfügbar unter
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Boni-Debatte „für die Show“, Heute, 24.09.2009. Online verfügbar unter
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Das-Brexit-ABC.html [29.06.2016].
Die Erfüllung aller Wünsche, Der Standard, 11.02.2011. Online verfügbar
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http://derstandard.at/1297216166573/Die-Erfuellung-aller-Wuensche
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„Die vielen Unglücke mit Tupolew-Maschinen sind kein Zufall“, Tagesanzeiger, 21.06.2010. Online unter http://www.tagesanzeiger.ch/panorama/
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„Die Weltordnung steht auf dem Spiel“, Die Presse, 04.02.2011. Online verfügbar
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Die-Weltordnung-steht-auf-dem-Spiel [29.06.2016].
Gipfelstürmer Chavanel, Der Standard, 10.07.2010. Online verfügbar unter
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286
Zentrale und periphere Passiv-Konstruktionen1
Petra Szatmári
Annotation
Das deutsche Passiv-Paradigma befindet sich im Umbruch. Getragen wird ein
Paradigma von einer allgemeinen abstrakten kategorialen Bedeutung, der
sogenannten Zielkategorie (werden-Passiv). Im Rahmen von Grammatikalisierungsprozessen kann das Paradigma ausgebaut werden, wobei neue
Mitglieder in Konkurrenz oder Opposition zu der Zielkategorie treten. Periphere
Mitglieder des Paradigmas (gehören-Passiv, bekommen-Passiv) werden anhand
ihrer semantischen und morphosyntaktischen Merkmale eingeordnet.
Schlüsselwörter
Passiv-Paradigma, Zielkategorie, Renovation (gehören-Passiv, bekommen-Passiv)
1. Vorbemerkungen. Paradigmen
Ein grammatisches Paradigma als Menge zusammengehöriger (veränderter)
syntaktischer Konstruktionen wird getragen von einer allgemeinen abstrakten
kategorialen Bedeutung, der Zielkategorie,2 die allen Mitgliedern des Paradigmas zugrunde liegt. Bei Vorhandensein einer Zielkategorie und eines Paradigmas spricht man bei der Eingliederung einer neuen Form von Renovation (vgl.
Lehmann, 1995 [1982], S. 21, zit. n. Diewald, 2009, S. 450). Dabei forciert die
Zielkategorie bereits begonnene Grammatikalisierungsprozesse (vgl. Diewald, 2009),
so dass diese zum Ausbau des Paradigmas führen, indem den neuen Mitgliedern eine
„spezifische Position [zugewiesen wird], die sie in Opposition zu den übrigen
Mitgliedern des Paradigmas setzt“ (Diewald, 2009, S. 459). Demzufolge ist ein
Paradigma als Netzwerk von „Relationen der Bedeutungsgleichheit und des
Bedeutungsgegensatzes“ (Storjohann, 2006, S. 2) zu betrachten, was bedeutet, dass
die paradigmatischen Sinnrelationen (Konkurrenz, Opposition) zwischen den
komplexen grammatischen Konstruktionen in engem Zusammenhang mit ihrem
Kontextvorkommen stehen. Zugleich bedeutet es auch, dass Überlappungen mit
anderen Paradigmen zu erwarten sind. Damit lässt sich auf diese Konstruktion
auch das Konzept der strukturellen Offenheit von Ágel (2000b) anwenden.
1 Konstruktion wird verstanden als relativ feste Kombination sprachlicher Elemente mit einer bestimmten Bedeutung
und Funktion, d.h., der Begriff wird nicht im Sinne der Konstruktionsgrammatik verwendet.
2 2013 bezeichnet Diewald den gemeinsamen Inhalt des gesamten Paradigmas als „konzeptuelle Domäne“.
287
Das Konzept besagt, dass bestimmte Sätze ambig sind, weil ihre Struktur „offen
sein [muss] für zwei oder (mehrere) verschiedene Interpretationen” (Ágel, 2000b,
S. 34). Für den Sprachteilhaber stellen „Strukturen keine ‚semantischen
Gefängnisse‘, sondern eher Interpretationshilfen [dar], die innerhalb von
bestimmten grammatisch-semantischen Grenzen bestimmte semantisch-pragmatische Interpretationsmöglichkeiten eröffnen“ (Ágel, 2000b, S. 39). Dies ermöglicht
die Übertragung eines konzeptuellen Musters auf ein anderes und macht damit den
Weg für Reanalysen frei.
Die einzelnen Mitglieder entwickeln sich aus divergenten Quelllexemen über
unterschiedliche Grammatikalisierungskanäle auf dieses Paradigma zu, so dass
sie letztendlich formal und konzeptuell eng miteinander verknüpft sind. Die
Gesamtstruktur eines grammatischen Paradigmas kennzeichnet allerdings eine
Asymmetrie, weil mit einem unmarkierten Mitglied alle anderen kontrastiert
werden. Unmarkiert meint „kognitiv einfacher sowie semantisch unspezifischer
bzw. allgemeiner“, während sich markierte Kategorien „durch das Vorhandensein
des zusätzlichen Merkmals auszeichnen und dadurch kognitiv komplexer sind“
(Diewald, 2013, S. 31). Die Asymmetrie zeigt sich also in der Konkurrenz zwischen
markiertem und unmarkiertem Mitglied und in der Opposition der Mitglieder
zueinander.
Im Folgenden geht es um zentrale und ausgewählte periphere Mitglieder des
Passiv-Paradigmas, genauer gesagt um auf Vorgangsorientiertheit spezialisierte
Konstruktionen der agensdezentrierten (passivischen) Konzeptualisierung.
2. Zum Passiv-Paradigma
Die konstituierende Funktion der passivischen Domäne3 ist Agensdezentrierung
einer ursprünglich agenszentrierenden Perspektivierung.4 Die agensdezentrierende und – hier – auf Vorgangsorientierung eingeschränkte Perspektivierung
ist den Konstituenten in unterschiedlichem Maße eigen und lässt sich definieren
als die Absicht des Sprechers / Schreibers, den außersprachlichen Sachverhalt eben
aus dieser Perspektive sprachlich zu realisieren. Die Agensdezentrierung als das
prototypische Passivmerkmal kann mit der Zentrierung einer anderen
semantischen Rolle (Patiens oder Rezipient)5 einhergehen sowie gelegentlich
durch aktionale bzw. modale Komponenten zusätzlich gekennzeichnet sein
3 Synonym dazu verwende ich den Begriff Konzeptualisierung.
4 Diese Beziehung zwischen Aktiv- und Passivsatz zeigt sich einerseits in der annähernden Gleichheit der
semantischen Verhältnisse in beiden Sätzen und andererseits darin, dass das Subjekt des Aktivsatzes nicht Subjekt des
Passivsatzes ist (vgl. Brinker, 1971, S. 27-28; Vogel, 2003, S. 144).
5 Ist dafür keine Entität vorhanden, kommt es zur Valenzsimulation, d.h. zur Nachahmung der normalen
Valenzrealisierungsstruktur mithilfe des Pseudopatiens es (vgl. Ágel, 2000c).
288
(vgl. u.a. Szatmári, 2002 und 2015). Die Wahl einer Passivkonstruktion ist folglich
kommunikationsgesteuert.6
Die prototypische passivische Konzeptualisierung ist im verbalen (Partizipatum-)
und nominalen (Partizipantum-)Bereich mit bestimmten morphosyntaktischen
und semantischen Charakteristika verbunden:
(1) Kennzeichnend für den verbalen Bereich (Partizipatum-Bereich) ist die
prototypische Passivmorphologie bestehend aus Passivauxiliar + Partizip II,
morphosyntaktisch zeigt sich in der periphrastischen Verbalform demnach
ein relativ homogenes Paradigma. Semantisch vollzieht sich ein Wechsel der
Prädikatsklassen, die Prädikatsklasse Vorgang bzw. Zustand gewinnt im
Passivsatz den Vorrang (vgl. von Polenz, ²1988; auch Pittner/Berman 2010,
S. 69). Interessant ist in diesem Zusammenhang, wie sich die Valenzverhältnisse im komplexen Prädikat gestalten.7 Hier wird davon ausgegangen, dass das
Auxiliarverb auf dem Valenzrahmen des Vollverbs im Aktivsatz operiert. Das
komplexe Prädikat kann sowohl valenzreduzierend (ich muss operiert werden;
er bekommt den Arm amputiert) als auch valenzerhaltend (von dem Arzt will
ich nicht operiert werden; er bekommt vom Chefarzt höchstpersönlich den Arm
amputiert) verwendet werden.
(2) Im nominalen Bereich (Partizipantum-Bereich) wird neben der
Agensdezentrierung durch den „Wechsel der Zentrierungsverhältnisse“ eine
Perspektivierung auf andere Partizipanta (Patiens, Rezipient) hin möglich
(nicht-prototypisches Merkmal, vgl. Ágel, 1997, S. 154-155). Agensdezentrierung8 bedeutet keinesfalls, dass es nicht im Satz aufscheinen kann:
Die Agenskodierung erfolgt prototypisch in der grammatikalisierten von- bzw.
durch-Phrase.
6 Diewald (2008) spricht in diesem Zusammenhang von „kommunikativer Obligatorik“.
7 Weber (2005, S. 9) z.B. nimmt an, dass sich das Perfektpartizip wie ein Adjektiv verhält und weder Subjekt noch
Akkusativergänzung fordert, demzufolge seien diese beiden valenzielle Forderungen des Auxiliarverbs. Er argumentiert
in seinem Aufsatz für den Begriff Strukturverb, den er als Hyperonym für alle Verben, die „nicht für sich
allein ein Prädikat bilden“ (Weber, 2005, S. 1), ansieht. Konstruktionen mit bekommen, kriegen (Rezipientenpassiv) und
gehören (SWR1 gehört gehört. ‚SWR1 soll gehört werden, ist zu hören‘) betrachtet er jedoch als „Konstruktionen eines
Strukturverbs mit einem Perfektpartizip, die nicht in das Verbsystem integriert sind oder deren Integration umstritten
ist“ (Weber, 2005, S. 9).
8 Primus (2011) zeigt – bezogen auf das unpersönliche Passiv –, dass es ausreicht, wenn das Subjekt des Aktivsatzes
über eines der Agentivitätsmerkmale Kontrollmerkmal, Sentience oder selbstinduzierte Bewegung verfügt, um das
unpersönliche Passiv bilden zu können, vgl. folgende Beispiele bei Primus: Hauptunfallort der Pausenunfälle ist der
Schulhof, auf dem man miteinander raufen und um die Wette laufen kann. Hingefallen wird dann auch dementsprechend
oft. (hinfallen – nicht-volitional telisches Verb); Im Schnitt, so berichtet die Apotheken-Umschau, hat ein 70-Jähriger in
seinem Leben rund 600.000 Stunden mit Schlafen verbracht: Geträumt wird dabei reichlich. (träumen – nicht-volitional
atelisches Verb)
289
Schematisch lassen sich
folgendermaßen festhalten:
die
Charakteristika
des
Passiv-Paradigmas9
verbaler Bereich:
Passivmorphologie, Prädikatsklassenwechsel
(vorgangsorientiert; zustandsorientiert), [± Aktionalität],
[± Modalfaktor],
nominaler Bereich: Agensdezentrierung (Agenstilgung oder Agenskodierung
in von-/durch-Phrase); Patiens- oder Rezipientenzentrierung
Passiv-Paradigma
Je nachdem, wie diese Kriterien erfüllt sind, lässt sich im Sinne der Prototypentheorie eine (kriterienbezogene) Zentralitätsabstufung vornehmen, so dass beste
(zentrale) und weniger gute (periphere) Vertreter der Kategorie herausgefiltert
werden können (vgl. Zifonun, 2000, S. 49).
Agensdezentrierung als das prototypische Passivmerkmal beinhaltet auch die
skalare Betrachtung der Agentivitätsmerkmale (vgl. Welke, 1997;10 Primus, 2011).
Das Ausweiten der Agentivitätsfaktoren führt zum Ausbau des Inventars der
passivfähigen Verben. Dementsprechend sind stets die stark agentivischen Verben
diejenigen, die als erste Verbgruppe die passivische Konstruktion bilden, und die
weniger aktivischen Verben ziehen nach (das Partizip II der Handlungsverben ist
Ausgangspunkt der Reanalyse).11
Das kreative Potential von Sprecherintentionen kann grundlegende Veränderungen
tradierter Beschreibungs- und Interpretationsmodelle bewirken. Auch das
Passiv-Paradigma befindet sich in ständiger „Bewegung“. Da im vorliegenden
Beitrag keine umfassende Beschreibung aller Mitglieder des Paradigmas vorgenommen werden kann, konzentriere ich mich im Wesentlichen auf zwei periphere
9 Dabei existiert eine Vielzahl an – teils synonymen – Benennungen für die einzelnen Merkmale, vgl. Degradierung
des Subjektarguments, Promovierung des Akkusativkomplements (Zifonun, 2000, S. 49); Agens-Dezentrierung,
Patiens-/Rezipienten-Zentrierung (Ágel, 1997).
10 Lakoff / Johnson (1980, S. 69) betrachten das concept of causation als “one of the concepts most often used by people
to organize their physical and cultural realities“. In Anlehnung an Lakoff / Johnson nimmt Welke (u.a. 1997) folgende
Merkmale für einen prototypischen Handlungssatz an: Menschliches Agens [+ hum], das ,willentlich’, ,intentional’ [+
int] handelt (= ,verantwortlich für die Handlung’), um einen bestimmten Effekt zu erreichen [+ eff] (= ,eine Änderung
am Objekt bewirkend’), dabei Eigenaktivität zeigt [+ control] sowie „einen spezifischen verursachenden Anteil an dem
Zustandekommen des Ereignisses [+ responsible]” (Welke, 1997, S. 217) hat. Im prototypischen Sinne handelt es sich
auch dann noch um ein Agens, wenn „nur noch das Merkmal [+ control] oder [+ responsible] vorhanden ist” (Welke,
1997, S. 217). Die folgende Textpassage wirkt zwar etwas befremdend, aber dennoch akzeptabel: Anna krabbelt hinunter
auf den Strand, die spitzen Sandkörner werden ihr schmerzhaft in die Augen und ins Gesicht geblasen, und dann ist sie auf
gleicher Höhe mit dem Meer. (Azzopardi, 2011, S. 114).
11 So bezeichnet Zifonun wesan + Partizip II eines transitiven Verbs (wie erfüllen: ‚ein Erfülltes sein / erfüllt sein‘) als
den Vorläufer des nhd. sein-Passivs und werden + Partizip II eines transitiven Verbs (wie forabotôn: ‚ein Angekündigter
werden / angekündigt werden‘) als Vorläufer des nhd. werden-Passivs (Zifonun, 2000, S. 39-40).
290
Mitglieder des Paradigmas, einerseits auf das gehören-Passiv, das der agensdezentrierenden, patienszentrierenden, vorgangsorientierenden Perspektivierung, dem
sogenannten Patienspassiv, angehört, und andererseits auf das bekommen-Passiv,
das Teil der agensdezentrierenden, rezipientenzentrierenden, vorgangsorientierenden Perspektivierung, des sogenannten Rezipientenpassivs, ist.
3. Zu Ausdrucksmitteln der agensdezentrierenden,
vorgangsorientierenden Perspektivierung
3.1. Das prototypische Patienspassiv: Das werden-Passiv –
die Zielkategorie
Im Standarddeutschen kann das werden-Patienspassiv als Zielkategorie
des Passiv-Paradigmas12 betrachtet werden. Ihm kommt sozusagen „Vorreiterfunktion“ hinsichtlich des morphosyntaktischen Aufbaus von vorgangsorientierten
Konstruktionen im Rahmen des passivischen Konzepts zu, vgl. Im Spital wurde
ihm ein Gegenmittel verabreicht. (Die ganze Woche 17/16, S. 60). Es gibt folgenden
Merkmalskatalog vor:
•
die Passivmorphologie (Auxiliar + Partizip II);
•
den semantischen Prädikatsklassenwechsel, indem Vorgangsorientiertheit
ausgedrückt wird;
•
den Ausbau des Inventars passivfähiger Verben: von transitiven über
intransitive bis hin zu sich-Verben;
•
die Kodierung einer anderen semantischen Rolle im ranghöchsten Kasus,
dem Subjekt, (Patienskodierung im Subjekt; ist dafür „keine“ Entität
vorhanden, tritt das Pseudopatiens es auf);
•
die Agenstilgung bzw. -kodierung; wobei die Kodierung in der
prototypischen (grammatikalisierten) von / durch-Phrase erfolgt, vgl. Im
Spital wurde ihm vom diensthabenden Arzt ein Gegenmittel verabreicht;
•
das Beibehalten der syntaktischen Kodierung weiterer semantischer Rollen.
Allerdings darf man auch das zentrale Passiv nicht als homogen betrachten. Die
vertikale Zentralitätsabstufung beim werden-Passiv fördert auch hier periphere
Konstruktionen zutage: z.B. Konstruktionen, die
a)
aufgrund des Eindringens in den Intransitivitätsbereich (Tätigkeitsverben) das Pseudopatiens es fordern:
Es wurde bis in die frühen Morgenstunden gefeiert, gelacht und getanzt.
b)
c)
den Experiencer im Subjekt kodieren
Dennoch war Erin von Schuldgefühlen geplagt worden. (Lewin, 2006, S. 85)
sich-Verben ins Inventar der passivfähigen Verben aufnehmen, vgl.
12 Zifonun (2000, S. 49) bezeichnet das werden-Passiv als „zentrales Passiv”. Die Grammatikalisierung des werdenPassivs zeichneten u.a. Eroms (1992), Kotin (2000), Nübling (2006), Szczepaniak (2009) nach.
291
Oft wird sich bei einer japanischen Hochzeit zwei-, dreimal umgezogen.
(Vater, 1995, S. 187),
Daran wird sich vielfach nicht gehalten. (Vater, 1995, S. 187),
Es wurde sich lange gestritten, ob es im Deutschen ein Futur gibt.
(Vater, 1995, S. 187),
Es wurde sich um die alten Leute gekümmert. (Vater, 1995, S. 189);13
d)
eine Zustandsperspektivierung zum Ausdruck bringen:14
Alle umliegenden Gebäude werden von dem Hochhaus überragt.
Das Dorf wird durch den Bach in zwei Teile geteilt.
3.2. Eine Renovation: Das patienszentrierende gehören-Passiv
Das prototypische werden-Passiv ist mit Modalverben kombinierbar. Untersuchungen zeigen allerdings, dass sich die Vorkommensrelationen der einzelnen
Modalverben etwas von denen im Aktivsatz unterscheiden (im Vergleich dazu die
Untersuchung zum generellen Modalverbvorkommen von Brünner/Redder, 1983):
13 Helbig (2004) bringt Beispiele sowohl für reflexive Verben als auch reflexive Konstruktionen, wobei die
Akzeptabilitätsgrade natürlich noch stark voneinander abweichen, vgl. (alle Beispiele in Helbig 2004): reflexive
Verben: Die Zahlen mussten sich gemerkt werden. Die Situation wurde sich (von dem Autor) nur erdacht. Es wurde sich
des Nährwerts erinnert. Reflexive Konstruktionen: Es durfte sich eine Pause gegönnt werden. Es wurde sich von beiden
Seiten nichts geschenkt. Da wurde sich angefeuert / unterhalten / verabschiedet. Da wurde sich gegenseitig in der Gruppe
geholfen. Weniger akzeptiert wurden Sätze wie Es wurde sich dem Feind genähert oder Es wurde sich das Schlimmste gedacht
(vgl. Helbig, 2004, S. 21-22). Dieses eigentlich reguläre werden-Passiv wird auch als Reflexiv-Passiv bezeichnet.
14 Zifonun/Hoffmann/Strecker weisen auf den Umstand hin, dass Verben wie z.B. bedecken, beleuchten, teilen,
verbinden usw. „auch in der nicht-agentiven / nicht-kausativen Lesart ein werden-Passiv bilden. […] In solchen
Fällen ist das werden-Passiv als Zustandsbezeichnung zu verstehen […]“ (Zifonun/Hoffmann/Strecker, 1997, S. 1798,
Hervorhebung im Original).
292
Brinker (1971)
insgesamt:
2358 Belege
Szatmári (2000)
insgesamt:
63 Belege15
Brünner/Redder
(1983)
insgesamt:
3624 Belege
können
41,6%
30,2%
41,4%
müssen
25,4%
25,4%
30,0%
sollen
21,5%
28,5%
8,4%
dürfen
7,8%
9,5%
2,8%
mögen / möchten
1,0%
-
1,3%
wollen
1,3%
3,2%
12,0%
(nicht) brauchen
1,4%
1,6%
2,8%
soll … können
1,6%
Im werden-Passiv kommt es unter Anderem bei deutlich weniger Sätzen zu
einer Kombination mit wollen. Neben können sind müssen und sollen die Modalverben, die häufig im werden-Passiv aufscheinen. Dieses Ergebnis überrascht vor
dem Hintergrund, dass sich mehr und mehr der Grammatikalisierungspfad zu einem
modalen Passiv, das gerade die deontische Bedeutung von müssen und sollen
ausdrückt, abzeichnet: die Herausbildung des gehören-Passivs.
Gehören hatte anfänglich eine konkrete Bedeutung und war eigentlich eine Intensivform des Verbs hören,16 das im Sinne von ‚jmdn. anhören/erhören‘ („völliges
hören, das sein ziel erreicht“ – DWb, S. 2504) zu verstehen war. Es zielte primär auf
Personen ab und ist dann auf Sachen verallgemeinert worden. Über lexikalische
Verschiebungen kam es dazu, dass es auf Verhältnisse im Rechts- und Gemeindeleben bezogen wurde, wo es um aufs Gericht gehören ging. Das bedeutete ‚sich
dort zu einer bestimmten Zeit (auf den rechten Glockenschlag) einzufinden, um
zu hören‘.17 Das Verb diente der Beschreibung eines Rechtsverhältnisses und eines
Rechtsanspruchs und brachte in diesem Gebrauch die Pflicht des Erscheinens
und Hörens (= Notwendigkeit) sowie das Vorhandensein von Rechten und deren
15 In Szatmári (2000) wurde ein 550 Belege umfassendes Korpus analysiert (die Belege entstammen Sachbüchern,
Zeitungen und Zeitschriften, belletristischen Werken). Mit den Belegen wurden unterschiedliche Passiv-Arten
(z.B. werden-, sein-, bekommen- / erhalten-Passiv) erfasst. Das werden-Passiv kam in 339 Sätzen vor, darunter waren 63
Sätze in Kombination mit einem Modalverb.
16 Den Grimms zufolge existiert diese Bedeutung landschaftlich noch bis hin zur Entstehungszeit des Wörterbuchs
(1897).
17 Im DWb heißt es dazu u. a.: „die eingesessenen des gerichtsbezirks müssen sich zur abhaltung einfinden“ und zwar
„auf den rechten glockenschlag“ (DWb, S. 2513, Hervorhebung im Original) und „die dingpflicht wird aber auch selbst
bezeichnet als ‚das geding hören‘: welcher hofman hie soll sein und nit hie ist und das geding nit gehört hat (wird
gestraft)“ (DWb, S. 2514, Hervorhebung im Original).
293
Ausübung im Rahmen einer zuständigen Institution (= Zuständigkeits-/Zugehörigkeitsrelation: Gericht) zum Ausdruck. Aus diesem Gebrauch mag sich die Verwendung ‚geziemen, gebühren, zukommen, zugestehen‘ entwickelt haben, denn die
oben erwähnte Zuständigkeit impliziert den Aspekt, dass die Stelle, an der man
die Angelegenheit vorträgt, die entsprechende Instanz für die Schlichtung einer
schwierigen Angelegenheit, einer Rechtssache ist und es einzig ihr zusteht, in
dieser Angelegenheit zu entscheiden.18 Diese metaphorische Übertragung fand
auch den Weg in die Alltagssprache, um zu versprachlichen, was sich z.B. für
bestimmte Personen bzw. in Bezug auf eine bestimmte Angelegenheit geziemt.
Generell scheint das Agens ausgeblendet zu werden, auch wenn Agensnennung
denkbar wäre: Der Text gehört von einem erfahrenen Schauspieler vorgelesen.
Die Agenstilgung hängt vermutlich damit zusammen, dass der Sprecher – aufgrund
eines angenommenen kollektiven Weltwissens – davon ausgehen kann, dass die
für die Umsetzung seiner nachdrücklich ausgesprochenen Forderung zuständigen
Instanzen / Personen allgemein bekannt sind; so denkt z.B. niemand bei folgendem
Beleg an Selbstjustiz: […] denn diese baumlangen Dinger [Komposita – P.Sz.] sind
wohl kaum echte Wörter, sondern bloße Aneinanderreihungen von Wörtern, und wer
immer die Sache erfunden hat, gehört gehängt. (Twain, 2010, S. 63).
Das gehören-Passiv ist sowohl im heutigen schriftlichen als auch mündlichen
Gebrauch belegt, wobei im Subjekt ein belebtes, unbelebtes Patiens bzw. das
Pseudopatiens es kodiert sein kann:
Wer Hass predigt, dem gehört das Handwerk gelegt.
(Kurier 15.07.2005, S. 5)
18 Das lexikalische Konzept ‚gebühren, zukommen, zugestehen, geziemen‘, das auf die „innerlichen“ Impulse in
Bezug auf ein der Situation angemessenes Verhalten gerichtet ist, existiert im 16. Jahrhundert in außerordentlich
variantenreichen Formen:
a) es + Adjektivalergänzung: wie es wol gehöret;
b) Ø + Dativ + zu + Infinitiv: mir zweifelt auch, ob dich zu fragen mir gehöre (Tscherning 1642, zit. n. DWb,
S. 1025);
c) Subjekt-belebt + zu + Infinitiv: nachtleuchten gehören vor den obersten zu tragen (DWb, S. 2524); so gehort
der mahelring von dem brutgom der gesponsen zu geben (manuale curatorum, DWb, S. 2524);
d) es + sich + Partizip II: dasz ein sach übel gethan oder anders dann sichs gehört gethan ... gleich auf eins ausgehe.
Die semantische Verschiebung erlaubt eine verschiedenartige Besetzung der Subjektposition, die nicht mehr der
Wahrnehmungsträger innehat. Die Subjektposition wird entweder mit dem wahrgenommenen Gegenstand (im
weitesten Sinne des Wortes) besetzt, getilgt oder mit dem impersonalen es gefüllt. Für die Entwicklung zum Passivauxiliar
waren vermutlich die unter c) und d) aufgelisteten Verwendungen wesentlich. So findet sich in Reis (1976, S. 70)
der folgende Beleg: Das gehört (sich) schließlich auch einmal gesagt. Dabei nehme ich als eine Zwischenstufe das
Auftreten des Reflexivums an. In Szatmári (2002) wird die Annahme dieser Zwischenstufe damit begründet, dass sich,
diachron gesehen, im Indoeuropäischen der passivische Gebrauch aus dem medialen entwickelt hat (vgl. Welke 1997).
Nach Welke (1997) handelt es sich bei der Reflexivierung ebenfalls um einen metaphorischen Prozess, bei dem ein
metaphorischer Zusammenhang zwischen referentiellem und nicht-referentiellem Gebrauch des Reflexivums besteht.
Es findet eine metaphorische Übertragung von Belebtem zu Nicht-Belebtem statt.
294
[…] der ist so durchgeknallt, der gehört weggesperrt.
(Hörbeleg, RTL 30.08.2005)
Endlich gibt es auch ein Gesetz für die Bauern, dass sie ihre Katzen
kastrieren lassen müssen. Es gehört streng kontrolliert und bei
Nichteinhaltung bestraft. (Leserbrief, Die ganze Woche 17/16, S. 5)
Hier gehört gründlich ausgemistet. (Reis, 1976, S. 70)
Es gehört mal wieder gefegt. (Reis, 1976, S. 70)
Die Konstruktion gehören + Partizip II besitzt der prototypischen Passivkonstruktion vergleichbare Merkmale. Sie ermöglicht dem Sprecher eine Umperspektivierung der außersprachlichen Wirklichkeit: Das Ereignis wird agensdezentriert, patienszentriert, vorgangsorientiert betrachtet, wobei sich im verbalen
und nominalen Bereich die für das Passiv-Paradigma typischen morphosyntaktischen und semantischen Charakteristika zeigen: Passivmorphologie, Wechsel
der Prädikatsklasse, Agensdezentrierung, Patienszentrierung.19 Das Verb kann
als Auxiliarverb angesehen werden und die Konstruktion als gehören-Passiv in
das Passiv-Paradigma eingeordnet werden, welches eine Umstrukturierung und
Bereicherung erfuhr, indem sich dieses patienszentrierende modale (und damit
sprachökonomische) Passiv herausbildete. Ein Vergleich mit dem Aktiv- bzw.
werden-Passivsatz verdeutlicht die Zeitgleichheit der Konstruktionen: Das ganze
System gehört reformiert. (NEWS 26/94, S. 46) – Man muss / müsste / soll / sollte das
ganze System reformieren. – Das ganze System muss / müsste / soll / sollte reformiert
werden.
Außerdem ermöglicht es durch seine strukturelle Offenheit mindestens zwei
Lesarten (‚sollen‘ / ‚müssen‘), die sogar noch weiter modifiziert werden können
(‚sollten‘ / ‚müssten‘), so dass dem Sprecher / Rezipienten Raum für Interpretationsmöglichkeiten der außersprachlichen Situation gegeben wird. Dieses Passiv
befindet sich noch inmitten seines Grammatikalisierungsprozesses, was seine
überwiegende Verwendung im Präsens erklärt: Österreich gehört entnazifiziert.
(Standard 04.11.99, S. 9); Dem Mann gehören die Adler abgenommen und ein
Tierhalteverbot verhängt, dann wird für alle Zeit Ruhe sein. (Die ganze Woche 10/96,
S. 3). Selten ist sein Vorkommen im Präteritum Da musste dringend Luft rein, der
Filz gehörte rausgebürstet. (Moor, 52010, S. 232, es geht bei der Textpassage um die
Befreiung einer Wiese von Moos) bzw. im Konjunktiv (ich deute diese Verwendung
insofern als wichtigen Grammatikalisierungsmarker, als im Präsens durchaus die
konjunktivische Bedeutung mit anklingt) […] und wie es geschrieben gehört hätte.
(Greene, 1984, S. 164); […] und damit nicht doch der so oft prophezeite Zusammenprall der Zivilisationen kommt, gehörten auch die Hasspredigten westlicher Politiker
beendet. (Kurier 15.07.2005, S. 5)
19 Die als Patiens (in meinem Kleinkorpus) vorkommenden Lexeme tragen die semantischen Merkmale [± human]
(die Adler, Dr. Thoma ein unbescholtener Bürger, Unruhestifter) bzw. [± abstrakt] (diese Speise, das System, Dummheit,
etwas, dieses Gesetz, Liebe, der Prozess).
295
Wie das werden-Passiv kann das gehören-Passiv subjektlos gebraucht werden,
allerdings handelt es sich bei dem Beispiel um die intransitive Verwendung eines
transitiven Handlungsverbs (ausmisten), vgl. Hier gehört gründlich ausgemistet.
(Reis, 1976, S. 70) / Man mistet den Stall aus. – Der Stall wird ausgemistet. Der
Stall gehört ausgemistet. / Man mistet hier aus. – Hier wird ausgemistet. Hier gehört
ausgemistet.
Die Auxiliarisierungsstufen lassen sich deutlich festmachen unter Anderem an der
Distribution und am Desemantisierungsgrad (es besteht eine eindeutige Differenz
gegenüber dem Vollverb). Das gehören-Passiv hat jedoch bei weitem nicht den
Operationsbereich des zentralen Passivs erreicht.
3.3. Eine weitere Renovation: Das rezipientenzentrierende
bekommen-Passiv20
Es sei hier auch daran erinnert, dass die „Erfolgsstory“ des werden-/sein-Passivs
nicht immer gradlinig verlief und es durchaus gescheiterte Versuche der Umsetzung
von Sprecherabsichten gab: Schiffbruch erlitt unter Anderem der Versuch, das
Patienspassiv zur Zentrierung des Rezipienten zu verwenden, z.B. Da sind wir auf
viel Jahre geholfen (Goethe), Sie werden auf den Zahn gefühlt werden (Holtei, 1860,
Belege nach Behaghel, 1924, zit. n. Ágel, 2000a, S. 1863).21 Dies ist umso interessanter, als sich bereits zu dieser Zeit das sogenannte bekommen-Passiv eingebürgert
hatte. Wie die folgenden Belege zeigen (alle zit. n. Eroms, 1978, S. 365), war das
Rezipientenpassiv bereits im 19. Jahrhundert voll ausgebildet, vgl.
Mehr speck und butter und eier kriegtest du in den tornister geschenkt,
als ein Jäger geschenkt kriegt (Götz 1752).
dasz man aufgesagt kriegt [den Dienst]. (um 1838)
[…] so muß man die Ursache darin suchen, daß sie dergleichen zu
einer Zeit als Dogmen überliefert bekommen haben […] (nach Eroms
ältester Beleg für auxiliares bekommen – 1823).22
Daß er von Lucinden noch nie auch nur die Hand gedrückt bekommen
hätte (Gutzkow).
Daß sie von den Andern doch nicht schneller geholfen bekamen (1849).
Zum Schluß bekomme ich nach Neujahr wieder abgenommen, was ich
zu Weihnachten erhalten habe. (1859)
Sie erhielt den Aufenthalt gekündigt. (Gutzkow)
Wo der Mensch irgend bedeutsame Leute überliefert erhalten hat.
(W. Humboldt)
20 Außer Acht gelassen werden die Auxiliaralternationen kriegen und erhalten, wobei lediglich angemerkt sei, dass
erste Belege mit dem Auxiliar kriegen gebildet wurden und es noch heute im mündlichen Gebrauch sehr vital ist. Auch
für dieses Passiv finden sich in der Fachliteratur verschiedene Benennungen wie Dativpassiv, Adressatenpassiv.
21 Wenn die Telegate-Werbung also Verona Pooth für die Telefonauskunft „Da werden Sie geholfen!“ verkünden lässt,
muss man feststellen, dass dieser populäre Werbespruch so neu eigentlich gar nicht ist.
22 Lenz (2007, S. 5) datiert den ältesten Beleg auf das Jahr 1625.
296
In der Konstruktion verbinden sich die Auxiliare sowohl mit transitiven wie auch
intransitiven Verben. Die in der Konstruktion aufscheinenden Besitzrelationen
reichen von der durch das Bekommen vorgegebenen Besitz-/Haben-Relation23
(belohnt kriegen, geschenkt bekommen) zu immer abstrakteren Besitz-/HabenRelationen ([Leute] überliefert bekommen / erhalten, geholfen bekommen) bzw. sogar
zu deren Negation (aufgesagt kriegen, abgenommen bekommen, gekündigt erhalten).
Das bekommen-Passiv zentriert die Entität, die in unterschiedlichen denotativsemantischen Varianten (u.a. als Experiencer, Nutznießer, Besitzer, Korrespondent, vgl. Wegener (1985, S. 128))24 auftritt, morphosyntaktisch im Aktivsatz als
Dativ (sowohl als Dativergänzung als auch als sogenannter freier Dativ) realisiert
wird und für die ich hier als Oberbegriff Rezipient verwende. Im bekommen-Passiv
wird der Rezipient syntaktisch durch das Subjekt ausgedrückt. Da ein Pseudorezipient es nicht existiert, ist die Bildung eines sogenannten unpersönlichen
Rezipientenpassivs nicht möglich (vgl. Pittner/Berman, 42010, S. 74).
Das Agens kann auch beim bekommen-Passiv durch die von-Phrase angeschlossen
werden, was einerseits eine strukturelle Analogie zum werden-Passiv herstellt und
andererseits die Reanalyse als Genus verbi stützt: Sie bekam den Posten vom
Arbeitsamt angeboten.25
Zahlreiche bekommen-Sätze sind durch eine strukturelle Offenheit gekennzeichnet,
d.h. erst im gegebenen Diskurs kommt es zur Realisierung einer (intendierten)
Lesart, ohne Kontext jedoch sind manchmal mehrere recht unterschiedliche
Interpretationen möglich. So hat z.B. der Satz Sie bekommt den Aufsatz korrigiert.
Drei denkbare Interpretationen, eine agentive, eine prädikative und eine passivische:
Agentiv: Sie bekommt [[den Aufsatz] [korrigiert]]. Sie schafft es, den Aufsatz
zu korrigieren.
Prädikativ: Sie bekommt [den Aufsatz korrigiert]. Sie bekommt den Aufsatz
in korrigierter Form.
Passivisch: Sie bekommt [den Aufsatz] korrigiert. Ihr wird der Aufsatz korrigiert. 26
23 Die Vollverbverwendung bringt sowohl konkrete als auch abstrakte Haben-Relationen zum Ausdruck: Er bekommt
ein Buch (einen Befehl/eine schallende Ohrfeige/billig einen Teppich)
24 Die Beispiele bei Wegener (1985, S. 128) lauten:
Experiencer: Er bekam einen Schrecken eingejagt.
Nutznießer:
Wir kriegten die Gläser gewaschen, das Auto repariert.
Geschädigter: Er bekam das Buch zerrissen, das Bein zerquetscht.
Verlierer:
Er bekam das Bein amputiert, den Führerschein entzogen.
Besitzer:
Sie kriegte die Schulden erlassen.
Korrespondent: Er bekam Meyer vorgesetzt.
Er bekam geantwortet, widersprochen.
25 Vereinzelt wird das Agens auch mithilfe der durch-Phrase ausgedrückt, wobei dann nicht selten die instrumentale
Bedeutung mitschwingt. Weitere Realisierungsmöglichkeiten sind nach Eroms (1978) als- bzw. bei-Phrasen und nach
Leirbukt (1997) „agentive Adverbien“, wie behördlicherseits, kirchlich; Präpositionalphrasen, wie von … her, seitens / von
seiten.
26 Hentschel / Weydt (1995) z.B. erklären den Satz Der Herr bekommt seine Eier gerade serviert, der sich umformen
297
Die prädikative Lesart ist als Schnittstelle zur passivischen Lesart zu interpretieren.
Eindeutig passivisch wird der Satz interpretiert, wenn eine Agensphrase
hinzugefügt wird, vgl. Sie bekommt den Aufsatz von einem Muttersprachler / Lektor
korrigiert.
Auch beim bekommen-Passiv zeigen sich deutlich Grammatikalisierungsstufen,
indem das Inventar der rezipientenpassivfähigen Verben ausgebaut wird (von
Verben mit Edat/+belebt Eakk 27 über Verben mit Edat/-belebt Eakk zu Verben mit
Edat/Afreier Dativ), dabei unterliegt bekommen einer immer stärkeren Desemantisierung, d.h. der Ausdruck der Haben-Relation geht verloren: Der Prototyp der
Serie mit Wagennummer 3600III hatte zudem das Fahrgestell eines U3l-Wagens eingebaut bekommen. (https://de.wikipedia.org/wiki/BSt_ Bauart_U3l [23.05.2016]);
Er bekommt eine Stelle angeboten; Wenn man auf der Straße „Rollmops“ hinter sich
her gerufen bekommt. (Hörbeleg, ZDF)
Lenz (2007) belegt sogar, dass Studenten im standardsprachlichen Kontext ein
Verb verwenden, das die Fachliteratur bisher aus System-Redundanz-Gründen für
unfähig gehalten hatte, dieses Passiv zu bilden, vgl. Er bekommt einen Blumentopf in
die Hand gegeben. (Lenz, 2007, S. 10)
Der voranschreitende Grammatikalisierungsprozess des Auxiliarverbs zeigt sich
deutlich im kontinuierlichen Verblassen der Bedeutung und ist nach Zifonun
(2000, S. 50) dann abgeschlossen, wenn „das bekommen-Passiv generell zur
Promovierung obliquer Komplemente (≠ Kakk) eingesetzt werden könnte“.
Die Konstruktion kann einen umfangreichen Operationsbereich aufweisen.
Lediglich für Futur II fand sich in meinem Kleinkorpus (125 Belege) kein Beleg, vgl.
Präteritum:
Unter Kurt Schuschnigg bekamen sie einige der Vermögenswerte
wieder rückerstattet. (Die ganze Woche 29/98, S. 33); Die Sonmi
bekam den Helm angelegt; im selben Augenblick wurde mir be
wusst, wie viele Türen die Zelle hatte. (Mitchell, 22012, S. 456)
Perfekt:
Keine Ahnung, was die dort gelehrt bekommen haben. (Köhlmeier,
42009. S. 294); […], wo sie vor vier Jahren schon einmal Geld
entwendet bekommen haben. (Hörbeleg Sat 1, 28.10.2005)
Plusquamperfekt: […] weil ihr die Jahre davonliefen, weil sie so oft gesagt
bekommen hatte, daß sie schön war […] (Gstrein, 2003, S. 325)
Futur I:
Endlich werden Sie die Mittel in die Hand und die Wege
geebnet bekommen, die notwendig sind, um ein lange geplantes
Vorhaben in die Tat umzusetzen. (Sat 1 Teletext, 12.05.2006.
S. 532); Eine solche Story werden wir wahrscheinlich in unserem
lässt in Der Herr bekommt seine Eier. Sie werden gerade serviert. als den Gebrauchstyp dieses Passivs.
27 Dies hängt damit zusammen, dass die semantischen Kasusforderungen des Auxiliars und des Hauptverbs
miteinander vereinbar sind, d.h. beim bekommen-Passiv erfolgt die Einbettung von Rezipient (Hauptverb) in Rezipient
(Auxiliar).
298
Juristenleben nicht mehr geliefert bekommen. (Hörbeleg Sat 1,
07.02.2007); Entweder Cohn-Bendit wird von der Arbeiterklasse
eine nützliche Arbeit zugewiesen bekommen, etwa in einer
Fischmehlfabrik in Cuxhaven, oder er wird während der
Revolution durch die Massen an den nächsten Baum befördert.
(Köhlmeier, 42009, S. 137)
Futur II. Konjunktivformen: Agnes Jónsdóttir. Sie klingt wie die Frau, die ich hätte sein
sollen. Die Hausfrau eines Torfhofs mit Blick über das Tal und
einem Mann an ihrer Seite und einer ganzen Kinderschar, die
dabei hilft, im Abendlicht die Schafe nach Hause zu singen. Die
von ihr lernen würde und Geistergeschichten erzählt bekäme.
(Kent, 2015 [2014], S. 254); Jury schluckte, als hätte er selbst diese
bittere Pille verpasst bekommen. (Grimes, 1987, S. 357)
Kombination mit dem werden-Passiv: Ihre Kollegen waren unter Quarantäne
gestellt worden und bekommen nun Antibiotika verordnet. (Kurier 22.06.98,
S. 25) Modalverben28.
wollen:
„Ich will keine Vergnügungsreise nach London und Saint
Thomas spendiert bekommen“, entgegnete Jane. (Gerritsen, 2014,
S. 196); Ich war mir nicht sicher, ob ich meine Aura gezeigt bekom
wollte, ebenso wenig, ob sie vor allen Passanten ausgebreitet
werden sollte. (Berg, 12015/2013, S. 280)
28 Nach Leirbukt (1997) kookkurrieren mit dem bekommen-Passiv die Modalverben (MV) sollen, wollen, können,
möcht-, müssen, für die MV mögen, dürfen und brauchen kann er lediglich konstruierte Beispiele anführen. Dabei lässt
sich auch die epistemische Verwendung nachweisen. Ähnlich dem werden-Passiv zeigen sich beim bekommen-Passiv
„Transformationsblockierungen“ (Leirbukt, 1997, S. 175), die mit Bedeutungsverschiebungen einhergehen. Auf das
bekommen-Passiv bezogen treten sie (a) bei möcht-Formen (vgl. (1)), (b) bei volitivem wollen (vgl. (1)), (c) bei der
Redewiedergabe mit wollen (vgl. (2)) und (d) tendenziell für können (vgl. (3)) auf (Beispiele zitiert nach Leirbukt, 1997,
S. 175-176):
(1a) Der Lehrer will / möchte es dem Jungen erklären.
(1b) Der Junge will / möchte es vom Lehrer erklärt bekommen.
(2a) Frau Maier will Frau Müller 50 Mark ausbezahlt haben.
(2b) Frau Müller will von Frau Maier 50 Mark ausbezahlt bekommen haben.
(3a) Das kann (,vermag’) sie den Kindern nicht erklären.
(3b) Die Kinder können es von ihr nicht erklärt bekommen.
Bei können zeigt sich die Bedeutungsverschiebung von ,Fähigkeit’ (vgl. (3a)) zu ,Möglichkeit’ (vgl. (3b)). Eine
ausführliche Auseinandersetzung mit den bei der Transformation von Aktivsätzen mit MV in Passivsätze auftretenden
Phänomenen gehöre nach Leirbukt (1997) in eine systematische Erfassung der syntaktischen und semantischen
Eigenschaften der MV. Für das bekommen-Passiv mit lassen seien unterschiedliche Akzeptabilitätsgrade anzunehmen:
In Aussagesätzen scheide lassen sowohl für die Lesart ,verursachen’ als auch für die Lesart ,zulassen’ aus (vgl. (4)).
In Aufforderungssätzen dagegen finde sich „nicht so leicht eine alternative Ausdrucksweise […], die in der für diese
Bildung vorstellbaren Kommunikationssituation (der Sprecher fordert jemand auf, das Erklären nicht zu verhindern)
angemessen wäre” (Leirbukt, 1997, S. 177) (vgl. (5)).
(4) *Wir lassen den Professor das Bein aboperiert bekommen. (Leirbukt, 1997, S. 176)
(5) ?Laß doch den Jungen das erklärt bekommen! (Leirbukt, 1997, S. 177)
299
können:
sollen:
Ich wette, sie weiß, ob Jane Grey einen Ring geschenkt bekommen
hat oder ob sie vielleicht einen Ring geschenkt bekommen haben
könnte. (Internetrecherche)
Die Frauen sollten offensichtlich gemeinsam wahrgesagt
bekommen. (Grimes, 12011, S. 160)
Nicht ungewöhnlich sind Kombinationen von werden- und bekommen-Passiv,
vgl.
Ich bekomme sie [Träume – P.Sz.] weder zugeteilt, noch werden sie
zensiert. (Mitchell, 22012, S. 244);
Ihre Kollegen waren unter Quarantäne gestellt worden und bekommen nun
Antibiotika verordnet. (Kurier 22.6.98:25);
Nachdem der Mann vom Tor losgemacht worden war und die Handschellen
wieder angelegt bekommen hatte, starrte er ins Leere. (Kellerman, 2009, S. 395)
4. Fazit
Auch wenn im Vergleich mit dem Aktiv Passivsätze mit etwa 7% ebenfalls zu
peripheren Formen gehören, ist eine Beschäftigung in vielfacher Hinsicht
erhellend. So geben sie z.B. Aufschluss über die Aktivitätsauffassung der Sprachgemeinschaft oder über die Suche der Sprachteilhaber nach immer adäquateren
Versprachlichungsmöglichkeiten, die unter Anderem in Innovationen, Renovationen oder Analogiebildungen ihren Ausdruck finden. Das führt zur Herausbildung
von merkmallosen (zentralen) Formen, um die sich merkmalhaftere (periphere)
bündeln. Zentrale und periphere Passiv-Konstruktionen sind im Passiv-Paradigma
in mehrfacher Hinsicht anzutreffen: Einerseits in der Horizontalen in Bezug
auf die verschiedenen Passivtypen und andererseits in der Vertikalen, wenn man
Passiv-Konstruktionen mit gleicher Passivmorphologie betrachtet. Verantwortlich
dafür sind die kontinuierlich stattfindenden Grammatikalisierungsprozesse, die
den Operationsbereich der einzelnen Konstruktionen ausweiten und auch zu
neuen Reanalysen führen, deren Entwicklung ein spannendes Feld linguistischer
Forschung darstellt. Schematisch zeigen sich gegenwärtig folgende Zusammenhänge im Passiv-Paradigma:
300
Passiv-Paradigma
Agens-Dezentrierung
mit Nicht-Agens-Zentrierung
Patienszentrierung
vorgangsorientiert zustandsorientiert
[- Modalfaktor] [+ Modalfaktor]
sein-Passiv29
bleiben-Passiv
werden-Passiv
kommen-Passiv
geben-Passiv
Rezipientenzentrierung
vorgangsorientiert
zustandsorientiert
bekommen-/er- haben-Passiv
halten-/kriegenPassiv
gehören-Passiv
Abstract
The German passive paradigm is going through a process of change. A paradigm
is carried by a general abstract categorical meaning, the so-called intended
category (werden-passive). Within the scope of the grammaticalization processes the
paradigm can be developed, so that new members become competitors or
opponents of the intended category. Peripheral members of the paradigm
(gehören-passive, bekommen-passive) are classified according to their semantic and
morphosyntactic characteristics.
Keywords
passive paradigm, intended category, renovation (gehören-passive, bekommenpassive)
29 Die Zustandspassive (sein-, bleiben-, haben-Passiv) wie auch die Patienspassive in Regiolekten (kommen-,
geben-Passiv) konnten im Beitrag aus Platzgründen nicht behandelt werden und seien hier lediglich durch Beispiele
veranschaulicht: sein-Passiv: Die Bank ist frisch gestrichen. bleiben-Passiv: Auch nach den Wahlen blieb das Land
von seiner Partei regiert. haben-Passiv: Sobald wir unsere Ergebnisse bestätigt haben, erfahren Sie es. (Hörbeleg, Vox,
20.04.2007); kommen-Passiv: Dam Kevin choma krat Hóór gwäscha. (‚Dem Kevin wird gerade das Haar gewaschen’,
Bucheli Berger, 2005, S. 77) geben-Passiv: Er gibt gesucht. (im Moselfränkischen, Lenz, 2006, S. 13.
301
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306
Familiennamen deutscher Herkunft
in den Kirchenbüchern der russisch-orthodoxen
Gemeinden in Włocławek und Aleksandrów Kujawski
(Kongresspolen) an der Wende
vom 19. zum 20. Jahrhundert.
Eine anthroponymische Peripherie
Henryk Duszyński-Karabasz
Annotation
Das Thema des Beitrags sind die Familiennamen deutscher Herkunft in den
Kirchenbüchern der russisch-orthodoxen Gemeinden in Ostkujawien an der
Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Es ist eine nicht zahlreiche Gruppe, denn die
Mehrheit der Anthroponyme bilden die Familiennamen ostslawischer Herkunft.
Die Namen wurden mithilfe der kyrillischen Schrift geschrieben. Das ist einer
der Gründe, warum es so schwierig war, eindeutig die Etymologie der Namen zu
bestimmen. Außerdem gab es hybride Namen, die von der Koexistenz der Völker
in Ostkujawien zeugen.
Schlüsselwörter
Anthroponymie, Familiennamen deutscher Herkunft, Kujawien, russischorthodoxe Gemeinden
1. Kongresspolen oder das Königreich Polen entstand im Jahre 1815 auf dem
Wiener Kongress. Bis 1832 war es durch Personalunion mit dem Russischen
Zarenreich verbunden, und später, nach dem Verlust der Selbstverwaltung, war
Kongresspolen bis 1918 ein integraler Bestandteil Russlands. Zum Königreich
Polen gehörte der Ostteil Kujawiens mit den Städten Włocławek und Aleksandrów
Kujawski. Infolge der Geschichtsereignisse haben dort an der Wende vom 19. zum
20. Jahrhundert außer Polen auch Deutsche, Russen und Juden gelebt.
1.1. In den russisch-orthodoxen Kirchenbüchern aus Ostkujawien treten vor
allem Familiennamen ostslawischer Herkunft auf, aber es gibt auch einige deutsche
Namen (oder Namen mit deutschen Elementen). In vielen Fällen ist es schwer,
eindeutig zu bestimmen, ob die Familiennamen deutscher Herkunft sind und wenn
ja, dann von welchem Wort sie abgeleitet sind. Der wichtigste Grund dafür ist,
307
dass die Familiennamen in den Kirchenbüchern mithilfe der kyrillischen Schrift
geschrieben wurden. Es besteht oft das Problem, was für ein deutscher Familienname gemeint ist, denn es besteht das Problem der Wiedergabe der deutschen
Buchstaben, vor allem der Umlautbuchstaben im kyrillischen Alphabet, z.B. werden
sowohl ä als auch e und ö als е geschrieben, ü und i als kyrillisches и, und die
Buchstaben g und h werden durch г wiedergegeben. Auch die Länge der Vokale
wurde nicht bezeichnet. Deswegen ist es manchmal problematisch, die ursprüngliche
Form zu erkennen. Das andere Problem sind Tintenflecken und auch der Schriftduktus, der in einigen Fällen unlesbar ist. Endlich soll man auch das Auftreten von
Zweifelsfällen und deutsch-slawischen Mischformen (hybriden Formen) nennen.
Manchmal kann der Name sowohl slawischer (polnischer oder russischer), als
auch deutscher Herkunft sein. Und es kann auch so sein, dass ein Teil des Namens,
z.B. der Stamm deutsch ist und die Affixe slawisch sind oder umgekehrt. In
meinem Beitrag werden die Familiennamen deutscher Herkunft oder mit deutschen
Elementen besprochen.
1.2. Man soll auch erwähnen, dass die hier besprochenen Familiennamen deutscher
Herkunft sich in der Peripherie der Anthroponymie der russisch-orthodoxen
Gemeinden in Ostkujawien (und im Dobriner Land) befinden (zirka 1% aller
Familiennamen). Im Zentrum stehen selbstverständlich die Namen ostslawischer
Herkunft. Außerdem gibt es Familiennamen polnischer Herkunft und, sehr selten,
solche mit Elementen aus den Turksprachen.
1.3. Das gesammelte Material stammt aus den Kirchenbüchern von Aleksandrów
Kujawski (A) und Włocławek (W) aus der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Sie
werden im Staatsarchiv in Włocławek aufbewahrt.
2. Infolge der Analyse kann man einige Typen von Familiennamen nennen.
2.1. Die erste Gruppe bilden die Berufsnamen bzw. Standesnamen:
Будде (A ) – Budde, Berufsübername zu mnd. budde ,offenes Fass, Bottich‘ für den
Hersteller oder Benutzer (Kohlheim, 2011, S. 142);
Веберъ (A) – Weber, Berufsname zu mhd. wëbœre ,Weber‘ für den Wollen-,
Leinen- und Barchentweber (Kohlheim, 2011, S. 641);
Гауптманъ (А) – Hauptmann, Amtsname zu mhd. houbetman ,der oberste Mann,
Hauptperson einer Vereinigung, eines rechtlichen Verhältnisses; Anführer im
Krieg‘ (Kohlheim, 2011, S. 281);
Гофманъ (A) – Hoffmann, Standesname zu mhd. hoveman, mnd. hove(s)man,
hofman ,der zu einem Hofe gehörige Bauer, der einem Hofe zu Diensten
verpflichtet ist‘, ,der ein Gehöft bewohnende Bauer‘, ,Diener am Hofe eines Fürsten‘,
fnhd. ,Bauer, der mit einem grundherrlichen Hof belehnt ist, Wirtschafter auf
einem Gutshof ‘ (Kohlheim, 2011, S. 300);
Дратковскiй (W) – das kann ein polonisierter Familienname sein, der mit dem
308
deutschen Wort Draht verbunden ist; Draht ist ein Berufsübername für den
Drahtzieher oder Drahtschmied (Kohlheim, 2011, S. 178), vgl. auch den polnischen
Familiennamen Dratkowski (Rymut I, 1999, S. 147); mit dem polnischen Suffix -sk-;
Кесслеръ (A), Кеслеръ (A) – Kessler, Keßler, Berufsnamen zu mhd. keȥȥelœre
,Kesselschmied‘ (Kohlheim, 2011, S. 338);
Кушнирукъ (A) – in dem russischen Anthroponomastikon gibt es eine Reihe
von Namen, die, nach der Meinung von Unbegaun, jiddischer Herkunft sind, vgl.
Кушнер, Кушнир, Кушниров, aus dt. Kürschner (Унбегаун, 1995, S. 262), nach
Kohlheim ist das ein Berufsname zu mhd. kürsennœre, einem Lehnwort slawischen
Ursprungs (Kohlheim, 2011, S. 372); der Familienname hat ein ostslawisches Suffix -uk;
Маеръ (W) – Meyer, Maier, Meier, Standesname zu mhd. mei(g)er ,Oberbauer, der
im Auftrag des Grundherrn die Aufsicht über die Bewirtschaftung der Güter führt,
in dessen Namen die niedere Gerichtsbarkeit ausübt‘ (Kohlheim, 2011, S. 419);
Маержакъ (A) – vielleicht ist dieser Familienname mit Маеръ verbunden, vgl. den
polnischen Namen Majrzyk (Rymut, 2001, S. 56), mit dem polnischen Suffix -ak;
Мейстеръ (A) – Meister, Maister, Standesname, Amtsname oder Übername zu
mhd. meister ,Lehrer, Gelehrter, Künstler‘ (Kohlheim, 2011, S. 414);
Рихтеръ (A) – Richter, Berufsname zu mhd. richtœre ,Lenker, Ordner, Oberherr,
Richter‘ (Kohlheim, 2011, S. 496);
Трабантовъ (A) – Berufsname zu dem im 15. Jahrhundert aus dem Tschechischen
entlehnten Wort drabant ,Fußsoldat, Leibwache‘ (Kohlheim, 2011, S. 612), es ist ein
hybrider Name, mit dem russischen Suffix -ov;
Трабанцевъ (A) – wahrscheinlich wie oben, Suffix -ev;
Фейлертъ (А) – Feilert, Berufsname zu mhd. vīle ,Feile‘ für den Feiler ,Hersteller
von Metallfeilen‘ (Kohlheim, 2011, S. 214);
Шмидке (A) – Ableitung von Schmied mit dem Suffix -ke, Berufsname zu mhd.
smit, mnd. smit, smet ,Schmied‘ (Kohlheim, 2011, S. 539-540);
Шрейдеръ (A) – Schröder, nach Kohlheim geht der Name in Norddeutschland
auf mnd. schrōder, schrāder zurück und bedeutet den Schneider oder den Weinund Bierverlader. In Süddeutschland ist das eine Schreibvariante von Schröter, zu
mhd. schrōtœre ,der Wein- und Bierfässer auf- und ablädt, sie in den Keller und aus
demselben bringt‘ (Kohlheim, 2011, S. 549-550);
Штирмеръ (А) – Stürmer, Standesname oder Übername zu mhd. stürmœre
,Kämpfer‘ (Kohlheim, 2011, S. 597);
Шубертъ (W) – Schubert, Berufsname zu mhd. schuohwürhte ,Schumacher‘
(Kohlheim, 2011, S. 550);
Шульцъ (A) – Schultz, Schulz, Amtsname zu mhd. schultz, einer zusammengezogenen Form von mhd. schultheiȥe ,der Verpflichtungen befiehlt, Richter,
Schultheiß‘ (Kohlheim, 2011, S. 551).
2.2. Die zweite Gruppe bilden die von den Vornamen (Rufnamen) abgeleiteten
Familiennamen:
Артвигъ (А) – aus dem Rufnamen Hartwig, zu mhd. harti ,stark‘ + wīg ,kämpfen‘
entstandener Name (Kohlheim, 2011, S. 279, Rymut, 1999, S. 298);
309
Бурхартъ (А) – aus dem Rufnamen Burghard, Burkhardt (burg + harti)
entstandener Familienname (Kohlheim, 2011, S. 145);
Буsе (A) – von Busse, einer Koseform des Namens Burkhard (Kohlheim, 2011, S. 146);
Вейхель (W) – aus dem Rufnamen Wiegold entstandener Familienname Weichel(t)
← Weichold ← Wiegold, wīg + walt (Kohlheim, 2011, S. 643, 657);
Венцель (A) – Wenzel, von einer eingedeutschten Form des alttschechischen
Rufnamens Venceslav (Kohlheim, 2011, S. 651);
Владе (A) – wahrscheinlich von dem russischen Namen Влад, Влада (Суперанская,
2010, S. 80), eingedeutscht mit -e;
Генертъ (W) – wahrscheinlich mit dem Namen Henne, einer verkürzten Form von
Johannes verbunden (vgl. Kohlheim, 2011, S. 290); nach Rymut kann der Name mit
dem Personennamen Haginher verbunden sein (Rymut, 1999, S. 302);
Генке (A) – Henke, auf eine mit -k-Suffix gebildete Koseform von Heinrich zurückgehender Familienname (Kohlheim, 2011, S. 290);
Генрихъ (A) – aus der russischen Form des deutschen Rufnamens Heinrich
entstandener Familienname (Kohlheim, 2011, S. 286), russ. Генрих (Суперанская,
2010, S. 87);
Генцель (A) – Hencel, Henzel, aus einer Form von Anselm oder Johannes (Rymut,
1999, S. 9), vgl. die Familiennamen Hensel von Hans und Henze von Heinrich
(Kohlheim, 2011, S. 290-291);
Дитманъ (А) – Diethmann, Ditmann, aus einer Erweiterung von Dieth mit dem
Suffix -mann entstandener Familienname; Dieth ist eine Kurzform von Rufnamen,
die mit Diet- beginnen (Kohlheim, 2011, S. 169, 172);
Дитрихъ (A) – aus dem gleichlautenden Rufnamen Dietrich entstandener Name
(Kohlheim, 2011, S. 169);
Ентшъ (W) – Jentsch, Jentzsch, aus einer ostmitteldeutschen oder slawischen Form
von Johannes entstandener Familienname (Kohlheim, 2011, S. 320);
Литке (А) – von Lütke, einer mit k-Suffix gebildeten Koseform von Ludolf, Ludwig
(Kohlheim, 2011, S. 397, 399);
Литко (A) – wie oben; wenig wahrscheinlich ist der Zusammenhang mit dem
ukrainischen литка ,Zwillingswadenmuskel‘ (Гринченко II, 1908, S. 363);
Макельеонъ (A) – vielleicht mit dem deutschen Personennamen Makel
verbunden, dieser von den Namen auf Mag-, vgl. die Familiennamen Makiela,
Makieła und andere (Rymut II, 2001, S. 58); er kann auch mit dem deutschen
Familiennamen Macke verbunden sein, der aus einer Kurzform der Rufnamen
Markwardt oder Markhardt entstanden ist (Kohlheim, 2011, S. 400);
Михельсонъ (A) – patronymische Bildung auf -son zu Michel, vgl. auch die
Familiennamen Michels (starker Genitiv) und Michelsen (Kohlheim, 2011, S. 420);
Ричертъ (A) – Richert, aus einer Form von Richard entstandener Familienname
(Kohlheim, 2011, S. 496), vgl. auch den Vornamen Ричард (Суперанская, 2009,
S. 270);
Сиверсъ (A) – Sievers, auch Sieverts, patronymische Bildung (starker Genitiv)
zu Sievert, einem durch r-Umsprung aus dem Rufnamen Siegfried entstandenen
Familiennamen (Kohlheim, 2011, S. 568);
310
Фридрихъ (A) – Friedrich, aus einem gleichlautenden deutschen Vornamen (fridu
+ rīhhi) entstandener Familienname (Kohlheim, 2011, S. 231);
Цильке (А) – Zielke, niederdeutscher, ,,aus der Erweiterung einer Kurzform des
Heiligennamens Cyliax mit -k-Suffix hervorgegangener Familienname” (Kohlheim,
2011, S. 681);
Эйзе (A) – Eise, wahrscheinlich aus dem alten Rufnamen Iso (īsan) gebildeter
Familienname, vgl. Eis (Kohlheim, 2011, S. 194);
Юргенсъ (А) – Jürgens, patronymische Bildung (starker Genitiv) zu Jürgen, einer
niederdeutschen Form von Georg (Kohlheim, 2011, S. 325);
Янке (А) – Janke, aus einer niederdeutschen Koseform von Jan (Johannes)
hervorgegangener
oder auf eine eindeutschende Schreibung von Janka
zurückgehender Familienname (Kohlheim, 2011, S. 318);
2.3. Zur nächsten Gruppe gehören die von den Eigenschaften der Person abgeleiteten
Familiennamen (Übernamen):
Блюминъ (A) – ein Familienname jüdischer Herkunft, von dem jiddischen Wort
( בלוםblum), von mhd. bluome ,Blume‘ (Kohlheim, 2011, S. 123; Унбегаун, 1995,
S. 259); mit dem russischen Suffix -in;
Гутманъ (A) – Guthmann, Gutmann, Guttmann, Übername zu mhd. guotman
,unbescholtener Mann, Ehrenmann‘ (Kohlheim, 2011, S. 268); nach Rymut kommt
der Name von gut und Mann (Rymut, 1999, S. 286);
Зинтарова (A) – vielleicht mit mhd. sinder, sinter ,Hammerschlag, Metallschlacke‘
verbunden (Kohlheim, 2011, S. 570), vgl. auch die polnischen Familiennamen
Ziętara, Zientara (Rymut II, 2001, S. 571); mit dem russischen Suffix -ova;
Лянге (W) – Lange, Übername zu mhd. lanc, mnd. lank ,lang‘ für einen großen
Menschen (Kohlheim, 2011, S. 377);
Мункъ (A) – Übername zu fnhd. munk ,Murrkopf ‘ oder zu fnhd. munk
,aufgetrieben, dick, breit‘ (Kohlheim, 2011, S. 429); nach der Meinung von Rymut
kommt der Name vom deutschen Munck ,Nörgler‘ (Rymut II, 2001, S. 125);
Нахтигаль (А) – Nachtigal(l), Übername für einen sangesfrohen Menschen oder
Berufsübername für den Vogelfänger (Kohlheim, 2011, S. 431);
Нейманъ (A) – Übername zu mhd. niuwe ,neu‘ und mhd. man ,Mann‘ für
den ‚Neubürger, den neuen Ansiedler‘ (Kohlheim, 2011, S. 435); vgl. auch die
polnischen Familiennamen Neuman, Neumann (Rymut II, 1999, S. 145);
Прассель (A) – vielleicht mit der Form Prasse verwandt, einem Übernamen zu
mnd. pras ,Lärm; Schmauserei‘ (Kohlheim, 2011, S. 471);
Фрейгангъ (A) – Freigang, Übername zu mhd. vrī ,frei‘, ,unbekümmert, sorglos‘
und mhd. ganc ,Gang, Gangart‘ nach der charakteristischen Gangart des ersten
Namenträgers (Kohlheim, 2011, S. 230).
2.4. Zur nächsten Gruppe gehören die Herkunfts- bzw. die Wohnstättennamen:
Брауншвейгъ (A) – Herkunftsname zum Ortsnamen Braunschweig (Kohlheim,
2011, S. 135);
Меиндорфъ (А) – Herkunftsname zum Ortsnamen Meindorf (URL 1);
311
Розенбергъ (A) – Herkunftsname zu dem Ortsnamen Rosenberg (Kohlheim, 2011,
S. 507);
Розенталь (A) – Herkunftsname zu dem Ortsnamen Rosenthal (Kohlheim, 2011,
S. 508);
Рыстоффъ (А) – wahrscheinlich Herkunftsname zu dem Ortsnamen Ristow
(vgl. Kohlheim, 2011, S. 501);
Шенфельдъ (A) – Herkunftsname zu den Ortsnamen Schönfeld, Schönefeld
(Kohlheim, 2011, S. 545), vgl. auch den polnischen Familiennamen Szenefeld
(Rymut II, 2001, S. 534);
Шпицбергъ (A) – Herkunftsname zu dem Ortsnamen Spitzberg, vgl. auch den
Inselnamen Spitsbergen;
Штромъ (A) – Strohm, südwestdeutscher Wohnstättenname zu mhd. strām ,Strom,
Strömung‘, ,Streifen‘ (Kohlheim, 2011, S. 595);
Эльшъ (A) – Wohnstättenname zu Flurnamen Ölsch, Elsch (Kohlheim, 2011,
S. 444);
Эшнеръ (A) – Herkunftsname zu dem Ortsnamen Eschen oder Ableitung auf -ner
zu Esch, dann Wohnstättenname zu mhd. esch(e) ,Esche‘ (Kohlheim, 2011, S. 205).
Manche von diesen Familiennamen sind charakteristisch für die Anthroponymie
der Juden, z.B. Rozenberg, Rozental (Abramowicz, 2010, S. 335).
Eine besondere Art von Herkunftsnamen (und auch Wohnstättennamen) bilden
nach der Meinung von Albert Heintze (Heintze, 1908, S. 59) die Adelsnamen,
meistens mit dem Adelsprädikat von. Zu dieser Gruppe gehören solche
Familiennamen:
фонъ-Реинталь (A), Фонъ-Гоффербергъ (А), Гаффербергъ (А),
фонъ-Гроте-де-Буко (A), фонъ Дерфельденъ (А), фонъ Реренъ (A), Раушъ
фонъ Траубенбергъ (A).
Das Adelsprädikat von gibt es auch von Handwerksnamen:
фонъ Шредеръ (A) – von dem Beruf Schröder (Kohlheim, 2011, S. 549);
фонъ Кремеръ (A) – von dem Beruf Kramer, Krämer, mhd. krāmœre, krōmer
,Krämer‘ (Kohlheim, 2011, S. 361).
Zu dieser Gruppe gehört auch der Familienname
Тизенгаузенъ (A) – ein Adelsname, der erste Teil von Thiesen – patronymische
Bildung (schwacher Genitiv oder Ableitung auf -sen) zu Thies, einer verkürzten
Form von Matthias (Kohlheim, 2011, S. 606); Rymut nennt den deutschen
Personennamen Tießenhaus, von Matthias + Haus (Rymut II, 2001, S. 636).
2.5. Die größte Gruppe bilden die Familiennamen, bei denen mehrere Interpretationen möglich sind:
Берманъ (A); es gibt einige Interpretationsmöglichkeiten:
1) Behrmann, a) Berufsname zu mnd. berman ,Biermann, Krüger, Wirt‘, b)
aus einer mit dem Suffix -mann gebildeten Koseform von dem alten
Rufnamen Bero entstandener Familienname (Kohlheim, 2011, S. 103);
312
2)
Bärmann – Erweiterung von Bähr mit dem Suffix -mann (Kohlheim, 2011,
S. 95): Bär: a) Übername für einen starken bzw. tapferen Menschen oder
Hausname zu mhd. bër ‚Bär‘ (vgl. auch Унбегаун, 1995, S. 258),
b) von der Kurzform eines mit Ber gebildeten Rufnamens,
c) Übername zu mhd. bēr ‚Eber‘ (Kohlheim, 2011, S. 90);
Бовдзей (A), Болдей (A) – diesen Namen kann man mit dem weißrussischen
боўдзіла ,Dummkopf ‘ verbinden, vgl. auch den Familiennamen Боўда (Бірыла,
1969, S. 59), oder mit dem ukrainischen балда ,großes Beil‘, ,ungeschickte Frau‘
(Гринченко, 1907, S. 24); aber Kazimierz Rymut nennt die Familiennamen
Bołda, Bołdziło und erklärt, dass sie auch von Bald kommen können, einer
deutschen Form der Rufnamen Baldwin, Baldwig (Rymut I, 1999, S. 16);
Брандтъ (W) – Brandt, 1) aus einer Kurzform von Rufnamen auf -brand, z.B.
Hildebrand, entstandener Familienname, 2) Herkunfts- oder Wohnstättenname
zum Orts- oder Flurnamen Brand (Kohlheim, 2011, S. 133);
Браунъ (A) – Braun, 1) Übername zu mhd. brūn ,braun, dunkelfarbig‘ nach der
Haar-, Haut- oder Augenfarbe bzw. nach der Kleidung, 2) von einer diphthongierten Form des Rufnamens Bruno (Kohlheim, 2011, S. 135);
Буркацкая (А); vielleicht hat der Familienname einen Zusammenhang mit dem
Rufnamen Burghard, siehe Burkacki (Rymut I, 1999, S. 63), nicht ausgeschlossen
ist aber die ostslawische Herkunft, vgl. die weißrussischen Familiennamen Бурко,
Бурчык, vielleicht vom Verb буркаць ,murren, undeutlich sprechen‘ (Бірыла, 1969, S. 69);
Бусъ (A); aus einer Koseform Buss, Buß, von dem Namen Burkhard (Kohlheim,
2011, S. 146); vgl. auch die Familiennamen Bus, Busa (Rymut I, 1999, S. 64), oder
vom russischen dialektalen бус ,Sprühregen‘ (Даль I, 1998, S.145);
Вегертъ (A) – Wegert, Erweiterung von Weger mit sekundärem -t, also einem
Herkunftsnamen zu den Ortsnamen Weg, Wega, oder eine Variante von Wager,
Wäger, einem Amtsnamen zu mhd. wagener ,Wagner, Wagenmacher‘ (Kohlheim,
2011, S. 634, 642);
Винклеръ (A) – Winkler, 1) Ableitung auf -er von Winkel, also von einem
Wohnstättennamen zu mhd., mnd. winkel ,Winkel, Ecke‘ oder von einem Herkunftsnamen zu den Ortsnamen Wink(e)l, Winkeln, 2) niederdeutscher Berufsname
für den Kleinhändler, den Inhaber eines Kramladens (Kohlheim, 2011, S. 662);
Гаесъ (W) – 1) Geiss, Geiß – Übernamen zu mhd. geiȥ ,Ziege‘ für den Ziegenhirt
(Kohlheim, 2011, S. 242); 2) Geis – aus Giso, einer Kurzform von Namen, die mit
dem Namenwort gīsal gebildet sind, entstandener Familienname oder Schreibvariante von Geiss (Kohlheim, 2011, S. 241);
Галлеръ (A)
1) Galler, a) patronymische Bildung auf -er zu dem Heiligennamen Gallus,
b) Herkunftsname: aus St. Gallen bzw. aus Gall, Galla, Gallau,
c) Übername für eine Person, die dem Kloster St. Gallen zinspflichtig war
(Kohlheim, 2011, S. 237); Rymut weist auch auf das polnische Wort galera
,Galeere‘ hin (Rymut I, 1999, S. 214);
313
2)
Haller, a) Ableitung auf -er von dem Herkunftsnamen Hall oder dem
Herkunfts- und Wohnstättennamen Halle, b) Übername zu mhd. haller,
heller ,die Münze Heller‘, c) Herkunftsname zu dem Ortsnamen Haller
(Kohlheim, 2011, S. 274);
Ганъ (A)
1) Hann, aus einer verkürzten Form des Namens Johannes entstandener
Familienname (Kohlheim, 2011, S. 276);
2) Hahn, a) Übername zu mhd. han(e) ,Hahn‘ für einen stolzen
Menschen,
2) von einer verkürzten Form des Vornamens Johannes, 3) Hausname,
4) Herkunftsname zu den Ortsnamen Hahn, Hain usw. (Kohlheim, 2011,
S. 273);
Гартiеръ (A) – Harter, wahrscheinlich Ableitung auf -er zu Hardt:
1) Wohnstättenname zu mhd., mnd. hart ,Wald, Trift‘, 2) Herkunftsname
zu Ortsnamen wie Haard, Hardt und anderen (Kohlheim, 2011,
S. 277-278); vielleicht ist aber der Familienname slawischer Herkunft,
von gart-, z.B. polnisch dialektal ogartać ,aufräumen‘, oder russisch
dialektal гарть ,Bleilegierung‘ (Даль I, 1998, S. 345);
Гауеръ (А), Гауэръ (A)
1) Gauer, a) Standesname zu fnhd. gauer ,Landmann‘, b) Herkunftsname zu
Ortsnamen Gauern, Gauers usw. (Kohlheim, 2011, S. 239);
2) Hauer – Berufsname zu mhd. houwer ,Hauer, Holzfäller, Rebhauer,
Erzhauer im Bergwerk‘ oder zu mhd. höuwer, houwer ,Mäher‘ (Kohlheim,
2011, S. 280);
Гейле (A), Геле (A)
1) Gehle, a) Übername zu mhd. gël, mnd. gēl ,gelb‘ nach der Haarfarbe, b)
Herkunftsname zu dem Ortsnamen Geel, c) metronymischer
Familienname zu Gele, einer niederdeutschen Kurzform von Gertrud
(Kohlheim, 2011, S. 240);
2) Geile, vielleicht eine Form von Geil, Übername zu mhd. geil ,mutwillig,
fröhlich‘, mnd. geil ,kräftig, munter‘ (Kohlheim, 2011, S. 241);
3) Heile, a) aus dem alten deutschen Rufnamen Heilo (heil) oder aus einer
Koseform von Heinrich entstandener Familienname; b) Übername zu
mhd. heil ,gesund, heil‘, mhd. heil ,Gesundheit, Glück‘ (Kohlheim, 2011, S. 285);
4) Hehle, vielleicht eine Form von Hehl, a) Übername zu mhd. hœle,
verhohlen, verborgen; glatt, schlüpfrig‘, b) Übername zu mnd. hēl ,heil,
gesund, genesen‘ (Kohlheim, 2011, S. 283);
Гертъ (W)
1) Gert(h), aus einer durch Zusammenziehung entstandenen Kurzform von
dem Rufnamen Gerhard hervorgegangener Familienname (Kohlheim,
2011, S. 246);
2) Herdt, a) Übername zu mhd. herte ,hart, grob, ausdauernd‘, mnd. hart,
hert ,hart, fest‘ b) von einer Kurzform von Rufnamen, die mit dem
Namenwort harti gebildet sind, z.B. Hertwig, c) Wohnstättenname
314
zu mhd. hërt ,Herd, Haus, Wohnung‘, mnd., mhd. hert ,Herd, Feuerstelle;
Vogelherd‘ (Kohlheim, 2011, S. 292);
Герчуновскiй (W); vielleicht kann dieser Familienname mit dem Personennamen
Herz, Hertz verbunden sein; dieser vom Appellativum Herz, vgl. polnische
Familiennamen Herczuszki, Herczyński (Rymut I, 1999, S. 303), es kann aber
auch eine Ableitung von dem Namen Gerhard sein, vgl. z.B. Geers, Gehrs, Gerth
(Kohlheim, 2011, S. 244, 246); mit dem Suffix -sk-;
Гессъ (А)
1) Hess, Heß, a) Herkunftsname zu dem Stammesnamen der Hessen oder
Übername für jemanden, der irgendwelche Beziehungen zu Hessen hatte,
b) vom alten deutschen Rufnamen Hesso, dem der Stammesname
zugrunde liegt, c) Herkunftsname zu dem Ortsnamen Hessen (Kohlheim,
2011, S. 294);
2)
Hieß, wenig wahrscheinlich, aber auch möglich: von einer verkürzten
Form des Rufnamens Matthias (Kohlheim, 2011, S. 296);
Гиллеръ (A) –
1) Hiller, a) patronymische oder metronymische Bildung auf -er zu Hill(e),
einer durch Assimilation entstandenen Variante von Hild, b) entrundete
Form von Hüller, siehe unten (Kohlheim, 2011, S. 296-297);
2) Hüller, a) Berufsname zu mhd. hülle ,Mantel‘, mnd. hulle ,Kopfbedeckung,
Mütze‘ für den Hersteller, b) Wohnstättenname zu mhd. hülwe, hüll
,Pfütze, Pfuhl, Sumpflache‘ für jemanden, der neben einer solchen Stelle
wohnte, c) Herkunftsname zu dem Ortsnamen Hüls (Kohlheim, 2011, S. 309);
3) nach der Meinung von K. Rymut kann der Familienname mit dem
Vornamen Hilary einen Zusammenhang haben, vgl. auch den polnischen
Familiennamen Giller (Rymut I, 1999, S. 307);
Глясенко (A); wahrscheinlich kommt der Name vom russischen гласить
,sprechen‘ (Даль I, 1998, S. 355), eventuell kann er mit dem deutschen
Personennamen Glas verbunden sein, der vom Appellativum Glas kommt,
vgl. den polnischen Familiennamen Glaseniak (Rymut I, 1999, S. 237); nach
Kohlheim (2011, S. 249) ist Glas ein Berufsübername zu mhd. glas ,Glas, Trinkglas,
Glasgefäß; Fensterscheibe, Spiegelglas‘ für den Glaser oder ein aus einer verkürzten
Form von Nikolaus entstandener Familienname; mit dem für die ukrainische
Anthroponymie typischen Suffix -enko;
Грумондзъ (А), Грумондтъ (A); wahrscheinlich ist diese Form mit dem
Personennamen Grum verbunden, dieser von mhd. grume ,großer Schmerz‘, vgl.
die polnischen Familiennamen Gruman, Grumel (Rymut I, 1999, S. 272), oder mit
dem polnischen Appellativum gromada ,Schar‘, vgl. den Namen Gromadza (Rymut
I, 1999, S. 270);
Дорнштейнъ (A) – Dornstein, den Namen sollte man mit den Appellativen Dorn
und Stein verbinden; Dorn ist laut Kohlheim (2011, S. 176-177) ein Herkunfts-, ein
Wohnstätten- oder ein Übername (für einen ,stacheligen‘ Menschen). Дорнштейнъ
kann auch ein Herkunftsname sein;
315
Зайберъ (A); nach Rymut kann der Name einen Zusammenhang mit dem
deutschen Personennamen Schauber haben, der vom Appellativum Schaub
,Strohbund‘ kommt, oder mit dem Namen Scheiber, dieser von mhd. Schiber
,Kegler‘, vgl. den Familiennamen Zajber (Rymut II, 2001, S. 518); es gibt
einen Familiennamen Seibert, der aus einer jüngeren Form des Rufnamens Siegbert
entstanden ist (Kohlheim, 2011, S. 559);
Зингеръ (W); Berufsname oder Übername zu mhd. singære ,Sänger, lyrischer
Dichter‘ oder Herkunftsname auf -er zu dem Ortsnamen Singen (Kohlheim, 2011,
S. 570);
Кейлингъ (A); der Name kann mit Kehl oder Keil verbunden sein: 1) Kehl –
Herkunftsname zu dem gleichlautenden Ortsnamen oder Wohnstättennamen
nach einem Flurnamen zu mhd. kël(e) ,Kehle, Hals‘, mnd. kele ,Kehle‘, 2) Keil –
Übername zu mhd. kīl ,Keil, Pflock‘, fnhd. keil ,Keil, Grobian‘ (Kohlheim, 2011, S. 335),
vgl. auch den Namen Kajlich, von den Namen auf Geil- (Rymut I, 1999, S. 366);
Келеръ (A) – Keller, 1) Amtsname zu mhd. këller ,Kellermeister‘, 2) Wohnstättenname zu mhd. këller ,Keller, Kaufladen‘ für eine Person, die in einem Haus mit
einem Keller wohnte, 3) Herkunftsname zu dem Ortsnamen Keller (Kohlheim,
2011, S. 336); es ist nicht ausgeschlossen, dass der Name mit dem deutschen Kehl
verbunden ist, s. den Familiennamen Кейлингъ;
Клейеръ (A); vielleicht mit Klei verbunden, einer verkürzten Form des Vornamens
Nikolaus, oder mit Kleie: 1) Wohnstättenname zu mnd. klei ,die schwere, fette Erde
der Marschen‘, 2) Herkunftsname zum Ortsnamen Kley (Kohlheim, 2011, S. 344);
Кобро (A); wahrscheinlich eine Form von Kober: 1) Berufsname zu mhd.
kober ,Korb, Tasche‘ für einen Korbmacher, 2) Übername zu mhd. kober ,eifrig,
kampflustig‘ (Kohlheim, 2011, S. 351), vgl. auch die Namen Kober, Kobera,
Kobier (Rymut I, 1999, S. 419), im Altpolnischen war das Wort kobierz ,Teppich‘
gebräuchlich (Rymut I, 1999, S. 419); der Name kann aber auch mit dem russischen
dialektalen Wort кобрить ,verstecken, verbergen‘ verbunden sein (Даль II, 1998,
S. 127);
Кѣтура (A); nach Rymut stammt der Name von dem polnischen kieta ‘Kette’, vgl.
den Familiennamen Kietura (Rymut I, 1999, S. 398); meiner Meinung nach ist das
mit dem deutschen Wort Kette verbunden, obwohl es auch andere Möglichkeiten
gibt, z.B. *Кетура, von russisch dialektal кетовать ,etwas mit den Händen
reichen / übergeben‘ (Даль II, 1998, S. 106);
Маубергъ (А); wahrscheinlich kommt der Name von einem Ortsnamen, vielleicht
ist er auch mit den Worten Mau a) mhd., mnd. mouwe ,Ärmel‘, b) mhd. mūwe
,Beschwerde, Mühe, Last, Not‘ (Kohlheim, 2011, S. 410) und Berg verbunden;
Мейоранъ (A); der Name kann von dem Namen der Pflanze kommen, z.B. deutsch
Majoran, polnisch majeran, majoran, heute majeranek, vgl. die polnischen Familiennamen Majeron, Majoran, Mejran (Rymut II, 2001, S. 56), aber es ist nicht
ausgeschlossen, dass das ein Standesname ist, von Meier;
Ментель (A) – Mäntel, Mentel, eine Form von Mantel, Berufsname zu mhd.,
mnd. mantel, mandel ,Mantel als Kleidungsstück für Männer und Frauen oder für
einen Schneider‘; weniger wahrscheinlich: Herkunftsname zu dem Ortsnamen
316
Mantel, Wohnstättenname zu mhd. mantel ,Föhre‘, ,wohnhaft an einem Föhrenwald‘
(Kohlheim, 2011, S. 405), vgl. auch den polnischen Familiennamen Mentel (Rymut
II, 2001, S. 65);
Минкельдей (А); wahrscheinlich Übername zu mnd. munkelen ,heimlich
besprechen oder tun‘, mhd. munkel ,heimlicher Streich, vertrauliche Unterhaltung‘,
vgl. Munkel, Münkel (Kohlheim, 2011, S. 429) oder Übername zu mhd. munkel
,Mücke‘ für einen lästigen Menschen (Kohlheim, 2011, S. 429); vielleicht auch mit
Mink verbundener Name, der eine durch Entrundung entstandene Form von Münk
,Mönch‘ ist, oder mit dem Berufsnamen zu niedersorbisch młynik, obersorbisch
młynk ,Müller‘ (Kohlheim, 2011, S. 422); der zweite Teil ist unklar;
Пацеръ (A) – Patzer, patronymische Bildung auf -er zu Patz, einer Koseform
des alten Rufnamens Pazzo, eventuell Herkunftsname zu dem Ortsnamen Patzau
(Kohlheim, 2011, S. 455); nach Rymut kann der Name auch mit dem polnischen
pacer ,Frechling‘ oder mit einer Form des Vornamens Paul verbunden sein (Rymut
II, 2001, S. 195);
Пульстъ (А); vielleicht 1) Herkunftsname zu Ortsnamen wie Puls, Pulsitz, 2)
Berufsübername zu mnd. puls, mhd. phulse ,Stange mit einem Holzklotz, um
Fische ins Netz zu treiben‘, 3) Berufsübername zu mnd. puls ,Aderschlag‘,
übertragen ,das Anschlagen der Glocken‘ für einen Glöckner (Kohlheim, 2011,
S. 474), vgl. auch polnisch puls ,Puls‘ (Rymut II, 2001, S. 321);
Рамъ (A)
1) Rahm, a) Berufsübername zu mhd. ram(e), mnd. rame ,Rahmen zum
Sticken, Weben, Bortenwirken‘ für den Hersteller oder Benutzer,
b) Berufsübername zu mhd., mnd. rām ,Ruß, Metallstaub‘ für einen
Kohler oder Schmied oder Übername für einen schwarzhaarigen
Menschen, c) Berufsübername zu mhd. roum, rām, mnd. rōm ,Milchrahm‘
für den Käsemacher, 4) Herkunftsname zu dem Ortsnamen Rahm
(Kohlheim, 2011, S. 479);
2) Ramm, a) Übername zu mhd. ram ,Widder, Schafbock‘, 2) Herkunftsname
zu dem gleichlautenden Ortsnamen (Kohlheim, 2011, S. 480);
3) vielleicht slawischer Herkunft: von der Form eines russischen Vornamens
Рам ← Абрам, Арам (Суперанская, 2010, S. 267) oder vom ram-,
z.B. polnisch rama ,Rahmen‘ (Rymut II, 2001, S. 337);
Редеръ (A)
1) Reder, a) von einer verschliffenen Form der alten deutschen Rufnamen
Ratheri, Retheri, b) Berufsname zu mhd. rëder ,Mehlsieber, Mühlknecht‘,
c) niederdeutscher Berufsname zu mnd. reder ,Ausrüster, Reeder‘,
d) Übername oder Amtsname zu mhd. redœre, redenœre ,Redner,
Schwätzer; Verteidiger‘ (Kohlheim, 2011, S. 485);
2) Räder, a) Berufsname zu mhd. rat ,Wagenrad‘ für den Hersteller,
b) Herkunftsname zu den Ortsnamen Rade, Radevormwald, c) Übername
zu mnd. rader ,Berater‘ (Kohlheim, 2011, S. 478);
Реутъ (A); der Familienname kann russischer Herkunft sein: russisch veraltet
реутъ ,Glocke‘ (Даль IV, 1998, S. 89), oder deutscher: Herkunftsname zu
317
Ortsnamen Reut, Reuth (Kohlheim, 2011, S. 495) oder von dem Wort Reute (Piprek,
Ippoldt II, 1994, S. 316);
Реутовъ (A); siehe oben Реутъ; mit dem russischen Suffix -ov;
Риль (A)
1) Riehl, a) Herkunftsname zu dem gleichlautenden Ortsnamen, b) durch
Entrundung entstandene Form von Rühl, s. unten (Kohlheim, 2011, S. 498);
2) Rill, a) ein aus Rudilo, einer Koseform von Rufnamen, die mit dem
Namenwort hruod (z.B. Rudolf) gebildet sind, entstandener
Familienname, b) Herkunftsname zu dem gleichlautenden Ortsnamen
(Kohlheim, 2011, S. 499);
3) Rühl, a) aus einer Koseform von Rufnamen, die mit dem Namenwort
hruod gebildet sind, entstandener Familienname, b) Herkunftsname zu
dem gleichlautenden Ortsnamen (Kohlheim, 2011, S. 513);
4) möglich ist auch eine slawische Herkunft, z.B. von dem weißrussischen
pыль ,Rüssel‘ (Бірыла, 1969, S. 357);
Рындя (A); der Name kann sowohl slawischer als auch deutscher Herkunft sein,
vgl. z.B. altrussisch рында ,Knappe‘, siehe auch den russischen Familiennamen
Рындин (Унбегаун, 1995, S. 100), aber möglicherweise auch vom deutschen Rind,
mhd. rint, vgl. die polnischen Familiennamen Ryńda, Ryndziak, Ryndzio (Rymut II,
2001, S. 378);
Сигель (W) – Siegel, 1) von einer mit -l- Suffix gebildeten Koseform von
Rufnamen, die das Namenwort sigu enthalten, z.B. Siegfried, 2) Berufsübername zu
mhd. sigel ,Siegel, Stempel‘ für den Siegelhersteller oder für den Siegler von Waren
(Kohlheim, 2011, S. 566);
Сонисъ (А) – der Name kann russischer Herkunft sein, z.B. vom Rufnamen
Сон ← Самсон; Соник ← Самсон, Ясон; Соно ← Самсон, Сасоний vorkommen
(Суперанская, 2010, S. 296), vom russischen cонъ ,Schlaf ‘ (Даль IV, 1998, S. 270),
russisch dialektal соня ,sibirisches Nagetier‘ (Даль IV, 1998, S. 270); er kann aber
auch deutscher Herkunft sein, z.B. von Sohn, Schon-, vgl. auch die polnischen
Familiennamen Sonia, Sonik u. a. (Rymut II, 2001, S. 462);
Страухъ (A); 1) Wohnstättenname zu mhd. strūch ,Strauch, Gesträuch‘, 2)
Herkunftsname zu dem gleichlautenden Ortsnamen (Kohlheim, 2011,S. 594); im
polnischen Familiennamensystem gibt es die Formen Strauch, Sztrauch (Rymut II,
2001, S. 491);
Тхоръ (W); vielleicht kann man den Namen mit dem deutschen Wort Tor oder
mit dem Vornamen Thor verbinden, aber eine ostslawische Herkunft ist nicht
ausgeschlossen, vgl. den weißrussischen Familiennamen Тхор (Бірыла, 1969,
S. 419) von dem Appellativum тхор ,Iltis‘; im Ukrainischen тхір, тхора ,Iltis‘
(Гринченко IV, 1909, S. 298);
Тышъ (A) – der Familienname kann slawischer Herkunft sein, z.B. vom
russischen Rufnamen Тыш ← Мартын, Ортисий (Суперанская, 2010, S. 318);
man kann aber nicht ausschließen, dass der Name deutscher Herkunft ist und z.B.
von dem Wort Tisch herkommt;
318
Фаньковскiй (W); vielleicht mit dem ukrainischen Фанько, einer Form des
Vornamens Агафангел (Трійняк, 2005, S. 20) oder mit der russischen Form
Фанька verbunden, die von dem Namen Фаина abgeleitet wurde (Суперанская,
2010, S. 325); möglich sind auch andere Erklärungen: von dem Vornamen Stefan oder von einem deutschen Personennamen Pfan (Rymut II, 2001, S. 186),
vielleicht mit deutsch Pfann(e) verbunden, dann ist das ein Berufsübername zu mhd.
phanne ,Pfanne‘ für den Hersteller oder den Benutzer, oder ein Wohnstättenname
,wohnhaft an einem pfannenartigen Gelände‘ (Kohlheim, 2011, S. 461); die
Polonisierung mit Hilfe des Suffixes -(ow)sk-;
Фенглеръ (A), Финглеръ (A) – Fengler, 1) im deutsch-slawischen Kontaktgebiet
Schlesiens entstandener Berufsname zu polnisch węgiel ,Kohle‘ für den Köhler, 2)
Wohnstättenname zu dem im deutsch-slawischen Kontaktgebiet vorkommenden
Flurnamen Fangel, 3) Herkunftsname zu dem Ortsnamen Wengeln (Kohlheim,
2011, S. 216);
Фенъ (W); slawisch, vom russischen Rufnamen Фен ← Феона, Фенгон und
anderen (Суреранская, 2010, S. 329), oder deutsch: Fenn, 1) Nebenform von
Fehn, von mhd. vende ,Knabe; Fußkrieger; Bauer im Schachspiel‘, 2) eine Form
von Venne, eines niederdeutschen Wohnstättennamens zu mnd. ven ,Sumpfland,
Torfmoor‘ oder mnd. venne ,moorige Weide‘; bzw. Herkunftsname zu den Ortsnamen Venn, Venne (Kohlheim, 2011, S. 213, 216, 625);
Фиксенъ (A); der Name slawischer Herkunft, vom polnischen umgangssprachlichen fiksować ,verrückt werden‘, lateinisch fixus ,stabil, unveränderlich‘ vgl. die
polnischen Familiennamen Fiks, Fiksak (Rymut I, 1999, S. 193); oder deutscher
Herkunft, vgl. die Namen Feix, Fix vom Rufnamen Veit(h) oder Amtsnamen zu
mhd. voit, Verteidiger, Rechtsbeistand‘ (Kohlheim, 2011, S. 222, 625);
Фрей (A) – Frei, 1) Standesname, der meist auf Freiheit von der Leibeigenschaft
hindeutet, 2) Übername zu mhd. vrī, ,unbekümmert, sorglos, froh, ausgelassen‘
nach der Wesensart des ersten Namensträgers (Kohlheim, 2011, S. 229); vgl. auch
die polnischen Familiennamen Frai, Frej, Frei (Rymut I, 1999, S. 200);
Швабе (A); 1) Herkunftsname (Stammesname) zu mhd. Swāp, Swāb(e) ,Schwabe‘,
2) Übername für jemanden, der Beziehungen zu Schwaben hatte (Kohlheim, 2011,
S. 553);
Шваръ (A); der Name unklarer Herkunft, vielleicht slawischer, vgl. polnisch swar
,Streit; Lärm‘, s. den Familiennamen Szwar (Rymut II, 2001, S. 511), oder deutscher,
mit mnd. swar ,schwer; gefährlich; bedrückt‘ verbunden (Kohlheim, 2011, S. 555);
Шиллеръ (А)
1) Schiller, a) Übername zu mhd. schilhen, schillen ,schielen‘, mhd. schilher
,Schieler‘, b) nach Kohlheim kann der Name im niederdeutschen Raum
auf eine verschliffene Form von mnd. schilder ,Schildmacher, Maler‘
zurückgehen (Kohlheim, 2011, S. 532);
2) Schüller, siehe unten den Namen Шуллеръ;
3) Szyller, den Namen kann man auch mit dem polnischen szyler ,schlechte
Weinsorte‘ verbinden (Rymut II, 2001, S. 567);
319
Шпота (A) – vom altpolnischen szpot ,Knoten am Bein eines Pferdes‘ oder mit
dem deutschen Personennamen Spott verbunden, dieser von mhd. spot ,Spott‘,
vgl. auch die polnischen Familiennamen Szpot, Szpotak (Rymut II, 2001, S. 551);
Шуллеръ (A) – Schuller, 1) Standesname oder Übername zu mhd. schuolœre,
schüolœre, Schüler, Student‘, siehe auch den Familiennamen Schüller (Kohlheim,
2011, S. 551), 2) vom polnischen szuler, Betrüger‘ (Rymut II; 2001, S. 558).
3. In diesem Artikel habe ich das gesammelte Material in 5 Familiennamengruppen eingeteilt, aber eine genaue Zuordnung ist oft nicht möglich, denn
viele Namen lassen sich nicht eindeutig klassifizieren.
3.1. In vielen Fällen kann der Familienname im Allgemeinen deutscher Herkunft
sein, aber von verschiedenen deutschen Dialektformen und verschiedenen
Stämmen abgeleitet werden. Die anderen Namen können sowohl als deutsche als
auch als slawische bezeichnet werden; beide etymologischen Erklärungen sind
möglich. Es gibt auch eine Reihe von so genannten hybriden Familiennamen, bei
denen ein Teil (z.B. der Stamm) deutscher Herkunft ist und ein anderer (z.B. das
Suffix) slawischer Herkunft ist.
3.2. Die Vielfalt der Familiennamen und die Probleme mit ihrer eindeutigen
Klassifikation sind das Ergebnis der Geschichte des Gebietes von Ostkujawien, wo
verschiedene Kulturen und Völker nebeneinander bestanden haben. Außerdem
spielte die russische Verwaltung eine wichtige Rolle, weil deutsche Familiennamen
mithilfe der kyrillischen Schrift geschrieben wurden. Das hat zur Folge, dass ein
Teil der Familiennamen etymologisch unklar ist.
3.3 Alles in allem kann man zusammenfassen, dass bei der Familiennamenanalyse
verschiedene sprachliche und außersprachliche Faktoren berücksichtigt werden
sollten, z.B. die Sprachgeschichte, Mundarten, Sprachkontakte, die Geschichte des
Staates.
Abstract
The object of this paper are the surnames of German origin in the registry books
of orthodox parishes of East Cuyavia at the turn of 19th and 20th century. They are
a small group, because the East Slavonic surnames dominate in the registry books.
The surnames were written in the cyrillic alphabet, therefore it was difficult to
specify without doubt the etymology of the names. Furthermore, there were also
hybrid names, which are a symptom of the coexistence of East Cuyavia at the time.
Keywords
anthroponymy, surnames of German origin, Cuyavia region, Orthodox parishes
320
Quellenverzeichnis
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321
322
Zur Begrifflichkeit und sprachlichen Erfassung
von ‚Herrschaft‘ als einer der zentralen konzeptuellen
Domänen der historiographischen Werke des Mittelalters
Vlastimil Brom
Annotation
Anhand ausgewählter vor allem deutschsprachiger historiographischer Texte
des Hoch- und Spätmittelalters werden die Strategien der Versprachlichung von
‚Herrschaft‘ untersucht. Berücksichtigt werden einerseits die frühe volkssprachliche
Produktion des 13. Jh.s (Sächsische Weltchronik), andererseits spätere Werke
des 14.–15. Jh.s, die durch Provenienz in den böhmischen Ländern bzw. durch
entsprechende thematische Ausrichtung gekennzeichnet sind, teilweise mit
Einbeziehung von anderssprachigen Vorlagen oder Parallelfassungen (Textkomplexe der Dalimil-Chronik (mit dem vorangestellten annalistischen Abriss),
Pulkava-Chronik und Vita Caroli). Dadurch wird die zentrale Rolle von ‚Herrschaft‘
in dieser Gattung dargelegt, wobei zugleich der Einsatz relativ unterschiedlicher
sprachlich-formulatorischer Mittel beobachtet werden kann.
Schlüsselwörter
Historiographie, Mittelalter, historische Semantik, Herrschaft, Sprache der Politik
1. Stellenwert von ‚Herrschaft‘ in den historiographischen Werken
Die inhaltlichen Bereiche der Herrschaft und Machtausübung gehören aus nahe
liegenden Gründen zu zentralen thematischen Feldern der auf die politische
Entwicklung konzentrierten Geschichtsschreibung. Für die Epoche des Mittelalters
und teilweise der Frühen Neuzeit ist dies insbesondere in den Textgattungen mit
einer größeren Spannbreite der erfassten Geschichte deutlich, z.B. in Welt- oder
Landeschroniken, oder aber in konkreten Darstellungen der einzelnen Herrscherfiguren. Die sprachliche Ausformulierung, Stilisierung sowie ideologische
Perspektivierung bzw. Akzentuierung variiert in den einzelnen Werken beträchtlich,
wie es bei den unterschiedlichen Entstehungsbedingungen, den spezifischen Aufträgen
und gewiss auch den individuellen Kompetenzen der Autoren kaum anders zu
erwarten ist.
323
2. Quellengrundlage
In der aktuellen Forschung erfuhr unter anderem ein „Paradebeispiel“ der frühen
deutschsprachigen Universalchronistik Aufmerksamkeit – Meike Pfefferkorn hat
die Sächsische Weltchronik spezifisch im Hinblick auf die Versprachlichung der
Herrschaft analysiert (Pfefferkorn, 2014).
Es bietet sich hier eine Art Kontrastdarstellung an, bei der etwas spätere historiographische Werke böhmischer Provenienz zum Vergleich herangezogen würden;
diese stammen aus dem 14. bzw. 15. Jh. und wurden zumindest ansatzweise mit
ähnlichen Fragestellungen untersucht (vgl. Brom, 2015, S. 53-58).
Es handelt sich zuerst um die Alttschechische Reimchronik des so genannten
Dalimil (Daňhelka et al. (Hg.), 1988) mit ihrer deutschen Reimübersetzung, die
sogenannte Tutsch kronik von Behem lant, überliefert zusammen mit knappen
historischen Annalen, dem sogenannten Abriss (vgl. Brom (Hg.), 2009); von der
Dalimil-Chronik ist auch eine fragmentarische lateinische Prosa-Übersetzung
bekannt und darüber hinaus eine weitere eigenständige Übersetzung ins Deutsche
in Prosa (Jireček (Hg.), 1878).
Ferner geht es um die lateinische Pulkava-Chronik (Emler und Gebauer (Hg.),
1893; Blaschka (Hg.), 1934), konzipiert als eine offizielle chronikalische Darstellung
der böhmischen Herrschaftsdomäne Karls IV. Dieses zunächst vielfach
umgearbeitete und relativ breit überlieferte Werk erfuhr eine wahrscheinlich
zeitgenössische Übersetzung ins Alttschechische und zwei voneinander unabhängige Übersetzungen ins Deutsche (vgl. Brom (Hg.), 2011; Brom, 2010, S. 7-9).1
Trotz gattungsgeschichtlicher Spezifika und komplexer Gattungszugehörigkeit
(vgl. Völkel, 2006, S. 120-123) und entsprechender viel engerer zeitlicher Abgrenzung
der Darstellung wird diesen Chroniken noch die Autobiographie Karls IV. Vita
Caroli zur Seite gestellt (Emler (Hg.), 1882; vgl. Brom, 2012, S. 271), die im Hinblick auf Entstehungsbedingungen, Inhalt, die ideologische Ausprägung und nicht
zuletzt auch die Überlieferungsumstände eng mit der Pulkava-Chronik zusammenhängt (vgl. Bláhová, 2016, S. 72).
3. Gemeinsame Merkmale und Eigentümlichkeiten der Werke
im Hinblick auf die Forschungsfrage
Bei dem angestrebten exemplarischen Vergleich dieser Texte mit der deutlich
früheren und auch geographisch etwas entfernten Sächsischen Weltchronik,
die gerade im Hinblick auf die Problematik der Herrschaft untersucht wurde
1 Hier wird die vollständig überlieferte deutsche Übersetzung in der bairischen Fassung benutzt (Hs. Cgm 1112 der
Bayerischen Staatsbibliothek München), in der früher besorgten Online-Transkription (Brom, 2011).
324
(Pfefferkorn, 2014), gilt es zunächst die Vergleichsgrundlage und die Relevanz
der bestehenden Gemeinsamkeiten bzw. Parallelen und Unterschiede abzuwägen.
Gemeinsam ist den genannten Chroniken die längere erfasste Zeitspanne der
dargestellten Geschichte (von den biblischen Ursprüngen – Schöpfung der
Welt bzw. die biblische Sintflut – bis hin zur jeweiligen Gegenwart oder nahen
Vergangenheit vor der Abfassungszeit) und ferner die Akzentuierung der
politischen Gegebenheiten – in landes- bzw. reichsweiter Perspektive. Zu bemerken
ist eine allgemeine stufenweise Verlagerung der Schwerpunkte von den Konzepten
der Universal- bzw. Reichsgeschichte zur historiographischen Darstellung des
„unmittelbaren Lebensraumes“ (Janota, 2004, S. 245), wie etwa des Landes, der
Stadt, des Klosters usw. (vgl. auch Pfefferkorn, 2014, S. 39)
Die literarische Form der Werke ist unterschiedlich: Die ältere deutsche
Dalimil-Übersetzung und die mit ihr zusammenhängenden Annalen sind gereimt,
die restlichen untersuchten Texte sind in Prosa-Form (einschließlich der jüngeren
Dalimil-Verdeutschung). Auch diese Verteilung entspricht dem zeitgenössischen
Aufstieg der Prosachronistik (Janota, 2004, S. 391) auf Kosten der Reimwerke.
Der Unterschied in der üblichen Gattungsdifferenzierung (Universal- bzw. Welt- vs.
Landeschronik) sollte für die gewählte Perspektive wohl nicht überschätzt werden;
die primäre Aufmerksamkeit der Chronisten gilt selbst bei der Universalchronik
im Hinblick auf die konkreten politischen Verhältnisse den engeren Herrschaftsgebieten der römischen Könige bzw. Kaiser. Es ist hier jedoch eine viel komplexere
Einrahmung in die antiken bzw. biblischen Traditionen sowie die Einbettung in
den heilsgeschichtlichen Kontext zu verzeichnen (Pfefferkorn, 2014, S. 16).
Die Vita Caroli zeigt naturgemäß eine engere erfasste Zeitspanne (junge Jahre
des Herrschers bis zu seiner (ersten) Krönung zum römischen König 1346).
Neben den stark akzentuierten politischen Aspekten (in den biographischen und
historischen Angaben, aber auch in manchen den Fürstenspiegeln nahen
Abschnitten) gibt es auch andere Dimensionen des Werkes. Vor allem sind es
religiös geprägte Passagen, die Homiletik bzw. Visionen und Reflexionen
enthalten. Einige Kapitel sowie kürzere Teile mit dieser Ausrichtung wurden
jedoch in der deutschen Übersetzung weggelassen, wodurch die historisch-politische
Akzentuierung verdeutlicht wurde; jedenfalls galt das für die einzige bekannte
handschriftliche Quelle, die jetzt verlorene Hs. R 304 der Stadtbibliothek Breslau
(heute Universitätsbibliothek Wrocław), in der die deutsche Fassung der Autobiographie als Fortsetzung der Pulkava-Chronik (in ihrer ostmitteldeutschen
Übersetzung) aufgeschrieben wurde (vgl. Bláhová, 2016, S. 72).
325
3.1. Aspekte der Übersetzung
Eine gewissermaßen ambivalente Frage stellt die Unterscheidung nach inhaltlicher
bzw. formulatorischer Originalität dar, d.h. zwischen mehr oder weniger
eigenständig konzipierten Werken und Kompilationen bzw. Übersetzungen
unterschiedlicher Art. Da die faktographischen Angaben historischer Natur
generell auf frühere Quellen zurückgehen, ist der kompilative Charakter für manche
mittelalterliche Chroniken charakteristisch, vor allem wo gleichartige Quellen
verwertet wurden (etwa ältere Chroniken, Annalen, u.ä.).
Die behandelten deutschen Fassungen der böhmischen historiographischen Werke
lassen sich ohne Weiteres als Übersetzungen bezeichnen; sie weisen nur minimale
inhaltlich relevante Erweiterungen oder Änderungen auf, die auf andere Wurzeln
als die Originalwerke zurückzuführen wären. Es können hingegen stellenweise
Modifikationen in der Akzentuierung, Wertung oder formalen Gestaltung
sowie einige Auslassungen identifiziert werden, die auf individuelle bzw. durch
Auftrag oder das anzunehmende Zielpublikum bedingte Intentionen der
Übersetzer schließen lassen. Die Sächsische Weltchronik wird hingegen als
selbstständiges Werk betrachtet; sie ist in ihrer Konzeption sowie ihrer formulatorischen Gestaltung viel eigenständiger, obwohl natürlich auch hier Vorlagen bzw.
Quellen nachgewiesen sind (s.u.).
Im Weiteren wird jedenfalls von der Prämisse ausgegangen, dass auch die
Übersetzungswerke von den meisten Benutzern als eigenständige Texte wahrgenommen werden, so dass diese als Quellen für allgemeine, rezipientenorientierte
Fragestellungen dienen können. Eine bewusste Bezugnahme auf Originalvorlagen
neben Übersetzungen ist hingegen bei der primären Textverwendung eher als
eine Ausnahme anzusehen; solche mehrsprachigen Textkomplexe stellen dabei
wertvolle Quellen für die auf die Textproduktion ausgerichteten Untersuchungen
dar, z.B. auf die (zeitgenössisch wahrgenommenen) zwischensprachlichen
Äquivalenzen.
4. ‚Herrschaft‘ in der Sächsischen Weltchronik
Die Sächsische Weltchronik gilt als die erste deutschsprachige Prosaweltchronik,
sie ist wahrscheinlich um 1225 entstanden; ihre unmittelbaren Fortsetzungen
und Umarbeitungen reichen bis in die 1260er Jahre (unterschieden werden dabei
6 Rezensionen). Die Form und Struktur des Werkes entspricht weitgehend der
Tradition der lateinischen Universalchronistik (Pfefferkorn, 2014, S. 14-15). Als
primäre Quellen gelten die lateinische Weltchronik Frutolfs von Michelsberg
in der Bearbeitung Ekkehards von Aura und ferner die Pöhlder Annalen
(Pfefferkorn, 2014, S. 37-40).
326
Im Bereich der Herrschaft ist die Sächsische Weltchronik durch einen gewissermaßen erhöhten Abstraktionsgrad geprägt, wobei nominale Wendungen den
geradlinigen verbalen Formulierungen vorgezogen werden. Pfefferkorn spricht hier
zutreffend vom „Verschwinden“ des Verbs (in diesem Sachbereich) im Gegensatz
zur lateinischen Ausgangssprache:
„Aus dem Lateinischen ist uns die morphologische Trias rex –
regnum – regere für den Herrschaftsbereich vertraut. Eine
entsprechende, auf demselben Lexem basierende Gruppe für das
Mittelhochdeutsche stellt herscher – herschaft – herschen dar. Ein
Blick in die Texte zeigt jedoch bald, dass hieraus nur herschaft
sichtbar genutzt wird. Die anderen beiden Vokabeln finden kaum
Verwendung, es gibt auch kein Ersatzverb. Kurz gesagt: Das Verb
verschwindet. Soziolinguistisch ist besonders interessant, dass […]
grundsätzlich ein Verb aus dem Wortfeld ‚Herrschaft‘ zur Verfügung
stünde, nämlich richesen. Allerdings wird dieses Verb nicht benutzt.
Hier zeigt sich das Phänomen, dass eine Vokabel lexikalisch greifbar
ist, aber nicht zum Einsatz kommt, sondern sprachlich anders
verfahren wird.“ (Pfefferkorn, 2014, S. 13).
Mit diesem Merkmal hängt auch die relativ hohe Gebrauchshäufigkeit und die
semantische Differenziertheit von rike (rîche) zusammen, das in der Weltchronik
zu einem zentralen herrschaftspolitischen Terminus wird:
„Rike ist nicht nur ein politischer Terminus, mit dem Herrschaft
versprachlicht wird, sondern auch signifikant dafür, dass in der
S[ächsischen] W[eltchronik] Herrschaft nicht in der Person des
Königs verkörpert wird, sondern als abstraktes, personifiziertes, und
in gewisser Weise institutionalisiertes Subjekt, dem der Herrscher
als zentraler Handlungsträger zugeordnet ist.“ (Pfefferkorn, 2014,
S. 21-214).
Insgesamt haben sich aus den Analysen von Pfefferkorn vier bzw. fünf Typen von
rike ergeben: „rike, romisch rike, kunichrike, die personalen rike und das rike ze rom
[…]. Allen gemeinsam ist ein Grundbestand an Elementen, die zu rike gehören,
wie Raum, Herrscher und eine Gruppe von Personen […]“ (Pfefferkorn, 2014,
S. 213). Aus diesem Spektrum sind insbesondere die abstrakten bzw. personifizierten Verwendungsweisen von rike (ohne nähere Kennzeichnung) als Subjekt
interessant; anhand von diesen Wendungen ließe sich ggf. auf ein abstraktes, nicht
ausschließlich personengebundenes Verständnis von Herrschaft schließen; vgl.:
„Bl. 30v also verdarp daz rike an disem augustulo.“ (Pfefferkorn,
2014, S. 106, Anm. 442)
„Bl. 10v [...] also zergie daz rike der Persar und chom uf daz rike der
327
chriechen.“ (Pfefferkorn, 2014, S. 106, Anm. 443)
„475 Bl. 52r Disiu missehellunge under den herren waz groz do von
wart genideret romisch rike harte ser also daz ez sich nimmer mer
erholen mohte.“ (Pfefferkorn, 2014, S. 110, Anm. 475)2
Obwohl es sich hier um eine Art ersten Vorstoß im Bereich der deutschsprachigen
Historiographie in der Prosa-Form handelt (im Unterschied zu den höfischen
Reimchroniken, der Kaiserchronik, der Chronik Rudolfs von Ems oder der späteren
monumentalen Steirischen Reimchronik Ottokars aus der Gaal und anderen), fällt
in der Sächsischen Weltchronik ihre prägnante Ausdrucksweise auf, und in einigen
Aspekten auch eine elaborierte begrifflich-formulatorische Gestaltung (wobei dies
jedoch nicht zu vergleichen ist etwa mit der komplexen geschichtstheologischen
Grundlegung und ideologischen Raffiniertheit der lateinischen Chronik Ottos von
Freising ungefähr aus der Mitte des 12. Jh. (vgl. Völkel, 2006, S. 129; Pfefferkorn,
2014, S. 39)).
5. ‚Herrschaft‘ in ausgewählten böhmischen historiographischen
Texten der Luxemburgerzeit
Die knapp vorgestellten charakteristischen Merkmale der Sächsischen Weltchronik
im Hinblick auf die Versprachlichung von Herrschaft werden in weiteren
Überlegungen als eine Art Folie zum illustrativen Vergleich der Erfassung und
Repräsentation dieses Bereichs in den eingangs vorgestellten historiographischen
Werken des 14. bzw. 15. Jh.s aus dem böhmischen Raum herangezogen.
5.1. Die Mittelhochdeutsche Begriffsdatenbank (MhdBDB)
Für die semantische Auswertung der deutschen Texte wird im Anschluss an frühere
Arbeiten auf die Mittelhochdeutsche Begriffsdatenbank (MhdBDB in URL 1)
zurückgegriffen; die deutschen Fassungen der betreffenden böhmischen
Chroniken und der Autobiographie stehen nach der notwendigen Erfassung
einschließlich Lemmatisierung und Disambiguierung in der Datenbank zur
Verfügung.3 Nach einer Identifizierung von dominanten semantischen Bereichen
in der untersuchten Perspektive (vgl. Brom, 2015, S. 53-58) wird jetzt vor allem eine
punktuelle Analyse von konkreten Bezeichnungen und Wendungen angestrebt.
2 Alle Belege werden nach Pfefferkorn (2014, S. 106, 110) zitiert, einschließlich der Angaben zu handschriftlichen
Folioseiten.
3 Die zugeordneten Siglen der deutschen Texte: TKR – Gereimte deutsche Übersetzung der Dalimil-Chronik (Tutsch
kronik von Behem lant), TKA – Abriss (Annalen vor der TKR), PUC – Pulkava-Chronik (deutsche Übersetzung;
bairische Fassung); VTC – Vita Caroli (deutsch); falls nicht anders angemerkt, stammen sämtliche weiter angeführten
quantitativen Angaben zur Lexik und Semantik der untersuchten Texte aus der MhdBDB (Stand 30. 6. 2016; MhdBDB
in URL 1).
328
Die Einheiten der semantischen Klassifizierung (MhdBDB – Begriffssystem in
URL 2) und somit faktisch auch der Bedeutungsbeschreibung in der Mittelhochdeutschen Begriffsdatenbank stellen sogenannte Begriffskategorien dar.
Das Gliederungsschema ist vergleichbar mit traditionellen, nach Sachgruppen
geordneten Thesauri, inspiriert durch Rogets Thesaurus (1852, vgl. Springeth,
2009, S. 194); primär herangezogen wurde das Begriffssystem von Hallig –
Wartburg (1963; vgl. Schmidt, 1988, S. 40; Schmidt, 1993, S. VIII). Von besonderer
Bedeutung sind jedoch die Erweiterungen, Modifikationen und Verfeinerungen,
die im Zusammenhang mit der Erfassung von den einzelnen Texten vorgenommen
wurden und werden. Durch diese Flexibilität wird eine adäquate Repräsentation
auch bei Sachbereichen möglich, die erst mit neu aufgenommenen Texten
erschlossen werden (Schmidt, 1980, S. VII).
Zu thematisieren ist hier auch der Status der Begriffskategorien in der MhdBDB
(MhdBDB – Begriffssystem 2016); an und für sich handelt es sich meist um die
Abgrenzung von Sachgebieten im weiteren Sinne4 mittels Allgemeinbezeichnungen oder Beschreibungen (und zugeordneter numerischer Werte), die zur
semantischen Strukturierung des Wortschatzes benutzt werden. Dabei haben
diese Einheiten in ihrer Anwendung in der Datenbank manche Eigenschaften mit
Semen gemeinsam, und sie lassen sich so auch für eine differenzierte Beschreibung der Bedeutung benutzen. Eine maßgebliche Rolle spielt dabei die vorhandene
Kombinierbarkeit von Begriffskategorien, d.h. ihre mehrfache Zuordnung zum
Lemma, bzw. zu einzelnen Bedeutungsvarianten (diese lassen sich eigentlich als
Sememe auffassen); bei den traditionellen onomasiologischen Wörterbüchern oder
Thesauri hingegen können die einzelnen semantischen Felder bei Bedarf höchstens
durch Verweise miteinander verknüpft werden.
Darüber hinaus können in der MhdBDB bei Wortbildungskonstrukten die
begrifflichen Zuordnungen der Komponenten kombiniert werden. Die Kategorien
werden grundsätzlich „eindimensional“ zugeordnet, d.h. sie können z.B. nicht
hierarchisiert oder komplexer strukturiert werden (was wahrscheinlich bei den
Abfragen problematisch handhabbar wäre).
Als Beispiel dieser Form der Bedeutungsbeschreibung sei eine der zentralen
Herrscherbezeichnungen in den untersuchten Texten angeführt:
herzoge (MhdBDB – Lemma-Eintrag herzoge in UR L 3)5
Männlich – 21012000, Autorität/Anordnung/Befehl – 22826100, Ämter
4 Für eine anregende Diskussion zu diesem Thema möchte ich mich bei Norbert Richard Wolf bestens bedanken; für
wertvolle klärende Informationen aus erster Hand bin ich Klaus M. Schmidt und Margarethe Springeth (MhdBDB)
sehr dankbar.
5 herzoge – Gesamtfrequenz in der Datenbank: 4163; in den primär untersuchten Texten: PUC: 385, TKA: 6,
TKR: 306, VTC 59; zusammen: 756.
329
– 23310200, Politische Ordnung/Allg. Ordnungskategorien – 24300000,
Geburtsadel – 24321000, Rechtswesen – 24330000, Ordnungsmacht – 24340000,
Wert/Unwert – 31330000
Im Unterschied zu der obigen als monosemantisch aufgefassten Herrscherbezeichnung werden bei dem zentralen Abstraktum eine Reihe von Bedeutungen
unterschieden; für die gegebene Fragestellung wird insbesondere das „Semem“
1 berücksichtigt:
rîche (MhdBDB – Lemma-Eintrag rîche in URL 4)6
1 Autorität/Anordnung/Befehl – 22826100, Besitz – 23308000, Politische
Ordnung/Allg. Ordnungskategorien – 24300000, Soziale Klassen – 24320000,
Geburtsadel – 24321000, Ordnungsmacht – 24340000, Ausdehnung – 31210000
2 Ästhetisches Empfinden – 22706000, Wert/Unwert – 31330000
3 Judaeo-Christliche Mythologie – 24410000, Christentum/Theologie –
24440000
4 Geräusche – 31242000
5 Besitz – 23308000, Verhältnis/Ordnung/Wert – 31300000, Wert/Unwert –
31330000
6 Mengenbegriffe – 31410000
5. 2. Kookkurrenzen von ausgewählten Schlüsselwörtern
Die Ermittlung der Regularitäten im gemeinsamen Vorkommen gewisser
Ausdrücke kann unter Umständen neue Einsichten in die Strukturierung des
Wortschatzes vermitteln oder zur feineren Abgrenzung der Wortbedeutungen
beitragen. In der vorliegenden Untersuchung wurden die Satzeinheiten als
Grundlage für die Berechnung von Kookkurrenzen gewählt. Im Unterschied zur
alternativen Ermittlung der Wortnachbarschaft in festgelegten Textabschnitten
(mit einer bestimmten Anzahl von Textwörtern vor und nach dem jeweils
analysierten Wort)“ lässt sich bei den Satzeinheiten eher mit inhaltlich geschlossenen
Segmenten rechnen, was sicher von Vorteil ist. Auf der anderen Seite muss der
variierende Textumfang von solchen Abschnitten berücksichtigt werden. Es werden
jeweils Grundformen der Wörter erfasst, basierend auf der Lemmatisierung der
MhdBDB; als Stoppwörter bleiben hochfrequentierte synsemantische Wörter
(z.B. Präpositionen, Konjunktionen, Artikelwörter und andere) außer Betracht.
Im Folgenden werden verkürzte Ausschnitte aus den Kookkurrenzlisten zur
typischen Herrscherbezeichnung herzoge und des Schlüsselwortes rîke in den
6 rîche – Semem 1: Gesamtfrequenz in der Datenbank: 1400; in den primär untersuchten Texten – PUC: 265, TKA: 6,
TKR: 64, VTC 32; zusammen: 367. Der ganze Eintrag rîche: Gesamtfrequenz in der Datenbank: 11807; in den primär
untersuchten Texten – PUC: 272, TKA: 7, TKR: 89, VTC 32; zusammen: 400.
330
untersuchten böhmischen historiographischen Texten abgedruckt. Bei Ausgangswörtern sowie bei kookkurrierenden Ausdrücken stehen die Belegzahlen im
jeweiligen Text.7
5.2.1. Kookkurrenzen von herzoge
Kookkurrenzen – herzoge – PUC – Pulkava Chronik:
herzoge (385) – Beheim: 293, herzoge: 214, künic: 148, dominus: 109, Prag: 109,
annus: 108, bischof: 104, Polen: 101, jâr: 98, komen: 97, sun: 88, stat: 86, keiser: 85,
nennen: 85, grôz: 84, zît: 82, heilec: 80, Heinrich: 80, bruoder: 79, Wenzeslaw: 75,
geben: 70, Wladislaus: 70, geschehen: 69, Brzetislaw: 68, Ôsterrîche: 67, vürste:
62, rîche: 58, Bolezlâ: 57, lant: 57, vornennen: 56, Friderich: 53, kirche: 53,
Mæhren: 53, tac: 52, eteswenne: 51, schar: 50, Wratislaw: 50, name: 49,
herzogentuom: 45, nemen: 45, setzen: 45, herre: 40, sloz: 40, ...
Kookkurrenzen – herzoge – VTC – Vita Caroli:
herzoge (59) – vater: 32, Ôsterrîche: 26, künic: 25, Beheim: 23, herzoge: 22,
nennen: 20, Ludwig: 18, swester: 17, geben: 15, stat: 15, komen: 13, Baiern: 12,
bruoder: 11, helfen: 10, tohter: 10, tôt: 10, Heinrich: 9, Johannes: 9, keiser: 9, herre: 8, lant: 8,
nemen: 8, Carolus: 7, hûsvrouwe: 7, krône: 7, rîche: 7, undertân: 7, Affenstein: 6,
grâve: 6, grôz: 6, her: 6, Korinthîâ: 6, machen: 6, Schlesien: 6, zît: 6, besitzunge: 5,
êwe: 5, grâveschaft: 5, Kärnden: 5, Krakow: 5, lâzen: 5, Margarete: 5, Nicolaus: 5, senden: 5,
swâger: 5, Tirol: 5, umbelegen: 5, vürste: 5, wellen: 5, wille: 5, ziehen: 5, ...
Kookkurrenzen – herzoge – TKA – Abriss der böhmischen Geschichte:
herzoge (9) – Beheim: 3, bekant: 2, besunder: 2, boese: 2, Heinrich: 2, jâr: 2,
Johannes: 2, Kärnden: 2, künic: 2, lant: 2, nennen: 2, schrîben: 2, wellen: 2 ...
Kookkurrenzen – herzoge – TKR – Tutsch kronik:
herzoge (340) – herzoge: 40, Beheim: 36, wellen: 33, nemen: 31, bruoder: 30,
keiser: 29, komen: 27, gân: 26, lant: 26, geben: 21, Wratislaw: 21, Wladislaus: 20,
hant: 19, man: 19, künic: 18, sprechen: 18, stat: 18, Borziwoy: 17, Przemisl: 17, soln: 17,
sun: 17, mügen: 16, Ulrich: 16, Mæhren: 15, Wenzeslaw: 15, diutsch: 14,
machen: 14, rîche: 14, sehen: 14, Polen: 13, gebieten: 12, Meska: 11, nennen: 11,
Otto: 11, beginnen: 10, Brzetislaw: 10, burc: 10, Prag: 10, sanctus: 10, sitzen: 10, ...
Als primäre Kontexte, in denen herzoge erscheint, erweisen sich die Angaben
zur geographischen bzw. personalen Spezifizierung, die durch Eigennamen
entsprechender Kategorien vertreten sind; in enger Beziehung dazu stehen die
7 Die kookkurrierenden Ausdrücke werden absteigend nach Frequenz sortiert, und ihre Auflistung wird auf eine
individuell bestimmte Mindestfrequenz beschränkt (bedingt durch unterschiedliche Belegdichte und Textumfang
sowie Satzlänge (s.o.)), damit nach Möglichkeit im begrenzten Umfang des Ausschnitts die jeweils kennzeichnenden Kookkurrenten aufgelistet werden können. Die mit dem Ausgangslemma identischen Wörter unter den
Kookkurrenzen gehen auf Wiederholungen innerhalb von Satzeinheiten zurück.
331
Verwandtschaftsbezeichnungen; allgemeiner Natur sind auch die Ausdrücke der
Zeitbestimmung (neben jâr auch annus, Dominus). Aus dem Bereich der Herrschaft
sind v.a. andere Herrschertitel zu verzeichnen; rîche ist zuverlässig belegt, allerdings
bei weitem nicht so prominent, wie es für die Kookkurrenzen zu Herrscherbezeichnungen in der Sächsischen Weltchronik festgestellt wurde (vgl. Pfefferkorn,
2014, S. 72-74). Die meisten hier verzeichneten Verben bezeichnen einzelne
Betätigungsgebiete, zeigen jedoch keine deutliche semantische Ausprägung
im Hinblick auf Herrschaft (außer gebieten, etwas abgeschwächt bei einigen
Modalverben und anderen).
Im Folgenden werden komplementär die Kookkurrenzen von rîche ausgewertet.
5.2.2. Kookkurrenzen von rîche
Kookkurrenzen – rîche – PUC – Pulkava Chronik:
rîche (272) – Beheim: 250, künic: 203, rîche: 158, jâr: 102, roemisch: 68, vürste: 68,
keiser: 64, sun: 63, herzoge: 58, Mæhren: 53, annus: 52, dominus: 52, Prag: 52,
Wenzeslaw: 51, edel: 48, nennen: 46, stat: 46, erweln: 43, grôz: 43, Heinrich: 43,
lant: 39, komen: 38, zît: 38, geben: 37, Wladislaus: 37, Friderich: 36, reht: 36,
Polen: 35, banerherre: 34, Swathopluck: 34, erben: 32, gân: 32, herre: 31, tuon: 31,
name: 30, rât: 30 ...
Kookkurrenzen – rîche – VTC – Vita Caroli:
rîche (32) – Beheim: 20, künic: 20, soln: 15, geben: 11, stat: 11, Johannes: 10,
vater: 9, herzoge: 7, komen: 7, Carolus: 6, darzuo: 6, gesleht: 6, sun: 6, zît: 6, gelt:
5, herre: 5, herzogentuom: 5, krône: 5, man: 5, alhier: 4, bruoder: 4, darumbe: 4,
grôz: 4, hoeren: 4, jâr: 4, lant: 4, nennen: 4, Polen: 4, reht: 4, rîche: 4, sloz: 4,
sprechen: 4, tac: 4, tuon: 4, vîant: 4, wellen: 4, werlt: 4, ziehen: 4…
Kookkurrenzen – rîche – TKA – Abriss der böhmischen Geschichte:
rîche (7) – jâr: 5, künic: 5, Beheim: 4, Christus: 3, geburt: 3, leben: 3,
drîzehen: 2, Heinrich: 2, Johannes: 2, krœnunge: 2, küniginne: 2, leisten: 2, rîche: 2,
wâr: 2, Wenzeslaw: 2…
Kookkurrenzen – rîche – TKR – Tutsch kronik:
rîche (89) – Beheim: 22, herzoge: 14, gân: 13, künic: 13, geben: 11, man: 10, lant: 9,
keiser: 8, name: 8, soln: 7, stat: 7, Wenzeslaw: 7, got: 6, nieman: 6, roemisch: 6,
tuon: 6, wellen: 6, hant: 5, krône: 5, liut: 5, nôt: 5, Polen: 5, vater: 5, êrste: 4,
gewinnen: 4, herre: 4, müezen: 4, mügen: 4, reht: 4, schoene: 4, senden: 4, tôt: 4,
vîentlich: 4...
Ein Großteil der erfassten Kookkurrenten von rîke zeigt sichtbare Überschneidungen mit denen von herzoge, so vor allem die geographischen Namen,
Angaben der Zeitbestimmung, Verwandtschaftsbezeichnungen, teilweise Personen332
namen; verständlicherweise bestätigt sich auch in der umgekehrten Perspektive
das Nebeneinander mit Herrscherbezeichnungen wie herzoge, künic, keiser u.a.
Ferner erscheinen auch Angaben zum symbolischen Attribut der Herrschaft – krône
sowie krœnunge (die beim vorher behandelten Herzogtitel nicht unmittelbar
relevant waren). Zu bemerken ist, dass die meisten Verwendungen von rîke nicht
abstrakt unspezifisch zu verstehen sind, sondern vielmehr meist als verkürzte
kontextuell eindeutige Bezeichnung für Königreich (in der Regel Böhmen)
aufzufassen sind (vgl. unten einige Belegstellen aus Vita Caroli).
5.3. Knapper Vergleich mit Kookkurrenzen in der Sächsischen
Weltchronik
Die gewonnenen Kookkurrenzdaten zeigen deutliche Übereinstimmungen mit den
publizierten Befunden für die Sächsische Weltchronik – Stichwörter rike, kunich
und keiser (Pfefferkorn, 2014, S. 72-74). Für die vorliegende Illustration wurde
das Lemma herzoge gewählt als der üblichste böhmische Herrschertitel bis zum
Hochmittelalter (die Daten für künic zeigen ein ähnliches Bild, sind aber für ältere
Zeitspannen für den böhmischen Kontext nicht hinreichend belegt). Die Personen,
Tätigkeiten, Sachverhalte u.a. zeigen in den historiographischen Darstellungen
manche Ähnlichkeiten. Unterschiede lassen sich hingegen in der Gewichtung
und Distribution finden. Insbesondere der Ausdruck rîche und die abstrakte
unpersönliche Formulierungsweise scheinen in den böhmischen Texten deutlich
weniger prominent zu sein, als es bei der älteren Sächsischen Chronik der Fall ist.
5.4. Häufigste Verben im untersuchten Sachbereich
Als Ergänzung zu den Beobachtungen anhand der Kookkurrenzen sollen nun
die verbalen Ausdrücke aus dem untersuchten Sachbereich zum illustrativen
Vergleich herangezogen werden. In der folgenden Tabelle werden die häufigsten
Verben mit dem „Sem“ ‚Autorität/Anordnung/Befehl‘ aufgelistet (Suchabfrage:
22826100&<VRB> in MhdBDB); in der absteigenden Sortierung nach der
Gesamtfrequenz der Lemmata in den behandelten böhmischen Texten,
Vorkommenshäufigkeit 5 und höher.
333
Lemma
Text
TKA
TKR
PUC
VTC
zusammen
Anzahl aller Belege:
17
464
632
143
1256
soln
5
senden
120
57
32
214
17
108
29
154
vâhen
52
66
11
129
gebieten
67
37
3
107
lâzen
38
22
16
76
vüeren
30
34
3
67
33
27
2
63
regieren
56
5
61
schicken
7
39
8
8
heizzen
1
bevelhen
11
13
19
9
vordern
1
23
rihten
16
3
2
15
laden
1
twingen
rîchen
9
herschen
setzen
1
54
32
29
1
25
19
17
6
15
1
9
9
13
2
9
2
4
vüegen
5
4
legen
1
schaffen
9
7
6
8
1
7
verbieten
7
7
vermanen
7
7
2
6
mügen
2
2
gevüeren
1
4
leiten
vervolgen
4
5
1
5
5
5
Häufigste Verben – ‚Autorität/Anordnung/Befehl‘ (MhdBDB – Autorität in URL 5)
Bereits bei dieser vereinfachten Abfrage zu einem charakteristischen „Sem“ lässt
sich ein relativ differenziertes Inventar von einschlägigen verbalen Ausdrücken
beobachten, wobei auch einige Einzelheiten der Distribution bei den behandelten Texten zu bemerken sind. Es fällt auf, dass die frequentesten Lemmata in
334
ihrer Bedeutung entweder eher allgemeiner und vage sind, oder aber sie beziehen
sich auf eine konkretere Tätigkeit oder Ausprägung der Autoritätsausübung. Als
Allgemeinbezeichnungen für ‚herrschen‘ i.e.S. wären die Ausdrücke herschen,
regieren, rîchen hervorzuheben, aus dem eng benachbarten semantischen
Bereich ‚befehlen‘ dann ferner bevelhen, gebieten, heizzen, lâzen, twingen, verbieten,
vordern (ggf. einschlägige Sememe mit den hierfür relevanten Bedeutungen). Was
die Verteilung in den Einzeltexten oder gar Tendenzen im Gebrauch der erfassten
Verben betrifft, sind höchstens punktuelle Befunde möglich. Kennzeichnend
sind da insbesondere die Unterschiede bei den Allgemeinbezeichnungen – in der
deutschen Reimfassung der Dalimil-Chronik (TKR) und im zusammenhängenden
annalistischen Abriss (TKA) (wahrscheinlich aus den 1340er Jahren) ist rîchen das
Normalwort, in den späteren deutschen Texten der Pulkava-Chronik (PUC) und
der Vita Caroli (VTC) (aus dem ausgehenden 14. Jh. oder der ersten Hälfte des
15. Jh.) stehen in dieser Funktion das entlehnte regieren, bzw. das etwas weniger
frequentierte herschen. Außerdem scheinen diese abstrakteren Allgemein bezeichnungen – quantitativ gesehen – in den jüngeren Texten eine größere Rolle zu
spielen (auch mit Berücksichtigung des unterschiedlichen Textumfangs).
6. Selbstdarstellung und Reflexion über Herrschaft
in der Vita Caroli
Nach den bisherigen Teilanalysen und Überlegungen auf überwiegend
lexikalisch-semantischer Basis soll im Folgenden die hier verfolgte Problematik
anhand einer zusammenhängenden Textprobe exemplifiziert werden. Hierfür
eignet sich insbesondere die Autobiographie Karls IV., die neben historischbiographischen Daten auch wertvolle Informationen anderer Art vermittelt. Für
die vorliegende Fragestellung sind die Reflexionen über die Herrschaft und die
Selbstdarstellung des Autors in diesen Rollen unmittelbar relevant. Anhand einer
illustrativen Textprobe aus dem VIII. Kapitel wird versucht, einschlägige
Momente und angewandte Strategien in der eigenen Präsentation des Herrschers
zu erschließen.
335
...
Quod regnum invenimus ita desolatum, quod
nec unum castrum invenimus liberum, quod
non esset obligatum cum
omnibus bonis regalibus,
ita quod non habebamus
ubi manere, nisi in domibus
civitatum sicut alter civis.
Castrum vero Pragense
ita desolatum, destructum
ac comminutum fuit, quod
a tempore Ottogari regis totum prostratum fuit usque
ad terram. Ubi de novo
palacium magnum et pulchrum cum magnis sumptibus edificari procuravimus,
prout
hodierna
die apparet intuentibus.
Tempore illo misimus pro
uxore nostra, quia adhuc erat in Luczemburg.
Que cum venisset, post
unura annum habuit
filiam
primogenitam
nomine Margaretham.
Illis autem temporibus
dederat nobis pater noster
marchionatum Moravie et
eodem titulo utebamur.
Videns autem communitas de Boemia proborum
virorum, quod eramus de
antiqua stirpe regum Boemorum, diligentes nos
dederunt nobis auxilium
ad recuperanda castra et
bona regalia. Tunc cum
magnis sumptibus et
laboribus recuperavimus
castra Purglinum, Tyrzow,
336
...
Kteréžto královstvie byli
jsme nalezli tak opuštěno,
že ani jednoho hradu
nenalezli jsme svobodného, ježto by nebyl
zastaven se vším zbožím
královským;
tak
že
jsme neměli kde bydliti,
jedno v domiech městských, jakžto jiný měštěnín.
A hrad Pražský tak[é]
byl opuštěn a zkažen
i zrušen; nebo od času krále
Přemysla všechen položen
byl až na zemi. Na
kterémžto miestě znovu sieň velikú a krásnu s
velikými náklady vzdělati jsme kázali, jakžto
dnešní den zjevno jest
ohledujícím. Toho času
poslachme po naši ženu;
neb ještě bieše v Lucemburce. Ta když přijede,
po jednom roce porodi
dceru prvorozenú, jménem Margretu.
Těch pak také časóv byl
nám dal otec náš markrabstvie Moravské a toho hesla
požívachme. Uzřevše pak
obec Česká šlechetných
mužóv, že jsme byli z starého
pokolenie králóv českých,
milujíc nás, dachu nám
pomoc, abychme nabyli
hradóv a zbožie královstvie.
Tehdy s velikými náklady a
s úsilím nabychme najprvé
hradóv [Hrádku], Tyřova,
Lichtemburka,
Lutic,
Hradce, Pieska, Nečtin,
...
Das wir das reich alzo funden
verwusth, zcustort, das keyn
sloß ader burg nw frey was,
das nicht vorstricket noch
vorsatczt wer mit allen koniglichen gutern, alzo das
wir nicht hatten slosser, noch
burge noch eygene wonunge,
doroff wir gewonet hetten,
sunder wir musten wonen
yn den hewßern der burger
alzo eyn ander burger. Vnde
das Pregische sloß das was
alzo vorwustet vnde vorterbet
vnde zcufallen, seid der czeith
des koniges Othakari vnde
was eyn teil an dy erde zcufallen. Do wer eyn newes vnde
eyn großes vnde eyn sewberliches pallas bawten, als man
das noch hewtigen tagis siet.
Dyselbe czeit sante wir noch
vnßer hawßfrawen, dy noch
was zcu Lutczenburg, die dornoch obir eyn jor qwam do, so
hatte sie eyne geborne tachter
genant Margareta.
Zcu den geczeithen gab
vns vnßer vater das margraffthum zcu Merhern
vnde gebrauchten des sam
des, das vns zcugescreben
wer. Vnde do dy fromen
manne von der gemeyne
zcu Behemen soghen, das
wir worn von dem alden
stamme der konige, do hatten sie vns lieb vnde gowen
vns stewer vnde tothen vns
hulffe, das wir vnßer slosßer
baweten vnde besserten unde
vnser koniglichen gutter
Liuchtenburg, Lutycz, Grecz
Pyesek, Necztyni, Zbyroh, Tachow, Trutnow in
Boemia; in Moravia vero
Luccow, Telcz, Weverzi,
Olomucense, Brunense et
Znoymense castra, et quam
plura alia bona obligata et
alienata a regno.
Zbiroha, Tachova a Trutnova v Čechách, v Moravě
pak Lukova, Telče, Veveře,
Olomúckého, Brněnského
a Znojemského hradóv a
mnohá jiná zbožie, ježto
byla zastavena a odlúčena
od královstvie.
Et habebamus multos paratos militares servientes, et
prosperabatur regnum de
die in diem, diligebatque
nos communitas bonorum,
mali vero timentes precavebant a malo, et iusticia sufficienter vigebat in regno,
quoniam barones pro maiori parte effecti erant tyranni,
nec timebant regem, prout
decebat, quia regnum inter
se diviserant. Et sic tenuimus capitaneatum regni
meliorando de die in diem
per duos annos.
...
(Emler (hg.), 1882, S. 348–
349)
A mějiechme mnoho sluh
hotových, urozených a prospieváše královstvie den ode
dne, i milováše nás obec dobrých a zlí bojiece sě varovachu sě zlého, a spravedlnosti dosti bieše v království.
Nebo šlechtici téměř všichni
běchu sě zčinili násilníci,
ani sú sě báli krále, jakžto
slušalo; nebo královstvie
byli mezi sebú rozdělili.
A tak jsme drželi vladařstvie, královstvie polepšujíce
den ode dne, za dvě létě.
…
(Emler (hg.), 1882, S. 379)
merethen. Do bawete wir
weder mit großer czirunge
vnde erbeith das sloß Burgsloß, Tirzow, Lichtenburg, Lutitz, Gretz, Pyesek, Necztym,
Zbyroch, Tachaw, Trittenaw
in Behemenlande; ader yn
Merherlande Lucaw, Teltcz,
Wewerzy,
Olmuntczen,
Brunnen vnde auch Cznaym;
deser slosser vnde burge vnde
vil ander gutter die vorsatczt,
vorstricket vnde entfremdet worn von dem reiche.
Vnde wir hatten vil breite
ritterschafft, dy vns dyeneten,
Alczo nam geluczelichen zcu
das reich von tage zcu tage.
Alzo hatten vns lieb dy guten
gemeynen lewthe, ader dy
boßen dye furchten vns vnde
huten sich von den boßen
vnde tothen nicht das arge
vnde dye gerechtikeit die
hirschete genugelich yn dem
reiche. Vnde do wart eynem
ydermanne gegeben recht
vnde nicht vorsageth; vnde
dy banerherren dy worn
off das groste teil grawßam
vnde wutreich vnde forchten nicht den konig, als eß
czemlich was, wen sie hatten
reich vnder sich geteilet. Das
brochte wir zcu krefften vnde
zcusampe vnde besatczten
das mit hewbtlewthen vnde
besserten das reich von tage
zcu tage. Dos tothe wir czwe
jor noch enander. …
(Emler (hg.), 1882, S. 404 –405)
Selbstdarstellung der Herrschaft von Karl IV. in seiner Autobiographie, Kap. VIII
337
Die obige Passage aus der Autobiographie Karls IV. enthält als eine der wenigen
in den untersuchten Texten eine umfassende, reflektierte (wiewohl subjektiv
idealisierte) Darstellung der Herrscheraktivitäten; es werden hier historisch
relevante Angaben zur aktuellen politischen und wirtschaftlichen Lage im
Land nach der Ankunft des jungen Thronfolgers präsentiert, ferner zu formaldynastischen Regelungen und der Verteilung der Kompetenzen und letztlich auch
zum individuellen Familienleben. Außerdem werden mustergültige Anweisungen
zur Lösung von Problemen, Gewinnung von Sympathien der Untertanen bzw.
Dienstleute und Förderung von deren Hilfsbereitschaft dargeboten; zuletzt wird
auch Entschlossenheit bei der Durchsetzung der Gerechtigkeit und der sorgfältigen
Verwaltung des Landes nahegelegt. Parallel zu dieser Linie der Selbstdarstellung
wird eine Art von impliziten, bekräftigenden Zeugnissen Anderer vermittelt, in
denen weitere typisierte Attribute des guten Herrschers geprägt werden („von
Guten geliebt, von Bösen gefürchtet...“). Eine bekannte, von Karl IV. aktiv
gebrauchte Strategie zur Legitimierung der Herrschaft ist die Betonung der eigenen
Abstammung von dem alten böhmischen Herrschergeschlecht der Premysliden.
Die beiden Übersetzungen erscheinen (in der vorliegenden Kurzprobe) als weitgehend adäquate Entsprechungen des lateinischen Originals, es lassen sich da
jedoch interessante stilistische Nuancierungen beobachten. Auffällig ist etwa die
Neigung zu mehrgliedrigen Synonymenreihen im deutschen Text, vor allem bei
terminologisch fassbaren Ausdrücken, wie man dies etwa in der zeitgenössischen
Rechtssprache oder im Kanzleischrifttum erwarten würde; vgl.:
obligatum – zastaven – vorstricket noch vorsatczt
obligata et alienata – zastavena a odlúčena – vorsatczt, vorstricket vnde
entfremdet
tyranni – násilníci – grawßam vnde wutreich
desolatum, destructum ac comminutum – opuštěn a zkažen i zrušen –
vorwustet vnde vorterbet vnde zcufallen
Beispiele komplexerer Erweiterungen (ohne maßgebliche inhaltliche Relevanz)
sind:
non habebamus ubi manere – jsme neměli kde bydliti – alzo das wir nicht hatten
slosser, noch burge noch eygene wonunge, doroff wir gewonet hetten
habebamus multos paratos militares servientes – mějiechme mnoho sluh
hotových, urozených – wir hatten vil breite ritterschafft, dy vns dyeneten
(Zu beachten ist hier auch die semantisch bzw. pragmatisch bedingte Kongruenz
des Kollektivums ritterschaft mit dem Prädikat des Nebensatzes in Plural.)
Interessanterweise findet sich allerdings gerade im deutschen Text ein wahrscheinliches Missverständnis bei einem juristisch relevanten Ausdruck: Statt einer
Wiederherstellung von verpfändeten Gütern erwähnt die deutsche Fassung einen
Neuaufbau, vgl.:
338
„ad recuperanda castra et bona regalia – abychme nabyli hradóv a zbožie
královstvie – das wir vnßer slosßer baweten vnde besserten unde vnser
koniglichen gutter merethen.“
Eine vergleichbare Ungenauigkeit in der deutschen Übersetzung zeigt die folgende
Stelle über die stellvertretende Herrschaft Karls; in der Übersetzung werden
stattdessen weitere Statthalter oder Ähnliches erwähnt:
Et sic tenuimus capitaneatum regni meliorando de die in diem – A tak jsme
drželi vladařstvie, královstvie polepšujíce den ode dne – Das brochte wir zcu
krefften vnde zcusampe vnde besatczten das mit hewbtlewthen vnde besserten
das reich von tage zcu tage.
Die gewählte Textprobe zeigt auch Belege für mhd. rîche für eine allgemeine
Bezeichnung des Herrschaftsgebietes:
et prosperabatur regnum de die in diem – a prospieváše královstvie den ode dne
– Alczo nam geluczelichen zcu das reich von tage zcu tage.
et iusticia sufficienter vigebat in regno – a spravedlnosti dosti bieše v království
– vnde dye gerechtikeit die hirschete genugelich yn dem reiche. Vnde do wart
eynem ydermanne gegeben recht vnde nicht vorsageth […]
Es fehlt in diesen Fällen jede explizite nähere Bestimmung, wahrscheinlich ist
hier jedoch nicht die abstrakte Verwendung ‚(institutionalisierte, unpersönliche)
Herrschaft, Staat‘ anzunehmen; wie die Parallelstellen in den beiden Belegen auf
kohärente Weise nahe legen, ist hier mit dem (kontextuell implizierten) ‚Königreich
[Böhmen]‘ zu rechnen – aufgefasst eher als geographisch-politische Bezeichnung;
der Bezug auf die persönliche Herrscherwürde wäre für den damaligen mährischen
Markgrafen nicht zutreffend.
7. Fazit
Die präsentierten illustrativen Untersuchungen von deutschsprachigen historiographischen Werken des Mittelalters haben bestätigt, dass ‚Herrschaft‘ zu den
zentralen thematischen Bereichen dieser Werke gehört. In der kontrastierenden
Gegenüberstellung der Sächsischen Weltchronik mit den spätmittelalterlichen
Werken aus dem böhmischen Raum im Hinblick auf die Versprachlichung dieses
politischen Phänomens haben sich allgemeine, wohl thematisch und durch die
Gattung bedingte Übereinstimmungen gezeigt; daneben sind aber auch deutliche
Unterschiede in den sprachlichen Strategien sichtbar geworden. Die lexikalische
Besetzung ist bei vergleichbaren Sachgebieten der einzelnen Werke erwartungsgemäß ziemlich ähnlich, insbesondere bei den zentralen meistfrequentierten
Ausdrücken. Unterschiede zeichnen sich gerade bei dem „politischen
Schlüsselwort“ der Sächsischen Weltchronik rike ab: In den böhmischen Texten
339
ist es ebenfalls belegt, es nimmt allerdings nicht annähernd eine so prominente
Position ein, und auch die Varianten sind anders verteilt. Das Spektrum der
belegten Verwendungen von dem Substantiv rîche entspricht mit geringen
Abweichungen denen der Sächsischen Weltchronik (Pfefferkorn, 2014, S. 213); zu
beachten ist jedoch eine öfters bestehende Uneindeutigkeit in der Zuordnung. Das
nicht näher spezifizierte rîche ist wohl nur in der Minderheit der Fälle als abstrakte
Bezeichnung der Herrschaft oder Macht zu verstehen. In manchen Fällen liegen
eher vereinfachte konkretere Verwendungen vor, wo allerdings die spezifizierenden
Elemente (etwa in kontextuell eindeutigen Fällen) erspart werden. Die typische
Verwendung stellt die Bezeichnung konkreter Länder oder Staatsgebilde dar, in
der Regel mit einer Präpositionalgruppe (reich zu Merheren, zu Behemen u.a.).
Vereinfachend lässt sich festhalten, dass die abstraktere, eher unpersönliche
Ausdrucksweise (im Bereich der Politik und Machtausübung) eine klare Domäne
der Sächsischen Weltchronik darstellt. Bei den hier untersuchten späteren Werken
ist trotz des exklusiven Auftrags (die Pulkava-Chronik wurde von Karl IV. als
offizielle repräsentative historische Darstellung der böhmischen Länder bestellt
und persönlich entworfen) eine viel einfachere Konzeption und auch formalsprachliche und literarische Gestaltung zu beobachten. Auch für die Bezeichnung von „Herrschergeschäften“ werden da geradlinige, meist verbale Formulierungen bevorzugt (v.a. rîchen, herschen, regieren u.a. sowie eine Reihe inhaltlich
spezifischer Verben).
Abstract
Based on selected German historiographical texts from the High Middle Ages and
Late Middle Ages the strategies in the formulation and verbal expression of rule and
reign are discussed. On the one hand, an early vernacular text of this kind is taken
into account (Saxon World Chronicle, 13th century), on the other hand several
later works from the 14th–15th century, which are characterised by their origin
from the Bohemian lands or the respective topical scope. In part, other language
versions are considered, be it original texts or parallel translations (besides
German in Latin and Czech): The Dalimil Chronicle (including introductory
German annals), Pulkava-Chronicle and the Autobiography of Charles IV.
of Luxembourg, Vita Caroli. In the comparison, the central role of the semantic
field ‘rule, reign’ in the texts of this genre is documented, while at the same time
a comparatively differentiated spectrum of the linguistic means of expressing the
respective concepts and also the preferred modes of stylisation are identified.
Keywords
historiography, Middle Ages, historical semantics, rule, political language
340
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URL 1: MhdBDB – Mittelhochdeutsche Begriffsdatenbank. Online verfügbar unter
http://mhdbdb.sbg.ac.at/, [30. 6. 2016].
URL 2: MhdBDB – Begriffssystem. Online verfügbar unter http://mhdbdb.sbg.
ac.at/mhdbdb/App?action=BrowseCategory, [24. 6. 2016].
URL 3: MhdBDB – Lemma-Eintrag herzoge. Online verfügbar unter http://mhdbdb.
sbg.ac.at/mhdbdb/App?action=DicSelect&LemmaSelectAction=Dic&mode=
00&LemmaSelectPattern=herzoge, [30. 6. 2016].
URL 4: MhdBDB – Lemma-Eintrag rîche. Online verfügbar unter http://mhdbdb.
sbg.ac.at/mhdbdb/App?action=DicSelect&LemmaSelectAction=Dic&mode=
00&LemmaSelectPattern=r%C3%AEche, [30. 6. 2016].
URL 5: MhdBDB – Autorität. Online verfügbar unter http://mhdbdb.sbg.ac.at:8000/
mhdbdb/App?action=TextQueryModule&string=22826100%26%3CVRB%3E&filter=&texts=TKA&texts=TKR&texts=PUC&texts=VTC&startButton=Suche+
starten&contextSelectListSize=1&contextUnit=1&verticalDetail=3&max
TableSize=100&horizontalDetail=3&nrTextLines=3, [16. 7. 2016]
343
Autorenverzeichnis
Mgr. Vlastimil Brom, Ph.D.
Masarykova univerzita
Filozofická fakulta
Ústav germanistiky, nordistiky a nederlandistiky
Arna Nováka 1
CZ – 602 00 Brno
Doc. PaeDr. Zdenko Dobrík, PhD.
Univerzita Mateja Bela v Banskej Bystrici
Filozofická fakulta, Katedra germanistiky
Tajovského 40
SK – 974 01 Banská Bystrica
Mgr. Henryk Duszyński-Karabasz
Uniwersytet Kazimierza Wielkiego
ul. Chodkiewicza 30
PL – 85-064 Bydgoszcz
Mag. phil. Jürgen Ehrenmüller
Západočeská univerzita v Plzni
Fakulta pedagogická
Katedra německého jazyka
Chodské náměstí 1
CZ – 306 14 Plzeň
Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Ludwig M. Eichinger
Institut für Deutsche Sprache
Augustaanlage 32
D – 68 165 Mannheim
Mgr. Jana Hofmannová, Ph.D.
Jihočeská univerzita v Českých Budějovicích
Pedagogická fakulta
Katedra germanistiky
Jeronýmova 10
CZ – 370 01 České Budějovice
344
Mgr. Tereza Hrabcová, Ph.D.
Univerzita Jana Evangelisty Purkyně v Ústí nad Labem
Filozofická fakulta
Katedra germanistiky
Pasteurova 13
CZ – 400 96 Ústí nad Labem
Mgr. Michaela Kaňovská, Ph.D.
Univerzita Palackého v Olomouci
Filozofická fakulta
Katedra germanistiky
Křížkovského 10,
CZ – 771 80 Olomouc
Doc. Dr. phil. Veronika Kotůlková
Slezská univerzita v Opavě
Filozoficko-přírodovědecká fakulta
Ústav cizích jazyků
Oddělení germanistiky
Masarykova třída 343/37
CZ – 746 01 Opava
Dr. Ewa Majewska
Uniwersytet Warszawski
Instytut Germanistyki
ul. Dobra 55
PL – 00-312 Warszawa
PhDr. Eva Molnárová, PhD.
Univerzita Mateja Bela v Banskej Bystrici
Filozofická fakulta
Katedra germanistiky
Tajovského 40
SK – 974 01 Banská Bystrica
Mgr. Martin Mostýn, Ph.D.
Ostravská univerzita v Ostravě
Filozofická fakulta
Katedra germanistiky
Reální 5
CZ – 701 03 Ostrava
345
PhDr. Mojmír Muzikant, CSc.
Masarykova univerzita
Pedagogická fakulta
Katedra německého jazyka a literatury
Poříčí 9
CZ – 603 00 Brno
Mgr. Milan Pišl, Ph.D.
Ostravská univerzita v Ostravě
Filozofická fakulta
Katedra germanistiky
Reální 5
CZ – 701 03 Ostrava
Mgr. et Mgr. Kamila Puchnarová
Masarykova univerzita
Filozofická fakulta
Ústav germanistiky, nordistiky a nederlandistiky
Arna Nováka 1
CZ – 602 00 Brno
Mgr. Michal Rubáš
Univerzita Palackého v Olomouci
Filozofická fakulta
Katedra germanistiky
Křížkovského10
CZ – 771 80 Olomouc
Doc. PhDr. Gabriela Rykalová, Ph.D.
Slezská univerzita v Opavě
Filozoficko-přírodovědecká fakulta
Ústav cizích jazyků
Oddělení germanistiky
Masarykova třída 343/37
CZ – 746 01 Opava
Dr. habil. Petra Szatmári
Károli-Gáspár-Universität Budapest
Reviczky u. 4.
H – 1088 Budapest
346
Prof. PhDr. Lenka Vaňková, Dr.
Ostravská univerzita v Ostravě
Filozofická fakulta
Katedra germanistiky
Reální 5
CZ – 701 03 Ostrava
Mgr. Zdeňka Vymerová, M.A.
Masarykova univerzita
Filozofická fakulta
Arna Nováka 1
CZ – 602 00 Brno
Roland Anton Wagner, M. A., Ph.D.
Masarykova univerzita
Pedagogická fakulta
Katedra německého jazyka a literatury
Poříčí 9
CZ – 603 00 Brno
Prof. em. Dr. Dr. h.c. mult. Norbert Richard Wolf
Julius-Maximilians-Universität Würzburg
Institut für Deutsche Philologie
Am Hubland
D – 970 74 Würzburg
347
Zentrum und Peripherie. Aus sprachwissenschaftlicher Sicht
Doc. Dr. Phil. Veronika Kotůlková
Doc. PhDr. Gabriela Rykalová, Ph.D. (Hrsg.)
© Ústav cizích jazyků, FPF, Slezská univerzita v Opavě, 2017.
Slezská univerzita v Opavě, Masarykova tř.343/37
ISBN 978-80-7510-248-5
Vydání první
Recenzovali: Prof. PhDr. Iva Zündorf, Ph.D., Doc. Hana Bergerová, Dr.
Jazyková redakce: Priv.-Doz. Dr. Martin Maurach
Grafická úprava: Ing. Ivana Kuczmanová
Tiskárna: X-MEDIA servis s.r.o., Ostrava
Rok vydání: 2017
Náklad: 100 ks
Publikace je neprodejná
Vydáno s finanční podporou projektu Interní soutěže v rámci Institucionálního
plánu Slezské univerzity v Opavě č. 03/ISIP/2017 „Realizace mezinárodní
germanistické konference”.