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Zentrum und Peripherie : aus sprachwissenschaftlicher Sicht

2018

Zentrum und Peripherie wurde zum leitenden Thema der gleichnamigen Konferenz, die vom 25. bis 27. Mai 2016 an der Schlesischen Universität Opava stattfand. Die Tagung, an der beinahe 90 Fachleute aus 9 Ländern teilnahmen, wurde vom Germanistenverband der Tschechischen Republik und der Germanistischen Abteilung des Instituts für Fremdsprachen der Schlesischen Universität Opava organisiert. Die Tagung verfolgte das Ziel, Zentrum und Peripherie in unterschiedlichen Bereichen zu untersuchen und einen Überblick über neue Methoden und Erkenntnisse im Bereich der sprachwissenschaftlichen, literarischen und didaktischen Forschungen in fünf Sektionen zu bieten: Die deutsche Sprache: Zentrum und Peripherie; Korpuserstellung und -analyse; Literatur interkulturell vs. transkulturell; Kanon und Norm in Literatur und Literaturdidaktik; Fehler und ihre Behandlung, und stellte eine Vielzahl an Fragestellungen und eine Vielzahl an Ansätzen vor.Zentrum und Peripherie (Centre and Periphery) was the ma...

Zentrum und Peripherie Aus sprachwissenschaftlicher Sicht Veronika Kotůlková, Gabriela Rykalová (Hrsg.) Slezská univerzita v Opavě 2017 Germanistenverband der Tschechischen Republik Philosophisch-Naturwissenschaftliche Fakultät der Schlesischen Universität Opava Zentrum und Peripherie Aus sprachwissenschaftlicher Sicht Doc. Dr. phil. Veronika Kotůlková Doc. PhDr. Gabriela Rykalová, Ph.D. (Hrsg.) Slezská univerzita v Opavě 2017 Recenze / Rezension / Rewiev Prof. PhDr. Iva Zündorf, Ph.D. Doc. Hana Bergerová, Dr. Vydáno s finanční podporou projektu Interní soutěže v rámci Institucionálního plánu Slezské univerzity v Opavě č. 03/ISIP/2017 „Realizace mezinárodní germanistické konference”. Gedruckt mit finanzieller Unterstützung des Projektes Nr. 03/ISIP/2017 „Organisation einer internationalen germanistischen Konferenz“ im Rahmen des Institutionalen Plans der Schlesischen Universität Opava. Published with the financial support of the project no. 03/ISIP/2017 “Organization of an International German Studies Conference” carried out as part of the Internal competition within the Institutional plan of Silesian University in Opava. ISBN 978-80-7510-248-5 Inhalt Vorwort................................................................................................................................9 Der Text als Zentrum des Sprachspiels ........................................................................15 Norbert Richard Wolf Grammatische Variation. Am Rande der deutschen Standardsprache .................................................................27 Ludwig M. Eichinger Zentrum und Peripherie in der Korpuslinguistik .......................................................41 Veronika Kotůlková Fachsprachen und der Alltag. Eine Untersuchung anhand der deutschen Tagespresse .............................................51 Lenka Vaňková Kommunikation zwischen Experten und Laien. Am Beispiel des Internetforums Conrad ......................................................................65 Milan Pišl Zentrum und Peripherie des medizinischen Fachwortschatzes am Beispiel der fachexternen Online-Kommunikation zwischen Ärzten und Patienten......................................................................................83 Martin Mostýn Zentrum und Peripherie in der deutschen Sprache der Mediziner anhand von Fachzeitschriften ......................................................................................103 Ewa M. Majewska Politische Lexik in der deutschen, slowakischen und russischen Sprache. Zentrum und/oder Peripherie? ....................................................................................117 Eva Molnárová Zentrum und Peripherie in der deutschen Sprache. Am Beispiel der Formulierungsverfahren in der Sprache der Politik in der Talkshow „Günther Jauch“ ................................................................................129 Kamila Puchnarová Kollektivgedächtnis im Sprachbild und soziokultivierte Kommunikation .........................................................................139 Zdenko Dobrík Manfred Franks hermeneutische Zeichentheorie im Kontext der neuesten diskursanalytischen Ansätze............................................147 Michal Rubáš Die Macht der Presse aus der Peripherie. Der nationalpolitische Diskurs in der nordböhmischen Presse ....................................................................................161 Tereza Hrabcová Zentrum und Peripherie in der deutschsprachigen Literatur im Vergleich mit der tschechischen Literatur. Korpuserstellung und Korpusanalyse .........................................................................177 Zdeňka Vymerová Das deutsche Partizip im Zentrum und an der Peripherie ......................................187 Gabriela Rykalová Verbale und nominale Valenzrahmen bei zentralen und peripheren Lexemvarianten ..........................................................207 Mojmír Muzikant und Roland Wagner Grammatik und Phraseologie ......................................................................................235 Michaela Kaňovská Zentrum und Peripherie der geschlechtsspezifischen Phraseologismen im Deutschen. Bedeutung und Aspekte ihrer Verwendung ...............................................................253 Jana Hofmannová Metaphorik als peripheres oder zentrales Phänomen der Sprache? Weltmodellierung mit der konventionalisierten Spielmetaphorik im Gegenwartsdeutschen ................................................................269 Jürgen Ehrenmüller Zentrale und periphere Passiv-Konstruktionen........................................................287 Petra Szatmári Familiennamen deutscher Herkunft in den Kirchenbüchern der russisch-orthodoxen Gemeinden in Włocławek und Aleksandrów Kujawski (Kongresspolen) an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Eine anthroponymische Peripherie .............................................................................307 Henryk Duszyński-Karabasz Zur Begrifflichkeit und sprachlichen Erfassung von ‚Herrschaft‘ als einer der zentralen konzeptuellen Domänen der historiographischen Werke des Mittelalters..........................................................323 Vlastimil Brom Vorwort Zentrum und Peripherie wurde zum leitenden Thema der gleichnamigen Konferenz, die vom 25. bis 27. Mai 2016 an der Schlesischen Universität Opava stattfand. Die Tagung, an der beinahe 90 Fachleute aus 9 Ländern teilnahmen, wurde vom Germanistenverband der Tschechischen Republik und der Germanistischen Abteilung des Instituts für Fremdsprachen der Schlesischen Universität Opava organisiert. Die Tagung verfolgte das Ziel, Zentrum und Peripherie in unterschiedlichen Bereichen zu untersuchen und einen Überblick über neue Methoden und Erkenntnisse im Bereich der sprachwissenschaftlichen, literarischen und didaktischen Forschungen in fünf Sektionen zu bieten: Die deutsche Sprache: Zentrum und Peripherie; Korpuserstellung und –analyse; Literatur interkulturell vs. transkulturell; Kanon und Norm in Literatur und Literaturdidaktik; Fehler und ihre Behandlung, und stellte eine Vielzahl an Fragestellungen und eine Vielzahl an Ansätzen vor. Jede Sprache ist ein dynamisches System. Deswegen interessieren sich die Sprachwissenschaftler besonders dafür, welche sprachlichen Einheiten im Zentrum des Sprachsystems stehen und welche eher peripher sind. Die korpuslinguistische Sicht auf die Theorie von Zentrum und Peripherie bietet viele neue Erkenntnisse auf dem Gebiet der germanistischen Forschungen. In der Korpuslinguistik sollte das Prinzip gelten, dass für jedes Projekt ein eigenes Korpus erforderlich ist, auch wenn man auf vorhandene Korpora zurückgreift. Dank korpuslinguistischer Forschungen können Daten über die funktionale Belastung von verschiedenen grammatischen Phänomenen und lexikalischen Einheiten gewonnen werden. Auf diese Weise zeigt sich deren Ort im Zentrum oder an der Peripherie des Sprachsystems. Zur Zeit sind auch die inter- und transkulturelle Sicht auf Kultur und Literatur von großer Bedeutung. Schwerpunkt der literaturwissenschaftlichen Forschung sind z.B. die „inter- oder transkulturelle Literatur“, der „Kulturtransfer“ oder der „transkulturelle Vergleich“. Auch in der Sprachwissenschaft hat das Thema „Zentrum und Peripherie“ in den vergangenen Jahren an Bedeutung gewonnen. Hier sind es vor allem Themen wie Sprachkontakt und Sprachvergleich, die untersucht und analysiert werden. Transkulturalität oder eine ‚transkulturelle‘ Gesellschaft sollen die Hierarchie von Zentrum und Peripherie auflösen und Austausch sowie Neuformierung von Kulturelementen egalisieren. Die didaktische Sicht auf Zentrum und Peripherie stellt ins Zentrum der Überlegungen unter anderem das Thema ‚Fehler‘, das eine fächerübergreifende Problematik, mit der sich neben Linguisten, Pädagogen, Didaktikern auch Soziologen und Psychologen beschäftigen, darstellt. Moderne Untersuchungen suchen z.B. Antworten auf die Fragen, was die Ursachen von Fehlern sind, und wie man sie 9 klassifizieren kann. Man stellt sich auch die Frage, ob Fehler immer negativ zu betrachten sind, oder ob sie beim Lernen und Lehren auch von Nutzen sein können. Diskutiert werden auch Fragen nach dem Verhältnis von System, Norm, Kanon und Praxis. Die meisten verschriftlichten Beiträge der Tagung werden in drei selbständigen Bänden präsentiert. Die im Band „Zentrum und Peripherie. Aus sprachwissenschaftlicher Sicht“ versammelten Beiträge decken eine breite Palette von Themenbereichen ab, die unterschiedliche Aspekte der Spannung zwischen Zentrum und Peripherie widerspiegeln. Den Band eröffnen zwei Plenarvorträge. NORBERT R. WOLF vergleicht die Sprache mit einem Sprachspiel, erklärt, dass das Sprachspiel einen systemischen Charakter hat und betrachtet einen Text als sein Zentrum. LUDWIG M. EICHINGER widmet sich unterschiedlichen grammatischen Variationen an der Peripherie der deutschen Sprache und diskutiert die Variation als Systemfrage. VERONIKA KOTŮLKOVÁ zeigt in ihrem Beitrag die Vorteile einer korpusbasierten Datenerhebung für das Entdecken des Zentralen und des Peripheren im System der deutschen Sprache auf. Mehrere Beiträge suchen das Zentrum und die Peripherie im fachsprachlichen Bereich. LENKA VAŇKOVÁ widmet ihre Aufmerksamkeit der Begriffsbestimmung und Abgrenzung von Fachwörtern sowie der Erläuterung ihrer Stellung in nicht-fachlichen Kontexten zweier seriöser überregionaler Zeitungen, und EWA M. MAJEWSKA nimmt den Fachlichkeitsgrad der Fachwörter in deutschen medizinischen Zeitschriften unter die Lupe. MILAN PIŠL und MARTIN MOSTÝN untersuchen den Fachwortschatz in ausgewählten Ratgeber- und Diskussionsforen, die ihrer Ansicht nach einen neuen Kanal für die Vermittlung von Fachwissen bzw. für professionelle Beratung darstellen. Die folgenden Beiträge widmen sich der Sprache der Politik. EVA MOLNÁROVÁ stellt mehrere Forschungsansätze der Untersuchung von Sprache in der Politik sowie Charakteristika und Klassifikationen der politikbezogenen Wörter vor, KAMILA PUCHNAROVÁ untersucht typische Merkmale von Formulierungsverfahren bei Antworten in der politischen Diskussion und untersucht somit die gesprochene Sprache. Zusammenhänge zwischen dem Kollektivgedächtnis der Kommunikationspartner in einer soziokulturellen Kommunikation und ihren Erfahrungen, Einstellungen, Werten und Interessen zeigt anhand konkreter Beispiele ZDENKO DOBRÍK. MICHAL RUBÁŠ diskutiert in seinem Beitrag die hermeneutische Zeichentheorie von Manfred Frank im Kontext der neuesten diskursanalytischen Ansätze. TEREZA HRABCOVÁ stellt sich in ihrem Beitrag die Frage, durch welche sprachlichen Mittel des medialen Diskurses zur Beeinflussung der Meinung und folglich auch Handlung Wirkungen beim Leser erzielt werden. Zentrum und Peripherie in der deutschsprachigen Literatur im Vergleich mit der tschechischen Literatur wählte zum Thema ZDEŇKA VYMEROVÁ, die Erkenntnisse ihrer Forschungsarbeit anhand von Übersetzungen in beiden Sprachrichtungen vorstellt. GABRIELA RYKALOVÁ beschreibt in ihrem Beitrag unterschiedliche 10 Verwendungsmöglichkeiten von deutschen Partizipien, und zwar auf der Basis analysierter Korpusdaten, die als authentisches Sprachmaterial den tatsächlichen Gebrauch des Partizips widerspiegeln. MOJMÍR MUZIKANT und ROLAND WAGNER untersuchen zentrale und periphere Varianten des Lexems abfallen und zeigen interessante linguistische Besonderheiten an der Peripherie dieses Lexems. Den metasprachlichen Markierungen von Phrasemen im Spiegel der phraseologischen Basisliteratur widmet sich der Beitrag von MICHAELA KAŇOVSKÁ. JANA HOFMANNOVÁ zeigt anhand von korpusbasierten Untersuchungen die Spezifika des Gebrauchs der geschlechtspezifischen Phraseologismen im Deutschen. JÜRGEN EHRENMÜLLER stellt sich die Frage, ob die Metaphorik ein peripheres oder zentrales Phänomen der Sprache darstellt und widmet sich der konventionalisierten Spielmetaphorik im Gegenwartsdeutschen. Im Zusammenhang mit dem Prozess der Grammatikalisierung beschreibt PETRA SZATMÁRI zentrale und periphere Passiv-Konstruktionen. Aus sprachhistorischer Sicht widmen sich dem Zentrum und der Peripherie die letzten beiden Beiträge. Familiennamen deutscher Herkunft in den Kirchenbüchern an der Wende vom 19. zum 20. Jh. sind Thema des Beitrags von HENRYK DUSZYŃSKI-KARABASZ. Ins 13., 14. und 15. Jahrhundert führt uns VLASTIMIL BROM, der anhand ausgewählter, vor allem deutschsprachiger historiographischer Texte des Hoch- und Spätmittelalters die Strategien der Versprachlichung von ‚Herrschaft‘ untersucht. Gabriela Rykalová Veronika Kotůlková Foreword Zentrum und Peripherie (Centre and Periphery) was the main topic of the conference with the same title that was held from 25th to 27th May 2016 at Silesian University in Opava. The gathering of almost 90 experts from nine countries was organized by the Association for German Studies in the Czech Republic together with the Department of German Studies at Silesian University in Opava. The main objective of the conference was to investigate the centre and the periphery of the language from various points of view and provide an overview of new methods and findings in the field of linguistic, literary and didactic research. Within the individual contributions, many questions were posed and many different approaches presented in relation to the given issues, all of which took place in five sections: Centre and Periphery of the German Language, Creation and Analysis of a Language Corpus, Literature Approached Interculturally vs. Transculturally, Canon and Norm in Literature and Didactics of Literature, Error and How to Deal with It. Each language system is dynamic. That is why linguists are chiefly interested in the question of which units of the language system are to be found in the centre of the system and which units tend to occur on the periphery. The corpus-linguistic view of the centre and periphery theory offers many new findings in the field of German studies. In corpus linguistics it applies that every project requires its own corpus 11 although existing corpora may be utilized as well. Owing to studies in corpus linguistics it is possible to gain information about the functional load of various grammatical phenomena and lexical units. Their position in the centre of the language system or on its periphery thus becomes perfectly clear. Inter- and transcultural view of culture and literature has also been recently growing in importance. Among the pillars of the current literary research are “inter- or transcultural literature“, “cultural transfer“, and “transcultural comparison“. The topic of “centre and periphery“ has increased in importance in the field of linguistics as well, namely topics such as language contact or comparison of languages. Transculturality and transcultural society erase the hierarchy of the centre and the periphery and recreate the contact among cultural elements. The didactic view of the centre and the periphery is dominated by the research in the area of errors, which is a topic that pertains to linguistics, pedagogy, and didactics as well as sociology and psychology. Modern studies search for answers to the questions of what are the causes of errors and how errors might be classified. Whether errors must only be viewed negatively or whether it is possible to utilize them when learning and teaching also remains a question to be answered. Often discussed is the relation between the system and the norm, the canon and the praxis. The majority of the conference contributions are published in three separate volumes. The contributions included in the volume entitled “Centre and Periphery. The Linguistic Viewpoint“ offer a wide range of views of the centre and periphery issue. The volume opens with the texts of two plenary lectures. It is NORBERT R. WOLF’S opinion that it is text that stands in the centre. He compares the language with language play and explains that language play has a systemic character. LUDWIG M. EICHINGER focuses his attention on various grammatical variations on the periphery of the German language system and discusses variation as a system question. In her contribution VERONIKA KOTŮLKOVÁ highlights the benefit of corpus data for identifying the central language phenomena and their differentiation from the peripheral ones. Many authors search for the centre and the periphery in the area of specialist texts. LENKA VAŇKOVÁ studies specialist terminology and its relevance to non-specialist context of two interregional broadsheet newspapers, and EWA M. MAJEWSKA investigates the various degrees of specialist expressions in medical journals. MILAN PIŠL and MARTIN MOSTÝN devote their attention to specialist terminology in advisory and discussion forums, which they consider as the new channel for mediation of expert findings. Other contributions deal with the language of political discourse. EVA MOLNÁROVÁ presents various methods of investigating the language of politics, and she also studies the characteristics and classification of the vocabulary of politics. KAMILA PUCHNAROVÁ leads us into the field of spoken language by examining the typical features of forming an answer in political discourse. ZDENKO DOBRÍK points out the correlation between the collective memory of communication part12 ners in the course of socio-cultural communication, and their experience, opinions, values and interests. MICHAL RUBÁŠ discusses Manfred Frank’s hermeneutic theory of the language sign in the context of the most recent findings in the field of discourse analysis. In her contribution TEREZA HRABCOVÁ poses the question of which language devices are used in the media to influence the readers’ opinion. The topic of ZDEŇKA VYMEROVÁ’S paper is the centre and the periphery in the German-language literature in comparison with the Czech literature. Her findings are based on her study of translations from both languages. GABRIELA RYKALOVÁ describes the various ways of using German participles based on an analysis of corpus data, which constitute authentic material mirroring the real usage of this grammatical form. MOJMÍR MUZIKANT and ROLAND WAGNER investigate the central and the peripheral variants of the lexeme abfallen, and they point out interesting linguistic oddities on the periphery of this lexeme. MICHAELA KAŇOVSKÁ devotes her attention to the metalanguage of naming phrases in the field of basic literature on phraseology. Based on an analysis of corpus data JANA HOFMANNOVÁ demonstrates the particularities of using gender-specific phrases in the German language. JÜRGEN EHRENMÜLLER poses a question of whether metaphor is a peripheral or central language phenomenon. From the viewpoint of the grammaticalisation process PETRA SZATMÁRI describes the central and the peripheral passive constructions. The contributions concluding the volume examine the issue of centre and periphery from the historical viewpoint. HENRYK DUSZYŃSKI-KARABASZ focuses his attention on family names of German origin in religious books dating back to the 19th and 20th centuries. VLASTIMIL BROM guides the readers to the 13th, 14th and 15th centuries by analysing selected, particularly German historiographical texts of the mid and late Middle Ages and directing his attention to the various language forms of the expression ‘Herrschaft’. Gabriela Rykalová Veronika Kotůlková 13 14 Der Text als Zentrum des Sprachspiels Norbert Richard Wolf Annotation Die Sprache kann mit einem Schachspiel verglichen werden: Einerseits ist der jeweilige Spielstand ein System, in dem einzelne Figuren in einer bestimmten Relation zu anderen Figuren stehen. Darüber hinaus aber ist jedes Spiel ein dynamischer Vorgang, in dem aufgrund von Spielregeln und der Strategie der Spieler permanent neue Spielstände erreicht werden. In diesem Sinn hat das Sprachspiel systemischen Charakter. Das Prinzip von Zentrum und Peripherie kennzeichnet auch das System des Sprachspiels. Das Sprachspiel ist also ein Gebilde mit einem kompakten Kern und einer diffusen Peripherie, die in die Peripherie einer oppositiven Kategorie oder Klasse übergeht. Die Kategorien oder Klassen des Sprachspiels sind aber nicht oppositive Einheiten mit jeweils bestimmten Merkmalen. Die Kategorien des Sprachspiels sind vielmehr Situationen, in denen sich Texte gewissermaßen ,bewähren’ müssen, also Situationen, die von Texten bewältigt werden müssen. Dies betrifft sowohl die Produktion als auch die Rezeption von Texten. Schlüsselwörter Sprachspiel, Text, Textlinguistik Mehrere Werke des 20. Jahrhunderts, die sich mit fundamentalen Fragen der Sprache befassen, bringen als Beispiel und als Metapher das Schachspiel. Daraus möchte ich zwei auswählen. Diesen beiden Werken ist gemeinsam, dass sie erst postum veröffentlicht worden sind. Des Weiteren ist beiden Werken gemeinsam, dass sie unser Fach, die Sprachwissenschaft, ganz wesentlich beeinflusst haben. Das erste Werk ist Ferdinand de Saussures ‚Cours de linguistique générale‘, der von Schülern auf der Basis von Vorlesungsmitschriften herausgegeben und im Jahre 1916, also vor rund 100 Jahren, veröffentlicht worden ist. Unter dem Titel ‚Grundfragen der Allgemeinen Sprachwissenschaft‘ ist der ‚Cours‘ in der Übersetzung von Herman Lommel im Jahre 1931 erschienen und hat so im Deutschen gewirkt; allerdings hat das Werk seine große Wirkung erst nach dem Zweiten Weltkrieg erreicht. Vor diesem Krieg wurde es von der deutschen Sprachwissenschaft kaum zur Kenntnis genommen. Dies könnte auch erklären, warum es nach dem Zweiten Weltkrieg zu dieser Überrezeption vor allem US-amerikanischer Linguistik gekommen ist und man im deutschen Sprachraum, besonders in der Germanis15 tik, die reiche eigene wissenschaftliche Tradition nahezu vergessen hat; man wollte nicht noch einmal etwas versäumen. Zurück zu de Saussure: „Unter allen Vergleichen, die sich ausdenken lassen, ist am schlagendsten der zwischen dem Zusammenspiel der sprachlichen Einzelheiten und einer Partie Schach. Hier sowohl als dort hat man vor sich ein System von Werten, und man ist bei ihren Modifikationen zugegen. Eine Partie Schach ist gleichsam die künstliche Verwirklichung dessen, was Sprache in ihrer natürlichen Form darstellt.“ (de Saussure, 1967, S. 104–105) Für de Saussure ist immer nur die Synchronie sprachlich relevant, gewissermaßen der jeweilige Zustand, in dem die Figuren zueinander in bestimmten Relationen stehen; in diesem Sinn stellt ein Schachbrett ein System dar. Zwischen zwei systematischen Zuständen gibt es nur einzelne Züge von Figuren, die das System verändern (können). Ansonsten haben die verändernden Spielzüge keinerlei systematische Funktion und keinerlei systematischen Charakter. Für die Position einer Figur im System des Schachbretts verwendet de Saussure den Begriff „valeur“ (de Saussure, 1985, S. 125) bzw. „Wert“ (de Saussure, 1967, S. 105), also einen Begriff aus der Nationalökonomie. Daraus ergeben sich zwei Aspekte: • „Da die Sprache ein System ist, dessen Glieder sich alle gegenseitig bedingen und in dem Geltung und Wert des einen nur aus dem gleichzeitigen Vorhandensein des andern sich ergeben“ (de Saussure, 1967, S. 136), können wir im Sinn der strukturellen Semantik die Bedeutung sprachlicher Zeichen als eine Relation zwischen „Signifiés“ (de Saussure, 1985, S. 158), also zwischen Inhaltseiten sprachlicher Zeichen ansehen. Auf diese Weise unterscheidet sich die ‚Bedeutung‘ vom Signifié bzw. vom Inhalt. • Die ‚Bedeutung‘ eines Zeichens ist also eine Relation eines Zeicheninhalts zu den Inhalten anderer Zeichen. Die Summe aller Relationen konstituiert ein System. Das will sagen, dass die Elemente eines Systems unterschiedliche Positionen einnehmen (können); bei einer Änderung des Systems ändern sich die Positionen der Elemente bzw. die Relationen, die dieses System ausmachen. Änderungen eines Systems und innerhalb eines Systems sind also in dem Vergleich mit dem Schachspiel einzelne Züge, die allerdings nicht willkürlich getan werden können: „Zweitens ist das System immer nur ein augenblickliches; es verändert sich von einer Stellung zur andern. Allerdings hängen die Werte auch und ganz besonders von einer unveränderlichen Übereinkunft ab: nämlich der Spielregel, welche vor Beginn der Partie besteht und nach jedem Zug bestehen bleibt. Diese ein- für allemal anerkannte Regel besteht auch in sprachlichen Dingen; es sind die feststehenden Grundsätze der Semeologie.“ (de Saussure, 1967, S. 105) 16 Die Sprache in der Zeit ist demnach eine Abfolge von Zuständen. Einfache Vorgänge dazwischen führen von einem Zustand zu einem anderen; „in der Sprache“ beziehen sich „die Veränderungen nur auf isolierte Elemente“. Doch „nur die Zustände sind von Wichtigkeit“ (de Saussure, 1967, S. 105). Die „Veränderungen“ sind trotz ihrer Isoliertheit nicht willkürlich, sondern sind regelgesteuert. Das heißt, dass Änderungen nicht gegen die Struktur des Systems möglich sind. Andererseits nimmt de Saussure nicht zur Kenntnis, dass es keinen Zustand auf einem Schachbrett gibt, den nicht zwei Spieler herbeigeführt haben. Er hypostasiert somit das Sprachsystem, das aus sich und für sich existiert und sich verändert. Das zweite Werk, das auf das Schachspiel als eine Vergleichsgröße zurückgreift und auf das ich hier etwas näher eingehen will, sind die ‚Philosophischen Untersuchungen‘ (PU) Ludwig Wittgensteins. Dieses Werk erscheint, im Gegensatz zum frühen ‚Tractatus logico-philosophicus‘, der das erste Mal im Jahre 1921 erschienen ist und die ideale Sprache, also die Sprache der Logik, des klaren Denkens und der Mathematik zum Thema hat, „als eine verwirrende Sammlung von Überlegungen, die zwar manchmal, für sich genommen, glänzend sind, aber keine Einheit besitzen, kein Gedankensystem bieten“ (Malcolm, 1968, S. 7) Wittgenstein hat sich in den 30er und 40er Jahren intensiv mit den ‚Philosophischen Untersuchungen‘ beschäftigt, zudem ist „gewiß […], daß Wittgenstein bis 1949 oder 1950 am Text gearbeitet hat“ (Schulte, 2006, S. 620). Im Gegensatz zum ‚Tractatus‘ geht es in den ‚Philosophischen Untersuchungen‘ um die Philosophie der normalen Sprache. „Normal“ ist für Wittgenstein ein Adjektiv, das Alltagssituationen, wie wir sie täglich erleben und in und mit denen wir unsere Sprache erworben haben, kennzeichnet: „Nur in normalen Fällen ist der Gebrauch der Worte uns klar vorgezeichnet; wir wissen, haben keinen Zweifel, was wir in diesem oder jenem Fall zu sagen haben. Je abnormaler der Fall, desto zweifelhafter wird es, was wir nun hier sagen sollen. Und verhielten sich die Dinge ganz anders, als sie sich tatsächlich verhalten – gäbe es z.B. keinen charakteristischen Ausdruck des Schmerzes, der Furcht, der Freude; würde, was Regel ist, Ausnahme und was Ausnahme, zur Regel; oder würden beide zu Erscheinungen von ungefähr gleicher Häufigkeit – so verlören unsere normalen Sprachspiele damit ihren Witz.“ (PU Nr. 142). Das Register zu den ‚Philosophischen Untersuchungen‘ von Wolfgang Breidert (in Wittgenstein, 2006) nennt als Synonyme für normal die Adjektive „alltäglich, gebräuchlich, gewöhnlich“. Die normale Sprache ist also die Sprache der normalen Fälle; sie ist das Werkzeug für das „Sprachspiel“: „Ich werde auch das Ganze: der Sprache und der Tätigkeiten, mit denen sie verwoben ist, das ‚Sprachspiel‘ nennen.“ (PU Nr. 7) 17 Sprachspiele sind demnach „Verhaltensabläufe, in denen Sprechen und anderes Handeln miteinander ‚verwoben‘ sind“ (von Savigny, 2011, S. 8). Ein Sprachspiel umfasst zwei Systeme, die beide sowohl als Regelsysteme als auch in der ‚konkreten‘ Verwendung relevant sind: das System der Sprache („das Ganze der Sprache“) und das System der Sprachverwendung („das Ganze der Tätigkeiten“). „Sprache“ ist demnach „eine regelgeleitete Tätigkeit“, in der die beiden Regelsysteme unterschiedlich funktionieren: Das System der Sprache, also „die Regeln der Grammatik […] bestimmen […] nicht, welche Züge/Äußerungen erfolgreich sein werden, sondern vielmehr, was richtig und sinnvoll ist, und definieren damit das Spiel/die Sprache“ (Glock, 2000, S. 325f.). Aus dem „Ganzen der Tätigkeiten“ folgt auch, dass einzelne Elemente wie etwa die Wörter eine Bedeutung haben, die aber „nicht der Gegenstand“ ist, „für den es [das Wort, NRW] steht“, sondern sie „ist durch die Regeln bestimmt, die seine Funktion bestimmen“ (Glock, 2000, S. 326). In diesem Zusammenhang bekommt die Analogie zum Schachspiel ihre Aufgabe: „Wenn man jemandem die Königsfigur im Schachspiel zeigt und sagt ‚Das ist der Schachkönig‘, so erklärt man ihm dadurch nicht den Gebrauch dieser Figur, – es sei denn, daß er die Regeln des Spiels schon kennt.“ (PU Nr. 31) Entscheidend für die Definition einer Schachfigur ist nicht deren Aussehen, das sind vielmehr die Möglichkeiten, die man mit dieser Figur aufgrund der Regeln in einem Spiel hat. Man kann mit einer Figur mehrere, will sagen: unterschiedliche Züge machen, welchen Zug man in einer bestimmten Situation wählt, hängt von der Spielerstrategie ab, die wiederum sowohl von den Fähigkeiten des Spielers als auch von seiner Bewertung der Spielsituation abhängt. Mit anderen Worten: die Intention des Spielers bzw. der Spieler ist etwas Komplexes: „‘Das ist ja das Merkwürdige an der Intention, am seelischen Vorgang, daß für ihn das Bestehen der Gepflogenheit, der Technik, nicht nötig ist. Daß es z.B. denkbar ist, zwei Leute spielten in einer Welt, in der sonst nicht gespielt wird, eine Schachpartie, ja auch nur den Anfang einer Schachpartie, - und würden dann gestört.‘ Ist aber das Schachspiel nicht durch seine Regeln definiert? Und wie sind diese Regeln im Geist dessen gegenwärtig, der beabsichtigt, Schach zu spielen?“ (PU Nr. 205) Dieses Zitat zeigt sehr schön, dass Wittgenstein seine Argumentation ebenfalls als ein Sprachspiel gestaltet: Zuerst wird eine These geäußert bzw. zitiert; die Anführungszeichen machen deutlich, dass es sich um die Äußerung einer anderen Person handelt. Die Erwiderung wird in zwei Fragen gekleidet, die die kommunikative Funktion von rhetorischen Fragen haben; der Fragende setzt voraus, dass die Antworten bekannt und akzeptiert sind. Wenn eine Person Schach spielt, muss sie 18 Regeln kennen, und die Regeln kennen heißt, dass sie „im Geist gegenwärtig“ sein müssen. An anderer Stelle verdeutlicht Wittgenstein den sozialen Charakter der Regeln und somit der Sprache: „Ist, was wir ‚einer Regel folgen‘ nennen, etwas, was nur ein Mensch, nur einmal im Leben, tun könnte? - Und das ist natürlich eine Anmerkung zur Grammatik des Ausdrucks ‚der Regel folgen‘. Es kann nicht ein einziges Mal nur ein Mensch einer Regel gefolgt sein. Es kann nicht ein einziges Mal nur eine Mitteilung gemacht, ein Befehl gegeben, oder verstanden worden sein, etc. – Einer Regel folgen, eine Mitteilung machen, einen Befehl geben, eine Schachpartie spielen sind Gepflogenheiten (Gebräuche, Institutionen).“ (PU Nr. 199) Da „einer Regel folgen“ oder eine Sprache verwenden „Gepflogenheiten“ sind, sind sie Konventionen, die in einer Gesellschaft existieren und auch das Leben dieser Gesellschaft bestimmen. Die „Regeln“ des Sprachspiels „regieren“ den Gebrauch von sprachlichen Einheiten „in der Sprache“; und die Konventionen des Sprachgebrauchs sind die „Gepflogenheit“, den Regeln „zu folgen“ (Fann, 1971, S. 73–74). Die Gepflogenheiten „setzen eine Gesellschaft, eine Lebensform voraus“ (Fann, 1971, S. 74). Wittgenstein verwendet den Vergleich mit dem Sprachspiel also in ganz anderem Sinn als vor ihm de Saussure. Für de Saussure wird durch diesen Vergleich klar, dass er die Sprache als ein statisches System sieht, das sich durch vereinzelte, isolierte Züge ändert; die Sprachgeschichte wird dadurch eine Aufeinanderfolge von synchronischen Zuständen. Demgegenüber hat Wittgensteins Vergleich deutlich gemacht, dass es Sprache ohne Sprecher und ohne deren Einbettung in die Gesellschaft nicht gibt. Ein Schachspiel ist eine regelgeleitete Interaktion, bei der aber nicht das Regelwerk allein den Gang der Dinge bestimmt, sondern die Strategie und die Einschätzung der Lage durch die Spieler. Auf diese Weise sind nicht nur die Sprecherintention, sondern auch die Modalität als „Ausdruck des sprechenden Menschen“ (Wolf, 2009, S. 25) konstitutive Elemente des Sprachspiels. Damit wird natürlich auch jeder rein formalen Grammatik widersprochen, weil nur Grammatiken, die auch Bedeutungen berücksichtigen, ihre Rolle im Sprachspiel und in dessen Beschreibung adäquat wahrnehmen können. Wittgenstein weiß auch, dass es nicht nur interaktive Spiele, also Spiele von zwei oder mehr Personen, gibt, sondern dass eine einzelne Person auch ein Spiel für sich allein spielen kann. Wittgenstein erwähnt da die Patience oder das Spiel eines Kindes mit einem Ball: 19 „Betrachte z.B. einmal die Vorgänge, die wir „Spiele“ nennen. Ich meine Brettspiele, Kartenspiele, Ballspiel, Kampfspiele, usw. Was ist allen diesen gemeinsam? – Sag nicht: ‚Es muß ihnen etwas gemeinsam sein, sonst hießen sie nicht ‚Spiele‘‘, sondern schau, ob ihnen allen etwas gemeinsam ist. – Denn wenn du sie anschaust, wirst du zwar nicht etwas sehen, was allen gemeinsam wäre, aber du wirst Ähnlichkeiten, Verwandtschaften, sehen, und zwar eine ganze Reihe. Wie gesagt: denk nicht, sondern schau! – Schau z.B. die Brettspiele an, mit ihren mannigfachen Verwandtschaften. Nun geh zu den Kartenspielen über: hier findest du viele Entsprechungen mit jener ersten Klasse, aber viele gemeinsame Züge verschwinden, andere treten auf. Wenn wir nun zu den Ballspielen übergehen, so bleibt manches Gemeinsame erhalten, aber vieles geht verloren. – Sind sie alle ‚unterhaltend‘? Vergleiche Schach mit dem Mühlfahren. Oder gibt es überall ein Gewinnen und Verlieren, oder eine Konkurrenz der Spielenden? Denk an die Patiencen. In den Ballspielen gibt es Gewinnen und Verlieren; aber wenn ein Kind den Ball an die Wand wirft und wieder auffängt, so ist dieser Zug verschwunden. Schau, welche Rolle Geschick und Glück spielen. Und wie verschieden ist Geschick im Schachspiel und Geschick im Tennisspiel. Denk nun an die Reigenspiele: Hier ist das Element der Unterhaltung, aber wie viele der anderen Charakterzüge sind verschwunden! Und so können wir durch die vielen, vielen anderen Gruppen von Spielen gehen. Ähnlichkeiten auftauchen und verschwinden sehen.“ (PU Nr. 66) Auch ein Sprachspiel muss nicht immer Interaktion oder Kommunikation sein, sondern kann dem Bedürfnis einer einzelnen Person dienen. Ein ganz persönliches Tagebuch – um ein einfaches Beispiel zu bringen – dient nur selten der Kommunikation; oft genug wird behauptet, dass gerade ein Tagebuch die Form sei, in der eine Person mit sich selbst kommuniziert. Diese ‚Meinung‘ halte ich für einen Taschenspielertrick. Viel plausibler ist die Auffassung, dass eine Person ein Tagebuch deshalb führt, weil sie gewisse Erlebnisse, Eindrücke, Einsichten einfach ausdrücken muss, um mit ihnen in irgend einer Form fertig zu werden. Sprache ist nicht nur das wichtigste Kommunikationsmittel unter Menschen, sondern in erster Linie ein Mittel, Bewusstseinsinhalte, also Inhalte der Kognition und der Emotion auszudrücken. Nur auf diese Weise können diese Inhalte dann auch kommunizierbar werden. Im Gegensatz zu seinem Frühwerk, dem ‚Tractatus logico-philosophicus‘, verwendet Wittgenstein später keine besondere Fachterminologie, die auf formalisierter Grundlage beruht, mehr, sondern terminologisiert Alltagswörter wie ‚Spiel‘ oder ‚Gepflogenheit‘, allerdings nicht dadurch, dass er sie präzise definiert, sondern, seiner Spieltheorie entsprechend, dadurch, dass er diese Wörter gebraucht und dadurch Regeln schafft. Dem entspricht auch die Textstruktur des Werkes. Es hat 20 nicht die logisch ausgeklügelte Dezimalnummerierung wie der ‚Tractatus‘, die in wissenschaftlicher Prosa geradezu musterbildend gewirkt hat: „Der Tractatus logico-philosophicus ist ein merkwürdiges und einzigartiges Buch, bestehend aus sieben ‚Hauptsätzen‘, denen der logischen Gewichtung nach, in Dezimalnummerierung, erklärende Nebensätze untergeordnet sind. Mit seiner Kürze, Redundanzvermeidung und seinem prägnanten Stil wurde er zu einem der einflussreichsten Texte des 20. Jahrhunderts.“ (Eggers, 2014, S. 27) Es ist gerade die Gliederung, die den ‚Tractatus‘ zum Text macht. Demgegenüber bestehen die ‚Philosophischen Untersuchungen‘ aus teilweise fragmentarisch wirkenden Textteilen, von denen jeder für sich selbständig zu sein scheint. Sie machen den Eindruck von Tagebucheintragungen, die isoliert voneinander entstanden sind. Mit anderen Worten, die ‚Philosophischen Untersuchungen‘ sind ein Supertext, der aus insgesamt 693 Einzeltexten besteht. Die kürzesten dieser Texte werden von nur einem Satz gebildet, etwa: „Ein ‚innerer Vorgang‘ bedarf äußerer Kriterien.“ (PU Nr. 580) Es ist deutlich, dass dieser eine Satz die Funktion eines Textes hat und somit selbständig für sich stehen kann, d.h. keines Kontextes bedarf. Trotz dieses Befundes ist festzuhalten, dass Wittgenstein in der grammatischen Tradition seiner Zeit bleibt, indem er besonders die sprachlichen Einheiten Wort und Satz ins Zentrum stellt und schon nicht mehr beachtet, dass die Figuren des Schachspiels ihre ‚Bedeutung‘ auch dadurch erhalten, dass sie für verschiedene Züge in ihren Kontexten gebraucht werden (können). Ich habe den Eindruck, dass sich Wittgenstein um die Art der ‚Produkte‘ des Sprachspiels nicht allzu viele Gedanken macht: „Wieviele Arten der Sätze gibt es aber? Etwa Behauptung, Frage und Befehl? – Es gibt unzählige solcher Arten: unzählige verschiedene Arten der Verwendung alles dessen, was wir ‚Zeichen‘, ‚Worte‘, ‚Sätze‘, nennen. Und diese Mannigfaltigkeit ist nichts Festes, ein für allemal Gegebenes; sondern neue Typen der Sprache, neue Sprachspiele, wie wir sagen können, entstehen und andre veralten und werden vergessen.“ (PU Nr. 23) Zeichen, Worte oder Wörter und Sätze sind, wie gesagt, in diesem Zusammenhang nur Produkte von Sprachspielen. Welchen sprachlichen und sprachwissenschaftlichen Status diese Produkte haben, interessiert Wittgenstein, zumindest in diesem Zusammenhang, nicht. Wohl aber macht Wittgenstein deutlich – dies sei am Rande erwähnt –, dass die Sprachspiele etwas Historisches sind, genauso wie die Sprecher und deren Bedürfnisse. Aus all dem ergibt sich eine große Vielfalt von Sprachspielen: 21 „Führe dir die Mannigfaltigkeit der Sprachspiele an diesen Beispielen, und anderen, vor Augen: Befehlen, und nach Befehlen handeln – Beschreiben eines Gegenstands nach dem Ansehen, oder nach Messungen – Herstellen eines Gegenstands nach einer Beschreibung (Zeichnung) – Berichten eines Hergangs – Über den Hergang Vermutungen anstellen – Eine Hypothese aufstellen und prüfen – Darstellen der Ergebnisse eines Experiments durch Tabellen und Diagramme – Eine Geschichte erfinden; und lesen – Theater spielen – Reigen singen – Rätsel raten – Einen Witz machen; erzählen – Ein angewandtes Rechenexempel lösen – Aus einer Sprache in die andere übersetzen – Bitten, Danken, Fluchen, Grüßen, Beten.“ (PU Nr. 23) Diese Vielfalt ist natürlich nur eine kleine Auswahl aus allen Möglichkeiten. Wittgenstein geht über jede Philosophie oder Logik der Alltagssprache hinaus, indem er die sprachliche Realität nicht auf einige wenige Typen reduziert, sondern vielmehr auf die nahezu unendliche Vielfalt menschlichen Lebens verweist. Nicht nur die Internetenzyklopädie ‚Wikipedia‘ führt Wittgensteins ‚Philosophische Untersuchungen‘ als Vorläufer der sogenannten Sprechakttheorie, die in der linguistischen Pragmatik eine große Rolle spielt, an: „Die Philosophischen Untersuchungen übten einen außerordentlichen Einfluss auf die Philosophie der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts aus; unter anderem die Sprechakttheorie bei John Langshaw Austin und John Rogers Searle sowie der Erlanger Konstruktivismus (Paul Lorenzen, Kuno Lorenz) bauen auf den hier entwickelten Ideen auf.“ (URL 1) Eine Äußerung Wittgensteins in den ‚Philosophischen Untersuchungen‘ könnte diese Annahme bestätigen: „Das Wort ‚Sprachspiel‘ soll hier hervorheben, daß das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Lebensform.“ (PU Nr. 23) Wittgenstein verwendet hier nicht den Begriff der ‚Handlung‘, wie ihn z.B. schon Karl Bühler in seiner Sprachtheorie, die 1934 in erster Auflage erschienen ist, gebraucht (Bühler, 1934, S. 45 et passim). Er spricht von „Tätigkeit“ und sagt 22 zudem, dass Sprechen „ein Teil einer Tätigkeit“ ist, dass also zum Sprechen noch mehr gehört als nur die Äußerung sprachlicher Elemente. Wichtig aber ist, dass Wittgenstein für das Syntagma „Teil einer Tätigkeit“ die Alternative „Teil einer Lebensform“ anbietet und damit von vornherein – ich formuliere absichtlich überspitzt – die Reduktion der Vielfalt menschlichen Lebens auf fünf Sprechakttypen ablehnt. Die scheinbare terminologische Unschärfe bei der Bezeichnung der Produkte verweist uns darauf, dass die grundlegende Einheit des Sprechens oder des Sprachspiels eben nicht das Wort oder der Satz ist, sondern der Text, auch wenn dieser Begriff, der die fundamentale sprachliche Einheit bezeichnet, in den ‚Philosophischen Untersuchungen‘ fehlt, was dem damaligen sprachwissenschaftlichen Wissensund Bewusstseinsstand entspricht. Der Text ist, einem klassischen Dictum Peter Hartmanns zufolge, das „originäre sprachliche Zeichen“ (Hartmann, 1971, S. 10). Unser Denken und Erkennen geht immer in komplexen Gefügen vor sich, nie in einzelnen Sätzen oder gar in einzelnen Wörtern: „Wenn wir anfangen, etwas zu glauben, so nicht einen einzelnen Satz, sondern ein ganzes System von Sätzen.“ (Über Gewißheit, zit. nach Kenny, 1996, S. 300) Die Wörter existieren im Lexikon einer Sprache, für die Bildung von Sätzen bestehen relativ feste Regeln. Demgegenüber ist die Bildung von Texten ziemlich frei und variabel, weil sich ein Text immer einer Situation anpassen muss. Ein Satz kann allein mit sprachlichen Mitteln definiert werden, zu einem Text kommen notwendigerweise außersprachliche Elemente dazu. Ich sage gerne: Ein Text ist ein sprachliches Gefüge, das in einer Situation als Einheit gilt. D.h., dass die Situation ein wesentliches Definiens des Textes ist. Das Sprachspiel hat, wie wir gesehen haben, systemischen Charakter. Daher gilt auch dafür die Feststellung, dass das Prinzip von Zentrum und Peripherie auch das System des Sprachspiels kennzeichnet. František Daneš charakterisiert „die sprachlichen Kategorien oder Klassen“ nicht als „geschlossene[] Schachteln“, sondern als „Gebilde mit einem festen oder kompakten Kern (oder Zentrum) und einer diffusen Peripherie, die in die Peripherie einer oppositionalen Kategorie oder Klasse übergeht oder in sie eindringt“ (Daneš, 1982, S. 133). Auf diese Weise können wir heute sehr schön die dialektale Gliederung des deutschen Sprachraums beschreiben, bei der wir Kernregionen mit den Kennzeichen eines Dialektareals haben und dazwischen Übergangszonen, in denen die Merkmale des einen Areals ab- und die des anderen Areals zunehmen. Die „Kategorien oder Klassen“ des Sprachspiels sind indes nicht oppositive Einheiten mit jeweils bestimmten Merkmalen. Die „Kategorien“ des Sprachspiels sind vielmehr Situationen, in denen sich Texte gewissermaßen ‚bewähren‘ müssen, also Situationen, die von Texten bewältigt werden müssen. Je weiter wir uns vom Zentrum eines solchen Systems entfernen, desto weniger ist ein Text 23 situationsadäquat. Ein solcher Text kann im sozialen Leben zu Problemen führen. Dies betrifft sowohl die Produktion als auch die Rezeption von Texten. „Meier geht zu dem Mieter, der die Wohnung unter ihm hat, und sagt: ‚Ich will meinen Flur tapezieren – wieviele Rollen Tapete haben Sie denn damals für Ihren gekauft?‘ ‚Sieben.‘ Herr Meier bedankt sich, und geht wieder nach oben. Eine Woche später kommt er erneut: ‚Was haben Sie denn da erzählt? Ich habe ganze fünf Rollen übrig behalten!’ ‚Das war bei mir damals genauso …‘“ (URL 2) Herr Meier hat seine Frage nicht optimal formuliert, und der Nachbar ist nicht der optimale Rezipient. Für die Sprachwissenschaft ergeben sich aus diesen Überlegungen zwei zentrale Aufgaben des Faches: • Die Beschreibung des Baus einer Sprache, dies allerdings zuvörderst sub specie textus, sodass auch die Regeln der Sprachverwendung Teil des ‚Sprachbaus‘ werden. • Zu unseren wesentlichen sozialen Aufgaben gehört es, die Texte, die unsere Mitmenschen produzieren, zu verstehen. Einen Text verstehen heißt diesen Text analysieren. Die Sprachwissenschaft muss also das Instrumentarium zur Textanalyse, zur Analyse aller Sprachspiele und Sprachspielarten erarbeiten und zur Verfügung stellen. Wir hier in Opava, wir – die ‚Troppauer Schule der sprachwissenschaftlichen Textanalyse‘ – haben begonnen, eine Text-, Satz- und Wortgrammatik zu konzipieren und zu erstellen, die die Grundlage(n) für die Textanalyse liefert. Abstract Language can be compared with a game of chess: on the one hand, a particular stage of the game is a system, in which the single figures are in a special relation with one another. Moreover, each game is a dynamic process in which the rules of the game and the strategy of the players constantly obtain new stages. In this way, a game with words has a systemic character. The principle of centre and periphery also characterizes the system of the language-game. Thus it is a construct with a solid nucleus and a vague periphery merging into the periphery of an oppositional category or class. The categories or classes of the language-game, however, are no oppositive units with particular distinguishing features. The categories of the language-game are rather situations in which texts have to cope with the situation, 24 i. e. in situations that have to be expressed by texts. This refers to the production of texts as well as to their reception. Keywords language-game, text, text linguistics Literaturverzeichnis Bühler, Karl (1934). Sprachtheorie. Stuttgart: Gustav Fischer. Daneš, František (1982). Zur Theorie des sprachlichen Zeichensystems. In: Scharnhorst, Jürgen / Ising, Erika (Hg.). Grundlagen der Sprachkultur. Beiträge der Prager Linguistik zur Sprachtheorie und Sprachpflege. Tl. 2. Berlin: Akademie, S. 132-173. Eggers, Katrin (2014). Ludwig Wittgenstein als Musikphilosoph. Freiburg/München: Alber. Fann, K. T. (1971). Die Philosophie Ludwig Wittgensteins. München: List. Glock, Hans-Johann (2000). Wittgenstein-Lexikon. Aus dem Englischen übers. von Ernst Michael Lange. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Hartmann, Peter (1971). Texte als linguistisches Objekt. In: Stempel, Wolf Dieter (Hg.). Beiträge zur Textlinguistik. München: Fink, S. 9-29. Kenny, Anthony (Hg.) (1996). Ludwig Wittgenstein. Ein Reader. Stuttgart: Reclam. Malcolm, Norman (1968). Wittgensteins ‚Philosophische Untersuchungen‘. In: Über Ludwig Wittgenstein. Mit Beiträgen von Norman Malcolm, Peter Frederick Strawson, Newton Garver u. Stanley Cavell. Frankfurt (Main): Suhrkamp, S. 7-51. Saussure, Ferdinand de (1967). Grundfragen der Allgemeinen Sprachwissenschaft. 2. Aufl. Berlin: de Gruyter. Saussure, Ferdinand de (1985). Cours de linguistique générale. Édition critique préparée par Tullio de Mauro. Saint-Germain: Éditions Payot. Savigny, Eike von (2011). Sprachspiele und Lebensformen: Woher kommt die Bedeutung? In: Savigny Eike von (Hg.). Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen. 2. Aufl. Berlin: Akademie, S. 7-32. Schulte, Joachim (2006). Notiz zu den Texten. In: Wittgenstein, Ludwig. Tractatus logico-philosophicus. Tagebücher 1914-1916. Philosophische Untersuchungen. Frankfurt (Main): Suhrkamp, S. 619-621. Wittgenstein, Ludwig (2006). Tractatus logico-philosophicus. Tagebücher 1914-1916. Philosophische Untersuchungen. Frankfurt (Main): Suhrkamp. 25 Wolf, Norbert Richard (2009). Modalität als Ausdruck des sprechenden Menschen. In: Spáčilová, Libuše / Vaňková, Lenka (Hg.). Germanistische Linguistik und die neuen Herausforderungen in Forschung und Lehre in Tschechien. Brno: Vaydal, S. 25-33. Internetquellen URL 1: Philosophische Untersuchungen. In: Wikipedia. https://de.wikipedia.org/ wiki/Philosophische_Untersuchungen [15.03.2016]. URL 2: www.witze-planet.de/schlagwort/missverstandnis [15.03.2016]. 26 Grammatische Variation. Am Rande der deutschen Standardsprache Ludwig M. Eichinger Annotation Eine am Gebrauch orientierte Sprachbeschreibung ist auch in der Grammatik mit sprachlicher Variation und mit Veränderungen des Gebrauchs konfrontiert. Anhand dreier Beispiele aus dem zentralen Bereich der deutschen Grammatik soll gezeigt werden, dass sich in der Variation, die man dort beobachtet, eine funktionale Nutzung des vorhandenen Inventars darstellt. Diese funktionale Nutzung ist dadurch gekennzeichnet, dass seltenere und daher synchron auffälligere Konstruktionen für spezifische Funktionen genutzt werden. Der Genitiv ist tatsächlich aus formalen Gründen seiner Morphologie auffällig. Er ist nicht vom Dativ unterschieden beim Femininum, doppelt markiert bei den starken Maskulina und Neutra und nur beschränkt bildbar im Plural. Diese Eigenheiten beschränken seine Nutzung als normaler Kasus. Gerade aber die auffällige Markierung mit dem Element {-(e)s} hat dazu geführt, dass der Genitiv nun zur Anzeige genereller Abhängigkeit genutzt wird, und zwar als Genitivattribut wie als unmarkierte Form bei einer Gruppe von Präpositionen (wie dank, trotz, wegen, entlang usw.). Beim zweiten Fall, dem Verhältnis von starken und schwachen Verben, zeigt sich, dass der Übergang von der starken zur schwachen Flexion, die erkennbar den Normalfall im morphologischen System darstellt, gerade häufige und in ihrer Bedeutung grundlegende Verben (wie geben, nehmen usw.) nicht betrifft, so dass die starke Flexion als Markierung für solch einen zentralen Status gelten kann. Der dritte Punkt hängt damit zusammen: das Ausgreifen der würde-Form als Konjunktiv II (auch bei gut markierten starken Verben) ist so im größeren Zusammenhang der Nutzung von Klammerformen zu sehen. Schlüsselwörter Markiertheit, Variation, funktionale Nutzung, Gebrauchsveränderungen, zentraler Status 1. Zum Rahmen: Der Strukturalismus und seine Folgen Seit gut hundert Jahren haben wir uns im Gefolge des de Saussure’schen Cours daran gewöhnt, die Sprache als ein System zu sehen, in dem sich alles gegenseitig stützt. Diese grundlegende Abstraktion der seither so genannten 27 modernen Linguistik fokussiert auf die Verlässlichkeit des Zusammenhalts. Schon früh wird aber auch, nicht zuletzt im Prager Funktionalismus, auf Abstufungen in der funktionalen Belastung hingewiesen. Es gibt Unterschiede, die auch in einer systembezogenen Betrachtung einen Platz finden sollten. Noch weiter gehen Überlegungen, die man mit dem Namen Eugenio Coserius verbinden wird, letztlich spielt bei ihm erstmals die Gebräuchlichkeit bestimmter Formen eine Rolle: Seine Norm lässt sich als ein System des Gebrauchs verstehen. In sprachphilosophischen Überlegungen wird eigentlich schon parallel zu solchen Entwicklungen an Erklärungen des Gebrauchs, wenn man so will an einer pragmatischen Grammatik, gearbeitet. Vor allem mit dem Namen Ludwig Wittgensteins wird unter dem Stichwort der „Sprachspiele“ die Beschreibung von Mustern sprachlichen Gebrauchs verbunden und zu einer Aufgabe sprachwissenschaftlicher Beschreibung. Was immer man aus dieser sehr groben Skizze lesen kann, klar ist, dass der Blick auf Variation intensiver wird, dass Variation einen zentraleren Platz in der Beschreibung einnimmt.1 Man kann sich fragen, ob das nur eine wissenschaftshistorische Entwicklung beziehungsweise eine Diskussion spiegelt, oder ob mit der Variation etwas in den Blick genommen wird, was unsere sprachliche Welt zunehmend prägt. Vermutlich ist es nicht verwunderlich, dass in bestimmtem Ausmaße beides wahr ist. 2. Stabilität und Variation Man kann also auch schon auf zwei Ebenen Antworten auf die Frage suchen, was das Deutsche sei und was es gewesen sei. Man kann die empirischen Fragen zu diesen sprachlichen Zuständen von zwei Seiten her angehen, einerseits von der Seite des Systems her, und daher nach Verschiebungen im System und nach den Folgen solcher Verschiebungen für die Architektonik der Systemzusammenhänge suchen, oder andererseits nach der Veränderung der Interaktionsbedingungen durch die gesellschaftlichen Zeiten und Situationen fragen und danach, was die Konsequenzen aus Veränderungen auf dieser Ebene sind. Beiden Arten von Fragen soll im Weiteren exemplarisch nachgegangen werden. Für beide Ebenen ist von Bedeutung, dass man die sprachliche Entwicklung als die Phasen eines atmenden Systems verstehen kann, also eines Systems, in denen Phasen der Diffusion mit solchen der Konzentration wechseln. Längere Phasen der Geschichte des Neuhochdeutschen auf dem Weg der Standardisierung sind vom Sog zur Einheitlichkeit gekennzeichnet. Je ausgebauter die Interaktionsmöglichkeiten auf dieser Basis werden, desto stärker eröffnen sich paradigmatische Möglichkeiten der Realisierung, es gibt eine parallele Bandbreite von systematischen Optionen2. 1 Zu diesen Überlegungen s. Eichinger (2016). 2 Diese Zusammenhänge werden ausführlich dargelegt in Eichinger (2017). 28 3. Variation als Systemfrage: vom Genitiv (und vom Dativ) Die Diskussion um den Status, und normalerweise um den schwindenden Status, des Genitivs ist ein Klassiker der sprachkritischen Diskussion, deren systematische und deren Gebrauchsseite erst in den letzten Jahren sprachwissenschaftlich erhellt wurde. Wenn man das zusammenfasst und interpretiert, kommt man zu vier Punkten, die wir anschließend behandeln wollen. Zum ersten kann man in etwas provokanter Form feststellen, dem Genitiv gehe es gut, er ist aber kein Kasus mehr. Dieser – etwas weniger provokant gesagt – marginale Status im deutschen Kasussystem hat zur Folge, dass es zu einer gewissen Umfunktionalisierung kommt. Diese Umfunktionalisierung nutzt die Eignung der Genitivformen, oder zumindest eines Teils von ihnen, ihn als einen starken Marker von Abhängigkeit auszubauen. Diese Verschiebung hat merkliche Folgen am Übergang zwischen Konstruktions-Eigenheiten und stilistischer Nutzung. Es ist letztlich nicht überraschend, dass sich damit Schwankungen am Rande der üblichen Gebräuche ergeben, die zu normativen Diskrepanzen führen. Dass es dem Genitiv insgesamt gut gehe, ist eine überraschende Behauptung. Sie bedarf der Begründung. Der vermutlich unbestrittenste Punkt in dieser Richtung ist, dass der Genitiv der strukturelle Marker für die Abhängigkeit im nominalen Bereich ist, also substantivisches Attribut. Das gilt systematisch, die GenitivMorphologie indiziert eigentlich nicht mehr als „Abhängigkeit“, die verschiedenen Namen für die Genitivattribute spezifizieren Kontextbedingungen, ggf. auch syntaktische („genitivus subiectivus“), die dann in spezifischere semantische Interpretationen der Abhängigkeitsrelation führen. Dieser Tatbestand und auch die Stellung der Genitiv-Konstruktionen zu relativ beschränkten verwendbaren Alternativen lassen sich durch die folgenden Beispiele andeuten. In ihnen wird auch unmittelbar sichtbar, dass mit ihrer Nutzung, wenn sie im gleichen Kontext verwendbar sind, eine stilistische Markierung verbunden ist.3 (1) (2) (3) (4) Das Thema meines Vortrags / meiner Vorlesung Das Thema von meinem Vortrag / von meiner Vorlesung ?Meines Vortrags Thema / ??Meiner Vorlesung Thema [meinem Vortrag sein Thema / ???meiner Vorlesung ihr Thema] Tatsächlich ist die Lage noch etwas komplizierter, so spielt unter anderem gelegentlich auch der weiträumigere Kontext mit seinen Anschlussmöglichkeiten eine Rolle. So mag man sich auf den ersten Blick fragen, warum in den folgenden beiden Beispielen einmal der Genitiv und im anderen Fall an einer äquivalenten Stelle die von-Konstruktion gewählt wird: 3 Das natürlich ungeachtet der Verwendungen, bei denen es sich nicht um Alternativen handelt, etwa artikellose Plurale, Typ: die Hörer von Vorlesungen. 29 (5) (6) Für die vielen Beweise der Anteilnahme am Tod meines Mannes, unseres Vaters. (Vorarlberger Nachrichten, 03.04.1998) die Anteilnahme, die wir anlässlich des Todes von meinem Lebensgefährten, unserem Papa, Schwiegervater, Bruder und Opa. (Vorarlberger Nachrichten, 09.09.2000) Man darf vermuten, dass es im zweiten Fall um die Vermeidung des zweiten Attributs in der Reihe, also unseres Papas, ging, deren Akzeptabilität gering ist – was sicher mit einer der Gründe ist, warum man in solchen Fällen, auch bei Wahl eines ersten Genitivs, hier mit dem Dativ rechnen könnte, als eine Art constructio ad sensum, bei der der Genitiv an dieser Stelle implizit mit von reanalysiert wird. Man kann das auch als Beleg dafür sehen, dass tatsächlich der Genitiv und die von-Konstruktion über ein Paradigma verrechnet werden. Das kann man in anderer Weise auch an den folgenden beiden Beispielen sehen. Selbst die determinierende und individualisierende Funktion des attributiven Adjektivs lässt die starken Genitive bei den beiden Kollektiva Obst und Gemüse auffällig erscheinen, die von-Konstruktion ist da ohnehin der Normalfall, und auch mit Adjektiv erscheint von jahreszeitgerechtem Obst und Gemüse zumindest stilistisch normaler4. (7) (8) Die gesundheitsbewussten Gäste konnten anhand eines beispielhaften Tagesplans mitverfolgen, wie man unter Verwendung jahreszeitgerechten Obsts und Gemüses ganz leicht und schmackhaft sogar mehr als die geforderte Menge von 450 bis 600 Gramm pro Tag zu sich nehmen kann. (Rhein-Zeitung, 23.03.2004) Außerdem lernen sie vieles über den Anbau und die Verwendung von Obst und Gemüse. (Mannheimer Morgen, 05.09.2003) Dennoch geht es dem Genitiv als Normalfall des substantivischen Attributs gut, wozu die relative Auffälligkeit des {-s}-Morphems das ihre beiträgt. Vor allem in komplexen attributiven Gefügen hilft eine solche wiederkehrende, deutlich sichtbare Abhängigkeitsmarkierung, die Konstruktionen durchsichtiger zu machen. Auffällig ist das etwa in Rechts- und Verwaltungstexten, bei denen die Setzung in nominalen Komplexen ein zentrales Texttypenmerkmal ausmacht. (9) Die Wirkungen der Entscheidung 2004/535 werden bis zum 30. September 2006, jedoch nicht über den Zeitpunkt des Außerkrafttretens des genannten Abkommens hinaus, aufrechterhalten. (http://www.springerlink.com/content/) (10) In Anerkennung der Bedeutung grundlegender Rechte und Freiheiten, insbesondere des Schutzes der Privatsphäre, und deren Achtung bei der Verhütung und Bekämpfung des Terrorismus und damit verbundener 4 Was nun seinerseits wieder mit der hohen phonetischen wie systematischen Auffälligkeit dieser Flexion am Substantiv zusammenhängt; s. Eichinger (2012). 30 Verbrechen sowie sonstiger schwerer Verbrechen transnationaler Art, einschließlich der organisierten Kriminalität. (http://eur-lex.europa.eu/) An diesen Texten sieht man einerseits diese Funktion, die Funktion dieser am Artikel und Substantiv gedoppelten starken Markierung sehr deutlich, sie wird ergänzt durch weitere vergleichsweise auffällige Marker, nämlich das {-er} bei den Adjektiven genitivischer Pluralformen und eines Pronomens wie deren. Es ist zumindest für diesen Texttyp zudem nicht untypisch, dass durch die Position bei einem deverbalen Kernsubstantiv die formal kritischen Fälle des Genitiv Singulars des Femininums, der ja mit dem Dativ formgleich ist, die Abhängigkeit positionell und syntaktisch („genitivus subiectivus“) verdeutlicht wird. In dieser Lesart kann man jedenfalls annehmen, dass der formal gänzlich übermarkierte {-s}-Genitiv, in der Terminologie Tesnières gesprochen, ein Translativ darstellt, das den attributiven Charakter, d.h. einen speziellen Fall von Dependenz, kennzeichnet. In diesem Denkmodell bedeutet das, dass dadurch signalisiert wird, dass hier eine substantivische Form „eigentlich“ nicht in substantivischer Funktion verwendet wird.5 Das passt, was verschiedentlich schon angemerkt wurde, zu weiteren Verwendungen des {-s}-Elements, dem damit eine Art derivationeller Ausdruck einer „uneigentlichen“ Verwendung eines Substantivs zugeschrieben wird. Einschlägige Fälle wären etwa die sogenannten adverbialen Genitive – zudem auch bei Feminina und in schwierigen Konstruktionen: (11) eines Tages, eines Nachts, tags darauf Aber auch - klassischer - der sogenannte sächsische Genitiv von und sonstige Eigennamen (hier genusbezogen: Neutrum) sowie verwandte (auch postponierte) Verwendungen, auch hier unabhängig vom Genus: (12) Vaters/Mutters Haus, *das Haus Vaters/Mutters; Ottos/Marias Haus, das Haus Ottos/Marias; Malis Besetzung/die Besetzung Malis, *Kongos Besetzung/*die Besetzung Kongos Man kann auch die Nutzung des Fugenelements insgesamt und daher der deutlich ihren flexivischen Geltungsbereich (Maskulina und Neutra) überschreitenden {s}Fuge als zusätzliches Signal einer unselbständigen Verwendung sehen – neben Zusammenschreibung und der morphologischen Isolierung, die nur den Bezug auf das Zweitelement zulässt. Typisch ist geradezu die Verwendung bei abgeleiteten Feminina: (13) Schönheitsoperation, Steuerungsprozess Wir befinden uns ganz offenkundig in einem Randbereich grammatischer 5 In der sehr wortartorientierten Konzeption Tesnières hieße das: „wird zum Adjektiv“ (s. Werner 2003); Weinrich betont in seiner Textgrammatik (Weinrich 2005) die funktionale Ähnlichkeit zu präpositionalen Verbindungen, was die Paradigmatik mit der von-Konstruktion nahelegt. 31 Funktionalisierung eines im Satzsyntaktischen marginal gewordenen, aber recht auffälligen und daher funktional belastbaren Elements. In diesem funktionalen Zusammenhang kann man auch die im letzten Jahrhundert zunehmende Vereindeutigung der Nicht-Akkusativ-Rektion einer Reihe von Präpositionen sehen, die historisch teils auf Genitive und teils auf Dative zu beziehen wären.6 Von Vereindeutigung kann man sprechen, da das ja wiederum nur die Maskulina und Neutra betrifft, während es im morphologischen Zwei-KasusSystem des Singulars des Femininums um eine Nicht-Akkusativ-Markierung geht. Ein Beispiel dafür wäre etwa eine historische Dativ-Präposition wie dank: (14) Sind erst einmal alle Widersacher - und dank des Zaubertranks bald Liebenden - auf der Insel verstreut, geht das rasante Wirr-Warr auch schon los. (Niederösterreichische Nachrichten, 01.07.2010) Dabei erscheinen die nach wie vor belegten Dativ-Fälle zunehmend als Ausdruck einer informelleren Ausdrucksweise: (15) Diese gibt es nun dank dem Ludwigshafener Anwaltsverein. (Mannheimer Morgen, 02.07.2010) Wenn man ansieht, welches Bild sich anhand einer Korpusuntersuchung von drei Zeitscheiben, nämlich zu Beginn, in der Mitte und am Ende des Zwanzigsten Jahrhunderts, zeigt, sieht das folgendermaßen aus: (16) 100 50 0 3. ZS Genitiv 2. ZS Dativ 1. ZS Femininum Singular Was immer geschieht, die Dativ-Verwendung geht deutlich zurück, und ein Großteil der in Texten an dieser Stelle vorkommenden Substantive sind ohnehin unterdifferenzierte Feminina. 6 Die historische Entwicklung dieser als gegenwärtiges Schwanken länger diskutierten Verteilung wird in Eichinger (2013) dargelegt. 32 Dass wir uns auch hierbei den Regeln am Rande der üblichen Morphologie befinden, mögen einige Belege zeigen, bei denen vor allem bei artikellosen Pluralen, aber auch anderen Fällen, letztlich die Markierung allein auf der Präposition liegt bzw. bei Substantiven, die nicht von Hause aus einen {-(e)n}-Plural haben, die einzige verfügbare Markierung – die des Dativs – gewählt wird: (17) Es sei wichtig, trotz Kinder die Partnerschaft und Freundschaften nicht zu vernachlässigen. (Frankfurter Rundschau, 11.03.1999, S. 3) (18) Will eine Mutter im Beruf trotz Kind flexibel sein. (Rhein-Zeitung, 11.07.2005) (19) Viele Frauen wollten trotz Kindern Karriere machen. (Mannheimer Morgen, 31.03.2001) Der Funktionsverschiebung auf diese Art der Signalisierung von Abhängigkeit entspricht auf der anderen Seite eine Spezialisierung der verbleibenden Gebräuche als Genitivkomplement. Die Verwendungen, die sich da finden, sind einerseits ein juristischer Sonderfall, andererseits stilistisch markiert oder konstruktionsmäßig gebunden (vgl. Eichinger 2012). Aber selbst bei diesen Fällen zeigen sich Übergangserscheinungen, die eine Angleichung an die üblichen Systemverhältnisse versuchen. So zeigt sich etwa beim Verb harren eine Angleichung an das präpositionale Muster des semantisch nahe stehenden Verbs warten auf: (20) Er harrte schon seit aller Herrgottsfrühe auf den von Trier kommenden Dampfzug. (Rhein-Zeitung, 06. 04.2010) 4. Variation als Normfrage: Verben 4.1. Nutzen und Nachteil starker Verben Im verbalen Bereich gibt es bei den Sprechern und Schreibern des Deutschen eine Reihe von Unsicherheiten. Viele von ihnen haben mit Verschiebungen im Gebrauch von starken und schwachen Verbformen zu tun – und mit deren Folgen im Bereich der Konjunktiv-Verwendung. Viele von ihnen werden in dem folgenden Ausschnitt angesprochen und ironisiert: (21) Auch in anderen Bereichen lassen sich die gleichen Entwicklungstendenzen beobachten, etwa im System des Konjunktivs. Hier geht die Entwicklung unaufhaltsam zu einem mit “würde” gebildeten Einheitskonjunktiv und zur Ersetzung der Möglichkeitsformen durch die Wirklichkeitsformen hin. Zu sehr klingen Sätze wie “O, hülfe er mir doch!” oder “Wenn er den Fluß durchschwömme, wäre er in Sicherheit” nach Grimms Hausmärchen oder altem Gesangbuch, zu groß ist offenkundig die Angst, falsche Formen zu verwenden. Lauten 33 die richtigen Formen “hülfe” oder “hälfe”, “beföhle” oder “befähle”, “gewänne” oder “gewönne”, “stände” oder “stünde”? “Alle glaubten, daß der Fisch tot ist” oder “... tot sei” oder aber “...tot wäre”, “Sie hätte das nicht behauptet, wenn sie ihn besser kennte” oder “besser kännte”? Wie unproblematisch ist da doch die würde-Umschreibung, wie verlockend die Flucht in die vertrauten Wirklichkeitsformen: “O, würde er mir doch helfen!”, “Wenn er den Fluß durchschwimmen würde, wäre er in Sicherheit”, “Sie hätte das nicht behauptet, wenn sie ihn besser kennen würde.” (taz, 06.06.1989, S. 12-13) Über alles gesehen haben diese Veränderungen damit zu tun, dass es zwei in gewissem Umfang gegenläufige Entwicklungen gibt. Einerseits hat sich bekanntlich die schwache Flexion zum regelhaften Normalfall entwickelt, was man unter anderem daran sieht, dass neue, im Kontext von Entlehnung entstandene, Verben nach diesem Muster flektiert werden, auch wenn das am Anfang nicht immer ganz einfach erscheint, wie man am Beispiel von Verben wie liken oder recyceln sehen kann: (22) Werden tolle Bilder zigmal gelikt, tut das schon gut. Es kommen auch viele Kommentare: Du bist so schön, du siehst super aus. Man kann sich so sehr viel Bestätigung und Beachtung holen. (SonntagsBlick, 13.07.2014) (23) Kein Material kann so leicht recycelt werden wie Glas - wenn es von Beginn an sauber nach Farben getrennt wird. (Rhein-Zeitung, 02.01.2003) Zudem ist eine Reihe von ehemals starken Verben, meist partiell, zu dieser Flexionsweise übergetreten, es geht um Verben wie backen, dingen, fechten, gären, saugen, sieden oder triefen.7 Dieser Prozess ist aber andererseits offenkundig zum Stillstand gekommen, die jetzige Situation für die verbliebenen starken Verben erscheint ungefährdet, es ist vielmehr geradezu so, dass es geradezu ein Merkmal für die semantisch-funktional zentrale Stellung ist, dass und wenn in einem bestimmten Bereich ein starkes Verb existiert. Es bleibt aber wahr, dass durch diese Veränderungen das ursprüngliche, etwa im Mittelhochdeutschen noch existente, relativ einfache System der starken Verben seine Struktur weithin verloren hat, so dass Unklarheiten beim genauen Vokalismus einzelner Formen auftreten. Damit gibt es zunächst im Wesentlichen zwei Problempunkte, nämlich die Übergänge zwischen starken und schwachen Verben und die Unsicherheiten über den richtigen Vokalismus: (24) Das, was man backte oder kochte, wenn die Familie zusammenkam. (Die Zeit, 26.05.2011) 7 Zu einer Liste der starken und unregelmäßigen Verben, in der auch die genannten Verben aufgeführt sind, vgl. Duden (2016: § 704). 34 (25) Ende April buk die Konditorin Fiona Cairns eine achtstöckige Torte. (Die Zeit, 02.06.2011) (26) Bier-Brot, das mit dem neuen Kirner Landbier gebackt wurde. (Rhein-Zeitung, 04.06.2011) (27) Der Ausbau solcher Angebote hälfe ihnen mehr als das bürokratisch komplexe Feigenblatt namens „Bildungs-Chip“. (Nürnberger Nachrichten, 06.12.2010) (28) Und wie müsste eine Liebe aussehen, die der Erkenntnis gewissermaßen auf die Sprünge hülfe? (Hannoversche Allgemeine, 10.09.2009) Zudem ist es so, dass auch diese Entwicklungen zum Teil durch Weiteres überlagert werden. So kann man am Beispiel des Verbs saugen eigentlich dreierlei sehen, nämlich erstens, dass über das Zwanzigste Jahrhundert hin tatsächlich der Gebrauch der starken Formen ab- und der der schwachen Formen entsprechend zunimmt. Allerdings sieht man zum zweiten, dass die Verwendung der starken Formen nach wie vor deutlich überwiegt. (29) 100 50 0 saugte/gesaugt 1. ZS sog/gesogen 2. ZS 3. ZS Zum dritten sieht man aber, dass mit dieser Verschiebung eine Bedeutungsdifferenzierung verbunden ist, die sich erst im Verlauf des Jahrhunderts zu stabilisieren scheint, mit einer „konkreteren“ Bedeutung bei der schwachen Form und einer eher fast metaphorischen und konstruktionell gestützten für die starken Formen, die mit ihrer relativen Auffälligkeit das signalisieren und diese Domäne beherrschen. So erscheinen jetzt die Beispiele (29) und (30) als sehr auffällig, während die Verteilung der Gebrauchsweisen in (31) und (32) den gegenwärtigen Normalfall repräsentiert: (30) Er verschluckte den Rauch, sog ihn in den Magen, mehr und immer mehr. (Ewers, Hanns Heinz, Alraune, München: Müller 1911) (31) der zerschlagene Mund, der gierig immer neue Mengen Wodka in diesen geschändeten Leib sog, stöhnte in weltferner Trauer. (Dürrenmatt, Friedrich, Der Verdacht, Einsiedeln: Benziger 1955). 35 (32) Und so sog sie viele Einflüsse dieses kunsthistorischen Paradieses in sich auf. (Nürnberger Nachrichten, 19.02.2009, S. 7) (33) Die Putzfrau hat bestimmt drum herum gesaugt. (Beate Dölling, Hör auf zu trommeln, Herz, Weinheim: Beltz & Gelberg 2003) Zu den bisherigen Ambivalenzen kommt noch dazu, dass sich der Konjunktiv II offenbar in zweierlei Weise an einer kritischen Stelle befindet. Einerseits von der Form her, andererseits von der Funktion. Offenkundig ist das System der schwachen Verben an der hier einschlägigen Stelle formal unterdifferenziert, Konjunktiv II und Präteritum fallen in allen Positionen zusammen – was für Konjunktiv I und Präsens in mindestens drei der sechs Formen auch stimmt.8 Hier bietet sich zur Klärung das Ausweichen auf die würde-Form an, die zudem Vorteile im Hinblick auf die Informationsverteilung hat. Von ihr wird noch die Rede sein; das folgende vielzitierte Bertolt-Brecht-Beispiel zeigt jedenfalls den stilistischen Nutzen des damit verbundenen Informationsverhalts: (34) Wenn die Haifische Menschen wären Vorfeld würden sie natürlich auch untereinander Mittelfeld Krieg führen Satzklammer In diesen wiederum zweiseitigen Prozess ist es einzuordnen, dass die eigentlich ja sehr deutlichen Konjunktiv II-Formen der starken Verben auch bei Lexemen, die im Indikativ häufig sind und keine Schwächung des starken Formeninventars zeigen, wie etwa sprechen, ebenfalls von dieser „Konjunktivschwäche“ betroffen sind. An diesem Beispiel sieht man, dass die noch vor hundert Jahren stark vertretene Form der ersten und (wohl vor allem) der dritten Person Singular deutlich an Bedeutung verloren hat, zwar die erste und dritte Person Plural auf niedrigem Niveau stabil geblieben ist, die Formen der zweiten Person aber schon lange keine Rolle mehr spielen: 8 Vgl. ich liebe/fürchte, du liebest[!]/fürchtest, wir/sie lieben/fürchten, ihr liebet[!]/fürchtet. 36 (35) 60 50 40 30 20 10 0 1. ZS 2. ZS 3. ZS 4.2. Vorteile der Satzklammer Die relativ restringierte Verwendung solcher Formen hängt wie gesagt auch damit zusammen, dass mit der würde-Form eine Option zur Verfügung stand und weitere Verbreitung fand, die gut ins System der Informationsverteilung bei komplexen Verbformen passt. Die grammatische Information kommt an der zweiten Stelle, der inhaltliche Kern am Ende des Mittelfeldes. Die Attraktivität und Modulierbarkeit dieser Struktur führt zu allerlei Versuchen des Systemausbaus an dieser Stelle. Die meisten sind allerdings eher im mündlichen Gebrauch üblich und haben sich standardnah nicht so recht durchgesetzt. Den vermutlich meistdiskutierten Fall dieses Typs stellt das sogenannte DativPassiv dar9, das eine einfache Thematisierung einer Dativ-Ergänzung erlaubt. Wie es zu dieser Konstruktion kommt, kann man an dem folgenden Beleg (35) mit seinen zwei parallel geführten Teilen gut sehen, die einen am Ende dann doch überraschen: (36) Eine Gruppe bekommt das Original-Präparat, eine andere ein Placebo, also ein Präparat ohne Wirkstoff, verabreicht. (Saarbrücker Zeitung, 02.04.2003) Gängiger ist diese Konstruktion in eher sprechsprachlichen Kontexten, dann gerne mit dem Verb kriegen: 9 Das ja auch schon einen Platz in den Standardgrammatiken gefunden hat, vgl. DUDEN (2016: § 807). 37 (37) Gehst Du als Anfänger in einen Skatekurs, dann kriegst Du dort als allererstes genau das ausgetrieben. (Wikipedia; Diskussion: Inlineskaten 29.10.2011) Weitere Konstruktionen dieses Typs stellen die verschiedenen Varianten der tun-Periphrase dar.10 Dabei gibt es einen auch im standardnahen Sprechen akzeptierten Fall, nämlich, wenn das Vollverb des Satzes thematisiert wird und so in das Vorfeld des Satzes rückt. (38) Finanziell lohnen tut sich das trotz aller Vorurteile nicht. (taz, 19.07.2004) Zwei andere Fälle, in denen die Formen des Verbs tun wie eine modalitätsmäßig unmarkierte Form eines Modalverbs behandelt werden – also kein sollen, müssen, können signalisieren –, gelten als mehr oder minder umgangssprachlich und sind in ihrer Verwendung regional begrenzt. Sie finden sich dominant im Südosten des deutschen Sprachgebiets: (39) “Der eine häkelt, der andere strickt: Ich tu gern basteln”, verrät Ida Pois. (Niederösterreichische Nachrichten, 03.04.2007) (40) Jein, nicht unbedingt, also man hat mehr Freizeit, täte ich jetzt einmal sagen. (Oberstufenschüler aus München, IDS-Korpus “Deutsch heute”). Letztlich gehört in diese Reihe die sogenannte Verlaufsform mit am, die einerseits einen deutlichen regionalen Kern im westdeutschen Raum („rheinische Verlaufsform“) hat, wo sie systematisch bei ganz vielen Verben als ein Element einer regionalsprachlichen Grammatik vorkommt. Belege wie der folgende gelten eindeutig als regional markiert: (41) [ich] bin da am Umbauen und gleichzeitig bin ich auch noch meine Wohnung am Renovieren. (Oberstufenschüler aus Koblenz, „Deutsch heute“) Dagegen gibt es einige wenige Verben – eigentlich nur überlegen, arbeiten und verzweifeln –, bei denen es sich um eine gängige, aber eben praktisch lexikalisch gebundene Konstruktion handelt: (42) Ich bin ziemlich hart am Arbeiten, meine Schulter wieder zu stärken. (Braunschweiger Zeitung, 15.05.2007, DeReKo) 10 Beispiele und Erläuterung nach Brinckmann/Bubenhofer (2012). 38 Diese drei Erscheinungen, der Gebrauch des würde-Konjunktivs, die Ausweitung im Bereich der tun-Periphrase und die Art der Nutzung der am-Verlaufsform, zeigen, wie sich Variation aus der funktionalen Attraktivität erklärt, die für das Deutsche in der Distanzstellung des Verbs liegt. Fazit Variation muss man – auch im „harten“ grammatischen Bereich – als Element des Normalzustandes einer modern ausgebauten Sprache begreifen, wie das z.B. die europäischen Sprachen sind. Wir haben in diesem Beitrag versucht, zum einen das an Beispielen zu zeigen, und zum anderen an drei ausgewählten grammatischen Bereichen den Zusammenhang der Folgen von Systemveränderungen und von Präferenzen im Gebrauch darzustellen. Zusammenfassend kann man drei Punkte festhalten. Erstens: Wie das Beispiel aus dem Kasus-System gezeigt hat, verhalten sich Sprachen und Sprecher ökonomisch – auch systematisch eher marginale Formen werden funktional eingesetzt. Zweitens: Gebrauchshäufigkeit korreliert mit funktionaler und praktischer Bedeutung – in diesem Sinn bilden „stabile“ starke Verben trotz und in ihrer formalen Vielfalt den Kern des Verbwortschatzes. Drittens: Zentrale Strukturmodelle sind aus dem Grund zentral, weil sie funktional attraktiv sind – die Klammerstrukturen im verbalen Bereich üben offenbar einen strukturellen Sog aus. Auf einer anderen Ebene kann man sagen, dass diese Variationsphänomene, die gerne als eine Schwächung der Sprache angesehen werden, eigentlich von ihrer Stärke zeugen. Abstract Variation is a central feature of language usage, and it even affects the central areas of the grammatical system. The choice of variants does not happen by chance, but rather, functional distinctions are to be signaled with it. Thus, rare and therefore more marked constructions are used for specific functions. This will be discussed with respect to three examples. The first relates to the case system of the German language. The genitive is a case with morphological peculiarities: in feminine nouns it is not distinguished from the dative; in male and neutral strong nouns it is marked in two places with the very clear ending -es, in the plural it cannot be formed in all contexts. These peculiarities restrict its use as a case on the sentence level. The clear identification by the element { es} however can be used in other contexts. It serves as a dependency signal for the genitive attribute and for a group of prepositions such as dank, trotz, wegen, etc. The second example relates to the fact that the weak inflection has developed into the normal case of the verbal inflection. Many former strong verbs have, at least partly, joined this pattern. On the other hand a large group of basic and frequent verbs such as geben or nehmen still form their forms 39 according to the strong inflection. Thus the use of strong forms on the other hand is evidence of the central position of the corresponding verb. The third example is about the extended use of the würde-form as a subjunctive II. It is to be seen in the context of the general significance of bracket constructions for the information structure of German sentences. Keywords markedness, variation, functional use, changes in language usage, central position Literaturverzeichnis Brinckmann, Caren / Bubenhofer, Noah (2012): „Sagen kann man’s schon, nur schreiben tut man’s selten - die tun-Periphrase. In: Konopka, Marek / Schneider, Roman (Hg.): Grammatische Stolpersteine digital. Festschrift für Bruno Strecker zum 65. Geburtstag. Mannheim: Institut für Deutsche Sprache, S. 159-166. DUDEN (2016): Die Grammatik. Hg. von Angelika Wöllstein. 9. Aufl. Berlin: Dudenverlag. 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Im Beitrag wird am Beispiel des deutschen Verbs lassen gezeigt, wie man sich ein Parallelkorpus bei sprachvergleichenden Analysen zu Nutze machen kann und wie man die Korpusbelege auswertet, um die zentralen Phänomene des jeweiligen Sprachsystems hervorzuheben. Schlüsselwörter Zentrum, Peripherie, Infinitivkonstruktionen, Textkorpus 1. Zentrum und Peripherie Das Begriffspaar ,Zentrum‘ und ,Peripherie‘ war in der sprachwissenschaftlichen Forschung immer bedeutsam. Es waren vor allem die Vertreter der Prager Schule (vgl. Daneš, 1982, S. 135), die die Sprache als ein sich ständig in Bewegung befindendes, sich immer weiter entwickelndes und deshalb als stets offenes System aufgefasst haben. Für die Zuordnung eines sprachlichen Phänomens zum Sprachzentrum oder zur Sprachperipherie sind vor allem die Distribution und die Frequenz maßgebend. Während zentrale Erscheinungen häufig gebraucht werden, ist für periphere Erscheinungen eine geringere Frequenz charakteristisch. Diese Tendenzen regeln wiederum den Usus und die Norm auf verschiedenen Ebenen der Sprache. (vgl. Heller, 1980, S. 163.) Um die zentralen Spracherscheinungen von den peripheren unterscheiden zu können, brauchen Sprachwissenschaftler sprachliche Daten. Grundsätzlich ist es möglich, sprachliche Daten aus vier unterschiedlichen Quellentypen zu gewinnen: durch Introspektion, durch Informantenbefragung, durch eine Belegsammlung oder durch ein Textkorpus. Diese Verfahrensweisen leisten Unterschiedliches. Besonders im Kontrast stehen die Introspektion und Korpusbelege. Das Befragen der eigenen Intuition führt meistens dazu, dass man in Grammatikbüchern auf Sätze wie den folgenden stößt: „Adam läßt Eva Monika Peter Paul ein Schwein schlachten lassen lassen lassen.“ (Erben, 1998, S. 369). Dieses Beispiel soll die 41 Komplexität der Infinitivkonstruktionen demonstrieren, der jeweilige Grammatiker macht sich jedoch nicht so viele Gedanken darüber, ob man tatsächlich so spricht. Man fragt sich also, was überhaupt ein Beispiel resp. ein Beispielsatz ist und was es / er leisten soll. Im herkömmlichen Sprachgebrauch ist ein Beispiel ein „beliebig herausgegriffener, typischer Einzelfall (als Erklärung für eine bestimmte Erscheinung od. einen bestimmten Einzelfall)“ (Duden, 1999, Bd. 2, S. 510). Selbstkonstruierte Sätze sind aber keine Beispiele im Sinne der oben aufgeführten Definition, sondern der Versuch, etwas zu beweisen, was ein Grammatiker nicht oder nicht so leicht gefunden hat, sodass er sich den Beweis für eine These selbst schafft. Eine sinnvolle Grammatik soll den Bau einer Sprache beschreiben, sie geht also von dem individuellen Sprechakt (Parole) aus zur Norm (im Sinne Eugenio Coserius) und kommt möglicherweise zum abstrakten System von Regeln (Langue). Es scheint also nicht sehr sinnvoll zu sein, eine Grammatik auf der Basis von selbstkonstruierten Beispielen zu schreiben. Nicht nur wegen des Bedürfnisses, authentische Beispiele einfach und schnell zu finden, sind in den letzten Jahrzehnten korpuslinguistische Studien sehr beliebt. Textkorpora bieten mehr oder weniger feste Sammlungen von Texten an, die immer als Ganzes untersucht und auch mit statistischen Methoden befragt werden (vgl. Scherer, 2006, S. 3). Auf diese Weise können wir sehen, was tatsächlich einmal verwendet wurde oder wird, was also nicht nur vom System her möglich ist, sondern was auf alle Fälle schon in den Bereich der Norm (wiederum im Sinn Coserius) eingetreten ist, und wie häufig etwas genutzt wird, also wie stark eine bestimmte Form, ein bestimmter Ausdruck, eine bestimmte Struktur funktional belastet ist. Anders gesagt, Korpusrecherchen helfen uns zu bestimmen, welche sprachlichen Phänomene im Zentrum des Sprachsystems stehen, welche eher an der Peripherie. 2. Ein Textkorpus im Einsatz Im Folgenden soll an einem konkreten Beispiel gezeigt werden, wie Textkorpora nutzbar gemacht werden, um zentrale Sprachphänomene von den peripheren unterscheiden zu können. Stellen wir uns zu Anfang eine einfache Frage: Wie wird die Konstruktion ‚lassen + Infinitiv‘ ins Tschechische übersetzt? Wenn man eine Sprache wissenschaftlich untersucht, findet bewusst oder unbewusst immer ein Vergleich mit anderen Sprachen statt. Eine sprachliche Erscheinung fällt einem auf, wenn sie keine Entsprechung in einer anderen Sprache hat, eine deutliche Abweichung aufweist, oder wenn in zwei typologisch unterschiedlichen Sprachen, wie das Deutsche und das Tschechische sind, zwei Konstruktionen vorkommen, die sich in ihrer Form und Funktion sehr ähnlich sind (vgl. Manshu Ide, 1996, S. 11). Das deutsche 42 Verb lassen und das tschechische Verb nechat geben uns in dieser Hinsicht ein interessantes Beispiel. Die Recherche in dem größten deutsch-tschechischen Wörterbuch von Hugo Siebenschein ergibt für das deutsche lassen zwei tschechische Äquivalente: nechat (nebránit, dopustit, připustit) und dát (vgl. Siebenschein, 2001). Da entsteht aber eine neue Frage: Mit welchem der zwei Verben wird lassen öfter übersetzt und in welchen Kontexten? Die Frage nach den quantitativen Angaben zum Vorkommen der jeweiligen sprachlichen Phänomene passt wunderbar in den Bereich der Korpuslinguistik. Für die Recherche wurde das deutsch-tschechische Parallelkorpus (vgl. URL 1) gewählt, als ein Repräsentant von kleinen Korpora. In einem kleinen Korpus kann man nämlich alle Daten zu einem Problem erheben und vollständig bewerten. Das grammatische Phänomen kann somit sehr gut untersucht werden. Die Ergebnisse der ersten Korpusrecherche werden in dieser Tabelle dargestellt: 210 (token) Tschechische Äquivalente der Konstruktion lassen+Infinitiv dát / dávat 53 (26%) nechat 43 (20%) andere 114 (54%) Es haben sich zwei mehr oder weniger vergleichbar große Gruppen gebildet, in denen die Konstruktion lassen + Infinitiv ins Tschechische entweder mit nechat + Infinitiv oder mit dát + Infinitiv wiedergegeben wird. In 54% der Fälle erscheint im tschechischen Text kein formales Äquivalent der deutschen Konstruktion. Diese quantitativen Angaben sind zwar sehr interessant, bringen in die Problematik jedoch kein klares Licht. Die rein korpusgesteuerte Untersuchung ist hier nicht ausreichend. Bei der Analyse der Daten muss sowohl die Intuition des Sprechenden einer Sprache und seine Fähigkeit, die Daten zu interpretieren, zum Tragen kommen, als auch das Wissen, das Linguisten über die Sprache haben. Ohne theoretische Kenntnisse kommen wir nicht weiter. 2.1. Dateninterpretation Schaut man sich die Beispielsätze, die die Korpusrecherche ergeben hat, genauer an, stellt man fest, dass die einleitende Forschungsfrage modifiziert werden muss. In erster Linie ist es nötig, nach der Funktion der Konstruktion lassen + Infinitiv in 43 den untersuchten Texten zu fragen. Das deutsche Verb lassen zeichnet sich durch eine Vielfältigkeit an unterschiedlichen Verwendungen aus, sodass die Sätze mit lassen + Infinitiv je nach ihrem Kontext unterschiedlich verstanden und interpretiert werden. Dank der Interpretation der Korpusdaten wurden vier unterschiedliche Verwendungen von lassen ermittelt: 2.1.1. Kausative Lesart Er ließ den Laden sofort schließen. (BCz 60) Dal obchod okamžitě zavřít. (Bde 88) Das Subjekt des finiten Verbs lassen gilt hier als der Veranlasser des Geschehens (ein kausativisches Subjekt). Außerdem drückt die Form schließen, die formal als Infinitiv Aktiv gilt, die Kategorie Passiv aus. Der Akkusativ wird hier also als Objekt des Infinitivs gelesen. Wir können den Satz etwa mit ‚Er veranlasste / bewirkte, dass der Laden sofort geschlossen wurde‘ paraphrasieren. Dem deutschen Kausativverb in diesem Satz entspricht das tschechische Verb dát. 2.1.2. Permissive Lesart Sie ließ Micha stehen und lief schnell zum Ausgang. (BCz 23) Nechala Mikiho stát a spěchala k východu. (Bde 31) Im Vergleich zu dem vorherigen Beispielsatz wird hier ein Zustand genannt, der nicht vom Subjekt des finiten Verbs veranlasst wird. Das Verb lassen drückt hier aus, dass der Zustand, in dem sich Micha befindet (Micha steht), bestehen bleiben kann. Das Verb lassen hat hier also die permissive Bedeutung. Als Äquivalent kommt im Tschechischen das Verb nechat vor. 2.1.3. Modale Lesart Sie hatten im Dienstunterricht gelernt, woran sich Republikflüchtlinge erkennen lassen. (BCz 83) Při průběžném zvyšování kvalifikace se učili, jak poznat člověka, který chce opustit republiku. (Bde 122) Die modale Lesart von sich lassen zeichnet sich dadurch aus, dass das Reflexivpronomen hier ein Indikator für die Passiv-Diathese ist, und dass man die Konstruktion mit Hilfe eines Modalverbs paraphrasieren muss (…woran Republikflüchtlinge erkannt werden können). In den entsprechenden tschechischen Sätzen kommt im Falle der modalen Bedeutung das Verb dát se vor. 44 2.1.4. Feste Wortverbindungen Am Rückweg habe sie sich die Vorhänge etwas durch den Kopf gehen lassen. (VCz 122) Na zpáteční cestě trochu uvažovala o závěsech. (Vde 114) Eine spezielle Gruppe bilden dann Konstruktionen, in denen lassen in festen Verwendungen gebraucht wird. Erst jetzt, nachdem die unterschiedlichen Lesarten der Konstruktion lassen + Infinitiv analysiert worden sind, kann erneut die Frage gestellt werden, welche tschechischen Äquivalente den unterschiedlichen Interpretationen von lassen entsprechen? Bei der folgenden kontrastiven Untersuchung werden nur die zwei häufigsten Lesarten von lassen betrachtet, in denen die Konstruktion lassen + Infinitiv entweder eine kausative (,etwas veranlassen’) oder eine permissive (,etwas zulassen’) Lesart aufweist. Die folgende Tabelle zeigt die Ergebnisse der kontrastiven Analyse. kausativ (123 tokens) permissiv (55 tokens) nechat 20 16% 23 55% dát / dávat 35 28% 0 0% Verb 44 36% 9 16% andere 24 19% 16 29% Aus der Tabelle geht eindeutig hervor, dass das deutsche lassen im Tschechischen nur im Falle der kausativen Lesart sowohl mit dem Verb nechat als auch mit dát/ dávat wiedergegeben wird, bei der permissiven Lesart kommt jedoch nur nechat in Frage. Das tschechische nechat weist genau wie das deutsche lassen sowohl die permissive als auch die kausative Lesart auf. Es entsteht somit die Frage, ob nechat im Falle der kausativen Lesart durch dát/dávat ersetzt werden kann. Um diese Frage beantworten zu können, war es nötig, auf das große Nationalkorpus der tschechischen Sprache zurückzugreifen. Bei der Korpusrecherche wurde zu allen kausativen Konstruktionen mit nechat + Infinitiv mindestens eine Variante mit dát/dávat gefunden. Es hat sich weiterhin gezeigt, dass das tschechische Verb dát die Doppeldeutigkeit des Verbs nechat eliminiert, indem es eindeutig die kausative Lesart signalisiert. Dies demonstriert auch das folgende Korpusbeispiel: 45 Der Keller, den Onkel Helmut aushob oder ausheben ließ, ... Sklep, který vykopal anebo nechal vykopat strýc Helmut ... Sklep, který vykopal anebo nechal vykopat strýc Helmut ... = Sklep, který vykopal anebo dal vykopat strýc Helmut ... Das Verb dát impliziert hier einen Agens als einen aktiven Veranlasser des Geschehens. Aus diesem Grund kann in Konstruktionen mit der permissiven Bedeutung das Verb nechat nicht durch dát ersetzt werden. In der Mehrzahl der Belege steht der deutschen Konstruktion mit kausativem lassen + Infinitiv keine formal entsprechende Konstruktion gegenüber, sondern ein Verb. Sehr oft ist es ein Verb mit einem Präfix: ... [sie] schnitt die Pilze zu kleinfingerdicken Scheiben, die sie auf mittlerer Flamme brutzeln ließ. ... houby rozkrájela na plátky silné jako malíček, jež pak osmažila na menším plameni. Beim Vergleich der zwei Sätze zeigt sich, dass die Kausativität im Tschechischen verloren geht, die Geschichte wird entschärft. Das tschechische Verb hat höchstens einen kausativen Verbalcharakter. In die Restgruppe wurden dann alle Sätze eingereiht, die eine gegenüber den deutschen Sätzen unterschiedliche syntaktische Satzstruktur aufwiesen. Die genauere Analyse der sogenannten Restgruppe hat eine interessante Erscheinung gezeigt. Während in deutschen Sätzen die Bedeutung ‚ein Geschehen veranlassen‘ durch das Verb lassen zum Ausdruck gebracht wird, wird in 90% der tschechischen Sätze aus dieser Restgruppe die Tatsache, dass das Subjekt von lassen der Veranlasser des Geschehens ist, explizit ausgedrückt, mit Verben wie z.B. vydat rozkaz (Befehl geben), na pokyn (auf Anordnung) oder muset (müssen), was jedoch Veränderungen der Satzstruktur mit sich bringt. Als der eine schon lallte und der andere schielte, gingen sie allein zum Grenzübergang in die Sonnenallee, hielten schicke Mercedesse an, ließen die Fahrer aussteigen … (BCz 59) Když už jeden šišlal a druhý šilhal, vydali se sami k hraničnímu přechodu na Sluneční třídě, kde zastavovali luxusní mercedesy, řidiči museli vystoupit, ... (Bde 86) Im Deutschen werden hier drei Handlungen miteinander koordiniert verbunden; diese syntaktische Struktur geht im Tschechischen aber verloren, weil hier die Fahrer das Subjekt sind. Die Konstruktionen sind zwar sachlich identisch, dass Modalverb muset (müssen) hat hier jedoch eine ganz andere Wirkung – es drückt eher die externe Notwendigkeit aus. 46 Was die permissive Lesart betrifft, überwiegen hier in der Restgruppe Fälle, wo die Konstruktion mit lassen + Infinitiv mit dem Verb dovolit (erlauben, zulassen) wiedergegeben wird, sodass der permissive Charakter der Konstruktion erhalten bleibt: In fast allen Fächern überdurchschnittlich gut, ließ er zwar von sich abschreiben, wollte dafür aber gelobt, von allen gelobt werden. Ač téměř ve všech předmětech byl nadprůměrně dobrý, dovoloval sice, aby se od něho opisovalo, chtěl však, aby se mu za to dostávalo chvály, ode všech chvály. 3. Fazit Wovon kontrastive Studien nur profitieren können, ist das Zusammenspiel von kleineren Korpora, die eine vollständige Untersuchung des jeweiligen Phänomens ermöglichen, und großen Korpora, die moderne Nationalsprachen repräsentieren. Die Recherche in einem kleinen Parallelkorpus hat es ermöglicht, das sprachliche Phänomen vollständig zu untersuchen und quantitativ auszuwerten. Bei der detaillierten Analyse wurden auch große Nationalkorpora untersucht. Ohne entsprechende sprachwissenschaftliche Beschreibung wären die vorgelegten Ergebnisse der kontrastiven Untersuchung allerdings nicht komplett. Die dargestellte Untersuchung hat ihre Relevanz auch im DaF-Bereich. Die Beispiele aus Korpora haben nämlich den Vorteil, dass sie die verschiedenen Verwendungen des jeweiligen Wortes auf der Grundlage realer Textbeispiele widerspiegeln. Besonders für deutsche Nichtmuttersprachler ist es dann wichtig, das Häufige und Wahrscheinliche im Sprachgebrauch zu beschreiben, weniger das Seltene, das vielleicht aber grammatikalisch möglich ist. Abstract To find central and peripheral phenomena of a particular language, we need language data. Nowadays, the usual way is to use text corpora. The aim of the paper is to demonstrate the use of a parallel corpus for an analysis of the German verb lassen. The results of the corpus queries help us to focus on central language phenomena which are relevant for the field German as a foreign language. Keywords Center, periphery, infinitive constructions, text corpus 47 Quellenverzeichnis1 [GDe] Grass, Günter (1999): Unkenrufe. München: Deutscher Taschenbuch Verlag. [GCz] Grass, Günter (1996): Žabí lamento. Übers. von Hanuš Karlach. Brno: Atlantis. [BDe] Brussig, Thomas (2001): Am kürzeren Ende der Sonnenallee. 12. Aufl. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag. [BCz] Brussig, Thomas (2001): Na kratším konci ulice. Übers. von Jana Zoubková. Praha: Odeon. [VCz] Viewegh, Michal (1998): Erziehung von Mädchen in Böhmen. Übers. von Hanna Vintr. Wien/München: Deuticke. [VDe] Viewegh, Michal (1997): Výchova dívek v Čechách. Brno: Petrov. [KCz] Kratochvil, Jiří (2005): Nesmrtelný příběh aneb Život Soni Trocké-Sammlerové čili Román Karneval. 2. Aufl. Brno: Petrov. [KDe] Kratochvil, Jiří (2000): Unsterbliche Geschichte oder Das Leben der Sonja Trotzkij-Sammler oder Karneval. Übers. von Kathrin Liedtke und Milka Vagadayová. Zürich: Ammann. Literaturverzeichnis DUDEN (1999). Das große Wörterbuch der deutschen Sprache. 10 Bände. Mannheim/Wien u.a.: Dudenverlag. Daneš, František (1982). Zur Theorie des sprachlichen Zeichensystems. In: Grundlagen der Sprachkultur. Beiträge der Prager Linguistik zur Sprachtheorie und Sprachpflege. Teil 2, S. 132 - 173. Erben, Johannes (1998). Zum Sprachwissenschaft 23, S. 367 - 380. Erscheinen der IDS-Grammatik. In: Heller, Klaus (1996). Zum Problem einer Reform der Fremdwortschreibung unter dem Aspekt von Zentrum und Peripherie des Sprachsystems. In: Nerius, Dieter / Scharnhorst, Jürgen (Hg.). Theoretische Probleme der deutschen Orthographie. Berlin: Akademie, S. 162 - 192. Manshu, Ide (1996). Lassen und lâzen. Eine diachrone Typologie des kausativen Satzbaus. Würzburger Beiträge zur deutschen Philologie, Bd. 17. Würzburg: Königshausen & Neumann. Scherer, Carmen (2006): Korpuslinguistik. Heidelberg: Winter. 1 Zitate aus Korpustexten werden im vorliegenden Beitrag nur mit in eckigen Klammern angeführten Kurzsiglen gekennzeichnet. 48 Siebenschein, Hugo (2001): Německo-český slovník I. + II. Velehrad: ICK Ráček. Dieser Beitrag entstand im Rahmen des Forschungsprojektes SGS/12/2016 „Moderne Herangehensweisen an die Textanalyse und -interpretation“ („Moderní přístupy k analýze a interpretaci textu“) am Institut für Fremdsprachen der Schlesischen Universität Opava. 49 50 Fachsprachen und der Alltag. Eine Untersuchung anhand der deutschen Tagespresse Lenka Vaňková Annotation In der Gegenwart muss man sich im Alltag mit vielen Fachwörtern auseinandersetzen, sowohl im fachlichen als auch im nicht fachlichen Kontext. Im Folgenden wird der Frage nachgegangen, mit welchen Fachausdrücken ein Leser / eine Leserin deutscher Zeitungen konfrontiert wird, also wie viel Fachwissen ihm / ihr zugemutet wird. Das Untersuchungskorpus besteht aus insgesamt zehn Ausgaben zweier seriöser überregionaler Zeitungen (der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Süddeutschen Zeitung). Die Aufmerksamkeit wird vor allem den theoretischen Ausgangspositionen und der methodischen Vorgehensweise bei der Ermittlung von Fachwörtern sowie der Erläuterung ihrer Stellung in nicht-fachlichen Kontexten gewidmet. Schlüsselwörter Fachwort, Medien, Fachwortschatz in Zeitungen, Zentrum der Fachwortschätze 1. Einleitung Wir leben in einer Gesellschaft, die oft mit dem Label Wissens- oder Informationsgesellschaft versehen wird. Diese Bezeichnung hängt mit der enormen technischen und wissenschaftlichen Entwicklung der letzten Jahrzehnte zusammen: So wie sich die Menge der Erkenntnisse vergrößert und der Erkenntnisprozess immer schneller vorangeht, wächst parallel damit der intensive Bedarf, all die neuen Erkenntnisse und Tatsachen in Begriffe zu fassen und diese Begriffe zu benennen. Das führt zu einem enormen Anstieg von Fachwortschätzen alter sowie ganz neuer Disziplinen, so dass man von einer Fachsprachenexplosion sprechen kann. Der Wortschatz der Fachsprachen ist schon seit Langem weitaus umfangreicher als der der Gemeinsprache. Viele Fachwörter sind nicht mehr nur exklusiver Besitz von Experten des entsprechenden Faches, sondern sie werden breiteren Bevölkerungsschichten präsentiert, wobei als Transportmittel für die fachsprachlichen Elemente die Massenmedien, darunter auch die Tagespresse dienen. Peter von Polenz (1999, S. 495) spricht von der „Verwissenschaftlichung der Sprache des öffentlichen Lebens“. Es besteht jedoch die Gefahr, dass „der unreflektierte Gebrauch fachsprachlicher Elemente zum Kommunika51 tionshindernis werden kann“ (Stolze, 2013, S. 48). In Anbetracht dessen stellten wir uns im Rahmen des Ostrauer Zentrums für Fachsprachenforschung folgende Fragen: Wie viel Fachwissen wird eigentlich einem Bürger / einer Bürgerin zugemutet? Mit wie viel Fachwörtern muss man sich in einer Alltagssituation, beim Lesen einer Tageszeitung auseinandersetzen? Gibt es auf diesem Gebiet interkulturelle Unterschiede? Kann man also Unterschiede zwischen deutschen und tschechischen Tageszeitungen bei der Vermittlung von Fachinhalten – in deren Ausmaß oder Frequenz – finden? All diesen Fragen gehe ich mit meinen Studierenden im Rahmen eines kleinen Projekts1 unseres Zentrums für Fachsprachenforschung nach. 2. Zu Methode und Korpus der Untersuchung Das Ausgangskorpus (A-Korpus) bilden je fünf gedruckte Ausgaben zweier überregionaler Zeitungen - der Süddeutschen Zeitung und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Es werden alle Fachwörter, die in diesem Korpus, d.h. in den einzelnen Ressorts der genannten Zeitungen, vorkommen, ermittelt und gesammelt, so dass eine Datenbank von Fachwörtern gewonnen werden soll, mit denen der Leser dieser Zeitungen (wenn auch in einem beschränkten Zeitraum) in Kontakt kommt. Um spezifizieren zu können, welche dieser Wörter zum Zentrum, d.h. zu den frequentiertesten Fachwörtern, gehören, wird ein größeres Korpus (V-Korpus) herangezogen. Dieses wird anhand des DeReKo, also dem Mannheimer Referenzkorpus, zusammengestellt, wobei dahinein vor allem regionale, zwischen 2010 und 2015 publizierte Zeitungen eingegliedert werden. Den letzten Schritt stellt der Vergleich mit der Situation in den tschechischen Zeitungen dar, der uns Aufschluss darüber geben soll, ob es wirklich Unterschiede in der Präsentation von Fachinhalten in Tschechien und in den deutschsprachigen Ländern gibt. Im Folgenden möchte ich auf einige Probleme eingehen, mit denen wir uns am Anfang des Projekts auseinandersetzen mussten. Bei den Recherchen von Zeitungstexten hieß unsere grundlegende Frage: Was ist eigentlich ein Fachwort, und was soll dementsprechend in unsere Datenbank eingegliedert werden?2 1 Es handelt sich um das Projekt „Präsentation von fachlichen Informationen im fachlichen und nichtfachlichen Kontext“ (Prezentace odborných informací v odborném i neodborném kontextu), SGS21/FF/2016–2017, in dessen Rahmen auch der vorliegende Beitrag entstanden ist. 2 Wie ein Fachwort / Terminus identifiziert werden kann, ist eine der zentralen Fragen auch bei der Suche nach Methoden und Instrumenten, die ein automatisches Erfassen von Fachwörtern in großen Korpora ermöglichen würden (vgl. Šrajerová, 2009). 52 3. Alltagssprache / Gemeinsprache – Bildungssprache – Fachsprache? Das Problem, wie ein Fachwort zu identifizieren und von einem Alltagswort abzugrenzen ist, hängt mit der seit Langem im Rahmen der Fachsprachenforschung geführten Diskussion darüber zusammen, wie man die Alltagssprache / Gemeinsprache und die Fachsprache voneinander abgrenzen kann. Es ist gerade der spezifische Wortschatz, der eine Fachsprache kennzeichnet, während es keine speziellen grammatischen Mittel von Fachsprachen gibt, sondern nur die größere Frequenz bestimmter grammatischer und textueller Mittel. Im Rahmen der Fachsprachenforschung gab es mehrere Versuche, eine Gliederung innerhalb der (Fach)wortschätze vorzunehmen. Hoffmann (1988, S. 118) spricht vom allgemeinsprachlichen Wortschatz, allgemeinwissenschaftlichen Wortschatz und fachspezifischen Wortschatz. Roelcke (2010, S. 57f.) führt eine Einteilung in vier Gruppen an: Er unterscheidet intrafachliche, interfachliche, extrafachliche und nicht fachliche Wörter. Die vertikale Gliederung innerhalb von Fachsprachen bemühte sich, die Gliederung in Termini, deren Inhalt durch eine Definition festgelegt ist, Halbtermini, die nicht definiert sind, und Fachjargonismen, die keinen Anspruch auf Exaktheit erheben, zu berücksichtigen (vgl. z.B. Hoffmann, 1988, S. 118). Es wird auch eine Unterscheidung zwischen der harten und weichen Terminologie vorgenommen (vgl. Teubert, 1999, S. 13). Harte Termini werden als Termini im klassischen Sinn aufgefasst, sie benennen fest definierte Begriffe, die innerhalb fixierter Grenzen statisch, unwandelbar sind, während die weichen Termini durch keine verbindlichen Definitionen festgelegt sind, sondern durch kontextuell eingeschränkte, partielle und als vorläufig gekennzeichnete Definitionsansätze, die oft an unvorhersehbaren Stellen in die Texte eingestreut werden. „Gerade in Bereichen, in denen besonders intensiv geforscht wird, gehört zur Weiterentwicklung von Theorien auch die permanente Definitionsarbeit an den zueinander in Beziehung gesetzten Begriffen.“ (Teubert, 1999, S. 13). Stolze (2013, S. 87ff.) macht darauf aufmerksam, dass während im Rahmen der Naturwissenschaften und Technik von Termini die Rede ist, im Rahmen der Sozial- und Geisteswissenschaften eher von Begriffswörtern gesprochen werden sollte. Solche Begriffswörter werden im wissenschaftlichen Diskurs konventionell vereinbart und sind daher oft strittig und damit vorläufig, oft an eine geisteswissenschaftliche Denkschule gebunden. Es wird manchmal auch eine Trennlinie zwischen Fachwort und Terminus gezogen: Dem Fachwort wird ein vorwissenschaftlicher Status zugewiesen, wobei es den Status eines Terminus dann erreicht, wenn seine Bedeutung durch eine Definition genau festgelegt ist (vgl. Fraas, 1998, S. 429). Fraas betont, dass sich jedoch diese Unterscheidung in der Fachsprachenforschung nie vollkommen etablieren konnte, „wohl weil sie weder besonders praktikabel noch sehr sinnvoll ist.” (Fraas, 1998, S. 429). Sie weist darauf hin, dass sogar die DIN-Norm beide Benennungen 53 synonym verwendet: „Ein Terminus ist als Element einer Terminologie die Einheit aus einem Begriff und seiner Benennung (auch Fachwort)” (DIN 2342, 1986, S. 6). Die lange Diskussion darüber, wie man das Fachwort vom gemeinsprachlichen Wort unterscheiden kann, führte zur Feststellung, dass keine scharfe Grenzziehung zwischen dem Fach- und Gemeinwort möglich ist, und dass man in Betracht ziehen muss, dass Fachwörter einen unterschiedlichen Fachlichkeitsgrad auf einer Skala aufweisen können.3 Im Zusammenhang mit der Sprache der Medien erscheint manchmal auch der Begriff ‚Bildungssprache‘, die als Brücke zwischen der Alltagssprache und Fachsprache angesehen wird. So ist nach Habermas (1981, S. 345) die Bildungssprache „die Sprache, die überwiegend in den Massenmedien, in Fernsehen, Rundfunk, Tages- und Wochenzeitschriften benutzt wird. Sie unterscheidet sich von der Umgangssprache durch die Disziplin des schriftlichen Ausdrucks und durch einen differenzierten, Fachliches einbeziehenden Wortschatz; andererseits unterscheidet sie sich von den Fachsprachen dadurch, daß sie grundsätzlich für alle offensteht, die sich mit den Mitteln der allgemeinen Schulbildung ein Orientierungswissen verschafft haben.“ Bergmann (2015) weist darauf hin, dass die Auslegung dieses Begriffs heute nicht einheitlich ist und im Zusammenhang mit verschiedenen Denkansätzen erscheinen kann: „Aus linguistischer Sicht ist der Begriff der Bildungssprache bisher weder definiert noch sind seine Merkmale in überschaubarer Weise beschrieben“ (Bergmann, 2015, S. 257). Peter von Polenz (2000, S. 43) verbindet diesen Begriff mit der Allgemeinbildung, Fremdsprachenkenntnis und Fachkompetenz. Die Markierung ‚bildungssprachlich‘ kann man z.B. auch im Duden4 finden, wobei sie als Stilmerkmal aufgefasst wird. Darunter versteht man: ‚Wörter (meist Fremdwörter), die eine hohe Allgemeinbildung voraussetzen‘ (z.B. Koryphäe, adäquat) (vgl. URL 1). In unserem Korpus wurden jedoch nur ganz wenige Wörter gefunden, die im Duden mit der Markierung ‚bildungssprachlich‘ gekennzeichnet sind. Außerdem 3 Die skalaartige Abstufung von Termini wird auch bei Šrajerová (2009, S. 15) erörtert. Nach ihr bewegt sich der Fachlichkeitsgrad eines Terminus zwischen zwei Grenzpolen: ‚ein starker Terminus‘ und ‚ein starker Nicht-Terminus‘. Sie stellt die Frage, ob es möglich wäre, eine weitere Gliederung innerhalb dieser Skala vorzunehmen, z.B. den Fachlichkeitsgrad nach Prozenten oder zwischen 1 und 10 zu unterscheiden. [„Termíny tedy mají škálovitou povahu, některé jsou slabší, jiné velmi silné. Tato škála prozatím nemá pevné vymezení, jen krajní body: výrazný termín […] a výrazný netermín […] mezi těmito dvěma extrémy se pohybují všechna slova v textu. Zůstává otázkou pro budoucí výzkum, jestli je možné další rozdělení škály (například rozdělení procentuální, nebo na deset stupňů termínovosti …“]. 4 Es wurde die Repräsentation der einzelnen Stichwörter sowie deren Interpretamente im Duden 2011 (CD-ROM) und im Duden online-Wörterbuch (vgl. URL 2) verglichen, weil festgestellt wurde, dass beide Duden-Versionen einige kleinere Abweichungen aufweisen. 54 erscheint bei mehreren Wörtern eine Zuweisung sowohl zur Bildungssprache als auch zur Fachsprache, z.B. Effiziẹnz, die; -, -en [lat. efficientia] (bildungsspr., Fachspr.): Wirksamkeit u. Wirtschaftlichkeit: die E. einer Methode, eines Systems. (Duden 2011) Man sieht also, dass eine genaue Abgrenzung zwischen Bildungs- und Fachsprache nicht leicht durchzuführen ist. Deshalb haben wir das Konzept der Bildungssprache nicht herangezogen, auch wenn – wie zum Beispiel Niederhauser und Adamzik (1999, S. 9) feststellen – sich der Bildungssprachenbegriff anbieten würde, um „die starre Dichotomie von Fachsprache und Gemeinsprache [zu] überwinden und gleichzeitig den im täglichen Sprachgebrauch immer wieder vorkommenden Situationen fachsprachlich bedingter Vertikalität Rechnung [zu] tragen.“ Beim Aufbau unserer Datenbank haben wir uns für eine breite Auffassung des Fachwortes entschieden.5 Die oben erwähnten Einteilungen wurden zwar erwogen, jedoch nicht berücksichtigt: Ausschlaggebend ist, dass mit dem betreffenden Wort Fachinhalte benannt werden. Eine wichtige Rolle bei der Beurteilung des Status des entsprechenden Wortes spielen der Kontext und die Konsituation.6 4. Zu Vorkommen und Markierung von Fachwörtern in Wörterbüchern Im Folgenden wird versucht, an Beispielen aus der Rubrik ‚Wirtschaft‘ der untersuchten Zeitungen auf Probleme hinzuweisen, auf die man bei der Ermittlung und Identifizierung von Fachwörtern stoßen kann. Bei der Entscheidung, ob ein Wort als Fachwort zu bezeichnen und in unsere Datenbank einzugliedern ist, können Wörterbücher als Berater herangezogen werden. Dabei wird die Markierung in einem allgemeinen Wörterbuch (Duden) und einem spezialisierten Wörterbuch berücksichtigt. Im Falle der Rubrik Wirtschaft wurde das Gabler Wirtschaftslexikon gewählt, das auch online zur Verfügung steht (vgl. URL 3). Dass in der Rubrik Wirtschaft die Fachlexik in hohem Maße verwendet wird, lässt sich am Lead zum Artikel Draghis neue Zinswelt demonstrieren: Was bedeutet die Zinssenkung der EZB für Verbraucher und Anleger? Kann es mit Spar- und Bauzinsen überhaupt noch weiter nach unten gehen? Es kann. (FAZ, 11.3.2016, S. 23) 5 Diese geht von der heutigen breiten Auffassung von Fachsprachen und Fachkommunikation aus, die nicht nur die Kommunikation zwischen Fachleuten, sondern auch zwischen Experten und Laien bzw. nur die Kommunikation zwischen fachinteressierten Laien über Fachinhalte einbezieht. 6 Auf die Tatsache, dass für das Erfassen von Fachwörtern im Text (manuell sowie automatisch) nicht nur ihre semantischen und pragmatischen Charakteristika von Bedeutung sind, sondern dass formale Kriterien wie Frequenz oder Distribution eine wichtige Rolle im Text spielen können, weist Šrajerová (2009, S. 3) hin. 55 In diesem kurzen Textausschnitt kommen mehrere Wörter vor, die in diesem Kontext als Fachwörter wahrzunehmen sind. Das Wort Verbraucher kann als allgemein verständlich vorausgesetzt werden, trotzdem ist es im Duden (2011) mit der Markierung ‚Wirtschaft‘ versehen: Verbraucher, der; -s, - (Wirtsch.): jmd., der Waren kauft u. verbraucht; Konsument: die Interessen der V. Im Gabler Lexikon ist Verbraucher ebenso erfasst, wobei sogar drei Auslegungen des Lemmas angeboten werden: Verbraucher: I. Wirtschaftswissenschaften: Konsument (Endverbraucher), Verbrauch, Verbrauchsgüter, Verbrauchsforschung. II. Lebensmittelund Futtermittelgesetzbuch: derjenige, an den Lebensmittel, Tabakerzeugnisse, kosmetische Mittel oder Bedarfsgegenstände zur persönlichen Verwendung oder zur Verwendung im Haushalt abgegeben werden. III. Bürgerliches Recht: natürliche Person, die ein Rechtsgeschäft zu einem Zweck abschließt, der weder ihrer gewerblichen noch ihrer selbstständigen beruflichen Tätigkeit zugerechnet werden kann. Das Wort Anleger findet man dagegen als selbstständiges Lemma im Gabler Lexikon nicht, es kommt lediglich mit einer näheren Spezifizierung nach Anlegertypen vor (Substanzorientierter Anleger, Ertragsorientierter Anleger, Wachstumsorientierte Anleger, Chancenorientierte Anleger). Im Duden (2011) werden bei Anleger drei fachsprachliche Bedeutungen angegeben: Ạnleger, der, -s, -: 1. (Druckw.) jmd., der bei der Druckpresse das Papier einführt (Berufsbez.). 2. (Wirtsch.) Investor. 3. (Seemannsspr.) Landungsplatz. Daraus folgt, dass die konkrete Bedeutung dieses Fachwortes kontextuell angelegt ist und sich erst kontextuell entfaltet. Es kann als Beispiel dienen, dass das Postulat der Eineindeutigkeit7 der Termini, das in der älteren Phase der Fachsprachenforschung betont wurde (vgl. Wüster, 1967, S. 100, zit. n. Gerzymisch-Arbogast, 1996, S. 10), nur ein (in der Praxis wahrscheinlich selten vorkommendes) Ideal 7 Die Forderung der Eineindeutigkeit geht auf Wüster (1967) zurück: „die Zuordnung zwischen einem Begriff und einer Benennung ist dann eineindeutig, wenn dieser Begriff nur diese eine Benennung hat und wenn diese Benennung keine andere Bedeutung hat.“ (Wüster, 1967, S. 100). 56 ist, weil man im Rahmen der Fachsprachen viele Homonyme bzw. Polyseme sowie Synonyme belegen kann, und dass der Kontext, in dem das Wort erscheint, eine wichtige Rolle spielt. Dies bedeutet, dass auch das Postulat der Kontextunabhängigkeit, das früher im Zusammenhang mit den Fachtermini erhoben wurde, nicht mehr zutreffend ist. Im oben genannten Textauszug treten des Weiteren zwei Komposita auf, die als potenzielle Fachwörter in Frage kommen: Sparzins kommt im Duden vor, das Lemma ist jedoch im Duden nicht fachsprachlich markiert, Bauzins ist im Duden überhaupt nicht erfasst: Sparzins, der <Pl. -en>: 1. Zins auf Sparguthaben: -en zahlen, bekommen. 2. für Sparguthaben geltender Zinssatz: hohe, niedrige -en. Im Gabler Wirtschaftslexikon ist das Lemma Sparzins nicht belegt. Daraus lässt sich schließen, dass für Fachexperten das Wort zu gemeinsprachlich ist und als Fachwort nicht wahrgenommen wird. Bei der Angabe Bauzins wird auf das Lemma Hypothekenzins verwiesen: Man kann also annehmen, dass Bau- und Hypothekenzins synonym verwendet werden, wobei Bauzins als eher laienhafte Benennung oder Fachwort mit einem niedrigen Fachlichkeitsgrad verwendet wird.8 Auch wenn auf den ersten Blick die Bedeutung von Bauzins durchsichtig ist, ist das Wort bei Nicht-Experten meist nur mit der vagen Vorstellung ‚Zins, der in irgendeiner Weise mit der Finanzierung des Baus eines Eigenheims zusammenhängt‘ verbunden. Wenn man sich verschiedene in den untersuchten Zeitungstexten vorkommende Benennungen für verschiedene Typen von Zinsen anschaut, stellt man fest, dass davon nur Leitzins im Duden mit (Wirtsch.) markiert ist. Die anderen Typen von Zinsen sind zwar im Duden zum Teil erfasst, aber die Markierung fehlt, was sich so interpretieren ließe, dass entweder diese Zinsbezeichnungen der Gemeinsprache angehören oder – eher – dass die Markierung im Duden inkonsequent durchgeführt wird. Aus der Tatsache, dass alle im Duden ermittelten Zinsbezeichnungen im Gabler Wirtschaftslexikon (vgl. die Tabelle 1) vorkommen, ergibt sich, dass eher die zweite Möglichkeit in Betracht zu ziehen ist und dass es sich auch in diesen Fällen um Fachwörter handelt. 8 Nach Fraas (1998, S. 431) existieren in den Fachsprachen mehrere Benennungen nebeneinander, eine gemeinsprachliche, laienhafte Benennung und eine fachsprachliche. 57 Im Duden erfasst und als fachsprachlich nicht markiert: Im Gabler Wirtschaftslexikon erfasst: Hypothekenzins Hypothekenzins Kreditzins Darlehenszins Darlehenszins Kapitalmarktzins Kapitalmarktzins Zinseszins Zinseszins Negativzins Im Duden nicht erfasst: Im Gabler Wirtschaftslexikon nicht erfasst: Bauzins Bauzins Strafzins Strafzins Negativzins Kreditzins Einlagenzins Einlagenzins Tagesgeldzins Tagesgeldzins Dispo-Zins Dispo-Zins Tab. 1: Das Vorkommen von Komposita mit -zins im Duden und im Gabler Wirtschaftslexikon In unserem begrenzten Korpus treten jedoch auch mehrere weitere Benennungen für Zinsen auf, die nur im Gabler (Negativzins) bzw. weder im Duden noch im Gabler zu finden sind. Um zu überprüfen, ob solche Bezeichnungen nicht z.B. zu den sogenannten Ad-hoc-Bildungen gehören, und um die Frequenz ihres Vorkommens als ein wichtiges Kriterium bei der Identifizierung von Fachwörtern festzustellen, musste ein größeres Korpus gebildet werden. Dieses virtuelle Korpus (V-Korpus) wurde anhand des Mannheimer Korpus DeReKo zusammengestellt, wobei dahinein die in den Jahren 2010–2015 herausgegebenen Zeitungen eingegliedert wurden und darauf geachtet wurde, dass unterschiedliche Regionen des deutschsprachigen Gebietes vertreten sind. Wenn man die Korpusbelege vergleicht, sieht man, dass sich die Bedeutung ein und desselben Wortes mit der Zeit verändern kann. In den untersuchten Texten der FAZ und der Süddeutschen Zeitung wird häufig das Wort Strafzins verwendet. Im V-Korpus wurden 368 Treffer für Strafzins gefunden, wobei das Wort in den meisten Belegen die Bedeutung ‚Zins, den man für verspätete Zahlungen abgeben muss‘, hat, vgl. den folgenden Beleg: 58 Was alle Elektronik leider nicht erklärt: Warum für Vorauszahlungen ein Prozent Zins gutgeschrieben, für verspätete Zahlungen aber vier Prozent Strafzins belastet werden. (St. Galler Tagblatt, 22.01.2010, S. 29; Die Steuerformulare sind da; was ist neu?) Heute hat sich für Strafzins eine neue Bedeutung konstituiert, die an folgenden Beispielen demonstriert werden kann: Der zweite wichtige Schritt betrifft den Einlagenzins, der zuletzt stark in der Diskussion war: Es ist der Zinssatz, den Banken zahlen müssen, wenn sie kurzfristig Geld bei der EZB parken. Er ist schon seit eineinhalb Jahren negativ, deshalb wird er auch „Strafzins“ genannt. (SZ, 11.03.2016, S. 17) Draghi bestritt in der Pressekonferenz zudem, dass der Strafzins den Bankensektor insgesamt belaste. (FAZ, 11.03.2016, S. 15) Strafzins wird in den Zeitungstexten als Fachwort, das in den Wirtschafts- und Finanzkreisen von Fachleuten (als Fachjargonismus) gebraucht wird (wird „Strafzins“ genannt), betrachtet: Als Synonym dazu wird Negativzins verwendet. Strafzins weist – ähnlich wie Bauzins – einen niedrigen Fachlichkeitsgrad auf, nichtsdestoweniger wurden beide Wörter in die Datenbank einbezogen, weil beide Wörter vorwiegend in spezifischen fachlichen Kontexten erscheinen. In der Datenbank werden bei solchen Wörtern statt des fehlenden Interpretaments des Lemmas passende Beispiele aus dem Korpus angeführt. Man könnte eine Reihe von weiteren Belegen anführen, die bestätigen, dass Markierungen in allgemeinen Wörterbüchern oft willkürlich und zufällig sind und deshalb höchstens nur als erstes Hilfsmittel benutzt werden können. Bei unserer Arbeit hat sich immer wieder gezeigt, dass oft nicht klar zu begründen ist, warum ein Lemma als fachsprachlich (nach den einzelnen Fächern) markiert ist und ein anderes (dessen Bedeutung sehr ähnlich ist) nicht. Vergleichen wir die Interpretamente von Bezeichnungen von drei Aktienindizes (Dow-Jones, DAX, MDAX), die in den Texten der Wirtschaftsrubrik häufig zu verzeichnen sind. Alle drei sind im Gabler Wirtschaftslexikon enthalten. Sie erscheinen auch im Duden online,9 wobei Dow-Jones und MDAX darin als fachsprachlich markiert sind, DAX nicht. Dow-Jones, der Gebrauch: Wirtschaft 9 Im Duden 2011 (CD-ROM) kommt MDAX nicht vor. 59 Verzeichnis, Aufstellung der errechneten der dreißig wichtigsten Aktien in den USA. Durchschnittskurse DAX/Dax, der Kennzahl für die Wertentwicklung der 30 wichtigsten deutschen Aktien. Vermutlich wurde vorausgesetzt, dass jeder Bürger / jede Bürgerin so oft – nicht nur in der Presse, sondern auch im Fernsehen und anderen Medien – mit diesem Wort konfrontiert wird, dass es schon zum gemeinsprachlichen Wortschatz gerechnet werden kann. Sicher sind viele Fachwörter auch für Laien verständlich: Dabei hat aber der Laie manchmal nur eine ungefähre Vorstellung vom entsprechenden fachlichen Phänomen oder Sachverhalt und verfügt nicht über das gesamte Fachwissen, das ein Spezialist mit diesem Terminus verbindet. Davon, dass die Bedeutung der angeführten Indizes nicht allgemein bekannt sein muss, zeugt die Diskrepanz in der Auslegung des Lemmas MDAX im Duden online und im Gabler Wirtschaftslexikon. Nach Duden online handelt es sich beim MDAX um die Durchschnittskurse von 70 Aktien; dabei werden nur 50 Aktien miteinbezogen, vgl. die Definition im Gabler Wirtschaftslexikon. MDAX, der (nach Duden online) Gebrauch: Wirtschaft Aufstellung der Durchschnittskurse von siebzig Aktien mittelgroßer deutscher Unternehmen. MDAX (nach Gabler Wirtschaftslexikon): Aktienindex von 50 im Prime Standard der Frankfurter Wertpapierbörse (FWB) gehandelten Aktien mittelgroßer Gesellschaften, die sog. Mid Caps. Ihre Marktkapitalisierung und ihr Börsenumsatz liegen direkt unterhalb der DAX-Werte. Der MDAX bezieht nur Unternehmen klassischer Branchen ein. (Hervorhebungen von L.V.) Fachwörter werden oft als Modewörter oder als Prestige-Wörter verwendet. Im folgenden Beispiel hat der Autor das Fachwort (Aggregatzustand) eines anderen Fachgebietes (Chemie) in den wirtschaftlichen Kontext eingegliedert, um metaphorisch auf die neue Situation Bezug zu nehmen. Das Fachwort dient hier also als Mittel der Metaphorisierung: Ein Wort wird aus seinem normalen Kontext genommen und in einen neuen eingesetzt: Und Kritiker der Währungsunion wissen, dass der Wechsel in den neuen Aggregatzustand eines Regimes fester Wechselkurse mit so unüberschaubaren Risiken und langfristigen Kosten verbunden wäre, dass sich die Rückabwicklung letztlich eben doch nicht rechnet. (FAZ, 11.03.2016, S. 16) 60 Aggregatzustand, der (Chemie): Erscheinung u. Zustandsform, in der die Materie existiert: fester, flüssiger, gasförmiger In die Datenbank wurden viele Lexeme eingegliedert, die auch in der Gemeinsprache existieren. In der Fachsprache bekommen sie eine neue Bedeutung: man spricht in diesem Zusammenhang von der Terminologisierung. Es geht jedoch nicht immer um die Entstehung neuer Termini, also Fachwörter, deren Bedeutung durch eine Definition festgelegt ist. Da auch viele Fachjargonismen durch diesen Prozess entstehen, wäre es vielleicht angebrachter, vom Übergang in den Fachwortschatz zu reden. Im Duden sind solche neuen Bedeutungen manchmal erfasst, siehe z.B. das Interpretament des Verbs parken im Duden: Bayerns Sparkassen überlegen schon, ihr Bargeld lieber im eigenen Tresor zu lagern, statt bei der EZB fürs Parken Strafzinsen zu zahlen. (SZ, 11.3.2016, S. 17) pạrken <sw. V.; hat> [engl. to park, zu: park = Abstellplatz]: 1. (ein Fahrzeug) vorübergehend an einer Straße, auf einem Platz o. Ä. abstellen: […] Ü einen Betrag auf einem Tagesgeldkonto p. (Finanzw. Jargon; vorläufig anlegen). Interessant ist, dass die heute gängige Bedeutung des Verbs abfischen (‚einen Kontodatenzugang illegal bekommen‘), das als Fachjargonismus bzw. Fachwort mit einem niedrigen Fachlichkeitsgrad zu bezeichnen ist, weder im Duden noch im Gabler Wirtschaftslexikon erfasst ist. In dieser Bedeutung kommt das Verb sowohl in unserem Zeitungskorpus als auch im V-Korpus vor: Wenn die Täter die Passwörter von mehreren Konten abgefischt und sich selbst Geld überwiesen haben, ... (SZ, 8.03.2016, S. 16) Die Skepsis vieler Kunden basiert auch auf Sicherheitsbedenken, wie eine Umfrage von PwC aus dem Frühjahr zeigt. Viele Konsumenten befürchten, dass ein Dieb persönliche Informationen aus dem Smartphone «abfischen» könnte, dass sie nach dem Verlust des Geräts ohne Bargeld dastünden und dass zu viele Informationen auf ihrem elektronischen Portemonnaie gespeichert seien. (Neue Zürcher Zeitung, 07.12.2013, S. 35; Das elektronische Portemonnaie zieht langsam in die Schweiz ein) 61 5. Fazit Bei der Suche nach der Antwort auf die Frage „Mit wie viel Fachwörtern muss sich ein Bürger / eine Bürgerin beim Lesen der Tagespresse auseinandersetzen?“ musste zuerst die grundlegende Frage gelöst werden: Was ist ein Fachwort, und wie kann es im Text identifiziert werden? Unsere Erfahrungen, die wir bei den Textrecherchen gemacht haben, bestätigen, dass die früher mit Fachwörtern verbundenen Eigenschaften wie (Ein-)Eindeutigkeit, Exaktheit, Autonomie oder expressive Neutralität dabei wenig ausschlaggebend sind und dass vor allem der Kontext, die konkrete Verwendung des Wortes über seinen Status entscheidet. Es wurde auch überprüft, in welchem Maße beim Erfassen von Fachlexik Wörterbücher helfen können. Es hat sich gezeigt, dass allgemeine Wörterbücher (und zwar nicht nur gedruckte), die traditionellerweise Auskünfte nicht nur über die Stilebene, sondern auch über die Zugehörigkeit zu einem Fachgebiet zur Verfügung stellen, mit der schnellen Entwicklung von Fachwortschätzen kaum Schritt halten können und dass die darin vorgenommenen Markierungen oft unzuverlässig sind. Auch online zugängliche spezialisierte Nachschlagewerke, die die Entwicklung in viel höherem Maße berücksichtigen, sind oft nicht imstande, Fachwörter in ihrer breiten Skala zu erfassen. Die hier beschriebene Fachwörterdatenbank soll den aktuellen Stand (wenn auch in einem begrenzten Umfang) widerspiegeln und Material für weitere Analysen zur Verfügung stellen. Darüber hinaus kann sie einen didaktischen Effekt haben, d.h. im Unterricht eingesetzt werden. Abstract Currently we can encounter numerous examples of specialist vocabulary in our everyday lives, not only in a specialist or professional context. The article presents the results of pilot research seeking to identify the specialist vocabulary contained in German newspapers. The corpus consists of 10 editions of two supraregional newspapers (Frankfurter Allgemeine Zeitung, Süddeutsche Zeitung). The article describes the theoretical basis and methodology used when gathering the material. The aim of the research is to determine which specialist lexemes are central (i.e. frequently used); the occurrence and frequency of these lexemes are verified not only in the two above-mentioned newspapers, but also in a wider corpus compiled from the Mannheim DeReKo corpus. Keywords Specialist vocabulary, media, specialist vocabulary in newspapers, central specialist lexemes 62 Quellenverzeichnis Frankfurter Allgemeine Zeitung (7. – 11. 3. 2016) Süddeutsche Zeitung (7. – 11. 3. 2016) [DeReKo]: Das deutsche Referenzkorpus des Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim Literaturverzeichnis Bergmann, Regina (2015). „Bisschen Fachsprache ist auch drin?“ Zwischensprache, Vermittlungssprache, Bildungssprache: Ein terminologischer Entwirrungsversuch. Oder: Gibt es eine Bildungssprache – und wenn ja, wie viele? In: Satzger, Axel / Vaňková, Lenka / Wolf, Norbert Richard (Hg.): Fachkommunikation im Wandel. The Changing Landscape of Professional Discourse. 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Mannheim, S. 9-14. Online verfügbar unter: https://www.google.de/?gws_rd=ssl#q=teubert%2C+Wolfgang+Sprache+ als+Wirtschaftsfaktor, [01.10.2016]. Vaňková, Lenka / Satzger, Axel (2015). Statt eines Vorworts: Fachsprachen als Katalysator für die Annäherung von akademischer Ausbildung und gesellschaftlichen Bedürfnissen. In: Satzger, Axel / Vaňková, Lenka / Wolf, Norbert Richard (Hg.): Fachkommunikation im Wandel. The Changing Landscape of Professional Discourse. Ostrava: Ostravská univerzita v Ostravě, S. 9-12. Wüster, Eugen (1967): Die terminologische Grundlegungsarbeit im Zerrspiegel und in der Wirklichkeit. In: Muttersprache 3. 4/77, S. 98-110. Internetquellen URL 1: http://www.duden.de/hilfe/gebrauch URL 2: http://www.duden.de/woerterbuch URL 3: http://wirtschaftslexikon.gabler.de/ 64 Kommunikation zwischen Experten und Laien. Am Beispiel des Internetforums Conrad Milan Pišl Annotation In der heutigen Zeit haben digitale internetbasierte Kommunikationskanäle den Zugang zu Informationen und Fachinhalten stark vereinfacht. Das Fachwissen wird größtenteils demokratisch durch neue Technologien erreichbar. Diese Veränderung steht im Zentrum der sprachwissenschaftlichen Untersuchung. Mit diesem Zustand eröffnen sich neue Möglichkeiten für die gegenseitige Kommunikation zwischen Experten und Laien in unterschiedlichsten Fachbereichen. Im Rahmen dieses Artikels wird ein fachorientiertes Internetforum untersucht, das zu einer etablierten Kommunikationsplattform wurde. Es stellt einen neuen Kanal für die Vermittlung von Fachwissen bzw. für professionelle Beratung mit einer Reihe von unterschiedlichen Optionen dar. Die Merkmale der Experten-Laien-Kommunikation werden am Beispiel des Internetforums des Computer- und Elektrohändlers Conrad erläutert. Schlüsselwörter Internetforum, Experten-Laien-Kommunikation, Beratung, Computertechnik, Elektronik 1. Einleitung Die wissenschaftliche Literatur und viele Forschungsstudien1 belegen, dass das Thema Fachsprachen und Fachsprachenforschung zwar in vielerlei Hinsicht ausführlich behandelt wurde, und dass es jedoch neue Aspekte gibt, die Aufmerksamkeit verdienen. In diese Kategorie gehört die Kommunikation mittels fachbezogener Internetforen, die heutzutage mehr und mehr an Bedeutung gewinnt. Sie hat sich als eine neue effektive Möglichkeit erwiesen, durch neue interaktive Kanäle die Kommunikationsbarrieren zwischen Fachleuten und Laien zu überwinden (vgl. Satzger, 2013, S. 44). Da die Reichweite und Laientauglichkeit von internetbasierten Werkzeugen ständig zunehmen, verbreitet sich sowohl die gesellschaftliche als auch die akademische Nutzung von Informationen. Die Bemühung um eine 1 Unter anderem Vaňková/Satzger/Wolf (2015). Siehe auch die Aktivitäten des Zentrums für Fachsprachenforschung an der Philosophischen Fakultät der Universität Ostrava unter URL 1. 65 populärwissenschaftliche Wissensvermittlung geht Hand in Hand mit der Digitalisierung, Vernetzung und Globalisierung der Gesellschaft (vgl. Vaňková/ Satzger, 2015, S. 10). Damit verändert sich auch die Perspektive, in der Laien wahrgenommen werden können. Es handelt sich um eine heterogene Gruppe von Personen, „die zwar von den Problemen betroffen sind, für die die Experten zuständig sind, und die insofern auch über Alltagswissen und Einstellungen zu diesem Problem verfügen, denen aber die Ausbildung und die Rahmenbedingungen für eine eigenständige Problemlösung fehlen“ (Bromme/Jucks/Rambow, 2004, S. 116). Die Laien vertreten also nicht die Rolle von Neulingen bzw. Anfängern, sondern die der (potentiellen) Kunden, Klienten und Ratsuchenden. Diese Personen treten in Kontakt mit einem Experten, um von ihm sein Wissen, öfter jedoch seine Ansichten zu einem Problem, praxisorientierten Kenntnisse und heutzutage vor allem den neuesten (technologischen) Stand des jeweiligen Fachgebiets zu erfahren. Mit der Verbreitung des Internets der Dinge kommen neue Problemstellungen auf: die gegenseitige Kooperation von Geräten, ihre korrekte drahtlose Verbindung und optimale Arbeitsweise usw. Der technische Fortschritt spiegelt sich auch in internetbasierten Kommunikationswerkzeugen wider. Sie nehmen Einfluss auf den Wissenstransfer zwischen Experten und Laien und liefern neue Aspekte in dieser Kommunikationssituation. 2. Kommunikationsplattform: Internetforum Als Untersuchungsmedium für diese Studie gelten die Fachforen im Internet, die von vielen Elektrohändlern, Onlineshops und spezialisierten Internetportalen betrieben werden. Beginnt man mit einer begrifflichen Abgrenzung und sucht man nach Definitionen des Begriffs Internetforum, bekommt man folgende Definition: Internetforum, bezeichnet auch als Webforum, Diskussionsforum, Computerforum, Online-Forum oder Bulletin Board, stellt einen virtuellen Ort zum Austausch und zur Archivierung von Gedanken, Meinungen und Erfahrungen dar (vgl. Ebner, 2008, S. 11). Man kann also beobachten, dass die Merkmale eines Internetforums auf Diskussion, Virtualität und Austausch von Inhalten im Rahmen eines bekannt gegebenen Themenbereichs basieren. Wichtig und neu – vor allem aus der Laienperspektive – ist die Eigenschaft der Archivierbarkeit. Die gesammelten und geteilten Erfahrungen, Meinungen und Ratschläge können jederzeit wieder abgerufen werden. Da es sich um eine zeitlich asynchron entstandene Kommunikation aus einzelnen Beiträgen handelt, entsteht somit eine Art Archiv. Ein weiterer Vorteil besteht darin, dass die Internetforen über Suchfunktionen verfügen, über die nach konkreten Begriffen gesucht werden kann. Aufgrund der gegebenen Strukturierung kann man auch in einzelnen threads (‚Kommunikationsfäden‘) und Themen (topics) suchen und blättern. Die Diskussionsbeiträge können von mehreren Diskutierenden beantwortet werden, und so entstehen – je nach Attraktivität des Themas – ständig neue threads und Diskussionen. 66 Internetforen werden zu einem Themenbereich errichtet und umfassen sowohl alltägliche Probleme als auch aktuelle Themen wie Politik, Sport oder Modetrends. Es gibt fachbezogene Internetforen für die unterschiedlichsten Aspekte des menschlichen Lebens – vor allem Hilfe-Foren für Medizin, Jura, Technik, IT, Bauwesen usw. (vgl. Ebner, 2008, S. 12). Mittels Internet wird eine Hilfestellung angeboten, die bei speziellen Schwierigkeiten und fehlenden Informationsquellen die einzige Hilfe darstellen kann. Dieses Verfahren hat sich als effektiv erwiesen und gewährleistet einerseits die Distribution von Informationen und ermöglicht andererseits eine schnelle Reaktion darauf. Das Internet ist ein wichtiges Instrument des modernen Marketings geworden. Aus diesem Grund haben viele fachbezogene Internetforen auch den wirtschaftlichen Profit zum Ziel. So haben zahlreiche Onlineshops wie Ikea, Saturn, MediaMarkt und viele andere ihr Verkaufsangebot mit einem Beratungsforum verbunden. Es gibt Unternehmen, die seriös auftreten möchten und gleichzeitig die wirtschaftliche, an möglichst hohen Umsätzen orientierte Perspektive nicht vernachlässigen möchten. Sie verbinden also die informierende, beratende und wissensvermittelnde Funktion zusammen mit dem ökonomischen Profit. Diese Strategie kann als sehr gelungen bezeichnet werden2, und innerhalb des Computer- und Elektrotechnik- Fachhandels gehört Conrad zu den Spitzenreitern. Hier wird das Konzept eines Internetforums noch weiter entwickelt und um viele Komponenten erweitert. Diese Dienstleistung wird bei Conrad nicht als bloßes Fachforum, sondern als eine „Community“ definiert (vgl. URL 2). Die Funktionalitäten wurden somit erweitert, und die positive Wahrnehmung und ein hohes Maß an Vertrauen gegenüber einer Gruppe, die sich als Nutzer- oder Usergemeinde definiert, können dadurch gestärkt werden. Das Fachforum soll als eine Schnittstelle für diejenigen verstanden werden, die eine professionelle Beratung im Bereich „Technik und technische Innovationen“ (vgl. URL 3) suchen. Dem entspricht auch die Grafik auf der Homepage, die einen jungen seriös aussehenden Mann abbildet und mit dem Slogan „Kommen Sie mit einem Problem, gehen Sie mit einer Lösung“ versehen ist (vgl. Abb. 1). Das Conrad-Community-Team verfasste Richtlinien für die Diskutierenden (vgl. URL 3), in der die Experten als „Professionals & Brain“ kategorisiert werden, und in denen das Ziel formuliert ist, fundierte Ratschläge zu geben, von denen alle Mitglieder der Community kostenlos profitieren können. Zu den grundlegenden Faustregeln gehört die Aufforderung zur korrekten Kommunikation, wobei unerwünschte oder illegale Inhalte zum Sperren des Zugangs in die Community führen können. Des Weiteren wird auch eine sorgfältige Kommunikation verlangt, und es wird betont, dass es sich in erster Linie um Austausch von Fachwissen handelt. Für die Mitglieder bedeutet das, dass diese es kenntlich machen sollen, 2 Eine ausführliche Liste der Internetforen mit der höchsten Anzahl der Nutzer und Diskussionsbeiträge ist unter URL 4 zugänglich. Wenn man die Größe der Nutzergemeinde(n) und z.B. den Profit durch Werbung in Betracht zieht, sieht man, dass es sich um erfolgreiche Unternehmenskonzepte handelt. 67 wenn sie sich mit dem Lösungsweg nicht ganz sicher sind und diesen als eine Userempfehlung formulieren. Die Anforderung an die sachliche und technikrelevante Kommunikation steht im Zusammenhang damit, dass es hier oft zum Austausch von unterschiedlichen Meinungen kommt, und in persönlichen Äußerungen müssen andere (auch kritische) Ansichten zugelassen und toleriert werden. Der letztere Hinweis bezieht sich darauf, dass die Mitglieder fair kommunizieren sollen und dass Verstöße gegen Urheberrechte, das Kopieren von fremden Inhalten oder unnötige Werbung und Spam untersagt sind. Es wird hinzugefügt, dass stimmige Formulierungen eine Voraussetzung sind, um klar und kompetent Themen und Informationen in der Community auszutauschen (vgl. URL 3). Eine Hemmschwelle für unerwünschte Inhalte (z.B. durch Trolling in den Diskussionen) stellt jedoch eine Registrierung entweder mit einer E-Mail-Adresse und einem Benutzernamen oder mit einem Facebook-Profil dar. Es ist also keine totale Anonymität vorhanden, und dies ermöglicht es, auf fehlerhafte Informationen zu reagieren, bzw. diese können von den Verwaltern des Internetforums gelöscht werden. Die Beiträge werden sowohl chronologisch als auch nach der Länge des threads sortiert. Auf der Übersichtsseite werden jeweils nur der Titel des ersten Postings einer Diskussion und die Anzahl an Diskussionsbeiträgen angezeigt, während der komplette thread angeklickt werden muss. Die viel beachteten und viel diskutierten Themen werden auf eine attraktive Stelle platziert, meistens ganz oben. Somit werden die Benutzer auf die Postings mit höchster Aktivität aufmerksam gemacht. 3. Ausgewählte Besonderheiten der Experten-Laien-Kommunikation Diese Studie reflektiert eine Veränderung von Kommunikationsplattformen für Menschen, die Fachinformationen über Technik, insbesondere über Computerund Elektrotechnik suchen. Noch vor wenigen Jahren gab es unterschiedliche Kanäle für die relevante Vermittlung von Fachwissen: entweder Fachliteratur in Form von Zeitschriften und Handbüchern oder persönliche Gespräche mit den Händlern oder Verkäufern. Beides käme auch heute in Frage, aber die Bedingungen und vor allem die Effektivität dieser Kommunikationssituation haben sich deutlich verändert. Die elektrotechnische Fachliteratur wird aufgrundder raschen Entwicklung in der Branche immer öfter digitalisiert, wobei gedruckte Medien überwiegend hoch spezialisierte Inhalte für Fachleute liefern (z.B. Computer- und Wirtschaftsperiodika), und ihre Auflage stagniert bzw. sinkt.3 Der zweite Kanal, die persönliche Beratung direkt bei den Computer- und Elektrohändlern, kann zwar auch nützlich sein, die Umfragen4 bei den Kunden der größten Elektroketten und Computeranbieter zeigen aber überwiegend eine 3 Zum Beispiel die Fachzeitschrift für Elektronik elektro.net, die in ein Internetportal umgewandelt wurde. 4 Vgl. die Umfragen, Kundenrezensionen und Erfahrungen mit Computer- und Elektrohändlern im Portal trusted. shops.de. 68 negative Einstellung zu persönlichen Interaktionen. Nach einer Recherche in den oben angeführten Diskussionsforen wurden folgende Gründe genannt, warum die Kunden die professionelle Fachberatung in den Computer- und Elektrogeschäften nicht mehr aufsuchen: - konkrete Fragen bezüglich Eigenschaften, Kompatibilität und Installation konnte das Personal nicht beantworten, und die genaue Antwort wusste nicht einmal die zuständige Kundenbetreuung; - das Fachpersonal benimmt sich überheblich, reagiert unhöflich, man wird sogar ausgelacht; - die Händler bevorzugen gewisse Marken und Produkte und sind dazu bereit, Kunden zu belügen vor allem deswegen, weil sie für den Verkauf bestimmte Provisionen bekommen; - Kunden sind mit Fachinformationen ausgerüstet und wissen mehr als das Fachpersonal; - professionelle, fachliche Kundenbetreuung wird durch das chaotische Suchen in Gebrauchsanweisungen ersetzt. Aus den erwähnten Gründen suchen heutzutage Laien – hier in der Rolle der (potentiellen) Kunden – Fachinformationen vornehmlich im Internet. Hier können Menschen mit heterogenen Vorkenntnissen interagieren. Die Computer- und Elektrohändler sind sich dieser Tatsache bewusst und betreiben ein Fachforum, anstatt ausgebildetes Fachpersonal einzustellen. Es liegt auf der Hand, dass diese Lösung von wirtschaftlichen Aspekten motiviert wird, denn oft werden die Beratungsforen mit einer kommerziellen Webpräsentation und einem Onlineshop verbunden. Man kann beobachten, dass sich die Kommunikation von Fachinhalten über Computer, Elektronik und Elektrotechnik im Laufe der Zeit von einer Face-To-Face-Kommunikation zur Plattform eines Internetforums verschoben hat. Die Impulse für diesen Wandel sind jedoch unterschiedlich und reflektieren nicht nur die neuen Kommunikationsmedien, sondern auch die ökonomischen Ziele. Im Endeffekt geht es aber immer darum, dass der Kunde eine informierte Entscheidung treffen muss. Er beabsichtigt (potentiell) Geld auszugeben, wobei logischerweise seine Entscheidung sich am Preis-Leistungs-Verhältnis orientiert. Es handelt sich um seine eigene Verantwortung, und dafür muss er alle Konsequenzen tragen. Die Verständigung spielt immer eine wichtige Rolle, in diesem Fall lässt sie sich bestätigen – durch den realisierten Einkauf. Heterogene Vorkenntnisse und Wahrnehmungsperspektiven zwischen Experten- und Laienwissen erschweren jedoch die wechselseitige Verständigung. Die unterschiedlichen Wissenssysteme erfordern einen gemeinsamen Bezugsrahmen 69 und Voraussetzungen für die gelungene Kommunikation – dazu gehören eine gemeinsame Sprache, die vermutete Perspektive des Kommunikationspartners, der Wortschatz, die Antizipation des Wissens sowie Adaptionsprozesse und gemeinsame Rahmenbedingungen. Dabei ist das Kommunikationsmedium eine der wichtigsten Rahmenbedingungen. Hinzu kommt außerdem eine realistische Einschätzung der Laienwahrnehmung. Probleme gibt es vor allem dann, wenn das Fachwissen an der Grenze zwischen Fach- und Alltagswissen angesiedelt ist. Dies kommt in der Elektro- und Computerbranche häufig vor, und die Bemühung um alltagssprachliche Formulierungen kann irreführend sein (vgl. Bromme/Jucks, 2003, S. 23). Diese Aspekte werden im analytischen Kapitel näher untersucht. 4. Analyse Das Ziel der folgenden Analyse ist es, anhand einer Teiluntersuchung etwas zum Thema der aktuellen Kommunikation zwischen Experten und Laien beizutragen. Als Untersuchungsmaterial wurde das etablierte Internetforum im spezialisierten Webportal des Computer- und Elektrohändlers Conrad ausgewählt, das seit 2009 in Betrieb ist. Die Darstellung der Homepage (URL 2) deutet an, dass es sich um eine Webpräsentation mit vielen Merkmalen einer ausgeprägten Corporate Identity handelt. Die blaue Firmenanschrift zusammen mit dem Logo sind immer am Kopf der Seite präsent, das Layout der Webseite ist in den Firmenfarben blau, schwarz und weiß ausgeführt, und die visuelle Markenführung tritt einheitlich in Erscheinung. Von Anfang an wird eine Absicht formuliert; Conrad möchte die interessierte Öffentlichkeit dazu bewegen, sich mit Fragen, Problemen und Schwierigkeiten bezüglich Technik, Elektrotechnik bzw. Elektronik, IT oder Computern und deren Eigenschaften, Auswahl, Einkauf, Installation usw. an das Internetforum zu wenden. Es präsentiert sich also als eine fachliche, beratende Instanz für die interessierte Öffentlichkeit auf einer eigenen Seite bzw. über die Community hinaus, wovon auch diese Grafik zeugt: Abb. 1, Quelle: URL 2 70 In der Rolle eines Blickfangs erscheint hier eine schematische Abbildung eines jungen Mannes. Die genaue Wirkung dieses beinahe piktografischen Symbols kann in zwei Richtungen gedeutet werden: Einerseits geht es um die Mühe, einen seriösen Eindruck zu evozieren (z.B. durch eine Brille). Andererseits kann der abgebildete Mann mit seinem Bart und den halb geöffneten Augen ein bisschen suspekt wirken. Es handelt sich um einen jungen Mann, und diese Grafik dient der Identifikation mit dem Zielpublikum. Man kann es nur schwer überprüfen, weil die Nutzer ihr Geschlecht nicht angeben müssen, und die Benutzernamen verraten es auch nicht immer, aber Conrad zielt in erster Linie auf eine jüngere Generation von Männern. Der Slogan „Kommen Sie mit einem Problem, gehen Sie mit einer Lösung“ weist einen stark persuasiven Charakter auf, wobei diese Intention noch durch die Hervorhebung der Wörter „Problem“ und „Lösung“ verstärkt wird. Es ist eine Aufforderung an die Ratsuchenden, die Schwierigkeiten technischer Art haben, sich mit ihrer Suche an dieses Internetforum zu wenden. Zugleich kann man den Slogan auch als eine Deklaration von Selbstbewusstsein wahrnehmen: Der Computer- und Elektrohändler Conrad sieht sich in einer starken Marktposition und geht davon aus, dass er bei jedem Problem helfen und kompetente Lösungen anbieten kann. Die blaue Farbe hebt den unteren Teil des Slogans hervor und weist darauf hin, dass die Firmenfarbe mit der Lösung und nicht mit dem Problem verbunden werden soll. Das ist ein gutes Beispiel dafür, wie visuelle und sprachliche Mittel kooperieren und zusammenwirken können, und dient dem Aufbau von Vertrauen. Dazu trägt auch die Strukturierung der Inhalte auf der Startseite in Kategorien wie Feedback und Support, Community-Informationen, Datenschutz, Nutzungsbedingungen usw. bei, die auch rechtliche Grundlagen der Internetkommunikation reflektieren und heutzutage für ein seriöses und vertrauenswürdiges Internetforum unabdingbar sind. Die komplette Kommunikation der Conrad Community beinhaltet mehr als 57.000 Diskussionsbeiträge5, und dies bedeutet, dass es sich um eines von den meist besuchten und aktivsten Foren im deutschsprachigen Internet überhaupt handelt6. Der Zuwachs beträgt ca. 100 Beiträge pro Tag. Da dies eine unübersichtliche Menge von threads und Themenbereichen darstellen würde, werden die Diskussionsbeiträge in Kategorien geordnet und weisen folgende Struktur auf: 5 Stand vom 01.10.2016. 6 Eine ausführliche Liste der Internetforen mit der höchsten Anzahl der Nutzer und Diskussionsbeiträge ist unter URL 4 zugänglich. Es werden hier aber auch Allgemeinforen einbezogen. Wenn man den Filter auf die deutsche Sprache, Themenbereiche Computer und Elektronik (und verwandte) einstellt, kommt man zu der Feststellung, dass Conrad eindeutig zu den drei am meisten besuchten und aktivsten deutschen Fachforen gehört. 71 Abb. 2: Quelle: URL 2 Die Bausteine und die Organisation des Forums unterliegen der Optimierung für übliche Internetbrowser und ermöglichen auch eine korrekte Abbildung durch mobile Endgeräte (Tablets, Smartphones usw.). Die Inspiration zur kachelartigen modularen Gestaltung z.B. durch die Benutzeroberfläche von Windows bzw. von heutigen Smartphones ist offensichtlich. Der Slogan „technology powered by people“ ist eine Lizenz des Unternehmens Conrad, und obwohl es sich um ein deutsches Internetforum mit ausschließlich deutschen Diskussionsbeiträgen handelt, wird sie hier auf Englisch angeführt. Dies kann als ein Zeichen der zunehmenden Internationalisierung wahrgenommen werden. Es ist erkennbar, dass die Architektur des Fachportals eine ausgeprägte und logische Gliederung aufweist. Das Navigationsmenü ist übersichtlich in drei Sektionen gegliedert –Start, Inhalte und Erstellen. Durch diese lineare, aktivitätenorientierte Darstellung stehen in komprimierter Form alle Grundfunktionen des Internetforums zur Verfügung. Aufgrund der Tatsache, dass die kommunizierten Fachinhalte im Bereich der Elektronik, Computer- und Elektrotechnik sehr dispers sein können, wurde die Kategorisierung der Beiträge durch ein Cluster-Verfahren veranschaulicht (vgl. Pišl, 2015, S. 149-151). Das bedeutet, dass die zusammenhängenden Beiträge in Kategorien unterteilt und einzelnen Themenbereichen zugeordnet werden. Sowohl die Diskussionsbeiträge als auch verwandte threads werden verlinkt bzw. durch kurze Hypertexthinweise verbunden und dementsprechend graphisch markiert. Des Weiteren besteht die Menüleiste aus sechs Themenbereichen, die durch Piktogramme ergänzt sind. Diese von Conrad verwendeten Symbole (icons) dienen der visuellen Veranschaulichung (vgl. Emrich, 2013, S. 52). Wir können bei der Benennung der Themenbereiche beobachten, dass in den Fällen, in denen die englische Variante kürzer, verständlicher und gebräuchlicher ist, diese englischen Bezeichnungen auch ausgewählt wurden. In diesem Fall können die Ausdrücke HowTos, Startup und Contests als Beispiele gelten. Dies ist ein weiterer Beleg dafür, wie häufig Anglizismen (nicht nur) in der Elektronik und IT-Branche ihre Anwendung finden. Wenn ein Mensch zum Internetforum beitragen möchte, erfordert dies eine Registrierung und Anmeldung. Nach dem Einloggen kann man entweder zu einer 72 schon existierenden Diskussion beitragen oder eine Frage stellen und damit einen neuen thread bzw. eine neue Diskussion begründen. Die Fragen werden mittels separaten Fenstern formuliert, es gilt jedoch die Begrenzung, dass der Text 100 Zeichen nicht überschreiten darf. Optional kann man zur Frage einen längeren Kommentar hinzufügen, der jedoch einem anderen Darstellungsmodus unterliegt. Die Inspiration durch Twitter und soziale Netzwerke ist hier offensichtlich (vgl. URL 2). Dieser Modus des Fragenstellens läuft unter der Voraussetzung, dass die Nutzer fähig sind, ihre Frage in den vorgeschriebenen 100 Zeichen zu formulieren. Diese Bedingung kann hinterfragt werden – vor allem bei komplexen Problemen, die im Bereich der Computer- und Elektrotechnik zu erwarten sind. Jedoch bringt sie einen enormen Vorteil mit sich: Die Fragen und Themenbereiche sind übersichtlich und verständlich. Es folgen einige Beispiele, die direkt von URL 1 entnommen wurden: - Wie kann ich alle Daten restlos von Laptop löschen? - Externes CD/DVD Laufwerk – Worauf sollte man beim Einkauf achten? - Gibt´s es eine Möglichkeit unter WIN7 einen 3. Monitor mit nur einer Grafikkarte anzuschließen??? - iPhone 5 Akku selbst austauschen? - Welche Auflösung sollte ein guter Monitor haben? - Was brauche ich um vom iPhone aus zu drucken? Es kann als überraschend bezeichnet werden, dass die Nutzer eine breite Palette von Sprachinstrumenten auswählen, um ihre Frage richtig und sinngemäß zu formulieren: Es sind vollständige Ergänzungsfragen, die aus einer individuellen, persönlichen Perspektive formuliert werden. Viele Fragen beziehen sich auf ein konkretes Gerät, meistens Hardware (Laptop, Laufwerk, Monitor, Grafikkarte, Akku etc.). Des Weiteren werden Produktnamen genannt (Windows 7, iPhone) und diesbezüglich eine Frage gestellt. Da die Fragetexte möglichst ökonomisch und genau formuliert werden müssen, tauchen auch Kurzwörter auf (WIN7); über die Verkürzung des Akkumulators auf Akku wundert sich heutzutage niemand mehr. Bei der Formulierung der Frage muss entschieden werden, in welche der Themenbereiche bzw. Unterkategorien sie gehören wird. Sowohl für die Nutzer als auch für die Diskutierenden erwies sich die Gliederung der Themen in vorbereitete Kategorien als hilfreich. Die Kategorien sind verständlich und sehr detailliert vorstrukturiert (Laptop – Verkaufen; Laufwerk – externes Laufwerk), und wenn es sich um konkrete Produkte handelt, ist die Kategorisierung noch detaillierter nach Produktreihen und Modellen (Computertechnik – Software – Windows 7; Smartphone – iPhone – iPhone5) unterteilt. Der vorgeschriebene Umfang der Fragetexte eliminiert Fachtermini, die keine Geräte- oder Produktbenennungen sind. Es steht nur wenig Platz zur Verfügung. Um trotzdem die Frage grammatikalisch vollständig formulieren zu können, werden Verben verwendet, die mit dem Bereich der Elektro- und Computertechnik verbunden sind (löschen, anschließen, austauschen, drucken). 73 Die Analyse zeigt, dass die Rolle der Diskutierenden in keinem Falle die Rolle von absoluten Laien ist. Es sind also keine Laien im echten Sinne (vgl. Jucks, 2001, S. 19-21). Es handelt sich eher um Menschen, die vor einem Problem stehen, das für sie neu ist, oder für das sie zwar eine mögliche Lösung hätten, da sie die Methoden der Informationsgewinnung aus anderen vertrauenswürdigen Quellen beherrschen, die diese Lösung jedoch innerhalb der Community bestätigen oder ergänzen lassen möchten. Die Mitglieder, also vor allem (potentielle) Kunden, eine interessierte Öffentlichkeit bzw. Ratsuchende teilen somit ihr Fachwissen und profitieren davon. Sie verfügen oft über breites Vorwissen und langjährige Erfahrungen. Abb. 3.: Quelle: URL 2 Es folgt eine Analyse einer ausgewählten Frage-Antwort-Relation im Diskussionsforum aus dem Themenbereich Computertechnik – Haustechnik: Wie der Screenshot zeigt, wird jede Frage als Blickfang mit blauer Markierung einheitlich im oberen Teil des Bildschirms abgebildet. Dazu kann fakultativ ein ergänzender Kommentar formuliert werden, welcher unter dem Fragetext unmarkiert positioniert wird. Hier gibt es die Möglichkeit, die Frage zu präzisieren bzw. wichtige Einzelheiten zu ergänzen. In diesem Fall geht es um eine Konkretisierung von räumlichen Verhältnissen (Entfernung von Gebäuden), technischen Details (Kabelanschluss) und der erwünschten Funktionalitäten (Ziel ist die hohe Geschwindigkeit des Internetanschlusses) von einem Netzwerkrouter. Man kann sehen, dass der Fragetext einige Abweichungen von den orthographischen Normen aufweist, die jedoch mit der exponentiellen Verbreitung von digitalen Online-Kommunikationsmöglichkeiten als nicht mehr so streng wahrgenommen werden. Wenn sie die Verständlichkeit der Frage nicht erschweren, werden sie akzeptiert (keine Großschreibung bei Substantiven oder am Satzanfang, Kommasetzung, Leerzeichen). Conrad bietet bei jeder Frage eine direkte Verlinkung zu den sozialen Netzwerken (Facebook, Twitter, Google+, Pinterest, LinkedIn, Xing) via die dazugehörigen Icons 74 an. Zusätzlich gibt es ein gebräuchliches Symbol für die E-Mail-Kommunikation nicht nur unter den Mitgliedern, sondern auch mit der Firma Conrad. Es gibt also die Möglichkeit, die Frage bzw. den ganzen thread elektronisch an jede beliebige E-Mailadresse abzusenden. Dies ermöglicht eine schnelle Verbreitung des besprochenen Fachinhaltes. Die sozialen Netzwerke machen die jeweilige Kommunikation zugänglich für eine breite Masse von Prosumenten (vgl. URL 5). So werden die Nutzer bezeichnet, die die Inhalte nicht nur konsumieren, d.h. suchen und durchlesen, sondern auch selbst produzieren, indem sie beispielsweise neue Diskussionen öffnen, Fragen stellen und reagieren. Diese Eigenschaft ist für das Internetforum bei Conrad signifikant: Es handelt sich um eine interaktive Dienstleistung, die sich an eine Zielgruppe richtet, die zwischen den einfachen Konsumenten und den professionellen Anwendern steht. Charakteristisch dafür sind die Leistungen, die über die Bedürfnisse des Gelegenheitsnutzers hinausgehen und oft eine erweiterte Sachkenntnis zur Benutzung erfordern (vgl. URL 5). Dies ist ein weiterer Beleg dafür, dass die Kommunikation zwischen Experten und Laien heutzutage eine neue Perspektive gewinnt. Die Frage ist zwar von einem Laien geschrieben, aber die verwendete Fachterminologie deutet auf einen eher erfahrenen Nutzer hin (Router, Kabelanschluss, überbrücken). Diese hochspezialisierten Fachtermini werden nicht weiter erklärt. Es kann daraus geschlossen werden, dass die Frage von einem geübten und sachkundigen Menschen gestellt wird. Hier bestätigt sich die Prämisse der Einleitung: Die Nutzer möchten Probleme diskutieren, mit denen sich die Experten auskennen. Sie suchen nach einer Lösung, aber es fehlen die Ausbildung und vor allem Erfahrungen für eine eigenständige Problemlösung und Einblick in den aktuellen Wissensstand. Ein anderer Aspekt dieser Kommunikationssituation ist die Einbeziehung von Experten. Diese kann bei Conrad auf zwei Wegen eintreten. Entweder arbeitet das Internetforum mit den registrierten Fachleuten zusammen, wobei die Auswahlkriterien intern bleiben und die Legitimation dieser Menschen sich nur dadurch bestätigen lässt, dass sie bei Conrad den Registrierungsprozess erfolgreich absolviert haben. Oder es können auch registrierte Nutzer zur Diskussion beitragen, ihre Ratschläge sind jedoch anders markiert, der Status eines Nicht-Experten kann erkannt werden. In der Abbildung gibt es eine Antwort auf die vorherige Frage von einem registrierten und von Conrad geprüften Experten. Die Gestaltung des Expertenprofils wurde offensichtlich durch Twitter inspiriert – man wählt einen Profilnamen sowie ein Profilfoto aus. Diesem Profil kann man „folgen“, und es wird die Anzahl an „Followern“ gezeigt. Des Weiteren wird über die Anzahl der geführten Diskussionen und begonnenen threads informiert. Es folgt zudem eine Übersicht von gegebenen Antworten zusammen mit der Bewertung anderer Diskutierender, die durch die Vergabe von Sternen die Nützlichkeit des erteilten Ratschlages bewerten. Von dem sozialen Netzwerk Facebook angeregt erscheint eine vertikale Leiste mit Zeitangaben und Informationen über Aktivitäten auf dem Profil. 75 Diese detaillierten Auskünfte haben die Steigerung der Glaubwürdigkeit bzw. auch die Bestätigung, dass sich der registrierte Experte tatsächlich im jeweiligen Themenbereich auskennt, zum Ziel. Abb. 4: Quelle: URL 2 Die Antwort aus dem Expertenprofil „Wlanman“ ist breit angelegt und beinhaltet sieben Textaussagen und zwei Hypertexthinweise. Diskussionsbeiträge in dieser Länge stellen jedoch bei Conrad keine Ausnahme dar. Das deutet darauf hin, dass die Experten viele Aspekte der Frage in Betracht ziehen möchten. Die Formulierungen verzichten oft auf eine einleitende und abschließende Passage, oder sie versuchen diese Phase zu minimieren, was die verwendete Grußformel im Beispiel oben (Hallo) belegt. Die Antwort bietet eine Lösungsmöglichkeit des Problems bezüglich eines Hardwareproduktes (Router) und äußert einen hohen Grad der Überzeugung (müsste klappen) hinsichtlich der angebotenen Hilfe. Diese Perspektive wird durch einen Hypertexthinweis zum Installationsschema und durch die Kenntnis derselben Installation bei zwei unterschiedlichen Produktmodellen verstärkt. Des Weiteren kommen Informationen zur optimalen Positionierung des Gerätes sowie Hinweise zur Grundeinstellung vor. Sprachlich handelt es sich um eine Handlungsanweisung mit appellativ-informierender Funktion, in der die Sprechhandlung einer Instruktion bzw. Aufforderung übermittelt wird. (vgl. Werbová, 2015, S. 170). Die Antwort berücksichtigt viele Aspekte der gestellten Frage und sieht außerdem mögliche Schwierigkeiten voraus: Es wird die Grundeinstellung präzisiert, eine Anleitung wird gefunden und wieder durch einen Hypertexthinweis effektiv vermittelt. Es wird darüber hinaus die Eventualität erwähnt, dass weitere technische Geräte oder drahtlose Internetverbindungen möglicherweise angewendet werden sollen, sowie eine Lösung, wie dies realisiert 76 werden kann. Es folgt noch die Einschätzung des beschriebenen Vorgangs für einen Laien, wobei dieser tatsächlich so benannt wird. Als eine nur eingeschränkt brauchbare Empfehlung kann man den Vorschlag empfinden, sich an einen Computer-Freak zu wenden. Es wird damit gerechnet, dass jeder Mensch in seinem Bekanntenkreis einen Computer-Fan finden kann. Es wird zudem vorausgesetzt, dass dieser sich mit drahtlosen Internetverbindungen auskennt, was nicht zwangsläufig der Fall sein muss. Da in der gestellten Frage die erwünschte hohe Geschwindigkeit des Internetanschlusses erwähnt wurde, fügte der Experte eine Bemerkung an, dass dieser Wunsch aus technischen Gründen nicht realisiert werden kann. Die Anredeform änderte sich im Verlauf der Antwort von der unpersönlichen Ausdrucksweise zum Duzen. Dies kann man als Bemühung um eine Verstärkung des Gefühls der Gruppenzugehörigkeit interpretieren. Der Experte zeigt dadurch außerdem eine engere Beziehung zum Hilfesuchenden, und das kann als ein Signal für erhöhte Empathie verstanden werden. Man kann also Merkmale einer Emotionalisierung ausmachen, die heutzutage im Bereich der Fachsprache eine signifikante Rolle spielen (vgl. Vaňková / Satzger, 2015, S. 10). Die Strukturierung und die Vermittlung des Fachinhalts im Rahmen der Antwort zeigen, dass sich der Experte der heterogenen Vorkenntnisse des Fragenden und seiner Wahrnehmungsperspektive bewusst ist. Er nutzt die Rahmenbedingungen des Internetforums und der interaktiven Relation einer Frage mit mehreren Antworten aus, um das Wissen effektiv zu distribuieren. Er bringt eine realistische Einschätzung der Laienperspektive zum Ausdruck und antizipiert die möglichen Schwierigkeiten im Voraus. Das Kommunikationsmedium eines internetbasierten Fachforums erleichtert die Vermittlung von visualisierten Inhalten durch Hypertexthinweise („Link Text“) bzw. direkte Verlinkung von Fachinhalten („Klick“). Der Nutzer bekommt somit auf eine verständliche Weise ausführliche Informationen, Zugang zu relevanten Abbildungen und Einstellungen und kann von weiteren relevanten Zusammenhängen profitieren. Von Vorteil ist auch die Möglichkeit, jederzeit mittels direkten Durchklickens zum Onlineshop zu kommen. Conrad bietet außerdem eine neue Modalität in der Experten-LaienKommunikation: Der Nutzer kann sich dazu äußern, ob ihm die vermittelten Informationen geholfen haben und diese Antwort als „Beste Lösung“ und mit einem blauen Stern bewerten. Dieser Vorgang stellt eine Art von Feedback dar, das im System angezeigt wird, und weitere Nutzer können diese Lösung kommentieren. In dem untersuchten Fall beschreibt der Experte verständlich und hilfreich einen Vorgang, vermittelt eine Methode und formuliert nützliche Informationen mit vielen Aspekten, die kaum bzw. nur angedeutet in dem Fragetext ausgedrückt wurden. Seine Bemühung um Verständlichkeit, um Einbeziehung von unterschiedlichen Wahrnehmungsperspektiven, um einen eindeutigen Sprachausdruck, um Antizipation des heterogenen Vorwissens oder um Veranschaulichung mittels interaktiver Funktionalitäten des Internetforums wurden positiv bewertet. 77 5. Fazit Anhand dieser Untersuchung kann man zu den nachfolgenden Schlussfolgerungen kommen, die im Zentrum der sprachwissenschaftlichen Beschäftigung mit diesem Thema stehen. Die bisherigen Strategien bei der Vermittlung und Verbreitung von Fachwissen haben sich aufgrund der interaktiven technischen Rahmenbedingungen verändert. Die Kommunikation zwischen Experten und Laien wird zunehmend über Computer (d.h. internetbasiert, digital und online) realisiert. Die Struktur und Verwaltung des untersuchten Internetforums ermöglichen es, aktiv, über eine einfache Registrierung, in den direkten Dialog mit der Community, in der Experten, Halb-Experten und Ratsuchende tätig sind, zu treten. Dies stellt jedoch eine wesentliche Veränderung des Kommunikationsparadigmas in dieser Branche dar: Auf einer öffentlichen Kommunikationsplattform treffen die interessierte Öffentlichkeit, registrierte Experten, (potentielle) Kunden, Menschen mit konkreten Produkterfahrungen oder mit Erfahrungen bei dessen Installation bzw. korrekter Verwendung zusammen. Es wird ein direkter Austausch von Tipps, Ratschlägen, Erfahrungen, Anweisungen und visuellen Unterlagen auf einer interaktiven Plattform ermöglicht. Eine grundlegende Eigenschaft eines Internetforums ist es, Abbildungen, Schemen und komplexe visualisierte Vorgänge technisch leicht einbeziehen und jederzeit abrufen zu können. Es hat sich gezeigt, dass für die wechselseitige Verständigung zwischen Experten und Laien gewisse Anforderungen erfüllt werden müssen. Aufgrund des heterogenen Vorwissens findet man auf der Expertenseite Antizipationen des Fachwissens aus der Laienperspektive und die darauf basierenden Adaptionen. Der sprachliche Ausdruck und die konkrete Formulierung einzelner Kommunikationsbeiträge auf die (vermutete) Perspektive des Gesprächspartners hin haben sich als notwendig und hilfreich erwiesen. Aus den untersuchten Belegen geht hervor, dass durch Selektion und Umstrukturierung der Fachinhalte die Verständlichkeit bzw. Gebrauchstauglichkeit der geleisteten Hilfe wesentlich erhöht werden können. Die Untersuchung der Fachkommunikation zwischen Experten und Laien bestätigt, dass zu den wichtigsten Rahmenbedingungen für die Vermittlung von Fachinhalten das Kommunikationsmedium gehört. Des Weiteren ist es eine realistische Einschätzung der Laienwahrnehmungen, zusammen mit Hinweisen auf mögliche zusätzliche Schwierigkeiten, die man in den Formulierungen der geleisteten Hilfestellungen beobachten kann. Aus der Analyse dieses Themas geht hervor, dass der Bereich der Computer- und Elektrotechnik heutzutage viel mehr an der Grenze zwischen Fach- und Alltagswissen liegt. Viele Menschen, die als interessierte Öffentlichkeit, Hobby-Techniker oder Handwerker bezeichnet werden können, bewegen sich in diesem Bereich. Die Gruppe der Nutzer (also die Community) des untersuchten Internetforums ist heterogen. 78 Zu den weiteren grundlegenden Aspekten gehört, dass die Kommunikation in Internetforen zeitlich asynchron ist. Das stellt einen weiteren Unterschied zur Face-To-Face-Kommunikation dar: Informationen werden nicht nur auf Anfrage mitgeteilt, man wird zum Austausch von Fachwissen herausgefordert, und alle Diskussionsbeiträge werden archiviert. Die Erstellung eines Profils bzw. die Registrierung bietet die Möglichkeit, innerhalb der Community zudem dafür zu sorgen, dass die Nutzer sofort wissen, dass die Informationen direkt von dem konkreten Menschen (je nach dem zugeteilten Status kann man ihn als einen Experten bezeichnen) kommen. Damit scheint die Problematik der Qualitätssicherung von erteilten Informationen und der fachlichen Qualität der Inhalte geklärt zu sein. Die fachliche Beratung über das Internet und ähnliche Beratungsformen gewinnen zunehmend an Bedeutung und dienen als Ergänzung bzw. als Ersatz für die persönliche Fachberatung von Experten im Rahmen der Face-To-Face-Kommunikation. Es ist gelungen, eine realitätsnahe Beratungssituation durch das Medium Internet zu schaffen. Es ist jedoch notwendig, sich auf diese besondere Kommunikationssituation umzustellen. Das Potenzial der fachlichen Beratung über das Internet ist enorm, und es kann davon ausgegangen werden, dass diese Beratungsformen zunehmend an Bedeutung gewinnen werden, da sie die schnelle und umfassende Versorgung breiter Bevölkerungsschichten mit Fachinformationen ermöglichen. Abstract This article deals with new platforms of communication between professionals and laymen – with internet forums. The analyzed internet forum is provided by the German computer and electronics company Conrad. The aim was to show, how the communication between professionals and laymen was changed in that case, it was relocated to an interactive digital setting. After a necessarily theoretical basis follows an analysis of chosen communication situations and as well a presentation of achieved conclusions. Keywords Internet forum, professionals-laymen-communication, consulting, computer technology, electronics Literaturverzeichnis Bromme, Rainer / Jucks, Regina (2003). Wenn Experten und Laien sich nicht verstehen. In: Forschungsjournal der WWU 3. Münster: Universität Münster, S. 20-25. Bromme, Rainer / Jucks, Regina / Rambow, Riklef (2004). Experten-LaienKommunikation im Wissensmanagement. In: Reinmann, Gabi / Mandl, Heinz (Hg.). 79 Der Mensch im Wissensmanagement: Psychologische Konzepte zum besseren Verständnis und Umgang mit Wissen. Göttingen: Hogrefe, S. 114-126. Ebner, Michael (2008). 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Röschenflechte) ausgerichtet sind. Die Aufmerksamkeit wird auf den Gebrauch einschlägiger medizinischer Terminologie einerseits durch Ärzte und andererseits durch Patienten und deren Angehörige gerichtet, wobei der Frage nachgegangen wird, welche außer- sowie innersprachlichen Faktoren die Verwendung der medizinischen Terminologie beeinflussen und welche kontextuellen Modifizierungen diese erfährt. Anhand eines interlingualen Vergleichs wird demonstriert, welche Ausdrücke im „terminologischen Zentrum“ und welche an der „terminologischen Peripherie“ bei den Usern solcher Foren in den beiden Sprachen stehen und ob diesbezüglich irgendwelche Unterschiede feststellbar sind. Schlüsselwörter Pityriasis rosea Gibert, medizinischer Fachwortschatz, Online-Kommunikation, Arzt-Patienten-Kommunikation, Diskussionsforum 1. Einleitung Die Arzt-Patienten-Kommunikation hat in den letzten Jahrzehnten einen merklichen Wandel durchgemacht.1 Dieser wurde dadurch verursacht, dass man in modernen Gesellschaften unter dem Einfluss der Massenmedien einen deutlich besseren Zugang zum medizinischen Fachwissen hat. Das Expertenwissen ist dementsprechend nicht mehr nur Ärzten und medizinischem Personal vorbehalten, sondern auch bei Laien zu finden. So hat sich ein neuer Patienten-Typus herausgebildet, der sogenannte „informierte Patient“ (Braun/Marstedt, 2011, S. 47). 1 S. dazu ausführlich in Mostýn (2016) und vgl. ebd. auch für das Folgende. Zur Arzt-Patienten-Kommunikation s. auch Löning/Rehbein (1993) und Menz (2010). Eine ausführliche Übersicht einschlägiger Sekundärliteratur zu dieser Thematik findet sich bei Roelcke (2016). 83 Zurzeit spielt insbesondere das Internet als Fundgrube des medizinischen Fachwissens eine unübersehbare Rolle. Patienten und deren Angehörige nutzen oft verschiedene Ratgeber- und Diskussionsforen, die nach Erkrankungen oder Beschwerden organisiert sind, um nach Ratschlägen eines Experten oder eines ähnlich Betroffenen zu suchen oder ihre eigenen Erfahrungen mit verschiedenen Behandlungsmethoden oder Arzneimitteln auszutauschen. Eben solche Diskussions- und Ratgeberforen bilden den Gegenstand einer kontrastiv angelegten deutsch-tschechischen Analyse, die auf Diskussionsbeiträge zu einer häufig auftretenden Hauterkrankung namens Pityriasis rosea Gibert (dt. Röschenflechte oder Schuppenröschen, vgl. Abeck, 2011, S. 71, tschechisch neben der bereits erwähnten fremdsprachigen Bezeichnung auch růžová pityriáza, vgl. URL 1) ausgerichtet sind. Im Fokus der Analyse steht der kontextuelle Gebrauch medizinischer Terminologie, vornehmlich der konkurrierenden Bezeichnungen der Hauterkrankung sowie deren Symptome in Bezug auf verschiedene Kommunikationsteilnehmer, und zwar Experten auf der einen Seite und Patienten und deren Angehörige auf der anderen. Das Ziel der Analyse ist es, festzustellen, welche außer- sowie innersprachlichen Faktoren sich auf den Gebrauch medizinischer Terminologie durch Ärzte und Patienten auswirken und welche kontextuellen Modifizierungen diese erfährt. Die Analyse soll unter Einbeziehung eines interlingualen Aspekts erfolgen, um potenzielle Gemeinsamkeiten sowie Unterschiede im Hinblick darauf aufzudecken, welche Ausdrücke das „terminologische Zentrum“ und welche die „terminologische Peripherie“ in den auf Deutsch und in den auf Tschechisch verfassten Beiträgen darstellen (s. u. zum Textkorpus). Auf eine kurze Charakteristik der Hauterkrankung und der beiden Subkorpora (Deutsch und Tschechisch) einschließlich einiger zentraler Forschungsschwerpunkte folgen die wichtigsten Ergebnisse meiner Analyse. 2. Die Hauterkrankung Pityriasis rosea2 Die Erkrankung Pityriasis rosea, bisweilen auch Pityriasis rosea Gibert oder Gibert-Erkrankung (vgl. Traupe/Hamm, 2006, S. 405) genannt, gehört zu den häufig vorkommenden und ziemlich harmlosen Hauterkrankungen, die vor allem Patienten zwischen 19 und 29 Jahren betreffen. Obwohl es sich um eine häufig auftretende Dermatose handelt, ist sie relativ wenig erforscht: Bis heute ist beispielsweise der Krankheitserreger unbekannt. Es wird vermutet, dass diese Hauterkrankung durch die humanen Herpesviren der Gruppe 6 und 7 hervorgerufen wird. In der Publikation Häufige Hautkrankheiten in der Allgemeinmedizin: Klinik, Diagnose, Therapie von Dietrich Abeck (2011) wird ein typischer Verlauf dieser Dermatose folgendermaßen charakterisiert: 2 Für das Folgende vgl. auch Mostýn (2016). 84 „Bei etwa der Hälfte der Patienten entwickelt sich initial das Primärmedaillon (Harald’s Patch) in Form eines scharf begrenzten Erythems mit typischer randständiger colleretteartiger Schuppung […]. Für die klinische Diagnose entscheidend ist die typische Schuppenkrause in einem Erythem […]. Bei Vorliegen multipler Läsionen ist der Nachweis dieses Befundes ausschlaggebend. Nach 2 Tagen – in der Regel 3-5 Tagen, in einzelnen Fällen auch noch nach Wochen – entstehen weitere Läsionen, die häufig kleiner als die Primärläsion sind. Bei exanthematischer Aussaat ist die Anordnung der Hautveränderungen am Rumpf in den Hautspaltlinien typisch.“ (Abeck, 2011, S. 71-72) Erytheme treten meist am Rumpf, in den Achseln, im Genitalbereich oder im Gesicht auf, und zwar allein oder in Kombination. Pityriasis rosea heilt meistens innerhalb von 5-7 Wochen ohne Behandlung aus. Der Verlauf kann sehr unterschiedlich sein. Einige Patienten bleiben beschwerdefrei, andere beklagen sich über sehr starken Juckreiz (Abeck, 2011, S. 71-72). Betrachtet man die oben zitierte Charakteristik etwas näher, stößt man auf eine Reihe medizinischer Termini wie Primärmedaillon samt seinem englischen Äquivalent Harald’s Patch, die den anfänglichen, auffälligen Ausschlag bezeichnen, ferner auf den Terminus Erythem, der laut dem Duden-Onlinewörterbuch (im Folgenden abgekürzt als DOW, URL 2) die Bedeutung ,entzündliche Rötung der Haut infolge verstärkter Durchblutung durch Gefäßerweiterung (Med.)‘ trägt. Kennzeichnend sind ebenfalls terminologische Wortverbindungen mit attributiven Adjektiven wie randständige colleretteartige Schuppung und das Determinativkompositum Schuppenkrause, welche die Form der Hautschuppung näher charakterisieren und eine wichtige differenzialdiagnostische Funktion erfüllen. Die Hauptsymptome dieser Hauterkrankung – rote Ausschläge (Flecken) – werden hier als Läsionen (,Verletzung oder Störung der Funktion eines Organs oder Körperglieds‘ (Med.), DOW) oder Exantheme (,[entzündlicher] Hautausschlag‘, (Med.) DOW) bezeichnet, wobei diese Hautveränderungen in den sogenannten Hautspaltlinien verlaufen (,unabhängig vom Haarstrich in Richtung der geringsten Hautdehnbarkeit (senkrecht zu den Hautspannungslinien, den Linien stärkster Zugspannung) verlaufende Linien der Haut in deren Feinrelief ’) (URL 3). Es handelt sich in allen Fällen um Termini, die einen hohen Fachlichkeitsgrad aufweisen und der höchsten Ebene hinsichtlich der vertikalen Schichtung der Fachsprache der Medizin (speziell der Dermatologie) zuzuschreiben sind. Sie kommen dementsprechend in der theorie- oder anwendungsbezogenen Kommunikation unter Experten vor.3 Neben dem Terminus Pityriasis rosea finden bei der Bezeichnung dieser Hauterkrankung zwei deutschsprachige Äquivalente Verwendung, und zwar 3 Zur vertikalen Schichtung fach(fremd)sprachlicher Kommunikation im Bereich der Medizin s. Roelcke (2016, S. 109-122). 85 Röschenflechte und Schuppenröschen. Den beiden Determinativkomposita liegt die unmittelbare Konstituente Röschen – entweder als Bestimmungs- oder Grundwort – zugrunde. Dabei handelt es sich um eine metaphorische Bezeichnung des Hauptsymptoms dieser Hauterkrankung, der roten Erytheme (Flecken), deren Erscheinungsbild kleinen Röschenblüten ähnelt (vgl. Mostýn, 2016). Um entsprechende medizinische Terminologie in Bezug auf diese Hauterkrankung im Tschechischen zu finden, wurde als Paralleltext die Publikation Dermatovenerologie von Jiří Štork et al. (2013) herangezogen. Hier wird das Krankheitsbild folgendermaßen beschrieben: „Onemocnění zpravidla začíná často nepovšimnutým primárním („mateřským“) ložiskem představovaným až několik centimetrů v průměru velkou růžovou makulou s jemnými (pityriaziformními) šupinkami na povrchu, které po jejich odloučení v centru ložiska vytvářejí na jeho periferii límeček dovnitř nadzdvižených šupinek […]. Zpravidla po týdnu dochází v embolizační lokalizaci (postranní partie trupu vnitřní strany paží a stehen) k postupnému, několik dní trvajícímu, symetrickému výsevu menších oválných makul stejného vzhledu orientovaných podélnou osou v čarách štěpitelnosti kůže […].“ (Štork et al., 2011, S. 176) Auch im oben zitierten Text findet man zahlreiche Termini der medizinischen Fachsprache: Das erste sichtbare Symptom wird primární („mateřské“) ložisko [Primärherd („Mutterherd“)] genannt, wobei es sich um einen Ausdruck handelt, der ebenfalls im deutschsprachigen Subkorpus vertreten ist (s. u.). Die roten Läsionen werden sehr ähnlich wie in der deutschsprachigen Definition beschrieben. Allerdings wird in der Definition nicht von den Termini léze [Läsion] oder erytém [Erythem] Gebrauch gemacht, sondern es wird der dermatologische Terminus makula [Makula – in der Bedeutung ,fleckförmige Veränderung (z.B. der Haut)‘, (Med.), DOW] herangezogen. Es werden auch die differentialdiagnostischen Merkmale, randständige colleretteartige Schuppung‘, im Tschechischen ložiska vytvářejí na jeho periferii límeček dovnitř nadzdvižených šupinek, und ,Anordnung in den Hautspaltlinien‘, im Tschechischen orientovaný v čarách štěpitelnosti kůže, thematisiert. Aus diesen Ausführungen ergibt sich die Frage, welche der konkurrierenden Bezeichnungen für diese Dermatose sowie für deren Symptome durch Ärzte und Patienten im analysierten Korpus (s. u.) verwendet werden, und welche gruppenspezifischen bzw. individuellen Unterschiede (hinsichtlich der kommunikativen Rolle der Kommunizierenden) sich feststellen lassen, und dies auch in Bezug auf die beiden Sprachen. 86 3. Das Textkorpus und einschlägige Forschungsfragen Das untersuchte Textkorpus bilden zwei Subkorpora; das eine schließt tschechischsprachige Beiträge und das andere deutschsprachige Beiträge ein, die verschiedenen Ratgeberforen für Betroffene und Angehörige von Betroffenen, die an Pityriasis rosea leiden, entnommen wurden. Insgesamt wurden Diskussionsbeiträge im Gesamtumfang von etwa 500 000 Zeichen (jeweils etwa 250 000 Zeichen pro Sprache) untersucht. Dabei handelt es sich um folgende Ratgeberseiten: board.netdoktor.de; community.netdoktor.at; gesundheit.de; gesund heitsfrage.net; med1.de; medizin-forum.de; onnmeda.de und patientenfragen.net + forum.gofeminin.de und justanswer.de; diskuse.apatykar.info; doktorka.cz; ona.idnes.cz/dermatologickaporadna; ulekare.cz; + baby-cafe.cz; babyonline.cz; emimino.cz; omlazeni.cz Es wurden sowohl spezielle medizinische Foren mit Threads zum Thema Pityriasis rosea als auch allgemeiner ausgerichtete Foren, in denen diese Hauterkrankung behandelt wird, berücksichtigt. Wir haben hier mit mehreren Kommunikationsrichtungen: Betroffener – Arzt, Angehöriger – Arzt, Angehöriger – Betroffener und Betroffener – Betroffener zu tun, und im Korpus sind Posts unterschiedlicher Länge anzutreffen, die, wie manche Texte, die im Rahmen der Internetkommunikation verfasst werden, Merkmale des sogenannten Cyberslangs aufweisen (Vorkommen von Tippfehlern, Verwendung ikonografischer Mittel, Hervorhebungen durch typografische Zeichen, bisweilen Verzicht auf Diakritika (im Tschechischen), manchmal auch Verzicht auf Großschreibung von Substantiven (im Deutschen) und dergleichen). Im Zentrum meines Interesses steht die Frage, wie einschlägige Termini in die Posts eingebettet werden, welche verbalen und paraverbalen Mittel dabei herangezogen werden (typografische Markierungen wie Fettdruck, Kursivschrift, Anführungszeichen und dergleichen), und welche metasprachlichen Formulierungen4 diese in beiden Subkorpora begleiten. Zugleich wird der Gebrauch entsprechender Fachlexik auf der lexikalisch-semantischen Ebene analysiert, wobei das Augenmerk auf verschiedene lexikalische Modifizierungen wie die Verwendung von Synonymen, Hyperonymen, aber auch auf die lexikalisch-morphologische Ebene – vordergründig auf die Wortbildung – gerichtet wird. In diesem Zusammenhang soll festgestellt werden, ob in den untersuchten Posts überwiegend konstante oder davon abweichende Benennungen der oben genannten Hauterkrankung und ihrer Symptome vorkommen, und ob sich einerseits gruppenspezifische, andererseits interlinguale Unterschiede aufdecken lassen (vgl. Mostýn, 2016). 4 Göpferich (1995, S. 383) hat acht Typen metasprachlicher Elemente in Fachtexten identifiziert: Definitionen, Explikationen, Präzisierungen; Einführung neuer Termini; Einführung von Synonymen; Einführung von Abkürzungen, Formelzeichen, Symbolen; Angabe einer Benennungsmotivation; Kommentierung der Verwendungsweise von Termini; Überblick über Begriffshierarchien und Sonstige. 87 4. Ergebnisse der Analyse 4.1. Gebrauch medizinischer Fachlexik im Hinblick auf kommunikative Rollen Beim Gebrauch medizinischer Terminologie lassen sich in beiden Subkorpora erwartungsgemäß gruppenspezifische Differenzen in Bezug auf entsprechende kommunikative Rollen (Experte – Laie) feststellen, was auf unterschiedlich umfangreiches Fachwissen der Kommunikationsteilnehmer zurückzuführen ist. Diejenigen, die in den Diskussionsforen den Status eines Fachexperten innehaben, also vorzugsweise Dermatologen, verwenden in ihren Posts häufiger medizinische Termini lateinischer oder griechischer Herkunft, die der höchsten Abstraktionsstufe hinsichtlich der vertikalen Schichtung der medizinischen Terminologie zuzuschreiben sind. Ein häufigeres Vorkommen von Fremdwörtern lässt sich ebenfalls in Beiträgen von anderen Vertretern des medizinischen Bereichs verzeichnen, wie z.B. in Posts von Ärzten, die selbst keine Dermatologen sind, oder auch von anderem medizinischem Personal, wie etwa von Krankenschwestern, aber auch von Menschen mit fachspezifischer Ausbildung. Der folgende Beitrag einer Userin, die im Forum gesundheitsfrage.net den Status einer „Expertin“ aufweist, aber selbst keine Dermatologin ist, behandelt eines der empfohlenen Hilfsmittel bei der Röschenflechte – das Arzneimittel Desloratadin, wobei die Userin dessen Anwendung für nicht geeignet hält. Dieser Behauptung stellt sie folgendes Argument voran: Desloratadin ist ein Arzneistoff aus der Gruppe der Antihistaminika, der zur Behandlung der allergischen Rhinitis und chronischen Urtikaria (Nesselsucht) eingesetzt wird. Halte ich hier nicht für angebracht. (gesundheitsfrage.net) Neben dem Arzneistoff Desloratadin, der selbst den Status eines medizinischen Terminus aufweist, treten im Beleg drei weitere Termini mit fremdsprachigen Elementen auf: Antihistaminikum (,Arzneimittel gegen allergische Reaktionen‘, DOW), allergische Rhinitis (allergische ,Entzündung der Nasenschleimhaut‘, DOW) und chronische Urtikaria. Lediglich dem letzten Terminus, der eine Krankheitsbezeichnung darstellt, fügt die Autorin in runden Klammern eine Art Verständnishilfe in Form eines deutschsprachigen Äquivalents (Nesselsucht) bei. Die Verwendung verschiedener metasprachlicher Mittel, im obigen Beleg die Anführung von Synonymen deutscher Herkunft in runden Klammern, ist eine im entsprechenden Subkorpus häufig zu verzeichnende metakommunikative Strategie beim Umgang mit den Termini. Da mit einer solchen Verständnishilfe nicht alle Termini versehen sind, könnte die Userin deren Bekanntheit oder einfache Recherchierbarkeit vorausgesetzt haben. 88 Ähnliches trifft auch auf das tschechischsprachige Subkorpus zu. Im folgenden Post einer tschechischen Dermatologin wird eine Vermutung im Hinblick auf eine mögliche Diagnose geäußert – Pityriasis rosea. Mohlo by jít o pityriasis rosea, což je tzv. paravirový exantém, tzn. vzniká v souvislosti s virovým infektem, není to nijak nebezpečné a léčba není nutná. Většinou po několika týdnech spontánně zmizí. [Es könnte sich um Pityriasis rosea handeln, was ein paravirales Exanthem ist, d.h. es entsteht im Zusammenhang mit einem viralen Infekt, es ist harmlos und keine Behandlung ist notwendig. Meistens verschwindet es nach einigen Wochen spontan von selbst.]5 (ulekare.cz) So wie im vorigen Beleg aus dem deutschsprachigen Subkorpus werden auch in diesem metasprachliche Mittel herangezogen. Mit deren Hilfe werden Teilhandlungen wie z.B. ERLÄUTERN realisiert, die dem Stilmuster VERSTÄNDLICH MACHEN zuzuordnen sind (s. dazu Petkova-Kessanlis, 2009, S. 246). Die Röschenflechte wird in einem Relativsatz als paravirový exantém [paravirales Exanthem] (,durch Viren hervorgerufener Hautausschlag‘, s. Kap. 2 dieser Arbeit) erläutert. Auch das Syntagma paravirový exantém wird in der nachgestellten asyndetisch verknüpften Aussage erklärt, denn es wird wahrscheinlich angenommen, dass es nicht allgemeinverständlich ist. In der eigentlichen Erklärung sind ebenfalls Termini lateinischer Herkunft zu beobachten. Als Ursache dieser Dermatose wird ein virový infekt [viraler Infekt] (,durch Viren hervorgerufene Infektionserkrankung‘, DOW) genannt. Während Experten in ihren metasprachlichen Äußerungen meist die Hauterkrankung Pityriasis rosea näher charakterisieren, deren vermutete Auslöser nennen, zusammenhängende Fachbegriffe oder deutschsprachige synonyme Ausdrücke für Fremdwörter anführen, erfüllen metasprachliche Äußerungen von Betroffenen bzw. deren Angehörigen auch andere kommunikative Funktionen, wie die folgenden Belege zeigen. Im deutschsprachigen Subkorpus werden von Usern bisweilen deutschsprachige Synonyme zu Pityriasis rosea thematisiert, wobei sie sich eine Aufklärung darüber wünschen, ob die von ihnen gefundenen Bezeichnungen Schuppenröschen und Röschenflechte denselben Referenten haben. In solchen Posts finden metasprachliche Verben wie nennen, heißen oder andere Abkürzungen, z.B. Formen wie sog., d.h. Verwendung. Der Ausdruck Schuppenröschen macht lediglich etwa 5,1% der im Korpus befindlichen Konkurrenzformen von Pityriasis rosea aus (die folgenden zwei Beispiele zitiert nach Mostýn, 2016): Der Arzt diagnostizierte SCHUPPENRÖSCHEN. Im ganzen Internet habe ich geschaut. Zu diesem Thema konnte ich nichts finden. Dann 5 Eigene Übersetzung von M.M.; gilt ebenfalls für die folgenden Belege aus dem tschechischen Subkorpus. 89 stand auf irgendeiner Seite, dass Schuppenröschen auch Röschenflechte heißen. Stimmt das? (med1.de) Schuppenröschen ist wohl dasselbe wie Röschenflechte. (med1.de) In tschechischsprachigen Posts lassen sich Belege finden, in denen einige User die Unverständlichkeit der fremdsprachigen Bezeichnung Pityriasis rosea zum Ausdruck bringen: Diagnóza: „Pityriasis rosea Gibert” (Myslel jsem si že mi nadává.) Je to hnus a svědí mě to čím dál více [Diagnose: „Pityriasis rosea Gibert” (Ich dachte, sie beschimpft mich.) Es ist eklig und juckt immer mehr (diskuse.apatykar.info), oder wo sie sich bei Unsicherheit eine terminologische Aufklärung ebenso wie im deutschsprachigen Subkorpus wünschen. Dabei ist der Autorin des folgenden Posts nicht bekannt, dass Pityriasis rosea lediglich die gekürzte Form von Pityriasis rosea Gibert darstellt. ....Chci se také zeptat, stále tu píšete o Pityriasis Rosea – je rozdíl mezi touto formou, a Pityriasis Rosea Gibert???? […Ich möchte auch fragen, ihr schreibt hier immer über Pityriasis rosea – gibt es einen Unterschied zwischen dieser Form und Pityriasis rosea Gibert?] (diskuse.apatykar.info) Des Weiteren wurde im deutschsprachigen Subkorpus noch ein weiterer Unterschied in Bezug auf das Vorkommen bestimmter terminologischer Varianten von Röschenflechte beobachtet, und zwar bei der Verwendung des Ausdrucks Rosenflechte. Dieser wird in den von mir durchgesehenen Büchern zu Pityriasis rosea meist nicht erwähnt, lediglich in Abeck (2010, S. 133) ist er im Sachregister zu finden und verweist auf die behandelte Dermatose. Im deutschsprachigen Subkorpus fällt auf, dass, während dieser Ausdruck in Posts von Betroffenen vereinzelt belegt ist (etwa 1,5%):6 Hallo, Bei mir wurde vor knapp 3 Wochen Rosenflechte festgestellt. Ich gehöre leider zu denen, die es besonders schlimm getroffen hat! (justanswer.de) Experten neben Pityriasis rosea (etwa 3%) ausschließlich die Variante Röschenflechte und nie Rosenflechte gebrauchen, was auch bei der Antwort eines 6 Die in Klammern angeführten Prozentangaben geben an, wie groß der Anteil des entsprechenden Ausdrucks in Bezug auf andere im Subkorpus vorkommende Bezeichnungen von Pityriasis rosea (Gibert) (Röschenflechte, Rosenflechte, Schuppenröschen und Flechte) ist. 90 Arztes auf die vorangehenden Posts (s. o.) der Fall ist, in der der Experte keinerlei Bezug auf den Ausdruck Rosenflechte nimmt und den im entsprechenden Subkorpus geläufigen Terminus Röschenflechte (etwa 79,6%) heranzieht. Guten Tag, für die Röschenflechte ist wahrscheinlich ein Virus verantwortlich. Die genaue Ursache ist unbekannt. (justanswer.de) Für das tschechischsprachige Subkorpus ist eine solche Vielfalt an konkurrierenden Bezeichnungsvarianten für die Hauterkrankung nicht kennzeichnend, was darauf zurückzuführen ist, dass in der tschechischen Terminologie neben dem lateinischen Terminus pityriasis rosea lediglich seine bohemisierte Variante růžová pityriáza existiert. Die lateinische Bezeichnung ist ebenfalls in Belegen von Nicht-Experten vorherrschend. Unabhängig von der kommunikativen Rolle der User macht der lateinische Terminus etwa 89,9% der Bezeichnungen der Hauterkrankung aus. 4.1.1. Verwendung falscher Terminologie Vergleicht man den Gebrauch der den Terminus Pityriasis rosea substituierenden Varianten, lassen sich in beiden Subkorpora Belege finden, in denen User, ausschließlich Nicht-Experten, falsche bzw. nicht gebräuchliche Varianten verwenden. Im deutschsprachigen Subkorpus handelt es sich vor allen Dingen um verschiedene Modifizierungen der ersten unmittelbaren Komponente des Determinativkompositums Röschenflechte, die mitunter als Rösleinflechte wiedergegeben wird. Der Ausdruck Rösleinflechte ist als eine Analogiebildung mit einer unterschiedlichen, gegebenenfalls nicht korrekten Diminutivform des Bestimmungswortes entstanden: Hallo Ihr Lieben, Bei meinem neunjährigen Sohn wurde vor einer Woche die Rösleinflechte diagnostiziert.. … (onmeda.de) Den tschechischsprachigen Posts lässt sich entnehmen, dass einige User insbesondere bei der Wiedergabe der lateinischen Bezeichnung Pityriasis rosea Gibert verschiedene falsche Varianten bilden, die im Korpus als Okkasionalismen auftreten. Obwohl es sich um falsche Termini handelt, ist auch hier ihre Verständlichkeit dank einer klar gegebenen Referenz nicht beeinträchtigt. Tak mě teda paní doktorka poslala na kožní, kde mi identifikovali nemoc jako pithyriais rosea [Also die Ärztin hat mich in die Abteilung für Dermatologie geschickt, wo bei mir die Krankheit pithyriais rosea diagnostiziert (wortwörtlich übersetzt: identifiziert) wurde] (diskuse.doktorka.cz) 91 Také jsem bohužel obětí pythiriasi rosae gilbert. [Auch ich bin leider ein Opfer von pythiriasi rosae gilbert] (diskuse.apatykar.info) Auch im folgenden Beleg wird von einer tschechischen Userin von einem gegebenenfalls falschen Terminus Gebrauch gemacht. No... bude to znít blbě, ale díky bohu za to, že to je jenom tahle “růžovka”, jak jí ode dneška říkám. :-) [Na…es wird vielleicht blöd klingen, aber Gott sei Dank handelt es sich nur um diese „růžovka“, wie ich sie seit heute nenne] (diskuse.doktorka.cz) In der metasprachlichen Äußerung tahle „růžovka“, jak jí ode dneška říkám kreiert die Userin für den medizinischen Terminus Pityriasis rosea ihre eigene Benennung růžovka. Metasprachliche Handlungen werden in beiden Subkorpora häufig mit Hilfe von Interpunktionszeichen signalisiert, im Beleg oben wird die eigene Benennung mit Anführungszeichen hervorgehoben. Dass der Ausdruck růžovka im Tschechischen auf eine andere Hauterkrankung, nämlich auf Rosazea (Kupferrose) (s. URL 4) referiert, die sich durch ein ganz anderes Krankheitsbild auszeichnet, ist der Userin wahrscheinlich nicht bewusst. 4.2. Weitere kontextuelle Aspekte des Gebrauchs medizinischer Terminologie In beiden untersuchten Subkorpora treten auch weitere kontextuelle Modifizierungen der einschlägigen medizinischen Terminologie in Erscheinung. Sie werden vornehmlich auf der Ebene der Orthografie bzw. Typografie, der Morphologie, aber auch auf der lexikalischen Ebene realisiert. Im Folgenden wird die Aufmerksamkeit gerade diesen kontextuellen Modifizierungen von Pityriasis rosea sowie einigen ihrer Symptome gewidmet. 4.2.1. Typografische und orthografische Modifizierungen Sowohl in den auf Deutsch als auch in den auf Tschechisch verfassten Beiträgen lassen sich verschiedene Schwankungen in der Schreibweise der Bezeichnungen der Hauterkrankung beobachten. Dies ist vornehmlich bei solchen Varianten der Fall, die in den beiden Subkorpora vergleichsweise am häufigsten zu verzeichnen sind – im deutschsprachigen Subkorpus handelt es sich um den Ausdruck Röschenflechte (s. Abschnitt 4.1.), der verschiedenartig als Rösschenflechte, Röschen Flechte, Röschen-Flechte oder röschen flechte wiedergegeben wird. heey..leute... ich bin 13 jahre und habe hatte auch eine sogenannte röschen flechte.. ich wardamit beim algemein mediziner und der sagte mir es sei ein pilz... (cyberdoktor.de) 92 Im tschechischsprachigen Subkorpus überwiegt im Vergleich zu den deutschsprachigen Posts eindeutig die fremdsprachige Variante mit einigen typografischen Modifizierungen (s. Abschnitt 4.1.): pitiriasis rosea, Pityriasis rosea, Pityriasis Rosea, pytiriasis rosea gibert, pityriasis rosea GIBERT, wobei diese nicht dekliniert werden. Darüber hinaus kommen im Subkorpus auch die bohemisierten Varianten Pityriáza oder pityriáza (etwa 1,6%) bzw. Übergangsformen (Schreibweise mit s, aber deklinierte Form) vor: všem, kdo se s pityriasou potýkají držím palce a přeju pevnou vůli při léčbě :) [allen, die mit Pityriasis kämpfen, drücke ich die Daumen und wünsche einen starken Willen bei der Behandlung :)] Der synonyme Terminus růžová pityriáza ist im tschechischsprachigen Subkorpus kein einziges Mal belegt, andere Synonyme tschechischer Herkunft sind im Korpus nicht gebräuchlich. Die fremdsprachige Bezeichnung, und zwar in ihrer vollständigen Form Pityriasis rosea Gibert, kommt im Gegensatz zum deutschsprachigen Subkorpus in den auf Tschechisch verfassten Beiträgen schon zum Vorschein, dennoch handelt es sich auch hier um eine Randerscheinung (etwa 1,6%). 4.2.2. Morphologische Modifizierungen Unter morphologischen Modifizierungen sind vornehmlich solche zu nennen, die mit Hilfe von Wortbildungsmitteln, insbesondere von Kürzungsverfahren, vorgenommen werden. Dabei lässt sich beim Vergleich beider Subkorpora ein Unterschied feststellen, denn im tschechischsprachigen Subkorpus wird von den Initialbuchstabenabkürzungen PRG (etwa 4,4%) bzw. PR (etwa 2,5%), die für die lateinische Bezeichnung Pityriasis rosea Gibert stehen, Gebrauch gemacht. Da es sich um einen Xenismus handelt, dessen richtige Wiedergabe den Usern bisweilen Probleme bereitet (s. Abschnitt 4.1.1.), wird dieser auch aus sprachökonomischen Gründen durch die entsprechende Abkürzung substituiert. Čau, přidávám se do klubu infikovaných PRG. [Hi, ich schließe mich dem Klub der PRG-Infizierten an] (diskuse.doktorka.cz) Beide oben beschriebenen Abkürzungen wurden in den auf Deutsch verfassten Posts kein einziges Mal verzeichnet. Im deutschsprachigen Subkorpus lassen sich dagegen andere Kürzungsverfahren beobachten, die der semantischen Kürzung zuzuschreiben sind. Dabei handelt es sich insbesondere um sogenannte Schwanzformen (zum Begriff s. Bär/Roelcke/Steinhauer, 2007, S. 119). Hallo, “Habe die Flechte nun schon 6 Wochen aber so langsam wird es besser” typischerweise heilt die Erkrankung langsam über einige Wochen. (cyberdoktor.de) 93 Im obigen Beleg aus dem Ratgeberforum cyberdoktor.de handelt es sich um eine Reaktion eines Experten auf eine Beschreibung des momentanen Zustandes eines Betroffenen. Diese wird als direktes Zitat in den Post des Experten eingebettet und enthält die Schwanzform Flechte (etwa 10,8%), die für die deutschsprachige Variante Röschenflechte steht. Obwohl der Ausdruck Flechte in terminologischer Hinsicht unpräzise ist, denn es handelt sich um ein Hyperonym zu verschiedenen die unmittelbare Komponente Flechte enthaltenden Determinativkomposita wie z.B. Schuppenflechte, Schmetterlingsflechte, Knötchenflechte usw. (vgl. Mostýn, 2016) und darüber hinaus um ein Polysem (vgl. mit den Lesarten 1. ,(gehoben) Zopf ‘; 2. ,niedere Pflanze aus Algen und Pilzfäden, die in Symbiose leben und zu krustigen, strauchigen Körpern zusammenwachsen‘ und 3. ,schuppiger oder krustiger Hautausschlag‘, DOW), ist die Verständlichkeit auf Grund der aktuellen (kontextuellen) Referenz nicht beeinträchtigt. Im Gegensatz dazu lässt sich die semantische Kürzung in den auf Tschechisch verfassten Beiträgen nur sehr selten finden (lediglich zwei Belege). In den folgenden zwei Belegen werden die gekürzten Formen rosea und „gibert“ verwendet, wobei die letztgenannte Variante zugleich als Metonymie aufgefasst werden kann, denn diese Hauterkrankung wurde nach ihrem Entdecker Camille Melchior Gibert (1797-1866) benannt, einem französischen Dermatologen, vgl. auch die englische Bezeichnung Gibert disease (Bartolucci / Forbis, 2005, S. 272). mam rosea uz delsi dobu [habe rosea schon seit längerem] (diskuse. apatykar.info) Ahoj vsichni, pred dvema dny mi doktorka diagnostikovala “giberta” [Hallo alle, vor zwei Tagen hat bei mir meine Ärztin „Gibert“ diagnostiziert] (diskuse.apatykar.info) 4.2.3. Weitere lexikalische Modifizierungen Für beide Subkorpora ist kennzeichnend, dass User über verschiedene Modifizierungen mit Hilfe von Wortbildungsmitteln hinaus auch weitere Benennungen der Röschenflechte benutzen, die der kontextuellen Synonymie zuzuordnen sind. So finden in beiden Subkorpora substituierende Hyperonyme, überwiegend mit dem attributiven Demonstrativpronomen diese – tato (bzw. tahle) Verwendung wie z.B. diese Krankheit, diese Hauterkrankung, diese Hauterscheinung tato kožní nemoc [diese Hauterkrankung], tato diagnóza [diese Diagnose], tato dermatitida [diese Dermatitis]. Das Demonstrativpronomen signalisiert auf der Textoberfläche die kontextuelle Referenz auf Pityriasis rosea. Naja, durchweg schön findet man sich ja nicht mit dieser grossartigen Krankheit... Ich habe auch Allergie und Stress vereint und nun die Röschenflechte. (onmeda.de) 94 Ahoj, Lenko jsem velice ráda, že jsem narazila na tyto stránky. I mi byla stanovana před týdnem tato diagnoza. [Hallo, Lenka, ich bin sehr froh, dass ich auf diese Internetseiten gestoßen bin. Auch bei mir wurde diese Diagnose gestellt.] (diskuse.doktorka.cz) In beiden Subkorpora wird häufig eine Topikrelation durch Pronominalisierung realisiert, wobei anstelle von Pityriasis rosea aus sprachökonomischen Gründen die Demonstrativpronomen das – to verwendet werden, die hier anaphorisch auf das Hyperthema Röschenflechte verweisen. Hallo, das hatte ich auch mal, das hat aber gute 8 Wochen gedauert, bis das wieder völlig wg war. Mein Arzt meinte damals auch, dass ich vermeiden sollte zu schwitzen (wegen der feuchtigkeit) und hat mir auch so ne Salbe gegeben, ich weiß aber nciht mehr, ob da Cortison drin war. (onmeda.de) Im folgenden Beleg wird das Pronomen to typografisch durch Großschreibung und obendrein durch Anführungszeichen hervorgehoben, wodurch ein emotionales Erleben eines Betroffenen signalisiert wird. In der Aussage wird seine Hoffnung, dass die Röschenflechte bei ihm nie wieder auftritt, zum Ausdruck gebracht. Haló,haló,už týden nemám ani vyrážky ani nic nesvědí, doufám, že už se “TO” ke mně NIKDY nevrátí. [Hallo, hallo, schon seit einer Woche habe ich keine Ausschläge mehr, es juckt auch nicht mehr, ich hoffe, das ”DAS” NIE wieder zu mir zurückkommt.] (diskuse.apatykar.cz) Das emotionale Erleben des Textverfassers wird nicht nur typografisch signalisiert. Da diese Hauterkrankung auch die Psyche der Betroffenen beeinflusst, lassen sich in beiden Subkorpora verschiedene expressive Ausdrücke finden, die auf Unzufriedenheit und Verärgerung hindeuten. Im deutschsprachigen Subkorpus sind es beispielsweise dieser sch.../ Scheiß dieser Mist dieser Spuk. Bei mir wurde letzten Freitag, nach einer Fehldiagnose und Arztwechsel die Röschenflechte diagnostiziert. Ich kann nur sagen, für jeden Quatsch haben die ein Gegenmittel, aber für diesen Scheiss nicht. (forum.gofeminin.de) Im tschechischsprachigen Subkorpus wurde eine größere Varianz von emotional konnotierten Ausdrücken beobachtet wie z.B. tato potvora [dieses Biest], tahle ošklivost [diese Scheußlichkeit], tohle svinstvo [dieser Mist], tahle příšernost [diese Schrecklichkeit], ta mrcha [dieses Luder] oder tato hnusná svědivá diagnóza [diese abscheuliche juckende Diagnose]. Vom emotionalen Erleben zeugt ebenfalls die Verwendung von Ironie, verzeichnet in beiden Subkorpora (vgl. das Beispiel oben mit diese großartige Krankheit). 95 Ahoj, tak já mám tuto parádu asi týden… Svědí to neskutečně, připadám si docela odporně a výhled, že s tím strávím x týdnů je fakt strašná [sic] [Hallo, ich habe diese Parade seit etwa einer Woche… Es juckt schrecklich, ich komme mir ganz abscheulich vor und der Ausblick, dass ich damit x Wochen verbringe, ist echt fürchterlich] (emimino.cz) 4.2.3.1. Symptomatik – Vielfalt von konkurrierenden Bezeichnungen In beiden Subkorpora kommen ähnliche Bezeichnungen des initialen Hauptsymptoms der Röschenflechte zum Vorschein. In der folgenden Tabelle wird die Wiedergabe des Terminus Primärmedaillon verglichen. ein (sogenanntes) Primärmedaillon, eine sogenannte Primärplaque; der erste große Mutterfleck, dieser/der Mutterherd; ein größerer einzelner roter Fleck, ein roter, rauer Fleck; nur ein „Pickel”; ein juckendes Bläschen iniciální primární skvrna mateřský flek, mateřská skvrna, mateřské ložisko hlavní flíček/flek; velký (oválný) flek; první flek; oválný růžový flek menší tečka; malé „kousnuti” Tab. 1 Wiedergabe des Terminus Primärmedaillon in beiden Subkorpora Es machen sich einige interlinguale Gemeinsamkeiten bemerkbar, die auf einen jahrhundertelangen Sprachkontakt zwischen Deutsch und Tschechisch hindeuten wie beispielsweise die Verwendung der konkurrierenden Bezeichnungen Mutterfleck – mateřský flek. Wie viele Germanismen im Tschechischen gehört auch der Ausdruck flek der Umgangssprache an (OWTS).7 Bei einem Vergleich der Wiedergabe der roten Exantheme (Flecken) lassen sich zahlreiche konkurrierende Formen verzeichnen, die in interlingualer Hinsicht ebenfalls einige Gemeinsamkeiten und Unterschiede aufweisen. die Ausschläge, die Bläschen, die Dinger, die Ekzeme, die (Röschen)Flechten, die Flecken / Fleckchen, die Pickel, die Pöckchen, die Punkte, die Pünktchen, die Pusteln, die Rosen, die Röschen, die Schuppen, die Teile exantém, fleky, oft auch Diminutivform flíčky, puchýře, (malé) pupínky, (červená) skvrna, vyrážky, nějaké/takové pupence Tab. 2 Wiedergabe der Termini Exanthem/Erythem bzw. Läsion in beiden Subkorpora In beiden Subkorpora treten die Ausdrücke Flecken (211 Belege) – fleky (152 Belege) und Ausschläge (77 Belege) – vyrážky (146 Belege) am häufigsten auf, sie 7 Online Wörterbuch der tschechischen Schriftsprache (URL 5). 96 werden sowohl von Experten als auch von Nicht-Experten verwendet, des Weiteren sind beide Subkorpora dadurch gekennzeichnet, dass medizinische Termini wie Exanthem Erythem Läsion bzw. Makula (s. Kapitel 2) entweder überhaupt nicht oder nur selten Verwendung finden, und wenn dies der Fall ist, dann ausschließlich in Posts von Experten. Interlinguale Unterschiede lassen sich in Bezug auf die Frequenz einiger Konkurrenzformen beobachten. In den auf Tschechisch verfassten Posts ist der letztgenannte Ausdruck oft auch in seiner Diminutivform flíčky [Fleckchen] vertreten (102 Mal belegt), was in den auf Deutsch verfassten Beiträgen nur selten der Fall ist (lediglich zwei Belege). Im deutschsprachigen Subkorpus fällt allerdings eine größere Varianz von konkurrierenden Formen auf. Metaphorische Ausdrücke wie Rosen oder Röschen bzw. Punkte/Pünktchen oder verallgemeinernde Ausdrücke wie Dinger oder Teile als Ersatzform für rote Läsionen treten lediglich im deutschsprachigen Subkorpus auf. 5. Fazit Im Hinblick auf die eingangs formulierte Frage, welche Termini in den untersuchten Diskussions- und Ratgeberforen zum Thema Pityriasis rosea im „terminologischen Zentrum“ und welche an der „terminologischen Peripherie“ stehen, kann Folgendes konstatiert werden: Der Gebrauch medizinischer Terminologie wird durch bestimmte außer- sowie innersprachliche Faktoren beeinflusst. Unter den außersprachlichen (textexternen) Faktoren ist der Einfluss der kommunikativen Rollen – Experte / Nicht-Experte – zu nennen, und die damit verbundenen Unterschiede in Bezug auf erworbenes Fachwissen von Kommunikationsteilnehmern. Dies hat zur Folge, dass Termini wie beispielsweise Primärmedaillon – primární ložisko Exanthem – exantém bzw. Läsion – léze, also solche, die hinsichtlich der vertikalen Schichtung der Fachsprache der Medizin einer hohen Abstraktionsebene zuzuschreiben sind, in beiden Subkorpora fast ausnahmslos von Experten gebraucht werden. Es handelt sich um fremdsprachige Termini, meist lateinischer, bisweilen auch griechischer Herkunft. Nichtsdestotrotz werden auch diese von Experten selten verwendet, weil dadurch die Verständigung beeinträchtigt werden könnte. Wenn von fremdsprachigen Termini Gebrauch gemacht wird, wird mithilfe von verschiedenen metasprachlichen Äußerungen (Anführung von Synonymen in Klammern, Verwendung von explikativen Relativsätzen oder Abkürzungen wie d.h. sog. u. a.) deren Bedeutung erläutert. Unter innersprachlichen Faktoren kann die Substituierbarkeit der einschlägigen fremdsprachigen Terminologie erwähnt werden. Während sich im Deutschen nationalsprachliche Termini wie Röschenflechte Schuppenröschen u. a. herausgebildet haben, sind im Tschechischen ähnliche nationalsprachliche Konkurrenzformen nicht vorhanden. Unterschiede zwischen beiden Subkorpora wurden dementsprechend in Bezug auf die Präferenz fremdsprachiger Bezeichnungen dieser Hauterkrankung aufgedeckt. Während in den auf Deutsch verfassten Posts die deutschsprachige Konkurrenzform Röschenflechte mit einem Anteil von 97 79,6% deutlich vorherrscht, ist es in den auf Tschechisch verfassten Beiträgen der lateinische Terminus pityriasis rosea, dessen Anteil fast 90% beträgt. Die bohemisierte Variante růžová pityriáza wird so gut wie gar nicht verwendet, die Schwanzform pityriáza ist im entsprechenden Subkorpus ebenfalls selten belegt (nur etwa 1,6%). Die auf Deutsch verfassten Beiträge von Experten zeichnen sich durch eine niedrigere Frequenz von Konkurrenzformen des Ausdrucks Röschenflechte aus, demgegenüber wurden in Beiträgen von Nicht-Experten auch andere Bezeichnungen verzeichnet, wie z.B. Rosenflechte oder auch Rösleinflechte. In Beiträgen von Nicht-Experten wurden in beiden Subkorpora typografische und auch orthografische Modifizierungen der meistverwendeten Bezeichnungen der Röschenflechte beobachtet. Darüber hinaus konnten einige Unterschiede auf der morphologischen Ebene in Bezug auf die funktionale Auslastung bestimmter Kürzungsverfahren festgestellt werden – auf die semantische Kürzung und auf die Initialbuchstabenabkürzung. Im deutschsprachigen Subkorpus wird die Schwanzform Flechte in fast 11% der Fälle herangezogen, in den auf Tschechisch verfassten Beiträgen ist die semantische Kürzung nur in zwei Posts belegt. Initialbuchstabenabkürzungen wie PRG oder PR (beide Varianten zusammen in etwa 6,9%) kommen hingegen nur im tschechischsprachigen Subkorpus vor. Betrachtet man weitere substituierende Ausdrücke, die stellvertretend für Pityriasis rosea stehen, lassen sich in beiden Subkorpora ähnliche lexikalische Mittel identifizieren – die Verwendung von Hyperonymen mit dem Demonstrativpronomen dieser – tento, des anaphorischen Demonstrativpronomens das – to und von expressiven Ausdrücken, die auf Verärgerung oder Verzweiflung hindeuten. Hinsichtlich der Emotionalität wurde im tschechischsprachigen Subkorpus eine größere Varianz festgestellt. Des Weiteren wurden die Beschreibung der Symptomatik und die einschlägige Terminologie unter die Lupe genommen. Dabei machen sich einige interlinguale Gemeinsamkeiten bemerkbar wie beispielsweise die Verwendung der konkurrierenden Bezeichnungen Mutter fleck – mateřský flek. Sowohl von Experten als auch von Nicht-Experten werden am häufigsten die Ausdrücke Ausschlag bzw. Fleck, im tschechischsprachigen Subkorpus vyrážka bzw. flek verwendet, im Vergleich zu den auf Deutsch verfassten Beiträgen ist die Form häufig auch als Diminutivum belegt. Beiden Subkorpora ist gemeinsam, dass Termini wie Exanthem Erythem Läsion bzw. Macula nur äußerst selten Verwendung finden, was auf die kommunikative Funktion der Beiträge zurückzuführen ist. Im deutschsprachigen Subkorpus fällt eine größere Varianz von konkurrierenden Formen bei der Beschreibung der Symptomatik auf. 98 Abstract The paper presents the results of a contrastive Czech-German analysis of selected advisory and discussion forums focusing on the skin disorder called Pityriasis rosea Gibert. Attention is paid to the use of the relevant medical terminology by doctors, patients and their relatives. The aim of the analysis was to identify the internal and external linguistic factors influencing the use of medical terms associated with the skin disease and how they are modified in context. Using a contrastive approach, this study demonstrates which expressions are situated in the “terminological center” and which stand on the “terminological periphery” and what differences occur in both languages. Keywords Pityriasis rosea Gibert, medical terminology, online communication, communication between doctor and patients, discussion forum Quellenverzeichnis Das deutschsprachige Subkorpus: http://www.board.netdoktor.de/, [10.05.2016]. http://www.community.netdoktor.at/, [13.05.2016]. http://www.gesundheit.de, [10.05.2016]. http://www.gesundheitsfrage.net, [10.05.2016]. http://www.gofeminin.de/world/communaute/forum/forum0.asp, [30.05.2016]. http://www.justanswer.de/ [20.08.2016] http://www.med1.de, [12.06.2016]. http://www.medizin-forum.de, [20.06.2016]. http://www.onnmeda.de, [30.06.2016]. http://www.patientenfragen.net, [05.07.2016]. http://www.wunschkinder.net/forum/, [25.04.2016]. Das tschechischsprachige Subkorpus: http://www.baby-cafe.cz, [22.08.2016]. http://www.babyonline.cz, [25.08.2016]. 99 http://www.emimino.cz, [12.06.2016]. http://www.diskuse.apatykar.info, [18.06.2016]. http://www.doktorka.cz, [20.05.2016]. http://www.ona.idnes.cz/dermatologicka-poradna, [15.05.2016]. http://www.ulekare.cz, [25.04.2016]. http://www.omlazeni.cz, [13.04.2016]. Literaturverzeichnis Abeck, Dietrich (2010, 2011). Häufige Hautkrankheiten in der Allgemeinmedizin: Klinik, Diagnose, Therapie. (2010 – 1. Aufl., 2011 – 2., überarb. und erw. Aufl.). Berlin/Heidelberg/New York: Springer Medizin. Bartolucci, Sue / Forbis, Pat (2005). Stedman‘s medical eponyms. 2. Aufl. Baltimore: Lippincott Williams & Wilkins. Bär, Jochen / Roelcke, Thorsten / Steinhauer, Anja (Hg.) (2007). Sprachliche Kürze: konzeptuelle, strukturelle und pragmatische Aspekte. Berlin/New York: de Gruyter. Göpferich, Susanne (1995). Textsorten in Naturwissenschaften und Technik. Pragmatische Typologie – Kontrastierung – Translation. Tübingen: Narr. Löning, Petra / Rehbein Jochen (Hg.) (1993). Arzt-Patienten-Kommunikation. Analysen zu interdisziplinären Problemen des medizinischen Diskurses. Berlin/New York: de Gruyter. Menz, Florian (2010). Sprechen über Schmerzen. Linguistische, kulturelle und semiotische Analysen. Duisburg: Univ.-Verl. Rhein-Ruhr. Mostýn, Martin (2016). RE: Rösleinflechte??? Ich denke, dass wird eher Röschenflechte sein… Zum Gebrauch medizinischer Termini durch Ärzte und Patienten in Online-Diskussionsforen. In: Brünner Beiträge zur Germanistik und Nordistik, Jg. 30. Brno: Masarykova univerzita, S. 37-58. Petkova-Kessanlis, Mikaela (2009). Musterhaftigkeit und Varianz in linguistischen Zeitschriftenaufsätzen. Sprachhandlungs-, Formulierungs-, Stilmuster und ihre Realisierung in zwei Teiltexten. (= Arbeiten zu Diskurs und Stil, Bd. 10). Frankfurt am Main/Berlin/Bern u. a.: Lang. Roelcke, Thorsten (2016). Ärzte, Pfleger und Patienten. Zur Typologie deutscher Fachkommunikation in einer mehrsprachigen Gesellschaft. In: Symbolae Cassovienses. Kaschauer Beiträge zur Sprache und Kultur, (1/2016), S. 107-126. Štork, Jiří (2013). Dermatovenerologie. 2. Aufl. Praha: Galén. 100 Traupe, Heiko / Hamm, Henning (2006). Pädiatrische Dermatologie: mit 104 Tabellen. 2. Aufl. Heidelberg: Springer. Internetquellen URL 1: Online verfügbar unter http://cs.medixa.org/deti/ruzova-pityriaza, [20.08.2016]. URL 2: Online verfügbar unter http://www.duden.de/, [25.08.2016]. URL 3: Online verfügbar unter http://www.gesundheit.de/lexika/medizin-lexikon/ hautspaltlinien-langerverlaufen, [11.07.2016]. URL 4: Online verfügbar unter http://www.ulekare.cz/clanek/ruzovku-zdolajiantibiotika-i-laser-12814, [22.08.2016]. URL 5: Online [25.08.2016]. verfügbar unter http://ssjc.ujc.cas.cz/search.php?db=ssjc, Dieser Beitrag ist im Rahmen des Projekts „Präsentation von fachlichen Informationen im fachlichen und nichtfachlichen Kontext“ („Prezentace odborných informací v odborném i neodborném kontextu“), SGS21/FF/20162017, entstanden. 101 102 Zentrum und Peripherie in der deutschen Sprache der Mediziner anhand von Fachzeitschriften Ewa M. Majewska Annotation Die medizinische Fachsprache nimmt eine Sonderstellung unter den Fachsprachen ein, was auf ihren umfangreichen Wortschatz zurückzuführen ist. Im medizinischen Fachvokabular lassen sich Zentrum und Peripherie unterscheiden. Die Einteilung der Fachwörter vollzieht sich auf unterschiedlichen Ebenen, sowohl auf der morphologischen Ebene, als auch auf der semantischen. Der Fachlichkeitsgrad der Fachwörter stellt ein weiteres Einteilungskriterium dar. Im Zentrum befinden sich Substantive und Adjektive, die anderen Wortarten treten in den Hintergrund der medizinischen Fachsprache. Nach dem semantischen Kriterium kann man Organe und Krankheiten dem Zentrum des Wortschatzes zuordnen, während andere medizinische Einheiten, wie z.B. physiologische Prozesse, Operationen, Instrumente u.a. die Peripherie bilden. Die medizinischen Fachwörter haben einen unterschiedlichen Fachlichkeitsgrad und werden dadurch auf verschiedenen Kommunikationsstufen verwendet. Das untersuchte Sprachmaterial stammt aus den deutschsprachigen medizinischen Zeitschriften Ärztewoche und Ärzteblatt. Schlüsselwörter Fachsprachen, Medizin, Fachwortschatz, Krankheiten, Organe 1. Einleitung Das Hauptmerkmal der medizinischen Fachsprache ist ihr umfangreicher Wortschatz. Der Gesamtumfang dieses Wortschatzes ist schwer zu bestimmen. Nach Schätzungen umfasste der medizinische Fachwortschatz im 20. Jahrhundert rund 500.000 Einheiten, wovon 20.000 als Bezeichnungen für organische Funktionen, 60.000 für Krankheiten Untersuchungs- und Operationsmethoden verwendet wurden (Porep/Steudel, 1974, V, S. 9). Hierzu vgl. Ahlheim (1992) und Schipperges (1988). Nach Schätzungen beläuft sich die Zahl der medizinischen Fachwörter gegenwärtig auf zwei Millionen (Kempcke, 1989, S. 843). 103 2. Zentrum und Peripherie in der Medizin Das Wortpaar Zentrum und Peripherie kann sofort Assoziationen aus dem Bereich der Anatomie hervorrufen, nämlich mit dem Zentralnervensystem (ZNS) und dem peripheren Nervensystem, was Abbildung Nr. 1 zeigt: NERVENSYSTEM Peripheres Nervensystem: Rückenmarks- und Gehirnnerven Zentrales Nervensystem (ZNS): Gehirn und Rückenmark Abbildung Nr. 1 Gehirn und Rückenmark bilden das Zentralnervensystem (ZNS). Den übrigen Körper steuert das periphere Nervensystem, ein Netzwerk von Nerven, das über das Rückenmark Signale zwischen dem Gehirn und Muskeln, Haut und Organen des Körpers weiterleitet. Zusammen machen die beiden Systeme das Nervensystem des Körpers aus. Sie stehen in ständiger Verbindung, indem sie jede bewusste und unbewusste Bewegung und Handlung kontrollieren. Das Wortpaar Zentrum und Peripherie kann auch in der medizinischen Fachsprache als Einteilungskategorie gebraucht werden. Die Abgrenzung des Zentrums von der Peripherie im medizinischen Fachwortschatz kann sich auf drei Ebenen vollziehen. Jede Ebene enthält Wörter, die sich dem Zentrum oder der Peripherie zuordnen lassen. 104 2.1. Gliederung nach den Wortarten in der medizinischen Fachsprache Die Abbildung Nr. 2 veranschaulicht die erste Einteilung innerhalb der medizinischen Fachsprache: ZENTRUM PERIPHERIE Pronomina Adverbien Substantive Verben Adjektive e Zahlwörter Präpositionen n Konjunktionen Abbildung Nr. 2 Im Zentrum des medizinischen Wortschatzes stehen Substantive und Adjektive. Der Anteil anderer Wortarten an der medizinischen Fachsprache, z.B. Verben und Adverbien, ist viel geringer (Kühtz, 2007, S. 40; Filipec, 1969, S. 410). Zusammen mit Pronomina, Zahlwörtern, Präpositionen und Konjunktionen bilden sie die Peripherie der medizinischen Fachsprache. Im Fachwortschatz sind verschiedene Wortbildungstypen der Substantive vertreten. Das Determinativkompositum stellt das produktivste Wortbildungsverfahren dar (Kühtz, 2007, S. 43). 105 2.2. Gliederung nach der Semantik der Fachbegriffe Von Zentrum und Peripherie kann man auch in Hinblick auf die Semantik der Fachbegriffe sprechen. Das wird am Beispiel der Abbildung Nr. 3 aufgewiesen. Physiologische Prozesse Bakterien, Viren, Parasiten Chirurgische Eingriffe Medikamente Verfahren Organe Krankheiten Instrumente Methoden Abbildung Nr. 3 Im Zentrum stehen bestimmte medizinische Einheiten, während andere mehr in den Hintergrund treten, obwohl zwischen den Einheiten beider Gruppen konkrete Relationen hergestellt werden. Im Zentrum des medizinischen Fachwortschatzes stehen Benennungen der einzelnen Organe (anatomische Begriffe) und ihrer Krankheiten (Fachwörter der Nosologie). Sie stehen im Verhältnis zueinander – die Krankheiten befallen die Organe. Zu der Peripherie gehören also verschiedene diagnostische Methoden, Heilungsmethoden, chirurgische Eingriffe, Verfahren, Instrumente, physiologische Vorgänge, Medikamente, Krankheitserreger, u.a. 2.3. Gliederung nach dem Fachlichkeitsgrad des Wortschatzes Die Einteilung in Zentrum und Peripherie betrifft auch den Grad der Fachlichkeit der medizinischen Fachwörter. Man kann im Fachwortschatz eine gewisse Hierarchie aufbauen. Die Fachwörter sind uneinheitlich, haben eine unterschiedliche morphologische Form und einen unterschiedlichen Fachlichkeitsgrad und werden auf verschiedenen Stufen der Kommunikation verwendet. Die Arten 106 der Fachwörter zeigt die Abbildung Nr. 4: Trivialbezeichnungen Gemeinsprachliche Bezeichnungen Termini technici Hybridbildungen Abbildung Nr. 4 Die Kommunikation zwischen den Ärzten verläuft auf eine andere Weise als zwischen dem Arzt und dem Patienten. Die Gesprächspartner verwenden oft ein anderes Vokabular und bedienen sich anderer Kommunikationsstrategien. Im Zentrum des medizinischen Fachwortschatzes stehen Termini technici, deren Begriffsinhalt und Form international verbindlich sind. Sie sind diejenigen Fachwörter, die hauptsächlich in der schriftlichen Kommunikation verwendet werden (DUDEN, 2007, S. 29). Zu Termini werden sie erst dann, wenn sie mit Adjektiven mit lateinischen Endungen zusammen auftreten und dadurch näher bestimmt werden, indem sie sich mit ihnen zu übergeordneten und funktionell eindeutigen Informationseinheiten verbinden. Daraus kann man schließen, dass (im Gegensatz zur Anatomie) eine Krankheitsbezeichnung als Terminus immer aus mehreren Wörtern mit jeweils lateinischer Endung bestehen sollte. Eingliedrige Krankheitsbezeichnungen gehören nach DUDEN den Trivialbezeichnungen an, auch wenn sie eine lateinische oder neulateinische Form haben. Die Trivialformen sind in der Endung eingedeutscht (DUDEN, 2007, S. 34), z.B. Appendicitis gangrenosa, Acne vulgaris, Caries dentum, Diabetes mellitus: Appendizitis, Akne, Karies, Diabetes. Die Termini und die Trivialbezeichnungen werden in allen Fachbereichen der Medizin verwendet. Auch griechisch-lateinische bzw. lateinisch-deutsche bzw. griechisch-deutsche Mischkompositionen, so genannte Hybridbildungen (lat. Hybrida ‚Mischling‘), kommen häufig vor, sie bestehen aus Elementen unterschiedlicher sprachlicher Abstammung, z.B. Appendektomie ‚operative Entfernung des Wurmfortsatzes (am Blinddarm, lat. Appendix ‚Anhang‘, gr. ektomie ‚das Ausschneiden‘); Sonographie ‚Ultraschalluntersuchung‘ (lat. Sonus = Schall, gr. graphe ‚das Schreiben, Aufzeichnung‘, ultra ‚darüber hinaus‘); Herzinsuffizienz statt kardiale Insuffizienz ‚Herzschwäche‘ (lat. insuffientia) ‚ungenügende Leistung‘, gr. kardia ‚Herz‘ 107 (Willmanns / Schmitt, 2002, S. 21). Neben dem Fachwort griechisch-lateinischer Herkunft enthält der medizinische Wortschatz muttersprachliches Wortgut (z.B. Zuckerkrankheit, Herz-Kreislauf-Stillstand). In der Peripherie stehen Trivialbezeichnungen, Hybridbildungen und gemeinsprachliche Wörter, die sich vor allem auf Bezeichnungen der Krankheitssymptome beziehen, z.B. Erbrechen, Fieber, Abgeschlagenheit, Müdigkeit, Schwäche, Trockenheit usw. 3. Anatomische Begriffe und Krankheitsnamen im Zentrum des Wortschatzes Das hierarchische System der Fachwörter bezieht sich auf alle Fachgebiete der Medizin. Die Anatomie bildet die strukturelle Grundlage für alle medizinischen Fachgebiete. Der Fachwortschatz der Anatomie ist ziemlich übersichtlich, so dass es keine Schwierigkeiten gibt, die echten Termini von den Trivialbezeichnungen zu unterscheiden (DUDEN, 2007, S. 31). Die anatomische Nomenklatur hat die Benennung, Systematisierung und Ordnung der einzelnen Strukturen des menschlichen Körpers zum Inhalt. Die Fachbegriffe bezeichnen Knochen, Sehnen, Muskeln, Organe, Organteile, Gewebe usw. Die Fachsprache der Anatomie ist überwiegend auf der lateinischen Sprache aufgebaut (Willmanns / Schmitt, 2002, S. 35). Die meisten anatomischen Begriffe sind mehrgliedrig (Ruff, 2001, S. 59). Beispiele: ossa manus ‚Handknochen’, Articulatio cubiti ‚Ellbogengelenk‘, Arteria pulmonalis dextra ‚rechte Lungenarterie‘, Glandula suprarenalis ‚Nebenniere‘, Canaliculi lacrimales ‚Tränenkanälchen‘, Sinus frontalis ‚Stirnhöhle‘. Heute gibt es ungefähr 6000 Nomina Anatomica. Sie setzen sich aus einer Anzahl lateinischer Wortstämme, Präfixe und Suffixe zusammen (Willmanns / Schmitt, 2002, S. 35). Im untersuchten Sprachmaterial der Fachzeitschriften wurden hauptsächlich deutsche Bezeichnungen der Organe verwendet: - - Die neue Versorgungsform soll den Nachweis erbringen, dass mehr Autonomie in der physiotherapeutischen Therapie bei muskuloskelettalen Erkrankungen der Wirbelsäule, des Beckens oder der unteren Extremität die Effektivität und Effizienz der Patientenversorgung steigert (DÄ, 4, A 132). Auch im Rahmen der Blutanalyse ergaben die Hämoglobinkonzentration und die Funktionsparameter der Schilddrüse normale Messergebnisse. (ÄW 24, S. 5). Anders verhielt sich dagegen der visuelle Kortex – also jener Bereich, der bei Sehenden Eindrücke des Auges verarbeitet (ÄW, 24, S. 10). Speise und Speichel in der Luftröhre führen häufig zu einer Lun genentzündung (ÄW, 20, S. 8). Krankheiten sind Gegenstand der Nosologie - gr. nosos ‚Krankheit‘ und gr. logos ‚Lehre‘. Der vielfältige Fachwortschatz umfasst Namen der Krankheiten und ihrer 108 Stadien, Syndrome, Symptome sowie aller pathologischen Prozesse und Zustände, die zum Ausbruch einer Krankheit beitragen können. Es gibt für die Krankheitsbezeichnungen keine international vereinbarte Nomenklatur, wie dies für die Anatomie der Fall ist. Die Benennungsstrukturen von Krankheitsbezeichnungen sind vor allem Ausdruck der historischen Entwicklung der medizinischen Terminologie (Wiese, 1984, S. 49). Das älteste Sprachgut stammt aus der Antike. Ein erheblicher Teil der medizinischen Terminologie besteht deswegen aus griechischen und lateinischen Wörtern und Wortelementen. Im Laufe der Entwicklung der medizinischen Fachsprache haben sich bestimmte Prinzipien für die Bildung ihrer Termini herausgebildet. Eine wichtige Rolle kommt dabei griechischen und lateinischen Präfixen und Suffixen zu. So werden z.B. akute entzündliche Krankheitserscheinungen dadurch bezeichnet, dass an die Organbenennung das Suffix –itis angefügt wird, z.B. Bronchitis (Bronchien), Meningitis (Meningen), Vaskulitis (Blutgefäße): - Primär ist Dauerhusten auf eine chronische Bronchitis, Asthma bronchiale oder COPD zurückzuführen (ÄW, 2, S. 1). Häufige Ursache eines CRSTyp 5 ist die Sepsis, seltener sind eine Vaskulitis, ein systemischer Lupus erythematodes oder eine Amyloidose. (ÄW, 45, S. 30). Bislang wurden drei Fälle ermittelt, bei denen die Laborergebnisse sogar für das Vorliegen einer Mumpsmeningitis sprechen (DÄ, 8, A 362). Ein weiteres Beispiel für die Bezeichnung pathologischer Zustände ist das Suffix: -om. Es steht ganz allgemein für die Bezeichnung von Geschwülsten. Die Endung wurde von antiken griechischen Geschwulstbezeichnungen, die auf –ma ausgehen, übernommen und verallgemeinert (Schulze, 2003, S. 27). Die Endung –om bedeutet also ‚Geschwulst, Neubildung, Tumor‘ (Lippert-Burmester / Lippert, 2008, S. 10). Beispiele sind: Adenom ‚Drüsengeschwulst‘, Lymphom ‚Geschwulst der Lymphknoten‘, Hämangiom ‚gutartige Blutgefäßgeschwulst‘: - Histopathologisch konnte ein mikrofollikuläres Adenom mit zystischer Transformation festgestellt werden (ÄW, 24, S. 5) Hierzu gehören bösartige Veränderungen des Knochenmarks und Immunsystems, wie Leukämien und Lymphome (ÄW, 20, S. 8). Aus den sogenannten kavernösen Hämangiomen oder Kavernomen, einer weiteren Gefäßneubildung, blutet es selten (ÄW, 20, S. 7). Karzinom bedeutet Krebsgeschwulst. Man versteht darunter eine bösartige Geschwulst (vom altgr. Karkinoma). Beispiele: Mammakarzinom: ‚Brustkrebs‘, Prostatakarzinom ‚Prostatakrebs‘, Bronchialkarzinom ‚Bronchialkrebs‘, Ovarialkarzinom ‚Eierstockkrebs‘: 109 - Die prophylaktische Mastektomie mindert das Risiko, am Mammakarzinom zu erkranken (ÄW, 46, S. 13). Bezogen auf den Primärtumor findet man in absteigender Häufigkeit ein Mamma-, Prostata- oder Bronchialkarzinom. (DÄ, 5, S. 71). Die prophylaktische Adnexektomie reduziert das Ovarialkarzinom um 96%. (ÄW, 46, S. 13) Das Suffix -ose/-osis steht ganz allgemein für eine Krankheit, einen krankhaften Zustand, häufig eine degenerative, chronische Erkrankung, (einen degenerativen Prozess) (Schulze, 2003, S. 26), z.B. Phimose ‚Verengung der Vorhaut des Penis‘, Zirrhose ‚narbige Schrumpfung‘, Fibrose ‚Vermehrung des Bindegewebes‘: - Für Notfallseingriffe ist die Erhöhung von Leberwerten oder die Präsenz einer Leberzirrhose im Wesentlichen irrelevant (ÄW, 40, K 6). Derzeit sind 1139 rezessive Erkrankungen bekannt, darunter zystische Fibrose, Tay-Sachs-Erkrankung, Sichelzellanämie und Betathalassämie (DÄ, 7, A-327). In vielen Fällen sieht man bei der Erstuntersuchung bereits eine weiße porzellanartige sklerotische Vernarbung […], die zu einer zunehmenden Phimose geführt hat (DÄ, 4, S. 55). Das Suffix -ismus dient der Bezeichnung eines krankhaften Zustandes. Diese Endung geht auf gr. –ismos zurück. Beispiele sind: Strabismus ‚Schielen‘, Astigmatismus ‚nicht punktförmige Abbildung‘. - Neun Patienten hatten einen Strabismus und 14 eine Kombination von Schielen und Brechungsfehlern (DÄ, 6, A-269). Unter letzteren war der Astigmatismus am häufigsten. (DÄ, 6, A-269). Das lateinische Wort für Krankheit ist morbus. Das Wort Morbus wird häufig mit dem Eponym, meistens dem Namen des Entdeckers oder Erstbeschreibers verbunden, um die betreffende Krankheit zu benennen, z.B. Morbus Alzheimer, Morbus Crohn. - Patienten mit Morbus Alzheimer und anderen Formen der Demenz leiden im Endstadium unter Gewichtsverlust, […] (ÄW 20, S. 8). Beim Morbus Crohn wurde der Nachweis der Effektivität von Kortikosteroiden zur Remissionsinduktion vor etwa 30 Jahren erbracht (ÄW 24, S. 7). Die Eponyme kommen auch mit den Syndrombezeichnungen vor: - 110 Dabei scheinen sich beide Prozesse, die Atherosklerose und der Alterungsprozess per se, mit dem Auftreten einer Sarkopenie- - - Osteopenie und des konsekutiven Frailty-Syndroms zu beeinflussen (ÄW 40, K 21). Bei Pneumokokkeninfektionen scheint der Schweregrad der Infektion bis hin zum lebensbedrohlichen Waterhouse-Friderichsen-Syndrom eine Assoziation mit der Intensität der immunosuppressiven Therapie aufzuweisen (DÄ, 7, S. 105). Die Diagnose lautet Reye-Syndrom (DÄ, ½, S. 12). Das Suffix –pathie findet oft Anwendung in der Beschreibung der Ätiologie der Krankheit, der ‘Gesamtheit der ursächlichen Faktoren, die zu der Krankheit beigetragen haben‘: z.B. Vestibulopathie ‚Erkrankung des Gleichgewichtsorgans im Ohr‘: - Die bilaterale Vestibulopathie ist eine in der Neurologie unterdiagnostizierte Ursache von Gleichgewichtsstörungen (ÄW 20, S. 28). Neben den Suffixen spielen auch bestimmte Präfixe eine bedeutende Rolle bei der Fachwortbildung im Rahmen der Krankheitslehre: Hyper- bedeutet nach DUDEN (2007, S. 374): ‚über, übermäßig‘. In den folgenden Sätzen kommen solche Belege wie Hyperlipidämie ‚erhöhte Konzentration des Cholesterins‘, Hypertrophie ‚übermäßige Größenzunahme‘ und Hypertonie ‚Bluthochdruck‘ vor: - Gerade bei nephrologischen Patienten sollten alle kardiovaskulären Risikofaktoren wie Hypertonie, Hyperlipidämie oder Nikotinabusus konsequent behandelt werden (ÄW45, S. 30). Endorganschäden der Hypertonie am Herzen umfassen die linksventriukuläre Hypertrophie, […] (ÄW, 45, S. 26). Das Präfix Hypo- hat die Bedeutung ‚unter, darunter, unterhalb des Normalen‘ (DUDEN, 2007, S. 379). Im Sprachmaterial wurden folgende Belege gefunden: Hypoöstrogenismus ‚Östrogenmangel‘, Hypothyreose ‚Schilddrüsenunterfunktion‘: - […] und führen so zu einer vollständigen ovariellen Suppression mit ausgeprägtem Hypoöstrogenismus (ÄW, 46, S. 9). Angeborene Hypothyreose und adrenogenitales Syndrom (AGS) sind behandelbare Endokrinopathien, die durch das Neugeborenenscreening erfasst werden (DÄ, ½, S. 14). Dys- wird gebraucht, um etwas Übles, Widerwärtiges, Schwierigkeiten auszudrücken. Dieses Präfix hat die ‚Bedeutung von der Norm abweichend, schlecht, krankhaft‘ (DUDEN, 2007, S. 248). Beispiele mit diesem Präfix sind: Dyspnoe ‚erschwertes Atmen‘, Dysphagie ‚Schluckstörung‘: 111 - Bei der Patientin war die Ursache der Dyspnoe nicht bekannt (ÄW, 24, S. 5). Eine 58-jährige Frau stellte sich aufgrund einer akuten Schwellung des Halses sowie Dyspnoe Dysphagie und [...] in einer Klinik vor (ÄW 24, S. 5). 4. Zur Peripherie im medizinischen Fachwortschatz In der Peripherie stehen Bezeichnungen der diagnostischen Verfahren, chirurgischen Eingriffe, Operationstechniken, ärztlichen Instrumente, Therapien, physiologischen Vorgänge, Medikamente, Krankheitserreger u.a. Physiologische Prozesse ( Bezeichnungen für Hormone, Enzyme, Stoffwechsel) - Bereits gut abhustbares Sekret soll nicht weiter verflüssigt werden, da damit die Bronchialreinigung erschwert wird (ÄW, 2, S. 18). Dies betrifft vor allem die Knochendichte, die Körperzusammensetzung, den Glukosestoffwechsel und die Serum-Lipide […] (ÄW, 40, K 7). Operationen / chirurgische Eingriffe - - Das etablierte Operationsverfahren bei mittelschwerer und schwerer OSA ist die Uvulopalatopharyngoplastik (PPP) (ÄW, 2, S. 13). Ähnlich wie für die Risikobewertung bei Patienten mit isolierter Bypass-Operation und Patienten mit kombinierter Bypass- und Aortaklappenoperation wurde das STS-Modell […] untersucht (ÄW, 40, K 18). Eine isolierte Nasenoperation zur Verbesserung der Nasenluftpassage ist nicht in der Lage, eine obstruktive Schlafapnoe effektiv zu behandeln (ÄW, 2, S. 13). Die UPPP mit Tonsillektomie erscheint bei entsprechendem pathologischen Befund als Therapie […] (ÄW, 2, S. 13). Therapien - 112 Zusätzlich zur Operation, Chemo- und Radiotherapie wird die spezifische Immunisierung als neues Element einer multimodalen Strategie gegen das Glioblastom erprobt (DÄ, 4, S. 163). Daneben zählen Lungen- oder Brustbestrahlungen sowie Chemotherapeutika zu den häufigsten Verursachern von Spätschäden. (ÄW, 2, S. 18). - Studienbelegen,dasseineMonotherapiemitValecidovirkeineRemissionder Vestibularisfunktion bewirkt (ÄW, 20, S. 22). Diagnostische Verfahren - Zahllose Minibiopsien kommen aus der Urologie, Gastroenterologie, Hepatologie und Gynäkologie […] (DÄ, 4, A170). Feinnadelbiopsien sind Standard bei einer Prostata-Untersuchung (DÄ, 4, A 170). Das Koloskopie-Screening hat bisher nur zu einer marginalen Reduzierung fortgeschrittener Tumorstadien geführt (DÄ, 4, S. 45). Medikamente - Hohe Dosen von Opioiden und Hypnotika […] sind mit einem signifikanten Abfall von Herzfrequenz und Bluthochdruck behaftet. (ÄW, 46, S. 24). Etablierte therapeutische Optionen sind Analgetika, v.a. nichtsteroidale Antirheumatika (NSAR), orale Kontrazeptiva (OC) (ÄW, 46, S. 9). Daneben zählen Lungen- oder Brustbestrahlungen sowie Chemotherapeutika zu den häufigsten Verursachern von Spätschäden (ÄW, 2, S. 18). Beim Morbus Crohn wurde der Nachweis der Effektivität von Kortikosteroiden zur Remissionsinduktion vor etwa 30 Jahren erbracht (ÄW 24, S. 5). Heilungsverfahren - Die Urologen untersuchten bei 82 Patienten die Spülflüssigkeit nach Blasenspülungen (ÄW, 46, S. 17). Krankheitserreger - DieserTeildesImmunsystemsistinsbesonderewichtiginderImmunabwehr gegen Meningokokken (ÄW, 20, S. 10). Bei Bordatella pertusis handelt es sich um ein kleines bekapseltes, aerobes, gramnegatives Stäbchen, das sich auf dem respiratorischen […] Epithel vermehrt (ÄW, 20, S. 13). Die durch Listeria monocytogenes ausgelöste zerebrale Listeriose ist eine durch Lebensmittel übertragene Infektion (ÄW 49, S. 7). 113 Instrumente - Eine Behandlung von Gefäßfehlbildungen ist mittels Katheter, durch eine Operation oder eine Strahlentherapie möglich (ÄW, 20, S.7). Das mechanische Entfernen von abgestorbenem Gewebe (Nekrose) und festhaftenden trockenen Belägen mit dem Skalpell oder der Cürette ist meist schmerzhaft (ÄW, 40, S. 10). 5. Fazit Im Sprachmaterial der österreichischen und deutschen Fachzeitschriften Ärzteblatt und Ärztewoche kommen Fachbegriffe vor, die man nach morphologischen und semantischen Kriterien sowohl dem Zentrum als auch der Peripherie des medizinischen Wortschatzes zuordnen kann. Im Zentrum befinden sich Substantive und Adjektive, die anderen Wortarten, wie z.B. Adverbien oder Verben treten in die Peripherie. Im Sprachgut wurden Einheiten aus verschiedenen Fachgebieten der Medizin angetroffen. Das Zentrum der medizinischen Fachsprache bildet der anatomische Wortschatz zusammen mit den Krankheitsnamen. In den Hintergrund, also in die Peripherie, treten alle anderen medizinischen Einheiten, die mit den Organen und mit den sie befallenden Krankheiten verbunden sind. Im Bereich der Nosologie tauchen verschiedene Bezeichnungen auf, viele lateinische und griechische Termini, aber auch deutsche Entsprechungen, Eponyme und Anglizismen. Der Wortschatz der Fachpresse zeichnet sich dadurch aus, dass hier alle Stufen der Fachwörter mit unterschiedlichem Fachlichkeitsgrad vertreten sind, sowohl Termini technici, als auch Trivialbezeichnungen, Hybridbildungen und gemeinsprachliches Wortgut. Abstract Medical language takes a special position among the languages for special purposes because of its very extensive vocabulary. This vocabulary can be divided into the center and the periphery. This distinction is shown on several levels, both morphological and semantic. It also applies to the degree of scientific level of the individual terms. The medical terms in the center of the vocabulary are mostly nouns or adjectives. On the periphery of the medical language, there are other parts of speech such as adverbs, verbs, prepositions or conjunctions, which are not as frequentative. Another possibility of division has to do with the names of various medical units. The center is represented by names of anatomic organs and of illnesses which attack these organs. The periphery includes names of instruments, diagnostic methods, therapies, operations, physiological processes, medicines, viruses, etc. In the medical vocabulary there we can find also the third platform which is based on the level of scientific quality of the terms. In the center there are technical terms which are the most specialised and on the periphery other vocabulary, also that borrowed from the standard language, such as names of symptoms. 114 Keywords Languages for special purposes, medical language, organs, illnesses. Quellenverzeichnis Ärztewoche 2011: Nr. 2, 20, 24, 40, 45, 46, 49. Ärzteblatt 2011: Nr. ½, 4, 5, 6, 7, 8. Literaturverzeichnis Ahlheim, Karl-Heinz (Hg.) (1992). Duden. Das Wörterbuch medizinischer Fachausdrücke. 5. Aufl. Mannheim etc.: Dudenverlag. DUDEN (2007). Wörterbuch medizinischer Fachbegriffe. Mannheim: Dudenverlag. Filipec, Josef (1969). 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Ruff, Peter Wolfgang (2001). Einführung in den Gebrauch der medizinischen Fachsprache. Reinbek: LAU, Nourney: Europa-Lehrmittel. Schipperges, Heinrich (1988). Die Sprache der Medizin. Medizinische Terminologie als Einführung in das ärztliche Denken und Handeln. Heidelberg: Verlag für Medizin Fischer. Schulze, Peter (2003). Fachsprache der Medizin. Neu-Isenburg: LinguaMed. Wiese, Ingrid (1984). Fachsprache der Medizin. Eine linguistische Analyse. Leipzig: Enzyklopädie. Willmanns, Julianne C. / Schmitt, Günther (2002). Die Medizin und ihre Sprache. Landsberg/Lech: Ecomed. 115 116 Politische Lexik in der deutschen, slowakischen und russischen Sprache. Zentrum und/oder Peripherie? Eva Molnárová Annotation Jede Wortschatzschicht hat ihren begrifflichen Kern, und ebenso gilt dies auch für die politische Lexik, deren Schichtung sich aus der ständigen Entwicklung der Sprache und Gesellschaft ergibt. Diese Schichtung reflektiert aktuelle gesellschaftlich -politische Ereignisse. Benennungen von diesen landeskundlichen Gegebenheiten – Politemen –, die Objekt unserer Untersuchungen sind, werden durch die Gesellschaftsentwicklung aktualisiert oder neu gebildet, d.h. sie sind durch den zeitlichen Kontext determiniert. Außerdem werden in unserem Beitrag mehrere Forschungsansätze von Sprache in der Politik, den Charakteristika und der Klassifikation der politikbezogenen Wörter behandelt. Schlüsselwörter politische Lexik, politikbezogene Wörter, Politolinguistik 1. (Fachsprachen-)Linguistische Forschungsansätze Bei interlingualen Untersuchungen ist aus methodologischen Gründen die Frage zu klären, was und in welchem Umfang verglichen bzw. analysiert werden muss. In diesem Zusammenhang werden in unserem Beitrag folgende Hauptfragen gestellt: 1. Sind die Untersuchungen im Forschungsbereich Sprache und Politik etabliert und stehen sie im Zentrum oder an der Peripherie des Forschungsinteresses? 2. Welche Herangehensweise (welcher Ansatz) wird in diesen Untersuchungen bevorzugt? 3. Sind die politikbezogenen Wörter nach bestimmten Prinzipien (Kriterien) systematisiert und klassifiziert? 4. Was wird dem Kern und was der Peripherie der politischen Lexik zugeordnet? Für die deutsche Sprache sind diese Fragen teilweise irrelevant, aber für die russische und vor allem für die slowakische Sprache werden sie für sehr wichtig gehalten. Auf 117 dem deutschsprachigen Gebiet werden die meisten Untersuchungen zur Sprache in der Politik im Rahmen der Politolinguistik durchgeführt. Erst seit ein paar Jahren versuchen einzelne Wissenschaftler fachsprachenlinguistische und politologische Forschungsansätze miteinander zu verbinden. Bis heute kann man von keiner auf dem Gebiet der Slowakei etablierten Politolinguistik sprechen. Deswegen entstehen bei den Untersuchungen zahlreiche Fragen, nicht nur methodologischen, sondern auch terminologischen Charakters. Zu den Hauptbegründern der russischen Politolinguistik wird vor allem Chudinov (Чудинов, 2008) gezählt. Außerdem berufen sich mehrere russische Wissenschaftler auf die Forschungsergebnisse der russischen Linguistin Vorobiova (Воробьева, 2000). Die linguistischen Untersuchungen von Sprache in der Politik in Russland und in der Slowakei können den folgenden Forschungsansätzen zugeordnet werden: a) Der linguistische Ansatz. Sprachwissenschaftler erforschen die Struktur der politischen Lexik, ihre semantischen, wortbildenden, syntaktischen und stilistischen Spezifika. Sie widmen ihre Aufmerksamkeit dynamischen Prozessen, die die Entwicklung der politischen Lexik beeinflussen (Жданова, 1996; Воробьева, 2000; Ошеева, 2004; Vaňko, 2008). b) Der soziolinguistische Ansatz. Erforschung der Beziehungen zwischen linguistischen Erscheinungen im Rahmen der politischen Lexik und außerlinguistischen Faktoren (Крючкова, 1989; Odaloš, 2009). Dabei wird die Aufmerksamkeit dem Bewertungspotential einzelner lexikalischer Einheiten (Полуэктов, 1991) und Wortbildungsmodelle sowie der Aktivierung bestimmter Affixe gewidmet (Абдул-Хамид, 2005). c) Der psycholinguistische Ansatz. Spiegelung des Bewertungspotentials der politischen Lexik im Bewusstsein des Einzelnen oder einer bestimmten Gruppe (Полуектов, 1991), Abhängigkeit der Auswahl der Lexik vom Persönlichkeitstyp (Sprachpersönlichkeit inbegriffen) des politischen Vertreters (Соколовская, 2002; Уша – Титоренко, 2007). d) Der komparative Ansatz. Vergleich der politischen Lexik in verschiedenen Sprachen mit dem Ziel, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu bestimmen sowie die allgemeinen Entwicklungsregeln der politischen Lexik und ihre Abhängigkeit von gesellschaftlichen und politischen Faktoren zu charakterisieren (Крючкова, 1991; Абдул-Хамид, 2005). e) Der kommunikative Ansatz. Analyse der politischen Lexik im Rahmen politischer Kommunikation hinsichtlich der Manipulation der öffentlichen Meinung (Mинаева, 2007; Михалева, 2009; Odaloš, 2000; Tito, 2008; Orgoňová – Bohunická, 2007). f) Der kognitive Ansatz. Entdeckung der Mechanismen des Gewinns von Erkenntnissen über die Wirklichkeit und von Denkspezifika mittels der Erforschung einzelner lexikalischer Einheiten, die im Prozess der politischen Kommunikation zustande kommen (Жданова, 1996; Чудинов, 2001; Трофимова, 2006). 118 g) Der politolinguistische Ansatz. Ihm liegen nicht nur linguistische Theorien, sondern auch politologische Erkenntnisse und Theorien zugrunde. Er bezieht sich auf politologische Zusammenhänge und auf die Bezugslinie Politik – Macht – Staat – Ideologie – politische Lexik (Чудинов, 2008; Tito, 2008; Rošteková, 2010; Dulebová, 2009). In unseren Untersuchungen wird eine politolinguistische, also eine interdisziplinäre Herangehensweise bevorzugt, in der die politische Lexik als das strukturierte Inventar jener Wörter und Wortverbindungen betrachtet wird, die eine semantische Komponente mit Bezug zur Politik enthalten. Durch diese kann ein direkter Zusammenhang mit Innen- und/oder Außenpolitik und/oder dem politischen Leben eines Staates (dem Staatshandeln) hergestellt werden. 2. Klassifikation und Gliederung der politikbezogenen Wörter Von einer allgemeingültigen (anerkannten) Klassifikation bzw. Gliederung der politikbezogenen Wörter kann vor allem in der deutschen Forschung zu Sprache und Politik gesprochen werden. Laut Girnth (2002) betrifft die Zusammensetzung der politikspezifischen Lexik zwei Teilbereiche. Erstens: Wörter in der politischen Fachwelt, die von politischen Experten an politische Experten gerichtet sind und im Rahmen des institutionsinternen Bereichs verwendet werden, wie z.B. Vermittlungsausschuss oder ratifizieren. Zweitens: Wörter in der politischen Auseinandersetzung, also allgemeinsprachliche Wörter, die von politischen Experten an politische Laien gerichtet sind; diese betreffen Schlagwörter, wie z.B. Einheit, Globalisierung. Der Wortschatz in diesem Bereich wird vor allem dort benutzt, wo sich die Politik an die Öffentlichkeit wendet (in Wahlkämpfen, auf Wahlplakaten, in TV-Duellen). Klein (1989, S. 3–50) gliedert den in der Politik verwendeten Wortschatz in vier Hauptteile: Das politische Lexikon Institutionsvokabular Ressortvokabular allg. Interaktionsvokabular Ideologievokabular Abb. 1: Klassifikationen des politischen Lexikons nach Klein 119 a) das Institutionsvokabular – Wörter in Texten, in denen das politische System thematisiert wird (Bundesrat, Mandat, Fraktionssitzung); b) das Ressortvokabular – spezifische Sachbereiche wie Außenpolitik, Finanzen und Umwelt; c) das allgemeine Interaktionsvokabular – im Wettbewerb um Zustimmung und Macht; d) das Ideologievokabular – die Eigenschaft der Ideologiegebundenheit bezieht sich auf die Determination der sprachlichen Bedeutung durch die einer Gesellschaft oder politischen Gruppe zugrunde liegenden Deutungen und Wertungen sozialer Tatsachen (Demokratie, Freiheit, Gerechtigkeit). In der russischen Erforschung der Sprache in der Politik gelten mehrere Klassifikationen der politischen bzw. gesellschaftlich-politischen Lexik (im Folgenden GPL). Die folgende Gliederung von Shdanova (Жданова, 1996, S. 25-29) gehört zu den Klassifikationen, denen die Gliederung des Wortschatzes in Kernwortschatz und peripheren Wortschatz zugrunde liegt. Außerdem beruht diese Klassifikation auf drei begrifflichen Konzepten: Macht, Staat und Gesellschaft. Der wörtlichen Erklärung entspricht folgende graphische Darstellung (Molnárová, 2013, S. 43): Abb. 2: Klassifikation der gesellschaftlich-politischen Lexik (GPL) nach Shdanova (Жданова) Dieser Klassifikation liegt die Behauptung zugrunde, dass Macht und Machtbeziehungen die inhaltliche Grundlage der politischen Lexik repräsentieren, wobei 120 das Machtkonzept die konzeptuelle Dominante darstellt. Macht wird durch die intersubjektive Beziehung ARB repräsentiert, in der die Subjekte A und B durch die bestimmte Machtbeziehung R verbunden sind. Der gesellschaftlich-politischen Lexik werden alle lexikalischen Einheiten zugeordnet, in deren Bedeutung die semantische Komponente Macht / Machtbeziehung R beinhaltet ist, und alle Wörter, die mit dem Machtsubjekt (A) oder Machtobjekt (B) verbunden sind. a) Die eigene GPL stellt den Kern der gesellschaftlich-politischen Lexik vor. Hierzu zählen Wörter, die direkte Nominationen der Beziehungskomponenten ARB, Personen, Orte, Erscheinungen, Strukturen sind und die das politische Leben indirekt formieren (Macht, Gewalt, Staat, Abgeordnete, Regierung, Flagge…). b) Ideologiegebundene Lexik ist mit dem gesellschaftlich-politischen Wirkungsgebiet der Machtbeziehungen verbunden. Die Realisierung dieser Beziehungen ist mit dem axiologischen (Totalität, Staatsform, Imperialismus…) und / oder pragmatischen Bedeutungskonzept verbunden (Subbotnik, Aktion Z…). c) Der Thematischen Lexik werden lexikalische Einheiten aus verschiedenen gesellschaftlichen Gebieten zugeordnet, wo die Machtbeziehungen ARB zur Wirkung kommen, und die mit der Staatstätigkeit verbunden sind, aber mit der Politik nur indirekt in Beziehung stehen. Diese werden in folgende sieben Gruppen gegliedert: Recht, Ökonomie, Religion, Außenpolitik, Philosophie, militärisches und administratives Gebiet. d) Die Periphere GPL stellen einige Wörter der Gemeinlexik mit einer Bedeutungskomponente vor, die eine Wirkung von Machtbeziehungen ohne nähere Bestimmung des Wirkungsgebietes zulässt (Kapitän, unterordnen…). In der slowakischen Erforschung von Sprache in der Politik gelten bisher keine allgemeingültigen Klassifikationen der politischen Lexik. 3. Charakteristische Merkmale der politischen Lexik Wie schon im ersten Teil unseres Beitrags erwähnt wurde, wird die politische Lexik als das strukturierte Inventar jener Wörter und Wortverbindungen betrachtet, die eine semantische Komponente mit Bezug zur Politik enthalten. Die Schichtung der politischen Lexik ergibt sich aus der ständigen Entwicklung von Sprache und Gesellschaft. Diese Schichtung reflektiert aktuelle gesellschaftlich-politische Ereignisse. Benennungen dieser landeskundlichen Gegebenheiten werden gemäß der Gesellschaftsentwicklung von der Sprechergemeinschaft aktualisiert oder neu gebildet, d.h. sie sind durch den zeitlichen Kontext determiniert. Diese zeitlich determinierten Ausdrücke für landeskundliche Gegebenheiten werden Politeme genannt. Politemen können folgende relevante Merkmale zugeordnet werden durch diese sind sie zugleich von den anderen lexikalischen Einheiten zu unterscheiden (vgl. Dobrík, 1999, S. 37-46): a) ihre semantische Struktur enthält eine politische Komponente; b) sie haben funktional-anthropologischen Charakter; 121 c) sie sind durch eine zeitliche und politische Determiniertheit charakterisiert; d) sie können eine symbolische Bedeutung erhalten (nationale oder übernationale). Politeme enthalten in der denotativen Struktur ihrer Grundbedeutungen eine dominante Komponente mit Bezug zur politischen Kommunikation, durch die das nationale sprachliche Bild der Welt zustande kommt. Politeme benennen jene Gegebenheiten, die mit der Rolle des Menschen in einer Gesellschaft und / oder in einem Staat verbunden sind. Die semantische Analyse von einzelnen Politemen kann das sprachliche Bild der Welt, das sich in einzelnen Texten widerspiegelt (Lauková, 2015, S. 48-53), aufdecken, wodurch festgestellt werden kann, dass im Hintergrund eines jeden Textes eine „sprachliche Persönlichkeit“steht, die das sprachliche System beherrscht (Караулов, 1987, S. 8). Zugleich stehen die Politeme in Beziehung zu den konkreten Persönlichkeiten des politischen Handelns, wodurch ihr funktional-anthropologischer Charakter hervortritt. Mit dem Namen des ehemaligen deutschen Kanzlers Helmut Kohl wurden die Politeme Kohlplantage, Ko(h)lonisation, Ko(h)lonie DDR, KOHLonie, mit Gerhard Schröder Kanzler Audi, mit dem ehemaligen slowakischen Premierminister Vladimír Mečiar die Politeme demokratúra LenOn, OnaSIS, lenontodokažizmus, mečiarizmus, antiprezident, mit dem slowakischen Premierminister Róbert Fico vlakoví freerideri (Anweisung der Regierung, dass Studenten im Präsenzstudium und Rentner mit dem Zug kostenlos fahren können) und mit dem Namen des ehemaligen russischen Präsidenten Michail Gorbatshow демократизация, гласность, перестройка, ускорение verbunden. Politeme sind nicht statisch, sondern weisen eine große Dynamik auf. Von einer Stabilität kann nur im zeitlich begrenzten politischen Kontext gesprochen werden. Wenn eine landeskundliche politische Gegebenheit als nicht mehr aktuell gilt, wird das Politem zum Historismus, aber nie zum Archaismus, weil es zu den Symbolen einer bestimmten Zeitperiode gehört und alle diese Symbole eine feste Stellung in der Geschichte einer Gesellschaft einnehmen. Das folgende Beispiel zeigt, wie das russische gemeinsprachliche Wort батька in ein Politem umgewandelt wurde, indem es in einem bestimmten politischen Kontext symbolische Bedeutung erwarb und schließlich in einem Phraseologismus verfestigt wurde. In der Allgemeinsprache bedeutet батька ‚der Vater‘. Im politischen Diskurs wird mit diesem Wort der Präsident von Weißrussland, Alexander Lukashenko, benannt. In den Jahren 2010–2011 zeigte der russische Fernsehsender NTV den Dokumentarfilm Крестный батька (‚Taufvater‘), der die politische Tätigkeit und das politische Handeln des weißrussischen Präsidenten sehr offen kritisiert. Der Filmtitel ähnelt dem Roman Der Pate von Mario Puzo, einem Mafia-Familienepos, 122 bzw. dem gleichnamigen Film von Francis Coppola. In diesem Fall wurde die negative Bewertung des politischen Handelns indirekt durch den Titel ausgedrückt. Wenn ein Lexem in neue politische Kontexte, in neue Umgebungen eintritt, entstehen durch metonymische Verschiebungen und metaphorische Übertragungen neue Sememe. Das Politem als Sprachsymbol einer bestimmten Zeitperiode kann nationale oder übernationale Geltung haben. Das nationale Politem ist für eine einzelne Nation oder genauer für einen Staat charakteristisch. In nationalen Politemen überwiegen nationale Spezifika vor Universalien, weil jede Nation sowohl die Welt als auch das gesellschaftlich-politische Leben auf ihre Art und Weise behandelt und sprachlich gestaltet. Ein typisches nationales Politem in der slowakischen Sprache ist tunelovanie (deutsch: ‚Tunnelierung, Tunnelbau‘, hier: ‚Missbrauch von Finanzen‘). Dieses Politem gehört seit den 1990er Jahren zu den Leitbegriffen des slowakischen politischen Diskurses. Ursprünglich wurde es mit der ersten Regierung unter Premierminister Vladimír Mečiar verbunden. Obwohl andere Politeme dieser politischen Periode in der Gegenwart zu den Historismen gehören, stellt das Politem tunelovanie auch heute noch einen Bestandteil des aktiv verwendeten politischen Wortschatzes dar. Zu den russischen nationalen Politemen können vor allem die Politeme тандем (deutsch: Tandem), диархия und дуализм (deutsch: Diarchie und Dualismus) gezählt werden. Mit diesen Politemen wurden die zwei russischen Spitzenpolitiker Vladimir Putin und Dmitri Medvedev bezeichnet, die schon mehrmals ihre politischen Rollen wechselten. Zu den übernationalen Politemen gehören dominante Politeme – Politik (slow. politika, russ. политика), Macht (slow. moc, russ. власть), Staat (slow. štát, russ. государство,) und Ideologie (slow. ideológia, russ. идеология). Diese Politeme stellen zugleich die wichtigsten politologischen Termini vor, und politische Macht gehört zu den universalen politologischen Kategorien, die alle politischen Erscheinungen betrifft. Die Vorkommenshäufigkeit dieser übernationalen Politeme wurde in dem Slowakischen Nationalen Korpus (im Folgenden nur SNK), in dem Grundkorpus des Nationalen Korpus der russischen Sprache (im Folgenden nur NKRJ – grund.), in dem publizistischen Korpus des Nationalen Korpus der russischen Sprache (im Folgenden nur NKRJ – publ.) und dem Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache (im Folgenden nur DWDS) untersucht. Es handelt sich um repräsentative elektronische Textkorpora, die lexikografisch geprüfte Einträge enthalten und statistische Angaben zu einzelnen untersuchten Lexemen bieten. Die Politeme Politik, Macht und Staat zeigen eine große Vorkommenshäufigkeit in den nationalen Korpora, obwohl die Treffer in unterschiedlicher Reihenfolge angezeigt wurden. 123 Abb. 3: Die Vorkommenshäufigkeit von drei übernationalen Politemen in Nationalen Korpora Im slowakischen Korpus zeigt das Politem štát (deutsch Staat, russ. государство) eine größere Häufigkeit an Treffern als das Politem moc (deutsch Macht, russ. власть), das nur den dritten Platz einnimmt. In der Gegenwart wird der Staat mehr mit der Politik (2. Stelle) und den politischen Parteien, die um Macht kämpfen, in Beziehung gesetzt. Im russischen Korpus ist es anders. Das hängt mit den nationalen Spezifika zusammen, weil die Macht bzw. Gewalt, die über dem Bürger steht und in der Praxis vom „starken“ Präsidenten ausgeübt wird, das wichtigste Politikum des in Russland vorherrschenden politischen Weltbildes ist. Die dominante Position des Politems Macht im Russischen wird mit Rang 76 unter jenen im Computerkorpus angeführten 100 meistfrequentierten Wörtern, die aus Zeitungstexten gegen Ende des 20. Jh.s generiert wurden, verdeutlicht (Компьютерный корпус текстов русских газет конца XX-ого века). Dem Russischen entspricht auch die Reihenfolge von Politemen im deutschen Korpus. Der Grund liegt vielleicht darin, dass die Kanzlerin die zurzeit politisch stärkste Frau im Staat ist und in der Regierung jahrelang zumeist Vertreter von denselben stärksten politischen Parteien tätig sind. 4. Fazit Für die Erforschung von Sprache in der Politik in Deutschland, Russland und in der Slowakei wird nur das gemeinsame Untersuchungsobjekt (politische Sprache, politische Texte, politische Kommunikation, politischer Diskurs ...) festgelegt, weil in der Gegenwart unterschiedliche konzeptionelle Auseinandersetzungen zu 124 Methodologie und Terminologie stattfinden. Die Ergebnisse aus unseren Untersuchungen werden für offen gehalten und müssen daher noch vertiefend diskutiert werden. Abstract Political lexis represents a set of words and phrases containing a semantic component referring to the relationship to domestic or foreign policy, and to the political life of the state. It is therefore bound to the national specificities of political events, which find their reflection in the language. As in any lexis, the basic item of political lexis is a lexical item. Definitions of the lexical items of political lexis are too heterogeneous and do not correspond in contents. However, their objects are still the same types of lexical items. For their integral connection with political events, for purposes of our article, as well as for further research we use the term “an ideologeme“, respectively a politeme. The article emphasizes a politeme exists as the basic unit of political lexis with specific characteristics, typically merely for the given language layer. National politemes refer to political events within a particular country and are flag to the particular nation, while multinationals are universal and of general application. Relevance of our research issues is also affirmed by the absence of a unified terminology for political lexis, particularly in Slovakia and Russia. The detailed profiling of research in political lexis in Slovakia has so far not been recorded, and / or for this reason, we discuss characteristics of various approaches in current research. Respecting the significant political component of the very concept of political lexis we prefer an interdisciplinary political-linguistic approach based not only on linguistic theories, but also on knowledge and theories of political science as a key science of policy. Keywords political lexikon, policy-related words, political linguistics Quellenverzeichnis Girnth, Heiko (2002). Sprache und Sprachverwendung in der Politik. Tübingen: Niemeyer. Klein, Josef (1989). Wortschatz, Wortkampf, Wortfelder in der Politik. In: Klein, Josef. (Hg.). Politische Semantik. Bedeutungsanalytische und sprachkritische Beiträge zur politischen Sprachverwendung. Opladen: Westdeutscher Verlag. 125 Molnárová, Eva (2013). Spoločensko-politická lexika z kontrastívneho aspektu. Banská Bystrica: Belianum, vydavateľstvo UMB. Slovenský národný korpus – prim-5.0-public-all. Bratislava: Jazykovedný ústav Ľ. Štúra SAV. Online verfügbar unter http://korpus.juls.savba.sk, [21.04.2016]. Жданова, Лариса А. (1996). Общественно-политическая лексика: структура и динамика. Дис. канд. филол. наук: 10.02.01 – русский язык. Москва: МГУ. Literaturverzeichnis Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften. 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In der Analyse ist die Hauptaufmerksamkeit den Antworten der Talkshow-Gäste gewidmet, wobei die Antworten unter dem Aspekt des Formulierungsverfahrens untersucht werden. Das Ziel des Textes ist, die typischsten Merkmale von Formulierungsverfahren bei den Antworten in der politischen Diskussion vorzustellen. Einzelne Formulierungsverfahren werden dann an ausgewählten authentischen Beispielen demonstriert, die durch Transkriptionen aus der Talkshow „Günter Jauch“ gewonnen wurden. Schlüsselwörter Gesprochene Sprache, Sprache der Politik, Formulierungsverfahren, Antwort, Transkription 1. Einleitung Die Menschheit spricht schon seit ihren Anfängen, und das ist viel länger im Vergleich damit, seit wann die Menschen zu schreiben begannen. Das gesprochene Wort war und ist immer für jeden, während das geschriebene Wort lange Jahrhunderte nur für eine ausgewählte Elite zugänglich war. Heute ist die Situation schon ganz anders; dank der Ausbildung kann schon fast jeder schreiben. An manchen Orten der Welt sind aber noch Menschen zu finden, die das Schreiben noch immer nicht beherrschen. Deshalb ist es bemerkenswert, dass sich die wissenschaftliche Aufmerksamkeit immer eher auf die geschriebene Sprache konzentriert hat und die gesprochene Sprache irgendwie an der Peripherie stand. Erst ,,am 1. Oktober 1899 hielt Otto Behaghel vor der Hauptversammlung des Deutschen Sprachvereins in Zittau einen Vortrag über das Thema ,,Geschriebenes Deutsch und gesprochenes Deutsch“ (Schwitalla, 2006, S. 18). Und noch später, nämlich erst ,,seit Mitte der 60er Jahre beschäftigen sich in Deutschland Sprachwissenschaftler mit gesprochener Sprache“ (Hennig, 2006, S. 7). Heutzutage hat die gesprochene Sprache auf dem 129 Gebiet der Sprachwissenschaft schon eine viel bessere Position als in der Vergangenheit. Ins Zentrum zu der geschriebenen Sprache führt aber immer noch ein langer Weg, weil die Untersuchung der gesprochenen Sprache technisch und materiell vielleicht zu kompliziert ist. Ähnlich sieht die Situation bei der Betrachtung der sprachwissenschaftlichen Literatur zu Fragen und Antworten aus. In dieser Hinsicht stehen die Fragen im Zentrum des wissenschaftlichen Interesses und die Antworten sind dann irgendwo ganz weit an der Peripherie. Der folgende Text möchte das ändern, und deshalb wird die Aufmerksamkeit der gesprochenen Sprache in Verbindung mit der Sprache der Politik gewidmet sein, und die Hauptrolle werden dabei die Formulierungsverfahren der Antworten spielen. 2. Ein paar Worte zum analysierten Material Als Material für die Analyse wurde die politische Talkshow „Günther Jauch“ ausgewählt, die von 2011 bis 2015 von der ARD gesendet wurde. Der Moderator Günther Jauch hatte jeden Sonntag etwa fünf oder sechs Gäste in den Berliner Gasometer eingeladen, wo sie gemeinsam über aktuelle politische Themen diskutiert haben. Unter den Gästen waren sowohl Politiker als auch Experten für die gegebene Problematik oder Journalisten. Jede Diskussion hat ungefähr 60 Minuten gedauert. Diese Diskussion musste vor der Analyse transkribiert werden, und zwar nach dem Transkriptionssystem GAT 2. Danach soll sich die Analyse vor allem auf die Antworten konzentrieren, weil die Antworten im Vergleich mit den Fragen in der sprachwissenschaftlichen Literatur deutlich im Hintergrund stehen. Es ist auch wichtig zu sagen, was unter dem Begriff Antwort verstanden wird. Als Antwort wird in der Analyse die vollständige Reaktion eines Diskussionsteilnehmers aufgefasst. Die Analyse verläuft dann im Rahmen des Dissertatiosprojektes nach folgenden festgelegten Untersuchungskriterien: Wie reagieren die Diskussionsteilnehmer auf Fragen? Welche Formulierungsstrategien werden bei den Antworten in politischen Fernsehdiskussionen benutzt? Mit welchen Sprachmitteln? Sind einige gemeinsame Merkmale der Antworten zu beobachten? Und geben die Antworten wirklich „Antworten“ auf die vorher gestellten Fragen? Diese erwähnten Forschungsfragen sollten am Ende des Wintersemesters 2016 beantwortet werden, und zwar im Rahmen des Dissertationsprojekts der Autorin. Obwohl sich diese erwähnte Dissertation noch nicht in der finalen Phase befindet, deutet die folgende Art von „Voranalyse“ schon manche markante Merkmale des Formulierungsverfahrens der Antworten an. 3. Ankündigen Das erste Formulierungsverfahren, das vorgestellt werden muss, ist das Ankündigen. Es handelt sich darum, wie die Antworten eigentlich beginnen, was am Anfang der Antwort steht. Und da können mehrere Varianten beobachtet werden. Am häufigsten können Antworten gefunden werden, die mit einer Formulierung mit „ja“ beginnen: 130 Bsp.: ES: ja ich glaube ja ich meine ________________________________________________ ES: ja natürlich ja natürlich ________________________________________________ FM: ja ˚h wir erleben ja derzeit eine (.)1 völkerwanderung ________________________________________________ MS: ja es ist also ((räuspert sich)) wenn wenn es so ist Die zweithäufigste Möglichkeit sind dann die Formulierungen mit „nein“. Es kann an dieser Stelle also auch vorausgesetzt werden, dass dem Sprecher in beiden Fällen eine klare geschlossene Frage gestellt wurde, damit eine Antwort mit „ja“ oder „nein“ folgen kann: Bsp.: JK: nein wir haben folgeantragstellen ___________________________________________ ES: nein stimmt nicht sondern ____________________________________________ ES: nein ist das nicht ____________________________________________ JK: nein das stimmt so nicht Bei den folgenden Beispielen ist zu sehen, dass die Antwort wahrscheinlich komplizierter wird. Der Sprecher hat entweder eine offene Frage bekommen, auf die er nicht „ja“ oder „nein“ sagen kann, oder er hat doch eine geschlossene Frage bekommen, aber er will sie nicht so klar beantworten. Bsp.: JK: also also haftlager ______________________________________________ 1 Alle Transkriptionszeichen werden auf Seite 39 erklärt: URL 2: Gesprächsforschung - Online-Zeitschrift zur verbalen Interaktion (ISSN 1617-1837) Ausgabe 10 (2009), Seite 353-402 (www.gespraechsforschung-ozs.de). Online verfügbar unter http://www.gespraechsforschung-ozs.de/ heft2009/px-gat2.pdf 131 JK: wenn das so wäre wenn das so wäre ______________________________________________ ES: (1.0) herr jauch (1.0) die frage ist doch wie schaut unsere verfassungslage aus ______________________________________________ MS: ich will eins sagen In den Formulierungen sind dann verschiedene Variationen zu sehen, wie z.B. also; wenn das so wäre; dann verschiedene Bewertungen der vorher gestellten Frage oder Bemühungen um ein gewisses Ausweichen vor der Antwort. 4. Antithese, Kontrast Weiter befindet sich in den Antworten ein typisches Merkmal der gesprochenen Sprache, und das sind die Antithesen; also Formulierungen, bei denen die Sprecher in ihren Äußerungen Kontraste benutzen: Bsp.: ES: wir schützen die asylberechtigten ˚h das ist keine frage ˚h aber wir sind ein europäischer MS: [ja ich weiß ] ES: [ein europäischer] verbund _____________________________________________ FM: ˚h dass (.) neben der bundespolizei und den hilfsorganisationen und den bürgermeistern ˚h vor allen viele ehrenamtliche die arbeit machen ˚h aber das kann nicht wochen und monate so weitergehen Das kann mehrere Gründe haben, im Fall einer politischen Diskussion geht es aber überwiegend um politische Korrektheit, wenn der Sprecher Kontraste benutzt, damit er seine Einstellung oder Meinung etwas differenziert. Fast in allen Fällen werden die Antithesen im analysierten Text mit „aber“ gebildet. 5. Formelhaftes Sprechen Zu gesprochener Sprache gehört unbedingt auch formelhaftes Sprechen, also Redensarten, Redewendungen und Sprichwörter, und anders ist es auch nicht bei 132 der Kombination gesprochener Sprache mit der Sprache der Politik: Bsp.: ES: es geht ja nicht darum (.) wer sein gesicht wahrt _______________________________________________ FM: wenn vor allem der winter vor der tür steht _______________________________________________ ES: an der grenze muss die spreu vom weizen getrennt werden _______________________________________________ JK: ˚h auch bei uns in rheinland pfalz in trier ist es gewesen ˚h dass menschen unter freiem himmel übernachten mussten Wie aus den Beispielen deutlich werden kann, wirken die Redensarten, Redewendungen und Sprichwörter in der Sprache der Politik als elegante Formulierungen, die eine gewisse Situation oder ein Ding distinguierter beschreiben können, als es die übliche neutrale Sprache schaffen würde. 6. Wiederholung Bei der Analyse der Antworten hat sich gezeigt, dass die Diskussionsteilnehmer häufig auch Wiederholungen benutzen, und zwar aus zwei Hauptgründen. Ein Grund ist, dass sie etwas wirklich deutlich betonen wollen. Das passiert am häufigsten in Situationen, in denen die Diskussion eskaliert und die Sprecher langsam und leicht affektiv sprechen: Bsp.: ES: ˚h alle kommen rein (.) alle kommen rein (.) oder fast alle kommen rein ______________________________________________ FM: ˚h dass (-) der transport der flüchtlinge organisiert aus wien von der regierung direkt an die grüne grenze ˚h so nicht weitergehen kann ˚h so kann es nicht weitergehen Der zweite Grund hat seinen Ursprung in der Geschwindigkeit der gesprochenen Sprache. Die Sprecher wissen im unmittelbaren Augenblick noch nicht, wie sie ihre Äußerung richtig formulieren und welche Worte sie benutzen sollen: 133 Bsp.: ES: an der grenze an der grenze (-) an der grenze ist so zusagen zu entscheiden _____________________________________ JK: sein sein aspekt ist ja ist ja ein richtiger _____________________________________ JK: wir haben ja unterschiedlichen (-) unterschiedlichen status Durch die Wiederholung gewinnen sie eine gewisse Zeit, während der sie ihre Rede im Kopf ordnen und dann die gewünschte Formulierung äußern können. 7. Aufzählung, Liste So wie die Wiederholung im ersten Fall der Bekräftigung gedient hat, erfüllt dieselbe Aufgabe auch die Aufzählung. Bsp.: ES: ˚h du kommst aus einem sicheren drittstaat ˚h der mann ist in österreich der mann ist in kroatien ˚h der mann ist in bulgarien __________________________________________ ES: lenkung ordnung ˚h bekämpfung _________________________________________ RS: die meisten die jetzt kommen sind flüchtlinge aus syrien ˚h aus pakistan aus afghanistan aus eritrea Die Aufzählung oder Liste bringt in die Rede außerdem auch eine gewisse Rhythmik. Wie an den Beispielen zu sehen ist, besteht eine Aufzählung in der Regel fast immer aus drei Gliedern, wobei das letzte Beispiel sogar viergliedrig ist. 8. Paraphrase Das nächste Formulierungsverfahren, das in den Antworten zu beobachten ist, ist die Paraphrase. 134 Bsp.: ES: ˚hh dann letztenendes auch diejenigen (.) nicht mehr so abschieben können die überhaupt kein recht auf (.) asyl haben oder kein ˚h (.) recht als kriegsflüchtling anerkannt zu werden _______________________________________________ RS: dann müsste man doch das was die es pe de vorgeschlagen hat nämlich dass wir einreise ˚h zonen schaffen dass menschen die bei uns (.) zu uns kommen (-) schnell registriert werden das heißt bundesweit registriert werden Die Paraphrase formuliert eine vorherige Mitteilung um und führt so zur Konkretisierung und Präzisierung oder im Rahmen der schon genannten politischen Korrektheit zur Verbesserung und zum Verfeinern der Mitteilung. 9. Resümee Am Ende der Reihe der Formulierungsverfahren steht noch das Resümee, also wie eine Antwort eigentlich endet. An den Beispielen ist zu sehen, dass es sich um eine zusammenfassende Formulierung handelt, die die erwähnten Informationen in der Antwort abschließen soll. Bsp.: MS: was meine analyse ist ___________________________________________ ES: das ist unsere verfassungslage _______________________________________________ JK: und deshalb sind diese transitzonen der zentrale punkt ˚h ___________________________________________ ES: und das müssen wir lösen Diese Formulierung ist in den analysierten Antworten nur zu beobachten, wenn der Sprecher seine Antwort selbst beendet. Falls er von jemand anderem unterbrochen wird, dann befindet sich kein Resümee am Ende seiner Antwort. So eine Unterbrechung durch den Moderator oder durch einen anderen Diskussionsteilnehmer passiert ungefähr in der Hälfte der Fälle. 135 10. Andere Merkmale Was noch andere bemerkenswerte Merkmale betrifft, kann gesagt werden, dass fast alle Fragen vom Moderator gestellt werden. In manchen seltenen Fällen fungiert aber eine Antwort eines Diskussionsteilnehmers gleichzeitig auch als Frage an einen anderen Diskussionsteilnehmer. Die Antworten sind in der Regel auch vielfach länger als die Fragen - durchschnittlich 3-mal und im Extremfall auch mehr als 10-mal. Die Diskussionsteilnehmer sprechen meistens solange sie Zeit haben, also bis zur Unterbrechung durch den Moderator oder einen anderen Diskussionsteilnehmer. 11. Fazit Dieser vorliegende Text, der sich mit der gesprochenen Sprache der Politik und konkret mit den Formulierungsverfahren in Antworten beschäftigt, hat eine Voranalyse im Rahmen des Dissertationsprojektes vorgestellt. Nach dieser Analyse der Antworten in der Talkshow „Günther Jauch“ hat sich gezeigt, dass diese Antworten am häufigsten mit der Formulierung „ja“ oder „nein“ beginnen. In diesen Antworten der Diskussionsteilnehmer können auch ziemlich häufig Antithesen und Kontraste beobachtet werden, die ihren Ursprung in der politischen Korrektheit haben. In den Antworten befinden sich auch verschiedene Redensarten, Redewendungen und Sprichwörter, die die gesprochene Sprache der Politik sozusagen elegant bereichern. Falls die Diskussionsteilnehmer etwas in ihrer Rede betonen wollen oder nur noch mehr Zeit für die richtige Formulierung brauchen, dient ihnen dazu die Wiederholung. Ziemlich beliebt sind in den Antworten auch Aufzählungen und Listen, die so wie Wiederholungen zur Bekräftigung dienen, aber dazu in die Rede noch eine gewisse Rhythmik bringen. Die schon erwähnte politische Korrektheit spiegelt sich dann auch in häufig benutzten Paraphrasen wider. Was schließlich noch die Beendigung der Antworten betrifft, kann da beobachtet werden, dass so ein Resümee nur bei den Antworten vorkommt, die der Sprecher selbst freiwillig beendet und zusammenfasst. Falls er aber von jemand anderem unterbrochen wird, dann ist kein Resümee am Ende der Antwort zu finden. Nach dieser Analyse ist es also klar, dass die gesprochene Sprache der Politik unter dem Aspekt der Formulierungsverfahren von Antworten ein reiches Material darstellt und wirklich einer größeren Aufmerksamkeit der Sprachwissenschaftler würdig ist. Abstract This essay which deals with the spoken language of politics, in particular with formulation means of answers, introduces the analysis of answers in the political talk show “Günther Jauch”. This analysis has discovered that most of the answers start with a formulation with “yes” or “no”. A lot of answers contains antitheses and 136 contrasts which have their origin in the political correctness. In the answers there can also be found proverbs and sayings which can elegantly enhance the spoken language of politics. If the discussion participants want to emphasize something in their speech or they need only some time for the right formulation, they use repetitions. The next favourite means of formulation is enumeration and listing, this is used for emphasizing, too and it brings to the speech a specific rhythmicity. The mentioned political correctness can be observed in the frequent using of paraphrases. At the end of the answers there is a résumé or summary, but only in case if the discussion participant ends his answer himself. If his answer was interrupted there can not be found any résumé. After this analysis it can be claimed that the spoken language of politics from the point of view of the formulation of answers represents a rich material and it certainly deserves greater attention by linguistic experts. Keywords spoken language, language of politics, means of formulation, answer, transcription Quellenverzeichnis URL 1: Seehofers Ultimatum: Begrenzt Merkel jetzt den Flüchtlingszustrom? 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Schlüsselwörter Ferdinand Porsche, Sprachbild, Kollektivgedächtnis, Sprachäußerungen, kultivierte Kommunikation Da nur die Individuen dazu in der Lage sind, sich zu erinnern, schöpft das Kollektivgedächtnis die Dauerhaftigkeit und Kraft aus der ganzen Gruppe von Individuen. Die Erinnerung wird in der Interaktion mit den anderen verwirklicht; das Einzelindividuum jedoch identifiziert sich mit der Erinnerung unterschiedlich. Jeder Mensch erinnert sich so, wie es für ihn selbst günstig ist, wie es seinem Welt- und Selbstbild entspricht. Von der Motivationswelt des Einzelindividuums, d.h. von seinen Erfahrungen, Bedürfnissen, Interessen, Zielen, Einstellungen usw. hängt ab, was und wer im Zentrum und wer in der Peripherie seiner Erinnerung steht. Die Gültigkeit der vorangehenden Gedanken über die Erinnerungen im Hinblick auf das Kollektivgedächtnis wird im folgenden Text anhand eines Fallbeispiels verifiziert. Das Fallbeispiel beinhaltet unterschiedliche Interpretationen (Wahrnehmungen) zum Umgang mit Ferdinand Porsche. Die in diesem Beitrag angeführten Sprachäußerungen wurden in tschechischen regionalen und überregionalen Massenmedien veröffentlicht. Diese Sprachäußerungen der Individuen sind deshalb repräsentativ, weil sie die Einstellungen eines großen Teils der Gemeindebevölkerung ausdrücken. 139 Die kleine tschechische Gemeinde Vratislavice (deutsche Ortsbezeichnung Maffersdorf) liegt in Nordböhmen am Fuße des Isergebirges und gehört verwaltungsmäßig zur Stadt Liberec (deutsche Ortsbezeichnung: Reichenberg). Dieses Gebiet wurde mehrere Jahrhunderte hindurch bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs überwiegend von Deutschen besiedelt. Ansonsten ist es aber kaum jemandem bekannt gewesen, bis im Jahre 2013 ein Schilderstreit entbrannte. Es handelte sich um Schilder an den Ortseingängen. Sie zeigten das Stadtwappen und begrüßten die Durchfahrenden mit der Aufschrift „Geburtsort von Ferdinand Porsche.“ Die Schilder gehören seit einiger Zeit der Vergangenheit an. Der Gemeinderat hat sie ein paar Tage vor Weihnachten 2013 abnehmen lassen. „… Die Marke mit Klang. In keinem anderen Auto wehen Frauenhaare so schön wie in einem Porsche Cabrio...“. Dieser Lobgesang war im Jahr 2013 auf der offiziellen Webseite des Geburtsortes von Ferdinand Porsche zu lesen. Ferdinand Porsche ist zum größten lokalen Anlass für Auseinandersetzungen geworden. Der Streit um Ferdinand Porsche hat Vratislavice in mehrere Meinungslager gespalten. Das erste, relativ kleine Lager hebt ausschließlich Porsches politische Tätigkeit im Dritten Reich hervor. Wegen der Willkommensschilder entschied sich ein Bürger aus Vratislavice, eine Petition aufzusetzen; er sammelte hundertfünfzig Unterschriften von 8.500 Bewohnern der Gemeinde und stellte Strafanzeige gegen die Stadtväter wegen „Propagierung des Nationalsozialismus.“ Das zweite, viel größere Lager betont vor allem Porsches technische Begabung und seine Erfindungen. Jedoch weisen die Vertreter dieses Lagers auf seine Schattenseiten hin, konkret auf seine Zusammenarbeit mit den Prominenten des NS-Regimes. Ende November 2013 initiierte ein Programmierer aus dem benachbarten Liberec eine zweite Petition für die Unterstützung von Ferdinand Porsche und für die Willkommensschilder. Diese Petition unterzeichneten mehr als 1.500 Bewohner. Aus der Sicht der kulturorientierten Linguistik drängen sich zwei sehr eng miteinander zusammenhängende Fragen auf: Was liegt den unterschiedlichen Wahrnehmungen von Ferdinand Porsche zugrunde? Wie ist es möglich, dass die Gemeindebewohner zwar dieselbe Sprache beherrschen, d.h. Tschechisch, aber trotzdem nicht mit derselben Stimme sprechen? Die Antwort heißt: Unterschiedliche Kulturen, präziser gesagt: unterschiedliche Subkulturen der Gemeindebewohner liegen den unterschiedlichen Wahrnehmungen von Ferdinand Porsche zugrunde. Laut dem niederländischen Anthropologen Fons Trompenaars istKultur mit einem Eisberg vergleichbar. Den sichtbaren Teil des Eisbergs bilden Sprache, Literatur, Theater, Musik, Spiele, Essen, Kleidung, Festivitäten, Kommunikationsformen usw. Unter der Oberfläche befindet sich ein nicht sofort erkennbarer Teil, bestehend aus Werten und Normen, Kommunikationsstilen, Einstellungen, Auffassungen, Gefühlen, Verpflichtungen, Beziehungen, Überzeugungen, Verhaltensweisen, Erwartungen, Bedürfnissen und Wahrnehmungsmustern.1 1 URL 1: http://lehrerfortbildung-bw.de/bs/bsa/bgym/lehrga, [zuletzt geprüft am 12.2.2016]. 140 Subkulturen verfügen über Spezifika, durch die sie sich von Kulturen unterscheiden. Unter Subkulturen versteht man Lebensformen, die Teil eines größeren kulturellen Gebildes sind. Sie verfügen über Normenordnungen, die von der Gesamtkultur abweichen. Das Maß dieser Abweichungen schwankt. Es reicht vom Status von Teilkulturen, die in das übergeordnete soziale System weitgehend eingebettet sind, bis hin zu Gruppen, die als Gegenkultur auftreten. Die Merkmale, die Subkulturen kennzeichnen, differieren je nach Lage, sie können in unterschiedlicher ethnischer Herkunft, in regionalen Besonderheiten, in der Berufszugehörigkeit, in unterschiedlichen Interessengruppen (Hobbygruppen), in der politischen Zugehörigkeit oder generell im sozioökonomischen Bereich begründet sein. In jedem Fall gilt, dass die Zugehörigkeit(en) zu Subkulturen Abweichungen zum Ausdruck bringen, die lebensweltlich nicht nur periphere Bedeutung haben, sondern für die Gruppe einen zentralen, musterwirksamen Rang einnehmen (vgl. Endruweit / Trommsdorff, 1989, S. 711). Und nun zurück zur Anwendung der Trompenaars’schen Kulturdefinition. In Bezug auf unser Thema sind aus dem „nicht sofort erkennbaren Teil des Eisbergs“ folgende Faktoren relevant: Einstellungen, Auffassungen und Überzeugungen der Gemeindebewohner von Vratislavice, die sich im „sichtbaren Teil des Eisbergs“, nämlich im Bereich der Sprache (oder präziser gesagt: im Bereich der Äußerungen), befinden. Es zeigt sich, dass in einigen Äußerungen das Kollektivgedächtnis – konkret: Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg – sehr intensiv aktiviert wurde. Aus diesem Grund bewerten vor allem jene Leute, die das ‚Protektorat Böhmen und Mähren‘ unmittelbar erlebt haben, Porsches Verbundenheit mit dem Nazi-Regime als negativ. Derselben Meinung sind auch einige jüngere linksorientierte Mitbürger, die meistens Sympathisanten oder Mitglieder der Kommunistischen Partei Böhmens und Mährens sind. Für beide Seiten ist Ferdinand Porsche vor allem ein Symbol des Nazi-Regimes; vgl. folgende Zitate: Der ehemalige Bürgermeister Aleš Preisler: „Die Sache (der [sic!] Willkommensschild) könnte uns als Propagierung des Nationalsozialismus ausgelegt werden, wir bewegen uns am Rande der Legalität.“ […] „Ferdinand Porsche mit seiner dunklen Vergangenheit würde ich hier diplomatisch-taktisch verschweigen“. (URL 2) Vize-Bürgermeister Vladimír Braun: „Bis 1989 mussten wir Denkmäler für Lenin oder Stalin aufstellen. Dann wurden die abgerissen und neue gebaut. Warum? Das gilt auch für die kleine Porsche-Aufschrift auf dem Willkommensschild. Warum müssen wir das ostentativ nach außen kehren, dass Porsche hier 141 geboren wurde? Dann sollten wir auch sagen, dass gleich zwei Häuser neben Porsche der Sudetenführer und Hitlergetreue Konrad Henlein geboren wurde“. […] Die Porsche-Zentrale in Stuttgart habe übrigens keinen Heller in Vratislavice investiert, erklärt Braun und redet sich in Rage: „Aber wir sollen immer für alles dankbar sein? Wir Tschechen sollten endlich einmal stolz auf uns sein. Wir sind immer zu etwas gezwungen worden. Früher mussten wir die Sowjet-Fahne heraushängen, heute die Fahne der Europäischen Union. Warum?“ (URL 3) Der Anti-Porsche-Aktivist Pavel Hrstka, der sich auf das Buch des deutschen Historikers Guido Knopp „Hitlers Manager“ beruft: „Dabei war er ein SS-Oberst, der initiativ mit den größten Verbrechern verhandelte wie Himmler und Hitler. Und dadurch bekam er Zwansarbeiter für seine Fabrik, in der Waffen hergestellt wurden. Diese Dinge wurden beim hiesigen ‚Denkmal‘ verschwiegen. Porsche bekam auch einen SS-Totenkopf-Ring verliehen“. […] „Drei Porsche-Autos und ein paar Informationen hatten in der Porsche-Ausstellung Platz. Für die nationalsozialistische Vergangenheit Ferdinand Porsches hat es nicht gereicht – Leerstelle. Dazu kamen noch später die Willkommensschilder“. „Erst durch unseren Protest sind diese Informationen heute in der Porsche-Ausstellung hier zu lesen – erst nach vier Jahren, das ist traurig.“ (URL 4) In diesen Äußerungen sind mehrere negativ bewertende Ausdrücke (Wortverbindungen) vertreten. Sie erfüllen folgende Funktionen: a) Sie dienen der Charakterisierung von Ferdinand Porsche (Ferdinand Porsche mit seiner dunklen Vergangenheit; ... er war ein SS-Oberst, der initiativ mit den größten Verbrechern verhandelte; Porsche bekam auch einen SS-Totenkopf-Ring verliehen); b) Sie drücken die inneren ärgerlichen und skeptischen Befindlichkeiten von Sprachbenutzern aus (Warum müssen wir das ostentativ nach außen kehren, dass...; wir sind immer zu etwas gezwungen worden usw.). Für Bürger der Gemeinde Vratislavice, die das ‚Protektorat Böhmen und Mähren‘ nicht miterlebt haben und / oder eine positive Beziehung zur Technik (zu Autos) haben, ist Ferdinand Porsche vor allem eines der größten Symbole des technischen Fortschritts, vgl. dazu folgende Zitate: Offizielle Webseite der Gemeinde Vratislavice: „[…] Die Marke mit Klang. In keinem anderen Auto wehen Frauenhaare so schön wie in einem Porsche Cabrio [...]“ (URL 5) Eisenwarenhändler: „Ausgezeichneter Konstrukteur, ich bin froh, dass er hier geboren wurde.“ (URL 6) Anonymer Bewohner: „Ich bin stolz auf Porsche.“ (URL 7) 142 Busfahrer Milan Bumba: „Gut, Porsche habe damals einen SS-Orden bekommen. Im Kommunismus wiederum seien die Leute hier zu Helden der Arbeit gekürt worden, vergleicht Bumba“. […] „Ich behaupte, er hatte keine Wahl, wenn er seine Autos konstruieren wollte. Wenn er Hitlers Hand ausgeschlagen hätte, dann wäre auch er im Knast oder im Konzentrationslager gelandet“. (URL 8) Milan Bumba präsentiert über zwanzig Exponate von Volkswagen und Porsche in seinem privaten Museum in Vratislavice. Fast seit dreißig Jahren organisiert er jedes Jahr zum Geburtstag von Ferdinand Porsche eine Zusammenkunft von über hundertfünfzig Autos. Diese regelmäßig organisierte Veranstaltung zeugt davon, dass Milan Bumba zur Entwicklung eines kulturellen Gedächtnisses als Bestandteil des Kollektivgedächtnisses seiner Mitbürger und Autoliebhaber beiträgt. Laut J. Assmann besteht das Kollektivgedächtnis aus dem kommunikativen und kulturellen Gedächtnis. Die wichtigsten Begriffe des kulturellen Gedächtnisses sind Tradition und Wiederholung. Das kulturelle Gedächtnis manifestiert sich in Gedenktagen und religiösen Festen (vgl. Assmann, 2001, S. 83). In den vorangehenden Äußerungen kommen mehrere positiv bewertende Ausdrücke vor, die a) zur Charakterisierung von Ferdinand Porsche dienen (ausgezeichneter Konstrukteur; die Marke mit Klang usw.); b) innere zustimmende Befindlichkeiten von Sprachbenutzern ausdrücken (ich bin froh, ich bin stolz). Aus dieser letzten Äußerung ergibt sich, dass einer der Befürworter von Porsche dessen Verbundenheit mit dem Nazi-Regime zwar nicht verschweigt, sich jedoch bemüht, Porsches Zusammenarbeit mit diesem Regime zu entschuldigen. Die effiziente bzw. soziokultivierte Kommunikation bedeutet eine kultivierte Konfrontation der Selbstprojektionen der Kommunikationsteilnehmer. Soziokultivierte Kommunikation ist dadurch gekennzeichnet, dass sie korrekt ist. Das Wesen der Korrektheit jeder Kommunikation bildet die Proportionalität zwischen den Akkommodations- und Assimilationsprozessen. Diese Proportionalität bedeutet, dass alle beteiligten Kommunikationsteilnehmer über eine angemessene Egomobilität verfügen. Diese beruht auf dem Gleichgewicht zwischen Egozentrismus und Allozentrismus (vgl. Dolník, 2010, S. 76-78). Die einzelnen Kommunikanten bemühen sich nicht nur um die Durchsetzung der eigenen Selbstinterpretation (der eigenen Werte und Normen, Kommunikationsstile, Einstellungen, Gefühle, Verpflichtungen, Beziehungen, Überzeugungen, Verhaltensweisen, Erwartungen, Bedürfnisse usw.), sondern gleichermaßen um das Verständnis der Selbstinterpretation ihres Kommunikationspartners (vgl. Lauková, 2015, S. 43). Der Konfliktverlauf in der Diskussion um Ferdinand Porsche zeigte, dass eine Lösung des Konflikts unmöglich war, weil die Kommunikationsteilnehmer nicht dazu in der Lage waren, eine kultivierte Konfrontation ohne Selbstprojektionen zu führen. Deshalb konnte auch kein Kompromiss gefunden werden. Die Ursache der nicht-soziokultivierten 143 Kommunikation bestand darin, dass einige Kommunikationspartner nicht dazu bereit waren, die Proportionalität zwischen den Akkommodations- und Assimilationsprozessen in der Kommunikation zu respektieren. Sie haben nur einige der wesentlichen Informationen über Ferdinand Porsche aus dem Kollektivgedächtnis herausgezogen. Die effiziente soziokultivierte Kommunikation hätte zum Beispiel folgende Ergebnisse gebracht: 1. Kommunikationsteilnehmer hätten beiderseits akzeptiert, dass Ferdinand Porsche ein hervorragender Konstrukteur war, d.h. der Gemeinderat hätte die Schilder nicht abnehmen lassen müssen; 2. Alle wichtigen Informationen über die Zusammenarbeit von Ferdinand Porsche mit dem NSRegime hätten in Porsches Automobilmuseum veröffentlicht werden müssen. Fazit Das Phänomen der unterschiedlichen Interpretationen von prominenten Persönlichkeiten aus der Vergangenheit kommt im Rahmen der Kollektivkulturen nicht selten vor. Zu den prominenten Persönlichkeiten zählt man auch Ferdinand Porsche, der von den Vertretern der tschechischen Kollektivkultur unterschiedlich wahrgenommen wird. Das zeugt davon, dass die tschechische (und nicht nur die tschechische) (Kollektiv-)Kultur kein homogenes Gebilde ist; sie ist nach innen heterogen organisiert und besteht aus mehreren Sub(kollektiv)kulturen (z.B. Subkultur der Autoliebhaber, Subkultur der Nazi-Gegner). Jede von diesen Subkulturen bewahrt ihre Normen, Werte, Traditionen und Rituale. Bei den Vertretern der Nazi-Gegner-Subkultur steht das Konzept „Ferdinand Porsche als Kollaborateur mit dem Nazi-Regime“ im Zentrum der kognitiven und folglich auch der sprachlichen Verarbeitung, wohingegen das Konzept „Ferdinand Porsche als Konstrukteur“ in der Peripherie angesiedelt ist. In der Autoliebhaber-Subkultur steht das Konzept „Ferdinand Porsche als Konstrukteur“ im Zentrum der kognitiven Verarbeitung und Versprachlichung, wobei die Vertreter dieser Kultur aber nicht vergessen, auch das Konzept „Ferdinand Porsche als Kollaborateur mit dem Nazi-Regime“ zu versprachlichen. Abstract Cultivated (effective) communication depends on the motivational world (views, needs, values, interests, etc.) of individual communication actors and on the compliance with the proportionality between accommodation and assimilation processes in communication. In pursuing the motivational world of communication partners the “treatment” of collective memory has a significant role in some communication situations, i.e. which memories and to what extent are intentionally selected from the collective memory and which remain purposefully nonactivated. This fact is also confirmed by the linguistic analysis of selected discourses which relate to the personality of Ferdinand Porsche. 144 Keywords Ferdinand Porsche, linguistic image, collective memory, speech discourses, cultivated communication Quellenverzeichnis Dolník, Juraj (2010). Jazyk – človek – kultúra. Bratislava: Kalligram. Endruweit, Günter / Trommsdorff, Gisela (1989). Wörterbuch der Soziologie. Stuttgart: dtv/Enke. Lauková, Jana (2015). Text im interkulturellen Kontext. Banská Bystrica: Belianum. Literaturverzeichnis Dolník, Juraj (2012). Sila jazyka. Bratislava: Kalligram. Dolník, Juraj / Orgoňová, Oľga (2010). Používanie jazyka. Bratislava: Univerzita Komenského Bratislava. Dobrík, Zdenko (2015). Mensch in den Kulturen, Kulturen im Menschen. Banská Bystrica: Belianum. Heringer, Hans Jürgen (2014). Interkulturelle Kommunikation. Grundlagen und Konzepte. Stuttgart: UTB. Molnárová, Eva (2013). Spoločensko-politická lexika z kontrastívneho aspektu. Banská Bystrica: Belianum, FHV UMB, S. 14-15. Soukup, Václav (2009). Základy kulturní antropologie. Praha: Akademie veřejné správy o.p.s. Straub, Jürgen / Weidemann, Arne / Weidemann, Doris (2007). Handbuch interkulturelle Kommunikation und Kompetenz. Grundbegriffe – Theorien – Anwendungsfelder. Stuttgart/Weimar: Metzler. Internetquellen URL 1: Online verfügbar unter http://lehrerfortbildung-bw.de/bs/bsa/bgym/ lehrga, [12.2.2016]. URL 2: Online verfügbar unter http://www.radio.cz/de/rubrik/kaleidoskop/streit -um-ferdinand-porsche-spaltet-tschechischen-ort-vratislavice, [19.3.2016]. Dieser Beitrag wurde im Rahmen des Projekts VEGA „Mentálno-jazykové inakosti a kultivovaná komunikácia“ (ITMS: 1/0326/16) verfasst. 145 146 Manfred Franks hermeneutische Zeichentheorie im Kontext der neuesten diskursanalytischen Ansätze Michal Rubáš Annotation Es werden heute im Rahmen der germanistischen Diskursanalyse weitreichende Diskussionen über die anzuwendende Bedeutungs- und Sprachwandeltheorie geführt, sowie auch Fragen gestellt nach dem epistemologischen Status der zu beschreibenden Diskursstrukturen und nach der Rolle der individuellen und sozialen Faktoren innerhalb der Prozesse der Diskurskonstitution. Die inhaltsorientierten Linguisten dieser Strömung befassen sich also mit den Themen, die von einem der bedeutendsten deutschen Sprachtheoretiker Manfred Frank bearbeitet wurden, und zwar in Auseinandersetzungen mit denjenigen strukturalistisch geprägten Forschern und Sprachphilosophen, von denen die zeitgenössischen Diskurstheoretiker maßgeblich beeinflusst sind. Mein Beitrag beabsichtigt, Franks sprachtheoretischen Ansatz in der laufenden Debatte unter den Diskursanalytikern hypothetisch zu verorten. Schlüsselwörter Diskursanalyse nach Foucault, Hermeneutik, Bedeutungstheorie, Manfred Frank, Wolfgang Teubert Im Sammelband Linguistische Diskursanalyse: Neue Perspektiven (Busse/Teubert, 2013) stellen Dietrich Busse und Wolfgang Teubert eine Idee zur linguistischen Operationalisierung des Diskursbegriffes von Michel Foucault vor. Dies geschieht erstens im gemeinsam verfassten programmatischen Aufsatz Ist Diskurs ein sprachwissenschaftliches Objekt? (Busse/Teubert, 2013, S. 13-30) und zweitens in den anschließenden Texten, die Busse und Teubert je selbständig schrieben und in denen sie gegeneinander ziemlich scharf auftreten (Busse/Teubert, 2013, S. 31-185). Ihre exemplarische Dissonanz ist nach meiner Meinung auf die Widersprüche zurückzuführen, die im Diskurs- und Methodenbegriff des französischen Denkers selbst ruhen und die einer der scharfsinnigsten Kritiker des Strukturalismus, der Autor einer hermeneutischen Zeichentheorie Manfred Frank, schon vor einiger Zeit schöpferisch analysierte. Der vorliegende Aufsatz beabsichtigt es, eine strukturalistische Sprachauffassung in einer lebendigen Diskussion mit der hermeneutischen Theorie der Sprache 147 darzustellen. Nach einer kurzen Vorstellung der linguistischen Diskursauffassung von Busse und Teubert (1) werden Teuberts Bedeutungstheorie (2) und deren Ablehnung seitens Busses (3) geschildert. Des Weiteren wird auf Franks linguistisch untermauerte Kritik am Diskursbegriff von Foucault eingegangen (4), worauf wir anlässlich der kurz geschilderten Zeichentheorie Manfred Franks eine allgemeinere sprachwissenschaftliche Konsequenz für das Projekt der linguistischen Diskursanalyse formulieren (5). Busse und Teubert stellen am Anfang ihres Aufsatzes (Busse/Teubert, 2013, S. 13) die Frage, warum die aus Frankreich stammende Diskursanalyse in Deutschland ganz an der Peripherie steht und kaum rezipiert wird.1 Ihre Antwort lautet, dass subjektphilosophisch orientierte Autoren und Vertreter der rationalistisch geprägten Pragmatik in ihrem Selbstverständnis erschüttert würden, müssten sie ernst nehmen, dass nicht nur Sprache Denken beeinflusst, sondern dass man auch durch die Gesellschaft determiniert ist. Der Kurs von Saussure stecke den Bereich der Linguistik zu eng ab, und ebenso wie die pragmatischen Kategorien von Illokution, Präsupposition und Handlung in die Linguistik den Vorurteilen zum Trotz aufgenommen wurden, gelte es, eine satz- und textübergreifende Semantik weiterzuentwickeln, welche eine die diachrone und die Parole-Ebene einbeziehende Perspektive mit sich bringt (vgl. Busse/Teubert, 2013, S. 14-15). In den sprachlichen Zeichen ist nach Busse und Teubert „gesellschaftliches Wissen“ aufbewahrt (Busse/Teubert, 2013, S. 27). Dieses Wissen ist implizit relevant für die Realisierung von Sinn. Was vorausgesetzt werden muss, damit man eine Äußerung oder einen Text versteht, wird von den Autoren großzügig breit aufgefasst: Es sind logische Prinzipien, Raum, Zeit, die Grenzen zwischen Gegenstand und Umgebung, zwischen ego und alter, die Ausschließungsmechanismen (Wahrheit vs. Wahnsinn) u.a. Erst diese epistemischen Kategorien machen die Aussagen möglich, verleihen den Texten Kohärenz und werden natürlich als im Voraus gesetzte Konstrukte nicht in den Aussagen oder Texten konstituiert, woraus sich auch eine eigenartige Textanalyse ergibt, die den Text nicht unbedingt als eine „abgeschlossene Einheit“ sieht, sondern seine „einzelnen Äußerungen“ für „potentiell wichtiger als eine künstlich hergestellte Gesamtidee“ (Busse/Teubert, 2013, S. 43) hält. Die Ebene der „thematischen Tiefenstrukturen“, die über den Text hinausgehen, sei von zentraler Bedeutung (Busse/Teubert, 2013, S. 27-28). Diskurse sind nach Busse und Teubert „virtuelle Textkorpora“, die sich durch „semantische Kohärenz“ auszeichnen. Methodisch ist ausschlaggebend, dass die Textsemantik nicht lexemgebunden ist. Die Satzaussagen innerhalb eines Textkorpus muss der Textanalytiker explizit in Beziehung setzen, um die Voraussetzungen für die semantische Ausgestaltung der einzelnen Lexeme und Sätze finden zu 1 Der Text Ist Diskurs ein sprachwissenschaftliches Objekt? Zur Methodenfrage der historischen Semantik wurde ursprünglich bereits 1994 publiziert und als programmatischer Einführungsartikel in den Sammelband eingereiht. 148 können. Aus diesem Grund muss die Wort- und Satzsemantik überschritten werden (Busse/Teubert, 2013, S. 28). Der Diskurs scheint eine semantische Basis für die Konstitution der Bedeutungen von Lexemen zu sein. Kritisch gesehen, ist diese vielversprechende Diskursauffassung auf den ersten Blick in mehreren Hinsichten problematisch. z.B. die Beziehung zwischen Text und Diskurs: Wir suchen textexternes Vorwissen, das für die Kohärenz des Textes verantwortlich ist, anders formuliert suchen wir diskursives Wissen, indem wir nach den Bedingungen der Textkohärenz fragen. Auf der anderen Seite halten wir in unserer Textinterpretation “einzelne Äußerungen“ für „potentiell wichtiger“ als die „Gesamtidee“ des Textes, die eine „abgeschlossene Einheit“ darstelle, was mit anderen Worten bedeutet, dass die Textkohärenz für die Bedeutung einzelner Textaussagen irrelevant ist (die Aussagen müssen zumindest eine eigengesetzliche Identität haben, die sich gegen die Textidee behaupten kann). Gleich am Anfang stehen wir da also vor einem hermeneutischen Zirkel, der sich aber dreht zwischen Elementen, die auf gegenseitige Kompatibilität nicht auszurichten sind, wie es im Fall von Teil und Ganzem üblich wäre. Wolfgang Teuberts Aufsatz Die Wirklichkeit des Diskurses (Teubert, 2013) will immer noch aus Foucaults Diskursbegriff ein „operationalisierbares Programm“ für die Linguistik machen. Er hebt von neuem ein gesellschaftskritisches Ethos hervor, denn die linguistische Diskursanalyse soll dazu beitragen, dass aus „Diskurskonsumenten aktive Teilnehmer“ werden, die als bisher Unprivilegierte „gemeinsame Gegenentwürfe“ zu vermeintlich alternativlosen hegemonialen Diskursen entwickeln (Teubert, 2013, S. 70). Die Linguistik legt Widersprüche der herrschenden Weltauslegungen offen, damit „Betroffene kollaborativ eigene Wirklichkeitsversionen konzipieren“ können (Teubert 2013, S. 70). Diskurs ist für Teubert autopoietisch, selbst-referentiell, unergründlich und unvorhersehbar. Er bewegt sich von selbst, indem seine Momente permutieren, sich rekombinieren und variieren (Teubert, 2013, S. 55). Diskursive Ereignisse sind also keine Ergebnisse des individuellen Wollens oder Handelns. Denksubjekte sind bloße Diskursprodukte (wie alle anderen gesellschaftlichen Phänomene und Praktiken; Teubert, 2013, S. 58), „der Diskurs schafft sich Denksubjekte als Relaisstationen“ (Teubert, 2013, S. 55). Die allumfassenden Diskurse sind aber auch nichts Natürliches. Sie können nicht zu Gegenständen der Naturwissenschaften werden, denn diskursive Outputs sind nichts Kausal-Gesetzmäßiges. Sie seien „Phänomene der dritten Art“ im Sinne von Rudi Keller. Die engagierte Linguistik führt Teubert zu einer radikalen Bedeutungstheorie, die potentielle Spannung in den strukturalistischen Begriffsapparat bringt: Was uns Wirklichkeit ist, ist „Resultat von Aushandlungen“ - als Teilnehmer am Diskurs „können wir sie jederzeit neu verhandeln, wenn wir mit ihr nicht einverstanden sind“. „Sinn entsteht nur, indem wir ihn gemeinsam vereinbarten sprachlichen 149 Zeichen zuschreiben“ (Teubert, 2013, S. 57). Zugleich gilt eine allgemeine Sprachgebundenheit jedes Sinnes: Erleben ohne Sprache sowie diskursiv unvermittelte Wirklichkeit bedeuten nichts. „Alles /Bedeutsame/ ist Diskurskonstrukt“ und „ob es mit externer Realität etwas zu tun hat, lässt sich nicht überprüfen“ (Teubert, 2013, S. 61). Nur das Gesagte hat einen Sinn, und nur auf Gesagtes kann man sich beziehen (Teubert, 2013, S. 56). Für Teubert ist Text eine „einzigartige Kombination von rekurrenten Elementen“, deren Bedeutung darin besteht, „was über sie in einzelnen Kontexten gesagt ist“, und dieses Gesagte nennt er „periphrastischen Gehalt“. Für die Bedeutungen gibt es „keinen gemeinsamen Nenner“, und Bedeutung ist ein „Ensemble aller Aussagen“ oder Periphrasen. Bedeutung ist demnach „prinzipiell kontingent“, bei jeder Verwendung „wird unweigerlich etwas Neues hinzugefügt“, weshalb es „keine Regel für den Gebrauch besagten Textsegments“ geben kann. Die innovative Kraft, die die Bedeutungen permanent gestaltet, ist natürlich Teubert zufolge nicht interpretierenden Individuen zuzuschreiben, weil es nicht „sinvoll“ ist, über „das solitäre Individuum [...] zu reden, das sich mit seiner Umwelt kognitiv auseinandersetzt“ (Teubert, 2013, S. 59), und weil Interpretieren „ein kollaborativer Akt“ ist (Teubert, 2013, S. 72). Da „nicht-sprachliches Vorverständnis unbeschreibbar ist“, und da es „widersinnig“ und „unmöglich“ ist, vorsprachliche oder sprachlose epistemische Voraussetzungen und unbewusstes, nicht-explizites Wissen freizulegen, muss der kognitive Ansatz (mitsamt der Phänomenologie) abgelehnt werden: „Um zu beschreiben, wie sich vorsprachliches Erleben in sprachliche, sozial konventionalisierte Repräsentation übersetzt, müssten wir vorsprachliches Wissen sprachlich repräsentieren können“, und das ist nach Teubert unmöglich. „Individueller Geist“ ist kein einer naturwissenschaftlichen Methode zugängliches Objekt, diese Auffassung teilt Teubert mit Stephen Stich, und „der Blick in den Kopf erübrigt sich“ ohnehin, was auch als Stellungnahme gegenüber Chomsky gelesen werden kann. Was „verstehen“ heißt, ist „unergründlich“, wir wissen nur, was darüber gesagt wird. Anderes Beispiel: „[...] was genau man gelernt hat, wenn man nun endlich schwimmen kann, und wie es sich anfühlt, lässt sich nicht in Worte fassen.“ (Teubert, 2013, S. 58). Teubert ist der Meinung, dass nicht-sprachliches Können als stummes „direktes Erleben“ historisch ersetzt wurde durch „bewusste Vorstellungen von diesem Erleben“ (mit dem Auftreten des homo sapiens), was den Umgang mit Zeichen und die explosionsartige Entwicklung von Werkzeugen brachte (Teubert, 2013, S. 62). Die Arbeit des Diskursanalytikers ist Teubert zufolge als „Hebammenkunst in Bezug auf die Bedeutung des Gesagten“ zu fassen (Teubert, 2013, S. 56), weil sie in Freilegung dessen bestehe, wie wir die Wirklichkeit wahrnehmen. Der Sprachforscher soll das Gesagte so aufbereiten, dass der Diskursausschnitt zugänglich wird, der „für die Klärung einer Sinnfrage relevant ist“. Diese Rekontextualisierung 150 des Sinnes hat Teubert wahrscheinlich im Sinn, wenn er Gadamers Hermeneutik ablehnt mit der Begründung, dass Gadamer die Analyse nicht von der Interpretation trennt (Teubert, 2013, S. 73). Um ein paar vorläufige Zweifel hinsichtlich dieser interessanten Ausführungen anzuführen, halten wir zweierlei für schwer nachvollziehbar. Erstens kann man nie in einem hegemonialen Diskurs einen Widerspruch finden, wenn die einzelnen Bedeutungen von rekurrenten Elementen bloß Juxtapositionen ihrer in Texten vorfindlichen Umschreibungen darstellen und „keinen gemeinsamen Nenner“ haben. Zweitens ist die Beziehung zwischen zwei von Teubert verwendeten Begriffen des Subjekts noch erklärungsbedürftig, weil das Subjekt als „Diskurskonstrukt“ jedenfalls etwas anderes zu sein scheint als das Subjekt als nicht-interpretierender, Hebammenkunst ausübender „Analytiker“. Es kommt dazu in Teuberts Analysen sogar noch ein drittes Subjekt vor: dasjenige, das Bedeutungen mit anderen Subjekten „kollaborativ aushandelt“. Busses Kritik an Teuberts Theorie geht einen anderen Weg. Er stimmt der These zu, dass die einzige Wirklichkeit die im Diskurs vermittelte ist. Busse lehnt es aber ab, dass irgendein Diskursanalytiker oder relevanter Kognitivist ein „nicht-sprachliches Wissen“ zum Gegenstand der Diskursanalyse machen möchte. Was zu „eruieren“ ist, ist „jetzt unbewusst prägend“, aber „ursprünglich war es bewusst explizit“, es ist anderswo explizit vorgekommen, „von einem Menschen“ explizit gemacht worden, wenn auch „nicht in diesem Diskurs“ (Busse, 2013, S. 169-170). Fügen wir gleich hinzu, dass diese Erklärung Busses aussagt, dass nicht nur in verschiedenen Texten, sondern in verschiedenen Diskursen dieselben Bedeutungselemente (einmal implizit, ein andermal explizit) vorkommen. Daraus aber folgt, dass nicht der Diskurs das Wissen produziert oder „prädeterminierend“ wirkt (wie sich Busse anderswo ausdrückt), weil sonst dasselbe in verschiedenen Diskursen etwas Verschiedenes sein müsste. Auf diese Weise werden nicht nur Grenzen zwischen Texten weggewischt, sondern auch zwischen Diskursen, und was daraus paradoxerweise siegreich hervorgeht, sind die einzelnen Bedeutungen der Lexeme in ihrer jeweiligen Identität, die diskursimmun werden. Ein weiterer Vorwurf Busses ist, dass Teubert „Ausgehandeltes“ in der Bedeutung „bewusst Verhandeltes“ versteht: Teubert unterstellt damit eine freie Verfügungsgewalt der Subjekte über die in ihren Diskursen verhandelten Inhalte (Busse, 2013, S. 171), wodurch er gegen seine eigene Auffassung verstieße, dass Diskurselemente Phänomene der dritten Art sind (Busse, 2013, S. 168), also unintendierte Folgen von individuellen bewussten Intentionen. Unprivilegierte könnten also nicht zielbewusst andere Wirklichkeitsauslegungen in der Sprache durchsetzen, lässt sich daraus ableiten. 151 Busse ist der Ansicht, dass die Diskursanalyse die Beziehung zwischen zwei Momenten zum Gegenstand hat: einerseits die „Sozialität der Genese“ der Diskursgestalten, ihre „Iteration“ und „Prädetermination“, andererseits die recht hermeneutisch klingende „unhintergehbare Individualität und Subjektivität des Verfügens, Prozessierens und kognitiven Konstruierens“ (Busse, 2013, S. 180). Aus dem Konglomerat von individueller Intention und sozialer Prädetermination entsteht nach Busse gerade das „Phänomen der dritten Art“ - womit jedoch Foucaults Auffassung ganz verloren ginge, wie gleich hinzuzufügen ist. Historisch gesehen ist das moderne Konzept der unsichtbaren Hand ein Relikt der philosophischen Denkweise der Barockzeit, als die „prästabilierte Harmonie“ eine Innovation erfuhr, die auf dem ontologischen Primat des absoluten Individualismus / Nominalismus im Gedanken beruht, dass, wenn alle Einzeldinge nur durch ihr eigenes Gewicht wie im griechischen Atomismus ihre eigene Wege, blind und die Umgebung ignorierend, hinunterstürzen, die Welt, sozusagen beiläufig, zu einer Ordnung gelangt. In der Ökonomie erfüllte das Konzept zu seiner Zeit eine ideologische Aufgabe, in den Humanwissenschaften sucht man damit heute manchmal einen eigenständigen Status gegenüber den Naturwissenschaften für sich zu behaupten. Als Beispiele für Phänomene der dritten Art nannte Rudi Keller Staus oder Trampelpfade (Keller, 2000, S. 8). Das sind Wirklichkeiten, die in die Handlungen der Subjekte natürlich als determinierende Kräfte eingreifen können. Er nennt auch Wörter, die ihren bisherigen unterscheidenden Wert verloren haben usw., aber es bleibt eine These, dass die zu erklärenden Bedeutungs- oder Wertveränderungen der Wörter nach der Art der Staus oder Rasenpfade zu verstehen sind, die als Explanans gebraucht werden. Im Falle des Sprachsystems oder des „Diskurses“ sind dessen Outputs ausschließlich Konventionen oder (Gebrauchs-)Regeln. (Manfred Frank nennt sie virtuell, und unsere beiden Autoren nennen Diskurse so.) Wie diese Virtualitäten konstituiert, rezipiert oder gültig gemacht werden - und das alles hängt mit ihrer Entstehungsweise zusammen -, lässt sich nicht von der Seinsweise der äußeren Objekte ableiten. Ein Stau kann mit dem Übergang in einen anderen Diskurs seine Bedeutung wechseln, aber der Sinn oder der Wert eines Ausdrucks oder eine Regel können nicht dieselben bleiben, wenn sie ihre Bedeutung oder Verbindlichkeit verlieren. Durch einen Stau entsteht nichts Regelhaftes. Ein Stau ist vielmehr durch einen Grundsatz (etwa „Vermeide den Zusammenprall mit anderen Autos“) auf vorhersehbare Weise zustande gekommen, aber jener existierte schon zuvor. Kommen wir jedoch zu Busses fortschreitender Kritik zurück. Er hält es für „geistfernen Positivismus“, wenn Teubert das Verstehen als unergründbar bezeichnet. 152 Dazu kann an dieser Stelle noch Folgendes über den Rahmen der Kritik Busses hinaus gesagt werden: Teubert spricht, wie im Falle des Schwimmens, von nichtsprachlichem Können oder von „Wissen wie“, das als „direktes Erleben“ sprachlos und somit „bedeutungslos“ ist (Teubert, 2013, S. 58). Falls für Teubert „bedeutungslos“ und „unergründbar“ Synonyme sind, stehen wir hier einer Analogie zum Kantischen Ding an sich gegenüber, das aber jede Pluralität von unterscheidbaren Einheiten als widersinnig ausschloss. Teuberts bedeutungslose, aber unterschiedliche Wirklichkeiten (z.B. Verstehen, Schwimmen, den Finger rühren) müssen demnach diskursexterne Entitäten sein, deren Existenz er ausdrücklich mit Busse verleugnet. Beide Diskursanalytiker scheinen die allgemeine Eigenschaft der Sprache, etwas zu bezeichnen, zu unterschätzen. Sie ignorieren referenztheoretische Ansätze von Kripke oder Putnam: Periphrasen sind einfach nicht synonym mit zumindest einigen sprachlichen Ausdrücken. Aus diesem Grund kann man nicht Wortbedeutungen mit Diskurskonstrukten gleichsetzen. Busse konnte bereits Teuberts Einschätzung von Verstehen, Schwimmen usw. als „Wissen wie“ bezweifeln. Vielmehr handelt es sich bei diesen Phänomenen um „Nicht-Wissen wie“. Wenn ich schwimme oder einen Finger rühre, weiß ich, was ich tue; was ich jedoch nicht verstehe, ist, wie ich das ausführe. Wie schaffe ich es, dass ich den Finger rühre? Es wäre sinnvoller, dies als unergründbar zu bezeichnen. Ich muss jedoch wissen, was ich nicht (prozessual) beschreiben kann. „Wie“ bezeichnet ein Können, nicht ein Wissen. Es ist aber durchaus relevant, diesen Gedanken Teuberts zu bedenken, der etwas Gemeinsames mit dem Spontaneitätsbegriff des Taoismus oder Nietzsches Betrachtungen über Subjektlosigkeit und Bewusstlosigkeit von natürlichen oder vollkommenen Ereignissen bzw. „Handlungen“ hat. In beiden Fällen schließt das beste „Können“ eine Begleitung durch bewusste Reflexion oder kontrollierendes Wissen aus: Was man wirklich kann, stütze sich nicht nur auf kein Wissen, sondern sei auch damit nicht verknüpfbar. Sicher ist, dass sich das Bewusstsein sowie Verstehen nicht auf den Prozess der Verarbeitung von Informationen zurückführen lässt, und insofern halten wir hier Teuberts Kritik am Kognitivismus mitsamt seinem Begriff der „Unergründbarkeit“ des Verstehens / Bewusstseins für kontextuell angemessen. Schließlich erwähnen wir noch einen Vorwurf Busses, und zwar seinen Kommentar zu Teuberts Aussage, dass sich die Diskursanalyse nur damit beschäftigen soll, was im Diskurs gesagt ist. „Woher weiß Teubert, was das Gesagte ist?“, fragt Busse. Teubert sei naiv, weil er glaubt, es gebe einen unmittelbaren Zugang zu dem im Diskurs Gesagten (Busse, 2013, S. 180). Einen Zugang ohne Interpretation, lesen wir zwischen den Zeilen. Nach Busse existieren Bedeutungen, auch ohne ausgesagt worden zu sein, und zwar „im kollektiven Verstehen(svermögen)“ (Busse, 2013, S. 180). Die Frage, die wir jetzt an Busse stellen können, ist natürlich folgende: Ist dieses kollektive Reservoir ein Diskurskonstrukt, ein Diskurs neben anderen, oder der Diskurs? 153 Diskursexterne Subjekte und Objekte, die nicht existieren dürfen, aber der Wissenschaft wegen existieren müssen, übervölkern sonderbarer Weise das diskursive Feld und sind nach unserer Meinung auch ein großes, wenn auch wohl unterschwelliges Thema von Michel Foucault, was aus der kritischen Interpretation Manfred Franks hervorgeht. Für Foucault bedeutet „der Diskurs“ zunächst (in Les mots et les choses) die Ordnung des Wissens im „klassischen Zeitalter“. Diese ist durch das „Repräsentationsmodell“ des Denkens gekennzeichnet, das der „logischen“ Zeichentheorie von Port-Royal entspricht und durch Saussures „Rückkehr“ zur Semiotik des 18. Jahrhunderts zurück ins Leben gerufen worden sei. Das Modell ist auf den Transparenzbegriff gegründet:2 Indem es etwas Anderes bezeichnet, repräsentiert sich das bezeichnende Zeichen selbst; jede Beziehung des Zeichens zu Anderem ist zugleich seine Selbstmanifestierung. Das Zeichen affiziert sozusagen nicht das Bezeichnete, seine Durchsichtigkeit als „vertikales“ Selbstbewusstsein oder Selbstwissen macht das Bezeichnete als solches zugänglich.3 Mit dem Aufkommen der Romantik werde mit der Transparenz und Arbitrarität gebrochen. Foucault verurteilt die „nachklassische“ Verdunkelung des Repräsentationsmodells durch Historisierung oder Materialisierung der Zeichensynthesis, die das transparente Selbstwissen des Zeichens ersetzt durch den geschichtlich determinierten, sich seiner selbst nur intransparent bewussten „Menschen“, die Erfindung dieser Zeit. Durch „den Tod“ des jene Transparenz zerstörenden menschlichen Subjekts, der sich in formalisierten Grammatiken der modernen Sprachwissenschaft anmeldet, die davon abstrahieren, wie die Subjekte mit den Kodes umgehen, wird das Denken Foucault zufolge wieder möglich gemacht. Durch den Tod des unter dem nicht kontrollierbaren Einfluss des „Unbewussten“ Erfahrungen machenden Menschen - welches in sein Wahrnehmen und Verstehen unabtrennbar eintritt -, wird das transparente subjektlose Denken des „âge classique“ erneuert. Nach Frank reduziert Foucault auf diese Weise den „Diskurs“ auf langue: „Foucault will das, wovon das Wissen abhängig sein soll, als kodifiziertes System beschreiben, 2 „En fait le signifiant n´a pour tout contenu, toute fonction et toute détermination que ce qu´il représente: il lui est entièrement ordonné et transparent: mais ce contenu n´est indiqué que dans une représentation qui se donne comme telle, et le signifié se loge sans résidu ni opacité à l’ intérieur de la représentation du signe.“ (Foucault, 1966, S. 78) „Das Bezeichnende hat keinen anderen Gehalt, keine andere Funktion und keine andere Bestimmung als das, was es repräsentiert: dem ist es ganz zugeordnet und für das ist es ganz transparent; dieser Gehalt zeigt sich jedoch nur in derjenigen Repräsentation, die als solche gegeben wird, und das Bezeichnete situiert sich restlos und ohne Undurchsichtigkeit in der Repräsentation des Zeichens.“ (Übersetzung vom Verf., M.R.) 3 MC 79: „Une idée peut être signe d´une autre non seulement parce qu´ entre elles peut s´établir un lien de représentation, mais parce que cette représentation peut toujours se représenter à l´interieur de l´idée qui représente. Ou encore parce que, en son essence propre, la représentation est toujours perpendiculeur à elle-même: elle est à la fois indication et apparaître; rapport à un objet et manifestation de soi.“ (Foucault, 1966, S. 79) „Eine Idee kann Zeichen einer anderen nicht nur darum sein, weil zwischen ihnen ein Repräsentationsband gebildet werden kann, sondern auch darum, weil sich diese Repräsentation immer innerhalb der Idee repräsentieren kann, die repräsentiert [die die Repräsentierende ist]. Oder auch deshalb, weil sich die Repräsentation wesentlich immer senkrecht auf sich selbst richtet. Sie ist zugleich Indikation und Erscheinen, Beziehung zu einem Gegenstand und Selbstmanifestierung.“ (Übersetzung vom Verf., M.R.) 154 dessen Ordnung auf die Durchsichtigkeit gerade dieses Wissens zu überführen ist“ (Frank, 2000, S. 165). Nur als geschlossenes System ist nämlich der Diskurs ein für sich durchsichtiges, selbstrepräsentierendes Denken. Für die Auseinandersetzung von Busse und Teubert hinsichtlich des Gegenstandes und der Methode ihrer linguistischen Epistemologie ist bereits hier ersichtlich, dass Foucault (ebenso wie sein Lehrer Louis Althusser4) die Eigenschaften des Subjekts in das System (oder in die „Ordnung des Wissens“) projiziert. Subjektivität als Eigenschaft des diskursiven Feldes selbst gründet sich auf den Transparenzbegriff. Die Transparenz ist ein anderes Wort für Repräsentation (welche Foucault nach Frank synonym mit „Denken“ benutzt, vgl. Frank, 2000, S. 164). Da langue nur dann transparent sein kann, wenn der Zeichengebrauch nichts Neues bringt, wenn Kodes in ihren Performationen unendlich oft unverändert auftreten können, wenn Performanz bloß ein „Befolgen von Imperativen des Systems“ ist (Frank, 2000, S. 165), ist Foucaults Diskurs- und Subjektbegriff nicht verknüpfbar mit irgendeiner diachronen oder die Parole-Ebene einbeziehenden (linguistischen) Theorie. Foucault ist wie Frank der Auffassung, dass Zeichensysteme nicht stabil und nicht unveränderbar sind. Dieser Tatsache gegenüber ist jedoch Foucault nach Frank „ratlos“ (Frank, 2000, S. 166). Ein Widerhall dieser Ratlosigkeit überträgt sich nach unserer Meinung auf die Diskussion zwischen Dietrich Busse und Wolfgang Teubert. Es kann für Foucault keine Diskurse im Plural geben. Und daran ändert seine spätere Umstellung der Terminologie nichts, wenn Diskurse auf die jeweilige „episteme“ zurückgeführt und auf diese Weise pluralisiert werden. (Die Episteme ist ein unbewusstes historisches Apriori, das die Totalität der Beziehungen konstituiert, die den Wissensformationen je ihre Einheit verleiht). Und wieder wird nichts daran geändert, wenn die episteme noch später de facto ihre letzte Verwandlung in den jede Einheit stiftenden „Willen zur Macht“ erfährt (Foucault, 1971, S. 35-36, vgl. Frank, 2000, S. 181). Aus diesem Grund nannte J.-P. Sartre Foucaults Methode Geologie (statt Archäologie; Sartre, 1968, S. 87): Beschreibbare „Diskurse“ stellen nur eine Pluralität der Totalitäten dar, die miteinander keineswegs zusammenhängen können, und keine Möglichkeit sich zu entwickeln haben. Foucault gelang nach Frank also dasjenige nicht, was die Tatsache der Unstabilität aller Kodes fordert, nämlich das Repräsentationsmodell zu revidieren: „es / das Repräsentationsmodell/absentiert bloß periodisch, um wieder auf einmal zu erscheinen“ (Frank, 2000, S. 166). 4 „[...] la vue est le rapport de réflexion immanent du champ de la problématique sur ses objets et ses problèmes.” (Althusser, 1968 S. 25 ; vgl. Frank, 2000, S. 100); “L´Ordre, c´est [...] ce qui se donne dans les choses comme leur loi intérieure, le réseau secret selon lequel elle se regardent en quelque sorte les unes les autres [...]” (Foucault, 1966, S. 11). 155 Im Anschluss daran stellt Frank diese vorhersehbaren Fragen: Ist Foucaults Archäologie eine definitive Theorie des Nacheinanders von Diskursen oder ein eigener Diskurs? Situiert sie sich außerhalb der westlichen Diskurse, oder ist sie einer neben anderen? Worauf gründet sie ihr Recht, Hermeneutik oder Historismus zu kritisieren (Frank, 2000, 168)? Selbst der Psychoanalyse wirft Foucault vor, das Unbewusste in Repräsentation zu überführen. Das ist ganz im Einklang mit Teuberts Weigerung, das Verstehen zu theoretisieren – eine solche Theorie wäre einfach ein neuer Diskurs und keine „Analyse“ oder „archéologie“. Für Foucault ist aber das Unbewusste als Undurchsichtiges etwas, das das Denken (= Repräsentation) ex definitione unmöglich macht. Tatsächlich wirft Foucault den „Humanwissenschaften“ folgenden Zirkel in der Argumentation vor: Sie respektieren das Unbewusste hinter dem Subjekt (Arbeit, Leben, Rede) und geraten somit in Widerspruch mit dem Paradigma der universalen Selbstrepräsentation des Bewusstseins. Andererseits brauchen sie die Selbstrepräsentation, die immer eine für das Bewusstsein ist, um sich als Wissenschaften etablieren zu können. Und beides ist nach Foucault nicht vereinbar (Foucault, 166, S. 373-6; vgl. Frank, 2000, S. 159-160). Franks Bemerkung dazu ist einfach: Das Determinierende (das Unbewusste, das historisch Transzendentale bei Schlegel oder Herder) der Humanwissenschaften ist diesem Foucaultschen Einwand ganz auf die gleiche Weise ausgesetzt wie Foucaults „Diskurs“ oder episteme selbst (die auch nichts anderes sein kann als ein Historisch-Transzendentales). Foucault greift also in den Humanwissenschaften seine eigene „archéologie“ mit an, indem er sie als unmöglich bezeichnet. Die misslungene Bemühung, das Subjekt zu eliminieren, ist Frank zufolge neben der damit zusammenhängenden Unfähigkeit, das System unabgeschlossen zu denken, der Grund, warum die Entwicklung (und Pluralität) der Diskurse in Foucaults Denken unerklärbar ist: „Hier sehe ich eine grundsätzliche Schwäche der theoretischen Basis, auf der Les mots et les choses beruhen. Einerseits muss Foucault auf der unverfügbaren Diskontinuität der Epochen beharren, weil die Alternative Kontinuität wäre, d.h. Überdauern des Einen, das in allen Umwandlungen identisch bleibt. Dieses Einzige wäre letztlich als Subjekt zu denken. Ein Subjekt der Geschichte in Erwägung zu ziehen bedeutet aber die Konzeption - die ursprüngliche fundamentale Idee - der Archäologie zu verraten. Foucault gerät auf diese Weise in einen Widerspruch: Er muss scharf die moderne, d.h. nachklassische Episteme ablehnen, aber diese Ablehnung muss er mit den Mitteln des Repräsentationsmodells führen, dessen innere Folge [...] (unbewusst oder unabsichtlich) das Modell des sich selbst 156 reflektierenden Subjekts der Vorstellungen (représentations) ist.“5 (Frank, 2000, S. 139, meine Übersetzung). Wir vertreten hier die Ansicht, dass sich Teuberts Annahme einer denkbaren Unterscheidung zwischen „Analyse“ und „Interpretation“ auf das Foucaultsche Repräsentationsmodell gründet. Nur dank diesem ist es sinnvoll zu behaupten, dass eine Analyse keine Herstellung eines neuen Diskurses über einen (Objekt-)Diskurs ist. Nach Frank, wie wir sahen, lässt aber dieses (Subjekt- und Zeichen-)Modell keine Erklärung für den Diskurs- oder Sprachwandel zu. Darüber hinaus sollte von Teubert noch geklärt werden, ob der „virtuelle“ Charakter des Diskurses einerseits und das Repräsentationsmodell mit dem von ihm eingeführten Analysebegriff andererseits kompatibel sind. Was bedeutet das Virtuelle bei Busse und Teubert? Ist es als solches zu „analysieren“, oder wird der zu analysierende Diskurs erst durch einen Akt der „Interpretation“ oder der „Analyse“ zusammengestellt? Kann etwas Virtuelles determinierend wirken und Diskurskonstrukte herstellen? Ist die Zusammenstellung ein Aktualisierungsprozess, der das „Virtuelle“ (= Potentielle) wirklich macht? Nach Frank kann Virtuelles (alle Systemregeln) nur mit einer irreduziblen und jeden Diskurs durch ihre Spontaneität überschreitenden Subjektivität korreliert werden. Beide Prinzipien treten in seiner Zeichentheorie auf. In Foucaults „klassischem“ Zeichen gibt es nichts, was dem Gedanken einen Widerstand entgegensetzen würde, der sich durch das Zeichen repräsentiert. Voraussetzung dafür ist eine zeitlose Ordnung. Dagegen ist diejenige Zeichensynthesis aus Signifikat und Signifikant, die durch Zeit vermittelt wird, im strengen Sinn keine Repräsentation, da sie einfache Präsenz ausschließt (Frank, 2000, S. 130). „Denn re-präsentieren bedeutet: die vorangehende Präsenz wieder im Zeichen anwesend machen. Ist jedoch der im Zeichen repräsentierte Gegenstand ein Faktum der geschichtlichen Welt, dann trägt auch das Zeichen einen Zeitindex, d.h. es zeigt in sich selbst an, dass spätere Generationen die semiologische Synthesis, die in ihm realisiert ist, wohl anders verwirklichen werden“ (Frank, 2000, S. 130).6 5 „Zde vidím zásadní slabinu teoretického základu, na kterém spočívají Les mots et les choses. Na jedné straně musí Foucault trvat na nevypočitatelné diskontinuitě epoch, protože alternativou by byla kontinuita, tj. přetrvávání jediného, jež ve všech proměnách v zásadě zůstává totožné. V posledním důsledku by toto jediné bylo nutno myslet jako subjekt. Ale uvažovat o nějakém subjektu dějin znamená zrazovat koncepci – původní fundamentální ideu – archeologie. Foucault se tak dostává do rozporu: musí ostře odmítnout moderní, tj. poklasickou epistémé, avšak toto odmítnutí musí vést prostředky reprezentačního modelu, jehož vnitřním důsledkem [...] je (nevědomky či nezamýšleně) model sebe sama reflektujícího subjektu představ (répresentations); [...].“ 6 „Neboť re-prezentovat znamená: znovu zpřítomňovat předchůdnou přítomnost ve znaku. Je-li však předmět reprezentovaný znakem faktum dějinného světa, pak i znak nese index časovosti, tj. sám v sobě poukazuje na to, že sémiologickou syntézu, jež je v něm realizována, budou pozdější generace uskutečňovat možná i jinak.“ (Meine Übersetzung.) 157 Die Zeitlichkeit ist jedoch hinsichtlich dieser ihrer Konsequenz, jede prästabilierte Zuordnung von Signifikat und Signifikant zu vereiteln, ohne „Virtualität“ undenkbar. Jede Konvention (Regel) ist nach Frank „bloß virtuell“ (Frank, 2000, S. 390), und das wirkliche Sprechen setze sie immer außer Kraft. Damit will Frank vor allem ausdrücken, dass die Regel nicht auf die gleiche Weise wirkt wie eine natürliche Ursache, also determinierend. Im Anschluss an Derrida erklärt er, dass die Ko-Präsenz von Sender und Empfänger sowie die Synchronie zwischen concept und image acoustique unmöglich ist. „Und sobald der Sinn des Zeichens durch die Lücke der Iteration hindurchgegangen ist, wer ist imstande zu beweisen, dass er jetzt in der gleichen Synthese mit der Substanz ist wie zuvor?“, fragt Frank mit Derrida (meine Übersetzung: Frank, 2000, S. 400). Von Peirce übernimmt Frank nun den Gedanken, dass jedes Urteil, das die Wiederholung eines Zeichens / Ereignisses als die Wiederholung des Gleichen auslegt, ein erweiterndes Urteil sei (Frank, 2000, S. 424). Dies ist nicht deduktiv, da es an einem Prinzip mangelt, aus dem die Einheit der durch das Urteil vereinigten Elemente herzuleiten wäre. Dieses Prinzip ist nur vorläufig, hypothetisch anzunehmen (als etwas, was nicht durch ein besser begründetes Urteil zu ersetzen ist, vgl. z.B. Frank, 1986, S. 101). Keine Regel kann also nach Frank die Identität der Bedeutung des Zeichens gewährleisten, sie sei nur hypothetisch feststellbar, und der Agens dieser Annahme sei eine individuelle und freie Subjektivität. Hinter dem Sprachwandel steht deshalb in erster Linie der virtuelle Charakter der Regel, also ihre Eigenschaft, erst durch eine sie als Regel auslegende Kraft wirksam zu werden. In der Spontaneität und Unkontrollierbarkeit dieser Kraft, die der Nichtgebundenheit der Regel an Kausalität entspricht, gründet der nicht vorhersagbare Sprachwandel (Frank, 2000, S. 392; Frank, 1986, S. 120). Da das Verstehen nach Frank synthetisch und spontan „verfährt“, lässt sich daraus ableiten I.), dass eine „Analyse“ durch den Diskursanalytiker undenkbar ist (es sei denn, er analysiert ex post eigene Synthesen, also keinen transsubjektiven „Diskurs“), und II.), dass Subjektivität kein Diskurskonstrukt sein kann. Die entgegengesetzten Annahmen der Diskursanalytiker hängen Frank zufolge direkt mit dem fehlerhaften Diskursordnungsmodell Foucaults zusammen, das als zeitloses und geschlossenes System vorgestellt wird. Für wichtig halten wir, dass Franks Schlichtung der Widersprüche der Diskursanalyse aus deren Immanenz heraus entwickelt wird. Franks negierende Kritik hat den Charakter eines Nachweises der Präsenz des Verdrängten (oder des „Ausgeschlossenen“): Die konstitutiven Faktoren der Diskursanalyse werden benannt, und eine hermeneutische Theorie ist das Ergebnis. Aus der Korrektheit seiner Kritik ergibt sich jedoch nicht, dass auch seine Grundannahmen, die er möglicherweise mit den meisten Neostrukturalisten und Hermeneutikern teilt, sachgemäß sind. Es lässt 158 sich z.B. das Zeichen nicht allgemein als Gegenstand der Interpretation begreifen, was nach unserer Meinung am besten aus Franks neuerem Artikel (Frank, 2001) hervorgeht, ohne aber vom Autor mit genügender Konsequenz reflektiert zu werden. Das ist aber ein Thema, das größeren Raum fordert. Schließen wir lieber mit einem Zitat, das aus Franks Unhintergehbarkeit stammt und das die ethische Bedenklichkeit der Diskursanalyse noch einmal unterstreicht. Sollte die Wissenschaft nach Foucault, Teubert und Busse emanzipatorisch wirken: Sind es dann Subjekte als Diskurskonstrukte, die emanzipiert werden können? „Dass die Produktivkraft der menschlichen Individualität unter dem Zwang verschmachtet, sich nur als „Fall“ geltend zu machen, der unter einer Regel begriffen ist, ist gerade nicht der Gesichtspunkt der jüngsten Modernismuskritik. Aus der Einsicht, dass die Individualitätsvergessenheit der exakten Wissenschaften und der sie ins Werk setzenden Technik dem idealistischen Subjektivismus nur in letzter Konsequenz die Treue hält, begründet sie einen Theoretischen ‚Antihumanismus‘. Damit scheint die äußerste Spirale der Entfremdung erreicht. Statt unter dem Korsett einer totalitär gewordenen „Rationalität“ ein gequältes und verstummtes Subjekt zu gewahren, gibt sie es endgültig auf “ (Frank, 1986, S. 19). Abstract The discourse analysis based on Foucault asserts itself in the linguistic circles in Germany only with difficulties, that were ascribed by the very exponents Dietrich Busse and Wolfgang Teubert to the prejudices of the rationalistic and subjectoriented mainstream. Now, after some time, as these main protagonists of the linguistic adaptation of the thoughts of the French philosopher find themselves in a sharp mutual controversy in regard to the principles of their own historical semantics, it comes out that their contemporary dissensions are to be traced back to some contradictions in Foucault´s discourse and subject theory itself. These contradictions have been analyzed by Manfred Frank with the conclusion that they are to be resolved only by a hermeneutic language theory consisting in the principle of irreducible individual subjectivity. The study, for one thing, recapitulates these conclusions and, for another, shows that the peripheral branch of the discourse analysis presented by Busse and Teubert deserves more attention because it does not hedge while facing up to the central questions of linguistics as well as the human sciences. 159 Keywords discourse analysis according to Foucault, hermeneutics, theory of meaning, Manfred Frank, Wolfgang Teubert Literaturverzeichnis Althusser, Louis (1968). Lire le Capital. Bd. I. Paris: Maspero. Busse, Dietrich / Teubert, Wolfgang (Hg.) (2013). Linguistische Diskursanalyse: Neue Perspektiven. Wiesbaden: Springer VS. Busse, Dietrich (2013). Diskurs – Sprache – Gesellschaftliches Wissen. Perspektiven einer Diskursanalyse nach Foucault im Rahmen einer Linguistischen Epistemologie. In: Busse, Dietrich / Teubert, Wolfgang (Hg.). Linguistische Diskursanalyse: Neue Perspektiven. Wiesbaden: Springer VS, S. 147-185. Foucault, Michel (1966). Les mots et les choses. Paris: Gallimard. 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Es wird vor allem die Frage verfolgt, mit welchen sprachlichen Mitteln der Diskurs im Aussiger Anzeiger geführt wurde, und auf welche Art und Weise somit dieses Periodikum die Meinungen und daher schließlich auch Handlungen seiner Leser zu beeinflussen suchte. Der Diskurs um die Besetzung des Landesschulrates ist ein Teildiskurs des Diskurses um die Wiener Punktationen, wobei Letzterer wiederum einen Teildiskurs des nationalpolitischen Diskurses in den böhmischen Ländern des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts darstellt. Schlüsselwörter Diskursanalyse, böhmischer Landesschulrat, Aussiger Anzeiger, nationalpolitischer Diskurs, böhmische Länder 1. Einleitung Im Jahre 1828 bemerkte der im südmährischen Poppitz [Popice] geborene Schriftsteller Charles Sealsfield1 mit Verachtung, dass „[d]ie einzige Zeitung [in Österreich], welche diesen Namen überhaupt verdient, […] der von Herrn von Pilat, dem Privatsekretär Metternichs, redigierte ‚Österreichische Beobachter‘ [ist]“ (Sealsfield, 1919, S. 193). Bereits zwanzig Jahre später jedoch, im Revolutionsjahr 1848, avancierte das Medium Zeitung zu einem Massenmedium, das ein immer breiteres Lesepublikum zu erreichen vermochte, und daher auch die Meinungen, Einstellungen und somit schließlich Handlungen von immer mehr Menschen beeinflussen konnte. Seit der Erscheinung der ersten gedruckten Zeitung 1 1793-1864. 161 in Straßburg vergingen also 243 Jahre, bevor dieses Medium breitere Beachtung fand.2 Der große Aufschwung, den die Zeitung 1848 erlebte, wurde zwar in den nachfolgenden Jahrzehnten noch durch verschiedene Hindernisse eingedämmt,3 aber dennoch gediehen Zeitungen insofern, als dass sie ihre Erscheinungsfrequenz4 und / oder Auflage erhöhten, oder dass es zu neuen Zeitungsgründungen kam. Je höher dabei die Auflage einer Zeitung ist, desto mehr Menschen können von den meinungssteuernden und somit handlungssteuernden Strategien dieser Zeitung erreicht werden. Die Zeitung wurde nach 1848 zu einem Massenmedium im wahrsten Sinne des Wortes, und sie spielte die Rolle des dominanten Massenmediums bis tief ins 20. Jahrhundert hinein, da der Rundfunk wegen des finanziellen Aufwands nur langsam Fuß fasste.5 Hand in Hand mit der immer größeren Verbreitung der Zeitung geht ihr Potenzial zur Einflussnahme auf eine breitere Öffentlichkeit. Dieses Potenzial scheint nach 1848 umso größer gewesen zu sein, je mehr Zeitungen auch in kleineren Städten außerhalb der Metropolen ins Leben gerufen wurden. Regionale Zeitungen dürften für die Bevölkerung der Peripherie6 zum einen besser zugänglich, zum anderen attraktiver gewesen sein, da sie nicht zuletzt stärker deren Interessen berücksichtigten, spezifische regionale Themen zur Sprache brachten sowie Ratschläge oder Ankündigungen im Bereich der Landwirtschaft veröffentlichten. Überdies rezipierten regionale Zeitungen auch Konkurrenzblätter aus der Metropole und aus benachbarten Regionen und gaben ausgewählte, diesen Konkurrenzzeitungen entnommene Inhalte wieder. Die immer größere Verbreitung von Zeitungen in der Peripherie und deren damit einhergehender potenzieller Einfluss auf das Lesepublikum soll im Folgenden am Diskurs um die Wiener Punktationen von 1890 exemplifiziert werden, wie er in der nordböhmischen Zeitung Aussiger Anzeiger zutage trat. 2. Diskursiver Kontext und Textkorpus Nachdem 1859 die Ära des sogenannten Bachschen Absolutismus7 vorüber war, das Oktoberdiplom von 1860 jedoch an der bisherigen zentralistischen Beschaffenheit der Habsburgermonarchie nur wenig änderte, zeigten sich 2 Die erste gedruckte Zeitung erschien 1605 (Nagel, 2008, S. 19 u. 23). 3 Eine Belastung stellte etwa der Zeitungsstempel dar, eine Art Steuer, die aber zugleich ein Mittel der Kontrolle und Beaufsichtigung war und in Österreich von 1798 bis zum 27. 12. 1899 gültig war (im Deutschen Reich wurde der Zeitungsstempel schon 1874 aufgehoben). Durch das Pressegesetz von 1862 wurde weder die Kautions- und die Stempelpflicht, noch die Inseratensteuer abgeschafft (vgl. Zenker, 1900, S. 62). 4 z.B. wurde aus einem Wochenblatt eine zweimal wöchentlich erscheinende Zeitung. 5 Der Rundfunk verbreitete sich ab den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts. z.B. wurde in der südmährischen Stadt Znaim [Znojmo] die erste Konzession für das Radio im Sommer 1924 erteilt (vgl. Vrbka, 1927, S. 538). 6 Hier im Sinne von ‚Grenzregionen‘, d.h. ‚Randgebiete eines Landes, die sich näher zur Grenze zu dem Nachbarland befinden, als zu der Hauptstadt bzw. Landeshauptstadt‘ 7 Die Bezeichnung geht auf Alexander Freiherr von Bach zurück, der von 1849 bis 1859 österreichischer Innenminister war. 162 einige um nationale Gleichberechtigung bemühte tschechische Politiker enttäuscht. František Ladislav Rieger hatte bereits im Juni 1860 „zur Begründung seines Gesuchs um die Bewilligung einer politischen Zeitung“ (Křen, 1996, S. 119) ein politisches Programm formuliert, in welchem er insbesondere die Förderung der tschechischen Sprache betont hatte sowie einige Selbstverwaltungskompetenzen im Rahmen des Habsburgerreichs und die Gleichberechtigung der deutschen und tschechischen Nation (Hoensch, 1997, S. 351ff.). Die Zeitung, die die Durchsetzung dieser Forderungen unterstützen sollte, trug den Titel Národní listy [Nationalblätter]8 und sollte laut Rieger der „Förderung der politischen und allgemeinen Bildung“ des tschechischen Volkes dienen, „damit es aus eigener Kraft im Verein der österreichischen Völker zu innerer konstitutioneller Selbständigkeit gelange“ (Hoensch, 1997, S. 354). Rieger kritisierte zwar die „germanisierenden Tendenzen des Zentralismus“, hob jedoch explizit die „Notwendigkeit der deutschen Sprache für die Monarchie“ (Křen, 1996, S. 120) hervor und sah, ähnlich wie František Palacký, die Zukunft des tschechischen Volkes innerhalb des Habsburgerreiches. Die Forderung nach einer „inneren konstitutionellen Selbständigkeit“ (Hoensch, 1997, S. 354) zog nach sich die Forderung vieler tschechischer Politiker nach „eine[r] trialistische[n] Aufteilung der Gesamtmonarchie“ (Opitz, 1983, S. 35). Die dualistische Aufteilung von 1867 stieß bei ihnen deshalb auf Kritik und wurde zum Ausgangspunkt für die Bemühungen um einen böhmischen Ausgleich und eine Neuordnung der staatsrechtlichen Stellung der böhmischen Länder. Die nachfolgenden Jahrzehnte standen daher im Zeichen von Ausgleichsverhandlungen. Überraschenderweise haben die tschechischen Politiker aber bereits in den Fundamentalartikeln von 1871 auf den Trialismus verzichtet und den zuvor kritisierten Dualismus sowie die Dezemberverfassung vom 21. 12. 1867 akzeptiert (vgl. Křen, 2007, S. 95ff.). Das Scheitern der Fundamentalartikel und vor allem die Tatsache, dass der Kaiser am 30. Oktober 1871 sein Versprechen, sich zum böhmischen König krönen zu lassen, zurücknahm, empfanden die Tschechen als eine besonders schmerzliche Enttäuschung (vgl. Křen, 2007, S. 107). Ihre Erbitterung ließ sie alle weiteren Kompromissvorschläge zurückweisen (vgl. Křen, 1996, S. 154). Eine Gelegenheit zu einem „staatsrechtlichen österreichisch-tschechischen Ausgleich“ (Křen, 2007, S. 107) hat sich aber nie wieder gefunden; in späteren Verhandlungen ging es höchstens um Versuche eines „tschechisch-deutschen nationalen Ausgleich[s] in den böhmischen Ländern“ (Křen, 2007, S. 108), so auch in den sogenannten Wiener Punktationen. Dieser Ausgleichsversuch fiel in den Anfang der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts: Die Gespräche begannen offiziell am 4. Januar 1890, und schon innerhalb von 15 Tagen fand man einen Konsens in Bezug auf 11 Punkte: Es sollten unter anderem „gesonderte[.] Sektionen im Landeskulturrat und Landesschulrat“ 8 Ins Deutsche wurde der Zeitungstitel auch als „Nationalblatt“ übersetzt (vgl. Hall, 2008, S. 55). Die erste Nummer der Národní listy erschien zu Beginn des Jahres 1861. 163 geschaffen werden, man verpflichtete sich zum „Aufbau von Minderheitenschulen bei mehr als 40 andersnationalen Kindern“ sowie etwa zu einer „Neugliederung der Gerichtssprengel unter nationalen Gesichtspunkten“ (Hoensch, 1997, S. 374). Da sich jedoch der Meinungsaustausch im Landtag „wegen der jungtschechischen Opposition“ (Hoensch, 1997, S. 374) in die Länge zog, wurde schließlich kein Ausgleich erzielt, sondern die Verhandlungen wurden am 1. 4. 1892 „für gescheitert erklärt“ (Hoensch, 1997, S. 375). Die Brisanz dieses Themas machte es im Aussiger Anzeiger zu Problem Nummer eins, das immer wieder reflektiert und kommentiert wurde. Der Aussiger Anzeiger war lediglich eines der zahlreichen Periodika, die in den böhmischen Ländern – sei es in den Landeshauptstädten oder in anderen Regionen, inklusive der Grenzregionen – die Meinungen ihrer Leser zu beeinflussen suchten. Im Jahre 1890 war er dabei die einzige Zeitung, die in der nordböhmischen Stadt Aussig [Ústí nad Labem] erschien; Konkurrenzzeitungen in deutscher oder tschechischer Sprache gab es in den umliegenden Städten Nordböhmens, nicht aber in Aussig selbst. Im Folgenden soll nun der Diskurs um die Besetzung des Landesschulrates skizziert werden, die in Anlehnung an die Wiener Punktationen erfolgen sollte. Dabei soll anhand einer Analyse sprachlicher Mittel, mit welchen der Diskurs geführt wurde, aufgezeigt werden, welche Position der Aussiger Anzeiger vertrat und seinem Lesepublikum zu vermitteln suchte. Der Diskurs um die Besetzung des Landesschulrates ist ein Teildiskurs des Diskurses um die Wiener Punktationen, wobei Letzterer wiederum einen Teildiskurs des nationalpolitischen Diskurses in den böhmischen Ländern des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts darstellt. Das Textkorpus umfasst alle Texte, die im Juli 1890 in der damals zweimal wöchentlich9 erscheinenden Zeitung Aussiger Anzeiger10 veröffentlicht wurden und entweder direkt die Besetzung des Landesschulrates thematisieren oder andere auf die Wiener Punktationen und das deutsch-tschechische Zusammenleben bezogenen Ereignisse reflektieren. 3. Die „Heinrichiade“11 Diese auf die Wahl des Politikers Josef Heinrich12 zum deutschen Vertreter im 9 Mittwochs und samstags. 10 Gegründet 1857; die erste Nummer kam am 18. 8. 1857 heraus. 11 Die Bezeichnung entstammt dem folgenden Artikel: N. N.: Die Folgen der „Heinrichiade.“ In: Aussiger Anzeiger, 23. 7. 1890. 12 Geb. 1837 in Nieder-Georgenthal [Dolní Jiřetín] – gest. 1908 in Oberkrč [Horní Krč]. Zunächst als Lehrer tätig, gründete 1864 in Prag den ersten Kindergarten im Sinne des Reformpädagogen und Begründers des Kindergartens, Friedrich Wilhelm August Fröbel. Diesem Kindergarten schloss er später eine deutsche Knaben- und Mädchenschule an, die er bis 1884 leitete; 1884 löste er sie auf (vgl. URL 1). Über Heinrichs politische Karriere informiert das Österreichische Biographische Lexikon und Biographische Dokumentation (vgl. URL 1) folgendermaßen: „1873 Reichsratsabg., bald darauf Landtagsabg. Im Reichsrat stets in Opposition zum Min. Auersperg, gehörte er 1873-79 dem Fortschrittsklub an. 1879 zog er sich aus dem polit. Leben zurück, bis zur Gründung der Wirtschaftspartei in Böhmen, als deren Kandidat er 1885 neuerlich in den Reichsrat gewählt wurde, wo er sich in allen nationalen Schulfragen den Tschechen anschloß. 1890 kam er, zum Mißfallen der dt. Bevölkerung, in den Landesschulrat.“ 164 Landesschulrat bezogene Bezeichnung erschien auf den Seiten des Aussiger Anzeigers erst rund zwei Wochen, nachdem die Redaktion ihr Lesepublikum mit der Nachricht von Heinrichs Kandidatur für den Landesschulrat vertraut gemacht hatte. Der ironisch-kritische Ausdruck Heinrichiade signalisiert Abstand, zusätzlich zu seiner pejorativen Konnotation scheint ihm aber ebenfalls eine ironischspielerische Bedeutungskomponente inhärent zu sein. Der Ausdruck steht daher in diesem Beitrag als Überschrift desjenigen Kapitels, in welchem der Diskurs um die Besetzung des Landesschulrates und insbesondere um die Kandidatur Josef Heinrichs skizziert wird, weil sich im Aussiger Anzeiger der Diskurs um die Besetzung des Landesschulrates fast ausschließlich gerade auf die Persönlichkeit Heinrichs und seine Kandidatur beschränkt; andere Umstände werden kaum berührt. Der tschechische Kandidat etwa wird in der Zeitung lediglich mit wenigen Worten erwähnt: [...] Alt- und Jungtschechen waren auch hierüber [über „die Kandidatenfrage“] bald einig. Zuerst wurde der von den Alttschechen vorgeschlagene tschechische Vertreter Dr. Mestecky über Einspruch der Jungtschechen fallen gelassen – weil er einmal im Landtage den Minister Gautsch gelobt, und als tschechischer Kandidat der Advokat Dr. Srb nominirt. Als deutschen Vertreter brachte Bürgermeister Dr. Scholz – den bekannten Reichsratsabgeordneten Heinrich in Vorschlag und der Uebermut der Herren war so groß, daß sogar die Jungtschechen nicht säumten, diesem Deutschen ihre Stimmen zu geben, so daß Herr Heinrich mit allen gegen zwei Stimmen als deutscher Kandidat aufgestellt wurde.13 Diese Entscheidung sei „eine Provokazion der Deutschen“14 gewesen, wobei der Aussiger Anzeiger vermutet, dass sich dessen auch die Prager Stadtverordneten bewusst waren. In derselben Nummer wird in Bezug auf eine „Meldung des ‚Prager Tagblatt‘“ betreffs „Aenderung der allgemeinen Landtags-Wahlordnung“ konstatiert, dass „[d]er richtige Geist des Ausgleiches, der die Deutschen eher gewinnen als ihnen wo möglich etwas abzwacken möchte, [...] die Prager Stadtverordneten jedenfalls noch nicht überschattet [hat].“15 Der Ausgleich – die sogenannten Wiener Punktationen – wurden also von der Redaktion des Aussiger Anzeigers befürwortet, da sie als vorteilhaft für die Deutschen erachtet wurden, und das Handeln der politischen Vertreter der Tschechen, die weniger Begeisterung für den Ausgleich bekundeten, 13 N. N.: Tschechische Herausforderung. In: Aussiger Anzeiger, 9. 7. 1890. 14 N. N.: Tschechische Herausforderung. In: Aussiger Anzeiger, 9. 7. 1890. 15 N. N.: Zum „Ausgleich“ in Böhmen. In: Aussiger Anzeiger, 9. 7. 1890. 165 wurde kritisch dargestellt.16 Aus dieser diskursiven Position heraus kommentierte der Aussiger Anzeiger das Geschehen rund um die Schaffung und Besetzung der gesonderten Sektionen im Landesschulrat, welche in Anlehnung an die Wiener Punktationen unternommen werden sollten. Bereits der ironisch-kritische Titel des Leitartikels vom 9. Juli 1890 verrät, dass die Entscheidung der Prager Stadtverordneten mit großer Anteilnahme und somit auch Emotionen verfolgt und präsentiert wurde: Mit dem Titel „Der Fibel-Heinrich als Muster-Deutscher“ spielte der Aussiger Anzeiger auf die Lesebücher (Fibeln) an, die Heinrich verfasst hatte und die an den Schulen der Habsburgermonarchie bis ins 20. Jahrhundert hinein verwendet wurden.17 Die ironische Bezeichnung Fibel-Heinrich fand im Aussiger Anzeiger in dem Diskurs um die Besetzung des Landesschulrates auch später wiederholt Verwendung, z. T. mit uneinheitlicher Schreibweise: Fibelheinrich oder FibelHeinrich. In den folgenden Teilkapiteln werden diejenigen Artikel erörtert und zitiert, die den Diskurs um die Besetzung des Landesschulrates besonders treffend repräsentieren und daher zum detaillierteren Verständnis der diskursiven Position des Aussiger Anzeigers beitragen können. 3.1. „Der Fibel-Heinrich als Muster-Deutscher“18 Der Leitartikel eröffnet mit den Worten: „Der tschechische Stadtrat von Prag hat stets gewußt, sich als Stadtrat des ‚goldenen slavischen Prag‘ zu fühlen.“19 Dass dem Attribut goldene[s] slavische[s] [Prag] kritische Ironie zugrunde liegt, die den vermeintlich slawischen Charakter Prags in Frage stellt, könnten zum einen die Anführungszeichen signalisieren,20 zum anderen wird das aus dem nachfolgenden Satz ersichtlich: „Er [der tschechische Stadtrat von Prag] thut, als ob in Prag nicht auch 40.000 Deutsche wohnen würden, die den größten Theil der Steuern tragen.“21 Die Zeitung postuliert somit erstens, dass in Prag eine erhebliche Anzahl Deutscher lebte und die Stadt daher zumindest als eine binationale wahrgenommen werden sollte. Unklar bleibt dabei, ob das Substantiv Deutsche auf Menschen verweist, deren Mutter- und / oder Umgangssprache22 Deutsch 16 Kritisiert wurde in erster Linie das Vorgehen der jungtschechischen Politiker; da sich jedoch laut Aussiger Anzeiger zunehmend gezeigt habe, dass „sich die Alttschechen bei jeder Gelegenheit von den Jungtschechen ins Schlepptau nehmen lassen“ (N. N.: Zum „Ausgleich“ in Böhmen. In: Aussiger Anzeiger, 9. 7. 1890), wurde immer häufiger auch das Vorgehen der Alttschechen kritisch quittiert. 17 Z.B. Jos. Heinrich’s Schreib-Lese-Fibel, herausgegeben 1869 vom Deutschen pädagogischen Verein in Prag. Heinrichs Lese- und Lehrbücher für den Sprachunterricht erfuhren auch nach seinem Tode Neuauflagen (z.B. im Falle von Jos. Heinrichs Schreib-Lese-Fibel für die österreichischen allgemeinen Volksschulen von 1904 handelte es sich bereits um die „50., nach der neuen Rechtschreibung umgearbeitete Auflage“). 18 N. N.: Der Fibel-Heinrich als Muster-Deutscher. In: Aussiger Anzeiger, 9. 7. 1890. 19 N. N.: Der Fibel-Heinrich als Muster-Deutscher. In: Aussiger Anzeiger, 9. 7. 1890. Die bibliographischen Angaben bei Zitaten aus Zeitungen erfolgen der Übersichtlichkeit halber nicht als Kurzbelege im Text, sondern als vollständige Angaben in den Fußnoten. 20 Die Anführungszeichen könnten jedoch auch lediglich deshalb eingefügt worden sein, weil der Ausdruck möglicherweise der Zeitung Fremdenblatt entnommen wurde (vgl. N. N.: Tschechische Herausforderung. In: Aussiger Anzeiger, 9. 7. 1890). 21 N. N.: Der Fibel-Heinrich als Muster-Deutscher. In: Aussiger Anzeiger, 9. 7. 1890. 22 ‚Die Sprache des alltäglichen, gewöhnlichen Umgangs.‘ 166 war, oder aber auf solche, die sich zusätzlich zum Gebrauch der deutschen Sprache auch als ‚Angehörige der deutschen Nationalität‘ identifizierten. Sollte die Bezeichnung Deutsche im letztgenannten Sinne verwendet worden sein, so muss beachtet werden, dass bei der Volkszählung nur die Umgangssprache erhoben wurde,23 nicht aber die Nationalität (also nationale Selbstidentifizierung). Ob ein Gleichheitszeichen zwischen Umgangssprache und Nationalität gesetzt werden kann, ist dabei fraglich, zumal die Volkszählung in den böhmischen Ländern Ende des 19. Jahrhunderts von massiver nationalistischer Propaganda in deutschsowie in tschechischsprachigen Zeitungen begleitet wurde. Diese Propaganda hatte zum Ziel, möglichst viele Menschen dazu zu bewegen, sich bei der Volkszählung zu der vom jeweiligen Produzenten gewünschten Umgangssprache zu bekennen, damit die jeweilige Sprachgruppe bzw. nationale Gruppe als die zahlenmäßig größere erscheint.24 Die Angaben zur nationalen Zusammensetzung der Bevölkerung in den böhmischen Ländern sind daher zwangsläufig unzuverlässig. Zweitens wird mit der oben zitierten Aussage die Überzeugung zum Ausdruck gebracht, die Gelder zur Finanzierung diverser Einrichtungen würden in erster Linie von deutschen Steuerzahlern stammen, nicht von tschechischen. Dieses Argument verdient aus dem Grunde Erwähnung, weil es in der böhmischen sowie mährischen Presse nicht vereinzelt erscheint: Das deutschliberale Znaimer Sonntagsblatt aus der südmährischen Stadt Znaim [Znojmo] etwa formulierte 1902, also zwölf Jahre später, die Überzeugung, dass die Steuern „zum weitaus größeren Teile von den steuerkräftigeren Deutschen aufgebracht werden“.25 Demgegenüber war die tschechischsprachige Zeitung Jihlavské listy [Iglauer Blätter] bereits 1896 der Meinung, dass es die Tschechen waren, die höhere Steuern als die Deutschen zahlten.26 Dem Aussiger Anzeiger zufolge würden außerdem „mit den deutschen Steuergeldern tschechischnazionale Instituzionen so freigebig unterstützt [...], als hätte die ‚slavische Stadt Prag‘ so viel Baarvermögen, als sie Schulden hat.“27 Ein weiterer Streitpunkt, der sodann genannt wird, sind „[d]ie Prager deutschen Schulen“. Diese seien „die Stiefkinder der Stadt, was geschehen kann, um sie zu Grunde zu richten, das geschieht.“28 Dieses „grausamen Spieles“ sei es noch nicht genug, und auf die skizzierten „Leiden der Deutschen“ hätten die Tschechen „auch noch Spott und Hohn [ge]häuf[t]“, indem sie zur Wahl in den Landesschulrat 23 Zum ersten Mal bei der Volkszählung von 1880 (vgl. Teibenbacher et. al. in URL 2). 24 Beispielsweise tritt dies am Diskurs zur Volkszählung von 1890 im Aussiger Anzeiger und in der tschechischsprachigen Zeitung Česká stráž sehr deutlich zutage. Menschen, die sowohl in deutscher als auch in tschechischer Sprache Umgang pflegten und sich bei der Volkszählung vom 31. Dezember 1890 zur Umgangssprache des „nationalen Gegners“ bekannten, wurden von nationalistisch gesinnten Redakteuren auf den Zeitungsseiten harsch kritisiert, und in einigen Fällen wurden sogar Maßnahmen eines wirtschaftlichen Boykotts in die Wege geleitet. Vgl. z.B. N. N.: Episteln eines Volkszählungs-Kommissärs II. In: Aussiger Anzeiger, 10. 1. 1891, N. N.: Echte tschechische „Patrioten“ in unserem Bezirke. In: Aussiger Anzeiger, 14. 1. 1891, N. N.: Von der Trebnitzer Sprachgrenze. In: Aussiger Anzeiger, 17. 1. 1891 u. a. m. 25 N. N.: Tschechisierungsgefahr auf wirtschaftlichem Gebiete. In: Znaimer Sonntagsblatt, 30. 11. 1902. 26 Vgl. z.B. N. N.: Jihlaváci chtějí německou universitu! In: Jihlavské listy, 11. 1. 1896. 27 N. N.: Der Fibel-Heinrich als Muster-Deutscher. In: Aussiger Anzeiger, 9. 7. 1890. 28 N. N.: Der Fibel-Heinrich als Muster-Deutscher. In: Aussiger Anzeiger, 9. 7. 1890. 167 als deutschen Vertreter Josef Heinrich entsendeten. Die „ehrsamen Stadtväter, Alt- und Jungtschechen“ hätten „in gewohnter ‚Objektivität‘ beschlossen [...] für die am Mittwoch stattfindende Wahl als deutschen Vertreter den bekannten Abgeord. Josef Heinrich – den Fibelheinrich zu entsenden.“29 Die Einschätzung des Aussiger Anzeigers zu dieser Entscheidung wird im nächsten Satz wie folgt spezifiziert: Es liegt in diesem Beschluße eine solche Unverfrorenheit, eine derartige Herausforderung, ein derartiger empörender Mißbrauch der Majorität, der einem Deutschen, der doch für politischen Anstand noch Sinn hat, die Sprache versagt. Wer kennt nicht den Namen Josef Heinrich, bei dessen Nennung jeder echte, nazionalfühlende Deutsche sich mit Verachtung abwendet.30 Die Häufung von Satzgliedern in dem ersten Satz, welche aus negativ konnotierten Ausdrücken besteht und einer Klimax nahe kommt (wobei aber der progressive Charakter dieser Aufzählung diskutabel ist), signalisiert intensive Emotionen. Die Erklärung, warum sich von Josef Heinrich „jeder echte, nazionalfühlende Deutsche [...] mit Verachtung abwende[n]“ müsste, gestaltet sich nicht minder kritisch, diesmal aber, im Gegensatz zu den zuletzt zitierten Zeilen, mit Ironie: Heinrich habe „sich seinerzeit der ‚jungdeutschen‘ Partei, also der nazionalen Richtung angeschlossen“, dann aber „plötzlich tschechische Bruderschmerzen“ bekommen und sich zugunsten „d[er] armen Tschechen“ engagiert. „Die Entdeckung seines tschechischen Herzens kostete ihm [sic!] das deutsche Mandat, aber dafür wurde er der Liebling der Tschechen. Immer mehr und mehr vertschechte sich der gute Mann […]“.31 Die Zeitung schlussfolgert, dass er gerade deshalb „als großer Versöhnungskandidat bei den letzten Reichsrathswahlen im Bezirke Leitomischl [Litomyšl] aufgestellt [ward]“. Dem „Abtrümmling [sic!] und tschechischen Konvertiten“ sei es daraufhin gelungen, „[m]it Hilfe der tschechischen und einer Anzahl verrätherischer deutscher Stimmen [...] den Deutschen den Wahlbezirk zu entreißen“.32 Der Aussiger Anzeiger interpretiert die Aufstellung Heinrichs als deutschen Kandidaten für den Landesschulrat als Protest gegen den Ausgleich und zugleich als „Schmach“, die die Tschechen den Deutschen zufügen wollten, um ihnen zu zeigen: „seht, das ist einer von Euch!“33 Die tschechischen Stadträte hätten sich für Josef Heinrich deshalb entschieden, „weil sie wissen, dass er [Josef Heinrich] keiner [kein Deutscher] ist, denn sie wollen keinen Deutschen“.34 Abschließend fragt sich das Blatt, ob „der Mensch auch die Stirne haben [wird], den Sitz im Landesschulrat 29 30 31 32 33 34 N. N.: Der Fibel-Heinrich als Muster-Deutscher. In: Aussiger Anzeiger, 9. 7. 1890. N. N.: Der Fibel-Heinrich als Muster-Deutscher. In: Aussiger Anzeiger, 9. 7. 1890. N. N.: Der Fibel-Heinrich als Muster-Deutscher. In: Aussiger Anzeiger, 9. 7. 1890. N. N.: Der Fibel-Heinrich als Muster-Deutscher. In: Aussiger Anzeiger, 9. 7. 1890. N. N.: Der Fibel-Heinrich als Muster-Deutscher. In: Aussiger Anzeiger, 9. 7. 1890. N. N.: Der Fibel-Heinrich als Muster-Deutscher. In: Aussiger Anzeiger, 9. 7. 1890. 168 einzunehmen“, und versichert, dass sich die „Deutschen in ganz Böhmen [...] diese [unerhörte Herausforderung] jedenfalls nicht gefallen lassen werden. Die Unverschämtheit geht zu weit!“35 3.2. „Tschechische Herausforderung“36 Die Einstellung der Prager Stadtverordneten zum Ausgleich wird ebenfalls in dem zweiten Artikel auf der Titelseite dieser Zeitungsausgabe thematisiert. Der Beschluss, Josef Heinrich als deutschen Kandidaten aufzustellen, lasse „erkennen, daß der Ausgleich, trotzdem er, wie bekannt, durchgeführt werden muß, selbst in Prag, wo man den jungtschechischen Einfluß noch nicht dominirend glaubte, auf keinerlei Sympathien zu rechnen hat“.37 Auch die ironische Feststellung, „die Beratung über die Wahl“ sei „in solch‘ würdiger, ausgleichs-freundlicher Weise eingeleitet worden“,38 signalisiert, dass die Prager Stadtverwaltung gerade nicht ausgleichsfreundlich gestimmt war. Der Aussiger Anzeiger fährt mit Zitaten aus anderen Zeitungen fort und sucht so Unterstützung für seine eigene Haltung. In den Zitaten werden zum Teil dieselben Ausdrücke verwendet und dieselben Argumente angeführt, denen die Leser bereits in dem Leitartikel „Der Fibel-Heinrich als Muster-Deutscher“39 begegneten, was die Vermutung nahe legt, dass der Verfasser des Leitartikels gerade in den zitierten Zeitungen Inspiration fand. Das „Fremdenblatt“ schreibt: „Der Protest des Prager Stadtrates [...] soll offenbar den [...] Beweis liefern, daß seine Mitglieder von Ausgleich und Versöhnung nichts wissen und nur die Fikzion des goldenen slavischen Prag standhaft festhalten wollen.40 Außerdem habe diese Zeitung die Kandidatur Heinrichs als „die wirksamste Ausgleichsbosheit“41 bezeichnet. Des Weiteren werden die Neue Freie Presse und die Deutsche Zeitung zitiert. Letztere habe die Kandidatur als „ein Meisterstückchen tschechischer Herausforderung“ bezeichnet und den Kandidaten Josef Heinrich als einen „bekannten Abtrünnling“:42 „[...] Nicht genug, daß der tschechische Stadtrat von Prag die Deutschen so gerne als ‚nicht vorhanden‘ betrachtet, daß er keinen Kreuzer für deren Institute und Einrichtungen hat, daß er alles thut, um das Prager deutsche Schulwesen niederzudrücken, es ist mit der Vernachlässigung 35 36 37 38 39 40 41 42 N. N.: Der Fibel-Heinrich als Muster-Deutscher. In: Aussiger Anzeiger, 9. 7. 1890. N. N.: Tschechische Herausforderung. In: Aussiger Anzeiger, 9. 7. 1890. N. N.: Tschechische Herausforderung. In: Aussiger Anzeiger, 9. 7. 1890. N. N.: Tschechische Herausforderung. In: Aussiger Anzeiger, 9. 7. 1890. N. N.: Der Fibel-Heinrich als Muster-Deutscher. In: Aussiger Anzeiger, 9. 7. 1890. N. N.: Tschechische Herausforderung. In: Aussiger Anzeiger, 9. 7. 1890. N. N.: Tschechische Herausforderung. In: Aussiger Anzeiger, 9. 7. 1890. N. N.: Tschechische Herausforderung. In: Aussiger Anzeiger, 9. 7. 1890. 169 nicht genug, es muß auch für Hohn und Spott gesorgt werden. [...] Es mußte zu einer empörenden Herausforderung des Deutschtums in ganz Böhmen geschritten werden, es mußte ein Heinrich vorgeschlagen werden, der Mann, der den Deutschen einen Wahlbezirk entriß, der sich offen auf die Seite der nazionalen Gegner stellt, mit dem kein Deutscher verkehren und beisammen sitzen kann.“43 Die Alttschechen würden – so die Deutsche Zeitung – nur „Versöhnungsgesäusel“ von sich geben sowie „heuchlerische[.] Versicherungen, den Ausgleich ehrlich zu wollen, und zu wünschen“.44 3.3. „Freche, tschechische Herausforderung“45 Der Leitartikel vom 12. Juli 1890 nahm abermals den Ausdruck tschechische Herausforderung auf und formulierte die Meinung, „die eigentliche Absicht der ganzen Heinrich-Posse“ sei gewesen, „den ‚Ausgleich‘ wie von ungefähr von einem Sockel zu stürzen, damit er in tausend Stücke zerschelle“.46 In ihrer „verlogene[n], heuchlerische[n] Denkweise“ hätten die „Jung- und Alttschechen im Prager Stadtverordnetenkollegium“ denjenigen ausgesucht, „welcher den Deutschen der Unangenehmste von Allen wäre; denjenigen, gegen welchen sie sich auf das Nachdrücklichste verwahren müßten; eine Persönlichkeit, deren Wahl sie als einen angethanen Schimpf, als einen Hauptschlag in das Gesicht ansehen müßten.“47 Die bildliche Ausdrucksweise (in tausend Stücke zerschellen, ein angethaner Schimpf, ein Hauptschlag in das Gesicht), die Verwendung des Superlativs (der Unangenehmste) und Elativs (auf das Nachdrücklichste) sowie des Parallelismus tragen maßgeblich zur Emotionalisierung der Aussage bei. Dies trifft ebenfalls auf die Klimax und die negativ konnotierten Ausdrücke im weiteren Text zu: Es ist gut, es ist vortrefflich, es ist nicht mit Gold zu bezahlen, daß die Welt einmal bei dieser Gelegenheit unwiderleglich erfährt, mit welcher Sorte von politischen und nazionalen Gegnern es die Deutschen in Böhmen zu thun haben [...]. Sie [die „Stadtväter“] schicken schließlich einen kniffigen Recht-Verdreher, den Dr. Milde, mit einer albernen Erklärung ins Feld, der von „Beschränkung der Autonomie“ faselt und auf der wahnsinnigen Theorie herumreitet, daß Alles in Böhmen nach der Kopfzahl der Stammesangehörigen getheilt werden müsse, so daß in Prag auf die Deutschen von den zwei Vertretern im Landesschulrate just nur das Bein oder der Arm eines Delegirten käme.48 43 44 45 46 47 48 N. N.: Tschechische Herausforderung. In: Aussiger Anzeiger, 9. 7. 1890. N. N.: Tschechische Herausforderung. In: Aussiger Anzeiger, 9. 7. 1890. N. N.: Freche, tschechische Herausforderung. In: Aussiger Anzeiger, 12. 7. 1890. N. N.: Freche, tschechische Herausforderung. In: Aussiger Anzeiger, 12. 7. 1890. N. N.: Freche, tschechische Herausforderung. In: Aussiger Anzeiger, 12. 7. 1890. N. N.: Freche, tschechische Herausforderung. In: Aussiger Anzeiger, 12. 7. 1890. 170 Anschließend stellt der Aussiger Anzeiger eine rhetorische Frage in Bezug auf František Ladislav Rieger, den Vorsitzenden der alttschechischen Partei,49 welche von den Deutschen zunächst als gemäßigter und den Ausgleichsverhandlungen geneigter betrachtet wurde (anders als die jungtschechische Partei50): „Und Rieger [...]? Insbesondere Rieger, der sein Wort für eine anständige Behandlung der Deutschen gegeben, er hüllte sich daheim in seinen Schlafrock [...] Und mit solchen Leuten, solchen Jammergestalten von Politikern [...] soll der ‚Ausgleich‘ zu Stande gebracht werden?“51 Der Artikel schließt mit der wiederholten Versicherung bzw. Drohung, dass „[d]ie deutsche Antwort auf die freche Herausforderung der Prager Stadtvertretung [...] nicht ausbleiben [wird]“ und dass mit „der strammen Unterstützung des ganzen deutschen Volkes in Böhmen“ zu rechnen sei. „Die deutsche Antwort wird nicht ausbleiben.“52 3.4. „Zur Wahl Heinrich des ‚Deutschen‘ in den Landesschulrat“53 Der Name Rieger erscheint ebenfalls auf der zweiten Seite derselben Nummer: Rieger habe sein Versprechen nicht eingelöst, dass die Vertreter der Stadt Prag „einen ‚anständigen‘ Deutschen“ wählen würden. „[D]ie nun erfolgte Wahl“ sei daher „höchst lehrreich“.54 Man kann den sattsam bekannten Herrn Heinrich einreihen, wohin man wolle – der deutschen Partei gegenüber ist er die Versinnbildlichung des Verrates und seine Wahl zum Vertreter der Deutschen Prag’s ist kein Akt des „Anstandes“, wie er unter anständigen Menschen auch dem politischen Gegner gegenüber gewahrt zu werden pflegt.55 Die Deutschen sollen dabei „die Thätigkeit des Herrn Heinrich im Landesschulrate nicht zu fürchten“ brauchen. Seine Wahl beleuchte jedoch „wie ein greller Blitz den ganzen Abgrund dieser tschechischen ‚Versöhnlichkeit‘ und die Verlogenheit in der ganzen Stellung der Tschechen der Regierung gegenüber [...] überall Falschheit und Verlogenheit“.56 Neben der Wiederholung der Ansicht, dass mit der Wahl Heinrichs den Deutschen ein „empörende[r] Hohn [...] angethan werden sollte“, kommt somit abermals die Überzeugung zum Ausdruck, dass die Tschechen in Wirklichkeit keine Versöhnung anstreben. Vielmehr würden sie solche Schritte veranlassen, die die Regierung lediglich glauben machen sollen, dass sie um 49 Die offizielle Bezeichnung lautete Národní strana [Nationalpartei]. 50 Die offizielle Bezeichnung lautete Národní strana svobodomyslná [Freisinnige Nationalpartei]. 51 N. N.: Freche, tschechische Herausforderung. In: Aussiger Anzeiger, 12. 7. 1890. 52 N. N.: Freche, tschechische Herausforderung. In: Aussiger Anzeiger, 12. 7. 1890. 53 N. N.: Zur Wahl Heinrich des „Deutschen“ in den Landesschulrat. In: Aussiger Anzeiger, 12. 7. 1890. 54 N. N.: Zur Wahl Heinrich des „Deutschen“ in den Landesschulrat. In: Aussiger Anzeiger, 12. 7. 1890. 55 N. N.: Zur Wahl Heinrich des „Deutschen“ in den Landesschulrat. In: Aussiger Anzeiger, 12. 7. 1890. Hervorhebung im Original gesperrt. 56 N. N.: Zur Wahl Heinrich des „Deutschen“ in den Landesschulrat. In: Aussiger Anzeiger, 12. 7. 1890. 171 Versöhnung bemüht sind. Die diesbezüglichen Zweifel des Verfassers treten nicht zuletzt in der ironischen, Distanz erzeugenden Bezeichnung die Herren Tschechen zutage, die in dem Artikel wiederholt vorkommt und in der die vorangestellte Apposition Herren eine pejorative Konnotation erzeugt (ähnlich auch in dem Ausdruck jene Herren Alttschechen). Eine vergleichbar ironischpejorative Konnotation kennzeichnet ebenfalls den wiederholt verwendeten Ausdruck Herr Heinrich. Dass die politischen Vertreter der Tschechen in Wirklichkeit keinen Ausgleich anstreben würden, geht ebenfalls aus weiteren, nicht unbedingt auf die Wahl Josef Heinrichs bezogenen Artikeln hervor. So sucht in derselben Nummer etwa der Artikel „Der Feldzug der Jungtschechen gegen den Ausgleich“ diese Sichtweise durch die Erwähnung der „zweistündige[n] Rede“ des jungtschechischen Politikers Grégr zu unterstützen. Diese Rede Grégrs habe mit den Worten geschlossen: „Fort mit dem Wiener Ausgleich!“57 4. Fazit Die auf Heinrichs Wahl in den Landesschulrat bezogenen Artikel wiederholen zum Teil dieselben Argumentations- und Darstellungsmuster, wobei kaum Begründungen der ablehnenden Haltung gegenüber Josef Heinrich angeführt werden. Andeutungsweise finden sich Letztere etwa in dem Leitartikel „Der Fibel-Heinrich als Muster-Deutscher“, jedoch auch da werden zum Teil nur vage Formulierungen gewählt, die in erster Linie Emotionen vermitteln (bekam plötzlich tschechische Bruderschmerzen, die Entdeckung seines tschechischen Herzens). Zu solchen semantisch vagen Ausdrücken zählt auch der damals bereits allgemein gebräuchliche Neologismus sich vertschechen,58 dessen negative Konnotation im gegebenen Zusammenhang unverkennbar ist, seine Denotation geht jedoch weder aus dem Kontext eindeutig hervor, noch wird sie explizit festgelegt. Als eine weitere Begründung der ablehnenden Haltung Josef Heinrich gegenüber wird in dem Leitartikel erwähnt, dass sich Heinrich „auf das Dichten [verlegte] [...] und begeistert die Tschechen [besang]: O Hußgeschlecht! / Du bist im Recht!“59 Die Quelle, der Kontext oder die Gelegenheit, anlässlich der die Verse entstanden waren, werden aber nicht genannt. Eine weitere, wiederum in erster Linie emotionalisierende Begründung der „gerechte[n] Entrüstung der Deutschen“60 über die Wahl Heinrichs in den Landesschulrat bietet der Leitartikel vom 16. Juli 1890: Oft wol fragte sich schon so Mancher, wie denn ein Mensch überhaupt so schmählich handeln, wie man so offenen Verrat am eigenen 57 N. N.: Der Feldzug der Jungtschechen gegen den Ausgleich. In: Aussiger Anzeiger, 12. 7. 1890. 58 „Immer mehr und mehr vertschechte sich der gute Mann […]“ (N. N.: Der Fibel-Heinrich als Muster-Deutscher. In: Aussiger Anzeiger, 9. 7. 1890). 59 N. N.: Der Fibel-Heinrich als Muster-Deutscher. In: Aussiger Anzeiger, 9. 7. 1890. 60 N. N.: Der Fibel-Ehrenmann Josef Heinrich. In: Aussiger Anzeiger, 16. 7. 1890. 172 Volke üben könne, so wie es Josef Heinrich gethan. Jetzt hat der große Mann das psychologische Räthsel gelöst. Das hat er von seinem Großvater,61 da kann er nichts dafür. Heinrich’s Vater heiratete die Tochter eines Tschechen und daher ist Heinrich mit Tschechomanie erblich62 belastet. [...] Dieser Großvater ist Schuld [...] an den vielen Heinrich’schen Aufsätzen in der „Politik“ gegen die Deutschen, dieser Großvater ist Schuld an der berühmten Ode an das Huß-Geschlecht und den übrigen Dichtungen Heinrich’s.63 Das Pauschalurteil [Aufsätze] gegen die Deutschen wird dabei nicht weiter spezifiziert, so dass damit dem Lesepublikum lediglich die negative Wertung dieser Aufsätze vermittelt wird, nicht deren tatsächlicher Inhalt. Ob der Verfasser davon ausgegangen ist, dass dem Lesepublikum der Inhalt dieser Aufsätze bekannt war, kann kaum mehr mit Sicherheit ermittelt werden. Ebenso unklar ist, ob der Verfasser angenommen hat, dass allen Lesern (oder zumindest der Mehrheit) die Ode an das Huß-Geschlecht und d[ie] übrigen Dichtungen Heinrich’s bekannt waren. Bis auf zwei Verse, die vom Aussiger Anzeiger Josef Heinrich zugeschrieben und in dem Leitartikel vom 9. Juli angeführt werden, erscheinen auf den Zeitungsseiten keine weiteren Beispiele. Unter den häufig vorkommenden Argumenten zur Unterstützung der ablehnenden Haltung zur Wahl Heinrichs in den Landesschulrat fallen insbesondere verschieden formulierte Behauptungen auf, die Prager Stadtverwaltung sowie die politische Repräsentanz der Tschechen würden dem Ausgleich ablehnend gegenüber stehen und die Absicht, einen Ausgleich zu erzielen, lediglich vortäuschen. Besonders häufig erscheint in dem Diskurs ebenfalls die Überzeugung, die Wahl Heinrichs in den Landesschulrat sei eine bewusste Provokazion der Deutschen, eine [unerhörte] bzw. [freche] Herausforderung, ein Verrat, Spott, Hohn bzw. eine Schmach, die den Deutschen der böhmischen Länder angetan werden sollten. In der Zeitung werden zahlreiche, teilweise sich wiederholende emotionalisierende Stilmittel und negativ wertende Ausdrücke verwendet, die vor allem zwei Ziele verfolgt haben dürften: Zum einen drückte sich in ihnen der Unmut der Redakteure über die Besetzung des Landesschulrates aus, zum anderen sollten die Leser die emotiv vermittelten Botschaften internalisieren. Inwiefern die „sprachliche Konstruktion der Wirklichkeit“ (Niehr, 2014, S. 48) im Aussiger Anzeiger bei dem Lesepublikum Anklang fand und inwiefern die in der Zeitung vermittelten Inhalte von den Lesern internalisiert wurden, ist schwer zu ermitteln. Diesbezügliche Hinweise könnten in den Ereignissen sowie in dem Diskurs der späteren Monate gesucht werden. Ein solches wichtiges Ereignis stellte etwa die Volkszählung dar, die in der Habsburgermonarchie am letzten Dezembertag 1890 stattfinden sollte. 61 Hervorhebung im Original gesperrt. 62 Hervorhebung im Original gesperrt. 63 N. N.: Der Fibel-Ehrenmann Josef Heinrich. In: Aussiger Anzeiger, 16. 7. 1890. 173 Der Aussiger Anzeiger schrieb im Nachhinein von einem „Krieg auf dem Zählbogen“64: Die leichtblütigen Fanatiker unter den Tschechen hatten sich nämlich große Hoffnungen gemacht, daß die seit den letzten zehn Jahren mit ganz besonderem Nachdruck betriebene Wühlarbeit im deutschen Gebiete Böhmens bei der Volkszählung durch glänzende, alle Erwartung übersteigende, dem Tschechentum günstige Ergebnisse offen zu Tage treten werde. Es ist aber ganz anders gekommen! Nach den allerdings noch nicht abgeschlossenen Zählungsergebnissen weist das Tschechentum im deutschen Sprachgebiete einen hier und da erheblichen Rückgang auf. […] Zehn Jahre der eifrigsten Arbeit unter den fördersamsten Umständen, die ganz außerordentlichen Anstrengungen im letzten Jahre vor der Volkszählung – und bisher wenigstens noch kein ausgesprochener Sieg!65 Auch in dem Artikel „Volkszählung in Kolloletsch“ äußert der Verfasser im Zusammenhang mit einem Angriff auf „die deutschen Zählungskommissär“ in Kolloletsch [Kololeč] bei Lobositz [Lovosice] die Überzeugung, dass „[t]rotz des tschechischen Terrorismus [...] das Zählungsergebnis für die Deutschen günstiger als vor zehn Jahren ausfallen [wird]“.66 Genaue Ergebnisse der Volkszählung, die im Aussiger Anzeiger angeführt werden,67 enthalten jedoch lediglich Gesamtzahlen – keine Angaben dazu, wie viele Menschen sich zur deutschen und wie viele zur tschechischen Umgangssprache bekannten, geschweige denn Angaben zur Nationalität. Letztere wurde bei der Volkszählung auch nicht erhoben, sodass das Bekenntnis zur Umgangssprache das einzige Signal für die Zuordnung einer Person zu einer nationalen Gruppe war. Falls „das Zählungsergebnis [vom Dezember 1890] für die Deutschen“ tatsächlich „günstiger als vor zehn Jahren [1880]“68 ausgefallen ist, so könnte dies nicht zuletzt gerade den emotiven und emotionalisierenden Darstellungen und Kommentaren zur Wahl des deutschen Vertreters in den Landesschulrat zuzuschreiben sein, die im Juli 1890 im Aussiger Anzeiger veröffentlicht wurden. Abstract Following the “Wiener Punktationen” of 1890, the School Council of Bohemia was supposed to be divided in a German section and a Czech section. Based on 64 N. N.: Der Krieg auf dem Zählbogen. In: Aussiger Anzeiger, 17. 1. 1891. 65 N. N.: Der Krieg auf dem Zählbogen. In: Aussiger Anzeiger, 17. 1. 1891. 66 N. N.: Bei der Volkszählung in Kolloletsch. In: Aussiger Anzeiger, 17. 1. 1891. 67 Vgl. z.B. N. N.: Volkszählungs-Ergebnisse. In: Aussiger Anzeiger, 17. 1. 1891; N. N.: Das Ergebnis der Volkszählung in Aussig. In: Aussiger Anzeiger, 14. 1. 1891. 68 N. N.: Bei der Volkszählung in Kolloletsch. In: Aussiger Anzeiger, 17. 1. 1891. 174 the analysis of the discourse on the school council candidates and scrutinizing the North Bohemian newspaper Aussiger Anzeiger, this paper explores and exemplifies the potential influence of regional newspapers on the attitudes and opinions of the readers. Particular attention is being paid to the question which language means had been used by the editors of the Aussiger Anzeiger and thus, in what way they had tried to influence the views and thus also the actions of the readers. The discourse on the school council candidates is part of the discourse on the “Wiener Punktationen”, while the latter itself is part of the national political discourse in the Bohemian Lands in the 19th and beginning of the 20th century. Schlüsselwörter discourse analysis, School Council of Bohemia, Aussiger Anzeiger, national political discourse, Bohemian Lands Quellenverzeichnis Aussiger Anzeiger, 1890-1891 Heinrich, Josef (1869). Jos. Heinrich‘s Schreib-Lese-Fibel. Prag: H. Carl J. Satow. Heinrich, Josef (1904). Jos. Heinrichs Schreib-Lese-Fibel für die österreichischen allgemeinen Volksschulen. Ausgabe B in einer Abteilung. 50., nach der neuen Rechtschreibung umgearbeitete Auflage. Wien: F. Tempsky. Sealsfield, Charles (1919): Österreich, wie es ist oder Skizzen von Fürstenhöfen des Kontinents. Wien: Kunstverlag Anton Schroll & Co. Literaturverzeichnis Hall, Adéla (2008). Deutsch und Tschechisch im sprachenpolitischen Konflikt. Eine vergleichende diskursanalytische Untersuchung zu den Sprachenverordnungen Badenis von 1897. Frankfurt am Main: Lang. Hoensch, Jörg K. (1997). Geschichte Böhmens. Von der slavischen Landnahme bis zur Gegenwart. München: Beck. Křen, Jan (1996). Die Konfliktgemeinschaft: Tschechen und Deutsche 1780-1918. München: Oldenbourg. Křen, Jan (2007). 1867-1871: Deutschland, die Deutschen und der österreichische Ausgleich. In: Brandes, Detlef / Kováč, Dušan / Pešek, Jiří (Hg.). Wendepunkte in den Beziehungen zwischen Deutschen, Tschechen und Slowaken 1848-1989. Essen: Klartext, S. 85-110. 175 Niehr, Thomas (2014). Einführung in die linguistische Diskursanalyse. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Opitz, Alfred (1983). Zeitenwende im Donauraum. Von der Doppelmonarchie zu den Nachfolgestaaten. Graz/Wien/Köln: Styria. Vrbka, Anton (1927). Gedenkbuch der Stadt Znaim 1226-1926. Kulturhistorische Bilder aus dieser Zeit. Nikolsburg: Bartosch. Warnke, Ingo H. / Spitzmüller, Jürgen (2008). Methoden und Methodologie der Diskurslinguistik – Grundlagen und Verfahren einer Sprachwissenschaft jenseits textueller Grenzen. In: Warnke, Ingo H. / Spitzmüller, Jürgen (Hg.): Methoden der Diskurslinguistik. Sprachwissenschaftliche Zugänge zur transtextuellen Ebene. Berlin/New York: de Gruyter. Zenker, Ernst Victor (1900). Geschichte der Journalistik in Österreich, Wien: K. K. Hof- und Staatsdruckerei. Internetquellen URL 1: http://www.biographien.ac.at/oebl/oebl_H/Heinrich_Josef_1837_1908.xml [21. 8. 2016]. URL 2: Teibenbacher, Peter, Kramer, Diether, Göderle, Wolfgang: An Inventory of Austrian Census Materials, 1857-1910. Final Report. In: Mosaic Working Paper WP2012-007, Max Planck Institute for Demographic Research: December 2012. http://www.censusmosaic.org/sites/default/files/downloads/publications/mosaic WP/MOSAIC-WP-2012-007.pdf [17. 5. 2016]. 176 Zentrum und Peripherie in der deutschsprachigen Literatur im Vergleich mit der tschechischen Literatur. Korpuserstellung und Korpusanalyse Zdeňka Vymerová Annotation Ich stelle in meinem Vortrag Kriterien der Auswahl meiner deutsch-tschechischen und tschechisch-deutschen Teilkorpora für die Analyse der deutsch-tschechischen Wortstellungsunterschiede, einen Kommentar zu meiner Analyse der Dependenzgrammatik und der Thema-Rhema-Gliederung und die Veröffentlichung einiger Erkenntnisse meiner Forschungsarbeit vor. Schlüsselwörter Wortstellung, Syntax, Syntaxvergleich, Analyse, deutsch-tschechische Wortstellungsunterschiede 1. Die Korpuserstellung Das Thema meiner Dissertation ist „Die deutsche Wortstellung im Vergleich mit der tschechischen Wortstellung“. Meine Forschungsarbeit spezialisiert sich auf die Untersuchung der Vielfalt in der deutschen und der tschechischen Wortstellung, die in der deutschen und der tschechischen Belletristik und deren professionellen Übersetzungen existiert und noch nicht in der wissenschaftlichen Syntax-Literatur publiziert wurde. Um festzustellen, ob zwischen der deutschen und der tschechischen Wortstellung unbekannte Unterschiede vorkommen, erstellte ich mein eigenes Korpus. Die Kriterien der Auswahl meiner deutsch-tschechischen und tschechisch -deutschen Teilkorpora beruhen auf den vollkommenen Sprach- und Syntaxkenntnissen ihrer Autoren. Ich wählte für meine wissenschaftliche Arbeit Romane und Theaterstücke von anerkannten Schriftstellern und professionelle Übersetzungen von den ausgesuchten Romanen und Theaterstücken aus. Ich erhoffte mir von meinem Korpus, darin eine überdurchschnittlich blumige Sprache zu finden, die syntaktisch geschickt gestaltet wurde. 177 1.1. Kriterien für die literarischen Texte in der Originalsprache - hohes Sprachniveau - zum Teil nicht alltägliche Syntaxkonstruktionen - positive Referenzen von Literaturkritikern oder Kollegen (der Fachwelt) - Beliebtheit bei den Lesern oder bei den Theaterbesuchern - das Erscheinungsjahr ⁄ das Aufführungsdatum 1.2. Kriterium für die professionellen Übersetzungen - genaue ⁄ getreue Übersetzung des Originals 2. Übersicht der von mir untersuchten Korpora 2.1. Deutsche Belletristik + tschechische Übersetzungen Grass, Günter (1959). Die Blechtrommel. Roman. Berlin: Volk und Welt. Grass, Günter, übersetzt von Vladimír Kafka (2001). Plechový bubínek. Román. Brno: Atlantis. Müller, Herta (2009). Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt. Eine Erzählung. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag. Müllerová, Herta, übersetzt von Radka Denemarková (2010). Cestovní pas. Novela. Praha: Mladá Fronta. Lenz, Siegfried (1986). Exerzierplatz. Roman. Berlin/Weimar: Aufbau. Lenz, Siegfried, übersetzt von Anna Siebenscheinová (1989). Cvičiště. Soudobá světová próza. Praha: Odeon. 2.2. Österreichische Belletristik + tschechische Übersetzungen Jelinek, Elfriede (2005; zuerst 1983). Die Klavierspielerin. Roman. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag. Jelinek, Elfriede, übersetzt von Jitka Jílková (2004). Pianistka. Román. Praha: Lidové noviny. 2.3. Schweizerische Belletristik + tschechische Übersetzungen Frisch, Max (1998; zuerst 1957). Homo faber. Ein Bericht. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Frisch, Max, übersetzt von Helena Nebelová (1967). Homo faber. Zpráva. Praha: Odeon. 178 2.4. Schweizerische und österreichische Theaterstücke + tschechische Übersetzungen Frisch, Max (1975; zuerst 1949). Andorra. Stück in zwölf Bildern. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Frisch, Max, übersetzt von Bohumil Černík (1964). Andorra: hra o dvanácti obrazech. Praha: Orbis. Jelinek, Elfriede (1984; Premiere 1979). Theaterstücke. Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte oder Stützen der Gesellschaften. Köln: Prometh. Jelinek, Elfriede, übersetzt von Jílková Jitka (1994). Co se stalo, když Nora opustila manžela aneb opory společnosti. Praha: Translation. 2.5. Tschechische Belletristik + deutsche Übersetzungen Kohout, Pavel (1991; zuerst auf Tschechisch 1982 bei Sixty-Eight Publishers in Toronto). Nápady svaté Kláry. Román. Praha: Mladá fronta. Kohout, Pavel, übersetzt von Alexandra Baumrucker (1980). Die Einfälle der heiligen Klara. Roman. Wien/LaButibamba/Anacapri: Goldmann. Lhotová, Dagmar (1991). Cesta k Betlému. Brno: Petrov. Lhotová, Dagmar (1992). Der Weg nach Bethlehem. Brno: Petrov. Škvorecký, Josef (1982; Bassaxofon; zuerst 1967). Dvě Legendy. Red Music, Legenda Emöke, Bassaxofon. Toronto: Sixty-Eight Publishers. Škvorecký, Josef, übersetzt von Andreas Tretner, Marcela Euler und Kristina Kallert (2005). Das Basssaxophon. Jazz-Geschichten. München: Deutsche Verlags-Anstalt. 2.6. Tschechische Theaterstücke + deutsche Übersetzungen Kohout, Pavel (1990; zuerst 1967). August August, August. Cirkusové představení s jednou pauzou. Praha: Dilia. Kohout, Pavel, übersetzt von Lucie Taubová (1980). Theaterstücke. So eine Liebe; Reise um die Erde in 80 Tagen; August August, August. Luzern: Hoffmann und Campe / Editin Reich . 3. Resümee zur Korpuserstellung Die Zahl der geeigneten Teilkorpora für die Erstellung eines optimalen Korpus für meine Forschungsarbeit ist gering, weil mehrere Kriterien gleichzeitig erfüllt sein müssen: - hohe Sprach- und Syntaxqualität - genaue Übersetzung des Originals - Feststellung von unbekannten Wortstellungsunterschieden 179 Die Zahl geeigneter literarischer Texte in der Originalsprache ist höher als die Zahl geeigneter Übersetzungen: In einigen Übersetzungen fehlen durchgehend viele Passagen, oder die Übersetzungen wurden ungenau durchgeführt, weil die Aussage des Satzes und nicht die Wortstellung im Vordergrund stand, wie zum Beispiel im Werk Homo faber von Max Frisch, übersetzt von Helena Nebelová. Es gibt auch geeignete Romane und Theaterstücke, die nicht übersetzt wurden. Die Erstellung eines geeigneten Korpus für meine Forschungsarbeit nahm sehr viel Zeit in Anspruch. Ich musste für das endgültige Korpus viele Romane und Theaterstücke überprüfen. Die meisten Wortstellungsunterschiede zwischen dem Deutschen und dem Tschechischen, die in der deutschen und der tschechischen Belletristik und deren professionellen Übersetzungen existieren und die noch nicht in der wissenschaftlichen Syntax-Literatur publiziert wurden, fand ich in folgender Literatur: Elfriede Jelinek: Die Klavierspielerin (Roman) und dessen Übersetzung Pianistka, übersetzt von Jílková, Jitka; Kohout, Pavel: Nápady svaté Kláry (Roman) und dessen Übersetzung Die Einfälle der heiligen Klara, übersetzt von Alexandra Baumrucker; Lhotová, Dagmar: Cesta k Betlému (Erzählung für Kinder) und deren Übersetzung Der Weg nach Bethlehem, übersetzt von Lhotová, Dagmar, und in dem Theaterstück: Kohout, Pavel: August August, August. Cirkusové představení s jednou pauzou und dessen Übersetzung August August, August übersetzt von Taubová, Lucie. 3.1. Kommentar zu meiner Analyse der Dependenzgrammatik Ich erstelle für den deutschen und den tschechischen vollständigen Haupt- oder Nebensatz ein Bäumchendiagramm, dessen Wörter ich in Satzglieder und Gliedteile einteile: Satzglieder sind für mich Phrasen, die unmittelbar vom Prädikat abhängen oder sich auf den Satz als Ganzes beziehen (z.B. die Satzadverbien). Gliedteile sind in meiner Dependenzanalyse Phrasen, die in Satzglieder eingebettet sind. Die Visualisierung der Satz-Strukturen realisiere ich a) nach Eroms (2000), der hier zwischen funktional selbständigen und funktional weniger selbständigen (von einem anderen Wort abhängigen) Wörtern unterscheidet b) nach der X-Bar-Theorie, deren graphische Darstellungsweise übersichtlich die Einbettung von mehreren Phrasen innerhalb einer Phrase abstrakt in einer Baumstruktur (dem sog. X-Bar-Schema) erscheinen lässt. 3.2. Kommentar zu meiner Analyse der Thema-Rhema-Gliederung Ich stelle die deutsche Thema-Rhema-Gliederung (TRG) graphisch durch das Diagramm des Satzfeldschemas nach der Duden Grammatik (2009) dar oder durch das Diagramm des Satzfeldschemas-Äußerungsschemas nach Zeman (2002). Die abstrakte Struktur der TRG wird graphisch nach der Duden Grammatik (2009) präsentiert. Die tschechische TRG analysiere ich nach Aleš Svoboda (1989). 180 4. Veröffentlichung einiger Erkenntnisse - Neue Wortstellungsunterschiede zwischen dem Deutschen und dem Tschechischen 1) „Die Mutter steht mit reduziertem Kopfhaar greinend im Wohnzimmer, in dem ihre Erika oft Privatkonzerte gibt, in denen sie die Allerbeste ist, weil in diesem Wohnzimmer außer ihr nie jemand Klavier spielt.“ (Jelinek, 2005, S. 12) Die Mutter steht mit reduziertem Kopfhaar greinend1 im Wohnzimmer, […]. 1a) „Matka pobrekává a stojí s prořídlým porostem hlavy v obývacím pokoji, kde Erika často dává soukromé koncerty, v nichž je ze všech nejlepší, protože v tomhle obýváku nikdo kromě ní na klavír nehraje.“ (Jelinek, 2004, S. 9) Matka pobrekává a stojí s prořídlým porostem hlavy v obývacím pokoji, […]. Hier wird die Wortstellung des prädikativen Adjektivs greinend und des Verbs pobrekává verglichen. 2) „Das neue Kleid hält die Mutter immer noch in der zitternden Hand. Wenn sie es verkaufen will, muss sie das bald tun, denn solche kohlkopfgroßen Mohnblumen trägt man nur ein Jahr und nie wieder. Der Kopf tut der Mutter dort weh, wo ihr die Haare jetzt fehlen.“ (Jelinek, 2005, S. 12) i) Der Kopf tut der Mutter dort weh, […]. ii) […], wo ihr die Haare jetzt fehlen. 2a) „Nové šaty matka stále ještě drží v třesoucí se ruce. Jestli je chce prodat, musí to udělat brzy, protože takové vlčí máky velké jako holá lebka se nosí jen rok a pak už nikdy. Matku bolí hlava tam, kde jí teď chybějí vlasy.“ (Jelinek, 2004, S. 9) i) Matku bolí hlava tam, […]. ii) […], kde jí teď chybějí vlasy. Im Beispiel 2i) wird die Wortstellung des Substantivs im Dativ der Mutter und des Substantivs im Akkusativ matku verglichen, und im Beispiel 2ii) wird die Betonung 1 Die Stellung des freien Prädikativs im Satz beeinflusst den Informationsstatus. Vgl. Duden (2009), S. 1120, § 1861. 181 des temporalen Adverbs jetzt aus dem deutschen Original mit dem tschechischen teď der tschechischen Übersetzung verglichen. 3) „Sie beschimpft die Mutter als gemeine Kanaille, wobei sie hofft, dass die Mutter sich gleich mit ihr versöhnen wird.“ (Jelinek, 2005, S. 12) […],dass die Mutter sich gleich mit ihr versöhnen wird. 3a) „Nadává matce do sprostých kanálií, přičemž doufá, že se s ní matka hned udobří.“ (Jelinek, 2004, S. 9) […], že se s ní matka hned udobří. Hier wird die Betonung der Präpositionalphrasen mit ihr und s ní und die Betonung der temporalen Adverbien gleich und hned verglichen. 4) „Tikal měl neodbytný pocit, že na povel čekají naopak oni. Představoval si, co by se stalo, kdyby třída sborově vykřikla Sednout! Propukli by v smích? Nebo by běželi na policii?“ (Kohout, 1991, S. 11 f) […], že na povel čekají naopak oni. 4a) „Tikal wurde das Gefühl nicht los, dass im Gegenteil die beiden der Aufforderung harrten. Er stellte sich vor, was geschähe, wenn die Klasse unisono „Setzen!“ riefe. Würden sie in lachen ausbrechen? Oder zur Polizei laufen?“ (Kohout, 1980, S. 10) […], dass im Gegenteil die beiden der Aufforderung harrten. In diesem Beispiel wird das Personalpronomen in der semantischen Satzfunktion des pronominalen Subjektes aus dem tschechischen Original oni mit dem deutschen Numerale in der semantischen Satzfunktion des numeralen Subjekts der deutschen Übersetzung die beiden verglichen. 5) „Důvěřivě pohlédla na otce a promluvila dětskou řečí, která nezná konce a začátky vět.“ (Kohout, 1991, S. 26) Důvěřivě pohlédla na otce […]. 5a) „Sie schaute vertrauensvoll ihren Vater an und begann in der Kindersprache, deren Sätze keinen Anfang und kein Ende kennen: […].“ (Kohout, 1980, S. 27) Sie schaute vertrauensvoll ihren Vater an […]. Hier wird die Wortstellung der Adverbien důvěřivě und vertrauensvoll verglichen. 6) 182 „Přece ne, kruci, proto, aby tu směl tajně zahlédnout holku, které ještě před týdnem na potkání nastavoval nohu?? Směšnost takového úmyslu cítil dokonce sám!“ (Kohout, 1991, S. 144) […], aby tu směl tajně zahlédnout holku, […]. 6a) „Doch nicht etwa, verdammt, um heimlich ein Mädchen erspähen zu dürfen, dem er noch vor einer Woche bei jeder Gelegenheit ein Bein gestellt hatte??“ (Kohout, 1980, S. 171) […], um heimlich ein Mädchen erspähen zu dürfen, […]. In diesem Beispiel wird die Wortstellung der Substantive im Akkusativ holku und ein Mädchen verglichen. 7) „Uklání se a jako poslední opustí manéž, odváděje dvorně svou ženu a dceru. Sotva za ním stavěči uctivě zatáhnou červenou oponu a zahájí horečnou přestavbu, postoupí kupředu Inspektor manéže s mikrofonem.“ (Kohout, 1990, S. 4.) […] postoupí kupředu Inspektor manéže s mikrofonem. 7a) „Er verbeugt sich und verlässt zusammen mit seiner Frau und seiner Tochter, denen er galant den Arm bietet, die Manege. Sie schließen das Defilee der Artisten ab. Während die Manegendiener den roten Vorhang zuziehen und rasch mit dem Umbau beginnen, kommt der Stallmeister mit dem Mikrophon nach vorn.“ (Kohout, 1980, S. 8) […] kommt der Stallmeister mit dem Mikrophon nach vorn. Hier wird die Wortstellung des tschechischen Adverbs kupředu und des deutschen Adverbs mit der Präposition nach vorn verglichen. Abstract The amount of suitable subcorpora for the creation of optimal corpora for my activities of research is small, because several criteria have to correspond with each other at the same time: - high quality of language and syntax - exact translation of the original - discovery of unknown differences in word order. The amount of suitable literature in the original language is higher than the amount of suitable translations: In some translations there are constantly missing passages or the translation was done inaccurately, where the statement of the sentence and not the word order was in the foreground. Take as an example the book Homo faber by Max Frisch, translated by Helena Nebelova. There are eligible novels and theater pieces, too, that weren’t translated. The creation of a suitable corpus for my research 183 took a lot of time. I had to examine lots of novels and theater pieces for my definite corpus. Most of the word order differences between German and Czech language, which exist in the professional translations of German and Czech fiction and which weren’t publishedin the scholarly syntax-literature yet, I found in the following pieces of literature: Jelinek, Elfriede: Die Klavierspielerin and its translation Pianistka translated by Jílková, Jitka; Kohout, Pavel: Nápady svaté Kláry and its translation Die Einfälle der heiligen Klara translated by Baumrucker, Alexandra; Lhotová, Dagmar: Cesta k Betlému and its translation Der Weg nach Betlehem translated by Lhotová, Dagmar and in the play Kohout. Pavel: August August, August. Cirkusové představení s jednou pauzou and in the play August August, August translated by Taubová, Lucie. Keywords word order, syntax, syntax comparison, analysis, German-czech differences in word order Ich möchte an dieser Stelle meinen besonderen Dank meinem Doktorvater doc. PhDr. Jaromír Zeman, CSc. für seine wissenschaftlichen Konsultationen aussprechen. Seine freundliche Hilfsbereitschaft ermöglichte mir, Wortstellungsunterschiede zwischen dem Deutschen und dem Tschechischen zu finden, die noch nicht in der wissenschaftlichen Literatur verankert sind. Quellenverzeichnis Jelinek, Elfriede (2005). Die Klavierspielerin. Roman. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag. Jelinek, Elfriede (2004). Pianistka. Román. Übers. von Jitka Jílková. Praha: Lidové noviny. Kohout, Pavel (1991). Nápady svaté Kláry. Román. Praha: Mladá fronta. Kohout, Pavel (1980). Die Einfälle der heiligen Klara. Roman. Übers. von Alexandra Baumrucker Wien/LaButibamba/Anacapri: Goldmann. Kohout, Pavel (1990). August August, August. Cirkusové představení s jednou pauzou. Divadelní hra. Praha: Dilia. Kohout, Pavel (1980). Theaterstücke. So eine Liebe; Reise um die Erde in 80 Tagen; August August, August. Übers. von Lucie Taubová. Luzern: Hoffmann und Campe / Editin Reich. 184 Literaturverzeichnis DUDEN (2009). Duden. Die Grammatik. Bd. 4. Mannheim/Zürich: Dudenverlag. Internetquellen URL 1: Gallmann, Peter. Grundlagen der deutschen Grammatik: Vorlesung/ Satzglieder, Universität Jena, Winter 2016, letzter Zugriff Mai 2016. Online verfügbar unter: http://www2.uni-jena.de/philosophie/germsprach/syntax/Dokumente/ Vorlesung/Skript/Skript_G.pdf, S. 11. URL 2: Gallmann, Peter. Grundlagen der deutschen Grammatik: Seminar/Phrasenstrukturen I, Universität Jena, Winter 2016, letzter Zugriff Mai 2016. Online verfügbar unter: http://www2.uni-jena.de/philosophie/germsprach/syntax/Dokumente/ Vorlesung/Skript/Skript_Q.pdf, S. 3. 185 186 Das deutsche Partizip im Zentrum und an der Peripherie Gabriela Rykalová Annotation Den Untersuchungsgegenstand dieses Beitrags bilden Partizipien in der deutschen Sprache. Der Begriff ‚Partizip‘ wird in der Form, in der ihn die Lerner in Grammatiken und Schulbüchern als Partizip I (laufend) und Partizip II (gelaufen) kennen lernen, je nach zugrundeliegender Auffassung als ‚Mittelwort‘, ‚Verb‘, ‚Adjektiv‘, ‚Verbaladjektiv‘, ‚adjektivisches Verb‘ oder ‚verbalbasiertes Adjektiv‘ bezeichnet. Diese Benennungen spiegeln auf der einen Seite die vielfältigen Eigenschaften des Partizips wider, auf der anderen Seite führen sie zu zahlreichen Fragen, denen in dieser Arbeit nachgegangen wird. Da die Verwendungs- und Wortbildungsmöglichkeiten eines Partizips sehr vielfältig sind und da es anscheinend nicht eindeutig als Wort einer einzigen Wortart einzustufen ist, stellt das deutsche Partizip einen vielversprechenden Untersuchungsgegenstand dar. Der Beitrag setzt sich zum Ziel, die Verwendungsmöglichkeiten von Partizipien zu beschreiben, und zwar auf der Basis analysierter Korpusdaten, die als authentisches Sprachmaterial den tatsächlichen Gebrauch des Partizips in der modernen deutschen Sprache widerspiegeln. Schlüsselwörter Partizip, Korpusdaten, authentisches Sprachmaterial, der tatsächliche Gebrauch des Partizips 1. Das Partizip Nach dem Metzler Lexikon Sprache stammt die Bezeichnung Partizip von dem lateinischen ‚Particeps‘ und bedeutet ‚teilhabend‘: Partizip n. (lat. Particeps >teilhabend<. In Schulbüchern auch: Mittelwort. Eng. participle, frz. participe) Infinite Form des Verbs, deren Bezeichnung darauf zurückzuführen ist, dass das Part. sowohl an verbalen als auch an nominalen Eigenschaften partizipiert. Im Dt. wird wie in vielen idg. Spr. unterschieden zwischen Part. I (Part. Präsens), gebildet mit -(en)d, das einen Verlauf charakterisiert, z.B. liebend, und Part. II (Part. Perfekt), das ein Resultat charakterisiert, gebildet von starken Verben mit (ge)- … -en, von schwachen Verben mit (ge)- … -t, z.B. gesehen, geliebt. […] (Glück, 2010, S. 496) 187 Partizipien, genauer gesagt das Partizip I und das Partizip II, gehören laut dem Metzler Lexikon Sprache und auch laut deutschen Grammatiken zusammen mit dem Infinitiv zu den drei infiniten Verbformen des Deutschen, die im Unterschied zu finiten Verbformen in Hinsicht auf die Person nicht kategorisiert sind. (vgl. Eisenberg, 1999, S. 100): Infinitiv (weinen), Partizip I (weinend) und Partizip II (geweint). Die Duden-Grammatik nennt fünf infinite Verbformen: Infinitiv Präsens, Infinitiv Futur, Infinitiv Perfekt, Partizip Präsens und Partizip Perfekt (vgl. Duden, 1998, S. 114), wobei sie auch zwei Partizip-Formen erwähnt. Wie zu sehen ist, werden beide Partizipien als Verbformen bezeichnet. Infinite Verben können nicht konjugiert werden. Sie sind meistens Bestandteile anderer Komplexe. Nicht nur von Verbalkomplexen, sondern oft auch von Nominalphrasen. (vgl. Engel, 1996, S. 430) Falls sie in der attributiven Position auftreten oder substantiviert werden, dann werden sie dekliniert. Laut Grammatiken können also beide Partizipien sowohl in der attributiven (in einer flektierten Form) als auch in der prädikativen Stellung (in einer unflektierten Form) gebraucht werden. 2. Problemstellung Obwohl die besprochenen Formen die gleiche Bezeichnung – ‚Partizipien‘ tragen, verfügen sie über unterschiedliche semantische Merkmale und ganz andere morphosyntaktische Eigenschaften: „Partizipien I sind Ausdrücke, die zusammen mit den angebundenen Komplementen und Supplementen Elemente der syntaktischen Klasse Adjektivphrase bilden. Partizipien II sind morphologische Formen von Elementen der Wortklasse Verb, die nach Anbindung von Komplementen und Supplementen durch Konversion auch in die syntaktische Klasse der Adjektivphrasen übergehen können.“ (Zifonun/Hoffmann/Stecker, 1997, S. 2205) Schon aus dem oben Gesagten ist ersichtlich, dass die Zuordnung der beiden Partizipien zu einer bestimmten Wortklasse nicht unproblematisch ist. Deswegen werden im folgenden Kapitel die morphologischen Merkmale der beiden Partizipien untersucht, charakterisiert und erläutert. Dabei steht die Frage im Mittelpunkt, ob die traditionelle Definition, nach der beide Partizipien als ‚infinite Verbformen‘, die in Grammatiken unter Verben ihren Platz haben, bezeichnet werden sollen, nicht ihre Geltung verliert, wenn sie „Bestandteile von Nominalphrasen“ sind, „in der attributiven Stellung auftreten“ und „dekliniert werden“ (siehe Zitate oben). 3. Die Wortartenzugehörigkeit Einzelne Wörter können nach verschiedenen Kriterien einzelnen Wortarten zugeordnet werden. Traditionell werden Wortklassen nach grammatischen Kriterien und der Flexionsart unterschieden, d.h., ob sie flektierbar/unflektierbar, deklinierbar/konjugierbar/komparierbar sind, nach semantischen Kriterien oder nach syntaktischen Kriterien, d.h. in Hauptsächliche Wortarten und Funktions- 188 wörter (z.B. Helbig/Buscha, Bergenholtz/Schaeder). Bei ihrer Beschreibung der Möglichkeiten einer Wortklassifizierung äußern sich einige Grammatiker gegen die zwei klassischen Sichtweisen „nach ihrer Veränderlichkeit“ und „nach ihrer Semantik“ sehr kritisch. Engel (2009, S. 38) fügt zahlreiche Beispiele hinzu, die Mängel dieser Klassifikationsmöglichkeiten zeigen: „Die Methode, die Wörter nach ihrer Semantik, nach einer Art Grundbedeutung, zu klassifizieren, ist oft und seit langem angewandt worden.“ – und lehnt diese Methode als ungeeignet ab. „Wir können uns leicht darauf einigen, dass Nomina ‚Sachen‘, Verben Vorgänge oder Zustände, Adjektive Eigenschaften bezeichnen. Aber das Nomen Vorgang bezeichnet eben auch einen Vorgang, das Wort Eigenschaft auch eine Eigenschaft.“ (Engel 2009, S. 39). Štícha (2013, S. 80) macht darauf aufmerksam, dass die Kategorisierung einzelner Wortarten auf allen drei miteinander zusammenhängenden Eigenschaften eines konkreten Wortes beruht, und das sind seine Semantik, seine syntaktische Rolle und seine morphologische Charakteristik in einem konkreten Kontext. Innerhalb der deutschen Wortarten hat die Wortklasse Partizip eine lange Tradition. Nach dem Muster der lateinischen Grammatik (Nomen, Pronomen, Verbum, Partizipium1, Adverbium, Coniunctio, Präpositio und Interjectio) wird sie bereits von Johann Christoph Gottsched in seine „Deutsche Sprachkunst“, eine Grammatik des Deutschen, als eine selbstständige Wortklasse in die Liste unter der Bezeichnung „Mittelwörter (Partizipia)“ übernommen (vgl. Schaeder/Knobloch, 1992, S. 6ff). Partizipien gelten somit seit dem 17. Jh. als eine selbstständige Wortart. Womit sich Partizipien die Bezeichnung „Mittelwort“ verdient haben, erklärt der Duden: Das Partizip I wird als Partizip Präsens oder Mittelwort der Gegenwart und das Partizip II als Partizip Perfekt oder Mittelwort der Vergangenheit bezeichnet, da es eine Mittelstellung zwischen dem Verb und dem Adjektiv dadurch einnimmt, dass es Merkmale beider Wortarten aufweist (vgl. www.duden.de). „Bis ins 19. Jahrhundert herrschte die Meinung vor, dass die Wortartensysteme, die dem klassischen Griechisch und Latein zu Grunde liegen, allen Sprachen eigen und universal seien.“ (Dorado, 2008, S. 59) In den Grammatiken des 20. Jahrhunderts gibt es die eigenständige Wortklasse ‚Partizip‘ nicht mehr. Das heißt, dass sich die Grammatiken bei diesem Mittelwort doch für die Zuordnung zu einer anderen Wortklasse entschieden haben. Dass diese Einstufung nicht ohne Probleme sein wird, liegt auf der Hand. Im folgenden Punkt sind sich verschiedene Linguisten einig (vgl. z.B. Helbig/ Buscha, 2001; Duden, 1998; Engel, 1996): Partizipien, genauer gesagt das Partizip I und das Partizip II, gehören zusammen mit dem Infinitiv zu den infiniten Verbformen. Zugleich formulieren Zifonun und Eisenberg, dass es sich nur bei Infinitiv und Partizip II um infinite Verbformen handele. (vgl. Zifonun/Hoffmann/Stecker, 1997; Eisenberg, 1999) Im Falle von Partizipien I gehe es um die Kategorie der Adjektive, 1 Im Lateinischen gibt es drei verschiedene Partizipien: amans (ein präsentisches oder aktives Partizip), amatus (ein perfektives oder passives Partizip) und amaturus (ein futurisches Partizip), vgl. Valentin, 1994, S. 33. 189 denn die flektierten Formen bilden „ein dreidimensionales Paradigma, deren Formen nach Kasus, Numerus und Genus variieren“. (Poitou, 1994, S. 110). Diese Adjektive können syntaktisch auch als Substantive fungieren. (vgl. Poitou, 1994, S. 111). Eisenberg (1999, S. 101) und Zifonun/Hoffmann/Stecker (1997, S. 2205) sehen das Partizip I als ein Adjektiv und „nur das sog. Partizip Perfekt oder Partizip II als Bestandteil des „[v]erbalen Paradigmas“ an: „Partizipien I sind durch Wortbildung aus Verben entstandene Adjektive.“ (Zifonun/Hoffmann/Stecker, 1997, S. 2205) Engel (2009) charakterisiert Partizipien wie folgt: „Partizipien werden, wo sie als Attribute des Nomens verwendet werden, zu den Adjektiven gezählt […], sie entsprechen in den meisten Fällen einem zentralen Verb, das einen Satz regiert, indem es dessen Struktur bestimmt.“ (Engel, 2009, S. 104f). Helbig und Buscha (2001) machen darauf aufmerksam, dass attributive Formen homonym sind und sowohl als Partizipien verbalen Charakters als auch Partizipien adjektivischen Charakters verstanden werden können. Nach Eisenberg ist nur das Partizip II als Bestandteil eines verbalen Paradigmas anzusehen, wobei das Partizip I „nicht innerhalb irgendwelcher Verbformen verwendet“ wird und als Adjektiv gilt. (vgl. Eisenberg, 1999, S. 101) 4. Flektierbarkeit vs. Nicht-Flektierbarkeit Anhand eines Textabschnittes sollen die morphologischen Eigenschaften von verschiedenen Partizipialformen vorgestellt werden, um zu zeigen, wie heterogen diese Gruppe von Wörtern mit gleicher Form ist: Eines schönen Wintertags im Februar 1905 (da war ich schon fünf Jahre alt, und Rußland wurde gerade von den Unruhen des Blutigen Sonntags in Petersburg geschüttelt, wo ein entfernter Verwandter meines Großvaters und ein noch entfernterer Großonkel von mir, der Pope Georgij Gapon, eine mächtige Prozession anführte, die dem Zaren Nikolaus II. eine Petition überreichen wollte, der Winterpalast empfing sie aber mit Schüssen und einem fürchterlichen Massaker, bei dem mehr als tausend Menschen umkamen, sie lagen dort übereinander und zwischen ihnen die orthodoxen Ikonen und Banner, die ebenfalls von Schüssen durchlöchert und blutverschmiert waren, die Mutter Gottes mit löchrigen Augen, der Erzengel Gabriel mit zerschossener Brust und der auferstandene Lazarus wie ein abgestochenes Ferkel kreischend, und über dem Platz schwebte das Röcheln der Sterbenden wie ein dunkler Chorgesang) trippelte ich mit meiner Mutter gemütlich am winterlichen Ufer des Flusses Schwarzau entlang, auf dem Weg in das Dorf Kinitz (in das Dorf, das einmal, in ferner Zukunft, von einem riesigen See — dem Brünner Stausee nämlich — überflutet wird, und in dieser fernen Zukunft werde ich 190 dann über die Eisschale, über die zugefrorene Oberfläche des Stausees gehen, und — stellen Sie sich das bloß vor — einundsechzig Jahre alt sein, und an einer Stelle werde ich mich aufs Eis knien und durch das Eisfenster nach unten schauen und in der Tiefe des Stausees, aber auch in der Tiefe der Zeit das längst vergangene, untergegangene Dorf Kinitz sehen, mit Häuschen, die in der Tiefe verstreuten Eichhörnchenzähnen gleichen, und auch mit seiner strahlend weißen kleinen Kirche, ich werde in dieser fernen Zukunft auf dem Eis knien, einundsechzig Jahre alt sein, nach unten schauen und auf dem Grund des Sees mich selbst als Fünfjährige neben meiner Mutter am winterlichen Ufer des Flusses Schwarzau entlangtrippeln sehen, in jener längst vergangenen Zeit, als Rußland gerade von den Unruhen des Blutigen Sonntags in Petersburg geschüttelt wurde), wir eilten nach Kinitz, weil uns die Horáčeks geschrieben hatten, daß wir uns was vom Schlachtfest abholen sollten. (KDe:24) Alle in diesem Textausschnitt unterstrichenen Wörter haben die Form eines Partizips, verfügen jedoch über unterschiedliche morphologische Eigenschaften und auch unterschiedliche Funktionen im Satz. 1) 2) 3) 4) 5) 6) 7) 8) Sie kommen einerseits flektiert (z.B. zerschossener, vergangene, untergegan gene, zugefrorene, auferstandene, abgestochenes, Sterbenden), andererseits unflektiert vor (z.B. durchlöchert, blutverschmiert, kreischend, überflutet, strahlend, geschüttelt, geschrieben), sind Bestandteile entweder mehr oder weniger erweiterter Attributkon struktionen (z.B. das längst vergangene, untergegangene Dorf Kinitz), und/oder erweitern andere Komponenten (mit seiner strahlend weißen kleinen Kirche). Einige treten als Bestandteile analytischer Verbkomplexe auf (z.B. überflutet wird, geschrieben hatten). Sie werden sowohl von einfachen Verben (strahlend), als auch von Verben mit einer trennbaren oder untrennbaren Vorsilbe (vergangene, untergegangene) gebildet. Im Text ist auch ein komponiertes (blutverschmiert), wie auch ein substantiviertes Partizip (Sterbenden) vorhanden. Wie aus diesen verschiedenen Beispielen ersichtlich ist, kann die Frage nach der Wortartzugehörigkeit von Partizipien nicht mit Vollständigkeit beantwortet werden. Es gibt eine ganze Reihe von Publikationen und Fachaufsätzen, die sich mit der Frage beschäftigen, ob Partizipien der Wortklasse Verb oder der Wortklasse Adjektiv zugeordnet werden sollten. Nach der einen Auffassung sollen als Partizipien nur diejenigen Partizipialformen bezeichnet werden, die auf ein Verb zurückgehen, während die Form ohne Bezug auf ein entsprechendes Verbum finitum als Adjektiv bezeichnet werden soll. Eisenberg formuliert den Status eines Partizips in Bezug 191 auf das Adjektiv so: „Mit Partizip kann aber auch darauf Bezug genommen werden, dass Formen dieser Art, die eindeutig nicht als Adjektive lexikalisiert und also in einem regelhaften Form- und Bedeutungsverhältnis zu einem Verbstamm stehen, dem Verhalten von Adjektiven mehr oder weniger nahe kommen.“ (Eisenberg, 1994, S. 70) Alle oben unterstrichenen Formen entsprechen der Partizip-Definition, nach der sie auf eine Verbbasis zurückgehen (bis auf die letzten zwei Beispiele, die einen Sonderfall darstellen), sie partizipieren sowohl an verbalen als auch an nominalen Eigenschaften (übernehmen mehr oder weniger die Rektion des Basisverbs und lassen sich deklinieren) und werden nach dem oben beschriebenen Wortbildungsmuster gebildet: geschüttelt entfernter durchlöchert zerschossener auferstandene kreischend sterbenden überflutet < < < < < < < < schütteln sich entfernen durchlöchern zerschießen auferstehen kreischen sterben überfluten vergangen < untergegangen < verstreut < strahlend < geschüttelt < geschrieben < zugefroren < blutverschmiert < vergehen untergehen verstreuen strahlen schütteln schreiben zufrieren *blutverschmieren Wie aus dem Textabschnitt zu sehen ist, gibt es im Deutschen eine ganze Reihe von Wörtern, die die gleiche Form wie das Partizip I oder II aufweisen, die aber keine Partizipien im Sinne der traditionellen Definition sind oder als andere Partizipialformen nicht der Wortklasse Verb angehören, da sie aus anderen Wortarten entstanden sind: benachbart, interessiert, behost u.a. Bernstein nennt die Wörter, die die Form eines Partizips haben und doch keine Partizipien sind, ‚Pseudopartizipien‘ (Bernstein, 1992, S. 5), und teilt sie in zwei Gruppen: 1) „Partizipien“, die keine Partizipien mehr sind Es handelt sich um Wörter, die zwar auf einem Verb basieren, ihre ursprüngliche Bedeutung jedoch verloren haben. Sie werden nun in anderen Kontexten gebraucht: glänzendes Geschirr x glänzende Studienergebnisse 2) „Partizipien“, die es nie waren Die Wörter sind nach dem gleichen Muster wie Partizip I oder II gebildet worden, sind aber auf kein existierendes Verb zurückzuführen: während, einverstanden Die Pseudo- bzw. Scheinpartizipien sind also „Wörter, die der Form nach Partizipien sind, denen aber ein zugehöriges Verblexem fehlt“ (Haig, 2005, S. 1). 192 Die Versuche, die deutschen Partizipien einer bestimmten Wortklasse zuzuordnen, mündeten in folgender Feststellung, die für Partizipien in einem viel intensiveren Maße als für andere Wortformen zutraf: „Es gibt in den einzelnen Wortarten (analog zur Prototypen-Semantik) eher klassische oder zentrale und eher randständige oder periphere Mitglieder, und es gibt kraft abnehmender Typizität zu den Rändern der Wortarten hin, unscharfe Grenzen und Übergänge zwischen den Wortarten.“ (Schaeder/Knobloch, 1992, S. 35) 5. Ergebnisse der Analyse Im Folgenden werden Ergebnisse einer umfangreichen Korpusrecherche und der Analyse von authentischen Beispielen vorgestellt, die aufgrund von rund 600 Belegen dokumentiert sind und zu Fazit 1 – 5 führen. Für die moderne Sprachwissenschaft stellen maschinenlesbare Textkorpora (vgl. Rykalová, 2013) eine umfangreiche Datenbank dar, die es erlaubt, Informationen über einen natürlichen Kontext der untersuchten sprachlichen Phänomene sowie über Gebrauchsfrequenzen zu bekommen. Zur empirischen Untersuchung von Partizipien wird in dieser Untersuchung auf digitale Textkorpora zurückgegriffen - das Deutsche Referenzkorpus des IDS Mannheim (DeReKo) und das Parallelkorpus DeuCze, in Einzelfällen jedoch auch auf Wörterbücher (Wahrig, 2007). 5.1. Fazit 1 ‚Partizip I‘, ‚Partizip II‘ sind Benennungen für grammatische Formen, die nach einem bestimmten Muster gebildet werden und in verschiedenen Kontexten unterschiedliche semantische Merkmale und grammatische Funktionen haben und die Rolle unterschiedlicher Wortarten übernehmen können. Als Partizip (im engeren Sinne) kann das Partizip II in periphrastischen Formen bezeichnet werden, wo es in Verbindung mit den Hilfsverben haben, sein und werden zum Ausdruck von Tempus, Genus und Modus dient. Nur in dieser Funktion handelt es sich beim Partizip um eine verbale Form. In dieser Arbeit werden alle nach dem Muster: -(en)d, (ge)- … -en / (ge)- … -t und zu -(en)dgebildeten Formen als Partizipialformen bezeichnet. Die Korpusanalyse hat gezeigt, dass die untersuchten Partizipialformen nach ihren charakteristischen Merkmalen in mehrere Gruppen eingeteilt werden können: Typ: weinend Das Partizip weinend vertritt hier diejenigen Partizipialformen, die 1) aus Verben entstanden sind: weinend < weinen 2) ihre ursprüngliche Bedeutung beibehalten haben: „Tränen vergießen, heulen, schluchzen“ (Wahrig, 2007) 193 3) fähig sind, als Angaben Kernpropositionen zu erweitern: Das drittemal kam er weinend auf Knien gerutscht und bettelte darum, Bürger der DDR zu werden. (BDe 138) 4) d.h. in ihrer unflektierten Form als Adverbialangabe zum Verb und 5) in ihrer flektierten Form als Attribut zum Nomen auftreten können: Mario fühlte sich so hilflos wie noch nie, und in seiner Verzweiflung fiel ihm nichts anderes ein, als bittende und flehende Gesten in Richtung der verdunkelten Staatskarossen zu machen. (BDe 155) 6) Diese Partizipien sind nicht fähig, sich an der ist-Prädikation zu beteiligen: *Er ist weinend. Die als Adverbialangabe gebrauchten Partizipialformen dieser Gruppe haben gegenüber anderen Adverbialangaben (heute, zu Hause, schnell) die besonderen Eigenschaften, dass sie 1) eine zweite, gleichzeitig verlaufende Handlung benennen: Als Micha an diesem Nachmittag Miriam verließ und mit einem Hochgefühl nach Hause ging, öffnete ihm Frau Kuppisch weinend die Tür. (BDe 149) 2) die Umstände der Handlung benennen: Micha, Sabine und Bernd, Herr und Frau Kuppisch betrachteten eine Minute lang schweigend den Inhalt der Dose. (BDe 151) 3) durch Orts- und Zeitbestimmungen erweitert werden können: eine Minute lang schweigend / durstig und an den Händen blutend Von anderen Adjektiven unterscheiden sich die Partizipialadjektive dadurch, dass sie in der attributiven Funktion durch Adverbialattribute der Orts-, Umstands- und Zeitbestimmung erweitert werden können: Also hat er mich doch nach all den Jahren überflügelt, sagte er, und ihm war, als antwortete nicht Minna, sondern der bereits in einer Schnellkutsche nach Sankt Petersburg rasende Humboldt. (KeDe 290) Metallene Kapseln schoben sich in Ameisenkolonnen die Straßen entlang, ein tiefes Brummen erfüllte die Luft, hing unter dem Himmel, schien sogar von der schwach vibrierenden Erde aufzusteigen. (KeDe 283) Im Grunde nicht erst das Verlöschen und die Sekunden des Übergangs, sondern schon das lange Nachlassen davor, jene sich über Jahre dehnende Erschlaffung; […]. (KeDe 263) 194 Typ: pfeiferauchend Das Partizip pfeiferauchend vertritt alle komponierten Partizipialformen, die 1) sowohl zusammen als auch getrennt geschrieben werden können: pfeiferauchend / eine Pfeife rauchend 2) wobei der verbale Ursprung bei der zusammen geschriebenen Form nicht so deutlich ist, als wenn das Verb vom Nomen getrennt ist: eine Pfeife rauchend < eine Pfeife rauchen pfeiferauchend < *pfeiferauchen Es konnte belegt werden, dass durch die Komposition und Zusammenbildung zusammengesetzte Partizipien im Gegensatz zu den einfachen Partizipien verbalen Charakters ihre Fähigkeit, als Prädikate des Satzes zu fungieren, verlieren und nicht mehr fähig sind, als finite Verben aufzutreten. Die Korpusanalyse hat auf die Schwankungen in der Zusammen- und Getrenntschreibung hingewiesen, was sich in den Verwendungsmöglichkeiten widerspiegelt, wobei in den meisten Fällen die Zusammenschreibung überwiegt. 3) Die komponierten Formen dieses Typs können als Angaben die Kernpropositionen erweitern: Er sagt es pfeiferauchend und gemütlich. 4) In ihrer flektierten Form können sie als Attribut zum Nomen auftreten: Vielleicht hatten sie einen netten alten, pfeiferauchenden Professor dort ans Telefon gesteckt, und ich kramte in aller Eile ein paar lateinische Vok abeln zusammen und sagte demütig: “sum frater leonis”. (DeReKo) 5) Die Verwendbarkeit im Rahmen der ist-Prädikation (*Er ist pfeiferauchend) sowie die Möglichkeit, das Attribut zu erweitern (*Er ist pfeiferauchendlaut), sind blockiert. Somit haben diese komponierten Formen die gleichen syntaktischen Eigenschaften wie die Partizipien des ersten Typs. Typ: glänzend Das Partizip glänzend vertritt hier diejenigen Partizipialformen, die 1) aus Verben entstanden sind: glänzend < glänzen 2) aber im Unterschied zum ersten Typ polysemantisch sind: 1. „leuchtend, strahlend, blendend […]“ 2. „mit einer glänzenden Schicht versehen“ 3. „ausgezeichnet, hervorragend“ (Wahrig, 2007) 195 Über die syntaktischen Eigenschaften entscheiden der Ursprung und die Bedeutung der Partizipialform: 1) Falls die Partizipialformen einen verbalen Ursprung haben, dann sind sie fähig, eine zweite Handlung zu benennen und gleichzeitig als Angaben Kernpropositionen zu erweitern: Silbern glänzend taucht der Milchtankwagen auf, hält hinter der Molkerei mitten im Dorf. (DeReKo) 2) und als Attribute das Nomen näher zu bestimmen: Silbern glänzende Pfeifen in allen Grössen soweit das Auge reicht: (DeReKo) 3) Die metaphorische Bedeutungsübertragung öffnet weitere Verwendungsmöglichkeiten. So entstandene Adjektive sind auch fähig, entweder das attribuierte Adjektiv: Die Lomatia hat 10 bis 20 Zentimeter grosse, glänzend grüne, ledrige, zergliederte Blätter, an deren Spitzen rote Blüten erscheinen. (DeReKo) 4) oder das Adjektiv in einer ist-Prädikation näher zu bestimmen: „Hallo, Micha!“ rief Wuschel, der glänzend aufgelegt war. (BDe 140) 5) In einigen Kontexten können sie sogar eine doppeldeutige Wirkung haben: Am Sonntag zirkulierten dann Musikantinnen und Musikanten in strenger Uniform mit glänzend geputzten Instrumenten. (DeReKo) 6) In ihrer flektierten Form können sie als Attribut zum Nomen auftreten: Mario fühlte sich so hilflos wie noch nie, und in seiner Verzweiflung fiel ihm nichts anderes ein, als bittende und flehende Gesten in Richtung der verdunkelten Staatskarossen zu machen. (BDe 155) Es hat sich gezeigt, dass die Tatsache, ob die Partizipialformen in der attributiven Position ihren verbalen Charakter beibehalten haben oder nicht, u.a. einen Einfluss auf die Ergänzung durch eine andere Partizipialform hat (gewinnbringend angesetzt, glänzend aufgelegt). Typ: ohrenbetäubend Das Partizip ohrenbetäubend vertritt hier die komponierten Partizipialformen, die im Gegensatz zum Typ 3 (pfeiferauchend) in allen untersuchten syntaktischen Rollen verwendbar sind: 1) Als Angaben charakterisieren sie das Prädikat des Satzes näher: Dass einige Feuerwerks-Artikel ohrenbetäubend krachen und knallen, kann ergötzen oder stören. (DeReKo) 2) 196 Sie können als Bestandteile des Prädikats auftreten: Der Lärm ist ohrenbetäubend. (DeReKo) 3) Sie haben eine besondere Eigenschaft – sie haben, ähnlich wie Steigerungspartikel, eine steigernde Funktion: Ohrenbetäubend laut tönen die Dudelsäcke, Ohrenpfropfen, die den Lärm dämpfen, sind deshalb Pflicht. (DeReKo) 4) Nicht zuletzt sind sie fähig, als Attribute zu Nomen zu fungieren: 550 Flugzeuge donnern täglich über die nur knapp 300 Meter entfernte Rollbahn, 550 ohrenbetäubende und luftverpestende Starts und Landungen. (DeReKo) Genauso wie bei den komponierten Partizipialformen des Typs pfeiferauchend schwankt die Zusammen- und Getrenntschreibung: Der Lärm ist Ohren betäubend, der Boden bebt. (DeReKo) Dank der Korpusanalyse kann die Frage beantwortet werden, ob es Bedeutungsunterschiede bei der Zusammen- und Getrenntschreibung gibt. Dies soll an folgenden Belegen gezeigt werden: Dieses Angebot ist für mich ein Greuel. Es heißt doch: Man nehme Menschen, stopfe sie in Flugzeuge, damit diese nur ja ganz voll sind, und fliege um des Fliegens willen, Treibstoff vergeudend, die Luft verpestend mit Gedröhn über Europa. (DeReKo) Wenig überraschend war ich vorerst der einzige Fahrgast. Jahraus, jahrein brummen diese Busse luftverpestend umher und kaum je sieht man Leute darin. (DeReKo) In dem Satz […] und fliege um des Fliegens willen, Treibstoff vergeudend, die Luft verpestend […] wird das Objekt die Luft fokussiert. Hervorgehoben wird die Tatsache, dass die Luft verpestet wird. Dagegen wird in dem Satz […] brummen diese Busse luftverpestend umher […] der Umstand, die Art und Weise, wie die Busse fahren, in den Vordergrund gestellt. Typ: gewohnt / gehabt / gekommen Die Partizipien gewohnt, gehabt und gekommen vertreten alle rein verbalen Formen. 1) Sie kommen nur als infinite verbale Formen in Verbalkomplexen vor (wir haben hier gewohnt, er hat gehabt, sie ist gekommen). Gerade erst, verborgen reisend, sei er Zeuge geworden, wie ein Greis und ein Student, ein deutscher Vater und sein Sohn, zwei treue Männer, polizeischikaniert worden seien, weil sie kein Papierzeug bei sich gehabt hatten. (KeDe 232) 197 2) Nur einige Formen sind fähig, sich am Passiv zu beteiligen (hier wird gewohnt). 3) Die attributive und adverbiale Funktion ist bei einigen dieser Partizipialformen auf Grund ihrer Semantik blockiert (*die gewohnte Stadt, *die gehabte Wohnung). Typ: gehäkelt Das Partizip gehäkelt vertritt diejenigen passivfähigen Partizipialformen, die 1) immer in ihrer flektierten Form oder als Attribut zum Substantiv (des gehäkelten Erbstücks, kommentierte Fotos) auftreten können, 2) fähig sind, als Prädikatsteil zusammen mit dem Kopulaverb sein das Prädikat zu bilden (es ist gehäkelt, sie sind kommentiert) und 3) sich zusammen mit dem Hilfsverb werden an passivischen Konstruktionen beteiligen können (es wurde gehäkelt, sie wurden kommentiert). 4) Sie können nicht als Adverbiale auftreten und ein Verb modifizieren (*er kommt gehäkelt). Kommentierte Fotos von Klassentreffen sagten ihm, wie viele restliche, inzwischen hochbetagte Schüler immer noch reiselustig waren. (GDe 95) Typ: zerfallen Zerfallen vertritt diejenigen Partizipialformen, die 1) nicht passivfähig sind (*sie wurden zerfallen), 2) nicht fähig sind, als Adverbiale das Prädikat zu modifizieren (*sie sind zerfallen groß). Anders die weltweiten Krisen: War es hier die arabische Wüste, in der neue Waffensysteme erprobt werden sollten, war es dort die Sowjetunion, die in ihre weit voneinander entfernt liegenden Bestandteile zu zerfallen drohte. (GDe 154) 3) Als Attribute sind sie ohne Begrenzung verwendbar (die überwucherte Wiese, die zerfallenen Salzkartoffeln). Die Witwe hatte zum Schluß Sahne an die Pilze gerührt, das Ganze leicht gepfeffert und die gehackte Petersilie über die mehlig zerfallenen Salzkartoffeln gestreut. (GDe 36) 4) In der Verbindung mit dem Hilfsverb sein handelt es sich entweder um 198 die Perfektform (sie sind zerfallen), wobei sich das Hilfsverb sein als Auxiliar an einer analytischen Verbform beteiligt, oder um eine ist-Prädikation (sie sind zerfallen – in einem bestimmten Zustand / sie sind überwuchert – in einem überwucherten Zustand), in der sich die Partizipialform zerfallen zum Adjektiv nominalisierte und das Hilfsverb sein die Funktion eines Kopulaverbs übernimmt. Dieser Doppelgrabstelle sage ich nach, daß sie, buchsbaumumrandet, weniger überwuchert ist als die benachbarten Grabstellen. (GDe 23) Typ: ungelesen Eine spezielle Gruppe bilden Formen, die 1) eine verbale Basis haben (lesen > gelesen, verletzen > verletzt), 2) durch die un-Präfigierung jedoch ihren verbalen Charakter verloren haben und der Wortklasse Adjektive angehören (ungelesen, unverletzt): Die ersten zwei Male entkamen sie unverletzt, […] (KeDe 41) 3) Die verbale und adverbiale Verwendung ist blockiert. Typ: bemoost Diese besondere Gruppe von Partizipialformen 1) wurde durch eine kombinatorische Ableitung aus einem Präfix und einem Partizipialsuffix direkt aus dem Substantiv oder Adjektiv gebildet: Moos < *bemoosen < bemoost 2) Genauso wie bei den ornativen Partizipialformen behaart, behost, bebrillt handelt es sich bei den Partizipialformen des Typs bemoost um Formen, die durch eine direkte Konversion aus Substantiven ohne ein Basisverb entstanden sind. 3) Aus diesem Grund kommen sie nicht in Verbalkomplexen vor (*sie haben / hatten / wurden bemoost), 4) während ein okkasioneller Gebrauch in passivischen Konstruktionen jedoch nicht auszuschließen ist: Die Natur hat den Menschen behaart. Was sich mit Haaren alles anstellen lässt, zeigen die Macher der Internet-Seite www.fiese-scheitel.de (DeReKo) > Der Mensch ist von der Natur behaart worden. 5) Diese Partizipialformen können ohne Begrenzung attributiv gebraucht werden: Wo Herbstlaub raschelte, schlurfte er auf bemoosten Wegen. (GDe 22) 6) und sind fähig, als Prädikatsteil zusammen mit dem Kopulaverb sein das Prädikat zu bilden (er ist behaart, sie sind bemoost). 199 5.2. Fazit 2 Die Korpusanalyse hat bestätigt, dass sich die attributiv gebrauchten Partizipien analog zu reinen Adjektiven ähnlich wie Adjektive verhalten und die Bezeichnung Verbaladjektive angemessen ist. Die attributiv gebrauchten Partizipialformen (und zwar sowohl die Partizip-I-Form als auch die Partizip-II-Form) haben sich aufgrund ihrer morphologisch-syntaktischen Eigenschaften konsequent zu Adjektiven transformiert und bilden somit als Partizipialadjektive eine Untergruppe der Wortklasse Adjektive mit spezifischen Eigenschaften. Die Partizipialadjektive können durch Adverbialattribute der Orts-, Umstands- und Zeitbestimmung erweitert werden: Ortsbestimmung: Also hat er mich doch nach all den Jahren überflügelt, sagte er, und ihm war, als antwortete nicht Minna, sondern der bereits in einer Schnellkutsche nach Sankt Petersburg rasende Humboldt: (KeDe 290) Umstandsbestimmung: Metallene Kapseln schoben sich in Ameisenkolonnen die Straßen entlang, ein tiefes Brummen erfüllte die Luft, hing unter dem Himmel, schien sogar von der schwach vibrierenden Erde aufzusteigen. (KeDe 283) Zeitbestimmung: Er selbst habe, nicht zuletzt eines vor langer Zeit gegebenen Versprechens wegen, damit begonnen. (KeDe 266) Adjektivisch gebrauchte Partizipien bilden eine geeignete Grundlage für Zusammenbildungen und einen kreativen Umgang mit der Sprache, so wie in dieser jäh unterbrochenen Tirade: „Keine Mätzchen schätzt der pfeiferauchende, pullovertragende, aus Roscommon gebürtige, lyriklesende, kaugummikauende, an bösartiger Anämie leidende, schweinsäugige, stupszehige, fahlhäutige, mopszahnige, glubschgesichtige -Das einfache irische Volk: Na, machen Sie schon, los!“ (DeReKo) Attributiv verwendete Partizipialformen verbalen Ursprungs bilden als Partizipialadjektive einerseits eine Untergruppe der Wortart Adjektive, andererseits eine Untergruppe aller Partizipialformen. 5.3. Fazit 3 Einen Übergang aus der Gruppe der Partizipialadjektive in die Gruppe der „reinen“ Adjektive erleben die Partizipialformen beim Prozess der Metaphorisierung, auf 200 dem der oben erwähnte Prozess der Grammatikalisierung beruht. Bei diesem Prozess verlieren die Partizipialformen ihren verbalen Charakter und einen mehr oder weniger sichtbaren Bezug zum Bezugsverb. Als Beispiel für eine auf einer Metapher beruhende Umwandlung wurde das Partizip glänzend vorgestellt. Nebeneinander existieren zwei homonyme Formen: glänzend mit der Bedeutung ,Glanz ausstrahlend, leuchtend, strahlend’, das ein aus dem Verb glänzen entstandenes Partizipialadjektiv darstellt und um weitere Bestimmungen (seidig, seitlich, stundenlang) erweitert werden kann. Und glänzend als ,ausgezeichnet, hervorragend’, das die Merkmale eines reinen Adjektivs trägt: Sie zog den mausgrauen Regenmantel, die Kostümjacke aus, stand vor ihm in hellblauer, seidig glänzender, unter den Achseln dunkel verschwitzter Bluse und war immer noch atemlos. (GDe 77) „Eine glänzende Rede“, sprach ich bewegt. Diese Multifunktionalität der Partizipialformen wurde dank einer Bedeutungsübertragung geschaffen und erweitert die syntaktischen Verwendungsmöglichkeiten in verschiedenen Kontexten: Was er sagte, war ausreichend, um ihn auf Dauer nichts werden zu lassen. (BDe 133) Es war immer so kompliziert und anstrengend, aber der Schlußstrich war ganz einfach zu ziehen. (BDe 133) 5.4. Fazit 4 Diejenigen Partizipialformen, die nicht aus Verben, sondern aus anderen Wortarten (Substantiv, Adjektiv) nach dem gleichen Muster wie Partizipien gebildet worden sind und aufgrund ihres Ursprungs als Pseudopartizipien bezeichnet werden, tragen Merkmale eines Adjektivs in allen ihren syntaktischen Rollen und werden deshalb der Wortklasse Adjektive zugeordnet. Wie beschrieben wurde, werden zahlreiche Partizipialformen analog zu echten Partizipien okkasionell gebildet. Vor allem bei der be-Präfigierung handelt es sich um ein sehr produktives Wortbildungsmuster. Zahlreiche Belege nicht verbalen Ursprungs sind für diese Art Wortbildung vor allem unter Partizip-II-Formen zu finden (bemoost, bebrillt, beringt). Auch andere verbbildende Präfixe wie ver- oder ge- weisen eine hohe Produktivität auf (verfettet, gegiebelt). Die Analyse hat gezeigt, dass diese Partizipialformen ohne Ausnahme nominale Merkmale tragen und der Wortklasse Adjektiv angehören. Am Beispiel eines mehrfachen Attributs kann gezeigt werden, dass die Partizipialformen und Adjektive die gleiche syntaktische Funktion im Satz haben können und dass die Bezeichnung ‚Partizipialadjektiv‘ berechtigt ist. In der syntaktischen Position eines pränuklearen Attributs wird die Partizipialform (schwitzend) genau 201 wie die anderen attributiv verwendbaren Adjektive (kalt, feucht, schlecht) flektiert und kongruiert wie diese mit dem Bezugswort in Kasus, Genus und Numerus: kalte Finger, feuchte Hände, schlechten Atem oder schwitzende Achseln: Micha wurde in dem Moment klar, daß Tanzschule auch bedeutet, daß er Miriam sehr, sehr nah sein wird, und wenn er kalte Finger, feuchte Hände, schlechten Atem oder schwitzende Achseln haben wird, dann würde sich das nicht verbergen lassen. (BDe 46) Auch als Nachträge in der unflektierten Form werden von den Sprachbenutzern keine Unterschiede zwischen reinen Adjektiven und Partizipialadjektiven gemacht: Alle Blicke der Umsitzenden waren auf die Familie M. gerichtet. Interessiert, wohlwollend, spöttisch, lächelnd, fragend... (DeReKo) Auf der anderen Seite gibt es zwischen reinen Adjektiven und Partizipialadjektiven bedeutende Unterschiede: 1. Partizipialadjektive haben ihre Verbvalenz beibehalten und sind somit fähig, Leerstellen für Bestimmungen adverbialer Art zu öffnen (jene sich über Jahre dehnende Erschlaffung). 2. Partizipialadjektive tragen zu einer Informationsverdichtung und Hervorhebung eines modifizierenden Zustandes bei, und das: a) als Adverbialangabe: Rauchend führte die Witwe den Witwer aus der Stadt, b) als Partizipialkonstruktion: Stockend, seiner Muttersprache entwöhnt, fragte Humboldt nach Brombachers Heimatstadt, der Höhe ihres Kirchturms, der Zahl ihrer Bewohner, c) als erweitertes Attribut: der bereits in einer Schnellkutsche nach Sankt Petersburg rasende Humboldt, d) als Apposition: Jede Nacht sitzt er da, nachdenkend. 3. Durch die Transposition kommt es dazu, dass aus einem Handlungen oder Prozesse ausdrückenden Verb ein Partizipialadjektiv entsteht, das die verbalen Merkmale behält und gleichzeitig fähig ist, die adjektivischen Merkmale zu übernehmen, d.h. in einer attributiven Position Eigenschaften zu benennen. Die so gebildeten Partizipialadjektive sind besonders aussagekräftig und dienen einer präzisen Ausdrucksweise vor allem bei Beschreibungen. 5.5. Fazit 5 Bei prädikativ gebrauchten Partizipialformen handelt es sich auf der einen Seite um Partizipialadjektive mit adverbialer Funktion, die bei ihrem Gebrauch in jedem Kontext unflektiert bleiben, auf der anderen Seite um rein verbale Formen, die als 202 Partizipien im engeren Sinne Bestandteile periphrastischer Verbformen sind. Einen interessanten Fall bilden Verbindungen mit sein. Die Partizipialformen des Typs zerfallen in den Wortverbindungen mit sein (siehe unten) sind homonym. Auf der einen Seite drücken sie den in der Vergangenheit abgeschlossenen Prozess (Perfekt), auf der anderen Seite einen andauernden Zustand (ist-Prädikation) aus, der als Ergebnis dieses Prozesses zu verstehen ist: die Salzkartoffeln sind während des Kochens zerfallen < Ergebnis eines aktivischen Prozesses die Salzkartoffeln sind nun zerfallen < Zustand Genauso kann es sich um die Homonymie eines Zustandspassivs und einer Kopulakonstruktion, die aus einem Kopulaverb und einem Partizipialadjektiv besteht, handeln: das Erbstück ist gehäkelt < Ergebnis einer passivischen Handlung das Erbstück ist gehäkelt < Zustand Partizipialformen bilden eine funktional vielfältige Gruppe von formal ähnlich gebildeten Wörtern mit unterschiedlichen syntaktischen Funktionen, die als einzigartige Formen verstanden werden sollen. Aus diesem Grund kann die Frage nach der Wortartzugehörigkeit des deutschen Partizips nicht mit einem Wort beantwortet werden. Wie aus der Analyse zu sehen ist, sind an der Wortartbestimmung mehrere Faktoren beteiligt. Nach der Definition sind Partizipien Mittelwörter, die ihren Platz zwischen dem Verb und dem Adjektiv haben. Obwohl die Sprache einen ständigen Wandel erlebt, für den hier der Begriff ‚Grammatikalisierung‘ übernommen wurde, oder vielleicht gerade dank dem ständigen Sprachwandel, verhalten sich einige Partizipialformen wie Verben, andere wie Adjektive. Und fragt man nach der Grenze zwischen den Partizipialformen, die verbale Eigenschaften haben und den Partizipialformen mit adjektivischen Eigenschaften, dann kommt man zu dem Ergebnis, dass es keine Grenze gibt, wie auch folgende Abbildung zeigt: verbale weinend pfeiferauchend glänzend 1 gehabt gehäkelt gewohnt zerfallen gekommen adjektivische Eigenschaften glänzend 2 ohrenbetäubend ungelesen bemoost 203 Damit soll nicht gesagt werden, dass man die Wortart der einzelnen Formen nicht bestimmen kann; sondern, dass einzelne Partizipialformen im Zusammenhang mit ihrer syntaktischen Funktion und dem Kontext über verschiedene Merkmale verfügen (wie z.B. die Partizipialformen glänzend, gehäkelt, zerfallen u.a.), und somit beiden Wortarten angehören können. Auf der Basis analysierter Korpusdaten, die als authentisches Sprachmaterial den tatsächlichen Gebrauch des Partizips in der modernen deutschen Sprache widerspiegeln, wurden die morphologischen, syntaktischen und lexikalischen sowie auch die stilistischen Möglichkeiten des deutschen Partizips beschrieben. Die Untersuchung ging von zahlreichen Korpusbelegen aus, die es ermöglichten, eine systematische, vollständige und detaillierte Darstellung verschiedener Verwendungsweisen des deutschen Partizips vorzustellen und zu diskutieren. Partizipialformen bilden eine funktional vielfältige Gruppe von formal ähnlich gebildeten Wörtern mit unterschiedlichen syntaktischen Funktionen, die als einzigartige Formen verstanden werden sollen. Aus diesem Grund kann die Frage nach der Wortartzugehörigkeit des deutschen Partizips nicht mit einem Wort beantwortet werden. Nach der Definition sind Partizipien Mittelwörter, die ihren Platz zwischen dem Verb und dem Adjektiv haben. Und fragt man nach der Grenze zwischen den Partizipialformen, die verbale Eigenschaften haben und den Partizipialformen mit adjektivischen Eigenschaften, dann kommt man zu dem Ergebnis, dass es zwischen dem Zentrum und der Peripherie keine Grenzen gibt. Abstract This text deals with the grammatical forms „Partizip“, that constitute a relatively complex phenomenon in terms of a systematic description of a language. It is due to their formal as well as functional variety that modern grammarians find them rather difficult to grasp. In German grammar books participles tend to be classified as indefinite (non-finite) verb forms, but the term ‘participle’ itself suggests that it is a form that does not fit into any word class. This is also evident in names such as ‘Mittelwort‘, ‘Verb‘, ‘Adjektiv‘, ‘Verbaladjektiv‘, ‘adjektivisches Verb‘ and ‘verbalbasiertes Adjektiv‘. There is only a general consensus on the conclusion that it is a very specific category that carries verbal as well as nominal features. That is why this text aims at features of German participles, and it aims at doing so by a systematic analysis of relevant corpus data, which as an authentic reference language material reflect the real usage of participles in present-day German. Due to their currency, corpus data also facilitate the observation of recent development tendencies in this area of grammar. 204 Keywords German participles, corpus data, reference to authentic language material, real usage of participles Quellenverzeichnis [BDe] Brussig, Thomas: Am kürzeren Ende der Sonnenallee. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 2001. [GDe] Grass, Günther: Unkenrufe. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1999. [KeDe] Kehlmann, Daniel: Die Vermessung der Welt. Hamburg: Rowohlt 2010. 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[4.11.2014] Dieser Beitrag entstand im Rahmen des Forschungsprojektes SGS/12/2016 „Moderne Herangehensweisen an die Textanalyse und -interpretation“ („Moderní přístupy k analýze a interpretaci textu“) am Institut für Fremdsprachen der Schlesischen Universität Opava. 206 Verbale und nominale Valenzrahmen bei zentralen und peripheren Lexemvarianten Mojmír Muzikant und Roland Wagner Annotation Der Beitrag ist im Rahmen der Ausarbeitung eines derivationellen Valenzlexikons entstanden, in dem Valenzträger des Deutschen und Tschechischen für verschiedene kategoriale Kontexte erfasst werden sollen. Anhand des Musterlemmas für abfallen wird diskutiert, welche Kriterien zur Festlegung von zentralen und peripheren Varianten des jeweiligen Lexems geeignet sind und welche linguistischen Besonderheiten an der Peripherie des genannten Lexems auftreten. Schlüsselwörter Valenzrealisierung – Aktantenrahmen – Valenzvererbung – Valenzlexikographie – Nebenbedeutung 1. Einführung Die Begriffe Zentrum und Peripherie sind in der Sprachwissenschaft bekanntlich fest mit der Prager Schule verbunden. Sie könnten aus trivialer Sicht als Opposition „häufig“ versus „selten“ im Bereich der Frequenz sprachlicher Erscheinungen ausgelegt werden. Diese Sichtweise ermöglicht es u. a., solche sprachliche Erscheinungen, die häufig vorkommen, im Gegensatz zu jenen, die sich nur an der Peripherie befinden, zu kodifizieren. In der linguistischen Praxis können allerdings nicht selten breitere Zusammenhänge in die Dichotomie Zentrum und Peripherie einbezogen werden, wie dies übrigens das vor kurzem an der Würzburger Universität veranstaltete Forum „Junge Romanistik“ zeigt.1 Erörtert wurden dort unter dem Motto „Zentrum und Peripherie“ Themen wie die Auftretenshäufigkeit von Textelementen in einer bestimmten Textsorte (Arztbewertungen) aus vergleichender Sicht Deutsch – Französisch, Bewegungen bei den Wortarten (Übergänge, Affinität zu Nachbarkategorien), Entwicklung vom Mono- zum Plurizentrismus sowie konkrete Beziehungen zwischen Zentrum und Peripherie in den romanischen Sprachen. 1 „Zentrum und Peripherie“ (32. Forum Junge Romanistik, 16. – 19. März 2016, Julius-Maximilians-Universität Würzburg), abrufbar unter: www.romanistik.uni-wuerzburg.de (URL 1). 207 In unserem Beitrag wollen wir anhand eines Musterlemmas aus einem geplanten Valenzlexikon der Frage nachgehen, wie die einzelnen ermittelten Bedeutungsvarianten und ihre Valenz-Realisierungsstrukturen beim Basisverb und seinen Derivaten unter dem Blickwinkel Zentrum und Peripherie zu charakterisieren sind. Im ersten Abschnitt beziehen wir die Begriffe „Zentrum“ und „Peripherie“ auf die in der Lexikographie verbreitete Gliederung von Lexikoneinträgen in Haupt- und Nebenbedeutungen. Wir diskutieren dabei verschiedene Kriterien, die für diese Unterscheidung in der Literatur als relevant erachtet werden. In Abschnitt 2 stellen wir den Beitrag in den Kontext der Erarbeitung eines kleinen Valenzlexikons, wie es am Lehrstuhl für deutsche Sprache und Literatur an der Pädagogischen Fakultät der Masaryk-Universität in Brünn konzipiert worden ist.2 Wir klären die theoretischen Grundannahmen, die der Konzeption zugrunde liegen, und stellen das Format von Lexikoneinträgen anhand des Musterlemmas abfallen vor. Die folgenden Abschnitte sind der Frage gewidmet, welche Ergebnisse die in Abschnitt 1 diskutierten Kriterien bei ihrer Anwendung auf die Varianten von abfallen liefern. Zunächst prüfen wir das Frequenzkriterium, wobei wir – entsprechend der Konzeption unseres Valenzlexikons – sowohl den verbalen als auch den nominalen Bereich berücksichtigen (Abschnitt 3). Anschließend untersuchen wir in Abschnitt 4 zwei Varianten genauer auf Besonderheiten bei der Realisierung des Valenzpotentials. Dabei lassen wir uns von der Frage leiten, ob zentrale und periphere Varianten Unterschiede hinsichtlich der Realisierungsforderungen aufweisen. In Abschnitt 5 analysieren wir die Struktur des Aktantenrahmens einer peripheren Variante und weisen auf Abweichungen von der kanonischen Strukturierung hin, die den peripheren Status der Variante bestätigen. Die Diskussion im anschließenden Kapitel zeigt, dass die von uns diagnostizierten Abweichungen von der kanonischen A-Struktur grammatisch relevant sind. In Abschnitt 7 untersuchen wir schließlich anhand von Sprachmaterial aus dem parallelen Korpus [InterCorp], ob sich der Unterschied zwischen zentralen und peripheren Varianten in Unterschieden bei der lexikalischen Besetzung von tschechischen Parallelstellen zu deutschen Konstruktionen mit abfallen niederschlägt. Konkret betrachten wir die Streuung der Übersetzungsäquivalente im Tschechischen, die dem Verb abfallen im Deutschen im Korpus zugeordnet sind. Der Beitrag schließt mit einigen Schlussfolgerungen hinsichtlich der Brauchbarkeit der einzelnen Kriterien, die die Analyse unseres Musterlemmas abfallen nahelegt. 2. Zentrum und Peripherie in der Struktur von Lexikoneinträgen In lexikologischen Arbeiten wird im Rahmen eines Lexikoneintrags oder Lemmas gewöhnlich zwischen einer oder mehreren Hauptbedeutung(en) und einer oder mehreren Nebenbedeutung(en) unterschieden (vgl. z.B. Schlaefer, 2002, S. 23-24). Diese Unterscheidung stützt sich auf verschiedene Kriterien, die in 2 Die Arbeiten werden unter der Projektnummer GA15-05356S von der Forschungsagentur der Tschechischen Republik (GAČR) finanziell gefördert. Der vorliegende Beitrag ist im Rahmen dieses Projekts entstanden. 208 der einschlägigen Literatur mehr oder weniger explizit ausgeführt sind. Als Hauptbedeutung gilt nach Schlaefer zunächst rein intuitiv diejenige Bedeutung eines Lexems, die ohne Kontext vom Hörer zuerst assoziiert wird. Es handelt sich dabei um das Semem, das die eigentliche oder wörtliche Bedeutung, die sich auf etwas Konkretes, Dingliches bezieht, repräsentiert. Diese Ansicht steht im Einklang mit Schmidt (1965, S. 26), für den die Hauptbedeutung die aktuelle Bedeutung ist, die als die gesellschaftlich wichtigste Bedeutung bei isolierter Nennung des Wortes im Bewusstsein der meisten Sprecher zuerst realisiert wird. Schippan (1992, S. 167) wendet allerdings ein, dass bei vielen polysemen Wörtern infolge subjektiver Faktoren sehr schwer festzulegen ist, welches der Sememe die Hauptbedeutung darstellt. Diese Frage versucht laut Schippan die Psycholinguistik zu beantworten, indem sie die Rangfolge der Sememe eines bestimmten Wortes experimentell durch Assoziationstests zu ermitteln sucht. Dabei hat sich gezeigt, dass bestimmte Sememe vor anderen in Abhängigkeit von der Häufigkeit ihres Gebrauchs rangieren. Solche Sememe sind meist die nicht übertragenen Bedeutungen, die neutral und nicht phraseologisch gebunden sind. Auch Čermák (1992, S. 253-254) misst dem Frequenzkriterium im Aufbau eines Lemmas eine führende Rolle bei; Angaben zur Frequenz sollten daher den stilistischen Angaben übergeordnet sein. Die Zugehörigkeit zum Zentrum oder zur Peripherie des Wortschatzes macht nach Filipec und Čermák (1985, S. 76) einen der acht Typen der lexikalischen Bedeutung aus. Demnach sind zentrale, d.h. merkmallose, geläufige Bedeutungen und periphere Bedeutungen, die nicht mehr geläufig sind, zu unterscheiden (vgl. Filipec und Čermák, 1985, S. 87). Jede Wortart hat nach Filipec und Čermák (1985, S. 77) im Zusammenhang mit ihrer primären und sekundären Funktion Zentrum und Peripherie. So sind z.B. bei Verben finite Formen das grammatische Zentrum, die Peripherie bilden Partizipien. In semantischer Hinsicht stehen nicht abgeleitete Vollverben im Zentrum. Der kurze Literaturüberblick im vorangegangenen Absatz zeigt, dass für die per se anzunehmende Strukturierung des Bedeutungsfeldes von Lexemen in Zentrum („Hauptbedeutungen“) und Peripherie („Nebenbedeutungen“) verschiedene Faktoren verantwortlich gemacht werden, zwischen denen in unterschiedlichem Grade Abhängigkeitsbeziehungen angenommen werden. Betrachtet man die einzelnen Faktoren isoliert, erhält man aufgrund des oben Gesagten folgende Kriterien, auf die man sich bei der Festlegung von Haupt- und Nebenbedeutungen stützen kann: • Häufigkeit (Frequenz): Bedeutungen mit hoher Token-Frequenz sind zentral, solche mit niedriger Token-Frequenz peripher; • Präsenz im Bewusstsein der Sprecher: Bedeutungen, die von Sprechern bei isolierter Nennung des Wortes zuerst assoziiert werden, sind zentral, solche, die zunächst nicht assoziiert werden, sind peripher; • Kontextabhängigkeit: Bedeutungen, die ohne unterstützenden Kontext zustande kommen, sind zentral, solche, die sich erst aus einem größeren Kontext ergeben, peripher; 209 • Wörtliche und übertragene Bedeutung: Die wörtlichen oder konkreten Bedeutungen eines Wortes sind zentral, die übertragenen oder metaphorischen Bedeutungen dagegen peripher. Neben dem Problem der Praktikabilität bei der konkreten lexikographischen Arbeit (vor allem beim zweiten, psycholinguistischen Kriterium) wirft die obige Zusammenstellung zahlreiche Fragen auf, die genauer beleuchtet werden müssen. So ist z.B. die Frequenz eines Lexems in einer bestimmten Bedeutung ein äußerst relativer Wert, der stark von der Auswahl der Texte abhängt, auf denen die Frequenzanalyse fußt. Die großen elektronischen Korpora versuchen zwar, diesem Problem durch eine repräsentative Auswahl der Quellentexte3 beizukommen, ob die Auswahlstrategien im Hinblick auf die ausdifferenzierte Sozialstruktur in den westlichen Gesellschaften überzeugend sind, sei an dieser Stelle dahingestellt. Das Problem verschärft sich noch, und dies wird der folgende Beitrag zeigen, wenn man als Repräsentanten eines bestimmten Semems Wortformen zulässt, die verschiedenen Wortarten angehören. Daneben ergibt sich bei der Verwendung von mehreren Kriterien das grundsätzliche Problem, wie die Entscheidung ausfallen muss, wenn die unterschiedlichen Kriterien zueinander in Konflikt geraten. Trotz der behaupteten Abhängigkeitsbeziehungen zwischen den einzelnen Faktoren gibt es z.B. zunächst keinen Grund anzunehmen, dass die wörtliche Bedeutung eines Lexems immer auch die Bedeutung mit der höchsten Token-Frequenz im Korpus sein muss. Zudem sind manche der Kriterien zu vage, um ein zuverlässiges Ergebnis zu garantieren. Dies betrifft in erster Linie das Kriterium der Kontextabhängigkeit, weil wir es hier offenbar mit einem Kontinuum zu tun haben und es im Einzelfall sehr schwer sein kann zu entscheiden, wo das Zentrum endet und die Peripherie beginnt. Ein Kriterium, das bei Erstellung eines derivationellen Valenzlexikons (vgl. Abschnitt 2) ins Blickfeld rückt, nämlich das grammatische Verhalten der Lexemvarianten bei der Realisierung in syntaktischen Kontexten, bleibt in der obigen Zusammenstellung völlig unberücksichtigt. Der zentrale oder periphere Status einer Lexikoneinheit sollte sich aber zumindest ebenso deutlich in ihrem valenzgrammatischen Verhalten wie in ihrer Frequenz in bestimmten Texten niederschlagen. Schlussfolgerungen, zu denen man aufgrund von Beobachtungen zur Frequenz gelangt, sollten sich also durch Beobachtungen zum grammatischen Verhalten der 3 Zur Frage, wie eine repräsentative Textauswahl für große elektronische Korpora auszusehen hat, gibt es eine umfangreiche Fachliteratur, die hier nicht gebührend gewürdigt werden kann. Es sei lediglich auf Atkins, Clear und Ostler (1992) hingewiesen, die auf den Unterschied zwischen Textrezeption und Textproduktion aufmerksam machen, wobei zwischen beiden Bereichen erhebliche Unterschiede in der Vorkommenshäufigkeit der einzelnen Textsorten bestehen können. Biber (1993) schätzt, dass bei der Textproduktion im Durchschnitt 90% der sprachlichen Aktivität eines Sprachbenutzers auf die mündliche Produktion entfällt. Legt man diesen Wert als Kriterium für Repräsentativität zugrunde, dann ist keines der großen Korpora auch nur annähernd repräsentativ. Derselbe Autor hebt gleichzeitig hervor, dass die linguistische Forschung im Allgemeinen nicht an Repräsentativität in diesem Sinne interessiert ist: „Repräsentativ“ im linguistischen Sinne ist ein Korpus, in dem alle sprachlichen Erscheinungen vertreten sind, nicht ein Korpus, das genau die Anteile der einzelnen Kontexte widerspiegelt, in denen Sprache produziert wird 210 Lexemvarianten entweder stützen oder aber korrigieren lassen. Im Folgenden werden wir prüfen, ob man durch die Anwendung der oben aufgezählten Kriterien in einem konkreten Fall zu eindeutigen Ergebnissen kommt. Bei der Diskussion stützen wir uns auf das Sprachmaterial, das wir im Zuge der Arbeiten an dem oben erwähnten Valenzlexikon bei der Erstellung des Lemmas abfallen ausgewertet haben. Die Argumentation geht von bestimmten Grundannahmen aus, die der Konzeption unseres Valenzlexikons zugrunde liegen und die wir im folgenden Abschnitt kurz darstellen. 3. Zur Konzeption eines derivationellen und kontrastiven Valenzlexikons Wie bereits erwähnt, ist der vorliegende Beitrag im Rahmen der Arbeiten an einem kleinen Valenzlexikon entstanden, das seit 2015 an der Pädagogischen Fakultät der Masaryk-Universität in Brünn erstellt wird. Die Projektgruppe ist dabei bemüht, neuere Entwicklungen in der Valenztheorie zu berücksichtigen und für die lexikographische Praxis nutzbar zu machen. In unserem Zusammenhang ist zunächst die klare Trennung zwischen Valenzpotential und Valenzrealisierung relevant (vgl. Ágel, 2000; Karlík, 2000, 2004; Ágel Fischer, 2010). Das Valenzpotential ist prinzipiell unabhängig von der morphosyntaktischen Realisierung der Aktanten. Zwar können von Valenzträgern (VT) auch Forderungen nach spezifischen Formmerkmalen ausgehen (vgl. Jacobs, 1994), diese sind aber keine notwendige Voraussetzung für die Zuerkennung des Aktantenstatus an Begleiter im syntaktischen Umfeld von VT. Bestimmte Formmerkmale ergeben sich aus dem morphosyntaktischen Kontext der Realisierungsstruktur und müssen daher nicht im Valenzpotential des VT festgelegt werden (vgl. die valenztheoretische Adaption des Begriffes „struktureller Kasus“ bei Ágel, 1995 und Karlík, 2000). Im Unterschied zu anderen valenztheoretischen Darstellungen wie etwa in VALBU (Schumacher Kubczak Schmidt de Ruiter, 2004) oder Djordjević und Engel (2009) definieren wir die Ergänzungen bzw. Aktanten daher nicht durch morphosyntaktische Merkmale (SubE, AkkE etc.), sondern durch thematische Rollen und die Position im Aktantenrahmen. Dadurch wird eine einheitliche Erfassung des Valenzpotentials von VT unterschiedlicher Wortarten möglich. Wir gehen z.B. davon aus, dass man die Valenz-Realisierungsstrukturen im Umfeld des Verbs abfallen und im Umfeld der Nominalisierungen Abfallen und Abfall auf einen gemeinsamen Aktantenrahmen beziehen kann. Eine systematische lexikographische Erfassung der entsprechenden Valenz-Realisierungsstrukturen auf der Folie eines einheitlichen Aktantenrahmens als tertium comparationis macht es möglich, die formalen Alternationen und Schwankungen bei der Valenzrealisierung in (was angesichts der großen Unterschiede zwischen den verschiedenen Sprechern einer Sprache wohl auch utopisch und gleichzeitig sinnlos sein dürfte). 211 verschiedenen Kontexten zu verfolgen, und bietet der weitere linguistischen Forschung eine empirische Grundlage für die Formulierung entsprechender Modelle. Der zweite Punkt, der hier hervorgehoben werden soll, betrifft die (obligatorische oder fakultative) Realisierung der Aktanten. Mit Jacobs (1994, 2003) nehmen wir an, dass von VT Realisierungsforderungen ausgehen können, die einer eigenständigen Valenz-Dimension NOT(wendig) zuzuordnen sind. Mit Grimshaw (1990) (für das Englische) und Blume (2004) (für das Deutsche) nehmen wir weiter an, dass solche Realisierungsforderungen auch von nominalen VT ausgehen können, sofern bei der Nominalisierung die Ereignisstruktur erhalten bleibt.4 Weichen verbale und nominale Realisierungen von VT in diesem Bereich voneinander ab, lassen sich Schlussfolgerungen hinsichtlich der Vererbung des Valenzpotentials oder des valenztheoretischen Status des jeweiligen VT ziehen. Die von uns angesetzten Aktantenrahmen lassen sich gleichzeitig als tertium comparationis für den Sprachvergleich nutzen. In der letzten Projektphase ist daher geplant, die deutschen Lemmata um tschechische Äquivalente zu ergänzen, wodurch Unterschiede bei der Valenzrealisierung und -vererbung in beiden Sprachen durchsichtig gemacht werden können. Weiter unten im Beitrag (Abschnitt 7) finden sich einige vorläufige Beobachtungen, die den Vorteil einer kontrastiven Darstellung illustrieren. Kommen wir nun zu unserer Fallstudie. Wie in der Lexikographie üblich, setzen wir innerhalb des Lemmas abfallen verschiedene Varianten an, unter die wir allerdings nicht nur die verbalen Realisierungen des Lexems, sondern auch die nominalen Realisierungen subsumieren. Wir gehen dabei nicht davon aus, dass jede Variante automatisch Vertreter aller Kategorien aufweist: Das weiter unten präsentierte Material wird gerade zeigen, dass es Varianten gibt, die gegen bestimmte Nominalisierungen resistent sind. 4 Leider sehen wir uns außer Stande, den entsprechenden Unterschied (komplexe Ereignisnominalisierungen vs. einfache Ereignisnominalisierungen) in unserem Valenzlexikon systematisch zu notieren. Hier sind die authentischen Korpusbelege, die den Einträgen zugrunde liegen, häufig zu vage. Spätere Benutzer des Valenzlexikons, die mit der genannten Unterscheidung arbeiten, müssten den Unterschied aufgrund unserer Notierung der Aktanten als obligatorisch bzw. fakultativ erschließen. Resultatsnominalisierungen (oder „Sachbezeichnungen“ wie z.B. Abfall ‚weggeworfenes Material‘) betrachten wir allerdings grundsätzlich nicht als VT und nehmen entsprechende Belege nicht in unser Valenzlexikon auf. 212 Aufgrund eines Subkorpus5 von 105 Belegen, das wir per Zufallsauswahl aus den Belegen im Referenzkorpus des Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim [DeReKo] zusammengestellt haben, identifizieren wir für abfallen in verbalen Kontexten insgesamt sieben Bedeutungsvarianten, die sich hinsichtlich der thematischen Rollen der Aktanten, der Selektionsbeschränkungen für die Besetzung der Valenzpositionen und / oder bestimmter Bedeutungskomponenten in der lexikalischen Struktur unterscheiden. Einen Überblick bietet Tabelle 1, die neben einer Bedeutungsparaphrase und der thematischen Struktur der jeweiligen Variante ein authentisches (ggf. gekürztes oder vereinfachtes) Beispiel für eine Verwendung des VT in verbalem Kontext zeigt. Variante Bedeutungsparaphrase thematische Struktur Beispiel abfallen1 ‚sich von etwas lösen‘ Thema, Origo, Direktiv (Benifizient) Der Putz ist hohl geworden und fällt fast von selber ab. ‚in eine (schlechtere) Position geraten‘ Thema, Direktiv abfallen2 Die Jugendlichen fallen in die Kriminalität ab. abfallen3 ‚sich vermindern, abnehmen‘ Patiens Beim VW Passat fällt die Drehzahl rapide ab. ‚sich im Hinblick auf einen Wert verschlechtern‘ Ferens, Patiens abfallen4 Lediglich einige Spieler fielen in ihren Leistungen etwas ab. abfallen5 ‚eine psychische Belastung verlieren‘ Thema, Origo Auf dem Flughafen fällt alle Last von den Helfern ab. ‚sich in einer abschüssigen Lage befinden‘ Ferens abfallen6 Das sandige Ufer fällt nach wenigen Metern steil ab. abfallen7 ‚einen Gewinn von etwas haben‘ Thema, Benefizient Für die Vertreter fällt keine Provision ab. Tab. 1: Varianten des VT abfallen 5 Insgesamt enthält unser Subkorpus 105 verbale Kontexte (abfallen), 441 Infinitiv-Nominalisierungen (Abfallen) und 202 Wurzel-Nominalisierungen (Abfall, allerdings nur in Ereignislesart, nicht als Sachbezeichnung im Sinne von ‚weggeworfenes Material‘). Auf dieses Subkorpus beziehen sich auch die Frequenzangaben in den folgenden Abschnitten. Die ungeraden Zahlen kommen dadurch zustande, dass aus dem Subkorpus einerseits falsche Treffer entfernt werden mussten, andererseits Ergänzungen notwendig waren, wenn bestimmte Varianten in bestimmten Kategorien sehr schwach oder gar nicht belegt waren. Bei den Ergänzungen wurden dann aber nicht gezielt Belege für die fehlenden Varianten hinzugefügt, sondern alle weiteren Belege registriert, so dass es nicht zu Verzerrungen in der prozentualen Vertretung der einzelnen Varianten kommen sollte. 213 Variante 1 teilen wir außerdem in zwei Subvarianten ein, je nachdem, ob eine Bewegung im wörtlichen Sinne bezeichnet wird (abfallen1a, z.B. Der Putz fällt ab.) oder ob nur im bildlichen Sinne von einer Loslösung gesprochen werden kann (abfallen1b, z.B. Die Gläubigen fallen vom Islam ab.). Als Bezugspunkt für die folgende Diskussion ist es eventuell sinnvoll, den kompletten Lexikoneintrag für eine der Varianten von abfallen vor Augen zu haben. Wir wählen dafür Variante 1 ‚sich von etwas lösen‘, die wir als zentral für das Lemma betrachten. Aus dem Musterlemma wird zugleich die Struktur von Lexikoneinträgen deutlich, wie wir sie für unser Valenzlexikon vorsehen. abfallen1 ‚sich von etwas lösen‘ ← fallen1 Aktionsart: punktuell / iterativ A-2 (Thema) [–hum] PER (Origo) ERW (Benefizient) [+hum] Realisierungsschema: A-2 PER mikro ERW makro aktiv: Nom ab- (von+Dat) Infinitiv-Nominalisierung: Gen/von+Dat ab(Poss) (von+Dat) Wurzel-Nominalisierung: (Gen/von+Dat/ abPoss) (von+Dat) (Dat) Beispiele: Der Putz ist hohl geworden und fällt fast von selber ab. Ihre Samen fallen von der Pflanze ab. Der falsche Schnurrbart ist dem Schauspieler abgefallen. […] durch ihr Abfallen schleudern die Eisklumpen Schottersteine nach oben. Der Stoff verhindert das vorzeitige Abfallen der Birnen von den Bäumen. Beim Abfall der Blätter zerreißen sie […] Das Herzstück des Eintrags stellt das Realisierungsschema dar. Aus diesem Schema ist z.B. zu entnehmen, dass der Zweitaktant mit der Rolle „Thema“ (sich bewegender 214 Partizipant) im verbalen Kontext als Nominalgruppe mit dem Realisierungsmerkmal „Nominativ“ realisiert wird, im Kontext von Nominalisierungen dagegen als Nominalgruppe mit dem Realisierungsmerkmal „Genitiv“ oder als Präpositionalgruppe mit der Präposition von, u. U. auch als pränominaler Possessor. Die Klammerung zeigt fakultative Realisierung an. 4. Frequenzanalyse bei verbaler und nominaler Realisierung des Valenzträgers Wie bereits erwähnt, betrachten wir die Variante mit der Bedeutung ‚sich von etwas lösen‘ (wie z.B. in Die Samen fallen von der Pflanze ab) als die zentrale Variante des VT. Wir stützen uns dabei zunächst rein auf die Intuition, dass bei dieser Variante die wörtliche, konkrete Bedeutung des Verbs vorliegt. Wenn die in Abschnitt 1 ausgeführte Annahme, die zentrale Variante eines Lemmas sei zugleich die am häufigsten in Texten auftretende Variante, richtig ist, müsste Variante 1 in unserem Material die höchste Frequenz aufweisen. Umgekehrt müsste Variante 4 ‚sich im Hinblick auf einen Wert verschlechtern‘, die wir (wegen „übertragener“ Bedeutung: Spieler fallen nicht im wörtlichen Sinn, wenn sie in ihren Leistungen abfallen) als peripher betrachten, eine relativ niedrige Frequenz aufweisen. Die tatsächlichen Verhältnisse sind Tabelle 2 zu entnehmen, die den prozentuellen Anteil von drei Varianten am Gesamtvorkommen von abfallen – bezogen auf den jeweiligen kategorialen Kontext – zeigt. Varianten 1a und 1b sowie Variante 4 wurden oben bereits vorgestellt; Variante 3 (‚sich vermindern, abnehmen‘ wie z.B. in Der Druck fällt rapide ab) wird noch einmal genauer in Abschnitt 4 (zusammen mit abfallen4) diskutiert und stellt u.E. eine weitere zentrale Variante des Lexems dar. VT-Kategorie Variante verbal Infinitiv-Nominalisierung Wurzel-Nominalisierung abfallen1a 13% 38% 1% abfallen 1% 12% 43% abfallen 12% 37% 44% abfallen 26% 4% 7% 1b 3 4 Tab. 2: Token-Frequenz für VT-Realisierungen von abfallen (Subkorpus aus DeReKo) Betrachten wir zunächst die verbalen Kontexte. Entgegen der ursprünglichen Erwartung ist Variante 1 hier keineswegs die am häufigsten auftretende Variante. Auch wenn man die beiden Subvarianten für die wörtliche und übertragene 215 Bedeutung zusammennimmt, macht das Vorkommen von Variante 1 lediglich 14% des Gesamtvorkommens von abfallen im verbalen Bereich aus. Unter allen sieben Varianten nimmt Variante 1 im Hinblick auf die Frequenz gerade einmal den 4. oder 5. Platz ein. Die häufigste Variante in unserem Subkorpus ist überraschenderweise gerade die von uns als peripher betrachtete Variante 4. In unserem Subkorpus ist sie mit 27 verbalen Kontexten vertreten, was bei einer Gesamtmenge von 105 Belegen ca. 26% des Gesamtvorkommens von abfallen entspricht. Würden wir uns bei der Gliederung des Lemmas nach dem Frequenzkriterium richten, müssten wir ‚sich im Hinblick auf einen Wert verschlechtern‘ demnach als Hauptbedeutung des Lexems abfallen festlegen. Beziehen wir nun im nächsten Schritt die nominalen Kontexte in die Betrachtung mit ein. Ein Blick in Tabelle 2 zeigt, dass sich die Verhältnisse im Vergleich zum verbalen Bereich hier geradezu umkehren. Besonders die Frequenz der InfinitivNominalisierung (das Abfallen) entspricht nunmehr ziemlich genau unseren Erwartungen. Am häufigsten ist im Subkorpus die von uns als zentral eingeschätzte Variante 1a vertreten (in der Tabelle durch graue Schattierung hervorgehoben), es folgt die ebenfalls zentrale Variante 3 und erst ganz am Ende (mit 4%) die von uns als peripher eingestufte Variante 4. Auch die Frequenz der Wurzel-Nominalisierung (der Abfall) folgt dieser hierarchischen Ordnung, nimmt man die übertragen gebrauchte Variante 1b als Realisierung von abfallen1 mit hinzu. Die Tabelle zeigt aber auch, dass hier offenbar eine Spezialisierung stattgefunden hat: Die Wurzel-Nominalisierung deckt bei abfallen1 den übertragenen Gebrauch (Abfall vom Glauben) ab, die InfinitivNominalisierung dagegen den wörtlichen Gebrauch (das Abfallen der Samen). Woran liegt es nun, dass sich im verbalen Bereich Frequenzwerte ergeben, die unserer Intuition hinsichtlich des zentralen bzw. peripheren Status der Varianten zuwiderlaufen, wohingegen die Frequenz im nominalen Bereich ein zuverlässiger Indikator für Zentrum und Peripherie zu sein scheint? Was den verbalen Bereich betrifft, so macht sich hier sicher die Textsorte bemerkbar, die in [DeReKo] am stärksten vertreten ist. In Zeitungstexten, die auch dem Kultur- und Sportteil der jeweiligen Blätter entnommen sind, besteht vermehrter Benennungsbedarf für das Schwanken von Werten, deren Träger Sportler oder Kulturschaffende bzw. die Werke dieser Personengruppen sind, d.h. Bedarf für Variante 4. Derselbe Faktor müsste allerdings auch bei den Nominalisierungen wirksam sein. Eine Erklärung, die nur auf die Textsorte rekurriert, greift daher zu kurz. Um das Ungleichgewicht bei der Frequenz der verschiedenen Varianten erklären zu können, müsste man annehmen, dass die Nominalisierung der peripheren Variante aus irgendeinem Grund blockiert oder zumindest gehemmt ist. In diesem Falle würde durch die im Korpus vertretenen Textsorten zwar einheitlich das Auftreten von abfallen4 einseitig auf Kosten der anderen Varianten favorisiert, diese Tendenz 216 könnte sich aber nur beim verbalen VT bemerkbar machen; das „überschüssige“ Potential für nominale Bildungen bei abfallen4 würde durch die Bildungsbeschränkungen aus dem faktisch vorhandenen Korpusmaterial gewissermaßen herausgefiltert. Ob die Bildungsbeschränkungen eine linguistische Basis haben, ist im Moment schwer zu sagen. Es könnten auch stilistische Faktoren für die niedrige Frequenz von nominalem abfallen4 verantwortlich sein, da die Variante, wie bereits gesagt, vor allem im Kontext der Berichterstattung zu kulturellen und sportlichen Ereignissen zu erwarten ist, d.h. in Texten, die generell wohl eher wenig nominalisierungsfreudig sind. Die beiden zentralen Varianten 1 und 3 eignen sich dagegen auch zur Beschreibung von technischen Abläufen, wie sie in Fachtexten enthalten sind. Solche Texte zeichnen sich nach allgemeinen Annahmen (z.B. Möhn Pelka, 1984, S. 19-21; Eroms, 2008, S. 119-120) durch eine hohe Frequenz an Nominalisierungen aus. Wir wollen es an dieser Stelle dabei bewenden lassen und prüfen im Folgenden die Valenzrealisierung in der Umgebung von peripheren Varianten auf Besonderheiten. 5. Valenzrealisierung in der Umgebung von peripheren Varianten Um festzustellen, ob die von uns als peripher eingestufte Variante 4 von abfallen Besonderheiten bei der Realisierung des Valenzpotentials aufweist, haben wir das Material in unserem Subkorpus einer weiteren statistischen Analyse unterzogen. Dabei haben wir untersucht, wie häufig die im Aktantenrahmen des virtuellen VT verankerten Aktanten tatsächlich realisiert wurden. Die Ergebnisse für abfallen3 (als zentrale Variante) und abfallen4 (als periphere Variante) sind aus Tabelle 3 ersichtlich. A-2 A-3 PER PER Patiens / Ferens Patiens Origo Direktiv verbal: 100% – 8% 23% Inf.-Nom.: 92% – 3% 11% Wurzel-Nom.: 81% – 3% 11% verbal: 100% 0% – – Inf.-Nom.: 74% 5% – – Wurzel-Nom.: 14% 36% – – Variante Kontext abfallen3 abfallen 4 Tab. 3: Valenzrealisierung bei zwei Varianten von abfallen (Subkorpus aus DeReKo) 217 Um zu verstehen, wie der hohe Wert bei der A-2-Realisierung im nominalen Bereich von abfallen3 zustande kommt, ist ein kurzer Exkurs erforderlich. Die Verhältnisse in der syntaktischen Umgebung von nominalen VT weisen starke Ähnlichkeit zu den Verhältnissen auf, die für verbale Konstruktionen in der Rektions- und Bindungstheorie (Chomsky 1981) mit Bindungsprinzip C erfasst werden. Betrachten wir zur Illustration das konstruierte Beispiel (1): (1) Der Mitarbeiter befürchtet, dass der Mitarbeiter den Job verliert. Sieht man einmal von der stilistischen Fragwürdigkeit des Beispiels ab, so lässt sich der Satz nur so interpretieren, dass sich die beiden Vorkommen der Nominalgruppe (NG) der Mitarbeiter auf zwei verschiedene Personen beziehen. Will man sich zwei Mal auf denselben Mitarbeiter beziehen, so muss man die zweite NG durch ein Pronomen ersetzen. Alternativ kann man ganz auf die Realisierung des Erstaktanten von verlieren verzichten, muss aber dann – wegen der im Deutschen strukturell obligatorischen Subjektposition bei finiten Verben im Aktiv – die Konstruktion infinit formulieren: (2) Der Mitarbeiter befürchtet, den Job zu verlieren. Angesichts von Konstruktionen wie (2) lässt sich die weit verbreitete These von der Subjektergänzung als obligatorischer Ergänzung (von der auch wir implizit bei der quantitativen Auswertung der verbalen Kontexte in Tabelle 3 ausgegangen sind) nur dann aufrechterhalten, wenn man in (2) eine verdeckte Realisierung des A-1 von verlieren ansetzt.6 Nach derselben Strategie sind auch wir bei der Analyse der nominalen Kontexte vorgegangen. (3a) zeigt einen authentischen Beleg für abfallen3 aus [DeReKo]. Die Realisierung von A-2 fehlt. Würde man in diesem Kontext A-2 realisieren, erhielte man einen Satz wie (3b), der u. E. nicht mehr als grammatisch einwandfrei betrachtet werden kann. (3) a. […] droht daraus den Bezügen aus dem Versorgungswerk das beschriebene Abfallen. b. *droht daraus den Bezügen aus dem Versorgungswerk das beschriebene Abfallen der Bezüge. Fälle wie (3a) haben wir daher als verdeckte Valenzrealisierung verbucht und in der statistischen Auswertung den Fällen von offener Valenzrealisierung zugerechnet. Bei der Infinitiv-Nominalisierung von abfallen3 machen Fälle von offener A-2Realisierung in unserem Subkorpus 86% aller registrierten Fälle von abfallen3 aus, hinzu kommen 6% verdeckte Realisierungen im oben umrissenen Sinne. Dadurch entsteht die in Tabelle 3 angeführte Realisierungsquote von 92%. 6 Eine alternative Ansicht vertritt Herbst (2003), der „obligatorisch“ im Sinne der Valenztheorie von „obligatorisch“ im strukturellen Sinne unterscheidet. Damit wird allerdings die These von der Subjektergänzung (im Deutschen) als einer generell obligatorischen Ergänzung hinfällig. 218 Eine Realisierungsquote von 92% lässt sich wohl kaum anders denn als obligatorisch bezeichnen. Unser Material belegt also, dass – entgegen einer weit verbreiteten Annahme – auch von Substantiven Realisierungsforderungen im Sinne von Jacobs (1994) ausgehen können (so auch Grimshaw 1990; Blume 2004). Tabelle 3 zeigt aber auch, dass es zwischen den Varianten des VT deutliche Unterschiede bei der Realisierung des Valenzpotentials gibt. Bei abfallen4 beträgt die Quote der A-2-Realisierung im Kontext der Infinitiv-Nominalisierung nur noch 74%, bei der Wurzel-Nominalisierung gar nur noch 14%. Diesen Unterschied muss man zunächst einmal zur Kenntnis nehmen. Ob es sich hier um einen Zufall handelt (ggf. bedingt durch die relativ bescheidene Menge an Belegstellen in unserem Subkorpus)7 oder ob sich ähnliche Regularitäten auch bei anderen Lexemen zeigen, wird sich erst im Zuge der weiteren Arbeit am Valenzlexikon klären lassen. Prinzipiell ließen sich zwei Hypothesen formulieren, die den Befund erklären könnten. Zum einen könnte man annehmen, dass die Nominalisierung von peripheren Varianten eher zum Verlust der Ereignisstruktur und damit (laut Grimshaw 1990 und Blume 2004) gleichzeitig zum Verlust des Aktantenrahmens führt als die Nominalisierung von zentralen Varianten. Alternativ könnte man annehmen, dass der Aktantenrahmen auch bei der Nominalisierung von peripheren Varianten erhalten bleibt, dabei aber die Realisierungsforderungen schwinden, die vom verbalen VT und von nominalen VT der zentralen Varianten ausgehen. Wir müssen die Frage hier offen lassen und betrachten im Folgenden den Aktantenrahmen der u. E. peripheren Variante 4 etwas genauer. 6. Verschiebungen im Aktantenrahmen von peripheren Lexemvarianten Wenn man die syntaktischen Umgebungen, in denen abfallen4 realisiert wird, genauer untersucht, dann fällt zunächst auf, dass die höchste Valenzposition merkwürdigen Selektionsbeschränkungen unterliegt. Das Verb abfallen ist ein Vorgangsverb und sollte daher für die A-2-Position primär Ausdrücke selegieren, die unbelebte Partizipanten bezeichnen. Abfallen4 verhält sich in dieser Hinsicht aber gerade umgekehrt: Die A-2-Position ist primär durch Substantive besetzbar, die Menschen, Menschengruppen oder menschliche Institutionen bezeichnen, vgl. (4). Sekundär sind auch Produkte menschlicher Tätigkeit zugelassen, (5). Beispiel (6) zeigt eine Kombination von beiden Typen. (4) (5) a. Lediglich einige Spieler fielen in ihren Leistungen etwas ab. b. Für Experten ist das Abfallen Wiens allerdings leicht erklärbar. Das folgende Album […] war dann üppig mit digitalen Beats und anderem Krimskrams ausgestattet, die Lieder aber, die fielen ab. 7 Für abfallen4 verfügen wir über 19 Belege mit Infinitivnominalisierungen und 14 Belege mit Wurzelnominalisierungen. 219 (6) Schostakowitschs recht oberflächliche „Festliche Ouvertüre“ fällt gegenüber seinen Jazz-Suiten noch deutlicher ab als Bernstein mit seiner „Candide“ -Ouvertüre. Zum anderen lassen sich Besonderheiten bei der Realisierung der lokalen Aktanten feststellen. Wie dem Realisierungsschema im Lexikoneintrag in Abschnitt 2 (Abb. 1) zu entnehmen ist, betrachten wir das Präfix ab- als Mikrorealisierung eines lokalen Aktanten mit der thematischen Rolle „Origo“ (zu Präfixen als Mikrorealisierungen, vgl. Ágel, 2000, S. 144; Eroms, 2012, S. 40). Bei den zentralen Varianten von abfallen ist die Expansion der Mikrorealisierung auf Makroebene – in Übereinstimmung mit dem üblichen Realisierungsschema des Deutschen – problemlos möglich. In unserem Korpus finden sich dagegen kaum Belege von abfallen4, bei denen die Origo sowohl auf Mikro- als auch auf Makroebene realisiert wäre. Dies scheint kein Zufall zu sein. Die Expansion der Mikrorealisierung führt in vielen Fällen zu grammatisch fragwürdigen Ergebnissen, wie (7a) zeigt. Man vergleiche (7a) mit dem Beleg (7b) für die zentrale Variante abfallen1 und (7c) für die ebenfalls zentrale Variante abfallen3, bei denen die Makrorealisierung völlig unauffällig ist. (7) a. *Lediglich einige Spieler fielen in ihren Leistungen von Höchstwerten etwas ab. b. Vor kurzem fielen auch zahlreiche Backsteine von der Südwand der Ruine ab. c. Die Elektronegativität fällt von 1,5 bei Beryllium auf 1,0 bei Calcium ab […] Die Makrorealisierung ist nur bei einigen Beispielen möglich, die nach unserer Klassifizierung im Übergangsbereich zu abfallen2 ‚in eine (schlechtere) Position geraten‘ anzusiedeln sind.8 (8a) zeigt ein Beispiel im Übergangsbereich, (8b) ein klares Beispiel für Variante 2. (8) a. Bei der CDU, die von 39 auf 34,4% abgefallen war, wächst die Besorgnis über das Schicksal ihres Bündnispartners. b. Nach vier Spielen ohne Sieg sind die Gäste vom dritten auf den neunten Tabellenplatz abgefallen. Sieht man von den Beispielen in der Grauzone zwischen abfallen2 und abfallen4 ab, dann ließe sich für abfallen4 sagen, dass die Makrorealisierung der Origo blockiert ist. Dies ist bemerkenswert, da die entsprechende Bedeutungskomponente, wie die Mikrostruktur zeigt, integraler Bestandteil der Bedeutungsstruktur des VT ist. Eine Blockade auf Makroebene muss daher als Anomalie gelten, was weiter für den peripheren Status der Variante spricht. 8 Dass es sich um zwei verschiedene Fälle handelt, zeigt die (In-)Kompatibilität mit einer in-Gruppe (vgl. weiter unten im Haupttext). Bei (8a) ist eine in-Gruppe möglich, bei (8b) nicht: Die CDU ist in den Wählerpräferenzen von 39 auf 34,4% abgefallen vs. *Die Gäste sind in ihren Leistungen vom dritten auf den neunten Tabellenplatz abgefallen. Entsprechend kann (8a) zu Die Wählerpräferenzen der CDU sind von 39 auf 34,4% abgefallen umgeformt werden, (8b) dagegen nicht (*Die Leistungen sind vom dritten auf den neunten Tabellenplatz abgefallen). 220 Die dritte bemerkenswerte Eigenschaft von abfallen4, die für uns gleichzeitig das Definitionskriterium für die Abgrenzung dieser Variante darstellt, ist das Vorkommen einer Präpositionalgruppe (PG) mit der Präposition in. Eine in-PG ist weder bei Variante 1 (vgl. 9a), noch bei Variante 3 (vgl. 9b) möglich. (9) a. *Die Samen fallen in ihrer Höhe von der Pflanze ab. b. *Die Drehzahl fällt in ihrer Geschwindigkeit beim Passat rapide ab. Der Kontrast zwischen (4a) und (9) belegt, dass die in-PG subklassenspezifisch ist und daher nach allgemeiner Auffassung (vgl. z.B. Engel, 1994, S. 99; Welke, 2011, S. 54) als Aktant betrachtet werden muss. Dafür gibt es noch weitere Belege. (a) Die in-PG ist sinnnotwendig. Beispiele für abfallen4, bei denen keine in-PG realisiert ist, sind ohne unterstützenden Kontext kaum interpretierbar, vgl. (10a): (10) a. ?Wir haben festgestellt, dass die Modeartikel abgefallen sind. Beispiel (10a) ist nach einem authentischen Beleg aus [DeReKo] konstruiert, den wir in (10b) anführen. Hier stellt die nunmehr realisierte in-PG eine problemlose Interpretation sicher: (10) (11) b. Die Trend- und Modeartikel fallen schnell in der Käufergunst ab. (b) Im Umfeld von abfallen4 können modifizierende Adjektive auftreten, die auf eine Bedeutungskomponente in der semantischen Struktur des VT Bezug nehmen, vgl. (11). a. Fünf neue Songs werden ins Programm gestreut, […] nur „Anything Goes“ fällt stimmungsmäßig etwas ab. b. Die Töne sitzen formidabel, niemand fällt gesanglich ab. c. Gleichzeitig stellte er einen „qualitativen Abfall“ des Bundestages fest. Die Möglichkeit des Auftretens von Modifikatoren wie stimmungsmäßig, gesanglich oder qualitativ belegt, dass die entsprechende Komponente in der Bedeutungsstruktur des VT tatsächlich vorhanden sein muss. Der VT enthält offenbar eine Leerstelle für Ausdrücke wie Stimmung, Gesang oder Qualität, auf die (bei ausbleibender Realisierung in einer Valenzposition) durch entsprechende Adjektive oder Adverbien Bezug genommen werden kann. Leerstellenbesetzung (vgl. Der Bundestag fällt qualitativ ab ↔ Der Bundestag fällt in seiner Qualität ab) ist nun aber wiederum ein Kriterium für die Zuweisung des Aktantenstatus an einen Begleiter. Wenn die in-PG in der Umgebung von abfallen4 ein Aktant ist, muss im nächsten Schritt bestimmt werden, welche thematische Rolle diesem Aktanten zuzuweisen ist. Betrachtet man die Beispiele in (4a), (10b) und (11), dann drängt sich der Eindruck auf, dass die in-PG hier dieselbe Rolle realisiert, die bei der zentralen Variante 3 ‚sich vermindern, abnehmen‘ in der Subjektposition realisiert wird. In 221 (4a) sind es z.B. nicht die Spieler, die sich vermindern oder abnehmen, sondern deren Leistung. Eine Verminderung oder eine Abnahme stellt eine Zustandsänderung dar, womit der entsprechende Aktant nach unserer Definition als „Patiens“ charakterisiert werden muss. Der Aktant, der bei abfallen4 in der Subjektposition realisiert wird, ist nicht die abnehmende Größe, sondern der Träger dieser Größe. Den Träger einer Größe oder Relation klassifizieren wir nach Engel (1991, S. 360) als „Ferens“ (FER). Derselbe Eindruck entsteht, wenn man deutsche Strukturen, die abfallen4 enthalten, mit möglichen Übersetzungsäquivalenten im Tschechischen vergleicht. In (12) stellen wir einem authentischen Beleg aus [DeReKo] (oben bereits unter 10b angeführt) eine konstruierte tschechische Übersetzung gegenüber, die zwar kein genaues strukturelles Äquivalent zu abfallen enthält,9 dafür aber die Satzbedeutung von (12a) in flüssiges Tschechisch überträgt. (Die wörtliche Übersetzung des tschechischen Satzes ist dem Beispiel 12b beigefügt.) (12) a. Die Trend- und Modeartikel fallen schnell in der Käufergunst ab. b. Módní a trendové zboží rychle ztrácí přízeň spotřebitelů. = ‚Die Trend- und Modeartikel verlieren rasch die Gunst der Käufer.‘ Man erkennt, dass der Aktant, der im Deutschen als in-PG realisiert wird, in der tschechischen Übersetzung eine Entsprechung im direkten Objekt des Verbs ztrácet ‚verlieren‘ findet. Eine Klassifizierung als „Patiens“ (‚Der Partizipant, der einer Veränderung in der Besitz-Relation unterliegt‘) liegt daher nahe. Der Träger der Pertinenzrelation (FER), der im Deutschen die Subjektposition einnimmt, erscheint im Tschechischen dagegen als Attribut des direkten Objekts. Stellt man den Aktantenrahmen für abfallen4 im Deutschen dem Aktantenrahmen von ztrácet im Tschechischen gegenüber, dann ergibt sich folgendes Bild: A-1 A-2 A-3 Ferens Patiens Rezipient Patiens abfallen 4 ztrácet Tab. 4: Aktantenrahmen von abfallen im Sprachvergleich Das Patiens von abfallen4 erscheint gegenüber dem Patiens von ztrácet als in eine tiefere Position des Aktantenrahmens (A-3) verschoben. Der Aktant mit der Rolle „Ferens“, der im Tschechischen keine Aktantenposition des Rahmens besetzt (nicht „aktantifiziert“ ist), nimmt im Deutschen die höhere Position (A-2) ein. Ein ähnliches Bild ergibt sich, wenn man die (unserer Ansicht nach) periphere Variante 4 mit der zentralen Variante 3 vergleicht: Wieder ließe sich von einer „Demovierung“ des Patiens in eine niedrigere Position des Aktantenrahmens sprechen. 9 Zu authentisch belegten Übersetzungsäquivalenten für abfallen4 im Tschechischen kommen wir genauer in Abschnitt 7. 222 A-2 abfallen3 Patiens abfallen Ferens 4 A-3 Patiens PER PER Origo Dir Origo Tab. 5: Aktantenrahmen einer zentralen und einer peripheren Variante von abfallen Was sagt diese Analyse nun hinsichtlich des Status der Variante abfallen4 aus? Zunächst ist festzustellen, dass ein Aktantenrahmen der Form (Ferens (Patiens (Origo))) den üblichen Annahmen über die Abbildung von thematischen Rollen auf syntaktische Positionen widerspricht. Die Abbildung eines Patiens auf eine niedrigere Position im Aktantenrahmen setzt die Anwesenheit eines höheren Aktanten mit Proto-Agenseigenschaften voraus. Fehlt ein solcher Aktant (wie bei abfallen4), müsste das Patiens in die höchste verfügbare Position des Aktantenrahmens (bei abfallen3 ist dies A-2) aufrücken. Der Rahmen von abfallen4 verstößt also gegen die gängigen thematischen Hierarchien, die in der Literatur vorgeschlagen wurden (vgl. Levin Rappaport Hovav, 2005, S. 163). Wir interpretieren diesen Befund dahingehend, dass es sich bei abfallen4 um eine stark markierte und damit periphere Variante von abfallen handelt, bei der allgemeingültige sprachliche Regularitäten bei der Organisation von Aktantenrahmen umgangen werden.10 7. Kompositabildung bei der zentralen und peripheren Variante von abfallen Die traditionelle Lexikographie würde abfallen4 wohl als Fall von metonymischer Ausdehnung der Bedeutung von abfallen3 interpretieren. Für die sich vermindernde Größe tritt metonymisch der Träger dieser Größe ein. Eine solche Analyse würde die Regularitäten, die wir hier mit Hilfe eines grammatischen Apparats beschrieben haben, von der grammatischen Darstellung ausschließen und in den Bereich der Rhetorik verweisen. Es stellt sich daher die Frage, ob die von uns diagnostizierten Unterschiede im Aktantenrahmen von abfallen3 und abfallen4 grammatisch relevant sind bzw. ob sie sich in objektiv nachprüfbaren Grammatikalitätskontrasten niederschlagen. Uns scheint, dass dies tatsächlich der Fall ist. Einen ersten Anhaltspunkt liefert bereits der weiter oben im Text unter dem Stichwort „Subklassenspezifik“ beschriebene Kontrast zwischen (4a) und (9). Betrachtet man die in-PG als Patiens-Realisierung, dann ergibt sich die Ungrammatikalität der Beispiele in (9) aus dem Prinzip, dass jeder Aktantenrahmen 10 Wie Variante 4 mit diesen Regularitäten wieder in Einklang zu bringen wäre, ist eine Frage, die die analytischen Möglichkeiten eines Valenzlexikons übersteigt. Denkbar wäre, dass wir es hier mit etwas Ähnlichem wie mit der Possessor-Anhebung beim Pertinenzdativ (vgl. z.B. Apresjan, 1974, S. 153; Meľčuk, 2004, S. 264) zu tun haben. Auf die Implikationen, die eine solche Analyse mit sich bringen würde, können wir hier nicht eingehen. 223 jeweils nur eine thematisch festgelegte Rolle enthalten darf. In (9) ist das Patiens bereits in der Subjektposition realisiert. Eine weitere Patiens-Realisierung ist daher nicht mit dem „Ein-Mal-pro-Satz-Prinzip“ (vgl. Starosta, 1988, S. 138) vereinbar. Beispiel (4a) weist dagegen nach unserer Analyse kein Patiens in der Subjektposition auf; das im Aktantenrahmen implizierte Patiens kann daher in Form einer PG realisiert werden, ohne dass der Satz ungrammatisch wird. Ein weiterer Hinweis ergibt sich aus den Verhältnissen bei der Kompositabildung. In (13) listen wir einige häufig in [DeReKo] belegte Komposita mit -abfall als Zweitglied auf. (13) Blutdruckabfall, Druckabfall, Energieabfall, Hormonabfall, Konzentrationsabfall, Leistungsabfall, Östrogenabfall, Qualitätsabfall, Temperaturabfall Es fällt auf, dass das Vorderglied in allen Fällen das Patiens des Basisverbs spezifiziert. So verringert sich bei einem Druckabfall der Druck, bei einem Hormonabfall sinkt die Konzentration des Hormons usw. Testen wir nun, wie die oben angeführten Beispiele für abfallen4 auf die Kompositabildung reagieren. Relevante Beispiele finden sich in (14):11 (14) *Spielerabfall, *Liederabfall, *Ouvertürenabfall, *Bernstein-Abfall, *Modeartikelabfall Wie immer man die Daten in (13) und (14) auch deuten mag, es bleibt zumindest die Feststellung, dass sich der Aktant, der in der Subjektposition von abfallen3 realisiert wird, grammatisch anders verhält als der Aktant, der in der Subjektposition von abfallen4 realisiert wird. Im ersten Fall steht er für die Interpretation des Vordergliedes eines Kompositums zur Verfügung, im zweiten Fall nicht. Die einfachste Deutung der Verhältnisse in (13) und (14) könnte daher von einem Rollenunterschied bei A-2 ausgehen, wobei nur eine der angesetzten Rollen im Inneren eines Kompositums zugelassen wäre. Genau einen solchen Unterschied bei der Rolle von A-2 konstatieren wir in Tabelle 5. Eine weitergehende Erklärung könnte sich auf die Reihenfolge der Aktanten im Aktantenrahmen stützen. So nehmen z.B. Lieber (1983) und Grimshaw (1990) an, dass es eine Hierarchie bei der Sättigung der Argumente des Basisverbs gibt. Im Inneren eines Kompositums muss immer zuerst der rangniedrigere Aktant realisiert bzw. absorbiert werden, ein weiterer Aktant kann dann außerhalb des Kompositums realisiert werden. Der rangniedrigere Aktant ist im Falle von abfallen4 das Patiens; die Realisierung von Ferens als Vorderglied eines Kompositums wie in (14) würde daher gegen die Realisierungshierarchie verstoßen, da der rangniedrigere 11 Die Grammmatikalitätsurteile beziehen sich auf die Interpretation des Basis-Substantivs als Ereignisnominalisierung. Wenn Abfall als „Sachbezeichnung“ (Schippan, 1968) interpretiert wird, sind einige der konstruierten Komposita akzeptabel. 224 Aktant nun nicht mehr innerhalb, sondern höchstens außerhalb des Kompositums realisiert werden kann. Kehrt man die Reihenfolge der Realisierung um, scheinen die Beispiele tatsächlich grammatisch zu werden, vgl. (15).12 (15) der Leistungsabfall der Spieler, der Qualitätsabfall der Lieder Ob man (15) wirklich noch von abfallen4 ableiten sollte, kann aber als fraglich gelten. Vermutlich wäre es einfacher, direkt von abfallen3 auszugehen und die Genitiv-NG als Possessor ohne Anbindung an den Aktantenrahmen oder als „gestrandeten“ Bestandteil des Kompositum-Vorderglieds zu betrachten. In beiden Fällen käme man zu dem Schluss, dass man mit abfallen4 überhaupt keine Komposita bilden kann. Wir wollen die Problematik hier nicht weiter vertiefen. Die Analyse von Komposita nach Lieber und Grimshaw ist mit einer Reihe von Schwierigkeiten verbunden,13 die im Rahmen dieses Beitrags (und im Rahmen eines Valenzlexikons allgemein) weder befriedigend gelöst werden können noch gelöst zu werden brauchen. Festzuhalten ist, dass die Kompositabildung die grammatische Relevanz der Unterscheidung von Variante 3 und Variante 4 belegt und dass Variante 4 Beschränkungen bei der Bildung von Ableitungen unterliegt, die wiederum auf den peripheren Status dieser Variante hindeuten. 8. Übersetzungsäquivalenz bei zentralen und peripheren Varianten Das letzte Kriterium für die Unterscheidung von zentralen und peripheren Varianten, das wir in diesem Beitrag noch prüfen wollen, ist das Kriterium der Kontextabhängigkeit. Wie in Abschnitt 1 ausgeführt wurde, wird vielfach angenommen, dass zentrale Varianten auch ohne stützenden Kontext interpretierbar sind; die Bedeutungszuweisung an periphere Varianten ist dagegen stark kontextabhängig. Nun sind Kriterien, die sich auf die Bedeutung beziehen, notorisch vage. Wie soll man genau messen, welche der angenommenen Varianten eines Lexems hinsichtlich der Bedeutung stärker vom Kontext abhängig sind als andere Varianten? Wir glauben, dass man hier zu einer Präzisierung gelangen kann, wenn man (wie dies bei unserem geplanten Valenzlexikon der Fall ist) kontrastiv arbeitet und Übersetzungen der zugrunde gelegten Belege in eine andere Sprache in die 12 Allerdings gibt es auch „Ausreißer“, bei denen auch durch die Umkehr der Abfolge bei der Realisierung keine grammatische Struktur zu erzielen ist, siehe (i) *der Käufergunstabfall der Modeartikel. 13 Im Falle von Grimshaw (1990) kommt als komplizierender Faktor hinzu, dass man die Semantik des Hintergliedes genauer prüfen müsste. Die Autorin unterscheidet Nominalisierungen mit einer komplexen Ereignisstruktur von allen anderen Nominalisierungen. Die im Text angedeuteten Beschränkungen bei der Aktanten-Realisierung innerhalb von Komposita gelten nur im ersten Fall, da alle anderen Nominalisierungen laut Grimshaw (1990, S. 68–70) über keinen Aktantenrahmen verfügen und die ggf. vorhandenen Vorderglieder von Komposita damit sowieso nicht als Aktanten-Realisierungen gelten können. 225 Untersuchung einbezieht. Wenn es stimmt, dass die Bedeutung von peripheren Varianten stark vom jeweiligen Kontext abhängig ist, dann sollte sich bei der Übersetzung für solche Varianten eine breitere Streuung bei den jeweils gewählten Übersetzungsäquivalenten ergeben als bei zentralen Varianten, die qua Hypothese stabil in ihrer Bedeutung und damit tendenziell in allen Kontexten durch ein oder einige wenige Äquivalente übersetzbar sind. Um zu prüfen, ob sich bei unseren Varianten von abfallen bei der Übersetzungsäquivalenz tatsächlich maßgebliche Unterschiede ergeben, die auf den zentralen oder peripheren Status einer Variante hindeuten könnten, haben wir in der parallelen Sektion des Tschechischen Nationalkorpus [InterCorp] tschechische Parallelstellen zu den deutschen Korpusbelegen ermittelt, die abfallen in Bedeutungsvariante 1, 4 oder 5 enthalten. Es muss darauf hingewiesen werden, dass die Bedeutungsvarianten, wie oben gesagt, aufgrund einer Stichprobe aus [DeReKo] festgesetzt wurden, nicht aufgrund der in [InterCorp] vertretenen Belege. Da in beiden Korpora jeweils andere Textsorten überwiegen, und zwar Zeitungstexte in [DeReKo] und literarische Texte in [InterCorp], ist nicht damit zu rechnen, dass sich die Frequenzwerte für die Varianten, die wir weiter oben im Beitrag angeführt haben, auch anhand des Materials aus [InterCorp] reproduzieren lassen. Da es im gegenwärtigen Zusammenhang aber nicht um die Frequenz der einzelnen Varianten im Parallelkorpus, sondern nur um die Streuung der gewählten Übersetzungsäquivalente14 für je eine Variante geht, halten wir unsere Daten dennoch für einigermaßen aussagekräftig. Bei der Auswertung haben wir Fälle vernachlässigt, bei denen die Äquivalente in den tschechischen Parallelstellen offensichtlich falsch bzw. ungenau sind. Typische Beispiele (mit einer von uns hinzugefügten wörtlichen Übersetzung der tschechischen Korpusparallele) finden sich in (16) und (17): (16) a. Der Nationalsozialismus ist hochmütig von Jesu Christi abgefallen. b. Národní socialismus se nabubřele opírá o Ježíše Krista. ‚Der Nationalsozialismus stützt sich schwülstig auf Jesus Christus‘ (17) a. Als der Kaiser ihn im Januar 1634 zum zweitenmal absetzte […], fielen fast alle Offiziere […] von Wallenstein ab. b. Když ho císař v lednu 1634 podruhé sesadil […], nechali ho všichni jeho důstojníci na holičkách ‚ließen ihn alle seine Offiziere im Stich‘ Im ersten Fall handelt es sich um eine grobe Verzerrung des dargestellten Sachverhalts in der deutschen Vorlage, indem in der tschechischen Parallele gerade 14 Wir sprechen hier von „Übersetzungsäquivalenten“, ohne dabei die Richtung der Übersetzung zu berücksichtigen. [InterCorp] enthält sowohl Übersetzungen vom Deutschen ins Tschechische als auch Übersetzungen vom Tschechischen ins Deutsche und Übersetzungen von einer weiteren Sprache ins Deutsche und Tschechische. Entscheidend für uns ist nur die Äquivalenzbeziehung von tschechischen und deutschen Lexemen im jeweiligen Kontext, die durch die Kompetenz der jeweiligen Übersetzer garantiert ist (vgl. aber auch die Anmerkung im Haupttext zu offenbar falschen Äquivalenten). 226 das Gegenteil zum Ausdruck gebracht wird. Das deutsche Verb abfallen im Sinne von ‚sich von jmdm. lossagen‘ wird in der tschechischen Fassung durch das antonyme Verb opírat se o někoho ‚sich auf jmdn. stützen‘ ersetzt. Solche Fälle einer völligen Desinterpretation der Ausgangssatzstruktur sind ziemlich selten anzutreffen. Demgegenüber kommen freie Übersetzungen wie (17) verhältnismäßig häufig vor. Das deutsche Verb abfallen wird in (17) in der tschechischen Parallele durch das Phrasem nechat někoho na holičkách ‚jmdn. im Stich lassen‘ wiedergegeben. Darüber hinaus zeigt sich, dass die Palette der ermittelten Bedeutungsvarianten in [InterCorp] (wenigstens beim Stichwort abfallen) breiter ist als die der Bedeutungsvarianten, die wir aufgrund von [DeReKo] ermittelt haben, was allerdings für unsere weiteren Ausführungen ohne Relevanz ist. Im Folgenden präsentieren wir die Ergebnisse der Auswertung unserer Stichprobe aus [InterCorp] in tabellarischer Form. Betrachten wir zunächst die Übersetzungsäquivalente für abfallen1a in verbalen Kontexten. Zur Erinnerung sei angemerkt, dass wir abfallen1a ‚sich von etwas lösen und zu Boden fallen‘ für die zentrale Variante des Lexems halten. Tschechische FreÄquivalente quenz Anteil Wurzel Anteil pad- Tschechische Äquivalente Frequenz Anteil upadnout 16% urodit 1 15 80 82% 1% padat 8 8% sejmout 1 1% spadnout 14 14% podklesnout 1 1% spadat 3 3% odskočit 1 1% vypadat 2 2% překonat 1 1% opadat 9 9% uvolnit se z 1 1% odpadnout 15 16% rozpadnout se 1 1% opadávat 4 4% ulomit se 1 1% odpadávat 6 6% spustit se 1 1% popadat 1 1% rupnout 1 1% odpadat 1 1% skapávat 1 1% dopadnout 1 1% svézt se 1 1% ulítnout 1 1% odrolovat 1 1% jít do háje 1 1% blednout 1 1% klouzat 1 1% 29 Typen 96 Token 30% Streuung: Tab. 6: Übersetzungsäquivalente für abfallen1a in [InterCorp] 227 In Tabelle 6 sind alle aus [InterCorp] ermittelten Übersetzungsäquivalente mit Token-Frequenz und relativer Frequenz bezogen auf das Gesamtvorkommen der Variante in unserem Korpus angeführt. Zusätzlich haben wir die Streuung der Übersetzungsäquivalente errechnet, d.h. die Zahl der verwendeten Übersetzungsäquivalente bezogen auf die Gesamtzahl der im Korpus befindlichen Belege (in Tabelle 6 also 29 verschiedene Äquivalente : 96 Belege × 100 = 30,21 %). Mit dieser Zahl haben wir einen Wert an der Hand, der den Vergleich der einzelnen Varianten ermöglicht, auch wenn diese in unterschiedlicher Belegzahl im Korpus vertreten sind. Zunächst scheint die Zahl der gewählten Übersetzungsäquivalente (29 verschiedene tschechische Lexeme) überraschend hoch zu sein. Diese Aussage wird sich allerdings gleich relativieren, wenn wir die Streuung der Übersetzungsäquivalente bei abfallen1a mit der Streuung bei den beiden anderen untersuchten Varianten vergleichen. Zudem fällt auf, dass viele Äquivalente die Wurzel pad- ‚fallen‘ aufweisen. Unseres Erachtens gibt es gute Gründe dafür, diese Äquivalente zu einer Gruppe zusammenzufassen. Zum einen handelt es sich – im Unterschied zu den anderen belegten Äquivalenten – um genaue strukturelle Äquivalente des deutschen Verbs abfallen, die wie das deutsche Verb um eine einheitliche Wurzel organisiert sind (Präfix-Wurzel-Suffix; die Wurzel pad- im Tschechischen kann dabei als nächstes Äquivalent der Wurzel fall- im Deutschen gelten). Zum anderen bringen die verschiedenen Präfixe und Suffixe, die sich im Tschechischen mit der Wurzel pad- verbinden, lediglich Unterschiede in bestimmten grammatischen Kategorien wie Aktionsart oder Aspekt zum Ausdruck, von denen beim Vergleich zunächst abgesehen werden kann. Fasst man alle Äquivalente mit der Wurzel pad- zu einer Gruppe zusammen, dann kommt man zu dem Schluss, dass 82 % (80 Token) aller Übersetzungsäquivalente dieser Gruppe zuzurechnen sind. Damit ergibt sich bei den Übersetzungsäquivalenten eine deutliche Konzentration, die für hohe Stabilität bei der Bedeutung von abfallen1a sprechen würde. Kommen wir nun zu einer Variante, die wir als peripher betrachten. Dabei handelt es sich um abfallen4 ‚sich im Hinblick auf einen Wert verschlechtern‘, d.h. um die Variante, die wir bereits in Abschnitt 5 und 6 intensiv betrachtet haben. Die Verteilung auf die Übersetzungsäquivalente in [InterCorp] lässt sich Tabelle 7 entnehmen: Tschechische Äquivalente Frequenz Anteil zaostat/zaostávat 25% 2 propadnout se 1 13% pokulhávat 1 13% zhoršit se 1 13% zůstat pozadu 1 13% 228 Wurzel pad- Anteil 2 25% shořet 1 13% odpadnout 1 13% Streuung: 7 Typen 8 Token 88% Tab. 7: Übersetzungsäquivalente für abfallen4 in [InterCorp] Die deutsche Ausgangsform ist mit sieben Übersetzungsvarianten vertreten, die auf acht Belege entfallen. Daraus ergibt sich eine Streuung von 88 %. Vergleicht man diesen Wert mit dem Wert, den wir für abfallen1a errechnet haben (30 %), dann lässt sich feststellen, dass die Streuung bei abfallen4 deutlich größer ist als bei abfallen1a. Dies entspricht völlig unseren Erwartungen. Nimmt man die Streuung als Indiz für den zentralen oder peripheren Status einer Variante, dann belegen die Zahlen aus Tabelle 6 und Tabelle 7 – entgegen den Frequenzwerten, die wir in Abschnitt 3 diskutiert haben – dass es sich bei abfallen4 um eine periphere Variante des Lemmas handelt. Die Belegzahl für abfallen4 in [InterCorp] ist relativ gering. Betrachten wir daher noch eine weitere, u. E. ebenfalls periphere Variante, nämlich abfallen5 ‚eine psychische Belastung verlieren’. (18) und (19) zeigen zwei Verwendungskontexte für das Lexem aus [InterCorp]. In (18) erscheint ein tschechisches Übersetzungsäquivalent (opadala ‚fiel ab‘), das mit der charakteristischen Wurzel pad- konstruiert ist, in (19) findet sich dagegen ein Übersetzungsäquivalent (zmizelo, wörtl. ‚ist verschwunden‘), das man als freie Übersetzung für abfallen bezeichnen könnte. (18) a. Und so fiel zu meiner Verwunderung das anfängliche Mißtrauen, mit dem ich den chaotischen Ritt der Könige aufbrechen sah, von mir ab. b. A tak počáteční nedůvěra, s níž jsem pozoroval zmateně se rozjíždějící jízdu králů, k mému údivu ze mne opadala. [InterCorp: Kundera, Žert] (19) a. Nun, im Flugzeug, […] fiel der Höhenrausch vollends von ihm ab. b. Teď, v letadle, […] jeho opojení z nadmořské výšky zcela zmizelo. [InterCorp: Konsalik, Das Weiberschiff] Tabelle 8 zeigt, dass abfallen5 frequenzmäßig mit abfallen1a Schritt hält. Auch die Streuung der Übersetzungsäquivalente entspricht mit 29% in etwa der Streuung bei abfallen1a (30%). Ein Unterschied ergibt sich allerdings dann, wenn man speziell diejenigen Äquivalente betrachtet, die von der charakteristischen Wurzel padabgeleitet sind: Bei abfallen5 sind dies 66% aller Übersetzungsäquivalente, bei abfallen1a dagegen über 80%. Dies könnte darauf hindeuten, dass die Übersetzungsäquivalenz bei abfallen1a stärker auf der Kernbedeutung basiert, die in der Wurzel zum Ausdruck kommt, wohingegen die Äquivalenzbeziehung bei abfallen5 stärkeren Schwankungen unterliegt. 229 Tschechische Äquivalente Frequenz Anteil Wurzel pad- padat 6 7% 56 Anteil 66 % Tschechische Äquivalente Frequenz Anteil zmizet 1 1% opadnout 8 9% polevovat 3 4% spadnout 36 42% vzít za své 1 1% opadávat 4 5% opršet 1 1% odpadnout 4 5% uvolnit se 1 1% odpadávat 1 1% utišit 1 1% opadat 1 1% probrat se 1 1% vyprchávat 1 1% zbavit se 1 1% být ty tam, ta tam 3 4% ztratit 1 1% opustit/opouštět 4 5% přestat předstírat 1 1% puknout 1 1% zapomenout 1 1% vytratit se 1 1% setřást 1 1% pozbýt 1 1% 25 Typen 85 Token 29 % Streuung: Tab. 8: Übersetzungsäquivalente für abfallen5 in [InterCorp] Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich unsere Ausgangshypothese, periphere Varianten könnten zu breiterer Streuung bei den Übersetzungsäquivalenten neigen, anhand der drei untersuchten Varianten von abfallen (immer vorausgesetzt, dass unsere Annahmen hinsichtlich des Status der Varianten richtig sind) zumindest teilweise bestätigen lässt. Ein eindeutig peripheres Verhalten zeigt die Variante 4, die bei einer kleinen Belegzahl verhältnismäßig viele unterschiedliche Übersetzungsvarianten aufweist. Der Unterschied zwischen Variante 1 und 5 ist dagegen weniger deutlich, tritt aber stärker hervor, sobald man die innere Struktur der Äquivalente (mit oder ohne Wurzel pad-) berücksichtigt. An dieser Stelle sollte man allerdings hinzufügen, dass es einen Zusammenhang zwischen Frequenz und Streuung der Übersetzungsäquivalente geben könnte. Variante 1 und 5 sind in unseren Texten wesentlich häufiger anzutreffen als Variante 4. Es ist nicht auszuschließen, dass die höhere Frequenz der ersten beiden Varianten zu einer statistischen Nivellierung der Kontraste bei der Wahl der Übersetzungsäquivalente führt. 230 9. Fazit Welche Schlussfolgerungen lassen sich nun hinsichtlich der Aussagekraft der in Abschnitt 1 isolierten Kriterien (Frequenz, Kontextabhängigkeit, grammatisches Verhalten) für den zentralen oder peripheren Status von Lexemvarianten innerhalb eines Lemmas aufgrund des von uns untersuchten Lexems abfallen ziehen? Zunächst einmal ist das Frequenzkriterium zu relativieren. Die nach den anderen Kriterien als zentral zu betrachtende Variante 1 ist (im verbalen Bereich) weder die häufigste Variante, noch deckt sich die Frequenz im verbalen mit der Frequenz im nominalen Bereich. Damit liefert das Frequenzkriterium Ergebnisse, die zu den Ergebnissen, die man bei der Anwendung weiterer Kriterien erzielt, in Widerspruch stehen und gleichzeitig – bei der Betrachtung verschiedener Wortarten – inkohärent ausfallen. Das grammatische Kriterium liefert bei abfallen dagegen Indizien dafür, dass die intuitiv vorgenommene Einteilung in zentrale (abfallen1 und abfallen3) und periphere (abfallen4) Varianten korrekt ist. Variante 4 weist Eigentümlichkeiten im Aktantenrahmen auf, die den allgemein angenommenen Regularitäten bei der Strukturierung von Aktantenrahmen zuwiderlaufen (Selektionsbeschränkungen, Ferens > Patiens). Im nominalen Bereich erfolgt die Realisierung des Valenzpotentials bei den peripheren Varianten zudem weniger regelmäßig als bei den zentralen Varianten, und es zeigen sich Derivationsbeschränkungen (z.B. bei der Kompositabildung). Auch die Streuung bei den Übersetzungsäquivalenten im Parallelkorpus, die wir zur Objektivierung des Kriteriums der Kontextabhängigkeit herangezogen haben, weist auf den zentralen Status von abfallen1 und den peripheren Status von abfallen4 (und weniger deutlich auf den peripheren Status von abfallen5) hin: Bei der zentralen Variante ist die Streuung geringer und konzentriert sich auf Übersetzungsäquivalente, die auf der charakteristischen Wurzel pad- basieren; bei den peripheren Varianten ist die Streuung breiter, und Äquivalente auf pad- sind prozentual weniger dominant. Diese Ergebnisse sind nicht so überraschend, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Die Frequenz ist eine Größe, die der Sprache zunächst äußerlich ist und stark vom Benennungsbedarf im jeweiligen Kontext abhängt. In diesem Zusammenhang drängt es sich förmlich auf, die klassische Unterscheidung von langue und parole von de Saussure zu bemühen und darauf hinzuweisen, dass Beschreibungen des Systems einer Sprache (zu denen auch Valenzlexika gehören) auf die langue Bezug nehmen müssen, will man zu grammatisch relevanten Aussagen kommen. Eine oberflächliche Einengung des Begriffes „Zentrum“ auf die Frequenz bestimmter Phänomene ist daher nicht sinnvoll; was zum Zentrum und was zur Peripherie der Sprache gehört, sollte sich zumindest ebenso deutlich am grammatischen Verhalten der untersuchten Einheiten zeigen. 231 Zwei abschließende Bemerkungen scheinen uns noch angebracht. Zum einen soll hier natürlich nicht dafür plädiert werden, das Frequenzkriterium bei der lexikographischen Arbeit völlig zu vernachlässigen. Wir möchten lediglich die Notwendigkeit betonen, weitere, genuin linguistische Kriterien als Korrektiv heranzuziehen. Zum anderen gestehen wir bereitwillig zu, dass sich anhand eines einzigen Lexems (abfallen) keine generell gültigen Schlussfolgerungen ziehen lassen. Die recht detaillierte Untersuchung von abfallen in diesem Artikel hat aber immerhin ermöglicht, bestimmte Hypothesen zu formulieren, die als Leitlinien bei der Untersuchung weiteren sprachlichen Materials dienen können. Und wie dies allgemein bei Hypothesen der Fall ist, wird dann die Ausarbeitung weiterer Lemmata für das geplante Valenzlexikon zeigen, wie weit uns die Ausgangshypothesen tragen und wo Korrekturen notwendig werden. Abstract In the lexicological literature, several criteria have been suggested to distinguish between central and peripheral meanings of a lexical unit. We apply these criteria to authentic language material collected during work on a derivational valency dictionary at the Pedagogical faculty of Masaryk University in order to determine whether unambiguous results can be achieved. In the paper, we show that in the case of abfallen ‘to drop down’, the exclusive application of criteria based on frequency would lead to unintuitive results. The basic meaning of abfallen neither is the most frequent meaning of the verb in our corpus nor is its frequency constant across verbal and nominal contexts. The results can be improved if additional criteria are taken into consideration. It turns out, that the subunits of the lexeme abfallen which we consider on intuitive grounds as peripheral show noncanonical grammatical behaviour as to the structure of their valency frames and the realization of their valency potential. In addition, the set of translational equivalents documented in the parallel corpus [InterCorp] is more fragmentised than it is the case with the central subunits of the lexeme. We take both observations as evidence for the peripheral status of the subunits under consideration. Keywords valency realization – actant frames – valency inheritance – valency lexicography – secondary meaning Literaturverzeichnis Ágel, Vilmos (1995): Valenzrealisierung, Grammatik und Valenz. In: Zeitschrift für germanistische Linguistik 23 (1), S. 2-32. Ágel, Vilmos (2000). Valenztheorie. Tübingen: Narr. 232 Ágel, Vilmos / Fischer, Klaus (2010): 50 Jahre Valenztheorie und Dependenzgrammatik. In: Zeitschrift für germanistische Linguistik 38 (2), S. 249-290. Apresjan, Jurij Derenikovič (1974). Лексическая семантика. Синонимические средства языка. Москва: Наука. Atkins, Sue / Clear, Jeremy / Ostler, Nicholas (1992): Corpus Design Criteria. In: Linguist Computing 7 (1), S. 1-16. Biber, Douglas (1993): Representativeness in corpus design. In: Literary and Linguistic Computing 8, S. 243-257. Blume, Kerstin (2004). Nominalisierte Infinitive. Eine empirisch basierte Studie zum Deutschen. Tübingen: Niemeyer. 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Online verfügbar unter http://www.romanistik.uni-wuerzburg.de, [16. 5. 2016] 234 Grammatik und Phraseologie Michaela Kaňovská Annotation Das Ziel des Beitrags ist festzustellen, inwieweit die metasprachliche Markierung von Phrasemen im Lehr- und Übungsbuch der deutschen Grammatik (Dreyer und Schmitt, 2009) der Terminologie in der phraseologischen Basisliteratur entspricht, und in welchem Ausmaß die metasprachlich markierten Phraseme in dieser Übungsgrammatik das Zentrum bzw. die Peripherie der Phraseologie darstellen. Im Zusammenhang damit wird auch dem Ort des Vorkommens dieser Phraseme Aufmerksamkeit geschenkt. Von den vier am häufigsten verwendeten Bezeichnungen bezieht sich der Ausdruck „Redensarten“ bis auf Ausnahmen auf (Teil-) Idiome, d.h. Phraseme, die zum Zentrum des Phraseolexikons gehören. Sie kommen fast nur in den Übungen vor. Mit dem Ausdruck „feste Wendungen“, der vor allem als Einleitung von Beispielen in den theoretischen Erläuterungen verwendet wird, werden häufiger (57-mal) periphere Phraseme (nicht- oder schwachidiomatische und strukturelle Phraseme sowie Modellbildungen) als die zentralen (Teil-) Idiome (40-mal) bezeichnet, aber der Unterschied im Umfang beider Gruppen ist nicht so groß wie bei den als (verbale) „feste Verbindungen“ bzw. „Funktionsverbgefüge“ (FVG) bezeichneten Phrasemen. In dieser Gruppe sind 263 der 287 Wortverbindungen nicht- oder schwach-idiomatische Phraseme, Kollokationen nach Burger (2010), allerdings können bei Weitem nicht alle zugleich den (prototypischen) FVG zugeordnet werden. Die 24 in dieser Gruppe angeführten Idiome haben zwar dieselbe syntaktische Struktur wie die Kollokationen, und einige bilden auch wie FVG aktionale Reihen, aber aufgrund anderer semantischer Eigenschaften müssen sie von beiden Phrasemtypen unterschieden werden. Schlüsselwörter Phrasem, Idiom, Kollokation, Zentrum und Peripherie 1. Enleitung Im Seminar Morphosyntax in den ersten drei Semestern des Bakkalaureatsstudiums sollen sich die Germanistikstudenten in Olmütz grammatische Regeln, Terminologie und zugleich den gesamten Wortschatz des Lehr- und Übungsbuchs der deutschen Grammatik (Dreyer und Schmitt, 2009, im Folgenden DS oder DS-Grammatik) 235 aneignen. Dabei lernen sie auch viele Phraseme, auf die man sich später in den Kursen zur Phraseologie berufen kann. Die in dieser Übungsgrammatik verwendeten Phraseme stellen verschiedene Phrasemtypen dar, was eng damit zusammenhängt, an welchem Ort des Textes sie vorkommen. Dabei sind die theoretischen Passagen, in denen die grammatischen Regeln erläutert werden, von den Übungstexten zu trennen, die den aktuellen alltagssprachlichen Wortschatz enthalten (vgl. DS, S. 3). In den theoretischen Erläuterungen, die nach der Klassifikation von Löffler der mittleren vertikalen Ebene der Fachsprache, der Lehrbuchsprache, zuzuordnen sind (vgl. Löffler, 2010, S. 104) kommen vor allem phraseologische Termini1 (wie der bestimmte Artikel oder Umstandsbestimmung der Zeit) und (idiomatische wie nicht idiomatische) Phraseologie des allgemeinwissenschaftlichen Diskurses wie im Allgemeinen, im Vergleich zu etw. vor (vgl. Bukovčan, 2009, S. 79‒80; Kunkel, 1991, S. 103-104). Dieser Gruppe von Texten sind auch die Übungsanweisungen zuzuordnen. Umgekehrt gehören die Beispielsätze in den Erläuterungen zur zweiten Textgruppe, zu den alltagssprachlichen Texten, in denen eher satzglied- und satzwertige (teil-) idiomatische Phraseme oder kommunikative Formeln dominieren. In beiden Typen von Textpassagen können jedoch auch die weniger typischen Phraseme vorkommen, wie es auch einige der folgenden Beispiele illustrieren (die ursprüngliche Schriftart wurde nicht beibehalten, Phraseme werden kursiv markiert): (1) „Modale Nebensätze können aus der Frage nach der Art und Weise entstehen.“ (DS, S. 188, Theorie = T) (2) „Der Wechsel des Subjekts von der Position I zur Position III wird im Folgenden Umstellung genannt.“ (DS, S. 140, T) (3) „Wenn Sie Ihre Forderung verstärken wollen, setzen Sie auf keinen Fall oder unter (gar) keinen Umständen an die Stelle von nicht: […]“ (DS, S. 127, Übungsanweisung = Ü/Anw.) (4) „Singular ohne Artikel […] 7. Bei vielen Sprichwörtern und festen Wendungen: a) Ende gut, alles gut. […] / b) Pech haben […] / c) Er arbeitet Tag und Nacht, Jahr für Jahr.“ (DS, S. 25, Beispiele in einer theoretischen Passage = T/B) (5) „Jedes Ding hat seine zwei Seiten – wie man es macht, ist es falsch.“ (DS, S. 163, Überschrift einer Übung = Ü/Üs.) (6) „Die Straßenbahn fuhr ihm gerade vor der Nase weg.“ (DS, S. 74, Übungssatz = Ü) Wie das Beispiel (4) zeigt, werden die in der DS-Grammatik vorkommenden Phraseme gelegentlich metasprachlich markiert. Daneben gibt es ein ganzes Kapitel, § 62, das „Funktionsverbgefüge (Verben in festen Verbindungen)“ behandelt und mehrere Listen solcher fester Ausdrücke anführt (s. u.). Aufgrund der Fülle des phraseologischen Materials, das dieses Übungsbuch enthält, möchte sich der folgende Beitrag nur darauf konzentrieren, inwieweit die metasprachliche 1 Hinsichtlich des Fachlichkeitsgrads wird die Terminologie charakterisiert als Begriffe, die heute im Bereich Deutsch als Fremdsprache üblich sind (vgl. DS, S. 3). 236 Markierung von Phrasemen in diesem Buch der Terminologie entspricht, die in der phraseologischen Basisliteratur – den Einführungen in die Phraseologie von Burger (2010) und Fleischer (1982, 1997) – und in einigen zum Vergleich herangezogenen Aufsätzen verwendet wird, und in welchem Ausmaß die metasprachlich markierten Phraseme in der DS-Grammatik das Zentrum bzw. die Peripherie der Phraseologie (des Phraseolexikons) darstellen. 2. Phraseologische Grundtermini und das Zentrum und die Peripherie der Phraseologie Sowohl Burger als auch Fleischer verwenden für die sprachlichen Einheiten, die Objekt der Phraseologieforschung sind, als Oberbegriff den im deutschsprachigen Bereich weit verbreiteten Terminus „Phraseologismus“, Burger macht aber darauf aufmerksam, dass im Handbuch Phraseologie von Burger et al. (Hg.) (2007) der international leichter handhabbare Terminus „Phrasem“ vorgezogen wurde (vgl. Burger, 2010, S. 35-36). Als mit dem Terminus Phraseologismus äquivalente Ausdrücke erwähnt Burger weiter „feste Wortverbindung“ bzw. „phraseologische Wortverbindung“ (vgl. Burger, 2010, S. 11, 36). Fleischer bezeichnet sowohl die zentralen als auch die peripheren Einheiten mit den Oberbegriffen „Phraseologismus“, „(feste) Wendung“, „feste Wortverbindung / Wortgruppe“ (vgl. Fleischer, 1982, S. 9, 73). In diesem Beitrag wird als Oberbegriff „Phrasem“ verwendet. Nach Burger werden Phraseme definiert als sprachliche Einheiten, die sich durch Polylexikalität und eine relative Festigkeit auszeichnen und darüber hinaus einen bestimmten Grad von Idiomatizität aufweisen können, was zur Unterscheidung der Phraseologie im engeren Sinne (der idiomatischen Phraseme, Idiome) und der Phraseologie im weiteren Sinne führt (vgl. Burger, 2010, S. 14, 37-38). Zur Phraseologie i. w. S. gehören auch die nicht- oder schwachidiomatischen Phraseme, die Burger als Kollokationen bezeichnet (vgl. Burger, 2010, S. 38, 52-55, mehr s. u.). Nach Fleischer wird das Zentrum des Phraseolexikons von den sogenannten Phraseolexemen gebildet, d.h. von Wortverbindungen mit wenigstens einem Autosemantikon, die (vollständig oder teilweise) idiomatisch, stabil, lexikalisiert und nicht festgeprägte Sätze sind (vgl. Fleischer, 1982, S. 72). Durch die Bedingung einer autosemantischen Komponente und durch das syntaktische Strukturmerkmal unterscheidet sich Fleischers Abgrenzung des Zentrums von Burgers Bestimmung der Phraseologie i. e. S., die etwa neben den idiomatischen nominativen / satzgliedwertigen Phrasemen (einschließlich solcher aus Synsemantika wie an (und für) sich ,eigentlich, im Grunde genommen‘2 ) auch idiomatische propositionale / satzwertige Phraseme, z.B. Sprichwörter, umfasst 2 Falls nicht anders angegeben, werden die Phraseme und ihre Bedeutungsparaphrasen nach Duden. Deutsches Universalwörterbuch (DU) angeführt (s. Literaturverzeichnis). 237 (vgl. Burger, 2010, S. 38, 108).3 Zu den peripheren Bereichen rechnet Fleischer (1) potentielle oder individuelle Phraseolexeme (d.h. okkasionelle Modifikationen von Phrasemen und Autorphraseme), (2) sogenannte Nominationsstereotype (d.h. nicht-idiomatische Wortverbindungen, deren Komponenten aber einander stärker determinieren als Komponenten von völlig freien Wortverbindungen), (3) kommunikative Formeln (festgeprägte Sätze, die als textgliedernde oder kommunikationssteuernde Signale verwendet werden – im Unterschied zu den nominativen Phrasemen mit der Benennungsfunktion) und (4) Phraseoschablonen (d.h. syntaktische Strukturen mit einer festgeprägten Modellbedeutung, vgl. Fleischer, 1982, S. 63, 70-73, 130-131, 135-136). Fleischers Phraseoschablonen werden von Burger als Modellbildungen bezeichnet und wie die Autorphraseme als eine der speziellen Klassen behandelt (vgl. Burger, 2010, S. 44-45, 48). Für einen Spezialfall der Phraseoschablonen hält Fleischer die mehrteiligen Konjunktionen und Präpositionen, die Burger als sogenannte strukturelle Phraseme, eine der Basisklassen seiner semiotischen Klassifikation, behandelt (neben den referentiellen und den kommunikativen Phrasemen, vgl. Burger, 2010, S. 36). Den Phraseoschablonen ordnet Fleischer auch die Funktionsverbgefüge (FVG) zu, die Burger als einen Typ von (nicht-idiomatischen) Kollokationen behandelt. Im Zusammenhang mit Modellbildungen erwähnt er sie nicht und sagt sogar, dass Modellbildungen im Unterschied zu den anderen speziellen Klassen nicht von der Basisklassifikation erfasst werden (vgl. Burger, 2010, S. 44). Trotz der unterschiedlichen Zuordnung werden die FVG in beiden Fällen als nicht zentrale Phraseme angesehen (mehr s. u.). Die kommunikativen Formeln in Fleischers Auffassung entsprechen bei Burger den situationsgebundenen kommunikativen Phrasemen (Routineformeln wie auf Wiedersehen) und einem Teil seiner festen Phrasen (einer Subklasse der referentiellen satzwertigen Phraseme): denjenigen, die an bestimmte Situationen gebunden und deshalb funktional definierbar sind (z.B. das schlägt dem Fass den Boden aus ,jetzt ist es aber genug; mehr kann man sich nicht gefallen lassen‘, vgl. Stein, 2007, S. 226). Die idiomatischen kommunikativen Formeln würden nach Burger zur Phraseologie i. e. S., das heißt noch zum Zentrum, gehören (vgl. Burger, 2010, S. 39-41, 50-57). Die okkasionellen, textgebundenen Modifikationen behandelt Burger im Zusammenhang mit der Festigkeit von Phrasemen und mit ihrer Verwendung im Text (vgl. Burger, 2010, S. 26-27, 159-170). Fleischers Nominationsstereotype entsprechen nur ungefähr Burgers Auffassung von nicht-idiomatischen Phrasemen, Kollokationen. Sie schließen auch drei von Burgers speziellen Klassen ein – onymische Phraseme, phraseologische Termini und Klischees (vgl. Burger, 2010, S. 38, 49-55). Burger geht allerdings auch auf fachsprachliche Kollokationen ein (vgl. Burger, 2010, S. 54-55). Beide Phraseologen 3 Nach Lüger (2007), der die Grenze wiederum anders zieht, bilden Burgers feste Phrasen (z.B. da liegt der Hund begraben (ugs.) ,das ist der Punkt, auf den es ankommt, die Ursache der Schwierigkeiten’) die Übergangszone zur Peripherie der Phraseologie, den „satzwertigen“ Phrasemen, zu denen er Sprichwörter, Gemeinplätze und Routineformeln zählt (vgl. Lüger, 2007, S. 452). 238 erwähnen als einen Subtyp der peripheren Phraseme nicht-idiomatische Wortpaare (Kaffee und Kuchen), Fleischer hebt die Verbindungen eines Substantivs mit einem Attribut in der Rolle eines nur schmückenden bzw. verstärkenden Epithetons hervor (blaues Meer), Burger macht auf Wortverbindungen aufmerksam, in denen eine bestimmte Präposition verwendet wird (z.B. – mindestens gesamtdeutsch – in der Sonne liegen, nicht an oder unter), und behandelt ausführlicher die Substantiv-Verb-Kollokationen (mehr s.u.). Burger hält die Bezeichnung der nicht-idiomatischen Phraseme als „Nominationsstereotype“ für „nicht zweckmäßig“, weil „Stereotyp“ „zu sehr mit anderen Bedeutungen vorbelastet ist“ (Burger, 2010, S. 38). Nach Fleischer sind die Termini Kollokation und Nominationsstereotyp „das begriffliche Ergebnis unterschiedlicher Denkansätze“, aufgrund der Merkmale „bevorzugte Verbindung und semantische Transparenz“ treffen sie sich aber „in einem – je nach Auffassung mehr oder weniger großen – Bereich ,habitualisierter‘ Konstruktionen“ (Fleischer, 1997, S. 252). Damit korrespondiert u. a. die Definition der Kollokation von Wotjak und Heine als „präferiertes Zusammenvorkommen von lexikalischen Einheiten im Text – mit Abstufungen in der Vorhersagbarkeit“, eine Erscheinung „zwischen langue und parole“, z.B. den Tisch abräumen, schallende Ohrfeige (Wotjak und Heine, 2005, S. 145, 147), oder ihre Definition als „eine hierarchisch organisierte binäre Konstruktion“, die „sich aus einem übergeordneten Element, der Basis, und einem untergeordneten Element, dem Kollokator, zusammensetzt“, wobei die Grundlage für die Unterscheidung „kein syntaktisch-morphologisches Kriterium, sondern ein kognitives und primär in fremdsprachendidaktischer und lernerlexikographischer Hinsicht relevantes“4 Kriterium ist (Konecny, 2010, S. 78).5 So aufgefasste Kollokationen werden meistens nach ihrer syntaktischen Struktur klassifiziert, z.B. Adj + S (ein heikles Thema); S + V (den Tisch decken, das Herz klopft); (adverbial verwendetes) Adj + Adj (strategisch wichtig); (adverbial verwendetes) Adj + V (automatisch verlängern). Zwei Kollokationen können zu einer TripelStruktur verschmelzen, z.B. massive / scharfe Kritik erfahren (vgl. Hausmann, 2004, S. 315‒316; Konecny, 2010, S. 79; Kratochvílová, 2011, S. 111; WK, S. IX; FW, S. XVI). Als eine Untergruppe der S-V-Kollokationen hebt Burger die Funktionsverbgefüge (FVG) heraus. Die FVG sind ihm zufolge solche Kollokationen, die ein deverbales Substantiv und ein semantisch leeres Verb enthalten, wobei mit dem Verb die Aktionsart differenziert werden kann: zur Entscheidung kommen / stehen; etw. zur Entscheidung bringen / stellen (vgl. Burger, 2010, S. 54). Fleischer diskutiert in 4 Entscheidend ist, dass eine Kollokation „als Verbindung im mentalen Lexikon der Sprecher verfügbar und jederzeit abrufbar sein muss, unabhängig davon, wie oft sie tatsächlich abgerufen wird“ (Konecny, 2010, S. 80). 5 Nach einer weiten Auffassung werden unter Kollokationen „usuelle Wortverbindungen“ überhaupt verstanden. (Teil-) Idiome werden dann als „restringierte Kollokationen“ bezeichnet, und die nach Burgers und Fleischers Auffassung peripheren Phraseme werden einerseits als „stereotype“, andererseits als „präferierte“ und „konventionalisierte“ Verbindungen angesehen (vgl. Kratochvílová, 2011, S. 46, 100‒109). 239 der zweiten Auflage seiner Phraseologie einige neuere Auffassungen von FVG, und daraus wird nur klar, dass Verbindungen mit einem Konkretum wie jmdn. auf die Palme bringen (ugs.) ,jmdn. aufbringen, wütend machen, erzürnen‘ keine FVG, sondern zentrale Phraseme, Idiome, sind. Aufgrund der Zwischenstellung zwischen Syntax und Lexik spricht er sich weiterhin für die Behandlung der FVG als Phraseoschablonen aus (vgl. Fleischer, 1982, S. 139-142; 1997, S. 134-138, 253-254). In der bereits erwähnten Phrasem-Auffassung von Wotjak und Heine werden Kollokationen und FVG als zwei Subklassen der nicht-idiomatischen Phraseme unterschieden.6 Die FVG werden genauer definiert als komplexe Prädikatsausdrücke aus einem Substantiv (einem Abstraktum, das Zustände oder Vorgänge beinhaltet, weder idiomatisiert noch unikale Komponente ist und die Hauptbedeutung trägt), einem Fügemittel zu diesem Substantiv (einer Präposition oder einer nicht passivfähigen Akkusativfügung) und einem Funktionsverb (FV), das Träger grammatischer Funktionen ist und eine zur Reihenbildung führende Bedeutung aufweist wie ,kausativ‘, ,inchoativ‘, ,durativ‘, ,passiv‘ (z.B. etw. zum Ausdruck bringen; zum Ausdruck kommen; in Verbindung stehen; Kritik erfahren). Substantiv und Verb sind zusammen Valenzträger, daher ist das Substantiv unter Anderem nicht pronominalisierbar (vgl. Wotjak und Heine, 2005, S. 145, 146, 148). Ptashnyk ordnet dagegen die meisten FVG den teilidiomatischen Phrasemen zu, und zwar aufgrund der verblassten Bedeutung des Verbs (die Gesamtbedeutung ist „weitgehend durch die Bedeutungen der substantivischen Komponenten verstehbar“, wie bei eine Entscheidung treffen ,entscheiden‘, Lob zollen ,loben‘, vgl. Ptashnyk, 2009, S. 33–34). Die Frage ist nun, welche Verben als Funktionsverben angesehen werden. Während Fleischer z.B. die Verben erheben, treffen, leisten, zollen (noch) nicht zu den FV zählt (und daher Verbindungen wie Anklage erheben oder Respekt zollen als Teilidiome ansieht, vgl. Fleischer, 1982, S. 142), werden das eine oder das andere dieser Verben in den Grammatiken der deutschen Sprache unter den FV erwähnt (vgl. beispielsweise DG, 2006, S. 425-431; Helbig und Buscha, 2001, S. 70-83). In diesem Beitrag werden die FVG einschließlich der S-V-Verbindungen wie der zuletzt genannten als nicht-idiomatische Phraseme angesehen, und zwar deshalb, weil die abgeschwächte Verbbedeutung nicht auf eine oder wenige Verbindungen begrenzt ist, sondern zu einer Reihenbildung führt. Dabei wird berücksichtigt, dass die Grammatikalisierung bei den einzelnen FV unterschiedlich weit fortgeschritten ist (vgl. Burger, 2010, S. 54; Pottelberge, 2007, S. 441; Helbig und Buscha, 2001, S. 85). Die Tatsache, dass man auch unter den FVG zentrale (prototypische) und periphere Einheiten unterscheiden kann (vgl. Helbig und Buscha, 2001, S. 85) und die Grenze zwischen den FVG und anderen festen S-V-Verbindungen daher fließend ist, rechtfertigt Burgers Auffassung von FVG als einer Untergruppe der S-V-Kollokationen und kommt auch in den Kollokationenwörterbüchern zum Ausdruck (vgl. FW). 6 Kratochvílová zählt z.B. FVG nicht zu (lexikalischen) Kollokationen, sondern zu (grammatischen) „Kolligationen“ (vgl. Kratochvílová 2011, S. 73, 80, 100). 240 3. Metasprachliche Hinweise auf Phraseme in der DS-Grammatik In der DS-Grammatik werden die Termini „Phrasem“ / „Phraseologismus“ nicht verwendet. Der Ausdruck „Idiom“ kommt nur im Vorwort vor, allerdings in seiner anderen Bedeutung – als ,eigentümliche Sprache, Sprechweise einer regional od. sozial abgegrenzten Gruppe‘ (DU; vgl. Fleischer, 1982, S. 9): Es wird erwähnt, dass „die Beispielsätze und Übungstexte [...] sowohl im Hinblick auf den Wortschatz als auch auf dessen Gebrauch aktualisiert wurden, ohne allerdings allzu viel Kurzlebigem aus Gruppenidiomen nachzugehen“ (DS, S. 3). In der DS-Grammatik wird für Phraseme der Terminus „feste Verbindungen“ verwendet, zum ersten Mal im Zusammenhang mit der Rektion der Verben, wo auch „Verben, die mit einem Akkusativobjekt in einer festen Verbindung stehen“ und „mit ihm zusammen eine Einheit“ bilden, erwähnt werden (DS, S. 85). Dabei wird auf § 62, das Kapitel „Funktionsverbgefüge (Verben in festen Verbindungen)“ (DS, S. 336-351) verwiesen, wo der Terminus als solcher mit Anführungszeichen markiert ist: „Im Deutschen [...] nimmt der Gebrauch ,fester Verbindungen‘ immer mehr zu.“ (DS, S. 336). Daneben kommen in der DS-Grammatik auch andere Bezeichnungen vor: „feste Wendungen“ (in Erläuterungen, vor allem als Einleitung von Beispielen auf S. 25, 307-308, 310-311, 314-317, 319-322, 324-326), „feste Ausdrücke“ (in einer Übungsanweisung, S. 345), „feste Redewendungen“ (in einer theoretischen Erläuterung, S. 336), „Redensarten“ (in Übungsanweisungen auf S. 239‒240 und als Kapitelüberschrift auf S. 350-351), „Sprichwörter“ (als Einleitung von Beispielen für eine grammatische Erscheinung, S. 25, 360), ggf. nur „Wendungen“ (als Einleitung von konkreten Verbindungen in theoretischen Teilen, S. 79, 177) bzw. auch „präpositionale Wendungen“ (als Einleitung von Beispielen, S. 172) oder „nominale Wendungen“ (S. 304), womit allerdings nicht immer Phraseme bezeichnet werden. So ist mit „nominalen Wendungen“ (DS, S. 304, T) die Rektion der Substantive gemeint (z.B. die / eine Erinnerung an + Akkusativ, vgl. DS, S. 304, T), die Fleischer aus der Phraseologie ausschließt, denn „der anzuschließende nominale Teil ist variabel, und die Festlegung der Präposition lässt sich als syntaktisch-morphologisches Merkmal des Verbs fixieren“ (Fleischer, 1982, S. 34). Für die Rektion eines Verbs bzw. eines Substantivs wird dreimal auch der Ausdruck „feste Wendung“ verwendet, z.B. „Auf einen Facharbeiter kommen zehn Hilfsarbeiter.“ (DS, S. 320, T/B; vgl. kommen auf 19. auf jmdn./etw. kommt jmd./etw. „jmd./etw. entfällt rechnerisch auf jmdn./etw.“, Kubczak, 2011). Als „Wendung“ wird einmal die Konstruktion es gibt bezeichnet (DS, S. 79, T). Fleischer erwähnt unter Phrasemen mit besonderen Komponenten auch solche mit Pronomina, unter anderem mit dem Personalpronomen es in der Objektfunktion, z.B. es jmdm. geben ,jmdn. verprügeln, mit Worten zurückweisen‘ (vgl. Fleischer, 1982, S. 90). Auch Helbig und Buscha erwähnen, dass die Verben, bei denen die Pronominalform es als formales Objekt steht, „feste Verbindungen (Wendungen)“ 241 bilden (vgl. Helbig und Buscha, 2001, S. 244). Von den Konstruktionen mit dem Pronomen es in der Subjektfunktion sagt Fleischer nur, dass „eine Reihe“ davon „in diesen Zusammenhang gehört“, z.B. es gibt ,es ist vorhanden‘ (vgl. Fleischer, 1982, S. 90). Im grammatischen Informationssystem des IDS Mannheim Grammis wird im Artikel „Die Form es und ihre Verwendungen“ auch „fixes es als semantisch leeres formales Subjekt, insbesondere bei Witterungs- und Existenzverben: es regnet“ und „fixes es als semantisch leeres formales Akkusativkomplement: wie hältst du’s mit der Religion?“ erwähnt (URL 1). Im Valenzrahmen der Verben stellt dieses es kein Komplement dar. Das es als formales Subjekt wird im elektronischen Valenzwörterbuch deutscher Verben E-VALBU mit lemmatisiert (z.B. neben geben auch geben, es: 1. es gibt ,etw. ist vorhanden‘ bis 9. es gibt ,es ist möglich oder notwendig etw. zu tun‘ (vgl. Kubczak, 2011). Im DU wird solche unpersönliche Verwendung eines Verbs als eines seiner Sememe angeführt (vgl. geben 15.‒17., DU). Die Verbindungen eines Verbs mit einem es als formalem Subjekt werden nur als Bestandteil längerer Phraseme in phraseologischen Wörterbüchern angeführt; sie haben dann übertragene Bedeutung bzw. sind situationsspezifisch, z.B. (dann/gleich) gibts was! (ugs.) ,dann/gleich erfolgt eine Bestrafung, gibt es Schläge‘ (vgl. D, S. 261; Schemann, 1991, S. 294; DU). Das es als „formales Akkusativkomplement“ kann nach dem Grammis „auch anstelle eines Akkusativkomplements Bestandteil eines komplexen idiomatischen Prädikats sein“, z.B. Falls du es auf den Kleinen abgesehen hast, bekommst du es mit mir zu tun! (vgl. URL 1). Dies wird auch in den Anmerkungen bei einzelnen Verben erwähnt, z.B. „halten wird auch in dem Ausdruck es mit etwas halten verwendet“ (Kubczak, 2011). Dadurch wird noch einmal bestätigt, dass nur die Verbindungen mit es als formalem Objekt insgesamt der Phraseologie zugeordnet werden. In den anderen Fällen beziehen sich die oben erwähnten metasprachlichen Markierungen auf Phraseme. Die Frage ist nun aber, in welchem Ausmaß die so markierten Phraseme das Zentrum bzw. die Peripherie der Phraseologie darstellen. 4. Zentrum und Peripherie der Phraseologie in der DS-Grammatik 4.1. „Wendungen“ Als „Wendungen“ werden die konjunktionalen Phraseme wie vorausgesetzt, dass... oder im Fall, dass... (vgl. DS, S. 177, T/B; DU) bezeichnet: „Um eine Bedingung auszudrücken, können auch folgende Wendungen gebraucht werden, die meistens mit einem dass-Satz verbunden sind.“ (DS, S. 177, T). Die Bezeichnung „präpositionale Wendung“ bezieht sich auf ein präpositionales Phrasem: „bis wird in präpositionalen Wendungen mit zu verbunden.“ (DS, S. 172, T; vgl. DU). Je ein präpositionales und konjunktionales Phrasem wird auch als „feste Wendung“ bezeichnet: „in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch (vom Dienstag zum Mittwoch)“ (DS, S. 315, T/B; vgl. Fleischer, 1982, S. 139; von, DU) und „Auf der 242 einen Seite (,einerseits‘) habe ich viel Geld dabei verloren, auf der anderen Seite (,andererseits‘) habe ich eine wichtige Erfahrung gemacht.“ (DS, S. 320, T/B; vgl. Schemann, 1991, S. 107). Diese strukturellen Phraseme stellen die Peripherie der Phraseologie dar. 4.2. „Feste Redewendungen“ und „Redensarten“ Der Ausdruck „feste Redewendungen“ wird auf Funktionsverbgefüge bezogen, wenn von der veränderten Verbbedeutung und davon, dass die FVG unabhängig von den bekannten Verben gelernt werden müssen, die Rede ist (vgl. DS, S. 336, T). Ähnlich steht auch im Metzler Lexikon Sprache, mit dem die Studenten im Morphosyntax-Seminar arbeiten, dass FVG „mehr oder weniger feste Redewendungen“ sind (MLS, S. 226), wobei „Redewendungen“ und „Phraseologismen“ unter den Bezeichnungen für den Gegenstand der Phraseologie „mit gleicher, z.T. mit unterschiedl. Bedeutung“ angeführt sind (vgl. MLS, S. 529).7 Als FVG werden jedoch in der DS-Grammatik verbale feste Verbindungen verschiedener Idiomatizitätsgrade bezeichnet (s. u.). Der Ausdruck „Redensart“ kommt einerseits in Anweisungen von zwei Übungen zur Adjektivdeklination (DS, S. 239‒240) vor, andererseits als Bezeichnung einer Gruppe der verbalen festen Verbindungen in der Kapitelüberschrift „Redensarten und ihre Bedeutungen“ (DS, S. 350). Der Ausdruck wird nicht erklärt, aber an allen Stellen wird entweder durch die angeführten Bedeutungserklärungen (z.B. jmdn. mit offenen Armen empfangen ,jmdn. gern / mit großer Freude willkommen heißen‘, DS, S. 239) oder durch die auf Erklärung gerichtete Aufgabe die Aufmerksamkeit auf die übertragene Bedeutung dieser Verbindungen gelenkt. Fleischer erwähnt die Bezeichnungen „Redewendung“ und „Redensart“ als unter französischem Einfluss entstandene „heimische Ausdrücke“ für feste Wortverbindungen (vgl. Fleischer, 1982, S. 9). Burger (2010, S. 12) bewertet den Ausdruck „Redensart“ als eine „alltagssprachliche Kategorienbezeichnung“ für verbale und bildhafte Wortverbindungen wie Öl ins Feuer gießen, die vor allem in volkskundlichen Arbeiten gängig ist, aber sich nicht als linguistischer Terminus eignet, da sie „in der Alltagssprache zu viele und zu uneinheitliche Phänomene umfasst“ (dies zeigt er am Beispiel von DU, vgl. Burger, 2010, S. 182, 224, auch S. 35). Von den insgesamt 70 „Redensarten“ in der DS-Grammatik sind 64 Idiome oder Teilidiome und nur 6 Kollokationen. Unter den zentralen, (teil-) idiomatischen Phrasemen überwiegen die verbalen Idiome (52, z.B. in den sauren Apfel beißen ,etw. Unangenehmes tun oder hinnehmen, für das es keine andere Möglichkeit gibt‘, DS, S. 239, Ü). Dieser Gruppe wird als semantischer Sonderfall auch ein Kinegramm zugeordnet, für das die Doppelschichtigkeit der Bedeutung, die 7 Vgl. Redewendung ,feste Verbindung von Wörtern, die zusammen eine bestimmte, meist bildliche Bedeutung haben; Wendung‘: eine stehende Redewendung ,eine Redewendung‘ (DU). 243 sprachliche Kodierung von konventionalisiertem nonverbalem Verhalten, charakteristisch ist (jmdm. um den Hals fallen ,jmdn. umarmen‘, DS, S. 350, Ü, genauer ,jmdn. in einem plötzlichen, heftigen Gefühl von Zuneigung, Freude od. Kummer umarmen‘, vgl. DU; Burger, 2010, S. 47‒48, 63‒65). Ein Idiom ist substantivisch: ein Spiel mit dem Feuer ,eine gefährliche Sache‘ (DS, S. 350, Ü; vgl. DU). Die 11 Teilidiome sind alle verbal, z.B. von der Hand in den Mund leben ,planlos leben; nicht wissen, wovon man morgen leben soll‘ (DS, S. 350, Ü; vgl. DU). Die Kollokationen sind drei komparative Phraseme (das adverbiale wie aus der Pistole geschossen ,sofort, schnell, ohne Zögern‘, DS, S. 351, Ü; vgl. DU, und zwei verbale, z.B. jmdn. / etw. wie ein rohes Ei behandeln ,jmdn. / etw. mit größter Vorsicht behandeln‘, DS, S. 240, Ü; vgl. DU). Außerdem wurde das verbale Phrasem ein salomonisches Urteil fällen ,eine besonnene / vernünftige / weise Entscheidung treffen‘ (DS, S. 239, Ü) als Kollokation (mit einer Tripel-Struktur) bestimmt, da ein Urteil fällen eine Kollokation ist (vgl. DS, S. 336 T/B, S. 337 Liste, FW 866; DU) und salomonisch (bildungsspr. ,einem Weisen entsprechend ausgewogen, Einsicht zeigend; weise‘) in derselben Bedeutung nicht nur in der Verbindung ein salomonisches Urteil (DU; WK, S. 476) bzw. salomonisch urteilen (DU), sondern in zahlreichen weiteren Verbindungen verwendet wird (z.B. salomonische Lösung / Antwort / Entscheidung / ..., salomonisch antworten / ... usw. im DeReKo). Aus demselben Grund werden auch zwei substantivische Phraseme als Kollokationen angesehen, z.B. sauer verdientes Geld (DS, S. 240, Ü; vgl. FW, S. 316 und sauer 2. ,jmdm. als Arbeit, Aufgabe o. Ä. schwer werdend; nur unter großen Mühen zu bewältigen‘: eine saure Arbeit, Pflicht; sauer verdientes, erspartes Geld, DU). Alle als „Redensarten“ bezeichneten Phraseme kommen in den Übungen vor, es geht aber meistens um Auflistungen, nicht um alltagssprachliche bzw. die Alltagssprache nachahmende Texte. 4.3. „Sprichwörter“ Der Ausdruck „Sprichwort“ wird als bekannt vorausgesetzt, sonst könnte bei seiner ersten Verwendung nicht ganz klar sein, worauf er sich bezieht. Unter den Regeln für den Artikelgebrauch wird auch die Verwendung des Nullartikels in „vielen Sprichwörtern und festen Wendungen“ erwähnt, es folgen dann aber drei Gruppen von Beispielen (s. o. das Beispiel (4) in der Einleitung). Sprichwörter sind in der ersten Gruppe (Ende gut, alles gut. Kommt Zeit, kommt Rat),8 in der zweiten Gruppe kommen verbale feste Wendungen vor (Pech haben, Farbe bekennen u. a.), mit dem Hinweis auf das bereits erwähnte Kapitel über FVG, die dritte Gruppe enthält Beispiele für adverbiale feste Wendungen – eine Zwillingsformel und eine Modellbildung: „Er arbeitet Tag und Nacht, Jahr für Jahr.“ (DS, S. 25, T/B; mehr s. u.). Der Ausdruck „feste Wendung“ wird hier also nicht als Oberbegriff für alle 8 Vgl. das Sprichwort Ende gut, alles gut ,bei glücklichem Ausgang einer Sache sind die vorangegangenen Schwierigkeiten nicht mehr so wichtig‘ (DU); kommt Zeit, kommt Rat ,mit der Zeit findet sich eine Lösung‘ (DU). 244 (die satzglied- sowie satzwertigen) Phraseme verwendet,9 sondern Sprichwörter als satzwertige Phraseme (vgl. Burger, 2010, S. 41-42) bzw. als Mikrotexte (vgl. Fleischer, 1982, S. 80) werden den nicht satzwertigen festen Wendungen entgegengesetzt. Bei der zweiten Verwendung erscheint die Bezeichnung „Sprichwort“ in einem Hinweis auf eine formale Modifikation, eine Anspielung auf ein Sprichwort in einem Beispielsatz für Kommaregeln: „Er hatte kein Glück in der Liebe, trotzdem gewann er auch im Spiel nicht. (Nach dem Sprichwort Pech im Spiel, Glück in der Liebe.)“ (DS, S. 360, T/B; vgl. DU). Alle drei metasprachlich markierten Sprichwörter sind nur schwach- oder nicht-idiomatisch und gehören also auch nach Burger zur Peripherie der Phraseologie. 4.4. „Feste Wendungen“ Der Ausdruck „feste Wendungen“ bezieht sich im Übungsbuch erstens auf 92 (nach Burgers Terminologie) referentielle nominative Phraseme, sowohl auf (zentrale) (Teil-) Idiome (40-mal) als auch auf (periphere) Kollokationen (52-mal). Daneben werden damit auch zwei strukturelle (und somit periphere) Phraseme und dreimal die (kein Phrasem konstituierende) Rektion eines Wortes bezeichnet (s. Kap. 4.1.). Drittens kommen unter den „festen Wendungen“ drei Modellbildungen bzw. Phraseoschablonen vor, die nicht von Burgers Basisklassifikation bzw. von Fleischers Unterscheidung der nominativen und kommunikativen Phraseologismen erfasst werden, und daher nach Fleischer die Peripherie der Phraseologie, einen Grenzbereich zur Syntax darstellen, wenn sie auch „eine Art syntaktischer Idiomatizität aufweisen“ (vgl. Fleischer, 1982, S. 135-136; Burger, 2010, S. 44). Es geht z.B. um die Modellbildung Jahr für Jahr (DS, S. 25, T/B) bzw. X für X, deren semantische Leistung im Kapitel über Präpositionen beschrieben wird: „für [...] 6. zur Reihung gleicher Nomen ohne Artikel (zur Verstärkung): Dasselbe geschieht Tag für Tag, Jahr für Jahr. Er schrieb das Protokoll Wort für Wort, Satz für Satz ab.“ (DS, S. 307, T/B).10 Bei den referentiellen Phrasemen geht es erstens um 70 verbale Phraseme: 16 verbale Idiome wie Farbe bekennen (DS, S. 25, T/B) (ugs.) ,seine (wirkliche) Meinung zu etw. nicht länger zurückhalten‘ (DU); 10 verbale Teilidiome, z.B. zu Fuß gehen (DS, S. 316, T/B) ,einen Weg gehend zurücklegen u. nicht fahren‘ (DU) und schließlich 44 Kollokationen – besonders feste (nach FW „typische“) Wortverbindungen wie Frieden schließen (DS, S. 25, T/B; DU; FW, S. 181) oder bei offenem Fenster schlafen (DS, S. 311, T/B; DU; FW, S. 246) sowie andere, z.B. jmd. ist unter einer Telefonnummer zu erreichen (DS, S. 324, T/B; DU; FW, S. 591). Einige Kollokationen gehören der Untergruppe der FVG an, z.B. etw. unter Kontrolle 9 Vgl. „Das S[prichwort] ist eine ‚feste‘ Wendung (invariable Konstruktion) mit lehrhafter Tendenz, die sich auf das prakt. Leben bezieht und i. d. R. einen Einzelfall verallgemeinert als ‚Lebensweisheit‘ empfiehlt.“ (MLS, S. 685). 10 Vgl. für „9. in Verbindung mit zwei gleichen Substantiven zur Angabe der Aufeinanderfolge ohne eine Auslassung“: Tag für Tag ,jeden Tag‘ (DU; FW, S. 809); Jahr für/um Jahr ,jedes Jahr, alljährlich‘ (DU; FW, S. 412); Wort für Wort (DU; FW, S. 967). 245 bringen / halten (DS, S. 324, T/B; DU; FW, S. 453). Zweitens werden als „feste Wendungen“ 22 adverbiale Phraseme markiert: 11 Idiome, z.B. über Nacht (DS, S. 324, T/B) ,ganz schnell, ganz unerwartet, plötzlich‘ (WP/N47), 3 Teilidiome, z.B. „Wider besseres Wissen hat sie ihm noch einmal verziehen.“ (DS, S. 308, T/B) ,obwohl man weiß, dass es falsch ist‘ (DU), und 8 Kollokationen, z.B. aus gegebenem Anlass (DS, S. 310, T/B; DU; vgl. WK, S. 28). Neben den Modellbildungen kommen im untersuchten Material – als eine andere spezielle Klasse – vier Zwillingsformeln vor (drei idiomatische und eine schwach idiomatische), z.B. „Sein Besitz wurde samt und sonders versteigert.“ (,vollständig‘, DS, S. 314,T/B; vgl. DU) oder Tag und Nacht (DS, S. 25, T/B; S. 26, Ü) ,ständig‘ (DU; FW, S. 809; vgl. Fleischer, 1982, S. 65). Drei der als „feste Wendungen“ markierten Ausdrücke werden auch unter den „festen Verbindungen“ mit Verben angeführt und als FVG bezeichnet. Aufgrund der oben besprochenen Fachliteratur kann aber nur Widerstand leisten (gegen jmdn. / etw. / dagegen, dass) (DS, S. 25, T/B; S. 337 u. 344, Listen; FW, S. 949; DG, S. 426) ,sich widersetzen, auflehnen; jmdm./einer Sache widerstehen‘ (vgl. DU; Helbig und Buscha, 2001, S. 78) als FVG bezeichnet werden. Für Atem holen (DS, S. 25, T/B; S. 337, Liste; DU; FW, S. 46) ,atmen‘ (DS, S. 336, T/B; S. 341, Ü) kann der Oberbegriff S-V-Kollokation verwendet werden, und in Kraft treten (DS, S. 347, Liste; S. 322, T/B; FW, S. 462) stellt infolge der Bedeutungsverschiebung ein Idiom dar (vgl. ,wirksam, gültig werden‘, DU; DS, S. 349, Ü).11 Zu den Kollokationen (und FVG) jmd. ist in Gefahr (DS, S. 322, T/B; FW, S. 304; DU) und jmd./etw. ist außer Gefahr (DS, S. 310, T/B) ,jmd./etw. ist (nicht mehr) gefährdet‘ (vgl. DU) wird in einer der Listen im Kapitel „Funktionsverbgefüge“ das inchoative Glied der aktionalen Reihe, in Gefahr geraten (DS, S. 347, Liste; FW, S. 304, DU) ,gefährdet werden‘ (DS, S. 350, Ü) angeführt. Eine solche aktionale Reihe bilden auch das als „feste Wendung“ markierte Idiom etw. steht außer Frage (DS, S. 310, T/B) ,etw. ist ganz gewiss, unbezweifelbar‘ (vgl. DU) und die (als „FVG“ eigentlich falsch eingeordneten) Idiome etw. in Frage / infrage stellen (DS, S. 347, Liste; S. 249, Ü/Lösung; S. 252 u. 258, T) ,etw. gefährden, ungewiss, unsicher machen; etw. anzweifeln‘ (vgl. DU) und in Frage stehen (DS, S. 347, Liste), vgl. etw. steht in Frage (selten) ,etw. ist gefährdet, unsicher‘ (WP/F889). Wie bereits erwähnt wurde, dient die Bezeichnung „feste Wendung“ meistens (78-mal) zugleich als Einleitung von Beispielen in den theoretischen Erläuterungen. 17 Phraseme (verschiedener Idiomatizitätsgrade) kommen daneben auch in den Übungen vor. In zwei Fällen wird in den Übungen noch eine andere Kollokation mit derselben Bedeutung verwendet (man könnte von Varianten desselben Phrasems sprechen), z.B. „in [...] 4. in festen Wendungen: [...] jmd. fällt in Ohnmacht“ (DS, S. 322, T/B) und „Vor Schreck fiel er in Ohnmacht.“ (DS, S. 325, T/B), aber „Bevor der Professor in Ohnmacht sank, flüsterte er: [...]“ (DS, S. 355, 11 Kunkel spricht von „Phraseolexemen, die den FVG ähneln“ (vgl. Kunkel, 1991, S. 78, 89, 94, 95, 100, 103). 246 Ü).12 Das adverbiale Idiom vor allem (DS, S. 325, T/B; S. 202, Ü u. a.; DU) kommt in den theoretischen Passagen auch in der abgekürzten Form vor, z.B. „Diese Formen werden v. a. in literarischen Texten gebraucht.“ (DS, S. 238, T). 4.5. „Feste Verbindungen“ und „Funktionsverbgefüge“ Das Kapitel § 62 (DS, S. 336‒351) ist den verbalen festen Verbindungen gewidmet, v. a. den FVG, aber nicht nur diesen, wie es der Titel „Funktionsverbgefüge (Verben in festen Verbindungen)“ andeuten könnte. Das IV. Unterkapitel ist nämlich den oben behandelten Redensarten gewidmet, so dass der Nachtrag in Klammern (und die synonyme Bezeichnung „feste Ausdrücke“ in einer Übungsanweisung, S. 345) eigentlich der Oberbegriff für die in diesem Kapitel behandelten sprachlichen Einheiten ist – umso mehr, als die FVG sehr weit gefasst werden und den S-V-Kollokationen (nach Burger), einige auch den verbalen (Teil-) Idiomen entsprechen (vgl. die Beispiele Sie trifft eine Entscheidung. Er legt Beschwerde ein. Er bringt das Problem zur Sprache. Wir legen Wert auf eure Mitarbeit, DS, S. 342, 369). Mit der Heterogenität der behandelten Wortverbindungen hängt wahrscheinlich zusammen, dass ihre nominalen Bestandteile vereinfachend als Objekte bezeichnet werden13 – so in den Überschriften der Unterkapitel I bis III (vgl. DS, S. 8, 336, 342, 346), aber auch in der Liste der grammatischen Begriffe im Anhang (vgl. DS, S. 369). Im Kap. 62 wird aber in Übereinstimmung mit den oben zitierten Grammatiken des Deutschen erläutert, dass die Funktionsverben „in einer festen Verbindung mit einem Nomen (mit und ohne Präposition) sowohl eine grammatische Einheit als auch eine Bedeutungseinheit“ bilden. Es wird betont, dass „das Nomen in der festen Verbindung der Hauptbedeutungsträger ist“, während die Bedeutung des FV sich auch sehr weit von der des ursprünglichen Verbs entfernen kann (das wird ausdrücklich bei der Gruppe III, den FVG wie zum Abschluss kommen, wiederholt, vgl. DS, S. 336, 346; DG, S. 424-425; Helbig und Buscha, 2001, S. 68–69). Die Bezeichnung „feste Verbindungen“ wird also in der DS-Grammatik nur im Zusammenhang mit verbalen Phrasemen verwendet (DS, S. 85, 336–351). Von den 287 so markierten Verbindungen sind 263 Ausdrücke Kollokationen, von diesen können (mindestens) 93 als FVG14 bestimmt werden, z.B. etw. zum Ausdruck bringen (DS, S. 347, Liste, S. 44, Ü; S. 292, T und andere; FW, S. 58), Verwendung finden (DS, S. 337, Liste; WK, S. 503; DU), jmdm. den / einen Befehl geben (DS, S. 337, Liste; WK, S. 72; DU); Kritik üben an jmdm./ einer Sache / daran, dass / wie (DS, S. 343, Liste, S. 345, Ü und andere; FW, S. 471; DU). Nach FW sind 107 der Kollokationen „typische Wortverbindungen“, z.B. (in jmdm.) Erinnerungen wecken 12 Vgl. in Ohnmacht fallen, sinken ,ohnmächtig werden‘ (DU); in Ohnmacht sinken (formell, FW, S. 744). 13 Vgl. „Die Übergänge zwischen Funktionsverbgefügen einerseits und Verbindungen von entsprechenden Vollverbvarianten mit gewöhnlichen Präpositional- bzw. Akkusativergänzungen sind fließend“ (DG, S. 424). 14 Entsprechend der Definition von Burger (2010) bzw. Wotjak und Heine (2005, s. o.). Mit „mindestens“ werden die fließenden Grenzen dieser Untergruppe berücksichtigt. 247 (DS, S. 338, Liste; FW, S. 212; DU), darunter kommen (mindestens) 42 FVG vor, z.B. etw. in Empfang nehmen (DS, S. 347, Liste; FW 195). Zu den anderen (156) Kollokationen gehören z.B. einen Beruf aufgeben (DS, S. 338, Liste; S. 340, Ü; FW, S. 101; DU), das Rauchen einstellen (DS, S. 339, Liste; WK, S. 354)15 oder – mit einer Tripelstruktur – eine böse Tat verüben (DS, S. 33, Liste), vgl. eine Tat verüben (FW, S. 812)16 und böse Tat (FW, S. 812; DU), (mindestens) 51 dieser Kollokationen sind FVG, z.B. jmdn. zum Lachen / Weinen bringen (DS, S. 347, Liste; DU). Die meisten Kollokationen werden in den drei Listen des Kapitels 62 angeführt, 6 kommen aber nur als Beispiele in den theoretischen Teilen des Kapitels vor, z.B. „Der Fotograf verhalf einem Model zum Erfolg.“ (DS, S. 346, T/B; FW, S. 208; DU). Ungefähr zwei Drittel der aufgelisteten Kollokationen werden noch an anderen Stellen verwendet, eine Hälfte kommt z.B. auch in Übungen (zum Teil anderer Kapitel) vor. Von den festen Verbindungen in den drei Listen sind jedoch 24 Idiome, z.B. etw. in Kauf nehmen (DS, S. 347, Liste; S. 350, Ü) ,etw. hinnehmen, sich mit Unannehmlichkeiten, Nachteilen im Hinblick auf andere Vorteile abfinden‘ (DU). Die meisten (16) kommen daneben in Übungen vor. Fünf sind auch in den theoretischen Passagen zu finden, meist als Beispiel für eine andere Erscheinung, z.B. Bescheid wissen über etw. / darüber, dass / wie / wann / wo (DS, S. 343, Liste; FW, S. 104) 1. ,von etw. Kenntnis haben, unterrichtet sein‘; 2. ,sich auskennen; etw. gut kennen‘ (DU) und „Er wusste von Anfang an Bescheid.“ (DS, S. 315, T/B; vgl. S. 344, Ü/Lösung). 5. Fazit Das primäre Ziel dieses Beitrags war, die in der DS-Grammatik für Phraseme verwendeten Bezeichnungen, die der fachsprachlichen Ebene eines nichtphraseologischen Lehrbuchs entsprechen, zu der vor allem in der phraseologischen Basisliteratur verwendeten phraseologischen Terminologie in Beziehung zu setzen und die metasprachlich markierten Phraseme in diesem Buch unter dem Aspekt von Zentrum und Peripherie zu beurteilen. Im Zusammenhang damit wurde auch dem Ort des Vorkommens dieser Phraseme Aufmerksamkeit geschenkt. Von den vier am häufigsten verwendeten Bezeichnungen kann man zusammenfassend sagen, dass als „Redensarten“ bis auf Ausnahmen (Teil-) Idiome bezeichnet werden, d.h. Phraseme im engeren Sinne bzw. Phraseme, die zum Zentrum des Phraseolexikons gehören. Sie kommen fast nur in den Übungen vor. Der Ausdruck „feste Wendungen“, der vor allem Beispiele in den theoretischen Erläuterungen einleitet, bezieht sich häufiger auf periphere Phraseme (nicht- bzw. schwach-idiomatische und strukturelle Phraseme, Modellbildungen, 57-mal) als auf die zentralen (Teil-) Idiome (40-mal), aber der Unterschied im Umfang beider Gruppen ist nicht so groß wie bei den als (verbale) „feste Verbindungen“ bzw. „Funktionsverbgefüge“ 15 Vgl. das Rauchen aufgeben (DU). 16 Mit dem Beispiel: Von beiden Kriegsparteien wurden schreckliche Taten verübt. (FW, S. 812). 248 bezeichneten Phrasemen. In dieser Gruppe sind 263 der 287 Wortverbindungen nicht- oder schwach-idiomatische Phraseme, Kollokationen nach Burger (2010), allerdings können bei Weitem nicht alle zugleich den (prototypischen) FVG zugeordnet werden. Die 24 in dieser Gruppe angeführten Idiome haben zwar dieselbe syntaktische Struktur wie die Kollokationen, und einige bilden auch wie die FVG aktionale Reihen, aber aufgrund anderer semantischer Eigenschaften müssen sie von beiden Phrasemtypen unterschieden werden. Ein Zweck dieser Untersuchung war auch, den in den morphosyntaktischen Seminaren miterlernten phraseologischen Wortschatz bewusst und für weitere Beschäftigung mit Phraseologie verfügbar zu machen. Die Übersicht könnte auch als Anregung für die Klassifizierung des weitaus größeren, nicht metasprachlich markierten phraseologischen Materials in dieser Übungsgrammatik und ggf. auch als Anregung für seine Untersuchung unter anderen Aspekten dienen. Abstract The aim of the paper is to find out, how much the metalingustic expressions used for phrasemes in the grammar book Lehr- und Übungsbuch der deutschen Grammatik (Dreyer und Schmitt, 2009) correspond to the terminology used in the basic literature on German phraseology and to what extent the constructions marked in this way represent the centre or the periphery of phraseology. At the same time attention is paid to their place in the book. The first of the four most frequently used expressions, Redensart (saying), marks (with some exceptions) total or partial idioms, i. e. phrasemes constituting the centre of phraseology. They are in nearly all cases used in the exercises of the grammar book. The expression feste Wendungen (fixed expressions) – used especially when introducing examples in the theoretical explanations – marks more often (57 times) peripheral phrasemes (non- or weak idiomatic and structural phrasemes as well as the so-called phraseological patterns) than the central idioms (40 times) but the difference in the size of both groups is not so great as in case of phrasemes marked by the expression feste Verbindungen (fixed word combinations) and Funktionsverbgefüge (support verb constructions, SVC). In this group, 263 out of 287 fixed noun-verb constructions are non- or weak idiomatic phrasemes, i. e. collocations in the terminology of Burger (2010), but by far not all of them can be considered to be (prototypical) SVC. 24 expressions are idioms of the same syntactic structure as SVC and in some cases they are able to differentiate the Aktionsart (manner of action) but their semantic properties differ from those of collocations or SVC. Keywords phraseme, idiom, collocation, centre and periphery 249 Literaturverzeichnis Bukovčan, Dragica (2009). Phraseologie im metasprachlichen Diskurs. In: Csaba Földes (Hg.): Phraseologie disziplinär und interdisziplinär. Tübingen: Narr, S. 69-86. Burger, Harald (2010). Phraseologie: eine Einführung am Beispiel des Deutschen. 4. Aufl. Berlin: Schmidt. Burger et al. (Hg.) (2007). Phraseologie / Phraseology. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. Berlin/New York: de Gruyter. [DU]: DUDEN (2008). Redewendungen. Wörterbuch der deutschen Idiomatik. 3. Aufl. Mannheim u. a.: Dudenverlag. [DU]: DUDEN (2006). Die Grammatik. 7. Aufl. Mannheim u. a.: Dudenverlag. [DS]: Dreyer, Hilke / Schmitt, Richard (2009). Lehr- und Übungsbuch der deutschen Grammatik. Neubearbeitung. Ismaning: Hueber. [DU]: DUDEN (2007). Deutsches Universalwörterbuch. 6. Aufl. Mannheim u. a.: Dudenverlag. (CD-ROM). Fleischer, Wolfgang (1982). Phraseologie der deutschen Gegenwartssprache. 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Er setzt sich zum Ziel, sie nach ihrer Verwendung in der Sprachgemeinschaft in Zentrum und Peripherie zu gliedern. Werden die geschlechtsspezifischen Phraseologismen in der Sprachgemeinschaft verständlich und gemäß dem allgemein üblichen Sprachgebrauch verwendet, dann werden sie dem Zentrum zugeordnet. Phraseme hingegen, die als abwertend, derb, vulgär und diskriminierend gebraucht werden, werden als peripher angesehen. Die Untersuchung wird anhand eines Korpus von zwei phraseologischen Wörterbüchern durchgeführt und mit Belegen aus dem Mannheimer Referenzkorpus (DeReKo) untermauert. Schlüsselwörter Geschlechtsspezifik, Phraseologismus, Bedeutung, Verwendung, Deutsch 1. Einleitung Das Korpus der geschlechtsspezifischen Phraseologismen wird für diese Forschungsarbeit eingehend analysiert, um in der Folge eine Einteilung vorzunehmen, inwieweit die Phraseme im Zentrum der heute verwendeten Sprachen vorkommen oder inwieweit sie grenzwertig sind, also an der Peripherie des Sprachgebrauchs liegen. Zuvor muss allerdings geklärt werden, wie Zentrum und Peripherie in dieser Untersuchung zu verstehen sind. Gewiss war den Veranstaltern, die den Titel Zentrum und Peripherie für die Germanistentagung 2016 in Opava gewählt haben, bewusst, dass die beiden Begriffe nicht unumstößlich definiert werden können, 253 sondern je nach Blickwinkel, je nach Standpunkt und je nach zeitlicher Betrachtung Unterschiede aufweisen.1 Welche sprachlichen Mittel, welche Begriffe und welche Reden aus dem Korpus der geschlechtsspezifischen Phraseologismen dem Zentrum zuzuordnen sind und welche peripher sind, hängt demzufolge davon ab, was wir als Zentrum und was als Peripherie der Sprache betrachten. Im Zentrum der Sprache stehen für diese Untersuchung die geschlechtsspezifischen Phraseologismen, deren Gebrauch in der heutigen Sprachgemeinschaft verständlich, gebräuchlich und in keiner Weise abwertend, derb, vulgär und diskriminierend ist. An der Peripherie sind entsprechend diejenigen festen Verbindungen angesiedelt, die der sprachlichen political correctness der heutigen Zeit nicht entsprechen. Dass auch in dieser Hinsicht alles in Bewegung ist, kann man an zahlreichen Beispielen belegen. Waren Begriffe wie Krüppel und Neger vor 50 Jahren noch unumstritten und gehörten dem Zentrum der Sprachverwendung an, so gelten sie heute als nicht nur randständig und peripher, sondern sogar als außerhalb des Rahmens des korrekten Sprechens liegend. Auch die feministische Sprachforschung hat eine Reihe von traditionell verwendeten sprachlichen Mitteln in Frage gestellt und sie aus dem Zentrum des akzeptierten Sprachgebrauchs hin zur Peripherie verdrängt und neue Formulierungen ins Zentrum der Sprache gerückt. Ziel des Aufsatzes ist, das Korpus eingehend zu untersuchen und zu einer Einteilung zu kommen, wie viele der geschlechtsspezifischen Phraseologismen im Zentrum des Sprachgebrauchs stehen und aus welchen thematischen Bereichen sie kommen. Auf der anderen Seite geht es darum, die Gruppe von Phraseologismen zu umreißen, deren Gebrauch weniger statthaft ist, die somit am Rande des Sprechens und Schreibens stehen oder die man völlig vermeiden sollte. Diese Untersuchung leistet nicht nur einen Beitrag im Rahmen der Linguistik, sondern sie hat auch einen Nutzen für den DaF-Unterricht in der Hinsicht, als Deutschlerner, die bei dem Gebrauch von geschlechtsspezifischen Phraseologismen unsicher sind, einen Einblick bekommen, welche festen Wendungen sie verwenden können und welche sie meiden sollten. Die Lerner können darüber hinaus die 1 Das Reich der Mitte, also China in seinem Selbstverständnis als Zentrum der Erde, liegt in unseren, europäischen Atlanten ganz am Rande und verschwindet beinahe hinten rechts an der äußeren Kante der Landkarte. Europa hingegen sehen wir in voller Pracht im Zentrum. Lange Zeit hielten die Menschen, wie die Kirchenleute es ihnen erzählten, am geozentrischen Weltbild fest, demzufolge die Erde das Zentrum des Weltalls bildet. Bis in die frühe Neuzeit, bis Kopernikus, Bruno, Kepler und Galilei diese Sichtweise ins Wanken brachten und dem heliozentrischen Weltbild zum Durchbruch verhalfen; nach deren Sichtweise und vor allem aufgrund ihrer wissenschaftlichen Forschung ist die Erde nicht mehr der Mittelpunkt des Alls. Und wenn man, um wieder in die heutige Zeit und in unsere Region zurückzukehren, nach der Mitte Europas fragt, so würden Deutsche gewiss Deutschland/Frankreich als Zentrum Europas nennen und den neuen EU-Mitgliedern vom Baltikum über Polen, Tschechien bis zum Balkan den Platz an der Peripherie Europas zuweisen. Polen und Tschechen hingegen sehen ihre Länder in Mitteleuropa, in der Zentrallage. Zentrum und Peripherie sind, wie in diesem kleinen Exkurs gezeigt wurde, relative Begriffe, abhängig vom Blickwinkel und von der Zeit, von der Betrachtungsweise und den Interessen. 254 kommunikativen Situationen einschätzen, wenn sie die konkreten Phraseologismen hören oder im Text lesen. Schreiten wir nun zur Betrachtung der Phraseologismen aus dieser Sicht, nämlich mit Blick auf Zentrum und Peripherie, des hier zugrunde gelegten Korpus. 2. Abgrenzung der Terminologie Zunächst wird anhand der Sekundärliteratur für den vorliegenden Beitrag der Phraseologismus als eine Einheit definiert, die polylexikal ist, d.h. aus mindestens zwei Wörtern besteht, und weitere Merkmale besitzen kann, z.B. Idiomatizität, d.h. die Gesamtbedeutung der ganzen Einheit ergibt sich nicht aus den Bedeutungen der einzelnen Komponenten, Stabilität, d.h. die Komponenten der phraseologischen Einheit sind nicht oder nur schwer ersetzbar, Lexikalisierung, d.h. die phraseologischen Einheiten werden ähnlich wie ein Lexem im Lexikon gespeichert, und Reproduzierbarkeit, d.h. die Phraseologismen werden nicht wieder von neuem zusammengestellt, sondern als eine Einheit reproduziert. Synonym zu dem Terminus Phraseologismus werden hier auch Phrasem und feste Wortverbindung verwendet. Unter geschlechtsspezifischen Phraseologismen sind phraseologische Einheiten zu verstehen, die „zum einen […] geschlechtsspezifische Aspekte im Komponentenbestand […], zum anderen […] geschlechtsspezifische Aspekte bei der Verwendung“ (Sternkopf, 1995, S. 413) aufweisen. Im Weiteren beschreibt Sternkopf (1995, S. 413-417) die Eigennamen, Verwandtschaftsbezeichnungen und die Lexeme Mann vs. Frau2 als phraseologische Konstituenten und formuliert die geschlechtsspezifischen Aspekte bei der Verwendung fester Wendungen. Mit der Typologie der geschlechtsspezifischen Phraseologismen sowie mit einer Klassifizierung der geschlechtsspezifischen Markierung von Idiomen befasste sich bereits Piirainen (2001, S. 283-307; 2002, S. 373-377). In ihrem Beitrag (Piirainen, 2001, S. 283-307) unterscheidet sie zwei Hauptgruppen der geschlechtsspezifischen Phraseologismen, und zwar „1. die Restriktion ist bedingt durch die aktuelle Bedeutung des Phraseologismus [und] 2. die Restriktion ist bedingt durch die Bildlichkeit des Phraseologismus“ (Piirainen, 2001, S. 287). In dem vorliegenden Beitrag werden solche Phraseologismen untersucht, und zwar im Hinblick auf ihre Bedeutung sowie auf die Aspekte ihrer Verwendung in dem Mannheimer Referenzkorpus (DeReKo). Zu diesem Zweck wurde ein Korpus von 555 phraseologischen Einheiten aus dem Wörterbuch Deutsche Idiomatik von 2 Bei unseren Recherchen in den phraseologischen Wörterbüchern haben sich weitere Lexeme ergeben, die zu diesem Konzept passen, d.h. Herr/ Junge/ Kerl/ Knabe/ Bursche/ Männchen mit der Variante Männlein und Dame/ Lady/ Weib/ Mädchen/ Fräulein/ Weibchen mit der Variante Weiblein. 255 Hans Schemann (1993) und 149 phraseologischen Einheiten aus dem Wörterbuch DUDEN 11 – Redewendungen (2002) zusammengestellt. Die Materialgrundlage basiert auf insgesamt 704 phraseologischen Einheiten aus diesen Wörterbüchern, von denen ein kleinerer Teil der Analyse zu Grunde lag. Die geschlechtsspezifischen Phraseologismen befassen sich oft mit der Sexualität. Deppert (2001, S. 128) stellte für die einfachen Lexeme fest: „Über Sexualität läßt sich auf verschiedenen ‚Stil-‘ oder ‚Sprachebenen‘ reden.“ Damit sind die Sprachschichten Umgangssprache, Standardsprache und Fachsprache gemeint. Was Deppert für die einfachen Lexeme feststellt, gilt allerdings für die festen Wendungen meistens nicht. Sieht man sich den Bereich der Phraseologismen an, stellt man fest, dass „Phraseologismen, die in irgendeiner Weise auf Sexuelles referieren, […] in den meisten Fällen stilistisch als ‚vulgär‘ oder ‚derb‘ eingestuft [werden].“ (Piirainen, 2001, S. 286) Für unsere Untersuchung und Fragestellung ordnen wir diese der Peripherie zu, also dem Bereich der Phraseologismen, die zu verwenden nicht angemessen ist. 3. Geschlechtsspezifische Phraseologismen im Zentrum 3.1. Weibliche und männliche Eigennamen In Anlehnung an Sternkopf (1995) befassen wir uns zuerst mit den weiblichen und männlichen Eigennamen. Aus dieser Gruppe wurden genauso viele weibliche wie auch männliche Eigennamen als phraseologische Komponenten in dem Korpus gefunden, wobei bei den weiblichen Eigennamen Lieschen, z.B. Lieschen Müller, ein fleißiges Lieschen sein und Eva, z.B. die Töchter Evas, im Evaskostüm mehrmals vertreten sind. Es wurden auch Dubletten festgestellt, d.h. Varianten, die in doppelten Formen für jedes Geschlecht getrennt vorkommen, und zwar im Evaskostüm und im Adamskostüm. Man kann konstatieren, dass die Phraseologismen mit den weiblichen Vornamen frauenbezogen, die Phraseologismen mit den männlichen Vornamen männerbezogen verwendet werden. Zu diesem wenig überraschenden Ergebnis gehören jedoch zwei Ausnahmen, und zwar Otto Normalverbraucher, dessen Bedeutung für ‚der statistische Durchschnittsmensch, der Durchschnittskonsument‘ (Duden 11, 2002, S. 562) steht und somit Männer wie Frauen betrifft. Die zweite Ausnahme ist ein Zappelphilipp (sein), womit allgemein ‚unruhige Kinder‘ charakterisiert werden dürfen, also auch ‚ein unruhiges Mädchen‘. Das Mannheimer Referenzkorpus DeReKo liefert insgesamt 4.668 Treffer für die feste Wendung Otto Normalverbraucher. Daran sieht man, dass der Phraseo256 logismus häufig verwendet wird und sich einer großen Beliebtheit erfreut. Dies zeugt auch davon, dass er unumstritten zum Zentrum des Sprachgebrauchs gehört. Sammler im Pensionsalter bilden die Mehrheit im kleinen Bodansaal. Und wer sein Leben lang Briefmarken oder Ansichtskarten in Alben eingereiht hat, trifft mit der Zeit eine Auswahl. Den «Allgemein-Sammler» scheint es kaum mehr zu geben, die Pensionierten haben sich zu Spezialisten entwickelt. Die Briefmarke, die Otto Normalverbraucher täglich achtlos auf den Geschäftsbrief klebt, interessiert kaum jemanden. Genausowenig wie die Ansichtskarte, welche die Tante aus den Badeferien auf Mallorca nach Hause schickt. Was hier interessiert, sind Raritäten und Exklusivitäten. Je älter und seltener, desto besser. (A98/APR.21804 St. Galler Tagblatt, [Tageszeitung], 06.04.1998, Jg. 54. Originalressort: TB-ROM (Abk.); Sammler und Jäger, [Bericht]) In einem zweiten Beispiel will man den Mann von der Frau unterscheiden, deshalb wählt man neben dem Phraseologismus Otto Normalverbraucher im Sinne von ‚Durchschnittsmann‘ die feste Wortverbindung Gabi Musterfrau im Sinne von ‚Durchschnittsfrau‘. Bei Knup in Kesswil ist bis Anfang November Erdbeer-Saison. «Wir sind der einzige Betrieb in der Schweiz, der von Mai bis November ohne Unterbruch Erdbeeren liefern kann.» Wie gelingt es dem Verpackungskünstler, dass die Beerensaison bis in den November hinein währt? «Das ist etwas, was die Leute kaum wissen: Pflanzen kann man gefrieren und wieder zum Leben erwecken.» Für viele Setzlinge beginnt nach einem langen Kühlhaus-Winter das Frühjahr erst im Juli. Die mitten im Hochsommer ausgesetzten Pflanzen tragen erst im September Früchte. Otto Normalverbraucher und Gabi Musterfrau jagt es bei dieser Vorstellung kalt den Rücken hinunter. Nur, der Experte aus der Forschungsanstalt für Obst-, Wein- und Gartenbau in Wädenswil, Reto Neuweiler, kann hier beruhigen: «Die Setzlinge stehen so eng, dass der Energieverbrauch im Kühlhaus recht weit unten gehalten wird.» Gegenüber den Kerosin-Beeren aus Südafrika und Chile weisen die Knupschen Beeren ganz sicher die bessere Öko-Bilanz auf. (A99/JUN.45077 St. Galler Tagblatt, [Tageszeitung], 25.06.1999, Jg. 55. Originalressort: TB-BOD (Abk.); DELFBUCHER: Früchtchen für jede Jahreszeit, [Bericht]) In dem Referenzkorpus gibt es nur 6 Treffer für die feste Wendung Gabi Musterfrau. Man findet sie auch nicht in den phraseologischen Wörterbüchern, weshalb sie auch nicht in das Korpus aufgenommen wurde. Vermutlich trägt diese neue 257 Formulierung der feministischen Sprachkritik Rechnung und wird in Zukunft vielleicht einmal gleichrangig neben Otto Normalverbraucher zu finden sein. 3.2. Verwandtschaftsbezeichnungen In dem Korpus wurden insgesamt 62 Phraseologismen mit Verwandtschaftsbezeichnungen gefunden, namentlich Mutter, Vater, Bruder, Schwester, Sohn, Tochter, Onkel und Tante. Auch hier findet man Dubletten wie z.B. von Vaters Seite kommen / stammen / etw. haben und von Mutters Seite kommen / stammen / etw. haben. Der Phraseologismus eine (richtige/ …) Quasseltante sein im Sinne von ‚zu viel sprechen, erzählen, Unwichtiges reden‘ lässt sich auch für eine männliche Person verwenden, wie das nächste Beispiel zeigt. Gut zwei Stunden mussten die Narren in der Ollmerschhalle ausharren, bis seine Tollität Heinz Duchscherer und ihre Lieblichkeit Petra Duchscherer, die auch im richtigen Leben als Ehepaar einen gemeinsamen Weg beschreiten, dem Volk ihre geneigte Huld schenkten. Bei der im wahren Wortsinn feurigen Prinzenproklamation steigerte Frank Göbel die Spannung ins schier Unermessliche, unterstützt von den singenden “Wambachlerchen” und ästhetisch tanzend umrahmt vom HCV-Junioren- und Seniorenballett. Selbst die geniale “Quasseltante” Wolfgang Gröschen wusste im Interview mit Delf Mehlert zwar viel Amüsantes aus dem Dorfleben zu berichten, doch die neue Regentschaft war auch ihr ein Rätsel. (RHZ04/NOV.14264 Rhein-Zeitung, 15.11.2004; Mit Heinz und Petra ins Jubiläum) Das Mannheimer Korpus liefert für den Phraseologismus grüne Witwe 55 Treffer, wobei die meisten sich auf ein Getränk, einen Cocktail des gleichen Namens beziehen. Seit ein paar Jahren wohnt die Familie Ruzowitzky in Klosterneuburg. Fast ein Betriebsunfall. “Meine Frau wollte auf keinen Fall ein Grundstück im Grünen, um nicht als grüne Witwe zu enden, die immer wochenlang auf ihren Mann wartet, sondern unbedingt ein altes Haus in Wien. Es ist alles ganz anders gekommen, aber meine Frau ist inzwischen eine begeisterte Klosterneuburgerin geworden.” (NON08/JUN.00275 Niederösterreichische Nachrichten, 02.06.2008, NÖN Großformat S. 59; Reich wird man mit dem Oscar nicht) Es wurde aber auch ein Beispiel gefunden, das darauf hinweist, dass man den Phraseologismus auch für Männer verwenden kann. 258 Aber auf einer Leinwand macht er sich ganz gut, und mit Emily Blunt als Violet gibt er ein gutes Paar ab – ein niedlicher Typ und eine Frau, die immer ein wenig so rüberkommt, als wäre sie seine Erziehungsberechtigte. Nun sind die beiden in Michigan aufeinander gestellt und driften prompt auseinander – Violet gefällt der Job, und ihr gefällt ihr Professor (Rhys Ifans). Klar, dass sie den Vertrag nach Ablauf des ersten Jahres verlängert. Tom, plüschgewordener Traum aller Frauen, macht alles mit und gibt sich viel Mühe, sich an die neuen Bedingungen zu gewöhnen: Schnee, Kleinstadt, Job in einer Sandwichbude. Natürlich dreht er bald am Rad, er endet als grüne Witwe und entwickelt eine komische Depression, bei der das Hasenkostüm eine zentrale Rolle einnimmt. (U12/JUL.01692 Süddeutsche Zeitung, 12.07.2012, S. 12. - Sachgebiet: Film, Originalressort: Filmseite; SUSAN VAHABZADEH: Die Leiden einer grünen Witwe, [Rezension:Filmrezension]) Mit dem Phraseologismus ein kesser Vater (sein) in der Bedeutung ‚maskulin wirkende homosexuelle Frau‘ (Duden 11 2002: 805) nähern wir uns schon der Peripherie an, denn die selten gebrauchte feste Wendung wird salopp, oft abwertend verwendet. Das DeReKo liefert nur 19 Treffer zu diesem Phrasem. Feminine Lesben hingegen werden aufgrund ihres Äußeren oft für heterosexuelle Frauen gehalten. Das führt wiederum dazu, dass der maskuline Stil als lesbischer Stil schlechthin gilt, was nicht den Tatsachen entspricht, denn es gibt und gab schon immer eine Vielzahl lesbischer Erscheinungsformen. Individualität wird auch in lesbischen Social Communitys großgeschrieben. Wenn ich mir zum Beispiel ein Profil bei Lesarion oder in der L-Community (Social Community der L-MAG) anlege, kann ich zwischen Butch, Femme, Tomboy (Wildfang), Girlie, KV (Kesser Vater), Lipstick Lesbe oder Kampflesbe wählen. Und nochmal mindestens genauso viele Adjektive ankreuzen: klassisch, stylisch, modisch / im Trend, sportlich, lässig, alternativ, feminin, maskulin, androgyn. (U10/SEP.00920 Süddeutsche Zeitung, 06.09.2010, S. 33. Originalressort: JETZT.DE; Mode gegen den Mainstream) 3.3. Märchenfiguren Aus der Märchenwelt kommen in den geschlechtsspezifischen Phraseologismen vor allem die Komponenten Aschenbrödel, Hexe, Erbsenprinzessin, Teufel und Ritter vor. Es sind Wendungen wie (das) Aschenbrödel sein, das Aschenbrödel spielen, ein Aschenbrödeldasein führen / (haben), eine Erbsenprinzessin sein, böse wie eine Hexe sein, eine richtige / (ausgemachte) Hexe sein, eine kleine Hexe (sein), ein irrender Ritter, sich zu jemandes Ritter aufwerfen, ein Ritter von der Feder, ein Ritter ohne 259 Furcht und Tadel (sein), Ritter von der Nadel, ein Ritter des Pedals und jemanden zum Ritter schlagen. Wie wir es aus den Märchen kennen, weisen Wendungen mit positiven Figuren durchgehend eine positive Konnotation auf und gehören somit dem Zentrum an. Negative Figuren in den Phraseologismen, wie zum Beispiel eine ausgemachte Hexe sein im Sinne von eine ‚gewiefte Frau‘ sein, tendieren dementsprechend eher dem Randbereich zu. Das DeReKo liefert zu dem Phraseologismus nur einen einzigen Beleg. Dass Yoko Ono, geboren am 18. Februar 1933 in Tokio, ihre neue CD “Yes, I’m A Witch nennt”[sic!], spricht für ihren Humor - und Nehmerqualitäten. Schließlich halten viele Rock-Fans die Fluxus-Künstlerin für eine ausgemachte Hexe, die sich 1966 John Lennon geangelt hat, um dann zunächst seine erste Ehe und später die Beatles zu zerstören. Die Popgeschichte sieht das inzwischen differenzierter, spätestens seit der “Onobox” (1992) gibt es sogar lobende Worte für die Musikerin Yoko Ono. Sie lebt noch heute im New Yorker Dakota Building, vor dem Lennon 1980 ermordet wurde. (M07/FEB.03829 Mannheimer Morgen, [Tageszeitung], 16.02.2007, Jg. 62, Stadtausgabe. - Sachgebiet: Kultur, Originalressort: Kultur; Yoko Ono, [Feuilleton]) 3.4. Tierwelt Die Tierwelt bescherte den Phraseologismen als Komponenten die Lexeme Biene, Elster, Rabe, Gans, Ente, Entlein, Kröte, Kuh, Küken, Huhn, Löwin, Maus, Schmetterling, Reh, Vogel, Katze, Kater, Hecht und Bär. Phraseologismen mit der Komponente Kater sind männerbezogen, z.B. verliebt wie ein Kater (sein), wie ein verliebter Kater, Phraseologismen mit der Komponente Katze sind frauenbezogen, z.B. eine fesche Katze (sein), schmeicheln wie eine Katze. Phraseologismen mit den Komponenten Gans, Ente, Kröte und Kuh sind eindeutig frauenbezogen und pejorativ, z.B. eine dumme / blöde / alberne Gans (sein), schnattern wie eine Gans / (die Gänse), daherwatscheln / watscheln wie eine Gans, (daher-)watscheln wie eine Ente, eine freche Kröte sein, eine giftige Kröte sein, eine kleine Kröte (sein), dumme / blöde Kuh. Mit den letztgenannten Beispielen bewegt man sich schon in Richtung der Peripherie, wie sie für diesen Beitrag definiert wurde. Das Korpus DeReKo liefert 521 Treffer zu dem Phraseologismus blöde Kuh. Ein geworfener Döner ist nicht als Beleidigung zu werten. Das entschied das Münchener Amtsgericht und wies damit die Klage einer ImbissMitarbeiterin ab. Die Frau hatte auf 250 Euro Schmerzensgeld geklagt. 260 Einem Gast hatte sein Döner nicht geschmeckt. Nachdem er erfolglos sein Geld zurückverlangt hatte, hatte er das gefüllte Fladenbrot in ihre Richtung geworfen. Getroffen hatte er sie nicht. Außerdem habe er sie als „blöde Kuh“ beschimpft. Diese verbale Beleidigung konnte die Frau allerdings nicht beweisen, und der Dönerwurf allein reichte dem Gericht als Grund für Schmerzensgeld nicht aus. Er stelle keine schwerwiegende Verletzung der menschlichen Würde und Ehre dar, erklärte das Gericht. (HAZ08/APR.01232 Hannoversche Allgemeine, 08.04.2008, S. 10; Döner werfen ist keine Beleidigung) 3.5. Reproduktion, Sex und Ehe Die männerbezogenen Phraseologismen können im Referenzbereich Reproduktion positiv sein (Vaterfreuden entgegensehen), im Kommunikationsbereich usuell angemessen sein (hinter jedem Rock her sein / herlaufen, unter den Pantoffel kommen, unter dem Pantoffel stehen, Frühlingsgefühle bekommen / haben, seinen zweiten Frühling erleben, das starke Geschlecht, aussehen / …, als wäre einem seine Frau weggelaufen). Die frauenbezogenen Phraseologismen übertreffen die Menge der männerbezogenen um ein Vielfaches. Die positiv konnotierten Phraseologismen und somit diejenigen, die man in gängigen Kommunikationssituationen verwenden kann, betreffen vor allen den Referenzbereich Schwangerschaft, Geburt und das Kindbett. Es gibt eine große Menge an solchen phraseologischen Einheiten: hochschwanger sein, guter Hoffnung sein, ein Kind unter dem Herzen tragen / (haben), ein Kind bekommen / kriegen, ein Kind erwarten, mit einem Kind gehen, mit einem Kind schwanger gehen, ein Kind im Leib haben, das Kind im Mutterleib, bei einer Frau / einem Mädchen ist ein Kind unterwegs, in andere Umstände kommen, in anderen / gesegneten Umständen sein, ins Kindbett kommen, im Kindbett liegen / sein, im Kindbett sterben, in Kindernöten liegen / sein, in den Wehen liegen, Mutterfreuden entgegensehen, Mutterfreuden genießen. Es kann auch verhüllend ausgedrückt werden, wie etwas Kleines erwarten, sich etwas Kleines bestellen, bei einer Frau / einem Mädchen ist etwas Kleines unterwegs. Hierher gehören auch Phraseologismen, die auf das Erscheinungsbild referieren, wie z.B. schön wie ein Bild (sein), sich (fein / …) herausputzen, jung und knusprig, jung und schön, eine fesche Katze (sein), wie Milch und Blut aussehen, wie das ewige / blühende Leben aussehen, (so) frisch wie der junge Morgen aussehen, schön wie der junge Morgen sein, rank und schlank (gewachsen) (sein), schlank wie ein Reh (sein), schön wie die Sünde sein. 261 4. Geschlechtsspezifische Phraseologismen in der Peripherie 4.1. Peripherie beim Mann „Die Umgangs- bzw. Vulgärsprache der Sexualität gilt als die erotisch vielfältigste und schöpferischste Sprachschicht, mit der Sachverhalte sehr direkt, oft grob, ordinär und respektlos bis menschenverachtend angesprochen werden, u.U. mit angeberischer und peinlicher Wirkung.“ (Deppert, 2001, S. 128) Für unsere Untersuchung werden diese Phraseologismen der Peripherie zugeordnet, also dem Bereich des kaum noch oder schon gar nicht mehr Sprech- und Schreibbaren. Bei den hier untersuchten Phraseologismen geht es vor allem um den Ausdruck der Selbstbefriedigung (sich einen runterholen, sich einen abwichsen, sich geistig einen runterholen), des stattgefundenen oder nicht stattgefundenen Geschlechtsverkehrs (einen / keinen (mehr) hochkriegen, (bei jemandem) einen wegstecken). Manchmal sind die Ausdrücke verschleiert. „Der Mehrdeutigkeit wird oft auch eine verhüllende Funktion zugeschrieben: Die Standardsprache der Sexualität wie auch anderer tabuisierter Bereiche nenne die Dinge nicht beim Namen, sie tendiere vielmehr zum Schönreden und Verschleiern.“ (Deppert, 2001, S. 129) Hier sind die Phraseologismen zu nennen sich die Gießkanne verbiegen / verbeulen oder sich das Rohr verbiegen. „Je jünger, desto besser”, sagt Matti. „Ist doch so.” Während ihrer Lehre schafften sie von 16 Uhr bis 22 Uhr an. „600 Mark Lehrgeld pro Monat verdienen sie bei mir in ein paar Tagen.” Jetzt schieben die beiden den ganzen Tag Bereitschaft. Von 11 bis 22 Uhr müssen sie erreichbar sein. Ein bis zwei Jobs pro Tag sind die Regel, drei das Maximum. Viel mehr geht nicht. „Die müssen ja noch einen hochkriegen.”Deshalb arbeite die Mafia auch nur mit Frauen, sagt er. Da lasse sich mehr verdienen. (T02/JAN.02194 die tageszeitung, 14.01.2002, Jg. 24, Ausgabe Berlin, S. 22. Originalressort: Berliner Thema; THILO KUNZEMANN: “Auf was stehst du denn?”, [Bericht]) In der Branche munkelt man, Ihre Frau habe Sie zur Beendigung Ihrer aktiven Laufbahn gedrängt. Quatsch. Man wollte sogar meinen Rücktritt dazu benützen, mich fertig zu machen. Es hiess, ich würde keinen mehr hochkriegen und dergleichen. Die Wahrheit ist: Ich stand zwanzig Jahre lang vor der Kamera, das ist mehr als genug. Als ich meiner Frau sagte, ich würde aufhören, fragte sie mich, ob ich mir das wirklich gut überlegt hätte. Sie wisse nicht, ob sie meinen Hormonhaushalt alleine verwalten könne. Ich habe herzhaft gelacht. Lachen Sie jetzt immer noch? Ich habe keine Entzugserscheinungen, wenn Sie das meinen. Ich fahre jetzt etwas rabiater Motocross und mache den 262 Helikopterschein, aber sonst nütze ich die freie Zeit, um mit meiner Familie zu sein. (WWO05/NOV.00151 Weltwoche, 17.11.2005, S. 076, Originalressort: Titelgeschichten; “In Pornos bin ich ich selbst”) 4.2. Die Peripherie bei der Frau 4.2.1. Erscheinungsbild der Frau Es gibt viel mehr frauenbezogene Phraseologismen, die derb und vulgär sind, und die in den üblichen Kommunikationssituationen nicht verwendet werden können. Um sie zu ordnen, müssen wir einige Gruppen festlegen. Die erste Gruppe enthält den Referenzbereich des Erscheinungsbildes, für den es schon (siehe oben) viele akzeptierte phraseologische Einheiten gibt. Zu den in der üblichen Kommunikation nicht akzeptierten Phraseologismen in diesem Bereich, die auf die Brust referieren, lassen sich auflisten: ganz schön / … was in / unter der Bluse haben, flach wie ein Brett sein, platt wie ein Brett sein, an einer Frau / (einem Mädchen) ist etwas / nichts dran, wie ein Bügelbrett aussehen, flach / (platt) wie ein Plättbrett sein, etwas / nichts in / unter der Bluse haben, eine pralle / (satt) gefüllte Bluse haben, ein Plättbrett mit zwei Erbsen, die weiblichen Reize, ihre Reize spielen lassen und Holz vor der Hütte haben. Brüste. Umgangssprachlich auch Titten, Hupen, Ohren oder Holz vor der Hütte genannt. Der Vorbau bringt es mit sich, das sagt schon der Name, dass er vor allem anderen gesehen wird. Die Reaktionen sind dabei sehr unterschiedlich. Männern fallen dazu vor allem drei Adjektive ein: geil, geil oder auch geil. Frauen sehen das sehr viel differenzierter: zu groß, zu klein, zu hängend. Gefürchtet ist der Bleistift-Test. Das ästhetische Empfinden geht eben manchmal seine ganz eigenen Wege. Die Stirn zu hoch, die Haare zu kraus, die Augen zu klein und die Beine zu kurz. Wir hängen an der Idealvorstellung, und die macht auch vor Brüsten nicht halt. Für viele Männer schlicht und ergreifend die zweiterogenste Zone, für Frauen oft Thema. (FOC12/FEB.00082 FOCUS, 06.02.2012, S. 98, Sachgebiet: Kultur, Originalressort: KULTUR UND LEBEN, MEDIEN; Schon seit 50 Jahren lassen sich Frauen »die Brüste machen«. Warum bloß? Männer achten doch sowieso nicht auf Details) Weitere Phraseologismen, die das Aussehen der Frauen auf derbe Weise thematisieren, sind: (ein) hässliches Entlein, eine abgetakelte Fregatte (sein), aufgetakelt wie eine Fregatte (sein), eine kleine Kröte (sein), blondes Gift, von hinten Blondine, von vorne Ruine, hinten Lyzeum, vorne Museum, eine (richtige / …) Tonne. 263 Wir schalten rüber zu Sat.1. Dort beweist die „Quiz Night”, dass die vielen Scheinwerfer im Studio nicht unbedingt gut für den Teint sind. Als Alida Kurras die zweite Big-Brother-Staffel gewann, war sie das Küken. Heute ist sie 29 und sieht aus wie eine Fregatte, die nur mit Ach und Krach die eine oder andere Seenot überstanden hat. Was ihr in ihrem Job aber zugute kommt: Alida ist eine Anruf-Animierdame, ihre leicht rauchig-kratzige Stimme erinnert an die Gurkenhobelverkäufer aus westdeutschen Fußgängerzonen, und bestimmt drücken ihretwegen ganz viele Menschen 49 Cent in den Call-in-Opferstock ab. Das Spiel bei Frau Kurras geht so: Die Anrufer müssen unter Geldscheinen versteckte Wörter mit fünf Buchstaben erraten, die mit St beginnen, also zum Beispiel Stern oder Stirn. Die Preise liegen zwischen 100 und 500 Euro, und weil Alida heute nicht bei 9Live, sondern bei Sat.1 zugange ist, darf sie weniger prollig sein. (T06/JUL.04919 die tageszeitung, [Tageszeitung], 28.07.2006, Nr. 8033, Jg. 27, S. 13. Originalressort: tazzwei; MARTIN WEBER: Sechs Stunden ohne Sinn, [Bericht]) Das DeReKo liefert zu dem Phraseologismus blondes Gift 299 Treffer, wobei anzumerken ist, dass die meisten Belege sich auf die Talkshow-Sendung Blondes Gift im WDR, später auf ProSieben, mit Barbara Schöneberger beziehen. Brühne pflegte jedoch ein Leben, das so gar nicht den Konventionen der frühen sechziger Jahre entsprach. Im Auge der damaligen Öffentlichkeit war sie verrucht, ein blondes Gift, schlank, hochgewachsen, von stolzem Auftreten, raffiniert und berechnend. Einen Hauch von dieser Verruchtheit wollten die Menschen wohl spüren, als sie massenhaft den Gerichtssaal im Münchener Justizpalast stürmten. Die Schaulustigen, so heißt es in Berichten, standen bereits um Mitternacht Schlange und legten sogar den Verkehr in der Münchener Innenstadt lahm. (HAZ08/MAR.02790 Hannoversche Allgemeine, 14.03.2008, S. 9; Vera Brühnes zweite Chance) Das DeReKo liefert zum Phraseologismus vorne Museum, hinten Lyzeum insgesamt 15 Treffer. Dieses geringe Vorkommen zeigt an, dass dieser Phraseologismus nur vereinzelt Verwendung findet, weil er nicht zum Zentrum der üblichen Sprache gehört. “Viele Frauen jenseits der 60 lieben die Dauerwelle und machen sich damit älter als sie sind”, klagt Friseurin Martina Acht aus Offenbach. Genauso fehl am Platz ist es jedoch, wenn die Frisuren der “Best-Ager” dank des Jugendwahns ins Gegenteil umschlagen. “Vorne Museum, hinten Lyzeum” ist ein gängiger Spruch von Friseuren für Frauen mit 264 allzu jugendlichen Frisuren. “Langes wallendes Haar sieht bei vielen älteren Frauen einfach nicht schön aus, vor allem wenn sie es offen tragen”, sagt der Friseur Kai-Uwe Dalichow aus Berlin. Wenn allerdings lang, dann bräuchte es auch Spray. Die Kunst sei es, das Haar dabei nicht einzubetonieren. “Sehr elegant sieht es bei älteren Damen allerdings auch aus, wenn das lange Haar hoch gesteckt wird, dann aber jeden Tag neu”, sagt Dalichow. (M06/JAN.07293 Mannheimer Morgen, [Tageszeitung], 28.01.2006, Jg. 61. Originalressort: Modernes Leben; Von dpa-Mitarbeiterin Britta Schmeis: Weg mit der Dauerwelle - Frisuren jenseits der 60) 4.2.2. Prostitution Eine eigene Gruppe bilden die Phraseologismen aus dem Bereich der Prostitution. Die beschreibende Wendung der Prostitution nachgehen ist neutral und kann bedenkenlos dem üblichen Sprachgebrauch zugeordnet werden, genauso wie die verschleierte feste Wendung das älteste Gewerbe der Welt. Eine Reihe anderer Phraseologismen hingegen wie eine (Frau / Puppe) laufen lassen / zu laufen haben, ein Pferdchen laufen haben / lassen, auf die Straße gehen, ein Mädchen / eine von der Straße lassen die Frauen als reine Objekte erscheinen oder enthalten eine moralische Abwertung der Frauen, was beides nicht der sprachlichen political correctness entspricht. 5. Fazit Der vorliegende Beitrag setzte sich zum Ziel, die geschlechtsspezifischen Phraseologismen hinsichtlich ihrer Verwendung in der Sprachgemeinschaft nach den Kriterien Zentrum und Peripherie einzuteilen. Es wurde festgestellt, dass die Phraseologismen der thematischen Bereiche Personennamen, Verwandtschaftsbezeichnungen und Märchenfiguren zum Zentrum gehören. In dem Referenzbereich Tierwelt, Reproduktion, Ehe und Sexualität gibt es auch viele Phraseme, die zum Zentrum gerechnet werden können. Es wurden insgesamt 603 geschlechtsspezifische Phraseologismen ermittelt, die man dem Zentrum zuordnen kann. Das sind 85,65%. Geschlechtsspezifische Phraseologismen mit sexueller Thematik und den Referenzbereichen Erscheinungsbild der Frau und Prostitution gehören in der Mehrzahl zur Peripherie. Es sind 101 Einheiten und somit 14,35%. Überraschenderweise gibt es im Referenzbereich Reproduktion bei der Frau sehr viele äußerst positiv konnotierte feste Wortverbindungen, die zum Zentrum zu rechnen sind. Die geschlechtsspezifischen Phraseologismen im Referenzbereich Sex sind weniger im Zentrum, mehr in der Peripherie vertreten. Die Phraseme aus dem Bereich Tierwelt gehören überwiegend zum Zentrum, nur eine Minderheit dieser Gruppe ist der Peripherie zuzuordnen. 265 Abstract This academic contribution deals with gender-specific phrases in German. The aim is to classificate them depending on the use into the division of centre and periphery. Into the centre are assigned those gender-specific phrases, which are used in the common language. Peripheral are on the other hand those gender-specific phrases, which are rude, vulgar and discriminating. The analysis is being performed on the basis of a corpus from two phraseological dictionaries and illustrated with examples from the Mannheimer Referenzcorpus (DeReKo). The result is, that the phrases of the thematic areas personal names, relationship links and characters from farytales belong to the centre. In the area of animals, human reproduction, marriage and sex there are a lot of phrases which can be counted to the centre. Alltogether 603 (85,65%) gender-specific phrases were identified as belonging to the centre. Gender-specific phrases belonging to the area of sexuality and visual appearance of women and prostitution belong in the majority to the periphery, alltogether 101 (14,35%). It’s surprising that in the area of human reproduction there are a lot of extremely positively connotated phrases for women, which can be counted to the centre. Gender-specific phrases in the area of sex do not belong as much into the centre, but more to the periphery. The phrases of the area of animals belong predominantly to the centre, only a small group of this type belongs to the periphery. Keywords Gender, phrase, sense, use, German Literaturverzeichnis Deppert, Alex (2001). Die Metapher als semantisches Wortbildungsmuster bei englischen und deutschen Bezeichnungen für Geschlechtsverkehr. In: Rudolf Hoberg (Hg.). Sprache – Erotik – Sexualität. Berlin: Erich Schmidt. S. 128 – 157. DUDEN 11. (2002): Redewendungen. Wörterbuch der deutschen Idiomatik. 2. Aufl. Mannheim. ISBN 3-411-04112-9. Institut für Deutsche Sprache. Deutsches Referenzkorpus (DeReKo-2015-II) / alle öffentlichen Korpora des Archivs W (mit Neuakquisitionen). COSMAS II-Server, C2API-Version 4.10 – 7. Juni 2016. Mannheim: Institut für Deutsche Sprache. (http://www.ids-mannheim.de/DeReKo) Piirainen, Elisabeth (2001). Der hat aber Haare auf den Zähnen! Geschlechtsspezifik in der deutschen Phraseologie. In: Rudolf Hoberg (Hg.). Sprache – Erotik – Sexualität. Berlin: Erich Schmidt. S. 283 – 307. Piirainen, Elisabeth (2002). Geschlechtsspezifisch markierte Idiome: Hochdeutsch und Niederdeutsch im Vergleich. In: Peter Wiesinger (Hg.). Akten des 266 X. Internationalen Germanistikkongresses Wien 2000. „Zeitenwende – die Germanistik auf dem Weg vom 20. ins 21. Jahrhundert“. Entwicklungstendenzen der deutschen Gegenwartssprache. Bd. 2. Bern: Peter Lang. S. 373 – 378. Schemann, Hans (1993). Deutsche Idiomatik. Die deutschen Redewendungen im Kontext. Stuttgart: Ernst Klett Verlag für Wissen und Bildung GmbH. Sternkopf, Jochen (1995). Gibt es geschlechtsspezifische Phraseologismen in der deutschen Sprache der Gegenwart? In: Gotthard Lerchner, Marianne Schröder und Ulla Fix (Hg.). Chronologische, areale und situative Varietäten des Deutschen in der Sprachhistoriographie. Festschrift für Rudolf Große. Bd. 2. Frankfurt am Main: Peter Lang. S. 413 – 419. 267 268 Metaphorik als peripheres oder zentrales Phänomen der Sprache? Weltmodellierung mit der konventionalisierten Spielmetaphorik im Gegenwartsdeutschen Jürgen Ehrenmüller Annotation Dieser Beitrag möchte einerseits darstellen, wie im Gegenwartsdeutschen mit der konzeptuellen Domäne ‚Spiel‘ Welt metaphorisch modelliert wird. Den Ausgangspunkt der Analysemethode bilden dabei die Theorie der konzeptuellen Metapher von Lakoff/Johnson (1980/2003) und deren Modifizierung um ‚abstrakte Subkonzepte‘ (Baldauf, 1997, 2000). Anhand der Ergebnisse der Untersuchung soll andererseits auch gezeigt werden, inwiefern es sich bei der Spielmetaphorik in der deutschen Gegenwartssprache um kein peripheres, sondern ein zentrales Phänomen handelt, das die Wahrnehmung der Welt und die ‚Sicht der Dinge‘ maßgeblich prägt. Schlüsselwörter Spielmetapher, konzeptuelle Metapher, metaphorisches Subkonzept, Weltmodellierung Was ist der Mensch? Nicht nur – wie Aristoteles im antiken Griechenland meinte – ein ‚Zoon politikon‘, ein ‚gemeinschaftliches Wesen‘: Seit Johan Huizingas kulturgeschichtlich wirkungsmächtigem Werk „Homo ludens“ (1939) wird zudem vom ‚spielenden Menschen‘ gesprochen. Die menschliche Spielleidenschaft zeigt sich auch in der deutschen Gegenwartssprache: Denn ganz gleich, ob wir uns manchmal nicht in die Karten schauen lassen wollen – vielleicht, weil wir das Gefühl haben, es stehe zu viel auf dem Spiel –, wir Zug um Zug versuchen, uns unseren Zielen anzunähern, die hoffentlich nicht wie ein Kartenhaus zusammenfallen, weil uns womöglich jemand das Spiel verderben möchte, oder wir uns etwas untereinander ausschnapsen: Das Gegenwartsdeutsche entlarvt uns als leidenschaftliche und begeisterte Spieler/innen. Doch wird nicht einfach nur ‚spielerisch‘ gesprochen, auch verschiedene Aspekte unserer Welt, verschiedene Erfahrungsbereiche scheinen in der deutschen Gegenwartssprache als ‚Spiel‘ gedacht zu werden. Mit dem Vokabular des Glücksspiels 269 wird z.B. ‚Risikobereitschaft‘ sprachlich dargestellt: So drücken etwa Hasard spielen, zocken und gambeln aus, dass Risiken eingegangen werden. Im Gegenwartsdeutschen wird wiederum auch weiterhin in den Köpfen auf von Sand umgebenen Kegelbahnen gekegelt, die nur mehr selten zu finden sind, wenn z.B. ‚Misserfolg‘ ausgedrückt werden soll: Es wird davon gesprochen, etwas in den Sand zu setzen. Ausgehend von der sprachlichen Evidenz möchte dieser Beitrag zeigen, dass es sich bei der konventionalisierten Spielmetaphorik in der deutschen Gegenwartssprache nicht bloß um ein peripheres sprachliches Phänomen handelt, das den Ausdruck schmückt, abwechslungsreicher und expressiver gestaltet und manche lexikalische Lücke schließt, sondern vielmehr um ein zentrales Mittel zur Weltmodellierung und zur kognitiven und verbalen Erfassung von abstrakten Erfahrungsbereichen. Um es mit Ortony (1975, S. 45) zu sagen: Auf den folgenden Seiten soll dargestellt werden, warum die konventionalisierten Spielmetaphern des Gegenwartsdeutschen „necessary [= zentral, Anmerkung des Verfassers] and not just nice [= peripher, Anmerkung des Verfassers]“ sind. 1. Metaphorik in der Forschung: Von der Peripherie ins Zentrum Unter dem Begriff ‚Metapher‘ wurde – im Gefolge von Aristoteles und Quintilian – oft ein nicht-alltäglicher, ‚außergewöhnlicher‘ Sprachgebrauch verstanden, der als ‚Schmuck‘ der Rede gebraucht werde (Hegel billigt der Metapher z.B. in seinen Vorlesungen über die Ästhetik [1835-1838] nur diese Funktion zu). Einen Wendepunkt in der Metapherndiskussion stellt „Metaphors We Live By“ (1980) von George Lakoff und Mark Johnson dar, die zeigten, dass die Alltagssprache in hohem Maß auf Metaphern zurückgreift. War ihr Ansatz auch nicht ganz neu (vgl. Liebert, 1992, S. 83-93; Baldauf, 1997, S. 285-296; Jäkel, 1997, S. 121-140; Skirl, 2009, S. 65-66), so gelang es ihnen im Gegensatz zu ihren Vorläufern jedoch, einen ‚metaphorical turn‘ auszulösen, eine neue Sichtweise auf die Metapher zu etablieren und sie von der Peripherie ins Zentrum des Interesses der Forschung zu rücken. 2. Das Spiel Das Spiel dient als Ausgangsbereich einer Vielzahl metaphorischer Konzepte. Was unter einem ‚Spiel‘ in diesem Beitrag verstanden wird, soll nun an dieser Stelle kurz erläutert werden: Ein Spiel ist eine Tätigkeit, die zum Zeitvertreib, zur Unterhaltung sowie zum Vergnügen ausgeübt wird und deren Ausgang bedeutungslos ist, sofern nicht mit Einsätzen gespielt wird (zu einer Diskussion des Spielbegriffs siehe Ehrenmüller, 2014, S. 19-30). Nicht mit einbezogen werden in die Analyse der ‚spielerischen’ Weltmodellierung daher metaphorische Ausdrücke, die sich auf das darstellende, das musikalische oder das als Sport betriebene Spiel (wie Fußball, Tennis etc.) beziehen. 270 Das Spiel scheint im Leben des Menschen auch schon immer einen bedeutenden Platz eingenommen zu haben: Sahen die antiken Philosophen zwar die Beschäftigung mit Musik und Literatur in der Freizeit als Ideal (hierzu vgl. Plinius der Jüngere, Epistulae, 9, 6) und versuchte die Kirche des Mittelalters zum Teil das Spiel zu verbieten (Meier, 2006, S. 81), so ließen sich die Menschen doch in keiner Epoche am Spielen hindern – auch nicht daran, in ihrer Spielleidenschaft manchmal Körperteile buchstäblich aufs Spiel zu setzen, was beispielsweise die Wiener Stadtobrigkeit im 16. Jh. veranlasste, dagegen ein Verbot auszusprechen (Borst, 1983, S. 299). 3. Metaphorische (Sub-)Konzepte Metaphern sind nach Lakoff und Johnson nicht bloß rhetorische Figuren, sondern prägen die Sprache und das Denken maßgeblich: „Wir haben dagegen festgestellt, daß die Metapher1 unser Alltagsleben durchdringt, und zwar nicht nur unsere Sprache, sondern auch unser Denken und Handeln. Unser alltägliches Konzeptsystem, nach dem wir sowohl denken als auch handeln, ist im Kern und grundsätzlich metaphorisch.“ (Lakoff/Johnson, 1980/2003, S. 11) Lakoff und Johnson (1980/2003) schufen für ihre Theorie den Begriff der ‚konzeptuellen Metapher‘, synonym gebrauchen sie auch ‚metaphorisches Konzept‘: Ein solches stellt zwischen einem schwer fassbaren, abstrakten Bereich, der ‚target domain‘, und einem zweiten Bereich, der ‚source domain‘, eine systematische Verbindung her, wodurch die ‚target domain‘2 sprachlich und kognitiv fassbar wird. Ein metaphorisches Konzept stellt demnach eine dem sprachlichen Ausdruck übergeordnete Denkstruktur dar: „Das Wesen der Metapher [Anmerkung des Verfassers: im Sinne von ‚konzeptueller Metapher / metaphorischem Konzept‘] besteht darin, daß wir eine Sache oder einen Vorgang in Begriffen einer anderen Sache bzw. eines anderen Vorgangs verstehen und erfahren können.“ (Lakoff/Johnson, 1980/2003, S. 13) Formuliert wird ein metaphorisches Konzept nach dem Schema ‚X ist Y‘: ‚X‘ steht für die ‚target domain‘, ‚Y‘ für die ‚source domain‘. Damit ein metaphorisches Konzept gebildet werden kann, muss als Voraussetzung eine von Sprecher/innen 1 Lakoff und Johnson unterscheiden nicht ganz trennscharf zwischen der Metapher im Sinne einer konzeptuellen Vorstellungsstruktur und der Metapher als sprachlichem Phänomen. In diesem Beitrag wird unter einer ‚Metapher‘ nur ein metaphorischer Ausdruck verstanden, dahinter vermutbare konzeptuelle Strukturen werden als ‚metaphorische Konzepte‘ bezeichnet. 2 ‚Target‘ und ‚source domain‘ werden hier, den Konventionen entsprechend, übersetzt als ‚Ziel-‘ und ‚Ausgangsbereich‘ verwendet. 271 empfundene strukturelle Korrelation zwischen den beiden konzeptuellen Domänen3 X und Y vorliegen. Auf die ‚target domain‘ wird ein Teil des Wissens über die ‚source domain‘ projiziert. Übertragen werden jedoch keine isolierten Einzelteile, „sondern ganzheitliche Wissensbestände[,] wie sie z.B. in Fillmores Frametheorie dargestellt werden“ (Drewer, 2003, S. 6). Sprachlich realisiert wird ein metaphorisches Konzept über Ausdrücke aus dem konzeptuellen Bereich Y, die sich auf die projizierten Strukturen beziehen. Sie nehmen eine übertragene Bedeutung an und sind nicht in ihrer eigentlichen zu verstehen (Lakoff / Johnson 1980/2003, S. 59). Michael Pielenz (1993) charakterisiert die Beziehung zwischen metaphorischen Konzepten und metaphorischen Ausdrücken, welche nach der Theorie von Lakoff und Johnson (1980/2003) deren sprachliche Manifestation darstellen, als Type-token-Verhältnis: „Als Extrakt einer Menge metaphorischer Äußerungen repräsentiert eine konzeptuelle Metapher jeweils einen type oder Typ (e.g. ‚Argument als Krieg‘), jede einzelne metaphorische Äußerung gilt als token oder Vorkommnis (e. g. ‚er attackierte ihre Position‘), indem sie einen type implementiert.“ (Pielenz, 1993, S. 71) Lakoff und Johnson (1980/2003) illustrieren ihre Theorie mit verschiedenen Beispielen, angeführt sei hier das metaphorische Konzept THEORIEN (UND ARGUMENTE) SIND GEBÄUDE, das von ihnen folgendermaßen belegt wird: „Ist das das Fundament Ihrer Theorie? Die Theorie muß besser untermauert werden. Dieses Argument steht auf unsicherem Grund. Wir brauchen weitere Fakten, damit die Argumentation nicht in sich zusammenfällt. […]“ (Lakoff/Johnson, 1980/2003, S. 59) Aus diesen Beispielsätzen schließen Lakoff und Johnson (1980/2003, S. 59), dass wir Theorien und Argumente als Gebäude auffassen. Als weitere Beispiele für metaphorische Konzepte nennen sie (1980/2003, S. 60, 63) u.a. IDEEN SIND PLANZEN („Seine Ideen haben schließlich Früchte getragen. Dieser Plan wurde im Keim erstickt.“) und LIEBE IST KRIEG („Er ist bekannt für seine unzähligen Eroberungen. Sie kämpfte um ihn.“). Christa Baldauf (1997, 2000) modifizierte Lakoffs und Johnsons Theorie, ausgehend von der Beobachtung, dass ein metaphorisches Konzept durch verschiedene Herkunftsbereiche metaphorisch strukturiert werden kann und vergleichbares sprachliches Material verschiedene Autor/innen zum Postulat verschiedener Metaphernkonzepte veranlasst. Die Wasser-Metaphorik z.B. trete im Kontext mit ‚Geld‘ auf, woraus sich das metaphorische Konzept GELD IST WASSER ergebe. 3 Nach Zoltán Kövecses (2002, S. 6) ist eine ‚konzeptuelle Domäne‘ „any coherent organization of experience“. 272 Es sei nach Baldauf (1997, S. 259) aber nicht notwendig, den Bereich des Geldes metaphorisch zu strukturieren, da er unmittelbar erfahrbar sei. Überdies sei ‚Geld‘ nicht „[…] grundsätzlich mit Wasser-Metaphorik verbunden [...]. Fließen kann Geld nur in bestimmten Mengen, 2,80 DM oder 20 Pfennige fließen nicht, sie können nirgends hingepumpt werden, und nichts läge uns ferner, als jemanden, der sich von 2,80 DM trennt, als sprudelnde Geldquelle zu bezeichnen. Die Frage ist daher berechtigt, ob die feststellbare Wasser-Metaphorik auf sprachlicher Ebene in diesem Falle tatsächlich an den Erfahrungsbereich Geld gebunden ist, oder ob sie nicht vielleicht von einem anderen, beteiligten Faktor ausgelöst wird.“ (Baldauf, 1997, S. 259) Als ausschlaggebend für das Auftreten der Wasser-Metaphorik sieht Baldauf (1997, S. 259) bei diesem Beispiel nicht den Kontext (‚Geld‘), sondern vielmehr den Aspekt der ‚Masse‘: Dieser erfülle auch die Forderung nach der Abstraktheit der Zielbereiche, die eine metaphorische Konzeptualisierung notwendig erscheinen lasse. Nach Baldauf (1997, S. 259) seien solche Aspekte wie ‚Masse‘ die Zielbereiche der metaphorischen Konzeptualisierung – und nicht Konzepte wie ‚Leben‘, ‚Zeit‘ oder ‚Karriere‘. Diese ‚Aspekte‘ sieht sie als abstrakte Erfahrungseinheiten und nennt sie „abstrakte Subkonzepte“ (Baldauf, 1997, S. 259), die wiederum als Gegenstand der Konzeptualisierung den Zielbereich eines metaphorischen Konzepts bzw. in diesem Falle eines metaphorischen Subkonzepts darstellen. Domänenspezifische metaphorische Subkonzepte treten – wie erwähnt – dann in den Kontext größerer Konzepte, wenn von ihnen strukturierte Aspekte fokussiert werden, und tragen so die an sie gebundene Metaphorik in die jeweiligen größeren Konzepte hinein. Ein metaphorisches Konzept setzt sich daher je nach Fokussierung aus zahlreichen verschiedenen, bereits konzeptualisierten metaphorischen Subkonzepten zusammen. Ist z.B. der Aspekt ‚Nicht-Ernsthaftigkeit‘ im Konzept ‚Liebe‘ relevant, tritt die Spielmetaphorik auf (LIEBE IST EIN SPIEL): „Meint sie es ernst mit mir oder spielt sie nur mit mir?“ Weitere Aspekte, die bei der Thematisierung des Konzepts ‚Liebe‘ das Auftreten der Spielmetaphorik auslösen können, sind z.B. ‚Risiko‘ („Für die Liebe setzte er alles aufs Spiel.“) oder eine Relation von offen zu verdeckt („Er legte die Karten offen auf den Tisch und sprach von Liebe.“). 4. Weltmodellierung mit der konzeptuellen Domäne ‚Spiel‘ Werden die erwähnten abstrakten Erfahrungseinheiten als Gegenstand der metaphorischen Konzeptualisierung betrachtet, so wird es möglich, ausgehend von einem repräsentativen Korpus an konventionalisierten Sprachbildern aus 273 einer konzeptuellen Domäne auf die von diesen domänenspezifischen Metaphern sprachlich realisierten metaphorischen Subkonzepte zu schließen. So können die Erfahrungsbereiche ermittelt werden, die von einer bestimmten konzeptuellen Domäne metaphorisch strukturiert werden. Die Grundlage für die Analyse der ‚spielerischen‘ Weltmodellierung bildete ein umfangreiches Korpus von ca. 320 konventionalisierten metaphorischen Ausdrücken aus der Domäne ‚Spiel‘, Lexemmetaphern und idiomatischen Phraseologismen, die nachweislich noch in der deutschen Gegenwartssprache in Gebrauch sind.4 Aus ihnen konnten 69 metaphorische Subkonzepte herausgearbeitet und rekonstruiert werden, die zeigen, welche Erfahrungsbereiche metaphorisch als ‚Spiel‘ konzeptualisiert sind. 4.1 Methode An dieser Stelle sei nun kurz die Methode erläutert, mit der versucht wurde zu analysieren, welche Erfahrungsbereiche von der konzeptuellen Domäne ‚Spiel’ metaphorisch strukturiert werden. Die Basis der Studie bildete das oben erwähnte Korpus an Spielmetaphern. Schritt 1: Bottom-up-Systematisierung der Spielmetaphern und Identifizierung der abstrakten Subkonzepte In diesem ersten Schritt wurden die verschiedenen Spielmetaphern nach den Aspekten systematisiert, die sie thematisieren. Aus dem Spiel sein und aus dem Spiel bleiben z.B. drücken aus, dass sich jemand außerhalb von etwas befindet, im Spiel sein hingegen das Gegenteil. Alle drei scheinen demnach den Aspekt ‚innen – außen‘ zu thematisieren, der nach der bereits erwähnten Definition von Baldauf (1997, S. 259) als ‚abstraktes Subkonzept‘ betrachtet werden kann. Manche der metaphorischen Ausdrücke der Sammlung thematisieren verschiedene Aspekte und können daher auch unterschiedlichen abstrakten Subkonzepten zugeordnet werden. Schritt 2: Formulierung metaphorischer Subkonzepte Im Anschluss an die Systematisierung der Spielmetaphern nach den von ihnen sprachlich realisierten abstrakten Subkonzepten wurden die daraus erschließbaren metaphorischen Subkonzepte formuliert. Den Zielbereich bilden jeweils die einzelnen abstrakten Subkonzepte, den Ausgangsbereich stellt immer die konzeptuelle Domäne ‚Spiel‘ dar, sofern möglich noch nach einzelnen Spielen weiter spezifiziert. Das metaphorische Subkonzept ERFOLG / MISSERFOLG IST 4 Das gesamte Korpus findet sich in Ehrenmüller (2014, S. 59–213), die konventionalisierten Spielmetaphern sind nach Motivierung, Entstehungszeit, Gebrauchskontext, Diatopik, Diastratik etc. beschrieben. 274 SPIELEN beispielsweise kann noch in fünf weitere Teilkategorien, entsprechend den spezifischen Ausgangsbereichen, differenziert werden (wie z.B. ERFOLG / MISSERFOLG IST EIN KARTENSPIEL [die Piksieben / Pik Sieben ziehen, keinen Stich machen / landen etc.) und ERFOLG / MISSERFOLG IST EIN GLÜCKSSPIEL [das große Los ziehen, eine Niete ziehen etc.]). Schritt 3: Top-down-Validierung der metaphorischen Subkonzepte Im letzten Schritt der Analyse wurden die erschlossenen metaphorischen Subkonzepte top-down nach folgenden Leitfragen überprüft: Entsprechen sie der sprachlichen Evidenz? Ist die Zuordnung der metaphorischen Ausdrücke korrekt? Können die metaphorischen Subkonzepte noch in weitere Subkategorien unterteilt werden? Gegebenenfalls wurden Anpassungen vorgenommen. 4.2 Streifzug durch die ‚spielerische‘ Weltmodellierung Insgesamt konnten aus dem vorliegenden Sprachmaterial, den ca. 320 konventionalisierten metaphorischen Ausdrücken aus der konzeptuellen Domäne ‚Spiel‘, 69 metaphorische Subkonzepte nach der oben kurz vorgestellten Methode herauskristallisiert werden (siehe dazu Ehrenmüller, 2014, S. 227-313). Die Ergebnisse stellen einen auf eingehender Analyse basierenden Versuch dar, mögliche Vorstellungsstrukturen aufzuzeigen, die durch metaphorische Ausdrücke ‚greifbar‘ und somit rekonstruierbar werden. Es ist jedoch nicht ausgeschlossen – dies muss an dieser Stelle eingeräumt werden –, dass in Einzelfällen auch andere Ergebnisse möglich und denkbar wären. Die Erfahrungsbereiche, die metaphorisch als ‚Spiel‘ konzeptualisiert sind, werden einerseits von zentralen Eigenschaften des Spiels strukturiert, wie ‚Spiel als abgegrenzte Sphäre‘, ‚Spiel als Sphäre der Nicht-Ernsthaftigkeit‘, ‚Spiel als mühelose Sphäre der Nicht-Arbeit‘, ‚Gewinnen und Verlieren‘ etc., andererseits aber auch von Charakteristika spezifischer Spielarten wie dem Zufallsprinzip und dem Risikoaspekt beim Glücksspiel oder von Merkmalen spezifischer Spiele wie dem Kartenspiel Schwarzer Peter, bei dem das Ab- und Zuweisen von Unangenehmem, der Karte mit dem Schwarzen Peter, das zentrale Spielelement darstellt. Die konzeptuelle Domäne ‚Spiel‘ hat demnach eine enorme Breite und erscheint daher als Ausgangsbereich vieler verschiedener metaphorischer Subkonzepte. Dass Spiel und Spielen als anthropologische Grundkonstanten angesehen werden können, macht sie noch zusätzlich dafür attraktiv: Der (kommunikative) Erfolg einer Metapher liegt schließlich auch in ihrer Nachvollziehbarkeit und Anschaulichkeit begründet. Bei dem folgenden kurzen Überblick über ausgewählte metaphorische Subkonzepte werden deren sprachliche Repräsentationen nur auszugsweise angeführt. Eine vollständige Übersicht findet sich in Ehrenmüller (2014, S. 227-313 und in tabellarischer Form S. 348-357). 275 4.2.1.Eine innen/aussen-relation ist ein spiel Für das Spiel ist die Dichotomie ‚Sphäre des Spiels – Sphäre des Nicht-Spiels‘ charakteristisch: Jemand ist entweder im Spiel (= Spieler), somit an ihm beteiligt und in der Lage, es zu beeinflussen, oder er befindet sich außerhalb (= Nicht-Spieler) und wird vom Spiel und dem Spielgeschehen nicht berührt. Zu einer Überschneidung der beiden Sphären kommt es nur, wenn mit Einsätzen gespielt wird und Ereignisse im Spiel Auswirkungen auf die Sphäre des Nicht-Spiels haben, es zu einer Eigentumsverschiebung etc. kommt. Verschiedene Spielmetaphern wie z.B. im Spiel sein (1), mitspielen (2), aus dem Spiel bleiben (3) oder aus dem Spiel lassen (4) werden dazu genutzt, eine Relation von ‚innen‘ zu ‚außen‘ darzustellen. Diese sprachliche Evidenz lässt vermuten, dass mit dem Spiel – ausgehend von der erwähnten Dichotomie ‚Sphäre des Spiels – Sphäre des Nichtspiels‘ – ein abstraktes Subkonzept der ‚Innen/außen-Relation‘ metaphorisch konzeptualisiert wurde: EINE INNEN/AUSSEN-RELATION IST EIN SPIEL. Dieses metaphorische Subkonzept lässt sich noch weiter subkategorisieren: Eine Relation ‚innen/außen‘ kann statisch oder dynamisch sein, einen Zustand oder eine Zustandsänderung beschreiben.5 Auch kann es noch nach spezifischen Spielen differenziert werden.6 STATISCH ‚innen‘: (1) „Bei diesen Stiftungen handelt es sich nicht nur um öffentliche Mittel, sondern auch um private Schenkungen an den Staat, auf dass der damit Gutes tue – vor allem im Sozial- und Gesundheitsbereich. Wie viel Geld dabei im Spiel ist, weiß der Rechnungshof nicht.“ (Die geheimen Spielwiesen, Wiener Zeitung, 14.06.2013) (2) „In den Fällen von Russland und Polen haben nach Meinung von Brunner drei Faktoren mitgespielt. Der Zustand der Maschine, jener der Landebahn und die Ausbildung der Piloten.“ („Die vielen Unglücke mit Tupolew-Maschinen sind kein Zufall“, Tagesanzeiger, 21.06.2010) ‚außen‘: (3) „Herr M. empfiehlt dagegen nachdrücklich, mit Herrn Iwasaki zu sprechen. Schließlich erklärt er sich doch zu einem Gespräch bereit. 5 Ein Graubereich zwischen statisch und dynamisch ergibt sich durch den Gebrauch des Futurs I: „Er ist im Spiel“ versus „Er wird im Spiel sein“. Futurische Varianten der ‚statischen Ausdrücke‘ beschreiben allerdings einen zukünftigen Zustand – der klarerweise eine Zustandsveränderung voraussetzt –, aber nicht die Veränderung an sich. Daher kann hier dennoch eine Trennung in ‚statisch‘ und ‚dynamisch‘ vorgenommen werden. 6 Hier soll nur ein kurzer Überblick über die Subkategorisierungen gegeben werden, zu einer Spezifizierung nach dem Spiel im Allgemeinen und dem Kartenspiel siehe Ehrenmüller (2014, S. 263-268). 276 (4) Allerdings müsse seine Person dabei völlig aus dem Spiel bleiben. Also wird aus Herrn M. ab hier eine ‚gut unterrichtete Quelle‘, eine GuQ.“ (Bloß nicht auffallen, Der Tagesspiegel, 23.11.2003) „Man müsse die Großbanken an die Leinen nehmen, Hedgefonds stärker auf die Finger klopfen und bei Banken-Schieflagen den Steuerzahler aus dem Spiel lassen.“ (Boni-Debatte „für die Show“, Heute, 24.09.2009) Können die oben erwähnten metaphorischen Ausdrücke zwar zukünftige Zustände beschreiben (indem sie futurisch gebraucht werden), so beschreiben ins Spiel bringen (5) und aus dem Spiel nehmen (6) dynamische Handlungen. Thematisiert wird jeweils der Eintritt in das ‚Innen‘ (ins Spiel bringen) bzw. der Austritt aus dem ‚Innen‘ (aus dem Spiel nehmen): DYNAMISCH (5) „Serbische Diplomaten hatten die Möglichkeit in den vergangenen Monaten immer wieder ins Spiel gebracht – wenngleich, ohne zitiert werden zu wollen.“ (Serbien bringt Teilung des Kosovo ins Spiel, Die Presse, 07.04.2010) (6) „Gestern hatte der Präsident, der Ägypten dreißig Jahre lang regiert hatte, offenbar noch an einen Abschied auf Raten geglaubt – oder zumindest an die gesichtswahrende Lösung, dass er sich nur de facto, nicht jedoch de iure aus dem Spiel nimmt.“ (Die Erfüllung aller Wünsche, Der Standard, 11.02.2011) 4.2.2. Eine offen/verdeckt-relation ist ein kartenspiel Die Opposition offen – verdeckt ist beim Kartenspiel von zentraler Bedeutung, denn erst durch sie entstehen Spannung und Herausforderung. Idiomatische Phraseologismen wie z.B. mit offenen Karten spielen (7), sich nicht in die Karten schauen/sehen lassen (8), die Karten aufdecken (9) oder die Karten offen legen (10), die sich auf diese Opposition beim Kartenspiel beziehen, legen dar, ob eine Angelegenheit, Handlung etc. offen oder verdeckt abläuft. Daher scheint es wahrscheinlich, dass ein abstraktes Subkonzept der ‚Offen/verdeckt-Relation‘ metaphorisch als ‚Kartenspiel‘ konzeptualisiert ist: EINE OFFEN/VERDECKTRELATION IST EIN KARTENSPIEL. Dieses metaphorische Subkonzept kann noch in die Varianten ‚statisch‘ und ‚dynamisch‘ subkategorisiert werden. Die dynamische ‚Offen-verdeckt-Relation‘ beschreibt im Gegensatz zur ‚statischen Offen/verdeckt-Relation‘ keinen Zustand, sondern eine Zustandsveränderung: Offenes Handeln wandelt sich in verdecktes, verdecktes in offenes. Es erscheinen allerdings, wie die sprachliche Evidenz zeigt, nur lexikalisierte metaphorische Ausdrücke, die den Wandel von verdeckt zu offen beschreiben: Das Umgekehrte unterbleibt, was daran liegen mag, dass es schließlich dem Konzept ‚Kartenspiel‘ bzw. der Spiellogik der meisten Kartenspiele auch nicht entspricht. 277 STATISCH ‚offen‘: (7) „Da scheint es kaum einen der 1266 Einwohner zu stören, dass auch auf ihm ein kommunaler Schuldenberg von weit mehr als 10.000 Euro lastet. Und dass sein Ort damit weit vorn liegt im Ranking der am höchsten verschuldeten Gemeinden Österreichs. ‚Die Bürger goutieren die Investitionen‘, sagt Herbert Bauer, ihr Bürgermeister (SPÖ), ein ehemaliger Baupolier, der sich nun ausschließlich seinem Amt widmet. ‚Sie kennen die Finanzen der Gemeinde, ich spiele mit offenen Karten.‘“ (Kuckuck ruft vom Kirchturm, Die Presse, 18.06.2011) ‚verdeckt‘: (8) „Die wichtigsten Konkurrenten von Zipfer und Gösser – Stiegl und Ottakringer – wollen sich punkto Bier- und Radlerentwicklung nicht in die Karten schauen lassen. Der börsenotierte [sic!] Ottakringer-Konzern verweist darauf, dass über unveröffentlichte Zahlen für das Jahr 2011 keine Auskunft gegeben werden dürfe.“ (Radler sorgt für Plus auf Biermarkt, Die Presse, 01.03.2012) DYNAMISCH (9) „Der Australier erreichte das Ziel in 1.168 m Höhe mit 1:47 Minuten Rückstand gemeinsam mit den übrigen Favoriten auf den Gesamtsieg. Diese werden am Sonntag bei der ersten Bergankunft in Morzine-Avoriaz wohl erstmals ihre Karten aufdecken.“ (Gipfelstürmer Chavanel, Der Standard, 10.07.2010) (10) „Kogler forderte die Abgeordneten von SPÖ und ÖVP auf, bei dem‚ geplanten Verfassungsbruch‘ der Regierung, die das Budget 2011 nicht fristgerecht dem Parlament vorlegen will, ‚nicht Schmiere zu stehen‘, sondern ihren Eid auf die Verfassung einzuhalten. Gerade weil Wahlen bevorstehen, müsse die Regierung die Karten offen legen und die Bevölkerung nicht weiter belügen, so Kogler.“ (Grüne bringen SPÖ-Steuerpaket zur Abstimmung, Die Presse, 24.08.2010) 4.2.3. Leinchtsinnigkeit/verantwortungslosigkeit ist ein spiel Die sprachliche Evidenz zeigt, dass bestimmte Spielphraseologismen wie z.B. Spiel mit der Gefahr (11), mit jemandes Gesundheit spielen (12) oder mit dem Leben spielen immer dann erscheinen, wenn leichtsinniges, dem gegebenen Ernst einer Situation nicht gerechtes und verantwortungslos scheinendes Handeln thematisiert wird. Das Spiel stellt bedingt durch die es charakterisierende Dichotomie ‚Spiel – Ernst‘ einen genuinen Bereich der Nicht-Ernsthaftigkeit dar: Handlungen, die in seiner Sphäre gesetzt werden, zeitigen schließlich keine Folgen in der Sphäre des Nicht-Spiels (vorausgesetzt, dass sie nicht mit Einsätzen verbunden sind). 278 (11) (12) „Das Spiel mit der Gefahr ist nur ein Aspekt des FMX. Wer sie einzuschätzen weiß, davon ist Wolter überzeugt, kann sie in akzeptablem Rahmen halten.“ (Bekloppt genug, für den Sieg alles zu riskieren, FAZ, 16.06.2007) „‚Wer so etwas fordert, spielt mit der Gesundheit der Menschen und verharmlost die erhebliche Gefahr, die von diesen Drogen ausgeht‘, sagte Merk am Mittwoch in München. Eine Legalisierung, in welcher Form auch immer, komme für sie überhaupt nicht infrage.“ (Merk empört über Drogenpläne der Linken, Abendzeitung, 25.01.2012) 4.2.4. Mühelosigkeit ein spiel Das Spiel ist auch durch seinen Gegensatz zur Arbeit definiert: Wird Arbeit als etwas Mühevolles gesehen, so kommt dem Spiel der Charakter der Mühelosigkeit zu. Davon ausgehend scheint ein abstraktes Subkonzept der ‚Mühe / Mühelosigkeit‘ metaphorisch strukturiert zu sein, das z.B. von folgenden metaphorischen Ausdrücken sprachlich repräsentiert wird: ein / kein Spiel (für jemanden) (sein) (13), spielerisch (14), sich mit etwas spielen (süddt. / österr.). (13) (14) „Halte mich für kein Genie, aber: die AHS war ein Spiel für mich.“ (Internetbeleg, Orthographie unverändert, 05.09.2011. Online unter: http://diepresse.com/home/bildung/schule/hoehereschulen/690643/ Gewerkschafter_Zu-viele-Kinder-gehen-in-die-AHS [29.0ž.2016]) „Die Siegerin war als 118:10-Außenseiterin ins Rennen gegangen. ‚Das hat mich überrascht, dass sie das so spielerisch gemacht hat‘, sagte Siegjockey Pietsch nach dem Rennen.“ (118:10-Außenseiterin siegt, Hamburger Abendblatt, 29.06.2013) 4.2.5. Nicht-ernsthaftes handeln ist epielen Charakteristisch für das Spiel ist die Dichotomie ‚Spiel – Ernst‘, wodurch ihm die Eigenschaft der Nicht-Ernsthaftigkeit zukommt. Was in einem Spiel passiert, bleibt ohne wirkliche Auswirkungen und verpflichtet die Spieler/innen zu nichts – sofern nicht, wie bereits erwähnt, mit Einsätzen gespielt wird. Mehrere metaphorische Ausdrücke aus der konzeptuellen Domäne ‚Spiel‘ thematisieren, dass jemand etwas nicht wirklich ernst meint oder unverbindlich zu handeln scheint, nur spielen will (15), ein Spieler / eine Spielerin ist oder mit einem Gedanken spielt (16). (15) „Nun möchte ich gerne wissen, ob ich jetzt mit ihm zusammen bin und ob er mich liebt, oder ob er nur mit mir spielen will!“ (Internetbeleg, Orthographie unverändert, 30.07.2007. Online unter URL: http://mein-kummerkasten.de/123071/Liebt-er-mich-oder-willer-nur-spielen.html [29.06.2016]) 279 (16) „Die SPÖ spielt mit dem Gedanken, die Harmonisierung zwar vorzuziehen, aber nur um fünf Jahre auf 2019. Das ist der ÖVP zu wenig Bewegung. Andreas Khol schlug in einem Hintergrundgespräch mit Journalisten vor, mit der Harmonisierung schon 2014 zu beginnen, dafür das Pensionsalter aber nur um einen Monat pro Quartal zu erhöhen.“ (Pensionsalter für Frauen schon ab 2014 erhöhen, Wiener Zeitung, 19.06.2012) 4.2.6. (Aus-) probieren ist spielen Das Spiel ist aufgrund seines nicht-ernsthaften Charakters auch eine Tätigkeit, welche das Aus- und Herumprobieren erlaubt. Das Spiel diente und dient daher auch dem Einüben von Umgangsformen, Fertigkeiten und Verhaltensweisen und war und ist demnach ein Ort des Ausprobierens und Versuchens. Darauf scheint die metaphorische Konzeptualisierung eines abstrakten Subkonzepts des ‚(Aus-) Probierens‘ mit ‚Spielen‘ zu basieren: (AUS)PROBIEREN IST SPIELEN. Sprachlich realisiert wird es z.B. mit folgenden idiomatischen Phraseologismen: mit etwas herumspielen (17), etwas durchspielen (18) und explizit im Bereich des gedanklichen Ausprobierens: etwas in Gedanken durchspielen. (17) (18) „Solange du dich eigenständig finanzierst, kannst du herumspielen und ausprobieren, solange du lustig bist. Allerdings wird dich kaum jemand für ‚mal eine Woche schnuppern‘ in seinen Betrieb holen.“ (Internetbeleg, Orthographie unverändert, 24.05.2013. Online unterURL:http://www.hilferuf.de/forum/beruf/174424-wielange-kann-man-herumspielen-und-ausprobieren.html [29.06.2016]) Im Hintergrund hatten die Planungsexperten im Pentagon freilich längst alle Möglichkeiten einer militärischen Intervention durchgespielt und die entsprechenden Vorbereitungen getroffen. (Wenn USA und Europa al-Qaida-Kämpfern in Syrien Feuerschutz geben, Die Presse, 28.08.2013) 4.2.7. Risiko ist ein spiel mit einsätzen Sobald bei einem Spiel mit Einsätzen gespielt wird, besteht für die Spieler/innen das Risiko, diese zu verlieren. Auf diesen Risikoaspekt bezieht sich eine ganze Reihe von metaphorischen Ausdrücken (wie z.B. auf dem Spiel stehen, alles auf eine Karte setzen und Gambler). Ausgehend von der sprachlichen Evidenz kann daher ein metaphorisches Subkonzept RISIKO IST EIN SPIEL MIT EINSÄTZEN vermutet werden. Dieses lässt sich noch in die Subkategorien RISIKOHAFTIGKEIT IST EIN SPIEL MIT EINSÄTZEN (z.B. Hasardspiel/Hasard-Spiel [19], auf dem Spiel stehen [20], Vabanquespiel/Vabanque-Spiel/Va-banque-Spiel) und RISIKOBEREITSCHAFT IST EIN SPIEL MIT EINSÄTZEN (z.B. aufs Spiel setzen [21], hoch spielen [22], gambeln) differenzieren. Die Subkategorien können 280 wiederum entsprechend den Ausgangsbereichen der metaphorischen Projektion spezifiziert werden.7 RISIKOHAFTIGKEIT IST EIN (GLÜCKS-)SPIEL MIT EINSÄTZEN (19) (20) „Denn dass etwa Teheran und Pjöngjang durch die Nabelschau der Amerikaner eine ungewohnt freie Hand bei ihren nuklearen HasardSpielen bekommen könnten, würde auch die elementaren Interessen Europas berühren.“ (Viel Freund, viel Verantwortung, Der Spiegel, 09.11.2006) „‚Es gibt tektonische Plattenverschiebungen. Heute steht nicht nur die Weltwirtschaft, sondern die Weltordnung auf dem Spiel‘, sagte Rasmussen am Freitag auf der Münchner Sicherheitskonferenz.“ („Die Weltordnung steht auf dem Spiel“, Die Presse, 04.02.2011) RISIKOBEREITSCHAFT IST EIN (GLÜCKS-)SPIEL MIT EINSÄTZEN (21) (22) „Warum hält die amerikanische Wirtschaft am Wachstumsparadigma fest, selbst wenn heute (das Buch ist notabene bereits 1984 erschienen) nachgewiesen ist, dass damit der Planet aufs Spiel gesetzt wird?“ (Das Brexit-ABC, Wiener Zeitung, 16.06.2016) „In Berlin, Frankfurt am Main und Wien, aber auch in St. Petersburg, in Paris und London wurde in dieser bewegten Zeit hoch gespielt. Der rasche Wechsel der Konstellationen in der Innen- wie der Außenpolitik war das genaue Gegenteil des ‚Metternichschen Systems der Regungslosigkeit‘ (Hermann Baumgarten), das die Politik in Deutschland über Jahrzehnte geprägt hatte.“ (Tiger des Nationalismus, Der Spiegel, 21.08.2007) 5. Fazit Mit Lakoffs und Johnsons Theorie der konzeptuellen Metapher und dem von ihnen angestoßenen ‚metaphorical turn‘ rückten konventionalisierte metaphorische Ausdrücke von der Peripherie zunehmend ins Zentrum des Interesses der Forschung: Sie wurden nicht mehr nur als bloß peripheres, hauptsächlich rhetorisches Sprachphänomen, sondern vielmehr als zentrale sprachliche Strategie gesehen, durch die abstrakte Erfahrungsbereiche erst kognitiv fassbar und verbalisierbar werden und die unsere Wahrnehmung der Welt maßgeblich prägt. Der von Baldauf (1997, 2000) ausgehend von Lakoff und Johnson (1980/2003) vorgeschlagene Fokus auf abstrakte Subkonzepte als Gegenstand der meta7 Hier soll nur ein kurzer Überblick über dieses metaphorische Subkonzept gegeben werden. Zur Spezifizierung nach Ausgangsbereichen bei RISIKO IST EIN SPIEL MIT EINSÄTZEN siehe Ehrenmüller (2014, S. 284-290). 281 phorischen Konzeptualisierung ermöglicht es, auf Basis eines repräsentativen Korpus an domänenspezifischen konventionalisierten Metaphern zu erforschen, welche Erfahrungsbereiche mit einer konzeptuellen Domäne metaphorisch strukturiert sind. Basierend auf einer Sammlung von ca. 320 metaphorischen Ausdrücken aus der Domäne ‚Spiel‘ konnten 69 ‚spielerische‘ metaphorische Subkonzepte herausgearbeitet und rekonstruiert werden. Die Analyse zeigt, dass vor allem zentrale Erfahrungsbereiche wie z.B. eine Orientierung ‚innen/außen‘ oder ‚offen/verdeckt‘, ‚Risiko‘, ‚Leichtsinn‘, ‚Mühe(losigkeit)‘ oder ‚Nicht-Ernsthaftigkeit‘ metaphorisch als ‚Spiel‘ konzeptualisiert sind. Die Spielmetaphorik des Gegenwartsdeutschen kann demnach als zentrales Phänomen betrachtet werden: Sie ist nicht nur auf der lexikalischen Ebene dominant vertreten, sondern prägt auch maßgeblich die ‚Sicht der Dinge‘ und die Wahrnehmung der Welt. Was im Grunde auch nicht weiter verwunderlich ist, sind wir doch alle – manche mehr, manche weniger – ‚Homines ludentes‘. Abstract This paper intends to explain methods of forming the world in modern German metaphors with the help of the conceptual domain ‘game’ and to discover, whether metaphor is a phenomenon of the periphery or the center of modern German. The analysis is based on Lakoff/Johnson’s (1980/2003) theory of the conceptual metaphor and its modification by ‘abstract subconcepts’ (Baldauf, 1997, 2000). It is possible to infer oral resp. written metaphorical subconcepts from a representative corpus of metaphors of a conceptual domain if these abstract ‘units of experience’ – which highly influence concepts like ‘life’, ‘love’, ‘communication’, etc. – are analysed as objects of metaphorical conceptualisation. Thus, 69 metaphorical subconcepts have been created from 320 metaphorical expressions taken from the domain ‘game’ in modern German to show which domains of experience are constituted as ‘game’, e.g. ‘success/failure’ or ‘improvidence/irresponsibility’. The significance of the domain ‘game’ in modern German, be it for the perception or be it for the description of the world, arises from the fact that it is also used for the metaphorical conceptualisation of localisation and orientation. The results of the analysis show not only in which way ‘the game’ influences points of view in modern German but also that metaphor and especially the ‘playful’ metaphor is a central phenomenon in modern German. Keywords game-metaphor, conceptual metaphor, metaphorical subconcept, forming the worl 282 Quellenverzeichnis 118:10-Außenseiterin siegt, Hamburger Abendblatt, 29.06.2013. Online verfügbar unter http://www.abendblatt.de/sport/article117570769/ Ueberraschung-zum-Start-der-Derbywoche-in-Hamburg.html [29.06.2016]. Bekloppt genug, für den Sieg alles zu riskieren, FAZ, 16.06.2007. Online verfügbar unter http://www.faz.net/aktuell/sport/mehr-sport/freestyle-motocross-beklopptgenug-fuer-den-sieg-alles-zu-riskieren-1439667.html [29.06.2016]. Bloß nicht auffallen, Der Tagesspiegel, 23.11.2003. Online verfügbar unter http://www.tagesspiegel.de/berlin/bloss-nicht-auffallen/467754.html [29.06.2016]. Boni-Debatte „für die Show“, Heute, 24.09.2009. 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Periphere Mitglieder des Paradigmas (gehören-Passiv, bekommen-Passiv) werden anhand ihrer semantischen und morphosyntaktischen Merkmale eingeordnet. Schlüsselwörter Passiv-Paradigma, Zielkategorie, Renovation (gehören-Passiv, bekommen-Passiv) 1. Vorbemerkungen. Paradigmen Ein grammatisches Paradigma als Menge zusammengehöriger (veränderter) syntaktischer Konstruktionen wird getragen von einer allgemeinen abstrakten kategorialen Bedeutung, der Zielkategorie,2 die allen Mitgliedern des Paradigmas zugrunde liegt. Bei Vorhandensein einer Zielkategorie und eines Paradigmas spricht man bei der Eingliederung einer neuen Form von Renovation (vgl. Lehmann, 1995 [1982], S. 21, zit. n. Diewald, 2009, S. 450). Dabei forciert die Zielkategorie bereits begonnene Grammatikalisierungsprozesse (vgl. Diewald, 2009), so dass diese zum Ausbau des Paradigmas führen, indem den neuen Mitgliedern eine „spezifische Position [zugewiesen wird], die sie in Opposition zu den übrigen Mitgliedern des Paradigmas setzt“ (Diewald, 2009, S. 459). Demzufolge ist ein Paradigma als Netzwerk von „Relationen der Bedeutungsgleichheit und des Bedeutungsgegensatzes“ (Storjohann, 2006, S. 2) zu betrachten, was bedeutet, dass die paradigmatischen Sinnrelationen (Konkurrenz, Opposition) zwischen den komplexen grammatischen Konstruktionen in engem Zusammenhang mit ihrem Kontextvorkommen stehen. Zugleich bedeutet es auch, dass Überlappungen mit anderen Paradigmen zu erwarten sind. Damit lässt sich auf diese Konstruktion auch das Konzept der strukturellen Offenheit von Ágel (2000b) anwenden. 1 Konstruktion wird verstanden als relativ feste Kombination sprachlicher Elemente mit einer bestimmten Bedeutung und Funktion, d.h., der Begriff wird nicht im Sinne der Konstruktionsgrammatik verwendet. 2 2013 bezeichnet Diewald den gemeinsamen Inhalt des gesamten Paradigmas als „konzeptuelle Domäne“. 287 Das Konzept besagt, dass bestimmte Sätze ambig sind, weil ihre Struktur „offen sein [muss] für zwei oder (mehrere) verschiedene Interpretationen” (Ágel, 2000b, S. 34). Für den Sprachteilhaber stellen „Strukturen keine ‚semantischen Gefängnisse‘, sondern eher Interpretationshilfen [dar], die innerhalb von bestimmten grammatisch-semantischen Grenzen bestimmte semantisch-pragmatische Interpretationsmöglichkeiten eröffnen“ (Ágel, 2000b, S. 39). Dies ermöglicht die Übertragung eines konzeptuellen Musters auf ein anderes und macht damit den Weg für Reanalysen frei. Die einzelnen Mitglieder entwickeln sich aus divergenten Quelllexemen über unterschiedliche Grammatikalisierungskanäle auf dieses Paradigma zu, so dass sie letztendlich formal und konzeptuell eng miteinander verknüpft sind. Die Gesamtstruktur eines grammatischen Paradigmas kennzeichnet allerdings eine Asymmetrie, weil mit einem unmarkierten Mitglied alle anderen kontrastiert werden. Unmarkiert meint „kognitiv einfacher sowie semantisch unspezifischer bzw. allgemeiner“, während sich markierte Kategorien „durch das Vorhandensein des zusätzlichen Merkmals auszeichnen und dadurch kognitiv komplexer sind“ (Diewald, 2013, S. 31). Die Asymmetrie zeigt sich also in der Konkurrenz zwischen markiertem und unmarkiertem Mitglied und in der Opposition der Mitglieder zueinander. Im Folgenden geht es um zentrale und ausgewählte periphere Mitglieder des Passiv-Paradigmas, genauer gesagt um auf Vorgangsorientiertheit spezialisierte Konstruktionen der agensdezentrierten (passivischen) Konzeptualisierung. 2. Zum Passiv-Paradigma Die konstituierende Funktion der passivischen Domäne3 ist Agensdezentrierung einer ursprünglich agenszentrierenden Perspektivierung.4 Die agensdezentrierende und – hier – auf Vorgangsorientierung eingeschränkte Perspektivierung ist den Konstituenten in unterschiedlichem Maße eigen und lässt sich definieren als die Absicht des Sprechers / Schreibers, den außersprachlichen Sachverhalt eben aus dieser Perspektive sprachlich zu realisieren. Die Agensdezentrierung als das prototypische Passivmerkmal kann mit der Zentrierung einer anderen semantischen Rolle (Patiens oder Rezipient)5 einhergehen sowie gelegentlich durch aktionale bzw. modale Komponenten zusätzlich gekennzeichnet sein 3 Synonym dazu verwende ich den Begriff Konzeptualisierung. 4 Diese Beziehung zwischen Aktiv- und Passivsatz zeigt sich einerseits in der annähernden Gleichheit der semantischen Verhältnisse in beiden Sätzen und andererseits darin, dass das Subjekt des Aktivsatzes nicht Subjekt des Passivsatzes ist (vgl. Brinker, 1971, S. 27-28; Vogel, 2003, S. 144). 5 Ist dafür keine Entität vorhanden, kommt es zur Valenzsimulation, d.h. zur Nachahmung der normalen Valenzrealisierungsstruktur mithilfe des Pseudopatiens es (vgl. Ágel, 2000c). 288 (vgl. u.a. Szatmári, 2002 und 2015). Die Wahl einer Passivkonstruktion ist folglich kommunikationsgesteuert.6 Die prototypische passivische Konzeptualisierung ist im verbalen (Partizipatum-) und nominalen (Partizipantum-)Bereich mit bestimmten morphosyntaktischen und semantischen Charakteristika verbunden: (1) Kennzeichnend für den verbalen Bereich (Partizipatum-Bereich) ist die prototypische Passivmorphologie bestehend aus Passivauxiliar + Partizip II, morphosyntaktisch zeigt sich in der periphrastischen Verbalform demnach ein relativ homogenes Paradigma. Semantisch vollzieht sich ein Wechsel der Prädikatsklassen, die Prädikatsklasse Vorgang bzw. Zustand gewinnt im Passivsatz den Vorrang (vgl. von Polenz, ²1988; auch Pittner/Berman 2010, S. 69). Interessant ist in diesem Zusammenhang, wie sich die Valenzverhältnisse im komplexen Prädikat gestalten.7 Hier wird davon ausgegangen, dass das Auxiliarverb auf dem Valenzrahmen des Vollverbs im Aktivsatz operiert. Das komplexe Prädikat kann sowohl valenzreduzierend (ich muss operiert werden; er bekommt den Arm amputiert) als auch valenzerhaltend (von dem Arzt will ich nicht operiert werden; er bekommt vom Chefarzt höchstpersönlich den Arm amputiert) verwendet werden. (2) Im nominalen Bereich (Partizipantum-Bereich) wird neben der Agensdezentrierung durch den „Wechsel der Zentrierungsverhältnisse“ eine Perspektivierung auf andere Partizipanta (Patiens, Rezipient) hin möglich (nicht-prototypisches Merkmal, vgl. Ágel, 1997, S. 154-155). Agensdezentrierung8 bedeutet keinesfalls, dass es nicht im Satz aufscheinen kann: Die Agenskodierung erfolgt prototypisch in der grammatikalisierten von- bzw. durch-Phrase. 6 Diewald (2008) spricht in diesem Zusammenhang von „kommunikativer Obligatorik“. 7 Weber (2005, S. 9) z.B. nimmt an, dass sich das Perfektpartizip wie ein Adjektiv verhält und weder Subjekt noch Akkusativergänzung fordert, demzufolge seien diese beiden valenzielle Forderungen des Auxiliarverbs. Er argumentiert in seinem Aufsatz für den Begriff Strukturverb, den er als Hyperonym für alle Verben, die „nicht für sich allein ein Prädikat bilden“ (Weber, 2005, S. 1), ansieht. Konstruktionen mit bekommen, kriegen (Rezipientenpassiv) und gehören (SWR1 gehört gehört. ‚SWR1 soll gehört werden, ist zu hören‘) betrachtet er jedoch als „Konstruktionen eines Strukturverbs mit einem Perfektpartizip, die nicht in das Verbsystem integriert sind oder deren Integration umstritten ist“ (Weber, 2005, S. 9). 8 Primus (2011) zeigt – bezogen auf das unpersönliche Passiv –, dass es ausreicht, wenn das Subjekt des Aktivsatzes über eines der Agentivitätsmerkmale Kontrollmerkmal, Sentience oder selbstinduzierte Bewegung verfügt, um das unpersönliche Passiv bilden zu können, vgl. folgende Beispiele bei Primus: Hauptunfallort der Pausenunfälle ist der Schulhof, auf dem man miteinander raufen und um die Wette laufen kann. Hingefallen wird dann auch dementsprechend oft. (hinfallen – nicht-volitional telisches Verb); Im Schnitt, so berichtet die Apotheken-Umschau, hat ein 70-Jähriger in seinem Leben rund 600.000 Stunden mit Schlafen verbracht: Geträumt wird dabei reichlich. (träumen – nicht-volitional atelisches Verb) 289 Schematisch lassen sich folgendermaßen festhalten: die Charakteristika des Passiv-Paradigmas9 verbaler Bereich: Passivmorphologie, Prädikatsklassenwechsel (vorgangsorientiert; zustandsorientiert), [± Aktionalität], [± Modalfaktor], nominaler Bereich: Agensdezentrierung (Agenstilgung oder Agenskodierung in von-/durch-Phrase); Patiens- oder Rezipientenzentrierung Passiv-Paradigma Je nachdem, wie diese Kriterien erfüllt sind, lässt sich im Sinne der Prototypentheorie eine (kriterienbezogene) Zentralitätsabstufung vornehmen, so dass beste (zentrale) und weniger gute (periphere) Vertreter der Kategorie herausgefiltert werden können (vgl. Zifonun, 2000, S. 49). Agensdezentrierung als das prototypische Passivmerkmal beinhaltet auch die skalare Betrachtung der Agentivitätsmerkmale (vgl. Welke, 1997;10 Primus, 2011). Das Ausweiten der Agentivitätsfaktoren führt zum Ausbau des Inventars der passivfähigen Verben. Dementsprechend sind stets die stark agentivischen Verben diejenigen, die als erste Verbgruppe die passivische Konstruktion bilden, und die weniger aktivischen Verben ziehen nach (das Partizip II der Handlungsverben ist Ausgangspunkt der Reanalyse).11 Das kreative Potential von Sprecherintentionen kann grundlegende Veränderungen tradierter Beschreibungs- und Interpretationsmodelle bewirken. Auch das Passiv-Paradigma befindet sich in ständiger „Bewegung“. Da im vorliegenden Beitrag keine umfassende Beschreibung aller Mitglieder des Paradigmas vorgenommen werden kann, konzentriere ich mich im Wesentlichen auf zwei periphere 9 Dabei existiert eine Vielzahl an – teils synonymen – Benennungen für die einzelnen Merkmale, vgl. Degradierung des Subjektarguments, Promovierung des Akkusativkomplements (Zifonun, 2000, S. 49); Agens-Dezentrierung, Patiens-/Rezipienten-Zentrierung (Ágel, 1997). 10 Lakoff / Johnson (1980, S. 69) betrachten das concept of causation als “one of the concepts most often used by people to organize their physical and cultural realities“. In Anlehnung an Lakoff / Johnson nimmt Welke (u.a. 1997) folgende Merkmale für einen prototypischen Handlungssatz an: Menschliches Agens [+ hum], das ,willentlich’, ,intentional’ [+ int] handelt (= ,verantwortlich für die Handlung’), um einen bestimmten Effekt zu erreichen [+ eff] (= ,eine Änderung am Objekt bewirkend’), dabei Eigenaktivität zeigt [+ control] sowie „einen spezifischen verursachenden Anteil an dem Zustandekommen des Ereignisses [+ responsible]” (Welke, 1997, S. 217) hat. Im prototypischen Sinne handelt es sich auch dann noch um ein Agens, wenn „nur noch das Merkmal [+ control] oder [+ responsible] vorhanden ist” (Welke, 1997, S. 217). Die folgende Textpassage wirkt zwar etwas befremdend, aber dennoch akzeptabel: Anna krabbelt hinunter auf den Strand, die spitzen Sandkörner werden ihr schmerzhaft in die Augen und ins Gesicht geblasen, und dann ist sie auf gleicher Höhe mit dem Meer. (Azzopardi, 2011, S. 114). 11 So bezeichnet Zifonun wesan + Partizip II eines transitiven Verbs (wie erfüllen: ‚ein Erfülltes sein / erfüllt sein‘) als den Vorläufer des nhd. sein-Passivs und werden + Partizip II eines transitiven Verbs (wie forabotôn: ‚ein Angekündigter werden / angekündigt werden‘) als Vorläufer des nhd. werden-Passivs (Zifonun, 2000, S. 39-40). 290 Mitglieder des Paradigmas, einerseits auf das gehören-Passiv, das der agensdezentrierenden, patienszentrierenden, vorgangsorientierenden Perspektivierung, dem sogenannten Patienspassiv, angehört, und andererseits auf das bekommen-Passiv, das Teil der agensdezentrierenden, rezipientenzentrierenden, vorgangsorientierenden Perspektivierung, des sogenannten Rezipientenpassivs, ist. 3. Zu Ausdrucksmitteln der agensdezentrierenden, vorgangsorientierenden Perspektivierung 3.1. Das prototypische Patienspassiv: Das werden-Passiv – die Zielkategorie Im Standarddeutschen kann das werden-Patienspassiv als Zielkategorie des Passiv-Paradigmas12 betrachtet werden. Ihm kommt sozusagen „Vorreiterfunktion“ hinsichtlich des morphosyntaktischen Aufbaus von vorgangsorientierten Konstruktionen im Rahmen des passivischen Konzepts zu, vgl. Im Spital wurde ihm ein Gegenmittel verabreicht. (Die ganze Woche 17/16, S. 60). Es gibt folgenden Merkmalskatalog vor: • die Passivmorphologie (Auxiliar + Partizip II); • den semantischen Prädikatsklassenwechsel, indem Vorgangsorientiertheit ausgedrückt wird; • den Ausbau des Inventars passivfähiger Verben: von transitiven über intransitive bis hin zu sich-Verben; • die Kodierung einer anderen semantischen Rolle im ranghöchsten Kasus, dem Subjekt, (Patienskodierung im Subjekt; ist dafür „keine“ Entität vorhanden, tritt das Pseudopatiens es auf); • die Agenstilgung bzw. -kodierung; wobei die Kodierung in der prototypischen (grammatikalisierten) von / durch-Phrase erfolgt, vgl. Im Spital wurde ihm vom diensthabenden Arzt ein Gegenmittel verabreicht; • das Beibehalten der syntaktischen Kodierung weiterer semantischer Rollen. Allerdings darf man auch das zentrale Passiv nicht als homogen betrachten. Die vertikale Zentralitätsabstufung beim werden-Passiv fördert auch hier periphere Konstruktionen zutage: z.B. Konstruktionen, die a) aufgrund des Eindringens in den Intransitivitätsbereich (Tätigkeitsverben) das Pseudopatiens es fordern: Es wurde bis in die frühen Morgenstunden gefeiert, gelacht und getanzt. b) c) den Experiencer im Subjekt kodieren Dennoch war Erin von Schuldgefühlen geplagt worden. (Lewin, 2006, S. 85) sich-Verben ins Inventar der passivfähigen Verben aufnehmen, vgl. 12 Zifonun (2000, S. 49) bezeichnet das werden-Passiv als „zentrales Passiv”. Die Grammatikalisierung des werdenPassivs zeichneten u.a. Eroms (1992), Kotin (2000), Nübling (2006), Szczepaniak (2009) nach. 291 Oft wird sich bei einer japanischen Hochzeit zwei-, dreimal umgezogen. (Vater, 1995, S. 187), Daran wird sich vielfach nicht gehalten. (Vater, 1995, S. 187), Es wurde sich lange gestritten, ob es im Deutschen ein Futur gibt. (Vater, 1995, S. 187), Es wurde sich um die alten Leute gekümmert. (Vater, 1995, S. 189);13 d) eine Zustandsperspektivierung zum Ausdruck bringen:14 Alle umliegenden Gebäude werden von dem Hochhaus überragt. Das Dorf wird durch den Bach in zwei Teile geteilt. 3.2. Eine Renovation: Das patienszentrierende gehören-Passiv Das prototypische werden-Passiv ist mit Modalverben kombinierbar. Untersuchungen zeigen allerdings, dass sich die Vorkommensrelationen der einzelnen Modalverben etwas von denen im Aktivsatz unterscheiden (im Vergleich dazu die Untersuchung zum generellen Modalverbvorkommen von Brünner/Redder, 1983): 13 Helbig (2004) bringt Beispiele sowohl für reflexive Verben als auch reflexive Konstruktionen, wobei die Akzeptabilitätsgrade natürlich noch stark voneinander abweichen, vgl. (alle Beispiele in Helbig 2004): reflexive Verben: Die Zahlen mussten sich gemerkt werden. Die Situation wurde sich (von dem Autor) nur erdacht. Es wurde sich des Nährwerts erinnert. Reflexive Konstruktionen: Es durfte sich eine Pause gegönnt werden. Es wurde sich von beiden Seiten nichts geschenkt. Da wurde sich angefeuert / unterhalten / verabschiedet. Da wurde sich gegenseitig in der Gruppe geholfen. Weniger akzeptiert wurden Sätze wie Es wurde sich dem Feind genähert oder Es wurde sich das Schlimmste gedacht (vgl. Helbig, 2004, S. 21-22). Dieses eigentlich reguläre werden-Passiv wird auch als Reflexiv-Passiv bezeichnet. 14 Zifonun/Hoffmann/Strecker weisen auf den Umstand hin, dass Verben wie z.B. bedecken, beleuchten, teilen, verbinden usw. „auch in der nicht-agentiven / nicht-kausativen Lesart ein werden-Passiv bilden. […] In solchen Fällen ist das werden-Passiv als Zustandsbezeichnung zu verstehen […]“ (Zifonun/Hoffmann/Strecker, 1997, S. 1798, Hervorhebung im Original). 292 Brinker (1971) insgesamt: 2358 Belege Szatmári (2000) insgesamt: 63 Belege15 Brünner/Redder (1983) insgesamt: 3624 Belege können 41,6% 30,2% 41,4% müssen 25,4% 25,4% 30,0% sollen 21,5% 28,5% 8,4% dürfen 7,8% 9,5% 2,8% mögen / möchten 1,0% - 1,3% wollen 1,3% 3,2% 12,0% (nicht) brauchen 1,4% 1,6% 2,8% soll … können 1,6% Im werden-Passiv kommt es unter Anderem bei deutlich weniger Sätzen zu einer Kombination mit wollen. Neben können sind müssen und sollen die Modalverben, die häufig im werden-Passiv aufscheinen. Dieses Ergebnis überrascht vor dem Hintergrund, dass sich mehr und mehr der Grammatikalisierungspfad zu einem modalen Passiv, das gerade die deontische Bedeutung von müssen und sollen ausdrückt, abzeichnet: die Herausbildung des gehören-Passivs. Gehören hatte anfänglich eine konkrete Bedeutung und war eigentlich eine Intensivform des Verbs hören,16 das im Sinne von ‚jmdn. anhören/erhören‘ („völliges hören, das sein ziel erreicht“ – DWb, S. 2504) zu verstehen war. Es zielte primär auf Personen ab und ist dann auf Sachen verallgemeinert worden. Über lexikalische Verschiebungen kam es dazu, dass es auf Verhältnisse im Rechts- und Gemeindeleben bezogen wurde, wo es um aufs Gericht gehören ging. Das bedeutete ‚sich dort zu einer bestimmten Zeit (auf den rechten Glockenschlag) einzufinden, um zu hören‘.17 Das Verb diente der Beschreibung eines Rechtsverhältnisses und eines Rechtsanspruchs und brachte in diesem Gebrauch die Pflicht des Erscheinens und Hörens (= Notwendigkeit) sowie das Vorhandensein von Rechten und deren 15 In Szatmári (2000) wurde ein 550 Belege umfassendes Korpus analysiert (die Belege entstammen Sachbüchern, Zeitungen und Zeitschriften, belletristischen Werken). Mit den Belegen wurden unterschiedliche Passiv-Arten (z.B. werden-, sein-, bekommen- / erhalten-Passiv) erfasst. Das werden-Passiv kam in 339 Sätzen vor, darunter waren 63 Sätze in Kombination mit einem Modalverb. 16 Den Grimms zufolge existiert diese Bedeutung landschaftlich noch bis hin zur Entstehungszeit des Wörterbuchs (1897). 17 Im DWb heißt es dazu u. a.: „die eingesessenen des gerichtsbezirks müssen sich zur abhaltung einfinden“ und zwar „auf den rechten glockenschlag“ (DWb, S. 2513, Hervorhebung im Original) und „die dingpflicht wird aber auch selbst bezeichnet als ‚das geding hören‘: welcher hofman hie soll sein und nit hie ist und das geding nit gehört hat (wird gestraft)“ (DWb, S. 2514, Hervorhebung im Original). 293 Ausübung im Rahmen einer zuständigen Institution (= Zuständigkeits-/Zugehörigkeitsrelation: Gericht) zum Ausdruck. Aus diesem Gebrauch mag sich die Verwendung ‚geziemen, gebühren, zukommen, zugestehen‘ entwickelt haben, denn die oben erwähnte Zuständigkeit impliziert den Aspekt, dass die Stelle, an der man die Angelegenheit vorträgt, die entsprechende Instanz für die Schlichtung einer schwierigen Angelegenheit, einer Rechtssache ist und es einzig ihr zusteht, in dieser Angelegenheit zu entscheiden.18 Diese metaphorische Übertragung fand auch den Weg in die Alltagssprache, um zu versprachlichen, was sich z.B. für bestimmte Personen bzw. in Bezug auf eine bestimmte Angelegenheit geziemt. Generell scheint das Agens ausgeblendet zu werden, auch wenn Agensnennung denkbar wäre: Der Text gehört von einem erfahrenen Schauspieler vorgelesen. Die Agenstilgung hängt vermutlich damit zusammen, dass der Sprecher – aufgrund eines angenommenen kollektiven Weltwissens – davon ausgehen kann, dass die für die Umsetzung seiner nachdrücklich ausgesprochenen Forderung zuständigen Instanzen / Personen allgemein bekannt sind; so denkt z.B. niemand bei folgendem Beleg an Selbstjustiz: […] denn diese baumlangen Dinger [Komposita – P.Sz.] sind wohl kaum echte Wörter, sondern bloße Aneinanderreihungen von Wörtern, und wer immer die Sache erfunden hat, gehört gehängt. (Twain, 2010, S. 63). Das gehören-Passiv ist sowohl im heutigen schriftlichen als auch mündlichen Gebrauch belegt, wobei im Subjekt ein belebtes, unbelebtes Patiens bzw. das Pseudopatiens es kodiert sein kann: Wer Hass predigt, dem gehört das Handwerk gelegt. (Kurier 15.07.2005, S. 5) 18 Das lexikalische Konzept ‚gebühren, zukommen, zugestehen, geziemen‘, das auf die „innerlichen“ Impulse in Bezug auf ein der Situation angemessenes Verhalten gerichtet ist, existiert im 16. Jahrhundert in außerordentlich variantenreichen Formen: a) es + Adjektivalergänzung: wie es wol gehöret; b) Ø + Dativ + zu + Infinitiv: mir zweifelt auch, ob dich zu fragen mir gehöre (Tscherning 1642, zit. n. DWb, S. 1025); c) Subjekt-belebt + zu + Infinitiv: nachtleuchten gehören vor den obersten zu tragen (DWb, S. 2524); so gehort der mahelring von dem brutgom der gesponsen zu geben (manuale curatorum, DWb, S. 2524); d) es + sich + Partizip II: dasz ein sach übel gethan oder anders dann sichs gehört gethan ... gleich auf eins ausgehe. Die semantische Verschiebung erlaubt eine verschiedenartige Besetzung der Subjektposition, die nicht mehr der Wahrnehmungsträger innehat. Die Subjektposition wird entweder mit dem wahrgenommenen Gegenstand (im weitesten Sinne des Wortes) besetzt, getilgt oder mit dem impersonalen es gefüllt. Für die Entwicklung zum Passivauxiliar waren vermutlich die unter c) und d) aufgelisteten Verwendungen wesentlich. So findet sich in Reis (1976, S. 70) der folgende Beleg: Das gehört (sich) schließlich auch einmal gesagt. Dabei nehme ich als eine Zwischenstufe das Auftreten des Reflexivums an. In Szatmári (2002) wird die Annahme dieser Zwischenstufe damit begründet, dass sich, diachron gesehen, im Indoeuropäischen der passivische Gebrauch aus dem medialen entwickelt hat (vgl. Welke 1997). Nach Welke (1997) handelt es sich bei der Reflexivierung ebenfalls um einen metaphorischen Prozess, bei dem ein metaphorischer Zusammenhang zwischen referentiellem und nicht-referentiellem Gebrauch des Reflexivums besteht. Es findet eine metaphorische Übertragung von Belebtem zu Nicht-Belebtem statt. 294 […] der ist so durchgeknallt, der gehört weggesperrt. (Hörbeleg, RTL 30.08.2005) Endlich gibt es auch ein Gesetz für die Bauern, dass sie ihre Katzen kastrieren lassen müssen. Es gehört streng kontrolliert und bei Nichteinhaltung bestraft. (Leserbrief, Die ganze Woche 17/16, S. 5) Hier gehört gründlich ausgemistet. (Reis, 1976, S. 70) Es gehört mal wieder gefegt. (Reis, 1976, S. 70) Die Konstruktion gehören + Partizip II besitzt der prototypischen Passivkonstruktion vergleichbare Merkmale. Sie ermöglicht dem Sprecher eine Umperspektivierung der außersprachlichen Wirklichkeit: Das Ereignis wird agensdezentriert, patienszentriert, vorgangsorientiert betrachtet, wobei sich im verbalen und nominalen Bereich die für das Passiv-Paradigma typischen morphosyntaktischen und semantischen Charakteristika zeigen: Passivmorphologie, Wechsel der Prädikatsklasse, Agensdezentrierung, Patienszentrierung.19 Das Verb kann als Auxiliarverb angesehen werden und die Konstruktion als gehören-Passiv in das Passiv-Paradigma eingeordnet werden, welches eine Umstrukturierung und Bereicherung erfuhr, indem sich dieses patienszentrierende modale (und damit sprachökonomische) Passiv herausbildete. Ein Vergleich mit dem Aktiv- bzw. werden-Passivsatz verdeutlicht die Zeitgleichheit der Konstruktionen: Das ganze System gehört reformiert. (NEWS 26/94, S. 46) – Man muss / müsste / soll / sollte das ganze System reformieren. – Das ganze System muss / müsste / soll / sollte reformiert werden. Außerdem ermöglicht es durch seine strukturelle Offenheit mindestens zwei Lesarten (‚sollen‘ / ‚müssen‘), die sogar noch weiter modifiziert werden können (‚sollten‘ / ‚müssten‘), so dass dem Sprecher / Rezipienten Raum für Interpretationsmöglichkeiten der außersprachlichen Situation gegeben wird. Dieses Passiv befindet sich noch inmitten seines Grammatikalisierungsprozesses, was seine überwiegende Verwendung im Präsens erklärt: Österreich gehört entnazifiziert. (Standard 04.11.99, S. 9); Dem Mann gehören die Adler abgenommen und ein Tierhalteverbot verhängt, dann wird für alle Zeit Ruhe sein. (Die ganze Woche 10/96, S. 3). Selten ist sein Vorkommen im Präteritum Da musste dringend Luft rein, der Filz gehörte rausgebürstet. (Moor, 52010, S. 232, es geht bei der Textpassage um die Befreiung einer Wiese von Moos) bzw. im Konjunktiv (ich deute diese Verwendung insofern als wichtigen Grammatikalisierungsmarker, als im Präsens durchaus die konjunktivische Bedeutung mit anklingt) […] und wie es geschrieben gehört hätte. (Greene, 1984, S. 164); […] und damit nicht doch der so oft prophezeite Zusammenprall der Zivilisationen kommt, gehörten auch die Hasspredigten westlicher Politiker beendet. (Kurier 15.07.2005, S. 5) 19 Die als Patiens (in meinem Kleinkorpus) vorkommenden Lexeme tragen die semantischen Merkmale [± human] (die Adler, Dr. Thoma ein unbescholtener Bürger, Unruhestifter) bzw. [± abstrakt] (diese Speise, das System, Dummheit, etwas, dieses Gesetz, Liebe, der Prozess). 295 Wie das werden-Passiv kann das gehören-Passiv subjektlos gebraucht werden, allerdings handelt es sich bei dem Beispiel um die intransitive Verwendung eines transitiven Handlungsverbs (ausmisten), vgl. Hier gehört gründlich ausgemistet. (Reis, 1976, S. 70) / Man mistet den Stall aus. – Der Stall wird ausgemistet. Der Stall gehört ausgemistet. / Man mistet hier aus. – Hier wird ausgemistet. Hier gehört ausgemistet. Die Auxiliarisierungsstufen lassen sich deutlich festmachen unter Anderem an der Distribution und am Desemantisierungsgrad (es besteht eine eindeutige Differenz gegenüber dem Vollverb). Das gehören-Passiv hat jedoch bei weitem nicht den Operationsbereich des zentralen Passivs erreicht. 3.3. Eine weitere Renovation: Das rezipientenzentrierende bekommen-Passiv20 Es sei hier auch daran erinnert, dass die „Erfolgsstory“ des werden-/sein-Passivs nicht immer gradlinig verlief und es durchaus gescheiterte Versuche der Umsetzung von Sprecherabsichten gab: Schiffbruch erlitt unter Anderem der Versuch, das Patienspassiv zur Zentrierung des Rezipienten zu verwenden, z.B. Da sind wir auf viel Jahre geholfen (Goethe), Sie werden auf den Zahn gefühlt werden (Holtei, 1860, Belege nach Behaghel, 1924, zit. n. Ágel, 2000a, S. 1863).21 Dies ist umso interessanter, als sich bereits zu dieser Zeit das sogenannte bekommen-Passiv eingebürgert hatte. Wie die folgenden Belege zeigen (alle zit. n. Eroms, 1978, S. 365), war das Rezipientenpassiv bereits im 19. Jahrhundert voll ausgebildet, vgl. Mehr speck und butter und eier kriegtest du in den tornister geschenkt, als ein Jäger geschenkt kriegt (Götz 1752). dasz man aufgesagt kriegt [den Dienst]. (um 1838) […] so muß man die Ursache darin suchen, daß sie dergleichen zu einer Zeit als Dogmen überliefert bekommen haben […] (nach Eroms ältester Beleg für auxiliares bekommen – 1823).22 Daß er von Lucinden noch nie auch nur die Hand gedrückt bekommen hätte (Gutzkow). Daß sie von den Andern doch nicht schneller geholfen bekamen (1849). Zum Schluß bekomme ich nach Neujahr wieder abgenommen, was ich zu Weihnachten erhalten habe. (1859) Sie erhielt den Aufenthalt gekündigt. (Gutzkow) Wo der Mensch irgend bedeutsame Leute überliefert erhalten hat. (W. Humboldt) 20 Außer Acht gelassen werden die Auxiliaralternationen kriegen und erhalten, wobei lediglich angemerkt sei, dass erste Belege mit dem Auxiliar kriegen gebildet wurden und es noch heute im mündlichen Gebrauch sehr vital ist. Auch für dieses Passiv finden sich in der Fachliteratur verschiedene Benennungen wie Dativpassiv, Adressatenpassiv. 21 Wenn die Telegate-Werbung also Verona Pooth für die Telefonauskunft „Da werden Sie geholfen!“ verkünden lässt, muss man feststellen, dass dieser populäre Werbespruch so neu eigentlich gar nicht ist. 22 Lenz (2007, S. 5) datiert den ältesten Beleg auf das Jahr 1625. 296 In der Konstruktion verbinden sich die Auxiliare sowohl mit transitiven wie auch intransitiven Verben. Die in der Konstruktion aufscheinenden Besitzrelationen reichen von der durch das Bekommen vorgegebenen Besitz-/Haben-Relation23 (belohnt kriegen, geschenkt bekommen) zu immer abstrakteren Besitz-/HabenRelationen ([Leute] überliefert bekommen / erhalten, geholfen bekommen) bzw. sogar zu deren Negation (aufgesagt kriegen, abgenommen bekommen, gekündigt erhalten). Das bekommen-Passiv zentriert die Entität, die in unterschiedlichen denotativsemantischen Varianten (u.a. als Experiencer, Nutznießer, Besitzer, Korrespondent, vgl. Wegener (1985, S. 128))24 auftritt, morphosyntaktisch im Aktivsatz als Dativ (sowohl als Dativergänzung als auch als sogenannter freier Dativ) realisiert wird und für die ich hier als Oberbegriff Rezipient verwende. Im bekommen-Passiv wird der Rezipient syntaktisch durch das Subjekt ausgedrückt. Da ein Pseudorezipient es nicht existiert, ist die Bildung eines sogenannten unpersönlichen Rezipientenpassivs nicht möglich (vgl. Pittner/Berman, 42010, S. 74). Das Agens kann auch beim bekommen-Passiv durch die von-Phrase angeschlossen werden, was einerseits eine strukturelle Analogie zum werden-Passiv herstellt und andererseits die Reanalyse als Genus verbi stützt: Sie bekam den Posten vom Arbeitsamt angeboten.25 Zahlreiche bekommen-Sätze sind durch eine strukturelle Offenheit gekennzeichnet, d.h. erst im gegebenen Diskurs kommt es zur Realisierung einer (intendierten) Lesart, ohne Kontext jedoch sind manchmal mehrere recht unterschiedliche Interpretationen möglich. So hat z.B. der Satz Sie bekommt den Aufsatz korrigiert. Drei denkbare Interpretationen, eine agentive, eine prädikative und eine passivische: Agentiv: Sie bekommt [[den Aufsatz] [korrigiert]]. Sie schafft es, den Aufsatz zu korrigieren. Prädikativ: Sie bekommt [den Aufsatz korrigiert]. Sie bekommt den Aufsatz in korrigierter Form. Passivisch: Sie bekommt [den Aufsatz] korrigiert. Ihr wird der Aufsatz korrigiert. 26 23 Die Vollverbverwendung bringt sowohl konkrete als auch abstrakte Haben-Relationen zum Ausdruck: Er bekommt ein Buch (einen Befehl/eine schallende Ohrfeige/billig einen Teppich) 24 Die Beispiele bei Wegener (1985, S. 128) lauten: Experiencer: Er bekam einen Schrecken eingejagt. Nutznießer: Wir kriegten die Gläser gewaschen, das Auto repariert. Geschädigter: Er bekam das Buch zerrissen, das Bein zerquetscht. Verlierer: Er bekam das Bein amputiert, den Führerschein entzogen. Besitzer: Sie kriegte die Schulden erlassen. Korrespondent: Er bekam Meyer vorgesetzt. Er bekam geantwortet, widersprochen. 25 Vereinzelt wird das Agens auch mithilfe der durch-Phrase ausgedrückt, wobei dann nicht selten die instrumentale Bedeutung mitschwingt. Weitere Realisierungsmöglichkeiten sind nach Eroms (1978) als- bzw. bei-Phrasen und nach Leirbukt (1997) „agentive Adverbien“, wie behördlicherseits, kirchlich; Präpositionalphrasen, wie von … her, seitens / von seiten. 26 Hentschel / Weydt (1995) z.B. erklären den Satz Der Herr bekommt seine Eier gerade serviert, der sich umformen 297 Die prädikative Lesart ist als Schnittstelle zur passivischen Lesart zu interpretieren. Eindeutig passivisch wird der Satz interpretiert, wenn eine Agensphrase hinzugefügt wird, vgl. Sie bekommt den Aufsatz von einem Muttersprachler / Lektor korrigiert. Auch beim bekommen-Passiv zeigen sich deutlich Grammatikalisierungsstufen, indem das Inventar der rezipientenpassivfähigen Verben ausgebaut wird (von Verben mit Edat/+belebt Eakk 27 über Verben mit Edat/-belebt Eakk zu Verben mit Edat/Afreier Dativ), dabei unterliegt bekommen einer immer stärkeren Desemantisierung, d.h. der Ausdruck der Haben-Relation geht verloren: Der Prototyp der Serie mit Wagennummer 3600III hatte zudem das Fahrgestell eines U3l-Wagens eingebaut bekommen. (https://de.wikipedia.org/wiki/BSt_ Bauart_U3l [23.05.2016]); Er bekommt eine Stelle angeboten; Wenn man auf der Straße „Rollmops“ hinter sich her gerufen bekommt. (Hörbeleg, ZDF) Lenz (2007) belegt sogar, dass Studenten im standardsprachlichen Kontext ein Verb verwenden, das die Fachliteratur bisher aus System-Redundanz-Gründen für unfähig gehalten hatte, dieses Passiv zu bilden, vgl. Er bekommt einen Blumentopf in die Hand gegeben. (Lenz, 2007, S. 10) Der voranschreitende Grammatikalisierungsprozess des Auxiliarverbs zeigt sich deutlich im kontinuierlichen Verblassen der Bedeutung und ist nach Zifonun (2000, S. 50) dann abgeschlossen, wenn „das bekommen-Passiv generell zur Promovierung obliquer Komplemente (≠ Kakk) eingesetzt werden könnte“. Die Konstruktion kann einen umfangreichen Operationsbereich aufweisen. Lediglich für Futur II fand sich in meinem Kleinkorpus (125 Belege) kein Beleg, vgl. Präteritum: Unter Kurt Schuschnigg bekamen sie einige der Vermögenswerte wieder rückerstattet. (Die ganze Woche 29/98, S. 33); Die Sonmi bekam den Helm angelegt; im selben Augenblick wurde mir be wusst, wie viele Türen die Zelle hatte. (Mitchell, 22012, S. 456) Perfekt: Keine Ahnung, was die dort gelehrt bekommen haben. (Köhlmeier, 42009. S. 294); […], wo sie vor vier Jahren schon einmal Geld entwendet bekommen haben. (Hörbeleg Sat 1, 28.10.2005) Plusquamperfekt: […] weil ihr die Jahre davonliefen, weil sie so oft gesagt bekommen hatte, daß sie schön war […] (Gstrein, 2003, S. 325) Futur I: Endlich werden Sie die Mittel in die Hand und die Wege geebnet bekommen, die notwendig sind, um ein lange geplantes Vorhaben in die Tat umzusetzen. (Sat 1 Teletext, 12.05.2006. S. 532); Eine solche Story werden wir wahrscheinlich in unserem lässt in Der Herr bekommt seine Eier. Sie werden gerade serviert. als den Gebrauchstyp dieses Passivs. 27 Dies hängt damit zusammen, dass die semantischen Kasusforderungen des Auxiliars und des Hauptverbs miteinander vereinbar sind, d.h. beim bekommen-Passiv erfolgt die Einbettung von Rezipient (Hauptverb) in Rezipient (Auxiliar). 298 Juristenleben nicht mehr geliefert bekommen. (Hörbeleg Sat 1, 07.02.2007); Entweder Cohn-Bendit wird von der Arbeiterklasse eine nützliche Arbeit zugewiesen bekommen, etwa in einer Fischmehlfabrik in Cuxhaven, oder er wird während der Revolution durch die Massen an den nächsten Baum befördert. (Köhlmeier, 42009, S. 137) Futur II. Konjunktivformen: Agnes Jónsdóttir. Sie klingt wie die Frau, die ich hätte sein sollen. Die Hausfrau eines Torfhofs mit Blick über das Tal und einem Mann an ihrer Seite und einer ganzen Kinderschar, die dabei hilft, im Abendlicht die Schafe nach Hause zu singen. Die von ihr lernen würde und Geistergeschichten erzählt bekäme. (Kent, 2015 [2014], S. 254); Jury schluckte, als hätte er selbst diese bittere Pille verpasst bekommen. (Grimes, 1987, S. 357) Kombination mit dem werden-Passiv: Ihre Kollegen waren unter Quarantäne gestellt worden und bekommen nun Antibiotika verordnet. (Kurier 22.06.98, S. 25) Modalverben28. wollen: „Ich will keine Vergnügungsreise nach London und Saint Thomas spendiert bekommen“, entgegnete Jane. (Gerritsen, 2014, S. 196); Ich war mir nicht sicher, ob ich meine Aura gezeigt bekom wollte, ebenso wenig, ob sie vor allen Passanten ausgebreitet werden sollte. (Berg, 12015/2013, S. 280) 28 Nach Leirbukt (1997) kookkurrieren mit dem bekommen-Passiv die Modalverben (MV) sollen, wollen, können, möcht-, müssen, für die MV mögen, dürfen und brauchen kann er lediglich konstruierte Beispiele anführen. Dabei lässt sich auch die epistemische Verwendung nachweisen. Ähnlich dem werden-Passiv zeigen sich beim bekommen-Passiv „Transformationsblockierungen“ (Leirbukt, 1997, S. 175), die mit Bedeutungsverschiebungen einhergehen. Auf das bekommen-Passiv bezogen treten sie (a) bei möcht-Formen (vgl. (1)), (b) bei volitivem wollen (vgl. (1)), (c) bei der Redewiedergabe mit wollen (vgl. (2)) und (d) tendenziell für können (vgl. (3)) auf (Beispiele zitiert nach Leirbukt, 1997, S. 175-176): (1a) Der Lehrer will / möchte es dem Jungen erklären. (1b) Der Junge will / möchte es vom Lehrer erklärt bekommen. (2a) Frau Maier will Frau Müller 50 Mark ausbezahlt haben. (2b) Frau Müller will von Frau Maier 50 Mark ausbezahlt bekommen haben. (3a) Das kann (,vermag’) sie den Kindern nicht erklären. (3b) Die Kinder können es von ihr nicht erklärt bekommen. Bei können zeigt sich die Bedeutungsverschiebung von ,Fähigkeit’ (vgl. (3a)) zu ,Möglichkeit’ (vgl. (3b)). Eine ausführliche Auseinandersetzung mit den bei der Transformation von Aktivsätzen mit MV in Passivsätze auftretenden Phänomenen gehöre nach Leirbukt (1997) in eine systematische Erfassung der syntaktischen und semantischen Eigenschaften der MV. Für das bekommen-Passiv mit lassen seien unterschiedliche Akzeptabilitätsgrade anzunehmen: In Aussagesätzen scheide lassen sowohl für die Lesart ,verursachen’ als auch für die Lesart ,zulassen’ aus (vgl. (4)). In Aufforderungssätzen dagegen finde sich „nicht so leicht eine alternative Ausdrucksweise […], die in der für diese Bildung vorstellbaren Kommunikationssituation (der Sprecher fordert jemand auf, das Erklären nicht zu verhindern) angemessen wäre” (Leirbukt, 1997, S. 177) (vgl. (5)). (4) *Wir lassen den Professor das Bein aboperiert bekommen. (Leirbukt, 1997, S. 176) (5) ?Laß doch den Jungen das erklärt bekommen! (Leirbukt, 1997, S. 177) 299 können: sollen: Ich wette, sie weiß, ob Jane Grey einen Ring geschenkt bekommen hat oder ob sie vielleicht einen Ring geschenkt bekommen haben könnte. (Internetrecherche) Die Frauen sollten offensichtlich gemeinsam wahrgesagt bekommen. (Grimes, 12011, S. 160) Nicht ungewöhnlich sind Kombinationen von werden- und bekommen-Passiv, vgl. Ich bekomme sie [Träume – P.Sz.] weder zugeteilt, noch werden sie zensiert. (Mitchell, 22012, S. 244); Ihre Kollegen waren unter Quarantäne gestellt worden und bekommen nun Antibiotika verordnet. (Kurier 22.6.98:25); Nachdem der Mann vom Tor losgemacht worden war und die Handschellen wieder angelegt bekommen hatte, starrte er ins Leere. (Kellerman, 2009, S. 395) 4. Fazit Auch wenn im Vergleich mit dem Aktiv Passivsätze mit etwa 7% ebenfalls zu peripheren Formen gehören, ist eine Beschäftigung in vielfacher Hinsicht erhellend. So geben sie z.B. Aufschluss über die Aktivitätsauffassung der Sprachgemeinschaft oder über die Suche der Sprachteilhaber nach immer adäquateren Versprachlichungsmöglichkeiten, die unter Anderem in Innovationen, Renovationen oder Analogiebildungen ihren Ausdruck finden. Das führt zur Herausbildung von merkmallosen (zentralen) Formen, um die sich merkmalhaftere (periphere) bündeln. Zentrale und periphere Passiv-Konstruktionen sind im Passiv-Paradigma in mehrfacher Hinsicht anzutreffen: Einerseits in der Horizontalen in Bezug auf die verschiedenen Passivtypen und andererseits in der Vertikalen, wenn man Passiv-Konstruktionen mit gleicher Passivmorphologie betrachtet. Verantwortlich dafür sind die kontinuierlich stattfindenden Grammatikalisierungsprozesse, die den Operationsbereich der einzelnen Konstruktionen ausweiten und auch zu neuen Reanalysen führen, deren Entwicklung ein spannendes Feld linguistischer Forschung darstellt. Schematisch zeigen sich gegenwärtig folgende Zusammenhänge im Passiv-Paradigma: 300 Passiv-Paradigma Agens-Dezentrierung mit Nicht-Agens-Zentrierung Patienszentrierung vorgangsorientiert zustandsorientiert [- Modalfaktor] [+ Modalfaktor] sein-Passiv29 bleiben-Passiv werden-Passiv kommen-Passiv geben-Passiv Rezipientenzentrierung vorgangsorientiert zustandsorientiert bekommen-/er- haben-Passiv halten-/kriegenPassiv gehören-Passiv Abstract The German passive paradigm is going through a process of change. A paradigm is carried by a general abstract categorical meaning, the so-called intended category (werden-passive). Within the scope of the grammaticalization processes the paradigm can be developed, so that new members become competitors or opponents of the intended category. Peripheral members of the paradigm (gehören-passive, bekommen-passive) are classified according to their semantic and morphosyntactic characteristics. Keywords passive paradigm, intended category, renovation (gehören-passive, bekommenpassive) 29 Die Zustandspassive (sein-, bleiben-, haben-Passiv) wie auch die Patienspassive in Regiolekten (kommen-, geben-Passiv) konnten im Beitrag aus Platzgründen nicht behandelt werden und seien hier lediglich durch Beispiele veranschaulicht: sein-Passiv: Die Bank ist frisch gestrichen. bleiben-Passiv: Auch nach den Wahlen blieb das Land von seiner Partei regiert. haben-Passiv: Sobald wir unsere Ergebnisse bestätigt haben, erfahren Sie es. (Hörbeleg, Vox, 20.04.2007); kommen-Passiv: Dam Kevin choma krat Hóór gwäscha. (‚Dem Kevin wird gerade das Haar gewaschen’, Bucheli Berger, 2005, S. 77) geben-Passiv: Er gibt gesucht. (im Moselfränkischen, Lenz, 2006, S. 13. 301 Quellenverzeichnis Azzopardi, Trezza (2011). Turmalin. Übers. von Monika Schmalz. Berlin: Bloomsbury Verlag. Berg, Eric (12015/2013). Das Nebelhaus. München: Blanvalet. Fischart, Johann (1963). Geschichtklitterung (Gargantua). 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Es ist eine nicht zahlreiche Gruppe, denn die Mehrheit der Anthroponyme bilden die Familiennamen ostslawischer Herkunft. Die Namen wurden mithilfe der kyrillischen Schrift geschrieben. Das ist einer der Gründe, warum es so schwierig war, eindeutig die Etymologie der Namen zu bestimmen. Außerdem gab es hybride Namen, die von der Koexistenz der Völker in Ostkujawien zeugen. Schlüsselwörter Anthroponymie, Familiennamen deutscher Herkunft, Kujawien, russischorthodoxe Gemeinden 1. Kongresspolen oder das Königreich Polen entstand im Jahre 1815 auf dem Wiener Kongress. Bis 1832 war es durch Personalunion mit dem Russischen Zarenreich verbunden, und später, nach dem Verlust der Selbstverwaltung, war Kongresspolen bis 1918 ein integraler Bestandteil Russlands. Zum Königreich Polen gehörte der Ostteil Kujawiens mit den Städten Włocławek und Aleksandrów Kujawski. Infolge der Geschichtsereignisse haben dort an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert außer Polen auch Deutsche, Russen und Juden gelebt. 1.1. In den russisch-orthodoxen Kirchenbüchern aus Ostkujawien treten vor allem Familiennamen ostslawischer Herkunft auf, aber es gibt auch einige deutsche Namen (oder Namen mit deutschen Elementen). In vielen Fällen ist es schwer, eindeutig zu bestimmen, ob die Familiennamen deutscher Herkunft sind und wenn ja, dann von welchem Wort sie abgeleitet sind. Der wichtigste Grund dafür ist, 307 dass die Familiennamen in den Kirchenbüchern mithilfe der kyrillischen Schrift geschrieben wurden. Es besteht oft das Problem, was für ein deutscher Familienname gemeint ist, denn es besteht das Problem der Wiedergabe der deutschen Buchstaben, vor allem der Umlautbuchstaben im kyrillischen Alphabet, z.B. werden sowohl ä als auch e und ö als е geschrieben, ü und i als kyrillisches и, und die Buchstaben g und h werden durch г wiedergegeben. Auch die Länge der Vokale wurde nicht bezeichnet. Deswegen ist es manchmal problematisch, die ursprüngliche Form zu erkennen. Das andere Problem sind Tintenflecken und auch der Schriftduktus, der in einigen Fällen unlesbar ist. Endlich soll man auch das Auftreten von Zweifelsfällen und deutsch-slawischen Mischformen (hybriden Formen) nennen. Manchmal kann der Name sowohl slawischer (polnischer oder russischer), als auch deutscher Herkunft sein. Und es kann auch so sein, dass ein Teil des Namens, z.B. der Stamm deutsch ist und die Affixe slawisch sind oder umgekehrt. In meinem Beitrag werden die Familiennamen deutscher Herkunft oder mit deutschen Elementen besprochen. 1.2. Man soll auch erwähnen, dass die hier besprochenen Familiennamen deutscher Herkunft sich in der Peripherie der Anthroponymie der russisch-orthodoxen Gemeinden in Ostkujawien (und im Dobriner Land) befinden (zirka 1% aller Familiennamen). Im Zentrum stehen selbstverständlich die Namen ostslawischer Herkunft. Außerdem gibt es Familiennamen polnischer Herkunft und, sehr selten, solche mit Elementen aus den Turksprachen. 1.3. Das gesammelte Material stammt aus den Kirchenbüchern von Aleksandrów Kujawski (A) und Włocławek (W) aus der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Sie werden im Staatsarchiv in Włocławek aufbewahrt. 2. Infolge der Analyse kann man einige Typen von Familiennamen nennen. 2.1. Die erste Gruppe bilden die Berufsnamen bzw. Standesnamen: Будде (A ) – Budde, Berufsübername zu mnd. budde ,offenes Fass, Bottich‘ für den Hersteller oder Benutzer (Kohlheim, 2011, S. 142); Веберъ (A) – Weber, Berufsname zu mhd. wëbœre ,Weber‘ für den Wollen-, Leinen- und Barchentweber (Kohlheim, 2011, S. 641); Гауптманъ (А) – Hauptmann, Amtsname zu mhd. houbetman ,der oberste Mann, Hauptperson einer Vereinigung, eines rechtlichen Verhältnisses; Anführer im Krieg‘ (Kohlheim, 2011, S. 281); Гофманъ (A) – Hoffmann, Standesname zu mhd. hoveman, mnd. hove(s)man, hofman ,der zu einem Hofe gehörige Bauer, der einem Hofe zu Diensten verpflichtet ist‘, ,der ein Gehöft bewohnende Bauer‘, ,Diener am Hofe eines Fürsten‘, fnhd. ,Bauer, der mit einem grundherrlichen Hof belehnt ist, Wirtschafter auf einem Gutshof ‘ (Kohlheim, 2011, S. 300); Дратковскiй (W) – das kann ein polonisierter Familienname sein, der mit dem 308 deutschen Wort Draht verbunden ist; Draht ist ein Berufsübername für den Drahtzieher oder Drahtschmied (Kohlheim, 2011, S. 178), vgl. auch den polnischen Familiennamen Dratkowski (Rymut I, 1999, S. 147); mit dem polnischen Suffix -sk-; Кесслеръ (A), Кеслеръ (A) – Kessler, Keßler, Berufsnamen zu mhd. keȥȥelœre ,Kesselschmied‘ (Kohlheim, 2011, S. 338); Кушнирукъ (A) – in dem russischen Anthroponomastikon gibt es eine Reihe von Namen, die, nach der Meinung von Unbegaun, jiddischer Herkunft sind, vgl. Кушнер, Кушнир, Кушниров, aus dt. Kürschner (Унбегаун, 1995, S. 262), nach Kohlheim ist das ein Berufsname zu mhd. kürsennœre, einem Lehnwort slawischen Ursprungs (Kohlheim, 2011, S. 372); der Familienname hat ein ostslawisches Suffix -uk; Маеръ (W) – Meyer, Maier, Meier, Standesname zu mhd. mei(g)er ,Oberbauer, der im Auftrag des Grundherrn die Aufsicht über die Bewirtschaftung der Güter führt, in dessen Namen die niedere Gerichtsbarkeit ausübt‘ (Kohlheim, 2011, S. 419); Маержакъ (A) – vielleicht ist dieser Familienname mit Маеръ verbunden, vgl. den polnischen Namen Majrzyk (Rymut, 2001, S. 56), mit dem polnischen Suffix -ak; Мейстеръ (A) – Meister, Maister, Standesname, Amtsname oder Übername zu mhd. meister ,Lehrer, Gelehrter, Künstler‘ (Kohlheim, 2011, S. 414); Рихтеръ (A) – Richter, Berufsname zu mhd. richtœre ,Lenker, Ordner, Oberherr, Richter‘ (Kohlheim, 2011, S. 496); Трабантовъ (A) – Berufsname zu dem im 15. Jahrhundert aus dem Tschechischen entlehnten Wort drabant ,Fußsoldat, Leibwache‘ (Kohlheim, 2011, S. 612), es ist ein hybrider Name, mit dem russischen Suffix -ov; Трабанцевъ (A) – wahrscheinlich wie oben, Suffix -ev; Фейлертъ (А) – Feilert, Berufsname zu mhd. vīle ,Feile‘ für den Feiler ,Hersteller von Metallfeilen‘ (Kohlheim, 2011, S. 214); Шмидке (A) – Ableitung von Schmied mit dem Suffix -ke, Berufsname zu mhd. smit, mnd. smit, smet ,Schmied‘ (Kohlheim, 2011, S. 539-540); Шрейдеръ (A) – Schröder, nach Kohlheim geht der Name in Norddeutschland auf mnd. schrōder, schrāder zurück und bedeutet den Schneider oder den Weinund Bierverlader. In Süddeutschland ist das eine Schreibvariante von Schröter, zu mhd. schrōtœre ,der Wein- und Bierfässer auf- und ablädt, sie in den Keller und aus demselben bringt‘ (Kohlheim, 2011, S. 549-550); Штирмеръ (А) – Stürmer, Standesname oder Übername zu mhd. stürmœre ,Kämpfer‘ (Kohlheim, 2011, S. 597); Шубертъ (W) – Schubert, Berufsname zu mhd. schuohwürhte ,Schumacher‘ (Kohlheim, 2011, S. 550); Шульцъ (A) – Schultz, Schulz, Amtsname zu mhd. schultz, einer zusammengezogenen Form von mhd. schultheiȥe ,der Verpflichtungen befiehlt, Richter, Schultheiß‘ (Kohlheim, 2011, S. 551). 2.2. Die zweite Gruppe bilden die von den Vornamen (Rufnamen) abgeleiteten Familiennamen: Артвигъ (А) – aus dem Rufnamen Hartwig, zu mhd. harti ,stark‘ + wīg ,kämpfen‘ entstandener Name (Kohlheim, 2011, S. 279, Rymut, 1999, S. 298); 309 Бурхартъ (А) – aus dem Rufnamen Burghard, Burkhardt (burg + harti) entstandener Familienname (Kohlheim, 2011, S. 145); Буsе (A) – von Busse, einer Koseform des Namens Burkhard (Kohlheim, 2011, S. 146); Вейхель (W) – aus dem Rufnamen Wiegold entstandener Familienname Weichel(t) ← Weichold ← Wiegold, wīg + walt (Kohlheim, 2011, S. 643, 657); Венцель (A) – Wenzel, von einer eingedeutschten Form des alttschechischen Rufnamens Venceslav (Kohlheim, 2011, S. 651); Владе (A) – wahrscheinlich von dem russischen Namen Влад, Влада (Суперанская, 2010, S. 80), eingedeutscht mit -e; Генертъ (W) – wahrscheinlich mit dem Namen Henne, einer verkürzten Form von Johannes verbunden (vgl. Kohlheim, 2011, S. 290); nach Rymut kann der Name mit dem Personennamen Haginher verbunden sein (Rymut, 1999, S. 302); Генке (A) – Henke, auf eine mit -k-Suffix gebildete Koseform von Heinrich zurückgehender Familienname (Kohlheim, 2011, S. 290); Генрихъ (A) – aus der russischen Form des deutschen Rufnamens Heinrich entstandener Familienname (Kohlheim, 2011, S. 286), russ. Генрих (Суперанская, 2010, S. 87); Генцель (A) – Hencel, Henzel, aus einer Form von Anselm oder Johannes (Rymut, 1999, S. 9), vgl. die Familiennamen Hensel von Hans und Henze von Heinrich (Kohlheim, 2011, S. 290-291); Дитманъ (А) – Diethmann, Ditmann, aus einer Erweiterung von Dieth mit dem Suffix -mann entstandener Familienname; Dieth ist eine Kurzform von Rufnamen, die mit Diet- beginnen (Kohlheim, 2011, S. 169, 172); Дитрихъ (A) – aus dem gleichlautenden Rufnamen Dietrich entstandener Name (Kohlheim, 2011, S. 169); Ентшъ (W) – Jentsch, Jentzsch, aus einer ostmitteldeutschen oder slawischen Form von Johannes entstandener Familienname (Kohlheim, 2011, S. 320); Литке (А) – von Lütke, einer mit k-Suffix gebildeten Koseform von Ludolf, Ludwig (Kohlheim, 2011, S. 397, 399); Литко (A) – wie oben; wenig wahrscheinlich ist der Zusammenhang mit dem ukrainischen литка ,Zwillingswadenmuskel‘ (Гринченко II, 1908, S. 363); Макельеонъ (A) – vielleicht mit dem deutschen Personennamen Makel verbunden, dieser von den Namen auf Mag-, vgl. die Familiennamen Makiela, Makieła und andere (Rymut II, 2001, S. 58); er kann auch mit dem deutschen Familiennamen Macke verbunden sein, der aus einer Kurzform der Rufnamen Markwardt oder Markhardt entstanden ist (Kohlheim, 2011, S. 400); Михельсонъ (A) – patronymische Bildung auf -son zu Michel, vgl. auch die Familiennamen Michels (starker Genitiv) und Michelsen (Kohlheim, 2011, S. 420); Ричертъ (A) – Richert, aus einer Form von Richard entstandener Familienname (Kohlheim, 2011, S. 496), vgl. auch den Vornamen Ричард (Суперанская, 2009, S. 270); Сиверсъ (A) – Sievers, auch Sieverts, patronymische Bildung (starker Genitiv) zu Sievert, einem durch r-Umsprung aus dem Rufnamen Siegfried entstandenen Familiennamen (Kohlheim, 2011, S. 568); 310 Фридрихъ (A) – Friedrich, aus einem gleichlautenden deutschen Vornamen (fridu + rīhhi) entstandener Familienname (Kohlheim, 2011, S. 231); Цильке (А) – Zielke, niederdeutscher, ,,aus der Erweiterung einer Kurzform des Heiligennamens Cyliax mit -k-Suffix hervorgegangener Familienname” (Kohlheim, 2011, S. 681); Эйзе (A) – Eise, wahrscheinlich aus dem alten Rufnamen Iso (īsan) gebildeter Familienname, vgl. Eis (Kohlheim, 2011, S. 194); Юргенсъ (А) – Jürgens, patronymische Bildung (starker Genitiv) zu Jürgen, einer niederdeutschen Form von Georg (Kohlheim, 2011, S. 325); Янке (А) – Janke, aus einer niederdeutschen Koseform von Jan (Johannes) hervorgegangener oder auf eine eindeutschende Schreibung von Janka zurückgehender Familienname (Kohlheim, 2011, S. 318); 2.3. Zur nächsten Gruppe gehören die von den Eigenschaften der Person abgeleiteten Familiennamen (Übernamen): Блюминъ (A) – ein Familienname jüdischer Herkunft, von dem jiddischen Wort ‫( בלום‬blum), von mhd. bluome ,Blume‘ (Kohlheim, 2011, S. 123; Унбегаун, 1995, S. 259); mit dem russischen Suffix -in; Гутманъ (A) – Guthmann, Gutmann, Guttmann, Übername zu mhd. guotman ,unbescholtener Mann, Ehrenmann‘ (Kohlheim, 2011, S. 268); nach Rymut kommt der Name von gut und Mann (Rymut, 1999, S. 286); Зинтарова (A) – vielleicht mit mhd. sinder, sinter ,Hammerschlag, Metallschlacke‘ verbunden (Kohlheim, 2011, S. 570), vgl. auch die polnischen Familiennamen Ziętara, Zientara (Rymut II, 2001, S. 571); mit dem russischen Suffix -ova; Лянге (W) – Lange, Übername zu mhd. lanc, mnd. lank ,lang‘ für einen großen Menschen (Kohlheim, 2011, S. 377); Мункъ (A) – Übername zu fnhd. munk ,Murrkopf ‘ oder zu fnhd. munk ,aufgetrieben, dick, breit‘ (Kohlheim, 2011, S. 429); nach der Meinung von Rymut kommt der Name vom deutschen Munck ,Nörgler‘ (Rymut II, 2001, S. 125); Нахтигаль (А) – Nachtigal(l), Übername für einen sangesfrohen Menschen oder Berufsübername für den Vogelfänger (Kohlheim, 2011, S. 431); Нейманъ (A) – Übername zu mhd. niuwe ,neu‘ und mhd. man ,Mann‘ für den ‚Neubürger, den neuen Ansiedler‘ (Kohlheim, 2011, S. 435); vgl. auch die polnischen Familiennamen Neuman, Neumann (Rymut II, 1999, S. 145); Прассель (A) – vielleicht mit der Form Prasse verwandt, einem Übernamen zu mnd. pras ,Lärm; Schmauserei‘ (Kohlheim, 2011, S. 471); Фрейгангъ (A) – Freigang, Übername zu mhd. vrī ,frei‘, ,unbekümmert, sorglos‘ und mhd. ganc ,Gang, Gangart‘ nach der charakteristischen Gangart des ersten Namenträgers (Kohlheim, 2011, S. 230). 2.4. Zur nächsten Gruppe gehören die Herkunfts- bzw. die Wohnstättennamen: Брауншвейгъ (A) – Herkunftsname zum Ortsnamen Braunschweig (Kohlheim, 2011, S. 135); Меиндорфъ (А) – Herkunftsname zum Ortsnamen Meindorf (URL 1); 311 Розенбергъ (A) – Herkunftsname zu dem Ortsnamen Rosenberg (Kohlheim, 2011, S. 507); Розенталь (A) – Herkunftsname zu dem Ortsnamen Rosenthal (Kohlheim, 2011, S. 508); Рыстоффъ (А) – wahrscheinlich Herkunftsname zu dem Ortsnamen Ristow (vgl. Kohlheim, 2011, S. 501); Шенфельдъ (A) – Herkunftsname zu den Ortsnamen Schönfeld, Schönefeld (Kohlheim, 2011, S. 545), vgl. auch den polnischen Familiennamen Szenefeld (Rymut II, 2001, S. 534); Шпицбергъ (A) – Herkunftsname zu dem Ortsnamen Spitzberg, vgl. auch den Inselnamen Spitsbergen; Штромъ (A) – Strohm, südwestdeutscher Wohnstättenname zu mhd. strām ,Strom, Strömung‘, ,Streifen‘ (Kohlheim, 2011, S. 595); Эльшъ (A) – Wohnstättenname zu Flurnamen Ölsch, Elsch (Kohlheim, 2011, S. 444); Эшнеръ (A) – Herkunftsname zu dem Ortsnamen Eschen oder Ableitung auf -ner zu Esch, dann Wohnstättenname zu mhd. esch(e) ,Esche‘ (Kohlheim, 2011, S. 205). Manche von diesen Familiennamen sind charakteristisch für die Anthroponymie der Juden, z.B. Rozenberg, Rozental (Abramowicz, 2010, S. 335). Eine besondere Art von Herkunftsnamen (und auch Wohnstättennamen) bilden nach der Meinung von Albert Heintze (Heintze, 1908, S. 59) die Adelsnamen, meistens mit dem Adelsprädikat von. Zu dieser Gruppe gehören solche Familiennamen: фонъ-Реинталь (A), Фонъ-Гоффербергъ (А), Гаффербергъ (А), фонъ-Гроте-де-Буко (A), фонъ Дерфельденъ (А), фонъ Реренъ (A), Раушъ фонъ Траубенбергъ (A). Das Adelsprädikat von gibt es auch von Handwerksnamen: фонъ Шредеръ (A) – von dem Beruf Schröder (Kohlheim, 2011, S. 549); фонъ Кремеръ (A) – von dem Beruf Kramer, Krämer, mhd. krāmœre, krōmer ,Krämer‘ (Kohlheim, 2011, S. 361). Zu dieser Gruppe gehört auch der Familienname Тизенгаузенъ (A) – ein Adelsname, der erste Teil von Thiesen – patronymische Bildung (schwacher Genitiv oder Ableitung auf -sen) zu Thies, einer verkürzten Form von Matthias (Kohlheim, 2011, S. 606); Rymut nennt den deutschen Personennamen Tießenhaus, von Matthias + Haus (Rymut II, 2001, S. 636). 2.5. Die größte Gruppe bilden die Familiennamen, bei denen mehrere Interpretationen möglich sind: Берманъ (A); es gibt einige Interpretationsmöglichkeiten: 1) Behrmann, a) Berufsname zu mnd. berman ,Biermann, Krüger, Wirt‘, b) aus einer mit dem Suffix -mann gebildeten Koseform von dem alten Rufnamen Bero entstandener Familienname (Kohlheim, 2011, S. 103); 312 2) Bärmann – Erweiterung von Bähr mit dem Suffix -mann (Kohlheim, 2011, S. 95): Bär: a) Übername für einen starken bzw. tapferen Menschen oder Hausname zu mhd. bër ‚Bär‘ (vgl. auch Унбегаун, 1995, S. 258), b) von der Kurzform eines mit Ber gebildeten Rufnamens, c) Übername zu mhd. bēr ‚Eber‘ (Kohlheim, 2011, S. 90); Бовдзей (A), Болдей (A) – diesen Namen kann man mit dem weißrussischen боўдзіла ,Dummkopf ‘ verbinden, vgl. auch den Familiennamen Боўда (Бірыла, 1969, S. 59), oder mit dem ukrainischen балда ,großes Beil‘, ,ungeschickte Frau‘ (Гринченко, 1907, S. 24); aber Kazimierz Rymut nennt die Familiennamen Bołda, Bołdziło und erklärt, dass sie auch von Bald kommen können, einer deutschen Form der Rufnamen Baldwin, Baldwig (Rymut I, 1999, S. 16); Брандтъ (W) – Brandt, 1) aus einer Kurzform von Rufnamen auf -brand, z.B. Hildebrand, entstandener Familienname, 2) Herkunfts- oder Wohnstättenname zum Orts- oder Flurnamen Brand (Kohlheim, 2011, S. 133); Браунъ (A) – Braun, 1) Übername zu mhd. brūn ,braun, dunkelfarbig‘ nach der Haar-, Haut- oder Augenfarbe bzw. nach der Kleidung, 2) von einer diphthongierten Form des Rufnamens Bruno (Kohlheim, 2011, S. 135); Буркацкая (А); vielleicht hat der Familienname einen Zusammenhang mit dem Rufnamen Burghard, siehe Burkacki (Rymut I, 1999, S. 63), nicht ausgeschlossen ist aber die ostslawische Herkunft, vgl. die weißrussischen Familiennamen Бурко, Бурчык, vielleicht vom Verb буркаць ,murren, undeutlich sprechen‘ (Бірыла, 1969, S. 69); Бусъ (A); aus einer Koseform Buss, Buß, von dem Namen Burkhard (Kohlheim, 2011, S. 146); vgl. auch die Familiennamen Bus, Busa (Rymut I, 1999, S. 64), oder vom russischen dialektalen бус ,Sprühregen‘ (Даль I, 1998, S.145); Вегертъ (A) – Wegert, Erweiterung von Weger mit sekundärem -t, also einem Herkunftsnamen zu den Ortsnamen Weg, Wega, oder eine Variante von Wager, Wäger, einem Amtsnamen zu mhd. wagener ,Wagner, Wagenmacher‘ (Kohlheim, 2011, S. 634, 642); Винклеръ (A) – Winkler, 1) Ableitung auf -er von Winkel, also von einem Wohnstättennamen zu mhd., mnd. winkel ,Winkel, Ecke‘ oder von einem Herkunftsnamen zu den Ortsnamen Wink(e)l, Winkeln, 2) niederdeutscher Berufsname für den Kleinhändler, den Inhaber eines Kramladens (Kohlheim, 2011, S. 662); Гаесъ (W) – 1) Geiss, Geiß – Übernamen zu mhd. geiȥ ,Ziege‘ für den Ziegenhirt (Kohlheim, 2011, S. 242); 2) Geis – aus Giso, einer Kurzform von Namen, die mit dem Namenwort gīsal gebildet sind, entstandener Familienname oder Schreibvariante von Geiss (Kohlheim, 2011, S. 241); Галлеръ (A) 1) Galler, a) patronymische Bildung auf -er zu dem Heiligennamen Gallus, b) Herkunftsname: aus St. Gallen bzw. aus Gall, Galla, Gallau, c) Übername für eine Person, die dem Kloster St. Gallen zinspflichtig war (Kohlheim, 2011, S. 237); Rymut weist auch auf das polnische Wort galera ,Galeere‘ hin (Rymut I, 1999, S. 214); 313 2) Haller, a) Ableitung auf -er von dem Herkunftsnamen Hall oder dem Herkunfts- und Wohnstättennamen Halle, b) Übername zu mhd. haller, heller ,die Münze Heller‘, c) Herkunftsname zu dem Ortsnamen Haller (Kohlheim, 2011, S. 274); Ганъ (A) 1) Hann, aus einer verkürzten Form des Namens Johannes entstandener Familienname (Kohlheim, 2011, S. 276); 2) Hahn, a) Übername zu mhd. han(e) ,Hahn‘ für einen stolzen Menschen, 2) von einer verkürzten Form des Vornamens Johannes, 3) Hausname, 4) Herkunftsname zu den Ortsnamen Hahn, Hain usw. (Kohlheim, 2011, S. 273); Гартiеръ (A) – Harter, wahrscheinlich Ableitung auf -er zu Hardt: 1) Wohnstättenname zu mhd., mnd. hart ,Wald, Trift‘, 2) Herkunftsname zu Ortsnamen wie Haard, Hardt und anderen (Kohlheim, 2011, S. 277-278); vielleicht ist aber der Familienname slawischer Herkunft, von gart-, z.B. polnisch dialektal ogartać ,aufräumen‘, oder russisch dialektal гарть ,Bleilegierung‘ (Даль I, 1998, S. 345); Гауеръ (А), Гауэръ (A) 1) Gauer, a) Standesname zu fnhd. gauer ,Landmann‘, b) Herkunftsname zu Ortsnamen Gauern, Gauers usw. (Kohlheim, 2011, S. 239); 2) Hauer – Berufsname zu mhd. houwer ,Hauer, Holzfäller, Rebhauer, Erzhauer im Bergwerk‘ oder zu mhd. höuwer, houwer ,Mäher‘ (Kohlheim, 2011, S. 280); Гейле (A), Геле (A) 1) Gehle, a) Übername zu mhd. gël, mnd. gēl ,gelb‘ nach der Haarfarbe, b) Herkunftsname zu dem Ortsnamen Geel, c) metronymischer Familienname zu Gele, einer niederdeutschen Kurzform von Gertrud (Kohlheim, 2011, S. 240); 2) Geile, vielleicht eine Form von Geil, Übername zu mhd. geil ,mutwillig, fröhlich‘, mnd. geil ,kräftig, munter‘ (Kohlheim, 2011, S. 241); 3) Heile, a) aus dem alten deutschen Rufnamen Heilo (heil) oder aus einer Koseform von Heinrich entstandener Familienname; b) Übername zu mhd. heil ,gesund, heil‘, mhd. heil ,Gesundheit, Glück‘ (Kohlheim, 2011, S. 285); 4) Hehle, vielleicht eine Form von Hehl, a) Übername zu mhd. hœle, verhohlen, verborgen; glatt, schlüpfrig‘, b) Übername zu mnd. hēl ,heil, gesund, genesen‘ (Kohlheim, 2011, S. 283); Гертъ (W) 1) Gert(h), aus einer durch Zusammenziehung entstandenen Kurzform von dem Rufnamen Gerhard hervorgegangener Familienname (Kohlheim, 2011, S. 246); 2) Herdt, a) Übername zu mhd. herte ,hart, grob, ausdauernd‘, mnd. hart, hert ,hart, fest‘ b) von einer Kurzform von Rufnamen, die mit dem Namenwort harti gebildet sind, z.B. Hertwig, c) Wohnstättenname 314 zu mhd. hërt ,Herd, Haus, Wohnung‘, mnd., mhd. hert ,Herd, Feuerstelle; Vogelherd‘ (Kohlheim, 2011, S. 292); Герчуновскiй (W); vielleicht kann dieser Familienname mit dem Personennamen Herz, Hertz verbunden sein; dieser vom Appellativum Herz, vgl. polnische Familiennamen Herczuszki, Herczyński (Rymut I, 1999, S. 303), es kann aber auch eine Ableitung von dem Namen Gerhard sein, vgl. z.B. Geers, Gehrs, Gerth (Kohlheim, 2011, S. 244, 246); mit dem Suffix -sk-; Гессъ (А) 1) Hess, Heß, a) Herkunftsname zu dem Stammesnamen der Hessen oder Übername für jemanden, der irgendwelche Beziehungen zu Hessen hatte, b) vom alten deutschen Rufnamen Hesso, dem der Stammesname zugrunde liegt, c) Herkunftsname zu dem Ortsnamen Hessen (Kohlheim, 2011, S. 294); 2) Hieß, wenig wahrscheinlich, aber auch möglich: von einer verkürzten Form des Rufnamens Matthias (Kohlheim, 2011, S. 296); Гиллеръ (A) – 1) Hiller, a) patronymische oder metronymische Bildung auf -er zu Hill(e), einer durch Assimilation entstandenen Variante von Hild, b) entrundete Form von Hüller, siehe unten (Kohlheim, 2011, S. 296-297); 2) Hüller, a) Berufsname zu mhd. hülle ,Mantel‘, mnd. hulle ,Kopfbedeckung, Mütze‘ für den Hersteller, b) Wohnstättenname zu mhd. hülwe, hüll ,Pfütze, Pfuhl, Sumpflache‘ für jemanden, der neben einer solchen Stelle wohnte, c) Herkunftsname zu dem Ortsnamen Hüls (Kohlheim, 2011, S. 309); 3) nach der Meinung von K. Rymut kann der Familienname mit dem Vornamen Hilary einen Zusammenhang haben, vgl. auch den polnischen Familiennamen Giller (Rymut I, 1999, S. 307); Глясенко (A); wahrscheinlich kommt der Name vom russischen гласить ,sprechen‘ (Даль I, 1998, S. 355), eventuell kann er mit dem deutschen Personennamen Glas verbunden sein, der vom Appellativum Glas kommt, vgl. den polnischen Familiennamen Glaseniak (Rymut I, 1999, S. 237); nach Kohlheim (2011, S. 249) ist Glas ein Berufsübername zu mhd. glas ,Glas, Trinkglas, Glasgefäß; Fensterscheibe, Spiegelglas‘ für den Glaser oder ein aus einer verkürzten Form von Nikolaus entstandener Familienname; mit dem für die ukrainische Anthroponymie typischen Suffix -enko; Грумондзъ (А), Грумондтъ (A); wahrscheinlich ist diese Form mit dem Personennamen Grum verbunden, dieser von mhd. grume ,großer Schmerz‘, vgl. die polnischen Familiennamen Gruman, Grumel (Rymut I, 1999, S. 272), oder mit dem polnischen Appellativum gromada ,Schar‘, vgl. den Namen Gromadza (Rymut I, 1999, S. 270); Дорнштейнъ (A) – Dornstein, den Namen sollte man mit den Appellativen Dorn und Stein verbinden; Dorn ist laut Kohlheim (2011, S. 176-177) ein Herkunfts-, ein Wohnstätten- oder ein Übername (für einen ,stacheligen‘ Menschen). Дорнштейнъ kann auch ein Herkunftsname sein; 315 Зайберъ (A); nach Rymut kann der Name einen Zusammenhang mit dem deutschen Personennamen Schauber haben, der vom Appellativum Schaub ,Strohbund‘ kommt, oder mit dem Namen Scheiber, dieser von mhd. Schiber ,Kegler‘, vgl. den Familiennamen Zajber (Rymut II, 2001, S. 518); es gibt einen Familiennamen Seibert, der aus einer jüngeren Form des Rufnamens Siegbert entstanden ist (Kohlheim, 2011, S. 559); Зингеръ (W); Berufsname oder Übername zu mhd. singære ,Sänger, lyrischer Dichter‘ oder Herkunftsname auf -er zu dem Ortsnamen Singen (Kohlheim, 2011, S. 570); Кейлингъ (A); der Name kann mit Kehl oder Keil verbunden sein: 1) Kehl – Herkunftsname zu dem gleichlautenden Ortsnamen oder Wohnstättennamen nach einem Flurnamen zu mhd. kël(e) ,Kehle, Hals‘, mnd. kele ,Kehle‘, 2) Keil – Übername zu mhd. kīl ,Keil, Pflock‘, fnhd. keil ,Keil, Grobian‘ (Kohlheim, 2011, S. 335), vgl. auch den Namen Kajlich, von den Namen auf Geil- (Rymut I, 1999, S. 366); Келеръ (A) – Keller, 1) Amtsname zu mhd. këller ,Kellermeister‘, 2) Wohnstättenname zu mhd. këller ,Keller, Kaufladen‘ für eine Person, die in einem Haus mit einem Keller wohnte, 3) Herkunftsname zu dem Ortsnamen Keller (Kohlheim, 2011, S. 336); es ist nicht ausgeschlossen, dass der Name mit dem deutschen Kehl verbunden ist, s. den Familiennamen Кейлингъ; Клейеръ (A); vielleicht mit Klei verbunden, einer verkürzten Form des Vornamens Nikolaus, oder mit Kleie: 1) Wohnstättenname zu mnd. klei ,die schwere, fette Erde der Marschen‘, 2) Herkunftsname zum Ortsnamen Kley (Kohlheim, 2011, S. 344); Кобро (A); wahrscheinlich eine Form von Kober: 1) Berufsname zu mhd. kober ,Korb, Tasche‘ für einen Korbmacher, 2) Übername zu mhd. kober ,eifrig, kampflustig‘ (Kohlheim, 2011, S. 351), vgl. auch die Namen Kober, Kobera, Kobier (Rymut I, 1999, S. 419), im Altpolnischen war das Wort kobierz ,Teppich‘ gebräuchlich (Rymut I, 1999, S. 419); der Name kann aber auch mit dem russischen dialektalen Wort кобрить ,verstecken, verbergen‘ verbunden sein (Даль II, 1998, S. 127); Кѣтура (A); nach Rymut stammt der Name von dem polnischen kieta ‘Kette’, vgl. den Familiennamen Kietura (Rymut I, 1999, S. 398); meiner Meinung nach ist das mit dem deutschen Wort Kette verbunden, obwohl es auch andere Möglichkeiten gibt, z.B. *Кетура, von russisch dialektal кетовать ,etwas mit den Händen reichen / übergeben‘ (Даль II, 1998, S. 106); Маубергъ (А); wahrscheinlich kommt der Name von einem Ortsnamen, vielleicht ist er auch mit den Worten Mau a) mhd., mnd. mouwe ,Ärmel‘, b) mhd. mūwe ,Beschwerde, Mühe, Last, Not‘ (Kohlheim, 2011, S. 410) und Berg verbunden; Мейоранъ (A); der Name kann von dem Namen der Pflanze kommen, z.B. deutsch Majoran, polnisch majeran, majoran, heute majeranek, vgl. die polnischen Familiennamen Majeron, Majoran, Mejran (Rymut II, 2001, S. 56), aber es ist nicht ausgeschlossen, dass das ein Standesname ist, von Meier; Ментель (A) – Mäntel, Mentel, eine Form von Mantel, Berufsname zu mhd., mnd. mantel, mandel ,Mantel als Kleidungsstück für Männer und Frauen oder für einen Schneider‘; weniger wahrscheinlich: Herkunftsname zu dem Ortsnamen 316 Mantel, Wohnstättenname zu mhd. mantel ,Föhre‘, ,wohnhaft an einem Föhrenwald‘ (Kohlheim, 2011, S. 405), vgl. auch den polnischen Familiennamen Mentel (Rymut II, 2001, S. 65); Минкельдей (А); wahrscheinlich Übername zu mnd. munkelen ,heimlich besprechen oder tun‘, mhd. munkel ,heimlicher Streich, vertrauliche Unterhaltung‘, vgl. Munkel, Münkel (Kohlheim, 2011, S. 429) oder Übername zu mhd. munkel ,Mücke‘ für einen lästigen Menschen (Kohlheim, 2011, S. 429); vielleicht auch mit Mink verbundener Name, der eine durch Entrundung entstandene Form von Münk ,Mönch‘ ist, oder mit dem Berufsnamen zu niedersorbisch młynik, obersorbisch młynk ,Müller‘ (Kohlheim, 2011, S. 422); der zweite Teil ist unklar; Пацеръ (A) – Patzer, patronymische Bildung auf -er zu Patz, einer Koseform des alten Rufnamens Pazzo, eventuell Herkunftsname zu dem Ortsnamen Patzau (Kohlheim, 2011, S. 455); nach Rymut kann der Name auch mit dem polnischen pacer ,Frechling‘ oder mit einer Form des Vornamens Paul verbunden sein (Rymut II, 2001, S. 195); Пульстъ (А); vielleicht 1) Herkunftsname zu Ortsnamen wie Puls, Pulsitz, 2) Berufsübername zu mnd. puls, mhd. phulse ,Stange mit einem Holzklotz, um Fische ins Netz zu treiben‘, 3) Berufsübername zu mnd. puls ,Aderschlag‘, übertragen ,das Anschlagen der Glocken‘ für einen Glöckner (Kohlheim, 2011, S. 474), vgl. auch polnisch puls ,Puls‘ (Rymut II, 2001, S. 321); Рамъ (A) 1) Rahm, a) Berufsübername zu mhd. ram(e), mnd. rame ,Rahmen zum Sticken, Weben, Bortenwirken‘ für den Hersteller oder Benutzer, b) Berufsübername zu mhd., mnd. rām ,Ruß, Metallstaub‘ für einen Kohler oder Schmied oder Übername für einen schwarzhaarigen Menschen, c) Berufsübername zu mhd. roum, rām, mnd. rōm ,Milchrahm‘ für den Käsemacher, 4) Herkunftsname zu dem Ortsnamen Rahm (Kohlheim, 2011, S. 479); 2) Ramm, a) Übername zu mhd. ram ,Widder, Schafbock‘, 2) Herkunftsname zu dem gleichlautenden Ortsnamen (Kohlheim, 2011, S. 480); 3) vielleicht slawischer Herkunft: von der Form eines russischen Vornamens Рам ← Абрам, Арам (Суперанская, 2010, S. 267) oder vom ram-, z.B. polnisch rama ,Rahmen‘ (Rymut II, 2001, S. 337); Редеръ (A) 1) Reder, a) von einer verschliffenen Form der alten deutschen Rufnamen Ratheri, Retheri, b) Berufsname zu mhd. rëder ,Mehlsieber, Mühlknecht‘, c) niederdeutscher Berufsname zu mnd. reder ,Ausrüster, Reeder‘, d) Übername oder Amtsname zu mhd. redœre, redenœre ,Redner, Schwätzer; Verteidiger‘ (Kohlheim, 2011, S. 485); 2) Räder, a) Berufsname zu mhd. rat ,Wagenrad‘ für den Hersteller, b) Herkunftsname zu den Ortsnamen Rade, Radevormwald, c) Übername zu mnd. rader ,Berater‘ (Kohlheim, 2011, S. 478); Реутъ (A); der Familienname kann russischer Herkunft sein: russisch veraltet реутъ ,Glocke‘ (Даль IV, 1998, S. 89), oder deutscher: Herkunftsname zu 317 Ortsnamen Reut, Reuth (Kohlheim, 2011, S. 495) oder von dem Wort Reute (Piprek, Ippoldt II, 1994, S. 316); Реутовъ (A); siehe oben Реутъ; mit dem russischen Suffix -ov; Риль (A) 1) Riehl, a) Herkunftsname zu dem gleichlautenden Ortsnamen, b) durch Entrundung entstandene Form von Rühl, s. unten (Kohlheim, 2011, S. 498); 2) Rill, a) ein aus Rudilo, einer Koseform von Rufnamen, die mit dem Namenwort hruod (z.B. Rudolf) gebildet sind, entstandener Familienname, b) Herkunftsname zu dem gleichlautenden Ortsnamen (Kohlheim, 2011, S. 499); 3) Rühl, a) aus einer Koseform von Rufnamen, die mit dem Namenwort hruod gebildet sind, entstandener Familienname, b) Herkunftsname zu dem gleichlautenden Ortsnamen (Kohlheim, 2011, S. 513); 4) möglich ist auch eine slawische Herkunft, z.B. von dem weißrussischen pыль ,Rüssel‘ (Бірыла, 1969, S. 357); Рындя (A); der Name kann sowohl slawischer als auch deutscher Herkunft sein, vgl. z.B. altrussisch рында ,Knappe‘, siehe auch den russischen Familiennamen Рындин (Унбегаун, 1995, S. 100), aber möglicherweise auch vom deutschen Rind, mhd. rint, vgl. die polnischen Familiennamen Ryńda, Ryndziak, Ryndzio (Rymut II, 2001, S. 378); Сигель (W) – Siegel, 1) von einer mit -l- Suffix gebildeten Koseform von Rufnamen, die das Namenwort sigu enthalten, z.B. Siegfried, 2) Berufsübername zu mhd. sigel ,Siegel, Stempel‘ für den Siegelhersteller oder für den Siegler von Waren (Kohlheim, 2011, S. 566); Сонисъ (А) – der Name kann russischer Herkunft sein, z.B. vom Rufnamen Сон ← Самсон; Соник ← Самсон, Ясон; Соно ← Самсон, Сасоний vorkommen (Суперанская, 2010, S. 296), vom russischen cонъ ,Schlaf ‘ (Даль IV, 1998, S. 270), russisch dialektal соня ,sibirisches Nagetier‘ (Даль IV, 1998, S. 270); er kann aber auch deutscher Herkunft sein, z.B. von Sohn, Schon-, vgl. auch die polnischen Familiennamen Sonia, Sonik u. a. (Rymut II, 2001, S. 462); Страухъ (A); 1) Wohnstättenname zu mhd. strūch ,Strauch, Gesträuch‘, 2) Herkunftsname zu dem gleichlautenden Ortsnamen (Kohlheim, 2011,S. 594); im polnischen Familiennamensystem gibt es die Formen Strauch, Sztrauch (Rymut II, 2001, S. 491); Тхоръ (W); vielleicht kann man den Namen mit dem deutschen Wort Tor oder mit dem Vornamen Thor verbinden, aber eine ostslawische Herkunft ist nicht ausgeschlossen, vgl. den weißrussischen Familiennamen Тхор (Бірыла, 1969, S. 419) von dem Appellativum тхор ,Iltis‘; im Ukrainischen тхір, тхора ,Iltis‘ (Гринченко IV, 1909, S. 298); Тышъ (A) – der Familienname kann slawischer Herkunft sein, z.B. vom russischen Rufnamen Тыш ← Мартын, Ортисий (Суперанская, 2010, S. 318); man kann aber nicht ausschließen, dass der Name deutscher Herkunft ist und z.B. von dem Wort Tisch herkommt; 318 Фаньковскiй (W); vielleicht mit dem ukrainischen Фанько, einer Form des Vornamens Агафангел (Трійняк, 2005, S. 20) oder mit der russischen Form Фанька verbunden, die von dem Namen Фаина abgeleitet wurde (Суперанская, 2010, S. 325); möglich sind auch andere Erklärungen: von dem Vornamen Stefan oder von einem deutschen Personennamen Pfan (Rymut II, 2001, S. 186), vielleicht mit deutsch Pfann(e) verbunden, dann ist das ein Berufsübername zu mhd. phanne ,Pfanne‘ für den Hersteller oder den Benutzer, oder ein Wohnstättenname ,wohnhaft an einem pfannenartigen Gelände‘ (Kohlheim, 2011, S. 461); die Polonisierung mit Hilfe des Suffixes -(ow)sk-; Фенглеръ (A), Финглеръ (A) – Fengler, 1) im deutsch-slawischen Kontaktgebiet Schlesiens entstandener Berufsname zu polnisch węgiel ,Kohle‘ für den Köhler, 2) Wohnstättenname zu dem im deutsch-slawischen Kontaktgebiet vorkommenden Flurnamen Fangel, 3) Herkunftsname zu dem Ortsnamen Wengeln (Kohlheim, 2011, S. 216); Фенъ (W); slawisch, vom russischen Rufnamen Фен ← Феона, Фенгон und anderen (Суреранская, 2010, S. 329), oder deutsch: Fenn, 1) Nebenform von Fehn, von mhd. vende ,Knabe; Fußkrieger; Bauer im Schachspiel‘, 2) eine Form von Venne, eines niederdeutschen Wohnstättennamens zu mnd. ven ,Sumpfland, Torfmoor‘ oder mnd. venne ,moorige Weide‘; bzw. Herkunftsname zu den Ortsnamen Venn, Venne (Kohlheim, 2011, S. 213, 216, 625); Фиксенъ (A); der Name slawischer Herkunft, vom polnischen umgangssprachlichen fiksować ,verrückt werden‘, lateinisch fixus ,stabil, unveränderlich‘ vgl. die polnischen Familiennamen Fiks, Fiksak (Rymut I, 1999, S. 193); oder deutscher Herkunft, vgl. die Namen Feix, Fix vom Rufnamen Veit(h) oder Amtsnamen zu mhd. voit, Verteidiger, Rechtsbeistand‘ (Kohlheim, 2011, S. 222, 625); Фрей (A) – Frei, 1) Standesname, der meist auf Freiheit von der Leibeigenschaft hindeutet, 2) Übername zu mhd. vrī, ,unbekümmert, sorglos, froh, ausgelassen‘ nach der Wesensart des ersten Namensträgers (Kohlheim, 2011, S. 229); vgl. auch die polnischen Familiennamen Frai, Frej, Frei (Rymut I, 1999, S. 200); Швабе (A); 1) Herkunftsname (Stammesname) zu mhd. Swāp, Swāb(e) ,Schwabe‘, 2) Übername für jemanden, der Beziehungen zu Schwaben hatte (Kohlheim, 2011, S. 553); Шваръ (A); der Name unklarer Herkunft, vielleicht slawischer, vgl. polnisch swar ,Streit; Lärm‘, s. den Familiennamen Szwar (Rymut II, 2001, S. 511), oder deutscher, mit mnd. swar ,schwer; gefährlich; bedrückt‘ verbunden (Kohlheim, 2011, S. 555); Шиллеръ (А) 1) Schiller, a) Übername zu mhd. schilhen, schillen ,schielen‘, mhd. schilher ,Schieler‘, b) nach Kohlheim kann der Name im niederdeutschen Raum auf eine verschliffene Form von mnd. schilder ,Schildmacher, Maler‘ zurückgehen (Kohlheim, 2011, S. 532); 2) Schüller, siehe unten den Namen Шуллеръ; 3) Szyller, den Namen kann man auch mit dem polnischen szyler ,schlechte Weinsorte‘ verbinden (Rymut II, 2001, S. 567); 319 Шпота (A) – vom altpolnischen szpot ,Knoten am Bein eines Pferdes‘ oder mit dem deutschen Personennamen Spott verbunden, dieser von mhd. spot ,Spott‘, vgl. auch die polnischen Familiennamen Szpot, Szpotak (Rymut II, 2001, S. 551); Шуллеръ (A) – Schuller, 1) Standesname oder Übername zu mhd. schuolœre, schüolœre, Schüler, Student‘, siehe auch den Familiennamen Schüller (Kohlheim, 2011, S. 551), 2) vom polnischen szuler, Betrüger‘ (Rymut II; 2001, S. 558). 3. In diesem Artikel habe ich das gesammelte Material in 5 Familiennamengruppen eingeteilt, aber eine genaue Zuordnung ist oft nicht möglich, denn viele Namen lassen sich nicht eindeutig klassifizieren. 3.1. In vielen Fällen kann der Familienname im Allgemeinen deutscher Herkunft sein, aber von verschiedenen deutschen Dialektformen und verschiedenen Stämmen abgeleitet werden. Die anderen Namen können sowohl als deutsche als auch als slawische bezeichnet werden; beide etymologischen Erklärungen sind möglich. Es gibt auch eine Reihe von so genannten hybriden Familiennamen, bei denen ein Teil (z.B. der Stamm) deutscher Herkunft ist und ein anderer (z.B. das Suffix) slawischer Herkunft ist. 3.2. Die Vielfalt der Familiennamen und die Probleme mit ihrer eindeutigen Klassifikation sind das Ergebnis der Geschichte des Gebietes von Ostkujawien, wo verschiedene Kulturen und Völker nebeneinander bestanden haben. Außerdem spielte die russische Verwaltung eine wichtige Rolle, weil deutsche Familiennamen mithilfe der kyrillischen Schrift geschrieben wurden. Das hat zur Folge, dass ein Teil der Familiennamen etymologisch unklar ist. 3.3 Alles in allem kann man zusammenfassen, dass bei der Familiennamenanalyse verschiedene sprachliche und außersprachliche Faktoren berücksichtigt werden sollten, z.B. die Sprachgeschichte, Mundarten, Sprachkontakte, die Geschichte des Staates. Abstract The object of this paper are the surnames of German origin in the registry books of orthodox parishes of East Cuyavia at the turn of 19th and 20th century. They are a small group, because the East Slavonic surnames dominate in the registry books. The surnames were written in the cyrillic alphabet, therefore it was difficult to specify without doubt the etymology of the names. Furthermore, there were also hybrid names, which are a symptom of the coexistence of East Cuyavia at the time. Keywords anthroponymy, surnames of German origin, Cuyavia region, Orthodox parishes 320 Quellenverzeichnis Archiwum Państwowe w Toruniu, Oddział we Włocławku: Akta Stanu Cywilnego Parafii Prawosławnej w Aleksandrowie Kujawskim (Nr. 17), Akta Stanu Cywilnego Parafii Prawosławnej we Włocławku (Nr. 1099). Literaturverzeichnis Abramowicz, Zofia (2010). Antroponimia Żydów białostockich. Białystok: Trans Humana. Duszyński-Karabasz, Henryk (im Druck). Nazwiska pochodzenia niemieckiego w księgach metrykalnych parafii prawosławnych ziemi dobrzyńskiej na przełomie XIX i XX wieku. In: Bielak, Marlena Iwona / Popescu, Teodora / Krawczak, Marcin (Hg.). Bridges and not Walls in the Field of Philology. Piła: Wydawnictwo Państwowej Wyższej Szkoły Zawodowej w Pile. Heintze, Albert (1908). Die deutschen Familiennamen geschichtlich, geographisch, sprachlich. Halle a. S.: Verlag der Buchhandlung des Waisenhauses. Kohlheim, Rosa und Volker (2011). Lexikon der Familiennamen. 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Трійняк, Іван Іванович (2005). Словник українських імен. Київ: Довіра. Унбегаун, Борис Оттокар (1995). Русские фамилии. Издание второе. Перевод с английского. Москва: Издательская группа Прогресс. Internetquellen URL 1: http://meindorf.net/, [10.08.2016]. 321 322 Zur Begrifflichkeit und sprachlichen Erfassung von ‚Herrschaft‘ als einer der zentralen konzeptuellen Domänen der historiographischen Werke des Mittelalters Vlastimil Brom Annotation Anhand ausgewählter vor allem deutschsprachiger historiographischer Texte des Hoch- und Spätmittelalters werden die Strategien der Versprachlichung von ‚Herrschaft‘ untersucht. Berücksichtigt werden einerseits die frühe volkssprachliche Produktion des 13. Jh.s (Sächsische Weltchronik), andererseits spätere Werke des 14.–15. Jh.s, die durch Provenienz in den böhmischen Ländern bzw. durch entsprechende thematische Ausrichtung gekennzeichnet sind, teilweise mit Einbeziehung von anderssprachigen Vorlagen oder Parallelfassungen (Textkomplexe der Dalimil-Chronik (mit dem vorangestellten annalistischen Abriss), Pulkava-Chronik und Vita Caroli). Dadurch wird die zentrale Rolle von ‚Herrschaft‘ in dieser Gattung dargelegt, wobei zugleich der Einsatz relativ unterschiedlicher sprachlich-formulatorischer Mittel beobachtet werden kann. Schlüsselwörter Historiographie, Mittelalter, historische Semantik, Herrschaft, Sprache der Politik 1. Stellenwert von ‚Herrschaft‘ in den historiographischen Werken Die inhaltlichen Bereiche der Herrschaft und Machtausübung gehören aus nahe liegenden Gründen zu zentralen thematischen Feldern der auf die politische Entwicklung konzentrierten Geschichtsschreibung. Für die Epoche des Mittelalters und teilweise der Frühen Neuzeit ist dies insbesondere in den Textgattungen mit einer größeren Spannbreite der erfassten Geschichte deutlich, z.B. in Welt- oder Landeschroniken, oder aber in konkreten Darstellungen der einzelnen Herrscherfiguren. Die sprachliche Ausformulierung, Stilisierung sowie ideologische Perspektivierung bzw. Akzentuierung variiert in den einzelnen Werken beträchtlich, wie es bei den unterschiedlichen Entstehungsbedingungen, den spezifischen Aufträgen und gewiss auch den individuellen Kompetenzen der Autoren kaum anders zu erwarten ist. 323 2. Quellengrundlage In der aktuellen Forschung erfuhr unter anderem ein „Paradebeispiel“ der frühen deutschsprachigen Universalchronistik Aufmerksamkeit – Meike Pfefferkorn hat die Sächsische Weltchronik spezifisch im Hinblick auf die Versprachlichung der Herrschaft analysiert (Pfefferkorn, 2014). Es bietet sich hier eine Art Kontrastdarstellung an, bei der etwas spätere historiographische Werke böhmischer Provenienz zum Vergleich herangezogen würden; diese stammen aus dem 14. bzw. 15. Jh. und wurden zumindest ansatzweise mit ähnlichen Fragestellungen untersucht (vgl. Brom, 2015, S. 53-58). Es handelt sich zuerst um die Alttschechische Reimchronik des so genannten Dalimil (Daňhelka et al. (Hg.), 1988) mit ihrer deutschen Reimübersetzung, die sogenannte Tutsch kronik von Behem lant, überliefert zusammen mit knappen historischen Annalen, dem sogenannten Abriss (vgl. Brom (Hg.), 2009); von der Dalimil-Chronik ist auch eine fragmentarische lateinische Prosa-Übersetzung bekannt und darüber hinaus eine weitere eigenständige Übersetzung ins Deutsche in Prosa (Jireček (Hg.), 1878). Ferner geht es um die lateinische Pulkava-Chronik (Emler und Gebauer (Hg.), 1893; Blaschka (Hg.), 1934), konzipiert als eine offizielle chronikalische Darstellung der böhmischen Herrschaftsdomäne Karls IV. Dieses zunächst vielfach umgearbeitete und relativ breit überlieferte Werk erfuhr eine wahrscheinlich zeitgenössische Übersetzung ins Alttschechische und zwei voneinander unabhängige Übersetzungen ins Deutsche (vgl. Brom (Hg.), 2011; Brom, 2010, S. 7-9).1 Trotz gattungsgeschichtlicher Spezifika und komplexer Gattungszugehörigkeit (vgl. Völkel, 2006, S. 120-123) und entsprechender viel engerer zeitlicher Abgrenzung der Darstellung wird diesen Chroniken noch die Autobiographie Karls IV. Vita Caroli zur Seite gestellt (Emler (Hg.), 1882; vgl. Brom, 2012, S. 271), die im Hinblick auf Entstehungsbedingungen, Inhalt, die ideologische Ausprägung und nicht zuletzt auch die Überlieferungsumstände eng mit der Pulkava-Chronik zusammenhängt (vgl. Bláhová, 2016, S. 72). 3. Gemeinsame Merkmale und Eigentümlichkeiten der Werke im Hinblick auf die Forschungsfrage Bei dem angestrebten exemplarischen Vergleich dieser Texte mit der deutlich früheren und auch geographisch etwas entfernten Sächsischen Weltchronik, die gerade im Hinblick auf die Problematik der Herrschaft untersucht wurde 1 Hier wird die vollständig überlieferte deutsche Übersetzung in der bairischen Fassung benutzt (Hs. Cgm 1112 der Bayerischen Staatsbibliothek München), in der früher besorgten Online-Transkription (Brom, 2011). 324 (Pfefferkorn, 2014), gilt es zunächst die Vergleichsgrundlage und die Relevanz der bestehenden Gemeinsamkeiten bzw. Parallelen und Unterschiede abzuwägen. Gemeinsam ist den genannten Chroniken die längere erfasste Zeitspanne der dargestellten Geschichte (von den biblischen Ursprüngen – Schöpfung der Welt bzw. die biblische Sintflut – bis hin zur jeweiligen Gegenwart oder nahen Vergangenheit vor der Abfassungszeit) und ferner die Akzentuierung der politischen Gegebenheiten – in landes- bzw. reichsweiter Perspektive. Zu bemerken ist eine allgemeine stufenweise Verlagerung der Schwerpunkte von den Konzepten der Universal- bzw. Reichsgeschichte zur historiographischen Darstellung des „unmittelbaren Lebensraumes“ (Janota, 2004, S. 245), wie etwa des Landes, der Stadt, des Klosters usw. (vgl. auch Pfefferkorn, 2014, S. 39) Die literarische Form der Werke ist unterschiedlich: Die ältere deutsche Dalimil-Übersetzung und die mit ihr zusammenhängenden Annalen sind gereimt, die restlichen untersuchten Texte sind in Prosa-Form (einschließlich der jüngeren Dalimil-Verdeutschung). Auch diese Verteilung entspricht dem zeitgenössischen Aufstieg der Prosachronistik (Janota, 2004, S. 391) auf Kosten der Reimwerke. Der Unterschied in der üblichen Gattungsdifferenzierung (Universal- bzw. Welt- vs. Landeschronik) sollte für die gewählte Perspektive wohl nicht überschätzt werden; die primäre Aufmerksamkeit der Chronisten gilt selbst bei der Universalchronik im Hinblick auf die konkreten politischen Verhältnisse den engeren Herrschaftsgebieten der römischen Könige bzw. Kaiser. Es ist hier jedoch eine viel komplexere Einrahmung in die antiken bzw. biblischen Traditionen sowie die Einbettung in den heilsgeschichtlichen Kontext zu verzeichnen (Pfefferkorn, 2014, S. 16). Die Vita Caroli zeigt naturgemäß eine engere erfasste Zeitspanne (junge Jahre des Herrschers bis zu seiner (ersten) Krönung zum römischen König 1346). Neben den stark akzentuierten politischen Aspekten (in den biographischen und historischen Angaben, aber auch in manchen den Fürstenspiegeln nahen Abschnitten) gibt es auch andere Dimensionen des Werkes. Vor allem sind es religiös geprägte Passagen, die Homiletik bzw. Visionen und Reflexionen enthalten. Einige Kapitel sowie kürzere Teile mit dieser Ausrichtung wurden jedoch in der deutschen Übersetzung weggelassen, wodurch die historisch-politische Akzentuierung verdeutlicht wurde; jedenfalls galt das für die einzige bekannte handschriftliche Quelle, die jetzt verlorene Hs. R 304 der Stadtbibliothek Breslau (heute Universitätsbibliothek Wrocław), in der die deutsche Fassung der Autobiographie als Fortsetzung der Pulkava-Chronik (in ihrer ostmitteldeutschen Übersetzung) aufgeschrieben wurde (vgl. Bláhová, 2016, S. 72). 325 3.1. Aspekte der Übersetzung Eine gewissermaßen ambivalente Frage stellt die Unterscheidung nach inhaltlicher bzw. formulatorischer Originalität dar, d.h. zwischen mehr oder weniger eigenständig konzipierten Werken und Kompilationen bzw. Übersetzungen unterschiedlicher Art. Da die faktographischen Angaben historischer Natur generell auf frühere Quellen zurückgehen, ist der kompilative Charakter für manche mittelalterliche Chroniken charakteristisch, vor allem wo gleichartige Quellen verwertet wurden (etwa ältere Chroniken, Annalen, u.ä.). Die behandelten deutschen Fassungen der böhmischen historiographischen Werke lassen sich ohne Weiteres als Übersetzungen bezeichnen; sie weisen nur minimale inhaltlich relevante Erweiterungen oder Änderungen auf, die auf andere Wurzeln als die Originalwerke zurückzuführen wären. Es können hingegen stellenweise Modifikationen in der Akzentuierung, Wertung oder formalen Gestaltung sowie einige Auslassungen identifiziert werden, die auf individuelle bzw. durch Auftrag oder das anzunehmende Zielpublikum bedingte Intentionen der Übersetzer schließen lassen. Die Sächsische Weltchronik wird hingegen als selbstständiges Werk betrachtet; sie ist in ihrer Konzeption sowie ihrer formulatorischen Gestaltung viel eigenständiger, obwohl natürlich auch hier Vorlagen bzw. Quellen nachgewiesen sind (s.u.). Im Weiteren wird jedenfalls von der Prämisse ausgegangen, dass auch die Übersetzungswerke von den meisten Benutzern als eigenständige Texte wahrgenommen werden, so dass diese als Quellen für allgemeine, rezipientenorientierte Fragestellungen dienen können. Eine bewusste Bezugnahme auf Originalvorlagen neben Übersetzungen ist hingegen bei der primären Textverwendung eher als eine Ausnahme anzusehen; solche mehrsprachigen Textkomplexe stellen dabei wertvolle Quellen für die auf die Textproduktion ausgerichteten Untersuchungen dar, z.B. auf die (zeitgenössisch wahrgenommenen) zwischensprachlichen Äquivalenzen. 4. ‚Herrschaft‘ in der Sächsischen Weltchronik Die Sächsische Weltchronik gilt als die erste deutschsprachige Prosaweltchronik, sie ist wahrscheinlich um 1225 entstanden; ihre unmittelbaren Fortsetzungen und Umarbeitungen reichen bis in die 1260er Jahre (unterschieden werden dabei 6 Rezensionen). Die Form und Struktur des Werkes entspricht weitgehend der Tradition der lateinischen Universalchronistik (Pfefferkorn, 2014, S. 14-15). Als primäre Quellen gelten die lateinische Weltchronik Frutolfs von Michelsberg in der Bearbeitung Ekkehards von Aura und ferner die Pöhlder Annalen (Pfefferkorn, 2014, S. 37-40). 326 Im Bereich der Herrschaft ist die Sächsische Weltchronik durch einen gewissermaßen erhöhten Abstraktionsgrad geprägt, wobei nominale Wendungen den geradlinigen verbalen Formulierungen vorgezogen werden. Pfefferkorn spricht hier zutreffend vom „Verschwinden“ des Verbs (in diesem Sachbereich) im Gegensatz zur lateinischen Ausgangssprache: „Aus dem Lateinischen ist uns die morphologische Trias rex – regnum – regere für den Herrschaftsbereich vertraut. Eine entsprechende, auf demselben Lexem basierende Gruppe für das Mittelhochdeutsche stellt herscher – herschaft – herschen dar. Ein Blick in die Texte zeigt jedoch bald, dass hieraus nur herschaft sichtbar genutzt wird. Die anderen beiden Vokabeln finden kaum Verwendung, es gibt auch kein Ersatzverb. Kurz gesagt: Das Verb verschwindet. Soziolinguistisch ist besonders interessant, dass […] grundsätzlich ein Verb aus dem Wortfeld ‚Herrschaft‘ zur Verfügung stünde, nämlich richesen. Allerdings wird dieses Verb nicht benutzt. Hier zeigt sich das Phänomen, dass eine Vokabel lexikalisch greifbar ist, aber nicht zum Einsatz kommt, sondern sprachlich anders verfahren wird.“ (Pfefferkorn, 2014, S. 13). Mit diesem Merkmal hängt auch die relativ hohe Gebrauchshäufigkeit und die semantische Differenziertheit von rike (rîche) zusammen, das in der Weltchronik zu einem zentralen herrschaftspolitischen Terminus wird: „Rike ist nicht nur ein politischer Terminus, mit dem Herrschaft versprachlicht wird, sondern auch signifikant dafür, dass in der S[ächsischen] W[eltchronik] Herrschaft nicht in der Person des Königs verkörpert wird, sondern als abstraktes, personifiziertes, und in gewisser Weise institutionalisiertes Subjekt, dem der Herrscher als zentraler Handlungsträger zugeordnet ist.“ (Pfefferkorn, 2014, S. 21-214). Insgesamt haben sich aus den Analysen von Pfefferkorn vier bzw. fünf Typen von rike ergeben: „rike, romisch rike, kunichrike, die personalen rike und das rike ze rom […]. Allen gemeinsam ist ein Grundbestand an Elementen, die zu rike gehören, wie Raum, Herrscher und eine Gruppe von Personen […]“ (Pfefferkorn, 2014, S. 213). Aus diesem Spektrum sind insbesondere die abstrakten bzw. personifizierten Verwendungsweisen von rike (ohne nähere Kennzeichnung) als Subjekt interessant; anhand von diesen Wendungen ließe sich ggf. auf ein abstraktes, nicht ausschließlich personengebundenes Verständnis von Herrschaft schließen; vgl.: „Bl. 30v also verdarp daz rike an disem augustulo.“ (Pfefferkorn, 2014, S. 106, Anm. 442) „Bl. 10v [...] also zergie daz rike der Persar und chom uf daz rike der 327 chriechen.“ (Pfefferkorn, 2014, S. 106, Anm. 443) „475 Bl. 52r Disiu missehellunge under den herren waz groz do von wart genideret romisch rike harte ser also daz ez sich nimmer mer erholen mohte.“ (Pfefferkorn, 2014, S. 110, Anm. 475)2 Obwohl es sich hier um eine Art ersten Vorstoß im Bereich der deutschsprachigen Historiographie in der Prosa-Form handelt (im Unterschied zu den höfischen Reimchroniken, der Kaiserchronik, der Chronik Rudolfs von Ems oder der späteren monumentalen Steirischen Reimchronik Ottokars aus der Gaal und anderen), fällt in der Sächsischen Weltchronik ihre prägnante Ausdrucksweise auf, und in einigen Aspekten auch eine elaborierte begrifflich-formulatorische Gestaltung (wobei dies jedoch nicht zu vergleichen ist etwa mit der komplexen geschichtstheologischen Grundlegung und ideologischen Raffiniertheit der lateinischen Chronik Ottos von Freising ungefähr aus der Mitte des 12. Jh. (vgl. Völkel, 2006, S. 129; Pfefferkorn, 2014, S. 39)). 5. ‚Herrschaft‘ in ausgewählten böhmischen historiographischen Texten der Luxemburgerzeit Die knapp vorgestellten charakteristischen Merkmale der Sächsischen Weltchronik im Hinblick auf die Versprachlichung von Herrschaft werden in weiteren Überlegungen als eine Art Folie zum illustrativen Vergleich der Erfassung und Repräsentation dieses Bereichs in den eingangs vorgestellten historiographischen Werken des 14. bzw. 15. Jh.s aus dem böhmischen Raum herangezogen. 5.1. Die Mittelhochdeutsche Begriffsdatenbank (MhdBDB) Für die semantische Auswertung der deutschen Texte wird im Anschluss an frühere Arbeiten auf die Mittelhochdeutsche Begriffsdatenbank (MhdBDB in URL 1) zurückgegriffen; die deutschen Fassungen der betreffenden böhmischen Chroniken und der Autobiographie stehen nach der notwendigen Erfassung einschließlich Lemmatisierung und Disambiguierung in der Datenbank zur Verfügung.3 Nach einer Identifizierung von dominanten semantischen Bereichen in der untersuchten Perspektive (vgl. Brom, 2015, S. 53-58) wird jetzt vor allem eine punktuelle Analyse von konkreten Bezeichnungen und Wendungen angestrebt. 2 Alle Belege werden nach Pfefferkorn (2014, S. 106, 110) zitiert, einschließlich der Angaben zu handschriftlichen Folioseiten. 3 Die zugeordneten Siglen der deutschen Texte: TKR – Gereimte deutsche Übersetzung der Dalimil-Chronik (Tutsch kronik von Behem lant), TKA – Abriss (Annalen vor der TKR), PUC – Pulkava-Chronik (deutsche Übersetzung; bairische Fassung); VTC – Vita Caroli (deutsch); falls nicht anders angemerkt, stammen sämtliche weiter angeführten quantitativen Angaben zur Lexik und Semantik der untersuchten Texte aus der MhdBDB (Stand 30. 6. 2016; MhdBDB in URL 1). 328 Die Einheiten der semantischen Klassifizierung (MhdBDB – Begriffssystem in URL 2) und somit faktisch auch der Bedeutungsbeschreibung in der Mittelhochdeutschen Begriffsdatenbank stellen sogenannte Begriffskategorien dar. Das Gliederungsschema ist vergleichbar mit traditionellen, nach Sachgruppen geordneten Thesauri, inspiriert durch Rogets Thesaurus (1852, vgl. Springeth, 2009, S. 194); primär herangezogen wurde das Begriffssystem von Hallig – Wartburg (1963; vgl. Schmidt, 1988, S. 40; Schmidt, 1993, S. VIII). Von besonderer Bedeutung sind jedoch die Erweiterungen, Modifikationen und Verfeinerungen, die im Zusammenhang mit der Erfassung von den einzelnen Texten vorgenommen wurden und werden. Durch diese Flexibilität wird eine adäquate Repräsentation auch bei Sachbereichen möglich, die erst mit neu aufgenommenen Texten erschlossen werden (Schmidt, 1980, S. VII). Zu thematisieren ist hier auch der Status der Begriffskategorien in der MhdBDB (MhdBDB – Begriffssystem 2016); an und für sich handelt es sich meist um die Abgrenzung von Sachgebieten im weiteren Sinne4 mittels Allgemeinbezeichnungen oder Beschreibungen (und zugeordneter numerischer Werte), die zur semantischen Strukturierung des Wortschatzes benutzt werden. Dabei haben diese Einheiten in ihrer Anwendung in der Datenbank manche Eigenschaften mit Semen gemeinsam, und sie lassen sich so auch für eine differenzierte Beschreibung der Bedeutung benutzen. Eine maßgebliche Rolle spielt dabei die vorhandene Kombinierbarkeit von Begriffskategorien, d.h. ihre mehrfache Zuordnung zum Lemma, bzw. zu einzelnen Bedeutungsvarianten (diese lassen sich eigentlich als Sememe auffassen); bei den traditionellen onomasiologischen Wörterbüchern oder Thesauri hingegen können die einzelnen semantischen Felder bei Bedarf höchstens durch Verweise miteinander verknüpft werden. Darüber hinaus können in der MhdBDB bei Wortbildungskonstrukten die begrifflichen Zuordnungen der Komponenten kombiniert werden. Die Kategorien werden grundsätzlich „eindimensional“ zugeordnet, d.h. sie können z.B. nicht hierarchisiert oder komplexer strukturiert werden (was wahrscheinlich bei den Abfragen problematisch handhabbar wäre). Als Beispiel dieser Form der Bedeutungsbeschreibung sei eine der zentralen Herrscherbezeichnungen in den untersuchten Texten angeführt: herzoge (MhdBDB – Lemma-Eintrag herzoge in UR L 3)5 Männlich – 21012000, Autorität/Anordnung/Befehl – 22826100, Ämter 4 Für eine anregende Diskussion zu diesem Thema möchte ich mich bei Norbert Richard Wolf bestens bedanken; für wertvolle klärende Informationen aus erster Hand bin ich Klaus M. Schmidt und Margarethe Springeth (MhdBDB) sehr dankbar. 5 herzoge – Gesamtfrequenz in der Datenbank: 4163; in den primär untersuchten Texten: PUC: 385, TKA: 6, TKR: 306, VTC 59; zusammen: 756. 329 – 23310200, Politische Ordnung/Allg. Ordnungskategorien – 24300000, Geburtsadel – 24321000, Rechtswesen – 24330000, Ordnungsmacht – 24340000, Wert/Unwert – 31330000 Im Unterschied zu der obigen als monosemantisch aufgefassten Herrscherbezeichnung werden bei dem zentralen Abstraktum eine Reihe von Bedeutungen unterschieden; für die gegebene Fragestellung wird insbesondere das „Semem“ 1 berücksichtigt: rîche (MhdBDB – Lemma-Eintrag rîche in URL 4)6 1 Autorität/Anordnung/Befehl – 22826100, Besitz – 23308000, Politische Ordnung/Allg. Ordnungskategorien – 24300000, Soziale Klassen – 24320000, Geburtsadel – 24321000, Ordnungsmacht – 24340000, Ausdehnung – 31210000 2 Ästhetisches Empfinden – 22706000, Wert/Unwert – 31330000 3 Judaeo-Christliche Mythologie – 24410000, Christentum/Theologie – 24440000 4 Geräusche – 31242000 5 Besitz – 23308000, Verhältnis/Ordnung/Wert – 31300000, Wert/Unwert – 31330000 6 Mengenbegriffe – 31410000 5. 2. Kookkurrenzen von ausgewählten Schlüsselwörtern Die Ermittlung der Regularitäten im gemeinsamen Vorkommen gewisser Ausdrücke kann unter Umständen neue Einsichten in die Strukturierung des Wortschatzes vermitteln oder zur feineren Abgrenzung der Wortbedeutungen beitragen. In der vorliegenden Untersuchung wurden die Satzeinheiten als Grundlage für die Berechnung von Kookkurrenzen gewählt. Im Unterschied zur alternativen Ermittlung der Wortnachbarschaft in festgelegten Textabschnitten (mit einer bestimmten Anzahl von Textwörtern vor und nach dem jeweils analysierten Wort)“ lässt sich bei den Satzeinheiten eher mit inhaltlich geschlossenen Segmenten rechnen, was sicher von Vorteil ist. Auf der anderen Seite muss der variierende Textumfang von solchen Abschnitten berücksichtigt werden. Es werden jeweils Grundformen der Wörter erfasst, basierend auf der Lemmatisierung der MhdBDB; als Stoppwörter bleiben hochfrequentierte synsemantische Wörter (z.B. Präpositionen, Konjunktionen, Artikelwörter und andere) außer Betracht. Im Folgenden werden verkürzte Ausschnitte aus den Kookkurrenzlisten zur typischen Herrscherbezeichnung herzoge und des Schlüsselwortes rîke in den 6 rîche – Semem 1: Gesamtfrequenz in der Datenbank: 1400; in den primär untersuchten Texten – PUC: 265, TKA: 6, TKR: 64, VTC 32; zusammen: 367. Der ganze Eintrag rîche: Gesamtfrequenz in der Datenbank: 11807; in den primär untersuchten Texten – PUC: 272, TKA: 7, TKR: 89, VTC 32; zusammen: 400. 330 untersuchten böhmischen historiographischen Texten abgedruckt. Bei Ausgangswörtern sowie bei kookkurrierenden Ausdrücken stehen die Belegzahlen im jeweiligen Text.7 5.2.1. Kookkurrenzen von herzoge Kookkurrenzen – herzoge – PUC – Pulkava Chronik: herzoge (385) – Beheim: 293, herzoge: 214, künic: 148, dominus: 109, Prag: 109, annus: 108, bischof: 104, Polen: 101, jâr: 98, komen: 97, sun: 88, stat: 86, keiser: 85, nennen: 85, grôz: 84, zît: 82, heilec: 80, Heinrich: 80, bruoder: 79, Wenzeslaw: 75, geben: 70, Wladislaus: 70, geschehen: 69, Brzetislaw: 68, Ôsterrîche: 67, vürste: 62, rîche: 58, Bolezlâ: 57, lant: 57, vornennen: 56, Friderich: 53, kirche: 53, Mæhren: 53, tac: 52, eteswenne: 51, schar: 50, Wratislaw: 50, name: 49, herzogentuom: 45, nemen: 45, setzen: 45, herre: 40, sloz: 40, ... Kookkurrenzen – herzoge – VTC – Vita Caroli: herzoge (59) – vater: 32, Ôsterrîche: 26, künic: 25, Beheim: 23, herzoge: 22, nennen: 20, Ludwig: 18, swester: 17, geben: 15, stat: 15, komen: 13, Baiern: 12, bruoder: 11, helfen: 10, tohter: 10, tôt: 10, Heinrich: 9, Johannes: 9, keiser: 9, herre: 8, lant: 8, nemen: 8, Carolus: 7, hûsvrouwe: 7, krône: 7, rîche: 7, undertân: 7, Affenstein: 6, grâve: 6, grôz: 6, her: 6, Korinthîâ: 6, machen: 6, Schlesien: 6, zît: 6, besitzunge: 5, êwe: 5, grâveschaft: 5, Kärnden: 5, Krakow: 5, lâzen: 5, Margarete: 5, Nicolaus: 5, senden: 5, swâger: 5, Tirol: 5, umbelegen: 5, vürste: 5, wellen: 5, wille: 5, ziehen: 5, ... Kookkurrenzen – herzoge – TKA – Abriss der böhmischen Geschichte: herzoge (9) – Beheim: 3, bekant: 2, besunder: 2, boese: 2, Heinrich: 2, jâr: 2, Johannes: 2, Kärnden: 2, künic: 2, lant: 2, nennen: 2, schrîben: 2, wellen: 2 ... Kookkurrenzen – herzoge – TKR – Tutsch kronik: herzoge (340) – herzoge: 40, Beheim: 36, wellen: 33, nemen: 31, bruoder: 30, keiser: 29, komen: 27, gân: 26, lant: 26, geben: 21, Wratislaw: 21, Wladislaus: 20, hant: 19, man: 19, künic: 18, sprechen: 18, stat: 18, Borziwoy: 17, Przemisl: 17, soln: 17, sun: 17, mügen: 16, Ulrich: 16, Mæhren: 15, Wenzeslaw: 15, diutsch: 14, machen: 14, rîche: 14, sehen: 14, Polen: 13, gebieten: 12, Meska: 11, nennen: 11, Otto: 11, beginnen: 10, Brzetislaw: 10, burc: 10, Prag: 10, sanctus: 10, sitzen: 10, ... Als primäre Kontexte, in denen herzoge erscheint, erweisen sich die Angaben zur geographischen bzw. personalen Spezifizierung, die durch Eigennamen entsprechender Kategorien vertreten sind; in enger Beziehung dazu stehen die 7 Die kookkurrierenden Ausdrücke werden absteigend nach Frequenz sortiert, und ihre Auflistung wird auf eine individuell bestimmte Mindestfrequenz beschränkt (bedingt durch unterschiedliche Belegdichte und Textumfang sowie Satzlänge (s.o.)), damit nach Möglichkeit im begrenzten Umfang des Ausschnitts die jeweils kennzeichnenden Kookkurrenten aufgelistet werden können. Die mit dem Ausgangslemma identischen Wörter unter den Kookkurrenzen gehen auf Wiederholungen innerhalb von Satzeinheiten zurück. 331 Verwandtschaftsbezeichnungen; allgemeiner Natur sind auch die Ausdrücke der Zeitbestimmung (neben jâr auch annus, Dominus). Aus dem Bereich der Herrschaft sind v.a. andere Herrschertitel zu verzeichnen; rîche ist zuverlässig belegt, allerdings bei weitem nicht so prominent, wie es für die Kookkurrenzen zu Herrscherbezeichnungen in der Sächsischen Weltchronik festgestellt wurde (vgl. Pfefferkorn, 2014, S. 72-74). Die meisten hier verzeichneten Verben bezeichnen einzelne Betätigungsgebiete, zeigen jedoch keine deutliche semantische Ausprägung im Hinblick auf Herrschaft (außer gebieten, etwas abgeschwächt bei einigen Modalverben und anderen). Im Folgenden werden komplementär die Kookkurrenzen von rîche ausgewertet. 5.2.2. Kookkurrenzen von rîche Kookkurrenzen – rîche – PUC – Pulkava Chronik: rîche (272) – Beheim: 250, künic: 203, rîche: 158, jâr: 102, roemisch: 68, vürste: 68, keiser: 64, sun: 63, herzoge: 58, Mæhren: 53, annus: 52, dominus: 52, Prag: 52, Wenzeslaw: 51, edel: 48, nennen: 46, stat: 46, erweln: 43, grôz: 43, Heinrich: 43, lant: 39, komen: 38, zît: 38, geben: 37, Wladislaus: 37, Friderich: 36, reht: 36, Polen: 35, banerherre: 34, Swathopluck: 34, erben: 32, gân: 32, herre: 31, tuon: 31, name: 30, rât: 30 ... Kookkurrenzen – rîche – VTC – Vita Caroli: rîche (32) – Beheim: 20, künic: 20, soln: 15, geben: 11, stat: 11, Johannes: 10, vater: 9, herzoge: 7, komen: 7, Carolus: 6, darzuo: 6, gesleht: 6, sun: 6, zît: 6, gelt: 5, herre: 5, herzogentuom: 5, krône: 5, man: 5, alhier: 4, bruoder: 4, darumbe: 4, grôz: 4, hoeren: 4, jâr: 4, lant: 4, nennen: 4, Polen: 4, reht: 4, rîche: 4, sloz: 4, sprechen: 4, tac: 4, tuon: 4, vîant: 4, wellen: 4, werlt: 4, ziehen: 4… Kookkurrenzen – rîche – TKA – Abriss der böhmischen Geschichte: rîche (7) – jâr: 5, künic: 5, Beheim: 4, Christus: 3, geburt: 3, leben: 3, drîzehen: 2, Heinrich: 2, Johannes: 2, krœnunge: 2, küniginne: 2, leisten: 2, rîche: 2, wâr: 2, Wenzeslaw: 2… Kookkurrenzen – rîche – TKR – Tutsch kronik: rîche (89) – Beheim: 22, herzoge: 14, gân: 13, künic: 13, geben: 11, man: 10, lant: 9, keiser: 8, name: 8, soln: 7, stat: 7, Wenzeslaw: 7, got: 6, nieman: 6, roemisch: 6, tuon: 6, wellen: 6, hant: 5, krône: 5, liut: 5, nôt: 5, Polen: 5, vater: 5, êrste: 4, gewinnen: 4, herre: 4, müezen: 4, mügen: 4, reht: 4, schoene: 4, senden: 4, tôt: 4, vîentlich: 4... Ein Großteil der erfassten Kookkurrenten von rîke zeigt sichtbare Überschneidungen mit denen von herzoge, so vor allem die geographischen Namen, Angaben der Zeitbestimmung, Verwandtschaftsbezeichnungen, teilweise Personen332 namen; verständlicherweise bestätigt sich auch in der umgekehrten Perspektive das Nebeneinander mit Herrscherbezeichnungen wie herzoge, künic, keiser u.a. Ferner erscheinen auch Angaben zum symbolischen Attribut der Herrschaft – krône sowie krœnunge (die beim vorher behandelten Herzogtitel nicht unmittelbar relevant waren). Zu bemerken ist, dass die meisten Verwendungen von rîke nicht abstrakt unspezifisch zu verstehen sind, sondern vielmehr meist als verkürzte kontextuell eindeutige Bezeichnung für Königreich (in der Regel Böhmen) aufzufassen sind (vgl. unten einige Belegstellen aus Vita Caroli). 5.3. Knapper Vergleich mit Kookkurrenzen in der Sächsischen Weltchronik Die gewonnenen Kookkurrenzdaten zeigen deutliche Übereinstimmungen mit den publizierten Befunden für die Sächsische Weltchronik – Stichwörter rike, kunich und keiser (Pfefferkorn, 2014, S. 72-74). Für die vorliegende Illustration wurde das Lemma herzoge gewählt als der üblichste böhmische Herrschertitel bis zum Hochmittelalter (die Daten für künic zeigen ein ähnliches Bild, sind aber für ältere Zeitspannen für den böhmischen Kontext nicht hinreichend belegt). Die Personen, Tätigkeiten, Sachverhalte u.a. zeigen in den historiographischen Darstellungen manche Ähnlichkeiten. Unterschiede lassen sich hingegen in der Gewichtung und Distribution finden. Insbesondere der Ausdruck rîche und die abstrakte unpersönliche Formulierungsweise scheinen in den böhmischen Texten deutlich weniger prominent zu sein, als es bei der älteren Sächsischen Chronik der Fall ist. 5.4. Häufigste Verben im untersuchten Sachbereich Als Ergänzung zu den Beobachtungen anhand der Kookkurrenzen sollen nun die verbalen Ausdrücke aus dem untersuchten Sachbereich zum illustrativen Vergleich herangezogen werden. In der folgenden Tabelle werden die häufigsten Verben mit dem „Sem“ ‚Autorität/Anordnung/Befehl‘ aufgelistet (Suchabfrage: 22826100&<VRB> in MhdBDB); in der absteigenden Sortierung nach der Gesamtfrequenz der Lemmata in den behandelten böhmischen Texten, Vorkommenshäufigkeit 5 und höher. 333 Lemma Text TKA TKR PUC VTC zusammen Anzahl aller Belege: 17 464 632 143 1256 soln 5 senden 120 57 32 214 17 108 29 154 vâhen 52 66 11 129 gebieten 67 37 3 107 lâzen 38 22 16 76 vüeren 30 34 3 67 33 27 2 63 regieren 56 5 61 schicken 7 39 8 8 heizzen 1 bevelhen 11 13 19 9 vordern 1 23 rihten 16 3 2 15 laden 1 twingen rîchen 9 herschen setzen 1 54 32 29 1 25 19 17 6 15 1 9 9 13 2 9 2 4 vüegen 5 4 legen 1 schaffen 9 7 6 8 1 7 verbieten 7 7 vermanen 7 7 2 6 mügen 2 2 gevüeren 1 4 leiten vervolgen 4 5 1 5 5 5 Häufigste Verben – ‚Autorität/Anordnung/Befehl‘ (MhdBDB – Autorität in URL 5) Bereits bei dieser vereinfachten Abfrage zu einem charakteristischen „Sem“ lässt sich ein relativ differenziertes Inventar von einschlägigen verbalen Ausdrücken beobachten, wobei auch einige Einzelheiten der Distribution bei den behandelten Texten zu bemerken sind. Es fällt auf, dass die frequentesten Lemmata in 334 ihrer Bedeutung entweder eher allgemeiner und vage sind, oder aber sie beziehen sich auf eine konkretere Tätigkeit oder Ausprägung der Autoritätsausübung. Als Allgemeinbezeichnungen für ‚herrschen‘ i.e.S. wären die Ausdrücke herschen, regieren, rîchen hervorzuheben, aus dem eng benachbarten semantischen Bereich ‚befehlen‘ dann ferner bevelhen, gebieten, heizzen, lâzen, twingen, verbieten, vordern (ggf. einschlägige Sememe mit den hierfür relevanten Bedeutungen). Was die Verteilung in den Einzeltexten oder gar Tendenzen im Gebrauch der erfassten Verben betrifft, sind höchstens punktuelle Befunde möglich. Kennzeichnend sind da insbesondere die Unterschiede bei den Allgemeinbezeichnungen – in der deutschen Reimfassung der Dalimil-Chronik (TKR) und im zusammenhängenden annalistischen Abriss (TKA) (wahrscheinlich aus den 1340er Jahren) ist rîchen das Normalwort, in den späteren deutschen Texten der Pulkava-Chronik (PUC) und der Vita Caroli (VTC) (aus dem ausgehenden 14. Jh. oder der ersten Hälfte des 15. Jh.) stehen in dieser Funktion das entlehnte regieren, bzw. das etwas weniger frequentierte herschen. Außerdem scheinen diese abstrakteren Allgemein bezeichnungen – quantitativ gesehen – in den jüngeren Texten eine größere Rolle zu spielen (auch mit Berücksichtigung des unterschiedlichen Textumfangs). 6. Selbstdarstellung und Reflexion über Herrschaft in der Vita Caroli Nach den bisherigen Teilanalysen und Überlegungen auf überwiegend lexikalisch-semantischer Basis soll im Folgenden die hier verfolgte Problematik anhand einer zusammenhängenden Textprobe exemplifiziert werden. Hierfür eignet sich insbesondere die Autobiographie Karls IV., die neben historischbiographischen Daten auch wertvolle Informationen anderer Art vermittelt. Für die vorliegende Fragestellung sind die Reflexionen über die Herrschaft und die Selbstdarstellung des Autors in diesen Rollen unmittelbar relevant. Anhand einer illustrativen Textprobe aus dem VIII. Kapitel wird versucht, einschlägige Momente und angewandte Strategien in der eigenen Präsentation des Herrschers zu erschließen. 335 ... Quod regnum invenimus ita desolatum, quod nec unum castrum invenimus liberum, quod non esset obligatum cum omnibus bonis regalibus, ita quod non habebamus ubi manere, nisi in domibus civitatum sicut alter civis. Castrum vero Pragense ita desolatum, destructum ac comminutum fuit, quod a tempore Ottogari regis totum prostratum fuit usque ad terram. Ubi de novo palacium magnum et pulchrum cum magnis sumptibus edificari procuravimus, prout hodierna die apparet intuentibus. Tempore illo misimus pro uxore nostra, quia adhuc erat in Luczemburg. Que cum venisset, post unura annum habuit filiam primogenitam nomine Margaretham. Illis autem temporibus dederat nobis pater noster marchionatum Moravie et eodem titulo utebamur. Videns autem communitas de Boemia proborum virorum, quod eramus de antiqua stirpe regum Boemorum, diligentes nos dederunt nobis auxilium ad recuperanda castra et bona regalia. Tunc cum magnis sumptibus et laboribus recuperavimus castra Purglinum, Tyrzow, 336 ... Kteréžto královstvie byli jsme nalezli tak opuštěno, že ani jednoho hradu nenalezli jsme svobodného, ježto by nebyl zastaven se vším zbožím královským; tak že jsme neměli kde bydliti, jedno v domiech městských, jakžto jiný měštěnín. A hrad Pražský tak[é] byl opuštěn a zkažen i zrušen; nebo od času krále Přemysla všechen položen byl až na zemi. Na kterémžto miestě znovu sieň velikú a krásnu s velikými náklady vzdělati jsme kázali, jakžto dnešní den zjevno jest ohledujícím. Toho času poslachme po naši ženu; neb ještě bieše v Lucemburce. Ta když přijede, po jednom roce porodi dceru prvorozenú, jménem Margretu. Těch pak také časóv byl nám dal otec náš markrabstvie Moravské a toho hesla požívachme. Uzřevše pak obec Česká šlechetných mužóv, že jsme byli z starého pokolenie králóv českých, milujíc nás, dachu nám pomoc, abychme nabyli hradóv a zbožie královstvie. Tehdy s velikými náklady a s úsilím nabychme najprvé hradóv [Hrádku], Tyřova, Lichtemburka, Lutic, Hradce, Pieska, Nečtin, ... Das wir das reich alzo funden verwusth, zcustort, das keyn sloß ader burg nw frey was, das nicht vorstricket noch vorsatczt wer mit allen koniglichen gutern, alzo das wir nicht hatten slosser, noch burge noch eygene wonunge, doroff wir gewonet hetten, sunder wir musten wonen yn den hewßern der burger alzo eyn ander burger. Vnde das Pregische sloß das was alzo vorwustet vnde vorterbet vnde zcufallen, seid der czeith des koniges Othakari vnde was eyn teil an dy erde zcufallen. Do wer eyn newes vnde eyn großes vnde eyn sewberliches pallas bawten, als man das noch hewtigen tagis siet. Dyselbe czeit sante wir noch vnßer hawßfrawen, dy noch was zcu Lutczenburg, die dornoch obir eyn jor qwam do, so hatte sie eyne geborne tachter genant Margareta. Zcu den geczeithen gab vns vnßer vater das margraffthum zcu Merhern vnde gebrauchten des sam des, das vns zcugescreben wer. Vnde do dy fromen manne von der gemeyne zcu Behemen soghen, das wir worn von dem alden stamme der konige, do hatten sie vns lieb vnde gowen vns stewer vnde tothen vns hulffe, das wir vnßer slosßer baweten vnde besserten unde vnser koniglichen gutter Liuchtenburg, Lutycz, Grecz Pyesek, Necztyni, Zbyroh, Tachow, Trutnow in Boemia; in Moravia vero Luccow, Telcz, Weverzi, Olomucense, Brunense et Znoymense castra, et quam plura alia bona obligata et alienata a regno. Zbiroha, Tachova a Trutnova v Čechách, v Moravě pak Lukova, Telče, Veveře, Olomúckého, Brněnského a Znojemského hradóv a mnohá jiná zbožie, ježto byla zastavena a odlúčena od královstvie. Et habebamus multos paratos militares servientes, et prosperabatur regnum de die in diem, diligebatque nos communitas bonorum, mali vero timentes precavebant a malo, et iusticia sufficienter vigebat in regno, quoniam barones pro maiori parte effecti erant tyranni, nec timebant regem, prout decebat, quia regnum inter se diviserant. Et sic tenuimus capitaneatum regni meliorando de die in diem per duos annos. ... (Emler (hg.), 1882, S. 348– 349) A mějiechme mnoho sluh hotových, urozených a prospieváše královstvie den ode dne, i milováše nás obec dobrých a zlí bojiece sě varovachu sě zlého, a spravedlnosti dosti bieše v království. Nebo šlechtici téměř všichni běchu sě zčinili násilníci, ani sú sě báli krále, jakžto slušalo; nebo královstvie byli mezi sebú rozdělili. A tak jsme drželi vladařstvie, královstvie polepšujíce den ode dne, za dvě létě. … (Emler (hg.), 1882, S. 379) merethen. Do bawete wir weder mit großer czirunge vnde erbeith das sloß Burgsloß, Tirzow, Lichtenburg, Lutitz, Gretz, Pyesek, Necztym, Zbyroch, Tachaw, Trittenaw in Behemenlande; ader yn Merherlande Lucaw, Teltcz, Wewerzy, Olmuntczen, Brunnen vnde auch Cznaym; deser slosser vnde burge vnde vil ander gutter die vorsatczt, vorstricket vnde entfremdet worn von dem reiche. Vnde wir hatten vil breite ritterschafft, dy vns dyeneten, Alczo nam geluczelichen zcu das reich von tage zcu tage. Alzo hatten vns lieb dy guten gemeynen lewthe, ader dy boßen dye furchten vns vnde huten sich von den boßen vnde tothen nicht das arge vnde dye gerechtikeit die hirschete genugelich yn dem reiche. Vnde do wart eynem ydermanne gegeben recht vnde nicht vorsageth; vnde dy banerherren dy worn off das groste teil grawßam vnde wutreich vnde forchten nicht den konig, als eß czemlich was, wen sie hatten reich vnder sich geteilet. Das brochte wir zcu krefften vnde zcusampe vnde besatczten das mit hewbtlewthen vnde besserten das reich von tage zcu tage. Dos tothe wir czwe jor noch enander. … (Emler (hg.), 1882, S. 404 –405) Selbstdarstellung der Herrschaft von Karl IV. in seiner Autobiographie, Kap. VIII 337 Die obige Passage aus der Autobiographie Karls IV. enthält als eine der wenigen in den untersuchten Texten eine umfassende, reflektierte (wiewohl subjektiv idealisierte) Darstellung der Herrscheraktivitäten; es werden hier historisch relevante Angaben zur aktuellen politischen und wirtschaftlichen Lage im Land nach der Ankunft des jungen Thronfolgers präsentiert, ferner zu formaldynastischen Regelungen und der Verteilung der Kompetenzen und letztlich auch zum individuellen Familienleben. Außerdem werden mustergültige Anweisungen zur Lösung von Problemen, Gewinnung von Sympathien der Untertanen bzw. Dienstleute und Förderung von deren Hilfsbereitschaft dargeboten; zuletzt wird auch Entschlossenheit bei der Durchsetzung der Gerechtigkeit und der sorgfältigen Verwaltung des Landes nahegelegt. Parallel zu dieser Linie der Selbstdarstellung wird eine Art von impliziten, bekräftigenden Zeugnissen Anderer vermittelt, in denen weitere typisierte Attribute des guten Herrschers geprägt werden („von Guten geliebt, von Bösen gefürchtet...“). Eine bekannte, von Karl IV. aktiv gebrauchte Strategie zur Legitimierung der Herrschaft ist die Betonung der eigenen Abstammung von dem alten böhmischen Herrschergeschlecht der Premysliden. Die beiden Übersetzungen erscheinen (in der vorliegenden Kurzprobe) als weitgehend adäquate Entsprechungen des lateinischen Originals, es lassen sich da jedoch interessante stilistische Nuancierungen beobachten. Auffällig ist etwa die Neigung zu mehrgliedrigen Synonymenreihen im deutschen Text, vor allem bei terminologisch fassbaren Ausdrücken, wie man dies etwa in der zeitgenössischen Rechtssprache oder im Kanzleischrifttum erwarten würde; vgl.: obligatum – zastaven – vorstricket noch vorsatczt obligata et alienata – zastavena a odlúčena – vorsatczt, vorstricket vnde entfremdet tyranni – násilníci – grawßam vnde wutreich desolatum, destructum ac comminutum – opuštěn a zkažen i zrušen – vorwustet vnde vorterbet vnde zcufallen Beispiele komplexerer Erweiterungen (ohne maßgebliche inhaltliche Relevanz) sind: non habebamus ubi manere – jsme neměli kde bydliti – alzo das wir nicht hatten slosser, noch burge noch eygene wonunge, doroff wir gewonet hetten habebamus multos paratos militares servientes – mějiechme mnoho sluh hotových, urozených – wir hatten vil breite ritterschafft, dy vns dyeneten (Zu beachten ist hier auch die semantisch bzw. pragmatisch bedingte Kongruenz des Kollektivums ritterschaft mit dem Prädikat des Nebensatzes in Plural.) Interessanterweise findet sich allerdings gerade im deutschen Text ein wahrscheinliches Missverständnis bei einem juristisch relevanten Ausdruck: Statt einer Wiederherstellung von verpfändeten Gütern erwähnt die deutsche Fassung einen Neuaufbau, vgl.: 338 „ad recuperanda castra et bona regalia – abychme nabyli hradóv a zbožie královstvie – das wir vnßer slosßer baweten vnde besserten unde vnser koniglichen gutter merethen.“ Eine vergleichbare Ungenauigkeit in der deutschen Übersetzung zeigt die folgende Stelle über die stellvertretende Herrschaft Karls; in der Übersetzung werden stattdessen weitere Statthalter oder Ähnliches erwähnt: Et sic tenuimus capitaneatum regni meliorando de die in diem – A tak jsme drželi vladařstvie, královstvie polepšujíce den ode dne – Das brochte wir zcu krefften vnde zcusampe vnde besatczten das mit hewbtlewthen vnde besserten das reich von tage zcu tage. Die gewählte Textprobe zeigt auch Belege für mhd. rîche für eine allgemeine Bezeichnung des Herrschaftsgebietes: et prosperabatur regnum de die in diem – a prospieváše královstvie den ode dne – Alczo nam geluczelichen zcu das reich von tage zcu tage. et iusticia sufficienter vigebat in regno – a spravedlnosti dosti bieše v království – vnde dye gerechtikeit die hirschete genugelich yn dem reiche. Vnde do wart eynem ydermanne gegeben recht vnde nicht vorsageth […] Es fehlt in diesen Fällen jede explizite nähere Bestimmung, wahrscheinlich ist hier jedoch nicht die abstrakte Verwendung ‚(institutionalisierte, unpersönliche) Herrschaft, Staat‘ anzunehmen; wie die Parallelstellen in den beiden Belegen auf kohärente Weise nahe legen, ist hier mit dem (kontextuell implizierten) ‚Königreich [Böhmen]‘ zu rechnen – aufgefasst eher als geographisch-politische Bezeichnung; der Bezug auf die persönliche Herrscherwürde wäre für den damaligen mährischen Markgrafen nicht zutreffend. 7. Fazit Die präsentierten illustrativen Untersuchungen von deutschsprachigen historiographischen Werken des Mittelalters haben bestätigt, dass ‚Herrschaft‘ zu den zentralen thematischen Bereichen dieser Werke gehört. In der kontrastierenden Gegenüberstellung der Sächsischen Weltchronik mit den spätmittelalterlichen Werken aus dem böhmischen Raum im Hinblick auf die Versprachlichung dieses politischen Phänomens haben sich allgemeine, wohl thematisch und durch die Gattung bedingte Übereinstimmungen gezeigt; daneben sind aber auch deutliche Unterschiede in den sprachlichen Strategien sichtbar geworden. Die lexikalische Besetzung ist bei vergleichbaren Sachgebieten der einzelnen Werke erwartungsgemäß ziemlich ähnlich, insbesondere bei den zentralen meistfrequentierten Ausdrücken. Unterschiede zeichnen sich gerade bei dem „politischen Schlüsselwort“ der Sächsischen Weltchronik rike ab: In den böhmischen Texten 339 ist es ebenfalls belegt, es nimmt allerdings nicht annähernd eine so prominente Position ein, und auch die Varianten sind anders verteilt. Das Spektrum der belegten Verwendungen von dem Substantiv rîche entspricht mit geringen Abweichungen denen der Sächsischen Weltchronik (Pfefferkorn, 2014, S. 213); zu beachten ist jedoch eine öfters bestehende Uneindeutigkeit in der Zuordnung. Das nicht näher spezifizierte rîche ist wohl nur in der Minderheit der Fälle als abstrakte Bezeichnung der Herrschaft oder Macht zu verstehen. In manchen Fällen liegen eher vereinfachte konkretere Verwendungen vor, wo allerdings die spezifizierenden Elemente (etwa in kontextuell eindeutigen Fällen) erspart werden. Die typische Verwendung stellt die Bezeichnung konkreter Länder oder Staatsgebilde dar, in der Regel mit einer Präpositionalgruppe (reich zu Merheren, zu Behemen u.a.). Vereinfachend lässt sich festhalten, dass die abstraktere, eher unpersönliche Ausdrucksweise (im Bereich der Politik und Machtausübung) eine klare Domäne der Sächsischen Weltchronik darstellt. Bei den hier untersuchten späteren Werken ist trotz des exklusiven Auftrags (die Pulkava-Chronik wurde von Karl IV. als offizielle repräsentative historische Darstellung der böhmischen Länder bestellt und persönlich entworfen) eine viel einfachere Konzeption und auch formalsprachliche und literarische Gestaltung zu beobachten. Auch für die Bezeichnung von „Herrschergeschäften“ werden da geradlinige, meist verbale Formulierungen bevorzugt (v.a. rîchen, herschen, regieren u.a. sowie eine Reihe inhaltlich spezifischer Verben). Abstract Based on selected German historiographical texts from the High Middle Ages and Late Middle Ages the strategies in the formulation and verbal expression of rule and reign are discussed. On the one hand, an early vernacular text of this kind is taken into account (Saxon World Chronicle, 13th century), on the other hand several later works from the 14th–15th century, which are characterised by their origin from the Bohemian lands or the respective topical scope. In part, other language versions are considered, be it original texts or parallel translations (besides German in Latin and Czech): The Dalimil Chronicle (including introductory German annals), Pulkava-Chronicle and the Autobiography of Charles IV. of Luxembourg, Vita Caroli. In the comparison, the central role of the semantic field ‘rule, reign’ in the texts of this genre is documented, while at the same time a comparatively differentiated spectrum of the linguistic means of expressing the respective concepts and also the preferred modes of stylisation are identified. Keywords historiography, Middle Ages, historical semantics, rule, political language 340 Quellenverzeichnis Blaschka, Anton (Hg.) (1934). Die St. Wenzelslegende Kaiser Karls IV. Einleitung, Texte, Kommentar. Prag: Verlag der Deutschen Gesellschaft der Wissenschaften und Künste für die Tschechoslowakische Republik. Brom, Vlastimil (Hg.) (2011). Texte – Pulkava-Chronik – Deutsche historiographische Texte aus den mittelalterlichen böhmischen Ländern. Online verfügbar unter https://www.phil.muni.cz/german/projekty/hmb/e-text/fr_PulkavaChron_ de.html, [29.06.2016]. Brom, Vlastimil (Hg.) (2009). Di tutsch kronik von Behem lant. 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Online verfügbar unter http://mhdbdb.sbg.ac.at:8000/ mhdbdb/App?action=TextQueryModule&string=22826100%26%3CVRB%3E&filter=&texts=TKA&texts=TKR&texts=PUC&texts=VTC&startButton=Suche+ starten&contextSelectListSize=1&contextUnit=1&verticalDetail=3&max TableSize=100&horizontalDetail=3&nrTextLines=3, [16. 7. 2016] 343 Autorenverzeichnis Mgr. Vlastimil Brom, Ph.D. Masarykova univerzita Filozofická fakulta Ústav germanistiky, nordistiky a nederlandistiky Arna Nováka 1 CZ – 602 00 Brno Doc. PaeDr. Zdenko Dobrík, PhD. Univerzita Mateja Bela v Banskej Bystrici Filozofická fakulta, Katedra germanistiky Tajovského 40 SK – 974 01 Banská Bystrica Mgr. Henryk Duszyński-Karabasz Uniwersytet Kazimierza Wielkiego ul. Chodkiewicza 30 PL – 85-064 Bydgoszcz Mag. phil. Jürgen Ehrenmüller Západočeská univerzita v Plzni Fakulta pedagogická Katedra německého jazyka Chodské náměstí 1 CZ – 306 14 Plzeň Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Ludwig M. Eichinger Institut für Deutsche Sprache Augustaanlage 32 D – 68 165 Mannheim Mgr. Jana Hofmannová, Ph.D. Jihočeská univerzita v Českých Budějovicích Pedagogická fakulta Katedra germanistiky Jeronýmova 10 CZ – 370 01 České Budějovice 344 Mgr. Tereza Hrabcová, Ph.D. Univerzita Jana Evangelisty Purkyně v Ústí nad Labem Filozofická fakulta Katedra germanistiky Pasteurova 13 CZ – 400 96 Ústí nad Labem Mgr. Michaela Kaňovská, Ph.D. Univerzita Palackého v Olomouci Filozofická fakulta Katedra germanistiky Křížkovského 10, CZ – 771 80 Olomouc Doc. Dr. phil. Veronika Kotůlková Slezská univerzita v Opavě Filozoficko-přírodovědecká fakulta Ústav cizích jazyků Oddělení germanistiky Masarykova třída 343/37 CZ – 746 01 Opava Dr. Ewa Majewska Uniwersytet Warszawski Instytut Germanistyki ul. Dobra 55 PL – 00-312 Warszawa PhDr. Eva Molnárová, PhD. Univerzita Mateja Bela v Banskej Bystrici Filozofická fakulta Katedra germanistiky Tajovského 40 SK – 974 01 Banská Bystrica Mgr. Martin Mostýn, Ph.D. Ostravská univerzita v Ostravě Filozofická fakulta Katedra germanistiky Reální 5 CZ – 701 03 Ostrava 345 PhDr. Mojmír Muzikant, CSc. Masarykova univerzita Pedagogická fakulta Katedra německého jazyka a literatury Poříčí 9 CZ – 603 00 Brno Mgr. Milan Pišl, Ph.D. Ostravská univerzita v Ostravě Filozofická fakulta Katedra germanistiky Reální 5 CZ – 701 03 Ostrava Mgr. et Mgr. Kamila Puchnarová Masarykova univerzita Filozofická fakulta Ústav germanistiky, nordistiky a nederlandistiky Arna Nováka 1 CZ – 602 00 Brno Mgr. Michal Rubáš Univerzita Palackého v Olomouci Filozofická fakulta Katedra germanistiky Křížkovského10 CZ – 771 80 Olomouc Doc. PhDr. Gabriela Rykalová, Ph.D. Slezská univerzita v Opavě Filozoficko-přírodovědecká fakulta Ústav cizích jazyků Oddělení germanistiky Masarykova třída 343/37 CZ – 746 01 Opava Dr. habil. Petra Szatmári Károli-Gáspár-Universität Budapest Reviczky u. 4. H – 1088 Budapest 346 Prof. PhDr. Lenka Vaňková, Dr. Ostravská univerzita v Ostravě Filozofická fakulta Katedra germanistiky Reální 5 CZ – 701 03 Ostrava Mgr. Zdeňka Vymerová, M.A. Masarykova univerzita Filozofická fakulta Arna Nováka 1 CZ – 602 00 Brno Roland Anton Wagner, M. A., Ph.D. Masarykova univerzita Pedagogická fakulta Katedra německého jazyka a literatury Poříčí 9 CZ – 603 00 Brno Prof. em. Dr. Dr. h.c. mult. Norbert Richard Wolf Julius-Maximilians-Universität Würzburg Institut für Deutsche Philologie Am Hubland D – 970 74 Würzburg 347 Zentrum und Peripherie. Aus sprachwissenschaftlicher Sicht Doc. Dr. Phil. Veronika Kotůlková Doc. PhDr. Gabriela Rykalová, Ph.D. (Hrsg.) © Ústav cizích jazyků, FPF, Slezská univerzita v Opavě, 2017. Slezská univerzita v Opavě, Masarykova tř.343/37 ISBN 978-80-7510-248-5 Vydání první Recenzovali: Prof. PhDr. Iva Zündorf, Ph.D., Doc. Hana Bergerová, Dr. Jazyková redakce: Priv.-Doz. Dr. Martin Maurach Grafická úprava: Ing. Ivana Kuczmanová Tiskárna: X-MEDIA servis s.r.o., Ostrava Rok vydání: 2017 Náklad: 100 ks Publikace je neprodejná Vydáno s finanční podporou projektu Interní soutěže v rámci Institucionálního plánu Slezské univerzity v Opavě č. 03/ISIP/2017 „Realizace mezinárodní germanistické konference”.