Dausien, Bettina [Hrsg.]; Thon, Christine [Hrsg.]; Walgenbach, Katharina [Hrsg.]
Geschlecht - Sozialisation - Transformationen
Opladen ; Berlin ; Toronto : Verlag Barbara Budrich 2015, 210 S. - (Jahrbuch Frauen- und
Geschlechterforschung in der Erziehungswissenschaft; 11)
Quellenangabe/ Reference:
Dausien, Bettina [Hrsg.]; Thon, Christine [Hrsg.]; Walgenbach, Katharina [Hrsg.]: Geschlecht Sozialisation - Transformationen. Opladen ; Berlin ; Toronto : Verlag Barbara Budrich 2015, 210 S. (Jahrbuch Frauen- und Geschlechterforschung in der Erziehungswissenschaft; 11) - URN:
urn:nbn:de:0111-pedocs-130279 - DOI: 10.25656/01:13027
https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0111-pedocs-130279
https://doi.org/10.25656/01:13027
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Jahrbuch
Frauen- und Geschlechterforschung
in der Erziehungswissenschaft
Redaktion
Jürgen Budde
Astrid Messerschmidt
Christine Thon
Katharina Walgenbach
Beirat
Birgit Althans
Sabine Andresen
Eva Breitenbach
Rita Casale
Bettina Dausien
Isabell Diehm
Hannelore Faulstich-Wieland
Edgar Forster
Edith Glaser
Carola Iller
Marita Kampshoff
Margret Kraul
Andrea Liesner
Susanne Maurer
Vera Moser
Inga Pinhard
Annedore Prengel
Barbara Rendtorff
Folge 11/2015
Bettina Dausien
Christine Thon
Katharina Walgenbach (Hrsg.)
Geschlecht – Sozialisation –
Transformationen
Verlag Barbara Budrich
Opladen • Berlin • Toronto 2015
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier.
Alle Rechte vorbehalten.
© 2015 Verlag Barbara Budrich, Opladen, Berlin & Toronto
www.budrich-verlag.de
ISBN
eISBN
978-3-8474-0668-6 (Paperback)
978-3-8474-0854-3 (eBook)
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elektronischen Systemen.
Umschlaggestaltung: disegno visuelle kommunikation, Wuppertal – www.disenjo.de
Lektorat: Christine Berberich
Typographisches Lektorat: Ulrike Weingärtner, Gründau
Inhalt
Einleitung
Bettina Dausien, Christine Thon, Katharina Walgenbach
Geschlecht – Sozialisation – Transformationen ........................................... 9
Essay
Bettina Dausien, Katharina Walgenbach
Sozialisation von Geschlecht –
Skizzen zu einem wissenschaftlichen Diskurs und Plädoyer für
die Revitalisierung einer gesellschaftsanalytischen Perspektive ................. 17
Theoretische Analysen – Transformationen von Debatten
Jutta Hartmann
Transformatorische Denkbewegungen –
Weiterentwicklung von Sozialisationstheorien im Anschluss an
Judith Butlers diskurstheoretisches Verständnis von Geschlecht ................ 53
Barbara Rendtorff
Zugewinne und Fallen – aktuelle Veränderungen
in Geschlechtervorstellungen und ihre Probleme ........................................ 77
Mechthild Bereswill, Gudrun Ehlert
Sozialisation im Kontext des Krisendiskurses über Jungen ........................ 93
Empirische Analysen –
Transformationen von Geschlechterverhältnissen
Sabine Klinger
Die (De-)Thematisierung von Geschlechterhierarchien im Verhältnis
akademischer Sozialisationsprozesse und gesellschaftlicher Diskurse.
Eine qualitativ-rekonstruktive Analyse studentischer
Gruppendiskussionen .................................................................................. 111
Monika Götsch
Paradoxien heteronormativer Sozialisation ................................................ 129
Inhalt
Offener Teil
Karin Flaake
Neue Konstellationen für Männlichkeitsentwürfe –
Potentiale einer in der Paarbeziehung geteilten Elternschaft
für Entwicklungsmöglichkeiten von Jungen und jungen Männern ............ 147
Rhea Seehaus
(Un-)Ordnungen der familialen Sorge?
Mütter und die diskursive Figur des ‚aktiven Vaters‘ ................................ 163
Stefanie Leinfellner
Ambivalenzen und transformative Potenziale im Arbeitskontext
Wissenschaft: Zur Vereinbarkeit von Wissenschaft und Elternschaft
in Dual-Career-Familien ............................................................................. 179
Tagungsbericht
Anne-Dorothee Warmuth
„Erziehung – Gewalt – Sexualität“. Tagungsbericht zur Jahrestagung
der Sektion Frauen- und Geschlechterforschung der DGfE
an der Universität Paderborn (05./06. März 2015) ..................................... 199
Verzeichnis der Autor_innen ................................................................... 209
6
Einleitung
Geschlecht – Sozialisation – Transformationen
Bettina Dausien, Christine Thon, Katharina Walgenbach
Mit dem Titel Geschlecht – Sozialisation – Transformationen spannt der vorliegende Band 11 des Jahrbuchs Frauen- und Geschlechterforschung in der
Erziehungswissenschaft einen Bogen zwischen Transformationen gesellschaftlicher Geschlechterverhältnisse und Transformationen erziehungswissenschaftlicher Debatten über die Theoretisierung dieser Verhältnisse. Im Fokus steht dabei Sozialisation als eine der zentralen und gleichwohl umstrittenen
theoretischen Perspektiven in diesem Kontext. Der Frage nach Transformationen von Sozialisation und Geschlecht nähert sich der Band von zwei Seiten:
Zum einen geht es um Transformationen der Debatten bzw. der theoretischen
Perspektiven zu Geschlecht und Sozialisation und die Konsequenzen für erziehungswissenschaftliche Geschlechterforschung. Zum anderen geht es um aktuelle Transformationsprozesse gesellschaftlicher Geschlechterverhältnisse,
zu deren Analyse sozialisationstheoretische Instrumentarien herangezogen
werden.
Im Blick auf die Geschichte sozialisationstheoretischer Debatten erscheint
es so, als spiele der Sozialisationsbegriff für die Entwicklung der Geschlechterforschung eine geradezu schicksalhafte Rolle. In den Anfängen der Frauenforschung erwies sich das Konzept der „geschlechtsspezifischen Sozialisation“
als Motor für empirische Erkundungen von Ungleichheitsverhältnissen und als
theoretisch nach vielen Seiten hin anschlussfähig. Schon bald kam es allerdings auch zur internen Kritik an der Annahme einer ‚weiblichen Sozialisation‘ in der Geschlechterforschung. Zum einen lag diese Kritik in den Grundannahmen der Sozialisationsforschung selbst begründet (Dausien 1999), zum
anderen wurde sie vor allem durch sozialkonstruktivistische, ethnomethodologische und dekonstruktivistische Theoriedebatten in der Geschlechterforschung herausgefordert (Gildemeister/Wetterer 1992).
Um die Jahrtausendwende vermehrten sich deshalb die Krisendiagnosen,
wenn es um den Zusammenhang von Sozialisationsforschung und Geschlecht
Bettina Dausien, Christine Thon, Katharina Walgenbach
ging (Wetterer 2003). Maihofer (2002) spricht sogar von einer „Tabuisierung“
des Themas. In der Erziehungswissenschaft lässt sich zeitgleich beobachten,
dass sozialisationstheoretische Fragestellungen in andere Disziplinen abwandern oder unter Begriffen wie Lernen, Bildung, Entwicklung oder Erziehung
verhandelt werden. Ist Sozialisation für die Erziehungswissenschaft eine anachronistische Metapher geworden (Popp 2002)? Es hat den Anschein, als lasse
die Hinterfragung theoretischer Konzepte der Sozialisationsforschung auch
insgesamt die Frage obsolet werden, wie Individuen in eine nach Geschlecht
strukturierte Gesellschaft hineinwachsen bzw. wie Kinder, Jugendliche und
Erwachsene handlungsfähige Subjekte in einer zweigeschlechtlich organisierten Gesellschaft werden.
Diesen Faden theoretischer Debatten um Geschlecht und Sozialisation greifen Bettina Dausien und Katharina Walgenbach in ihrem einführenden Essay
zu diesem Band auf. Sie argumentieren, dass mit dem Verlust sozialisationstheoretischer Perspektiven in der Geschlechterforschung spezifische blinde
Flecken in Bezug auf die Bedeutung gesellschaftlicher Transformationen von
Geschlechterverhältnissen entstanden sind, und fragen nach Möglichkeiten der
„Revitalisierung einer gesellschaftsanalytischen Perspektive“ in der erziehungswissenschaftlichen Geschlechterforschung.
Im Blick auf die Sozialisationsforschung führt dies zu der eingangs erwähnten Frage nach einer Transformation von Theorieperspektiven, die im
ersten Teil des Bandes im Vordergrund steht. Welche theoretischen Perspektiven können die bisher kritisierten Dilemmata und Desiderate der Sozialisationsforschung produktiv bearbeitbar machen und den gegenwärtigen Herausforderungen gerecht werden? Wie sollte die erziehungswissenschaftliche
Sozialisationsforschung zu Geschlecht heute konzipiert werden, um Prozesse
der Vergeschlechtlichung und Ungleichheitsverhältnisse zu erfassen? Welche
theoretischen Perspektiven sind besonders produktiv, wenn es um aktuelle
Transformationsprozesse von Geschlechterverhältnissen geht?
Jutta Hartmann verfolgt im Blick auf den Wandel erziehungswissenschaftlicher Debatten zu Sozialisation die Frage, welchen Beitrag die Perspektive
Judith Butlers zum Thema Sozialisation und Geschlecht leisten könnte und wo
Anschlüsse zwischen den von Butler inspirierten Studien und der Diskussion
über Sozialisation in der Geschlechterforschung bestehen. Die Autorin zeigt,
dass poststrukturalistische Perspektiven weniger antagonistisch zum Sozialisationsparadigma stehen als häufig angenommen. Insofern plädiert Hartmann
für eine in Anschluss an Butler neu orientierte Sozialisationstheorie.
Mit dem Verhältnis von Sozialisation und Transformation beschäftigt sich
der Beitrag von Barbara Rendtorff. Unter der Überschrift „Zugewinne und Fallen“ untersucht sie aktuelle Diskurse um Geschlecht in unterschiedlichen Kontexten, in denen Transformationen von Geschlechterordnungen als Modernisierungsprozesse gedeutet werden, und fragt, welche Rolle dabei ein simplifi-
10
Geschlecht – Sozialisation – Transformationen
zierendes Verständnis von Geschlechtersozialisation spielt. Die Autorin arbeitet heraus, dass unter der Oberfläche vermeintlicher Modernisierung der Geschlechterbilder die herkömmliche Trennung zwischen ‚weiblicher‘ Fürsorgeorientierung (communion) und ‚männlicher‘ Handlungsmacht (agency) aufrechterhalten bleibt. Die beobachtbare Veränderung, dass jungen Frauen ‚communion‘ und ‚agency‘ zugeschrieben und auch von ihnen selbst aktiv in Lebensentwürfe übernommen werden, ist somit ein zwiespältiger Modernisierungsgewinn. Rendtorff analysiert diese Mechanismen und diskutiert ihre Relevanz für die Geschlechter(sozialisations)forschung.
Der Beitrag von Mechthild Bereswill und Gudrun Ehlert rekonstruiert Theorietraditionen zu Sozialisation und Geschlecht, um vor diesem Hintergrund die
gegenwärtigen Diskurse über eine Benachteiligung von Jungen in Kontexten
von Erziehung und Bildung einzuordnen. Die Autorinnen zeigen, wie in diesen
Diskursen Ausdifferenzierungen, die Konzepte von Geschlechtersozialisation
in der feministischen Forschung in verschiedenen Richtungen erfahren haben,
ignoriert werden. So können auf der Basis unterkomplexer Sozialisations- und
Identitätsmodelle erneut Naturalismen Einzug halten. Auf Seiten der Geschlechterforschung sehen die Autorinnen die Notwendigkeit einer subjektund gesellschaftstheoretischen Weiterentwicklung sozialisationstheoretischer
Modelle.
An den Beiträgen des ersten Teils zeigt sich deutlich, dass es auch Transformationen von Geschlechterverhältnissen sind, die die erziehungswissenschaftliche Theoriebildung zu Fragen der Geschlechtersozialisation herausfordern.
Die Interpretation aktueller Transformationen ist daher ein prominenter Anlass, bisherige Annahmen oder Modelle von Geschlecht und Sozialisation weiterzuentwickeln und zu einer Neubestimmung des Sozialisationsbegriffs zu gelangen. Dieses Anliegen kann verfolgt werden, indem Transformationen gesellschaftlicher Geschlechterverhältnisse zum Ausgangspunkt genommen und
auf ihre Implikationen für sozialisationstheoretische Debatten hin befragt werden. Unter den gegenwärtigen Entwicklungen von Geschlechterdiskursen stechen insbesondere Umdeutungen bzw. Instrumentalisierungen feministischer
Ideale wie Selbstbestimmung oder Unabhängigkeit in ökonomisch verwertbare Eigenschaften wie Flexibilität, Mobilität oder individuelle Eigenverantwortung (Fraser 2009) hervor. Gerahmt wird dies von der zunehmenden
Dethematisierung von Geschlechterungleichheiten bei gleichzeitiger Reproduktion hierarchischer Geschlechterverhältnisse (Koppetsch/Burkhart 1999;
McRobbie 2010; Soiland 2011). Hier ist zu fragen, welche Konsequenzen die
Diagnose der Dethematisierung von Geschlecht für die empirische Sozialisationsforschung bzw. erziehungswissenschaftliche Forschung zu Geschlecht
hat. Analog dazu lässt sich aber auch eine generelle Analyseperspektive im
Blick auf Transformationen von Sozialisation und Geschlecht gewinnen: Dazu
richtet sich die Aufmerksamkeit auf erziehungswissenschaftlich relevante
11
Bettina Dausien, Christine Thon, Katharina Walgenbach
empirische Felder und konkrete Phänomene, in denen sich eine Transformation von Geschlechterverhältnissen besonders deutlich zeigt. Diesen Weg gehen die Beiträge im zweiten Teil des Bandes.
Der Beitrag von Sabine Klinger greift das Phänomen der Dethematisierung
von Geschlechterungleichheiten direkt auf. Als theoretischer Referenzrahmen
dienen der Autorin die These von Angela McRobbie, dass jungen Frauen im
neoliberalen Genderregime gegenwärtig ein neuer Geschlechtervertrag angeboten werde, sowie Angelika Wetterers Befund einer ‚rhetorischen Modernisierung‘. Anhand von Gruppendiskussionen untersucht Klinger, wie Studierende der Erziehungswissenschaft die Themen Geschlecht, Geschlechterhierarchien und Geschlechterpolitik heute fassen.
Monika Götsch rekurriert in ihrem Artikel ebenfalls auf empirische Ergebnisse. Sie rekonstruiert anhand von Gruppendiskussionen mit Jugendlichen,
wie die Re-Produktion heteronormativen Wissens als sozialisierte und sozialisierende Praxis verstanden werden kann. Ein paradoxer Befund ihrer Studie
ist, dass die Jugendlichen Sexualität und Geschlecht durchaus als individuell
wählbar und pluralisiert wahrnehmen, ohne allerdings Heteronormativität als
Normalisierungsdirektiv aufzugeben. Jugendliche können damit pluralisierte
und zugleich heteronormative Subjekte ‚sein‘.
Die Auseinandersetzung um Transformationen von Geschlechterverhältnissen wird auch im offenen Teil dieses Bandes fortgeführt, ohne auf sozialisationstheoretische Fragestellungen zu fokussieren.
Karin Flaake fragt in ihrem Beitrag nach den veränderten Bedingungen des
Aufwachsens für Söhne von Paaren, die sich die Elternschaft teilen und in denen die Väter bewusst eine aktive Rolle übernehmen. Die Autorin berichtet aus
den Ergebnissen einer Interviewstudie und diskutiert an Beispielen, wie sich
der allmähliche Wandel in den familiären Beziehungen im intergenerationalen
Vergleich vollzieht bzw. andeutet. Dabei werden aus einer psychoanalytisch
informierten Perspektive insbesondere Vater-Sohn- und Mutter-Sohn-Beziehungen in ihrer Bedeutung für die Männlichkeitsentwürfe der Söhne in den
Blick genommen.
Die Transformation von Väterlichkeitsdiskursen, namentlich die Etablierung der „diskursiven Figur des ‚aktiven Vaters‘“, ist der Ausgangspunkt des
Beitrags von Rhea Seehaus. Diesen vielfach diskutierten Wandel analysiert die
Autorin auf der Basis einer empirischen Studie zur Perspektive von Müttern
auf die Verteilung von Sorgearbeit. Dabei zeigt sich, dass der Wandel entsprechender Diskurse – keineswegs der alltäglichen Praxen – gleichwohl „(Un-)
Ordnungen der familialen Sorge“ produziert, die Mütter herausfordern, einerseits ein Bild ihres Partners als das eines aktiven Vaters mit zu konstruieren,
andererseits aber Sorgearbeit weiterhin als in erster Linie weibliches Territorium zu behaupten.
12
Geschlecht – Sozialisation – Transformationen
Mit „transformativen Potentialen“ von Dual-Career-Familien beschäftigt
sich der Artikel von Stefanie Leinfellner. Er präsentiert Ergebnisse einer Interviewstudie mit Wissenschaftler_innen-Paaren und deren Kindern. Der Beitrag
erlaubt insbesondere Einblicke in die spezifischen Ambivalenzen, die mit Doppelkarriere-Arrangements in den institutionellen Kontexten des Wissenschaftsbetriebs verbunden sind, und bezieht mit der Perspektive der Kinder
auch intergenerationale Dynamiken ein.
Den Abschluss des Bandes bildet ein Tagungsbericht von Anne-Dorothee
Warmuth zur Jahrestagung 2015 der Sektion Frauen- und Geschlechterforschung der DGfE. Die Tagung an der Universität Paderborn war dem Zusammenhang von Erziehung, Gewalt und Sexualität gewidmet und versammelte in
ihrem Programm eine große Bandbreite von Vorträgen, über die der Bericht
einen Überblick gibt.
Literatur
Dausien, Bettina (1999): „Geschlechtsspezifische Sozialisation“ – Konstruktiv(istisch)e Ideen zur Karriere und Kritik eines Konzepts. In: Dausien, Bettina / Herrmann, Martina / Oechsle, Mechthild / Schmerl, Christiane / Stein-Hilbers, Marlene
(Hrsg.): Erkenntnisprojekt Geschlecht. Feministische Perspektiven verwandeln
Wissenschaft. Opladen: Leske und Budrich, S. 216–249.
Fraser, Nancy (2009): Feminismus, Kapitalismus und die List der Geschichte. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 8, S. 44–57.
Gildemeister, Regine / Wetterer, Angelika (1992): Wie Geschlechter gemacht werden.
Die soziale Konstruktion der Zweigeschlechtlichkeit und ihre Reifizierung in der
Frauenforschung. In: Knapp, Gudrun-Axeli / Wetterer, Angelika (Hrsg.): TraditionenBrüche. Entwicklungen feministischer Theorie. Freiburg i. Br.: Kore, S. 201–
254.
Koppetsch, Cornelia / Burkart, Günter (1999): Die Illusion der Emanzipation: zur Wirksamkeit latenter Geschlechtsnormen im Milieuvergleich. Konstanz: UVK.
Maihofer, Andrea (2002): Geschlecht und Sozialisation. Hauptartikel. In: Erwägen –
Wissen – Ethik, Heft 1/2002.
McRobbie, Angela (2010): Top Girls: Feminismus und der Aufstieg des neoliberalen
Geschlechterregimes. Wiesbaden: VS.
Popp, Ulrike (2002): „Sozialisation“ – Substanzieller Begriff oder anachronistische
Metapher? In: Zeitschrift für Pädagogik, Jg. 48, Nr. 6, S. 898–917.
Soiland, Tove (2011): Zum problematischen Cultural Turn in der Geschlechterforschung. In: Casale, Rita / Forster, Edgar (Hrsg.): Ungleiche Geschlechtergleichheit. Geschlechterpolitik und Theorien des Humankapitals (Jahrbuch Frauen- und
Geschlechterforschung in der Erziehungswissenschaft, Bd. 7). Opladen / Farmington Hills: Barbara Budrich, S. 17–32.
13
Bettina Dausien, Christine Thon, Katharina Walgenbach
Wetterer, Angelika (2003): Die Krise der Sozialisationsforschung als Spiegel gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse. In: Zeitschrift für Frauenstudien & Geschlechterforschung, Jg. 21, Heft 1/2003, S. 3–22.
14
Essay
Sozialisation von Geschlecht –
Skizzen zu einem wissenschaftlichen Diskurs
und Plädoyer für die Revitalisierung
einer gesellschaftsanalytischen Perspektive
Bettina Dausien, Katharina Walgenbach
Ausgangspunkt des folgenden Essays ist die Beobachtung, dass sozialisationstheoretisches Denken in der erziehungswissenschaftlichen Geschlechterforschung seit längerem einen erheblichen Relevanzverlust erlitten hat. Dies ist
umso erstaunlicher, als das Thema in den Anfängen der Frauen- und Geschlechterforschung wissenschaftlich, aber auch in der pädagogischen Praxis
hohe Aufmerksamkeit hatte, ja, zu den konstitutiven Problemstellungen der
Geschlechterforschung und der Frauenbewegung zählte. Heute scheint Geschlechtersozialisation dagegen ein Un-Thema geworden zu sein. Wir möchten
in diesem Essay reflektieren, was es bedeutet, wenn der sozialisationstheoretische Blick in aktuellen Analysen der (erziehungswissenschaftlichen) Geschlechterforschung fehlt. Dafür verfolgen wir zwei miteinander verknüpfte
Fragestellungen: Wie ist der Verlust sozialisationstheoretischer Fragen zu erklären? Und welche wichtigen Themen und Perspektiven geraten damit aus
dem Blick?
Um der ersten Frage nachzugehen schauen wir, in Teil I des Essays, zunächst noch einmal zurück auf die Geschichte der erziehungswissenschaftlichen Geschlechterforschung. Ziel ist weniger eine genaue historische Rekonstruktion der Debatten um Geschlechtersozialisation als vielmehr die Entwicklung einer Argumentationsskizze, mit der wir den aktuellen Bedeutungsverlust
des Themas plausibilisieren können. Wir entwickeln die These, dass unterschiedliche, auch konträre Strömungen der erziehungswissenschaftlichen Geschlechterforschung auf eine Weise ‚zusammengespielt‘ haben, dass sich das
Interesse auf die Analyse von Mikropraktiken und Diskursen sowie auf Prozesse der Individualisierung verlagert hat und dass damit sozialisationstheoretische Fragen gewissermaßen an den Rand gerückt sind. Dazu hat wesentlich
auch die Rezeption des Individualisierungsansatzes in der Erziehungswissen-
Bettina Dausien, Katharina Walgenbach
schaft beigetragen, bei der die gesellschaftsanalytische Dimension gewissermaßen ‚weggekürzt‘ wurde und ‚Individualisierung‘ ohne das Konzept der
Vergesellschaftung auszukommen scheint.
Der Rückblick in die Geschichte bereitet auch die Bearbeitung der zweiten
Frage vor, denn er erinnert daran, dass das Sozialisationsparadigma durchaus
unterschiedliche Forschungsrichtungen umfasst. Die Frage, was mit dem sozialisationstheoretischen Blick verlorengeht, kann nun, in Teil II des Essays, differenzierter beantwortet werden. Unser Anliegen ist es zu zeigen, dass insbesondere solche Ansätze aus dem Blick geraten sind, die Vergesellschaftung im
Zusammenhang mit sozialen Ungleichheitsstrukturen und historisch-gesellschaftlichen Geschlechterverhältnissen auf der Strukturebene thematisieren.
Auf die problematische Ausblendung gesellschaftlicher Strukturzusammenhänge aus der Geschlechter(sozialisations)forschung haben einzelne Autorinnen wie Bettina Heintz und Eva Nadai (1998) oder Helga Bilden (2006)
bereits vor einigen Jahren hingewiesen, ihre Argumente wurden allerdings
nicht systematisch im Rahmen der Forschungen zu Sozialisation und Geschlecht und auch nicht in anderen erziehungswissenschaftlichen Diskursen
aufgegriffen. Aktuelle Gesellschaftsdiagnosen zur Neuordnung von Ökonomie, Staat und Privatsphäre und deren Folgen für eine Transformation der Geschlechterverhältnisse bleiben damit tendenziell außerhalb erziehungswissenschaftlicher Reflexion1. Welche Bedeutung diese Ansätze für eine sozialisationstheoretische und erziehungswissenschaftliche Geschlechterforschung haben, diskutieren wir in Teil II. Umgekehrt erscheinen uns aber auch sozialisationstheoretische Perspektiven in aktuellen sozialwissenschaftlichen Gesellschaftsanalysen zu diesen Transformationsprozessen ein Forschungsdesiderat.
Wir denken, dass die in der jüngeren erziehungswissenschaftlichen Geschlechterforschung herrschende Distanz gegenüber kontemporären Analysen
zur Transformation der Geschlechterverhältnisse auf der Makroebene durch
eine Wiederaufnahme der sozialisationstheoretischen Perspektive aufgebrochen und korrigiert werden könnte. Vor diesem Hintergrund plädieren wir für
eine Revitalisierung gesellschaftsanalytischer Perspektiven in der erziehungswissenschaftlichen Sozialisations- und Geschlechterforschung.
Die hier angesprochenen Themen sind weitgespannt und können im Format
eines Essays gewiss nicht in angemessener Differenziertheit behandelt werden.
Aktuelle wissenschaftliche Diskurse über Neoliberalismus, Postfordismus und
neue Formen des Kapitalismus sind vielfältig, differenziert, oft auch überpointiert und unscharf, und gleiches gilt für Debatten über neue Formen der Subjektivierung und Identitätsformationen. Wir können diese Diskussionen hier
nicht annähernd systematisch aufarbeiten – und schon gar keine schlüssige
1
18
Die Jahrbücher der Frauen- und Geschlechterforschung können hier als Ausnahme für die
Erziehungswissenschaft angeführt werden (Borst/Casale 2007; Casale/Forster 2011; Moser/Pinhard 2010; Moser/Rendtorff 2012; siehe auch Walgenbach/Stach 2015). Sie fokussierten allerdings nicht dezidiert Fragen der Sozialisationsforschung und -theorie.
Sozialisation von Geschlecht
Konzeption zu ihrer Verknüpfung vorlegen. Das ist jedoch auch nicht der Anspruch des Essays. Uns geht es darum, die Debatte um diese Fragen wieder
neu anzustoßen. Es ist die ‚alte‘ sozialisationstheoretische Fragestellung, auf
die es womöglich keine befriedigenden Antworten gibt, die aber dennoch gestellt sein soll, ja muss, weil die gesellschaftlichen Verhältnisse sich in einem
Ausmaß geändert haben, dass auch das analytische Instrumentarium der Geschlechter(sozialisations)forschung nicht fraglos beibehalten werden kann.
Was an seine Stelle tritt oder treten sollte, ist eine offene Frage.
Teil I
1 ‚Geschlechtersozialisation‘ –
Skizze zur Karriere eines wissenschaftlichen Paradigmas
Das wissenschaftliche Konzept der Sozialisation ist in seiner Entstehungs- und
Wirkungsgeschichte eng mit gesellschaftlichen Transformationsprozessen
verknüpft: Dies gilt für sein erstes Auftauchen am Ende des 19. Jahrhunderts
ebenso wie für spätere Konjunkturen, etwa im Kontext der Reformierung der
Sozialwissenschaften nach dem Zweiten Weltkrieg (vgl. Veith 1996: 21ff.,
36ff.). Es gilt auch für die Herausbildung des Konzepts der ‚geschlechtsspezifischen Sozialisation‘, das in den 1970er Jahren bedeutsam wurde. Die theoretische Grundfigur des Sozialisationskonzepts besteht darin, die Vergesellschaftung der Individuen und die Individualisierung des Sozialen als dialektischen Prozess zusammenzudenken, und zwar in der Dimension der Lebensspanne individueller Existenz oder, anders gesagt, in der Perspektive individueller Biographien.
Der von Émile Durkheim Ende des 19. Jahrhunderts erstmals formulierte
Begriff Sozialisation enthielt gewissermaßen die soziologische Antwort auf
die Frage, wie und unter welchen Bedingungen arbeitsteilige moderne Gesellschaften Integration und Kohärenz herstellen können, wenn traditionelle Moralvorstellungen und äußere Zwänge ihre Bindungskraft verlieren und die Lebensführung ihrer Mitglieder zunehmend kontingent und individualisiert wird.
Durkheims Erklärung lenkte den Blick auf eine neue Form der Vergesellschaftung, auf die Internalisierung gesellschaftlicher Regeln und Strukturen, die zu
einer Art Kollektivbewusstsein, einem Gemeinsinn oder einer „organischen
Solidarität“ führt. Diese bleibt jedoch bis zu einem gewissen Maße prekär und
offen, da sie eben nicht mehr durch Religion oder äußere Gewalt „mechanisch“
19
Bettina Dausien, Katharina Walgenbach
erzwungen werden kann, sondern vom kollektiven Handeln der Individuen abhängig geworden ist (vgl. Durkheim [1893] 1977; Veith 1996: 114ff.).
Den Gedanken der Internalisierung oder Inkorporation ‚äußerer‘ gesellschaftlicher Strukturen in die ‚innere‘ Struktur der handelnden Subjekte haben
später mit unterschiedlichen Akzentsetzungen Norbert Elias (1976) mit seinen
Studien zum „Prozess der Zivilisation“ und Pierre Bourdieu (1987) mit seinem
Konzept des Habitus theoretisch und empirisch weitergeführt. Beide Ansätze
zielen darauf ab, die Dichotomie von Individuum versus Gesellschaft, die historisch und theoriearchitektonisch gesehen für das Sozialisationsparadigma
konstitutiv ist, zu überwinden (vgl. Bauer 2011: 107–120). Dieser Anspruch
wird später auch in der Geschlechterforschung aufgenommen (s.u.).
Das ursprüngliche soziologische Interesse galt somit der theoretischen Erfassung des Zusammenhangs zwischen der Transformation der (europäischen)
Gesellschaften zu modernen industrie-kapitalistisch wirtschaftenden, national
organisierten Staaten einerseits und andererseits der Idee und empirischen Formation eines (männlichen) bürgerlichen Subjekts, das sich in diesen Strukturen
herausbildet und zu einem handlungs- und leistungsfähigen, moralisch verpflichteten Mitglied heranwächst, zugleich aber auch seine je individuelle Persönlichkeit und Biographie ausbildet.2
1.1 „Geschlechtersozialisation“ –
Aufbruch und neue Perspektiven in den 1970er Jahren
Dass dieses Subjekt ein Geschlecht hat oder, genauer, durch die in einer historisch-konkreten Gesellschaft herrschenden Geschlechterverhältnisse zu einem
geschlechtlich positionierten und identifizierten Subjekt, zu ‚Mann‘ und ‚Frau‘
wird, war eine Erkenntnis, die erst Jahrzehnte später in der Frauenbewegung
und der sich herausbildenden Frauen- und Geschlechterforschung thematisiert
wurde. Simone de Beauvoirs vielzitierter Satz: „Man kommt nicht als Frau zur
Welt, man wird es“ ([1949] 1951: 265), steht paradigmatisch für diese Einsicht.
Auch sie ist wiederum im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Transformationsprozessen zu sehen, die zum Brüchigwerden der bis dahin dominanten
Geschlechterordnung beitragen3: mit dynamisierten Entwicklungen der Arbeitsmärkte ab den 1950er Jahren und dem steigenden Bedarf an qualifizierten
2
3
20
Zur Genese sozialisationstheoretischen Denkens vgl. die umfassende Arbeit von Veith
(1996), zur Entwicklung der Debatte um Geschlechtersozialisation vgl. ausführlicher Dausien 1999, 2006; Bilden/Dausien 2006.
Die folgenden Stichworte lassen notgedrungen viele wichtige Differenzierungen aus, vor allem den Aspekt der Klassenlage, die nationalen Besonderheiten, Migrationsprozesse und die
gesamte Entwicklung in den sozialistischen Nachkriegsgesellschaften Osteuropas. Sie sollen
hier dennoch genannt werden, um das abstrakte Argument wenigstens mit einigen wenigen
historischen Assoziationen zu verbinden und anschaulicher zu machen.
Sozialisation von Geschlecht
Arbeitskräften; mit den Bildungsreformen, die seit den 1960er Jahren in den
meisten westeuropäischen Gesellschaften politisch in Gang gesetzt und sehr
rasch im Alltag wirksam werden; mit der Erosion und zunehmenden Kritik der
im Nationalsozialismus geltenden Normen und Werte und dem Entstehen
neuer politischer Ansätze zur Demokratisierung sowie neuer kultureller Orientierungen in den nachwachsenden Generationen; schließlich mit den konkreten
biographischen Erfahrungen von Frauen (und Männern) im Nationalsozialismus und im Krieg, die jene vermeintlich traditionelle Geschlechterordnung bereits vielfach ad absurdum geführt hatten und einer schlichten Restauration in
den Familien ebenso wie in der Gesellschaft entgegenstanden. Die sogenannte
Studentenbewegung, die Frauenbewegung und andere neue soziale Bewegungen, die sich in den 1960er und 1970er Jahren bilden, sind politischer und kultureller Ausdruck einer gesellschaftlichen Transformation, die – neben der
Klassenfrage – ganz wesentlich die Geschlechterfrage tangiert, ja durch sie vorangetrieben wird. Insbesondere zunehmend gut ausgebildete Frauen fordern
jetzt nicht nur gleiche Rechte und Teilhabe, sondern machen sie immer öfter
auch in der Alltagspraxis geltend.4 Sie kritisieren offen die bestehenden Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern sowohl auf der Ebene persönlicher
Beziehungen als auch in ihrer institutionalisierten Struktur, die sich u.a. in den
Schulen und Universitäten zeigt. In diesem vielschichtigen gesellschaftlichen
Kontext, der als Modernisierungsprozess interpretiert werden kann, zugleich
aber bereits Ansätze zu dessen Kritik enthält, ist auch die Diskussion um Geschlechtersozialisation zu verorten, die sich als interdisziplinäre Debatte in den
1970er Jahren etabliert.
1.2 Etablierung im wissenschaftlichen Feld
Im deutschsprachigen Raum gewinnt das Konzept der geschlechtsspezifischen
(wie auch der klassenspezifischen) Sozialisation vornehmlich in soziologischen und erziehungswissenschaftlichen Diskursen rasch an Bedeutung; psychologische, kulturanthropologische und historische Forschungen werden zu
seiner Stützung herangezogen. Das Konzept eröffnet die theoretisch begründete Möglichkeit, Geschlecht nicht mehr als ‚Naturtatsache‘ zu behandeln, die
pädagogisch allenfalls geformt und verfeinert werden kann (wie Geschlecht in
der Pädagogik lange Zeit konzipiert war), sondern als ‚soziale Tatsache‘
(Durkheim). Es lenkt den Blick auf die gesellschaftliche Herstellung sozialer
Rollen und vergeschlechtlichter Identitäten. „Wir werden nicht als Mädchen
geboren – wir werden dazu gemacht“, lautet der programmatische Titel einer
4
In einer rekonstruktiven Studie hat Christine Thon (2008) untersucht, wie solche Erfahrungen
in den Lebensentwürfen und -praxen von Frauen über Generationen hinweg tradiert und
transformiert werden.
21
Bettina Dausien, Katharina Walgenbach
zeitgenössischen Publikation (Scheu 1977), die mit nicht unbedeutender Akzentverschiebung Simone de Beauvoirs Satz aufgreift (vgl. Dausien 1999:
225ff.).
Die sozialisationstheoretische Sichtweise bringt auch ein erhebliches Potenzial für empirische Forschung mit sich: Es werden neue Forschungsfragen
und ganze Forschungsprogramme auf die Tagesordnung gesetzt (vgl. Hurrelmann/Ulich 1980) sowie neue Methoden ihrer Bearbeitung gesucht und entwickelt, Ansätze der quantitativen Sozialforschung ebenso wie die ab Mitte der
1970er Jahre rasch bedeutsam werdenden qualitativen Methoden und Konzepte der Methodenkombination. Das Sozialisationsparadigma ist in dieser
Phase dabei nicht unwesentlich an der Transformation der geisteswissenschaftlichen Pädagogik in eine modernisierte, empirisch orientierte Erziehungswissenschaft beteiligt.
Das Sozialisationskonzept ist, insbesondere im Kontext der Frauenbewegung, auch mit dem Anspruch der Kritik an bisherigen wissenschaftlichen
Sichtweisen und Forschungsansätzen verbunden. Geschlechtersozialisation
gehört in den 1970er und 1980er Jahren zu jenen Themen, die sich zu Kristallisationspunkten im Aufbau einer kritischen Frauenforschung und feministischen Wissenschaft entwickeln. In den 1980er Jahren entsteht eine Vielzahl
von Studien und theoretischen Diskussionen zum Thema Geschlechtersozialisation, die über die fachwissenschaftlichen Grenzen hinaus wahrgenommen
werden und das Thema breit in den Erziehungs- und Sozialwissenschaften verankern. Diese Phase kann deshalb als Hochzeit des Konzepts der Geschlechtersozialisation bezeichnet werden.
Dies soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Ansatz auch Probleme hat und keineswegs ein in sich schlüssiges, theoretisch konsistentes Paradigma darstellt. Im Gegenteil, die in den 1980er und 1990er Jahren an den
Universitäten gut etablierte Sozialisationsforschung bezieht einen Großteil ihrer Integrationskraft aus dem Umstand, dass ‚Sozialisation‘ eine sehr abstrakte
Überschrift für eine komplexe Problemstellung ist, die in konkreten Forschungskonzepten recht unterschiedlich ausbuchstabiert werden kann. Das gilt
auch für die Forschungen zu Geschlechtersozialisation. Mit der gemeinsamen
begrifflichen Klammer werden durchaus diskrepante, ja widersprüchliche Forschungsansätze zusammengefasst: Da finden sich psychoanalytisch ausgerichtete Ansätze, die in erster Linie nach der Dynamik der frühkindlichen Formation von Geschlechtsidentität fragen und diese als Reproduktion der geschlechtlichen Arbeitsteilung moderner Gesellschaften interpretieren (z.B.
Chodorow 1985), neben Ansätzen, die sich im soziologischen Sinn um eine
Analyse der widersprüchlichen Vergesellschaftungsprozesse bemühen und
Geschlechterverhältnisse im Kontext gesellschaftlicher Strukturen und ihrer
wechselseitigen Dynamiken verorten. Im deutschsprachigen Feld sind das vor
allem die Arbeiten von Regina Becker-Schmidt und Gudrun-Axeli Knapp, die
22
Sozialisation von Geschlecht
im Anschluss an die Kritische Theorie von einer konstitutiven Widerspruchsstruktur zwischen den gesellschaftlichen Sphären Produktion und Reproduktion ausgehen und daraus strukturell ambivalente Subjektformationen ableiten
und empirisch rekonstruieren – und dabei die Tradition nicht-dualistischen, dialektischen Denkens in der Sozialisationsforschung prominent vertreten (vgl.
stellvertretend Becker-Schmidt 1987; Knapp 1990).
Neben solchen, theoretisch elaborierten Ansätzen gibt es schließlich eine
Vielzahl empirischer Forschungen, die einzelne Aspekte untersuchen und in
einem sozialisationstheoretischen Rahmen verankern, z.B. Studien zur unterschiedlichen Behandlung ‚weiblicher‘ und ‚männlicher‘ Kinder beim Stillen,
im Kindergarten oder im Schulunterricht, zur Darstellung von ‚Mädchen‘ und
‚Jungen‘ oder ‚Frauen‘ und ‚Männern‘ in Bilderbüchern, Schulbüchern, Talkshows oder in der Werbung (vgl. Schmerl 2006b).
Mit solchen Einzelstudien, die bis heute in der psychologischen oder erziehungswissenschaftlichen Geschlechterforschung durchaus üblich sind, werden
einerseits bis dahin wenig beachtete Momente des komplexen Sozialisationsgeschehens identifiziert, andererseits führen sie kaum zu einem besseren theoretischen Verständnis des Zusammenhangs zwischen Sozialisation und Geschlecht.5 Sie tragen vielmehr, zugespitzt gesagt, mit dazu bei, den Dualismus
‚weiblich/männlich‘ zu wiederholen und zu fixieren. Eben dieses Problem der
Reifizierung der Geschlechterdifferenz durch die Frauenforschung selbst wird
kurze Zeit später zentraler Ansatzpunkt der (Selbst-)Kritik.
1.3 Geschlechtersozialisation als Perspektive in der politischen und
pädagogischen Praxis
Zunächst ist jedoch ein Blick über die Grenzen der wissenschaftlichen Debatte
hinaus angezeigt. Der Aufschwung des Sozialisationsparadigmas in den
1970er und 1980er Jahren geht einher mit und wird auch getragen von einer
breiteren gesellschaftlich-kulturellen Thematisierung der Geschlechterfrage,
keineswegs nur in der Frauenbewegung im engeren Sinn. Die Idee ‚geschlechtsspezifischer‘ Sozialisation bietet Ansatzpunkte für eine kritisch-emanzipatorische Bildungs- und Erziehungspraxis, etwa für Konzepte einer parteilichen Mädchen- und Frauenbildung sowie für die Gestaltung der familialen
5
Helga Bildens programmatischer Entwurf, solche Befunde in einem aneignungstheoretischen
Rahmen zu integrieren (Bilden 1980), wird nicht systematisch ausgearbeitet und von der Autorin selbst mehrfach kritisch reformuliert (Bilden 1991, 2006; vgl. auch Schmerl 2006a).
23
Bettina Dausien, Katharina Walgenbach
Erziehung, die den kritisierten Geschlechterstereotypen6 durch ‚gegengeschlechtliche‘ Angebote7 oder ‚geschlechtsneutrale‘ Interventionen gegensteuern sollten.
In dieser historischen Konstellation wird das Sozialisationskonzept zu einem Argument transformiert, das in pädagogischen Kontexten wie Schulen,
Kindergärten, Universitäten oder der Bildungspolitik durchaus in seiner
Sprengkraft erkannt und deshalb nicht nur positiv, sondern auch skeptisch aufgenommen wird: Das bestehende Geschlechterverhältnis oder, wie es im zeitgenössischen Jargon häufig heißt, die ‚Geschlechterrollen‘ sind weder ‚angeboren‘ noch kulturell festgeschrieben, sondern Ergebnis historisch-gesellschaftlicher Prozesse. Sie werden ‚gemacht‘ und – so die pädagogische Hoffnung – können deshalb auch verändert werden.
Diese Idee wird zwar in der Folge vordergründig enttäuscht, da sich die
intendierten Effekte zumindest nicht unmittelbar einstellen, dennoch wird der
Sozialisationsgedanke nachhaltig vom gesellschaftlichen Diskurs aufgenommen. In der pädagogischen Praxis und in der Bildungspolitik, in neuen Formen
der ‚Frauenförderung‘ und später in der Gleichstellungspolitik ist das Konzept
bzw. Argument der Geschlechtersozialisation nicht wegzudenken. Es wird –
zumeist ohne nähere Differenzierung und Explikation – als Erklärungsmuster
für soziale Ungleichheit ebenso wie für pädagogische Probleme herangezogen
und erfüllt ganz offensichtlich sehr gut die Funktion als gesellschaftliches Deutungsmuster. (Nebenbei gesagt, tritt das Argument ‚Sozialisation‘ damit, funktional betrachtet, nicht selten an die Stelle seines vermeintlichen Gegenspielers: Es löst das Argument ab, Geschlecht sei eine biologische Disposition.)
1.4 Kritik und Bedeutungsverlust:
der Sozialisationsansatz seit den 1990er Jahren
Im Unterschied dazu beginnt im wissenschaftlichen Kontext, noch während
die Konjunktur der Sozialisationsforschung anhält, eine kritische Debatte, die
Anfang der 1990er Jahre zu einer breiteren Diskussion und schließlich zur Ab6
7
24
Das Konzept der Geschlechterstereotype ist insbesondere in der Sozial- und Kognitionspsychologie verankert und bezeichnet kognitive Zuschreibungen von Eigenschaften als „weiblich“ und „männlich“. Es hatte in den 1970er und 1980er Jahren Konjunktur, was vermutlich
mit dem Vorteil erklärt werden kann, dass es in hohem Maß mit empirischer Evidenz einhergeht, sowohl auf der Ebene alltagsweltlicher Empirie als auch in der empirischen Forschung.
Beispiele für diese Strategie gibt es viele, sowohl auf der Ebene der Medien, Materialien und
Spielsachen, mit denen Kinder aufwachsen, die nun geschlechterbewusst gestaltet werden,
als auch Erziehungspraktiken, die Kinder zur Ausbildung von Interessen und Fähigkeiten
anregen sollen, die typischerweise dem ‚anderen‘ Geschlecht zugerechnet werden, also Fußball und Technikbaukästen für Mädchen, Puppenspiele und Sticken für Jungen. In Kritik solcher Ansätze entwickelt sich bald eine geschlechterreflektierende Pädagogik (zum Überblick
vgl. Rendtorff 2006).
Sozialisation von Geschlecht
kehr der Geschlechterforschung vom Sozialisationsparadigma führt (vgl. Dausien 1999). Zwei wissenschaftliche Strömungen sind dabei einflussreich, die
sich aus unterschiedlichen theoretischen Perspektiven heraus mit den Identitätsannahmen und Tendenzen der Reifizierung in der bisherigen Frauen- und
Geschlechterforschung auseinandersetzen:
Zum einen gewinnen bereits in den 1980er Jahren diskutierte sozialkonstruktivistische und interaktionistische Ansätze an Bedeutung, die Geschlecht
als soziale bzw. kulturelle Konstruktion begreifen und starke empirische Konzepte zu ihrer Rekonstruktion zur Verfügung stellen. Das Konzept des doing
gender (West/Zimmerman 1987) ermöglicht es nicht nur, substanzialisierende
Vorstellungen von Geschlecht, Geschlechtsidentität oder ‚weiblichen/männlichen Eigenschaften‘ zu kritisieren, sondern bietet eine theoretisch und methodologisch überzeugende Alternative an: Geschlecht wird als eine fortlaufende
soziale Praxis verstanden, als etwas, was Akteur_innen in konkreten sozialen
Situationen tun, und nicht als etwas, was sie sind oder haben (vgl. Garfinkel
1967; Goffman 1977; West/Zimmerman 1987; Lorber/Farrell (1991); zum
Überblick vgl. Gildemeister 2010; Wetterer 2010).
Das doing gender-Konzept wird in den 1990er Jahren zunehmend in der
deutschsprachigen Geschlechterforschung rezipiert (vgl. Hagemann-White
1984, 1988; Gildemeister/Wetterer 1992), in ethnographischen Studien erprobt
(z.B. Breidenstein/Kelle 1998; Kelle 1999) und auch explizit gegen Grundannahmen der Sozialisationsforschung gewendet (vgl. Kelle/Breidenstein 1996).
Der damit angeregte Perspektivwechsel ist radikal und irritierend, besonders
für eine Frauenforschung, die sich in Kritik an der androzentrischen Wissenschaft auf positive Konzepte ‚weiblicher‘ Forschung und Identität bezieht und
bestrebt ist, damit eine eigenständige Position in der Wissenschaft zu fundieren. Darüber hinaus bricht der Ansatz radikal mit der Vorstellung, gender sei
eine soziale Überformung eines doch irgendwie vorhandenen biologischen
Kerns von Geschlecht (sex) – eine durchaus verbreitete Sichtweise, die ein Nebeneinander der bisherigen Auffassung und feministischer Kritik noch zugelassen hatte.
Es wundert somit nicht, dass doing gender in pädagogischen Kontexten
kontrovers diskutiert wurde und wird. Andererseits bestärkte der Ansatz auch
handlungsorientierte Perspektiven und die Idee, dass Individuen nicht nur Opfer gesellschaftlicher Verhältnisse sind, sondern auch „Täter_innen“ (Thürmer-Rohr 1983) – und dass sie deshalb auch aktiv an der Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse mitwirken können, z.B. im Rahmen einer pädagogischen Praxis, die sich als geschlechterreflexiv begreift und ihre eigene Beteiligung an Prozessen des doing gender in den Blick nimmt.
Eine zweite Richtung, die sich kritisch mit der bisherigen Frauen- und Geschlechterforschung auseinandersetzt und ein mindestens ebenso hohes Irritationspotenzial enthält, ist mit dem Begriff der Dekonstruktion verbunden. Im
Anschluss an die französische poststrukturalistische Philosophie, insbesondere
25
Bettina Dausien, Katharina Walgenbach
an die Konzepte Jacques Derridas sowie an Arbeiten von Judith Butler und
Michel Foucault, kritisiert sie die Idee des autonomen Subjekts und Identitätskonzepte in der Geschlechterforschung. Das 1991 ins Deutsche übersetzte
Buch „Gender Trouble“ (Butler 1990) bringt ein verschiedentlich schon formuliertes ‚Unbehagen‘ mit der Theorie und Praxis der Geschlechterforschung
auf den Punkt. Es wird zum Kristallisationskern einer Debatte (vgl. Benhabib
u.a. 1993), die weit über den Feminismus hinaus wirkt und allmählich auch die
erziehungswissenschaftliche Diskussion erreicht, wo Ansätze der Queer Theory
(Hark 1996) auch mit pädagogischen Fragen verbunden werden (Plößer 2005).
Die dekonstruktivistische Debatte setzt sich zwar nicht direkt mit dem Sozialisationsparadigma auseinander, bewirkt aber eine Perspektivenverschiebung in Richtung der gesellschaftlichen Diskurse und kulturellen Ordnungen,
die geschlechtliche Subjekte machtvoll hervorbringen. Vorrangiges Ziel ist die
Dekonstruktion kultureller Denksysteme, verbunden mit einem zunächst eher
theoretischen und politischen, weniger empirisch-forschenden Interesse an irritierenden und subversiven Praktiken (Butler 1990). Ansätze, die dekonstruktivistische Theorie mit Fragen der Sozialisation zu verbinden und im Rahmen
empirischer Studien zu untersuchen, werden erst später entwickelt (vgl. dazu
Hartmann in diesem Band).
Beide Richtungen, die sozialkonstruktivistische und die dekonstruktivistische, unterscheiden sich in ihren theoretischen Begriffen und Denktraditionen,
dennoch tragen sie, zumal in ihrem etwa zeitgleichen Auftreten, dazu bei, dass
das Sozialisationsthema aus dem Blick gerät und vermeintlich obsolet wird8
(vgl. Dausien 1999). Die Rede von Geschlechtersozialisation oder gar geschlechtsspezifischer Sozialisation gerät in Verdacht, jener kritisierten Idee eines relativ stabilen, ‚weiblichen‘ oder ‚männlichen‘ Subjekts noch immer anzuhängen. Die sozialisationstheoretische Sprache bekommt den Geschmack
des Gestrigen, Altbackenen. Sie ‚überwintert‘ jedoch in Lehr- und Handbüchern bzw. deren Neuauflagen.
Diese Entwicklung hat, rückblickend gesehen, nicht unproblematische Folgen: Zum einen wird das Forschungsfeld in der kritischen Auseinandersetzung
homogenisiert; der Vorwurf eines substanzialisierenden und dichotomisierenden Denkens wird pauschal gegenüber Sozialisationskonzepten formuliert,
auch da wo er unberechtigt ist. Damit werden Ansätze, die sich aus nicht-dualistischen Theorietraditionen (Pragmatismus, Marxismus, einigen Spielarten
der Psychoanalyse) heraus mit Sozialisation befassen, in gewisser Weise vergessen oder zumindest im feministischen Diskurs nicht weiterentwickelt. Unterstützt wird diese Tendenz womöglich dadurch, dass die Literatur aus den
8
26
Davon erstaunlich unberührt sind allerdings Forschungen, die im herkömmlichen Sinn Geschlechtersozialisation mit Hilfe von Variablendesigns zu erfassen suchen, besonders in der
Psychologie. Diese werden allerdings in der Geschlechterforschung ebenso wenig rezipiert,
wie sie ihrerseits die feministische Erkenntniskritik zu Kenntnis genommen haben.
Sozialisation von Geschlecht
1970er und 1980er Jahren in aktuellen Lehr- und Forschungskontexten der Erziehungswissenschaft nur noch selten rezipiert wird.9
Ein weiteres Problem besteht darin, dass mit der Kritik nicht nur sozialisationstheoretische Erklärungsansätze, sondern auch die ihnen zugrundeliegenden Fragen aus dem Blick geraten sind (vgl. Dausien 1999): die Frage nach
dem Werden und Gewordensein konkreter gesellschaftlicher Individuen, d.h.
nach der Konstruktion und Konstitution von Subjektstrukturen, und die damit
verknüpfte Frage nach der Vergesellschaftungslogik, also den gesellschaftlichen Strukturen bzw. Strukturierungsprozessen, die spezifische Individualitätsformen und Integrationsmechanismen hervorbringen.
Die erste Frage hatte Gudrun-Axeli Knapp bereits in den 1990er Jahren –
seinerzeit in Kritik der doing gender-Ansätze – systematisch wieder auf die
Tagesordnung gesetzt: „Wie kann man ‚Gewordensein‘ von Personen unter
dem Gesichtspunkt ‚Geschlecht‘ fassen, ohne zu substantialisieren oder zu naturalisieren, aber auch: ohne in Rhetoriken zu verfallen, in denen die Dimension der biographischen Haftung von Erfahrungen, die subjektkonstitutive
Verbindlichkeit von Individuation und Sozialisation, völlig aufgelöst ist?“
(Knapp 1997: 503). Wenig später kritisiert auch Andrea Maihofer die „Tabuisierung“ dieser Frage und plädiert „für eine Wiederaufnahme einer sozialisationstheoretischen Perspektive“ (Maihofer 2002: 17), von der sie sich Aufschluss über den „Prozeß der Aneignung ‚im‘ Individuum“ (ebd.: 15) verspricht. Eine erneute Diskussion dieser theoretischen ‚Lücke‘ hat zwar gezeigt,
dass es durchaus neuere Beiträge zum Thema gibt; diese beziehen sich aber
weniger auf das Sozialisationsparadigma und seine Weiterentwicklung als auf
Biographieforschung, pädagogische und psychoanalytische Subjekttheorien
oder performanztheoretische Ansätze (vgl. Dausien 2002; Tervooren 2006; sowie die Beiträge in Bilden/Dausien 2006).
Im Vergleich zur Subjektproblematik hat die Frage nach den gesellschaftlichen Verhältnissen bzw. den Vergesellschaftungsstrukturen in der erziehungswissenschaftlichen Geschlechterforschung weniger Resonanz gefunden
(vgl. dazu Bilden 2006; Dausien 2006). Sie scheint tatsächlich weitgehend aus
dem Blick geraten zu sein. Wie kann dieser Verlust oder, weniger dramatisch
ausgedrückt, das aufkommende Desinteresse an gesellschaftsanalytischen Perspektiven erklärt werden? Unsere These ist, dass die beiden für die feministische Theoriedebatte der 1990er Jahre wichtigen Strömungen des Sozialkonstruktivismus und der Dekonstruktion zwar zu berechtigter Kritik an der Sozialisationsforschung geführt haben, dass sie alleine jedoch nicht für deren Bedeutungsverlust verantwortlich waren. Hinzu kommt die enorme Wirkung eines Paradigmas, das seit den 1980er Jahren in den Sozialwissenschaften diskutiert wird und sich sehr schnell zum dominanten Deutungsmuster entfalten
konnte: das Individualisierungstheorem.
9
Dies hat womöglich auch mit dem technischen Umstand zu tun, dass die meisten dieser Texte
weder neu aufgelegt wurden noch digitalisiert vorliegen.
27
Bettina Dausien, Katharina Walgenbach
2 Individualisierung ohne Vergesellschaftung?
Erklärungsversuch für den Bedeutungsverlust
des Sozialisationsparadigmas
Anfang der 1980er Jahre wurde eine soziologische Gesellschaftsdiagnose vorgelegt, die den Zeitgeist genau getroffen und seitdem den sozial- und erziehungswissenschaftlichen Diskurs massiv geprägt hat, sich aber auch in anderen
gesellschaftlichen Feldern und Diskursen fest verankern konnte. Unter den
Überschriften ‚Individualisierung‘ (Beck 1983, 1986; Beck/Beck-Gernsheim
1994, 2002) und ‚reflexive Moderne‘ (Beck/Giddens/Lash 1996) hat sich ein
Erklärungsansatz etabliert, der die Auflösung oder zumindest Relativierung
herkömmlicher sozialer Bindungen an Klassen- und Geschlechterlagen postuliert und den Blick auf die Vervielfältigung von Lebenslagen, die abnehmende
Bindungskraft zentraler Institutionen und Deutungsmuster und auf die Individualisierung der Lebensführung lenkt.
Wurde diese Interpretation zunächst durchaus als kritische Beschreibungsfolie entwickelt, die den Wirkmechanismen einer neuen, reflexiven Moderne
auf der Spur und in gewisser Weise ihrer Zeit prognostisch voraus war, so
wurde sie mit dem Zusammenbruch der politischen und gesellschaftlichen Systemlogik (Kapitalismus vs. Sozialismus) von der historischen Entwicklung gewissermaßen eingeholt und zunehmend in ein affirmatives Deutungsmuster
verwandelt. Mit der Durchsetzung neoliberaler Steuerungsstrukturen konnte
sich die Individualisierungsthese nicht nur in der Sozialwissenschaft, sondern
auch als gelebte Alltagspraxis weiter ausbreiten und stabilisieren.
Ein Kernpunkt dieser Analysen ist bis heute die These, dass das am Arbeitsmarkt und an der (männlichen, bürgerlichen) Berufs- und Bildungsbiographie orientierte Konzept des Lebenslaufs seine Plausibilität und Orientierungskraft verloren hat. Individuen haben deshalb die Chance und sind zugleich gezwungen, so die Argumentation, ihre biographischen Entwürfe, Strategien und
Praxen der alltäglichen Lebensführung in einem weitaus größeren Ausmaß als
vorhergehende Generationen ‚selbst‘ zu gestalten, immer wieder neu zu erfinden, aus eigener Kraft, Phantasie und Erfahrung heraus zu ‚konstruieren‘. Dabei können sie sich, so der Tenor der individualisierungstheoretischen Argumentation, nicht mehr auf eine fraglos akzeptierte ‚Normalbiographie‘ berufen
(vgl. Kohli 1985). Dieser Umstand bedeutet mit Blick auf gesellschaftlich festgeschriebene Geschlechterpositionen Verunsicherung, aber auch Befreiung
aus den Fesseln der ‚traditionellen geschlechtsspezifischen Sozialisation‘ für
Frauen – und für Männer.
Dieser Wandel vollzieht sich nicht nur auf der normativen Ebene, sondern
betrifft auch die faktischen, statistisch beobachtbaren Strukturen des Lebenslaufs: Institutionelle Vorgaben im Bildungs- und Erwerbssystem haben an Ver-
28
Sozialisation von Geschlecht
bindlichkeit verloren bzw. sind ‚flexibilisiert‘ worden. Das sog. Normalarbeitsverhältnis mitteleuropäischer kapitalistischer Gesellschaften ist in Auflösung
begriffen, neue Formen der Arbeit, der Kapitalakkumulation und der Existenzsicherung, über nationale Grenzen hinweg, gewinnen an Bedeutung und produzieren neue Bruchlinien sozialer Ungleichheit (Stichwort Intersektionalität;
vgl. Walgenbach 2014).
Anders gesagt: Die Geländer individueller Lebensplanung und Lebensführung scheinen zunehmend fragil geworden oder ganz weggebrochen zu sein.
Die Zahl möglicher Lebenswege hat sich vervielfacht. Zugleich tritt das Risiko, die ‚falsche‘ Entscheidung zu treffen und die Verantwortung dafür am
Ende sich selbst zuschreiben zu müssen, als historisch neue Norm und Erfahrung individueller Existenz in Erscheinung. Subjekte reagieren darauf, so die
Fortführung des Arguments, mit einem gesteigerten Maß an Reflexion und
„Biographisierung“ (Kohli 1985). Sie ‚basteln‘ – im Rahmen ihrer je eigenen
Erfahrungs- und Deutungshorizonte – ihre biographischen Entwürfe und überarbeiten sie immer wieder neu.
Soweit eine kurze Rekapitulation dieser geläufigen Denkfigur. Sie wird immer wieder herangezogen, um zu erklären, dass sich Geschlechterverhältnisse
verändert und vermeintlich an Bedeutung verloren haben – gerade im Kontext
des Bildungssystems. Das individualisierte Subjekt scheint nicht mehr auf bestimmte weibliche oder männliche Rollenmuster festgelegt, sondern hat Spielräume, die eigene Biographie zu gestalten und dabei auch sein individuelles
Konzept von ‚Frausein‘ oder ‚Mannsein‘ zu entwerfen und zu erproben – mehr
Spielräume, als ihm oft lieb ist.
2.1 Individualisierung statt Sozialisation?
In der Erziehungswissenschaft wie in der pädagogischen Praxis und ihren Institutionen ist diese These ‚angekommen‘. Sie dient der Erklärung von Veränderungen in allen gesellschaftlichen Bereichen, die ehemals klassische Themen der geschlechterbezogenen Sozialisationsforschung waren: Die Familienformen haben sich diversifiziert (Stichworte: Patchworkfamilien, Einelternfamilien), gleichgeschlechtliche Partnerschaften werden zunehmend legalisiert
und als Erziehungskontexte erforscht, sexuelle Orientierungen jenseits des heteronormativen Modells werden als mögliche und legitime Optionen von Heranwachsenden ernst genommen. Auch gleichgeschlechtliche Elternschaft ist
nicht nur denkbar, sondern taucht als reale Praxis in pädagogischen Institutionen auf.
Und mehr noch: Das heteronormative, streng dichotomisch strukturierte
Geschlechtermodell selbst scheint langsam gelockert zu werden. Die Möglichkeit eines Geschlechtswechsels oder sogar einer anerkennungsfähigen Biographie, die sich ‚zwischen‘ den Geschlechtern positioniert, wäre noch vor einer
29
Bettina Dausien, Katharina Walgenbach
Generation unaussprechlich, ja undenkbar gewesen. Inzwischen gibt es Literatur, Berichte in den Medien, sozial- und erziehungswissenschaftliche Forschungen (Gregor 2015) und erste Ansätze, die Themen Trans- und Intersexualität in die Ausbildung von Pädagog_innen zu integrieren. Leitidee ist dabei,
Kinder und Jugendliche pädagogisch zu begleiten, da diese nun selbst – und
nicht mehr institutionelle Zwänge – darüber entscheiden sollen, welche Identität sie ausbilden und mit welchem Körper sie leben wollen.
Auch die Perspektive auf Bildungs- und Berufswege hat sich geändert.
Mädchen stehen nicht nur formal alle Bildungsabschlüsse offen, sie erreichen
sie auch. Zumindest oberflächlich betrachtet gibt es einen breiten Konsens,
dass Jugendliche in ihrer Berufswahl nicht mehr an Geschlechtergrenzen
scheitern sollten. Selbst Arkanbereiche der Männlichkeit wie Polizei und Militär sind inzwischen realistische Berufsoptionen für Frauen geworden, unterstützt durch mediale Vorbilder wie toughe Fernsehkommissarinnen, die zugleich auch noch sexy und alleinerziehende Mütter sind. Andere Berufe durchlaufen (weithin unbemerkt) einen Geschlechtswechsel, wie z.B. die Veterinärmedizin. Aber da sind auch Gegenbeispiele: Die sog. MINT-Fächer bleiben
offensichtlich eine Bastion der Männlichkeit, Frühpädagogik und Pflege sind
nach wie vor ‚weiblich‘. Die Frage, wie das Bildungssystem auf gesellschaftliche Partizipation und ein Berufsleben vorbereitet (und welche pädagogischen
Praxen sich daraus ableiten lassen), wird insgesamt gesehen jedoch kaum noch
mit Blick auf Geschlecht diskutiert – und dies ist, gemessen an der jahrhundertelangen geschlechterdifferenzierenden (und -spaltenden) Tradition der Pädagogik, ein wirkliches Novum.
Stattdessen dominiert in der Pädagogik wie in der Bildungspolitik die Leitidee des ‚sich selbst bildenden Individuums‘, das sich über die gesamte Lebensspanne hinweg, zumindest solange die körperlichen und geistigen Kräfte
reichen, selbst organisiert, selbst managt, ja auch selbst sozialisiert10 und in
eine Zukunft hinein entwirft, für die es keine Vorbilder in den vorangegangenen Generationen mehr gibt. Diese Idee hat neue Konzepte auf die Tagesordnung gesetzt, ‚lebenslanges Lernen‘, ‚Übergänge‘ (transitions) und ‚Bildungsbiographien‘, die sowohl die empirische Bildungsforschung als auch pädagogische Theoriediskurse in großem Stil beschäftigen und z.T. neu ausrichten.
Sie prägen auch neue Verständnisse pädagogischen Handelns, die ihren Kern
in der Begleitung, Beratung und Moderation individueller Bildungswege haben (vgl. Dausien 2011a, b).
Welche Rolle spielt nun in diesen Ansätzen das Thema Sozialisation von
Geschlecht? Einfach gesagt: es kommt kaum noch vor. Seit Mädchen und
Frauen im Bildungssystem ‚gleichgezogen‘ oder ihre männlichen Genossen
sogar ‚überholt‘ haben, scheint es keinen Bedarf mehr für das Konzept der geschlechtsspezifischen Sozialisation zu geben. Lediglich da, wo Ungleichheiten
10
30
Vgl. dazu das Themenheft der Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation,
Heft 2/2002.
Sozialisation von Geschlecht
zwischen den Geschlechtern hartnäckig an der empirischen Oberfläche oder in
der pädagogischen Praxis auftauchen, wird noch auf Sozialisation als Erklärung zurückgegriffen. Beispiele hierfür sind das schon genannte Thema ‚Mädchen und MINT-Fächer‘ oder der Diskurs um die Benachteiligung von Jungen
im (feminisierten) Schulsystem (siehe dazu auch Bereswill/Ehlert in diesem
Band).
Und es gibt ein weiteres Feld, in dem systematisch auf die Erklärung ‚Sozialisation‘ zurückgegriffen wird: nämlich die Thematisierung der Bildungswege von Jugendlichen ‚mit Migrationshintergrund‘. Ihnen (oder ihren Eltern)
wird, zugespitzt gesagt, der Status des individualisierten Subjekts noch nicht
in vollem Umfang zuerkannt, ihnen wird unterstellt, sie seien ‚noch‘ den traditionellen Geschlechterrollen ihrer ‚Kultur‘ verhaftet. Das Sozialisationsargument wird in solchen Kontexten mit der Idee der Rückständigkeit assoziiert:
bestimmte Berufsfelder oder Lebensentwürfe, vor allem aber die Subjekte, die
sich an diesen orientieren, ‚sind noch nicht so weit‘, dass sie die Geschlechterfrage individuell handhaben und souverän hinter sich lassen könnten.
Diese Beobachtungen an der Oberfläche des pädagogischen Diskurses zusammenfassend, ziehen wir als Fazit: Das Individualisierungsparadigma, das
sich auch, ja sogar wesentlich, auf Transformationen im Geschlechterverhältnis bezieht, hat das Thema Sozialisation abgelöst. Das Konzept ‚geschlechtsspezifische Sozialisation‘ erscheint überholt und bis auf weiteres im Übrigen
auch kaum noch dazu brauchbar, sich wissenschaftlich zu profilieren. Die Rezeption des Individualisierungskonzepts erfolgt jedoch verkürzt. Während Analysen, die sich auf Individualisierungsprozesse der Subjekte und ihrer Lebensweisen beziehen, rasch in die erziehungswissenschaftliche Debatte übernommen werden, bleiben gesellschaftsbezogene Analysen weitgehend unbeachtet.
Zugespitzt gesagt: Individualisierung wird als Theorem genutzt, ohne die
Frage nach Vergesellschaftung zu stellen.
2.2 Kritik am Individualisierungstheorem: Neue Formen
der Subjektivierung und „individualisierte Weiblichkeit“
Die beschriebene These der Individualisierung wird in der Bildungswissenschaft nicht nur affirmativ aufgegriffen, sondern auch kritisch analysiert, insbesondere aus subjektivierungstheoretischer Sicht im Anschluss an Foucaults
Arbeiten zu Disziplinierung und Gouvernementalität. Ein Beispiel dafür ist die
kritisch-dekonstruktivistische Auseinandersetzung mit dem Diskurs des lebenslangen Lernens (z.B. Rothe 2011). Hier konnte überzeugend herausgearbeitet werden, wie im neoliberalen Diskurs (auch und gerade im erziehungswissenschaftlichen Feld) gesellschaftliche Strukturprobleme in individuelle
Lernprobleme verwandelt und Individuen in die Subjektposition des/der Ler-
31
Bettina Dausien, Katharina Walgenbach
nenden gebracht werden, und zwar als individuelle Lernende, die auch individuell für die Ergebnisse ihres Lernens und deren Verwertung Verantwortung
tragen.
Diese Kritik lässt sich mit Christine Thons Analysen zum Individualisierungsdiskurs verknüpfen. Unter Bezugnahme auf Laclau und Mouffe formuliert sie die These, dass „individualisierte Weiblichkeit“ als hegemoniales Subjektmodell des Neoliberalismus zu betrachten sei (Thon 2012). In Auseinandersetzung mit modernisierungstheoretischen Ansätzen und Diagnosen zeitgenössischer Transformationen im Geschlechterverhältnis interpretiert sie in Anknüpfung an Arbeiten von Angelika Wetterer (2003) und Angela McRobbie
(2010) Individualisierung als „Form der herrschaftsförmigen Subjektivierung,
die Subjekte als Individuen hervorbringt und sie in ein spezifisches Verhältnis
zum Sozialen setzt und insofern auch für die Stabilisierung von Geschlechterordnungen relevant ist“ (Thon 2012: 33). Und weiter: „Individualisierte Weiblichkeit ist eine Formation, die das jeweilige Subjekt unter den gegenwärtigen
kulturellen und ökonomischen Bedingungen sozial integrierbar und handlungsfähig macht“ (ebd.: 36).
Dieses veränderte Verhältnis zum Sozialen, das sowohl in den apologetischen Ansätzen der Individualisierungsdebatte als auch in den kritischen subjektivierungstheoretischen Analysen in den Blick genommen wird, besteht in
einer Akzentuierung von Individualität, deren strukturelle gesellschaftliche
Bedingungen undeutlich geworden sind, unter diversen Schichten von Diskursen und Gegendiskursen verborgen.
Mag dies als Beschreibung alltagsweltlicher Verhältnisse zutreffen, so
kann es als wissenschaftliche Analyse doch nicht genügen. Wir plädieren dafür, einen genaueren Blick auf die gesellschaftlichen Strukturen ‚hinter‘ den
individualisierenden Diskursen in der Pädagogik in die erziehungswissenschaftliche Geschlechterdebatte wieder einzuführen (vgl. dazu Nickel 2012 sowie weitere Beiträge in Moser/Rendtorff 2012). Es geht darum, sich nicht mit
Oberflächenbeschreibungen zu begnügen, die dem Individualisierungsdiskurs
aufsitzen, sondern – so unsere These – die theoretisch-analytischen Potenziale
des Sozialisationsparadigmas wieder in Erinnerung zu rufen.
Als Zwischenbilanz lässt sich festhalten, dass die Theoriekonjunkturen in
der Erziehungswissenschaft bzw. der erziehungswissenschaftlichen Sozialisationsforschung – so gegensätzlich sie auch gewesen sein mögen – in ihrem
Zusammenwirken den Blick auf gesellschaftliche Transformationsprozesse
von Geschlechterverhältnissen geradezu verstellt haben. Durch die Verlagerung des erziehungswissenschaftlichen Interesses auf die Analyse von Mikropraktiken und -diskursen sowie auf Prozesse der Individualisierung wurden
Sozialisationsperspektiven in den letzten Jahrzehnten marginalisiert. Wir
möchten hingegen für eine Revitalisierung der sozialisationstheoretischen Perspektive in der erziehungswissenschaftlichen Geschlechterforschung plädieren.
32
Sozialisation von Geschlecht
Die Wiederaufnahme gesellschaftsanalytischer Perspektiven erscheint uns
nicht zuletzt aufgrund aktueller ökonomischer, politischer und sozialer Entwicklungstrends dringend geboten.
Teil II
3 Wiederaufnahme gesellschaftsanalytischer Perspektiven
in der Sozialisations- und Geschlechterforschung
Seit der Jahrtausendwende wird in den Sozialwissenschaften verstärkt diskutiert, inwiefern sich durch die Neuordnung von Ökonomie, Staat und Gesellschaft Konstellationen ausmachen lassen, die auch die Geschlechterverhältnisse beeinflussen bzw. durch diese entscheidend organisiert werden (vgl.
Sauer 2001; Fraser 2009; Casale 2012; Walgenbach 2015). Diese Gesellschaftsanalysen verweisen unseres Erachtens auf tiefgreifende gesellschaftliche Transformationsprozesse. Eine zukünftige Sozialisationsforschung – und
damit meinen wir nicht alleine Forschungen zur Geschlechtersozialisation –
muss sich deshalb der Herausforderung stellen, diese gesellschaftlichen Transformationsprozesse einzubeziehen. Sie werfen nicht nur für die empirische
Forschung und Theoriebildung der Geschlechtersozialisation neue Fragen auf,
sondern benötigen auch eine dezidiert sozialisationstheoretische Perspektive
für ihre erziehungswissenschaftliche Bearbeitung.
Bevor wir diese These ausführen, soll zunächst skizziert werden, was wir
unter der Neuordnung von Ökonomie, Staat und Privatsphäre verstehen. Dafür
scheint uns ein Rekurs auf aktuelle Gesellschaftsdiagnosen in verschiedenen
Disziplinen der Sozialwissenschaften lohnend. Im Anschluss daran möchten
wir an ausgewählten Beispielen verdeutlichen, worin wir die Potenziale einer
Revitalisierung gesellschaftsanalytischer Perspektiven in der Sozialisationsund Geschlechterforschung sehen.
Einschränkend soll darauf hingewiesen werden, dass wir im Folgenden
Elemente der Veränderung stärker hervorheben als Momente der Kontinuität,
die eigentlich einen gleichwertigen Stellenwert in der Analyse einnehmen
müssten. Somit werden vor allem Tendenzen herausgearbeitet, die sicherlich
nicht alle Arbeits-, Lebens- und Subjektivierungsformen durchdringen, allerdings zunehmend hegemonial zu werden scheinen und somit zumindest eine
Orientierungsfunktion bzw. Abgrenzungsfolie für individuelle Lebensentwürfe herausbilden.
33
Bettina Dausien, Katharina Walgenbach
3.1 Aktuelle Gesellschaftsdiagnosen zur Neuordnung von Ökonomie,
Staat und Privatsphäre11
Nach Nancy Fraser befinden wir uns aktuell am Übergang zu einer neuen Gesellschaftsform, die sie als postfordistisch, transnational und neoliberal charakterisiert (Fraser 2009: 44). In der Konsequenz verliert eine fordistische Organisation von Ökonomie, Staat und Gesellschaft zunehmend an Bedeutung, die
sich seit Anfang des 20. Jahrhunderts beispielsweise durch Massenproduktion,
Massenbeschäftigung, Massenkonsum, staatliche Wachstumssteuerung und
den Ausbau eines Wohlfahrtsstaats auszeichnete (Hirsch/Roth 1986). In der
Geschlechterforschung wurde vielfach herausgearbeitet, dass diese Gesellschaftsformation primär auf männliche Normalarbeitsverhältnisse, Lebensformen und Biographien ausgerichtet war.
Darüber hinaus war die Trennung zwischen Privatheit und Öffentlichkeit
ein zentrales Signum des fordistischen Genderregimes (vgl. Young 1998). Dieses manifestierte sich etwa im Idealbild der heterosexuellen Kleinfamilie als
Sozialisationsinstanz, in der Frauen vorzugsweise die (unbezahlte) Reproduktionsarbeit übernehmen und Männer die (bezahlte) Produktionsarbeit. Auf
diese Form der ‚geschlechtsspezifischen‘ Arbeitsteilung rekurrierten auch Sozialisationstheorien der 1980er Jahre zur Herausbildung differenter Geschlechtsidentitäten, was bereits in Teil I skizziert wurde. Beispiele dafür sind
die Objektbeziehungstheorie von Nancy Chodorow (Chodorow 1985) oder
Carol Gilligans Studie zur weiblichen Moralentwicklung (Gilligan 1988).
Regina Becker-Schmidt verwies dagegen mit ihrem Konzept der ‚doppelten Vergesellschaftung‘ auf die Tatsache, dass solche Theorien zur ‚geschlechtsspezifischen Sozialisation‘ einen starken Mittelschicht-Bias haben.
Ihre Studie zu Fabrikarbeiterinnen aus den 1980er Jahren zeigte, dass die befragten Frauen über widersprüchlich strukturierte Praxisbereiche in soziale Zusammenhänge eingebunden waren, die sie durch persönliche Anstrengungen
rekombinieren mussten (Becker-Schmidt 1987).
Allerdings basierte auch das Konzept der ‚doppelten Vergesellschaftung‘
auf einer historischen Konstellation, die durch eine Trennung zwischen Erwerbssphäre und Privatsphäre gekennzeichnet war. Die historische Genese
dieser geschlechtlich codierten Sphärentrennung hatte Karin Hausen bereits in
den Anfängen der Geschlechterforschung instruktiv herausgearbeitet. Sie
zeigte, wie die Dichotomie von Öffentlichkeit versus Privatheit die Geschlechterordnung in der europäischen Moderne in fundamentaler Weise begründet.
Dies galt insbesondere für das letzte Drittel des 18. Jahrhunderts bis in die
zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts (Hausen 1976).
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Eine ausführliche Untersuchung der gesellschaftlichen Transformationsprozesse mit umfassenden Literaturhinweisen findet sich bei Walgenbach 2015. Der Beitrag fokussiert allerdings keine Sozialisationsfragen.
Sozialisation von Geschlecht
Nach Hausen strukturiert die neue Geschlechterordnung aber auch zeitgenössische Vorstellungen von Staat, Gesellschaft, Familie, Humanität sowie die
„Harmonisierung der menschlichen Verhältnisse durch die Ergänzung von
Welt und Heim“ (Hausen 1976: 380). Exemplarisch lässt sich hier auf Wilhelm
von Humboldts Bildungstheorie verweisen, der von einem komplementären
Verhältnis zwischen Bildung/Staat und Erziehung/Privatsphäre ausging, welches bei ihm auch geschlechtlich codiert war (Humboldt [1792] 2002; siehe
auch Casale 2012: 131–134).
Mit anderen Autor_innen in den Sozialwissenschaften gehen wir davon
aus, dass sich gegenwärtig eine Neuordnung von Ökonomie, Staat und Privatsphäre beobachten lässt, welche die vergeschlechtlichte Sphärentrennung
modifizieren könnte oder zumindest in eine Krise führt (Sauer 2001; Fraser
2009; Casale 2012). Unter dem Label ‚Postfordismus‘ wird diskutiert, inwiefern sich seit den 1970er Jahren neue Produktions- und Arbeitsformen in verschiedenen Branchen herausbilden (Hirsch/Roth 1986). Geläufige Stichworte
dafür sind etwa lean production oder lean management, aber auch Dezentralisierung, Teamarbeit oder ‚flache Hierarchien‘. Die Kontingenz bzw. Dynamik
des Marktes wird hier also zum zentralen Strukturierungsmoment betrieblicher
Organisation (Sauer 2007).
Die neuen Arbeits- und Produktionsformen führen zu einer Erosion der
Trennung zwischen Öffentlichkeit und Privatheit (Sennet 2000; Boltanski/
Chiapello 2006). Es entstehen neue Formen der ‚Subjektivierung von Arbeit‘
und der ‚Entgrenzung von Arbeit‘, die dazu führen, dass in immer mehr Branchen und Beschäftigungsverhältnissen die Bereiche ‚Arbeit‘ und ‚Leben‘ eine
zeitliche und räumliche Flexibilisierung erfahren (Pongratz/Voß 2003; Jürgens
2006). Die geschlechtlich codierte Trennung zwischen Öffentlichkeit und Privatheit wird durch solche Entwicklungsdynamiken also herausgefordert. Für
die Sozialisationsforschung wäre es darüber hinaus interessant zu untersuchen,
inwiefern dieser Wandel der Arbeitsorganisation auch berufliche Sozialisationsprozesse verändert oder gar neue Formen der Subjektivierung im Sozialisationskontext Berufswelt hervorbringt.
Jenseits der Veränderungen im ökonomischen Feld erscheinen uns aber
auch weitere Entwicklungstrends bedeutsam. So werden die beschriebenen
Transformationsprozesse durch eine neoliberale Wirtschafts- und Sozialpolitik
flankiert, deren Denkweise sich bis in die 1930er Jahre zurückverfolgen lässt
und deren Einfluss spätestens seit dem Wegfall der Systemkonkurrenzen (Kapitalismus vs. Sozialismus) in Europa entscheidend zunimmt. Die Grundidee
des Neoliberalismus basiert darauf, dass alles dem Gesetz des Wettbewerbs
bzw. Marktes unterworfen werden kann und soll (Ptak 2004). Mit dieser neoliberalen Logik sehen sich seit einigen Jahren auch zentrale Sozialisationskontexte wie Bildungsinstitutionen konfrontiert. Ein Beispiel dafür sind Hochschul-Rankings oder international vergleichende Schulleistungstests, welche
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Bettina Dausien, Katharina Walgenbach
die Konkurrenz auf einem ‚Bildungsmarkt‘ artifiziell herstellen. Welche Bedeutung dies für die Herausbildung neuer ‚Bildungssubjekte‘ hat, scheint uns
noch weitgehend ein Forschungsdesiderat zu sein.
Wichtig sind unseres Erachtens auch Transformationsprozesse im Feld der
Politik, wo sich eine Verschiebung vom ‚fürsorgenden Wohlfahrtsstaat‘ zum
‚nationalen Wettbewerbsstaat‘ beobachten lässt (Hirsch 1995). In Deutschland
wird diese Transformation spätestens seit den 1990er Jahren durch eine neoliberale Rhetorik begleitet, die auf einen Abbau des Wohlfahrtsstaates abzielt,
der als Wachstumsbremse und Hindernis individueller Leistungsbereitschaft
diskreditiert wird. Stattdessen protegieren neoliberale Akteure die Idee eines
‚schlanken Staates‘ (Ptak 2004). Diese Orientierung zeigt sich auch in dem
sozialpolitischen Paradigmenwechsel von Welfare to Workfare (Schröder/
Blair 1999). Die pädagogischen Konsequenzen dieser Entwicklung werden gegenwärtig vor allem in der Sozialpädagogik diskutiert (Kessl/Otto 2009); ob
und welche Bedeutung sie für Sozialisationsprozesse haben, ist eine offene
Frage.
Im Rekurs auf Karin Hausen wäre demnach heute erneut zu fragen, wie die
Transformation von Ökonomie, Staat und Gesellschaft mit einer Neukonfiguration der Geschlechterordnung einhergeht. Aus erziehungswissenschaftlicher
Perspektive hat sich Rita Casale mit dieser Frage befasst. Sie argumentiert,
dass vor allem die Vorstellung einer komplementären Ergänzung von Staat und
Familie, die den Bildungstheorien des 18. und 19. Jahrhunderts zugrunde liegt,
aktuell in eine Krise gerät. Diesen Prozess bringt die Autorin dezidiert mit einer Transformation der sozialen und symbolischen Ordnung der Geschlechter
in Verbindung. Einen Zusammenhang sieht sie in Tendenzen der Verstaatlichung der Erziehung und der Entstaatlichung der Bildung. Während sich der
Staat zunehmend aus der Hochschulbildung zurückzieht, so Casale, führt das
Interesse an einer Optimierung von ‚Humankapital‘ zu Tendenzen einer Verstaatlichung von Erziehung. Die zeigt sich beispielsweise an Debatten über
Frühförderung oder über die Zuständigkeit des Staates in Erziehungsfragen:
„Man ist mit einem ambivalenten Prozess konfrontiert, der einerseits zu
einer neuen Bestimmung des Vertrags zwischen den Geschlechtern und zu einem veränderten Verständnis von Elternschaft führen könnte, und der andererseits die Einmischung des Staates in eine Sphäre beinhaltet, für die sich der
neuzeitlichen Erziehungs- und Bildungstheorie zufolge der Staat nicht zuständig hielt“ (Casale 2012: 135).
Auch für die Erziehungswissenschaft stellen sich somit grundsätzliche Fragen, z.B. inwiefern die Transformationsprozesse von Geschlechterverhältnissen zu einer Neubestimmung pädagogischer Handlungsfelder, Bildungsinstitutionen und erziehungswissenschaftlicher Leitbegriffe wie Bildung, Erziehung und Sozialisation führt (Walgenbach/Stach 2015).
36
Sozialisation von Geschlecht
3.2 Sozialisation und Geschlechterverhältnisse
im Transformationsprozess
Die oben beschriebenen Gesellschaftsdiagnosen bewegen sich allerdings meist
auf einer Makroebene. Für die Sozialisationsforschung stellt sich nun die
Frage, wie sie mit Analyseperspektiven verknüpft werden können, die sich auf
die Subjektgenese beziehen: Welche Anrufungen bringt das neue Geschlechterregime hervor und wie werden diese von den Subjekten bearbeitet? Diesen
Fragen soll im Folgenden anhand von vier Beispielen nachgegangen werden.
Neue Formen der Subjektwerdung
Mit der zunehmenden Entgrenzung von Arbeit entstehen neue Formen der
Subjektivierung, die gegenwärtig mit Begriffen wie ‚unternehmerisches
Selbst‘ (Bröckling 2007) oder ‚Arbeitskraftunternehmer‘ (Pongratz/Voß 2003)
belegt werden. ‚Eigenverantwortung‘ und ‚Selbstmanagement‘ sind Schlüsselbegriffe des zentralen Prinzips einer marktgerechten Selbstregulation (vgl.
Bröckling 2007; Michalitsch 2008). Dies gilt zum einen für die neuen Arbeitsformen, die mit Versprechungen von Selbstverwirklichung, Zeitsouveränität
und Selbstbestimmung einhergehen, zum anderen wird die Marktlogik aber
auch in das Individuum selbst verlagert, z.B. wenn Subjekte angerufen werden,
sich als ihr eigenes Produkt zu vermarkten. Diese Aufforderung gilt zu jeder
Zeit, da die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit verstärkt oszillieren (vgl.
Michalitsch 2006: 90–96; Geissler 2008).
Hier wird also ein genuines Thema der Sozialisationstheorie und -forschung
angesprochen, nämlich die Frage der Subjektwerdung. Abhängig vom jeweiligen theoretischen Zugang gilt es für eine zukünftige Sozialisationsforschung,
die oben skizzierten gesellschaftlichen Transformationsprozesse mit Analysen
zur Subjektivierung, Habitualisierung, Identitätsformationen, Subjektanrufungen oder Persönlichkeitsentwicklung zu verbinden. Nach Andrea Maihofer
wäre allerdings gleichzeitig zu reflektieren, inwiefern die theoretischen Bemühungen, neue Identitätskonzepte zu beschreiben, selbst Effekt und/oder Motor
gesellschaftlicher Veränderungen sind. Sie tragen somit zur Entstehung neuer
‚Sozialcharaktere‘ oder ‚Existenzmodi‘ bei, die sich z.B. gegenwärtig durch
Flexibilität, Mobilität oder die Fähigkeit zur Patchworkidentität auszeichnen
(Maihofer 2002: 16).
In der Geschlechterforschung wird aktuell herausgearbeitet, dass Begriffe
wie ‚unternehmerisches Selbst‘ nicht allein auf eine Transformation der Erwerbssphäre hinweisen, sondern die Trennung zwischen Erwerbssphäre und
Privatsphäre überschreiten. Das Private ist nicht länger nur politisch, resümiert
Nina Power, es ist heute auch ökonomisch (Power 2011: 42). Christine Thon
(2015) untersucht anhand von Broschüren, Handreichungen und Leitfäden von
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Bettina Dausien, Katharina Walgenbach
Ministerien, Stiftungen und Wirtschaftsverbänden, wie ökonomisierte Diskurse zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf entsprechende ‚Subjekte der
Vereinbarkeit‘ selbst erst neu herstellen. Die Autorin arbeitet heraus, dass die
Adressat_innen dieser Publikationen (zumeist junge, gut ausgebildete Mütter)
dazu angehalten werden, sich selbst als ‚Humankapital‘ wahrzunehmen und
den eigenen Marktwert als dringend gesuchte Fachkräfte zu erkennen.
Die Subjekte der Vereinbarkeit werden dabei, so Thon, als individualisierte
Subjekte des Wollens, kompetenten Planens, strategischen Kommunizierens
und ökonomisch rationalen, individuellen Problemlösens angerufen. Der pädagogische Impetus dieser Broschüren manifestiert sich beispielsweise in der
Präsentation von Doppelkarrierepaaren als nachahmenswerten Vorbildern:
„Porträts von Eltern, die ‚erfolgreiche‘ Vereinbarkeitslösungen repräsentieren (vgl. BMFSFJ 2012b: 22f.; Baden-Württemberg-Stiftung 2010: 64ff.),
sollen ein Lernen am Modell initiieren. Die Individualisierung von Vereinbarkeit erfolgt damit nicht nur über eine Responsibilisierung von Eltern (Kessl
2011: 69), sondern auch durch das Versprechen von Identitäten, die innerhalb
des hegemonialen Diskurses mit einem hohen Maß an Attraktivität ausgestattet
sind“ (Thon 2015: 139).
Ausgespart bleiben hingegen geschlechtertheoretische Analysen, die das
Problem der Vereinbarkeit auf einer institutionellen Basis bearbeiten und auf
die widersprüchlichen Logiken von Erwerbsarbeit und Familienarbeit verweisen.
Das Adult Worker Model als neuer Integrationsmodus
Ein wichtiger Aspekt für die Wiederaufnahme gesellschaftsanalytischer Perspektiven in der Sozialisations- und Geschlechterforschung ist der aktuell diskutierte Paradigmenwechsel vom männlichen Familienernährermodell zum
Adult Worker Model (vgl. Lewis 2001; Annesley 2007). Erklärungsfaktoren
für die Etablierung des Adult Worker Model in Europa sind sowohl die bereits
beschriebenen gesellschaftlichen Transformationsprozesse als auch ein prognostizierter demographischer Wandel. Befürchtet wird ein Fachkräftemangel,
der in Europa verschiedene Wirtschaftsbranchen und Regionen in den nächsten Jahrzehnten unterschiedlich stark treffen wird (Walgenbach 2015: 31–32).
Vergleichbar mit den 1960er Jahren werden vor diesem Hintergrund primär
Frauen als ‚Begabungsreserven‘ identifiziert, aber auch Migrant_innen und Jugendliche aus sogenannten ‚bildungsfernen Schichten‘ (Walgenbach 2015: 32).
Junge, hochqualifizierte Frauen avancieren seit einigen Jahren zu wirtschaftspolitischen Hoffnungsträgerinnen, denn sie verfügen im Durchschnitt
mittlerweile über ein höheres Bildungsniveau als ihre männlichen Altersgenossen (z.B. Vereinigung der Bayrischen Wirtschaft 2007: 134). Top Girls
nennt McRobbie die neue weibliche Generation, die sie als hoch motivierte
Leistungsträgerinnen des neoliberalen Umbaus identifiziert und denen die
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Sozialisation von Geschlecht
Tore ins Erwerbsleben und zur Konsumkultur weit geöffnet werden (vgl.
McRobbie 2010). Was dieser Entwicklungstrend für die Forschungen zur Geschlechtersozialisation bedeutet, ist weitgehend unklar. Wir wissen erst wenig
darüber, wie das Adult Worker Model bzw. die neuen neoliberalen Subjektanrufungen von Frauen und Männern (sowie weiteren Geschlechtern) tatsächlich bearbeitet werden; wie sie neue Selbstkonzepte, Identitätsentwürfe oder
Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata hervorbringen oder die geschlechtsbezogene Arbeitsteilung in der Familie neu konfigurieren.
Das Adult Worker Model offeriert aber auch einen neuen Modus gesellschaftlicher Integration. Es etabliert ein normatives Leitbild, nach dem alle erwerbsfähigen Erwachsenen auch erwerbstätig sein sollen. Sie haben nicht nur
das Recht, sondern auch die Pflicht, ihren Lebensunterhalt durch Erwerbsarbeit zu sichern und den Staat zu entlasten (Klinger 2014). Insofern hat das Modell auch einen Zwangscharakter. Dieser ergibt sich allein schon ökonomisch,
da die Abschaffung des männlichen Ernährermodells auch bedeutet, dass eine
Person alleine heute häufig nicht mehr eine ganze Familie ernähren kann. Das
Doppelverdienermodell geht demnach mit einer Absenkung des Lohnniveaus,
einem sinkenden Lebensstandard, einem Anstieg der pro Haushalt geleisteten
Arbeitsstunden und verschärften Doppelschichten einher (vgl. Fraser 2009: 51f.).
Gleichzeitig reaktiviert das Adult Worker Model allerdings auch ein altes
Versprechen, das seit der französischen Revolution nie vollständig eingelöst
wurde, nämlich die volle Integration in die Gesellschaft, unabhängig von Geschlecht, Migrationshintergrund, sexueller Orientierung etc. Die alte sozialisationstheoretische Frage nach der Integration in die Gesellschaft erhält somit
eine neue Antwort: Nach der neoliberalen Logik findet soziale Integration ausschließlich auf der Basis von Verwertbarkeit und Leistungsfähigkeit statt. Das
meritokratische Versprechen der Moderne erhält somit erneut Auftrieb.
In diesem Zusammenhang lassen sich auch seit der Jahrtausendwende in
Europa verschiedene Initiativen beobachten, die auf einen Abbau von Diskriminierung abzielen. Allerdings adressieren das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (2006) und die Richtlinien der Europäischen Union zum Antidiskriminierungsrecht primär die Erwerbssphäre. Gemäß dem Adult Worker Model sollen Barrieren für den Eintritt in den Arbeitsmarkt entfernt werden. Des
Weiteren bleiben bestimmte Diskriminierungsmerkmale bzw. Ungleichheitsdimensionen wie etwa Schicht bzw. soziales Milieu oder Staatsangehörigkeit
von der europäischen Antidiskriminierungspolitik explizit ausgeschlossen
(vgl. Hormel 2008: 22).
Letztlich geht der Abbau von Diskriminierung mit einer gleichzeitigen
Verschärfung von sozialer Ungleichheit einher (Walgenbach 2015). Die Individuen, die sich in die Sphäre der Produktion und Verwertbarkeit eingliedern
lassen und den Staat von Transferleistungen entlasten, erfahren eine Integration
als respektable Gesellschaftsmitglieder, während sich die Prozesse sozialer
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Bettina Dausien, Katharina Walgenbach
Spaltung für diejenigen verschärfen, die jenseits des Leistungskollektivs platziert sind. Für ihre gesellschaftliche, soziale und kulturelle Integration fühlt
sich auch kein ‚aktivierender Sozialstaat‘ mehr verantwortlich.
Männliche Sozialisation im Transformationsprozess
Der Strukturwandel der Erwerbsarbeit bedeutet für Männer eine Erosion des
männlichen Normalarbeitsverhältnisses (Aulenbacher 2009). Fordistische
Männlichkeitskonstruktionen assoziierten Männlichkeit primär mit Beruf und
Karriere, wie auch diverse Studien zu männlichen Sozialisationsprozessen und
Lebensentwürfen zeigen (z.B. Scholz 2004; Meuser 2006). Männer sind heute
in einem neuen Ausmaß von Prekarität betroffen, während Frauen sich gerade
durch den Strukturwandel neue Beschäftigungsperspektiven erschließen konnten (Lengersdorf/Meuser 2010). Nach Meuser geht Männern durch die Angleichung von ‚männlichen‘ und ‚weiblichen‘ Erwerbsverläufen gegenwärtig ein
wichtiges „Distinktionsmittel“ verloren (Meuser 2010: 331).
Aktuelle Prozesse der neoliberalen Globalisierung motivierten Raewyn
Connell, ihr Konzept der hegemonialen Männlichkeit neu zu überarbeiteten.
Für Connell und Wood bildet die Transnational Business Masculinity heute
eine neue Form hegemonialer Männlichkeit, deren Prototyp global agierende
Top Manager sind. Ihre Orientierungen, Werte und Handlungsmuster setzen
gegenwärtig auch komplizenhafte, untergeordnete und marginalisierte Formen
von Männlichkeiten neu in Relation (vgl. Connell/Wood 2005; Connell 2010).
Es ist davon auszugehen, dass die gesellschaftlichen Entgrenzungsprozesse
auch für die Eliten bzw. Repräsentanten hegemonialer Männlichkeit neue Herausforderungen darstellen, jene begegnen ihnen jedoch mit anderen Ressourcen und Bewältigungskompetenzen. Aufgrund besserer ökonomischer und sozialer Ausgangsbedingungen kann Unsicherheit hier eher aktiv gestaltend bewältigt werden (Meuser 2010: 332). Allerdings verstärken sich auch für Repräsentanten der hegemonialen Männlichkeit die persönlichen Risiken. Zum
Beispiel stellt sich die Frage, ob zunächst positiv besetzte Attribute der Transnational Business Masculinity wie Flexibilität, Mobilität oder Autonomie auch
mit Verlusten einhergehen, da sie z.B. mit engen sozialen (Familien-)Bindungen nicht vereinbar sind (Walgenbach 2015: 34).
Welche neuen männlichen Sozialisationsmuster sich in aktuellen Transformationsprozessen herausbilden, ist ebenfalls weitgehend ein Forschungsdesiderat. Erste Studien zu Männern in prekären Beschäftigungsverhältnissen weisen darauf hin, dass traditionelle Männlichkeitsmuster für Männer aus unteren
sozialen Milieus nach wie vor eine zentrale Orientierung darstellen (z.B. Dörre
2007; Kreher 2007). Offenbar sind traditionell männliche Lebensentwürfe gerade für diejenigen Männer attraktiv, die sie kaum erreichen können (Bereswill
40
Sozialisation von Geschlecht
2007). Einige Autor_innen verweisen zudem auf Momente der Neuaushandlung von Geschlechterarrangements, wenn Frauen beispielsweise ungeplant zu
Familienernährerinnen werden (Völker 2009).
Dethematisierung von Geschlechterhierarchien
Ein letztes Beispiel für die Notwendigkeit der Wiederaufnahme gesellschaftsanalytischer Perspektiven in der Sozialisations- und Geschlechterforschung ist
die These, dass gerade der jüngeren weiblichen Generation keine Sprache zur
Verfügung zu stehen scheint, um die nach wie vor existierenden Geschlechterhierarchien zu kritisieren (vgl. dazu auch Klinger in diesem Band).
Koppetsch und Burkart (1999) kommen auf der Basis ihrer empirischen
Studie Die Illusion der Emanzipation zu dem Ergebnis, dass eine weit verbreitete Gleichheitsrhetorik die Thematisierung bestehender Geschlechterungleichheiten geradezu verhindert. Sie weisen nach, dass tradierte Geschlechternormen in den meisten sozialen Milieus zwar weitgehend ihre Gültigkeit verloren
haben, dennoch finden sich bei heterosexuellen Paaren (insbesondere mit Kindern) nach wie vor primär traditionelle Formen geschlechtlicher Arbeitsteilungen. Neu ist allerdings, dass diese nicht mehr als geschlechtlich strukturiertes
Ungleichheitsverhältnis wahrgenommen werden. Wenn Frauen z.B. für die
Kindererziehung aus dem Berufsleben aussetzen, dann wird dies von den befragten Paaren als Ergebnis individueller bzw. ökonomischer Abwägungen interpretiert (Koppetsch/Burkart 1999). Im Sinne einer neoliberalen Rhetorik
werden Entscheidungen wie die Aufteilung der Elternzeit ‚gemeinsam‘ und
‚im Team‘ entschieden. Sie kommen somit auch nicht als Effekt einer strukturellen Geschlechterhierarchie in den Blick.
Nach McRobbie wird jungen Frauen im neoliberalen Geschlechterregime
ein neuer ‚Geschlechtervertrag‘ angeboten: Für die vollständige Integration in
den Erwerbsmarkt und die Konsumsphäre verzichten sie auf einen als überholt
geltenden Feminismus. Im Gegensatz zu traditionellen Backlash-Debatten, so
McRobbie, werden die Erfolge des Feminismus nun zwar anerkannt, doch
seine Inhalte, Protestformen und Utopien werden als unzeitgemäß ausrangiert.
McRobbie spricht hier von einer „Politik der Desartikulation“, da gerade durch
die Formen der Anerkennung bzw. Inanspruchnahme etwaige Aufrufe zur Erneuerung des Feminismus bereits im Vorfeld diskreditiert würden. Die Dethematisierung von Geschlechterungleichheit ist für die Autorin demnach ein
zentrales Merkmal des neoliberalen Geschlechterregimes (vgl. McRobbie
2010).
Was bedeuten diese empirischen Befunde und theoretischen Überlegungen
für eine Sozialisationsforschung, die sich für soziale Ungleichheiten, Diskriminierungsformen und Subjektivierungsprozesse interessiert? Inwiefern ist es
für junge Frauen als Interviewpartnerinnen beispielsweise möglich, subjektive
41
Bettina Dausien, Katharina Walgenbach
Erfahrungen von Unterdrückung oder ‚Opfersein‘ überhaupt zu artikulieren?
Mit welchen methodischen Verfahren und Instrumenten kann eine Sozialisationsforschung auf diese Herausforderung reagieren?
Teil III
4 Ausblick
Die beiden Argumentationslinien, mit denen wir uns an das komplexe Thema
herangewagt haben, haben gewiss manche Frage nur gestreift und vermutlich
mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet. Dies war durchaus unsere Absicht.
Wir sehen angesichts der beschriebenen gesellschaftlichen Transformationsprozesse und ihrer enormen Bedeutung für die Geschlechterordnung(en), in
und mit denen wir leben, die Notwendigkeit, uns in der erziehungswissenschaftlichen Geschlechterforschung näher mit den entsprechenden Analysen
auseinanderzusetzen.
Gleichzeitig weisen die skizzierten Gesellschaftsanalysen selbst wiederum
ein Forschungsdesiderat auf: die Frage nach der Verknüpfung von Subjektwerdung und Vergesellschaftung. Die meisten der aktuellen Studien zu gesellschaftlichen Transformationsprozessen arbeiten zwar die Anrufungen heraus,
denen sich Subjekte heute ausgesetzt sehen, aber nicht deren konkrete Bearbeitung durch die Individuen. Inwiefern werden diese Anrufungen beispielsweise von den Individuen inkorporiert, abgelehnt oder modifiziert? Dieses Forschungsdesiderat veranlasst uns zu der Feststellung, dass die Diskussion zur
Transformation von Geschlechterverhältnissen umgekehrt auch einer dezidiert
sozialisationstheoretischen Perspektive bedarf.
Es geht folglich darum, die Transformation von Geschlechterverhältnissen
im Rahmen der Fragestellungen und Traditionen unseres Faches, aber diesen
auch überschreitend, zu verarbeiten. Das bedeutet vor allem, sie auf Prozesse
der Subjektbildung zu beziehen oder, genauer, das Verhältnis von Subjektbildung und gesellschaftlichen Strukturen in den Blick zu nehmen. Dafür, so unser Plädoyer, ist es nützlich, die versickerte Diskussion um Geschlechtersozialisation und insbesondere soziologische Theorien der Vergesellschaftung
wieder aufzunehmen – nicht weil sie die richtigen Antworten schon geliefert
hätten, aber weil sie Fragen stellen, die nach wie vor geeignet erscheinen, um
Prozesse der Geschlechterkonstruktion in individuellen Biographien und gesellschaftlichen Verhältnissen zu analysieren; und weil sie in der Beantwortung der Fragen bereits einige theoretische Klärungen geleistet haben.
42
Sozialisation von Geschlecht
Dabei sollten allerdings Probleme des Sozialisationsansatzes, die in der Vergangenheit erkannt und systematisch reflektiert wurden (s. Teil I), nicht wiederholt werden. So sind vor allem Ansätze aufzugreifen, die in theoretischer
Hinsicht eine dialektische Grundkonzeption verfolgen, die sich auch in der
Analyse singulärer Phänomene (an historisch-konkreten Fällen) anwenden
lässt, statt die Komplexität des Themas durch additives Aneinanderfügen von
Teil-Theorien und alles umfassenden ‚Ebenen‘ aufzulösen.
In empirischer Hinsicht sind reflexiv-rekonstruktive Methodologien gefragt, die danach suchen, jenen oft verdeckten ‚inneren Zusammenhang‘ zwischen dem Individuellen und dem Sozialen am konkreten Material bzw. ‚am
Fall‘ zu rekonstruieren, anders gesagt, die das Gesellschaftliche ‚im‘ Individuum und das Individuelle als Erscheinungsform des Gesellschaftlichen in den
Blick nehmen. Das bedeutet, wir brauchen theoretisch eingebettete und reflektierte empirische Ansätze.
Hinzu kommt die Aufgabe, die Konstruktivität des Forschungsprozesses
systematisch in Rechnung zu stellen, also die wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Kontexte der eigenen Forschung zu reflektieren und Prozesse der
Ko-Konstruktion, die sich daraus ergeben, in die Analyse kritisch mit einzubeziehen. Ansätze, die sich diesen Ansprüchen verpflichtet sehen, finden sich
gegenwärtig vor allem in der Biographieforschung (Dausien 2008; Thon
2008), einer auf Institutionen und Praxen bezogenen Ethnographie (Breidenstein u.a. 2013), in diskursanalytischen Studien, die empirisch-rekonstruktiv
arbeiten (s. noch einmal Hartmann in diesem Band) oder auch in neu entwickelten theoriegeleiteten Konzepten wie der Habitusanalyse (Bremer/TeiwesKügler 2013). Auch theoretisch reflektierte Kombinationen zwischen quantitativen und qualitativen Ansätzen bieten ein noch unausgeschöpftes Potenzial
für die Bearbeitung sozialisationstheoretischer Fragestellungen.
Entscheidend ist, so unser Fazit aus dem Rückblick in die Geschichte der
Sozialisationsforschung, den Anspruch eines allumfassenden Sozialisationsmodells zu vermeiden und sich dafür auf eine theoretisch genaue, empirisch
gehaltvolle und materialbezogene Analyse begründet ausgewählter Phänomene zu konzentrieren. Der erhoffte Gewinn ist die Entwicklung neuer tragfähiger Begriffe und Konzepte, mit denen wir die Komplexität und (verdeckte)
Strukturierung von Sozialisationsprozessen an konkreten Fallbeispielen gedanklich besser fassen können.
Das klingt nur vermeintlich bescheiden. Eine der größten Herausforderungen besteht schon darin, die richtigen Fragen zu stellen und gute Beispiele für
ihre Bearbeitung auszuwählen. Es gilt somit, sozialisationstheoretische Fragestellungen ‚kleinzuarbeiten‘ und in theoretisch und methodologisch reflektierte Forschung zu übersetzen. Eine Hilfe auf dem Weg dahin ist – besonders
für erziehungswissenschaftliche Forscher_innen, die es gewohnt sind, Individuen und ihren sozialen Praktiken in den Blick zu nehmen – eine kritische
43
Bettina Dausien, Katharina Walgenbach
Auseinandersetzung mit vorliegenden Analysen zu aktuellen Prozessen der gesellschaftlichen Umstrukturierung. Unser Essay sollte – mit allen dem Genre
geschuldeten Verkürzungen und Zuspitzungen – dazu anregen, diese Überlegungen auf- und in die je eigenen Forschungsfelder mitzunehmen.
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Transformationen von
Debatten
Transformatorische Denkbewegungen –
Weiterentwicklung von Sozialisationstheorien
im Anschluss an Judith Butlers diskurstheoretisches
Verständnis von Geschlecht
Jutta Hartmann
Geschlecht ist der „‚Mechanismus‘,
durch den Vorstellungen von maskulin
und feminin geschaffen und eingebürgert werden“, ist „der ‚Apparat‘, mit
dem die Erzeugung und Normierung
von männlich und weiblich stattfindet –
gemeinsam mit den hormonalen, chromosomalen, psychischen und performativen Zwischenformen, die ein Geschlecht annimmt“ (Butler 2002: 7).
Im interdisziplinären Kontext der Frauen- und Geschlechterforschung sind Sozialisationskonzepte seit den 1990er Jahren in die Kritik gekommen und explizit sozialisationstheoretische Argumentationen zugunsten sozialkonstruktivistischer Ansätze in den Hintergrund getreten. Die Kritik am überkommenen Sozialisationsparadigma gilt einem Essentialisieren, Homogenisieren und Reifizieren des kulturellen Systems heterosexueller Zweigeschlechtlichkeit, das
hierüber als eine Art „vorsoziale Wirklichkeit“ (Gildemeister/Wetterer 1992:
215) hervorgebracht werde. Problematisierung erfuhr schon zuvor ein überdeterminiertes Verständnis von Geschlecht als zugemutetes Produkt eines unausweichlichen Sozialisationsprozesses. Weiter steht eine unterkomplexe Vorstellung von Identitäten zur Disposition, die nicht nur über das Geschlecht, sondern zugleich über weitere soziale Kategorien, wie etwa ethnische Zugehörigkeit oder sexuelles Begehren, konstituiert sind. Mit dem Konzept einer „SelbstBildung in sozialen Praktiken“ (Bilden 1991: 280) lassen sich die Inszenierungen von Geschlecht in sozialkonstruktivistischen Ansätzen demgegenüber als
eine Art Bindeglied zwischen Individuum und Gesellschaft fassen und weitere
Differenzkategorien berücksichtigen. Mit Blick auf entsprechende Zugänge eines doing gender sind nun jedoch ebenso strukturtheoretische Defizite der
handlungstheoretischen Ansätze zu beklagen (vgl. Tervooren 2006: 16) wie
Jutta Hartmann
subjekttheoretische Verengungen der zur Jahrtausendwende in Konjunktur stehenden mikrosoziologischen Zugänge zu bemängeln (vgl. Maihofer 2002).
Zum einen bleibt der machtvolle Rahmen struktureller wie kultureller Ungleichheiten auffallend unterbelichtet, zum anderen die Frage nach situationsübergreifenden Kontinuitäten des Geschlechtlichseins unbeantwortet.
Auch in dezidiert erziehungswissenschaftlichen Studien sind seit den
2000er Jahren explizit sozialisationstheoretische Argumentationen in den Hintergrund getreten. Hier stehen sie im Schatten einer Konjunktur bildungstheoretischer Überlegungen, die entsprechend dem historisch vermittelten Gehalt
des Bildungsbegriffs einer Begründungsperspektive folgend den kritisch-reflexiven Aspekt der Selbst- und Weltverhältnisse fokussieren (müssten). Demgegenüber zielen Fragen, die unter dem Begriff der Sozialisation gestellt werden,
einer Beobachtungsperspektive folgend auf die Mechanismen, Voraussetzungen und Folgen der alltäglichen Vorgänge, durch die Heranwachsende nicht
nur gesellschaftsfähig, sondern zugleich auch geschlechtlich werden und dies
ihr Leben lang bleiben: Wie verarbeiten die Einzelnen die sie umgebende Realität in produktiver Weise und entwickeln dabei für bestimmte soziale Gruppen charakteristische Denk-, Fühl- und Verhaltensweisen? Wie machen sie
sich im Prozess ihrer Identitätsbildung vorgefundene Standards zu eigen, unterwandern diese dabei aber auch und arbeiten sie um? Sozialisationsprozessen
wird die Aufgabe der Integration des Individuums in die Gesellschaft zugeschrieben. In einer Verbindung aus wissenschaftlichem Programm und politischem Veränderungsinteresse richtet sich das Erkenntnisinteresse des mit der
‚realistischen Wende‘ der Erziehungswissenschaften in den 1960er Jahren eng
verbundenen Sozialisationsparadigmas auf Fragen nach Bedingungen wie
Verhinderungen von Emanzipation und damit nach möglichen Ansatzpunkten
von Veränderung (vgl. Hagemann-White 2004: 147).
Begreifen wir geschlechtsbezogene Sozialisationsforschung als einen vielstimmigen Diskurs, der sich durch unterschiedliche Referenztheorien und die
Untersuchung einer großen Bandbreite von Sozialisationsfeldern wie -aspekten auszeichnet, der zugleich aber auch durch kontroverse Debatten und eine
immer wieder gegebene Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen gekennzeichnet
ist (vgl. Metz-Göckel 2007: 135ff.), dann ist die gegenwärtige Distanz gegenüber dem Sozialisationsbegriff bei aller nachvollziehbaren Kritik an spezifischen Verkürzungen, Widersprüchen und Ausblendungen innerhalb der diesbezüglichen Debatte nur bedingt nachvollziehbar. Im Folgenden möchte ich
daher untersuchen, inwiefern die Aufnahme neuer, insbesondere kulturtheoretischer Perspektiven zu begrifflichen Differenzierungen und Transformationen
der aktuellen Debatte in der erziehungswissenschaftlichen Frauen- und Geschlechterforschung geführt hat, die zugleich zentrale Fragestellungen und
Herausforderungen einer geschlechtsbezogenen Sozialisationsforschung berühren, und als ein transformierender Beitrag zu derselben begriffen werden
kann.
54
Transformatorische Denkbewegungen
Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass die Kritik an einer ‚Vereindeutigung‘ von Geschlecht deutlich langsamer und in geringerem Ausmaß als die
Essentialismus- und Homogenisierungskritik Resonanz in der erziehungswissenschaftlichen Frauen- und Geschlechterforschung findet. Zwar nehmen seit
den 2000er Jahren solche Analysen zu, die Interaktionen, Praxen und Repräsentationen der Geschlechterdifferenzierung mit Blick auf mehrere soziale Kategorien untersuchen. Nicht selbstverständlich sind diese – zunehmend unter
dem Begriff der Intersektionalität auftretenden und die Multidimensionalität
von über verschiedene Differenzkategorien konstituierten Identitäten untersuchenden – Zugänge jedoch so orientiert, dass sie vorherrschende Vereindeutigungen auf der Ebene von Geschlecht (im Sinne von sex, gender und Begehren) dekonstruieren (können) (vgl. kritisch Hartmann 2006, Tuider 2012). Um
Mehrdeutigkeiten, Ungleichzeitigkeiten und Kontingenzen von Geschlechtsidentitäten und -körpern zu erfassen, greifen in den letzten 15 Jahren daher
immer mehr Studien auf poststrukturalistische Theorien zurück, wie sie insbesondere über die Rezeption der Schriften Judith Butlers und das Konzept von
Heteronormativität Eingang in die erziehungswissenschaftliche Debatte gefunden haben und im Anschluss daran etwa mit dem Diskursbegriff Michel
Foucaults, einem Verständnis von Dekonstruktion nach Jacques Derrida
und/oder dem Begriff der Performativität arbeiten. Mit Judith Butlers Verständnis von Geschlecht als „eine Praxis der Improvisation im Rahmen des
Zwangs“ (Butler 2009: 9) ist es möglich, Geschlecht als eine Aktivität zu begreifen, die über Sozialität bedingt ist sowie gebunden an die Wirkkraft „soziale[r] Normen, die unsere Existenz bestimmen“ (ebd.: 10). Mit Butlers Konzentration auf die Gleichzeitigkeit von normativer Beschränkung und verändernder Handlungsfähigkeit des Subjekts, mit ihrer Frage, in welcher Art und
Weise die Konstruktion heterosexueller Zweigeschlechtlichkeit als ein Ineinander von normativen Zwängen und von Transformationen derselben begriffen
werden kann, sind, so die hier vertretene These, Anschlussmöglichkeiten für
grundlegende sozialisationstheoretische Fragestellungen auf diskurs- und praxistheoretischer Ebene ebenso gegeben wie den genannten Kritikpunkten der
Debatte konstruktiv begegnet.
Meine weiteren Ausführungen folgen der Frage, welche konkreten Beiträge die Überlegungen Judith Butlers und die Erkenntnisse der im Anschluss
an ihre Theorien durchgeführten Studien zur Debatte um die Sozialisation von
Geschlecht leisten und welche theoretische Relevanz sie dabei mit Blick auf
die geschlechtsbezogene Sozialisationsforschung entfalten. Wo sind Anschlüsse, wo Widersprüche zwischen Butlers Ansatz und den von ihr inspirierten Studien zu der Debatte über Sozialisation in der Geschlechterforschung
festzustellen? Worin genau liegen die theoretischen Verschiebungen und welche Bedeutung kommt ihnen für das Verständnis des Geschlechtlichwerdens
und -seins zu?
55
Jutta Hartmann
1 Soziale Normen, die unsere Existenz bestimmen –
Hauptreferenzpunkte in Butlers Gendertheorie1
In einem ersten Schritt sollen die Gedanken Judith Butlers zum ‚Mechanismus‘
von Geschlecht skizziert werden, die als geeignete Bezugspunkte für sozialisationstheoretische Überlegungen erscheinen. Es sind ihre diskurstheoretischen Perspektiven, die ausgehend von einer Verknüpfung von Sprache, Wissen, gesellschaftlicher Macht und individuellem Bewusstsein im Rahmen poststrukturalistischen Denkens einen Zugang zu geschlechtlichen Subjekten ermöglichen,2 der diese als materialisierte Effekte diskursiver Strukturen zu begreifen vermag. Butler (1991: 27) folgend gibt der hegemoniale Geschlechterdiskurs heterosexueller Zweigeschlechtlichkeit einen Vorstellungshorizont für
Erfahrungen und Identitäten vor und übt in seiner binären Strukturierung den
Effekt einer „zwanghaften Einschränkung“ auf die Darstellungs- und Wahrnehmungsmuster aus. Dabei eröffnen Diskurse den Möglichkeitsraum, in dem
Subjekte Lebensfähigkeit erlangen. Diskurse produzieren Subjekte, indem sich
diese über jene identifizieren und jene diese durchdringen. Butler vertritt die
These, dass wir über Handlungen, Gesten und Sprache entgegen der vorherrschenden Vorstellung von Repräsentation nicht eine wesenhafte oder natürliche Geschlechtsidentität ausdrücken, sondern dass es demgegenüber die Performativität der Geschlechtsidentität ist, die nachträglich selbst die Illusion eines geschlechtlichen Kerns, die Wirkung einer weiblichen oder männlichen
Essenz hervorbringt. Entsprechend konzeptualisiert Butler das Subjekt als eines, das durch performative Wiederholung bestehender Bedeutungen, Konventionen und Normen möglich wird und über seine Praxen erst als solches
entsteht. Motor dieses Prozesses ist ein letztlich nie zu erreichendes normatives
Ideal, das sich über Prozesse der „Sedimentierung“ historisch unterschiedlicher Möglichkeiten des Geschlechtlichseins in Form „leiblicher Stile“ materiell realisiert (ebd.: 206). Über die als kohärent gesetzte Triade sex-gender-desire spielen Praktiken des sexuellen Begehrens eine wesentliche Rolle im Prozess der Hervorbringung binärer Geschlechtlichkeit. In diesem Sinne erweist
sich Geschlechtsidentität als ein Set von Handlungen bzw. Akten, über die
Körper in ständiger Wiederholung „zu kulturell erzeugten Formen der Geschlechtsidentität stilisiert werden“ (ebd.). Insofern kommt dem Körper, seinen Gesten, Bewegungen und Stilen zentrale Bedeutung bei der Konstituierung von Geschlecht zu. In einer prozesshaften Materialisierung über die Zeit
entwickeln heteronormative Geschlechterdiskurse eine Beharrlichkeit in der
1
2
56
Teile dieser Überlegungen sind ausführlicher publiziert in Hartmann (2012).
Steht der Subjektbegriff für die kulturelle Form, in der die Einzelnen auf geistiger, körperlicher und affektiver Ebene gesellschaftliche Wesen werden, wird mit den Begriffen der Subjektivität und Identität die Art und Weise gefasst, sich selbst zu begreifen (vgl. Reckwitz
2008: 17).
Transformatorische Denkbewegungen
Tiefe des Körpers. Butler versteht auch das biologische Geschlecht als „eine
kulturelle Norm, die die Materialisierung von Körpern regiert“ (1995: 22) und
bietet somit ein Verständnis von Geschlecht an, bei dem sex schon immer gender ist (Butler 1999: 11).
Mit dem Modell der Performativität von Geschlecht macht Butler nicht nur
den konstitutiven Zwang zu einer kohärenten Geschlechtsidentität nachvollziehbar, sie betont darüber hinaus auftretende Instabilität und Diskontinuität
und damit die Möglichkeit, kontingente, d.h. zufällige Verbindungen zwischen
sex, gender und Begehren zu stiften, beispielsweise sex weiblich und gender
männlich zu leben. Als deutliche Öffnung einer reproduktionslogisch ausgerichteten Sozialisationsperspektive interpretierbar – und in expliziter Weiterentwicklung des in körperbezogenen Sozialisationstheorien viel beachteten
Ansatzes von Pierre Bourdieu – betont Butler, wie durch die Mehrdeutigkeit
jedes Diskurses und den Zwang zu ständiger Wiederholung auch der Körper
mit seinen Praxen und seiner Materie durch eine prinzipielle Fragilität und Irritierbarkeit gekennzeichnet ist. Sie geht davon aus, dass wir „gewissermaßen
gezwungen [sind], die regulierenden Bedingungen des Geschlechts ständig zu
wiederholen, wie aber diese Wiederholung vor sich geht, ist teilweise offen“
(Butler 1993: 10; Hervorh. i. Orig.). Zentral im Konzept der Performativität ist
die mit der Zitatförmigkeit verbundene Neubedeutung, das Wiederholen von
Vorausgegangenem mit dem hierin angelegten Potential zu Erweiterung, Verschiebung und Resignifikation, die Chance, „aus dem Begriff der Geschlechtsidentität als Wirkung produktiven Zwangs Handlungsfähigkeit ab[zu]leiten“
(Butler 1995: 15). Körper erweisen sich so gesehen als Orte kultureller Interpretation, als Felder „für eine Reihe sich kulturell erweiternder Möglichkeiten“
(ebd.: 11).
Den Ansatz der Performativität weiterentwickelnd verweist Butler (ebd.:
129ff.) auf das Unbewusste als Sitz verworfener Geschlechtlichkeit wie auf
den phantasmatischen Charakter der Identifizierung. In Auseinandersetzung
mit der Psychoanalyse argumentiert sie, dass Performativität psychisch gerade
von den Identifikationen und Begehrenslinien orchestriert wird, die die Performativität nicht ausdrücken kann bzw. darf. Sie arbeitet heraus, wie zentral gerade verweigerte Bindungen und verweigerte Identifizierungen für die Performativität des Geschlechts sind. In Abgrenzung zu klassisch psychoanalytischen Ansätzen, die Identifizierung gleichgeschlechtlich und Begehren gegengeschlechtlich konzipieren, vertritt sie die These, dass wir letztlich nicht in der
Lage sind, in Fragen der Identifikation und des Begehrens nach einem Entweder-oder-Prinzip zu funktionieren (ebd.: 138). So verstanden handelt es sich
bei Weiblichkeit und Männlichkeit um Positionen, die mit der Heterosexualisierung des Begehrens entstehen, die Möglichkeiten des anderen Geschlechts
verwerfen und vom Verbot der Homosexualität geleitet sind. Zentral wird die
Figur des konstitutiven Außen (ebd.: 23). Mit dieser ist eine grundlegende Ab-
57
Jutta Hartmann
hängigkeit der einen Position von der jeweils anderen gegeben. Das vorherrschende Verständnis von geschlechtlicher wie sexueller Identität als ein Entweder-oder erweist sich als kulturelle Fiktion, Differenz – nicht Einheit – als
deren konstitutives Element.
Für ein permanentes unabgeschlossenes Werden stehend, greift das Konzept der Performativität somit drei für die Konstitution des geschlechtlichen
Subjekts relevante Ebenen auf – die der Handlung, des Körpers und der Psyche. Insofern erscheint es dafür geeignet, der Kritik Andrea Maihofers (2002)
zu folgen und die Frage nach dem Subjekt, dessen Körper und Seele als materielle Realität sozialer Praxen hervortreten, in der Debatte um Sozialisation
nicht länger zu marginalisieren. Wie im poststrukturalistischen Diskurs Judith
Butlers erweisen sich die Begriffe von Subjekt, Handlung und Begehren auch
für die Sozialisationsdebatte als zentral. Der theoretisch bedeutsame Unterschied liegt in Butlers Betonung des normativen Gehalts von Geschlecht als
gesamtem (sex & gender) sowie darin, dass das Subjekt bei Butler weder vor
seinen Handlungen existiert – und damit nicht einfach mehr oder weniger frei
über diese bestimmen kann –, noch von seinen körperlichen Akten oder seiner
psychischen Begehrensstruktur getrennt gesehen werden kann. Normative
Vorgaben, symbolische Ordnungen und Machtverhältnisse schreiben sich
nicht einfach in das Subjekt ein, das Subjekt ist vielmehr aktiv an seinem
machtvollen Konstitutionsprozess beteiligt. Dabei werden normative Diskurse
nicht einfach reproduziert. Butler betont mit dem Konzept der Performativität
ein auf verschiedenen Ebenen angesiedeltes Veränderungspotential. Zwar
größtenteils durch Unberechenbarkeit gekennzeichnet, bietet dieses – gleichwohl im Horizont diskursiver Rahmung – auch Raum für reflexive Veränderung und somit begründete Anschlussmöglichkeiten von Bildungs- an Sozialisationsfragen.
Im Weiteren soll aufgezeigt werden, wie Butlers Konzept der Performativität, verstanden als „sensitizing concept“ (Fritzsche 2001), Eingang in empirische Untersuchungen findet, wie darüber theoretisch bedeutsame Verschiebungen für die Sozialisationsforschung fruchtbar gemacht und neue Erkenntnisse zum Prozess des Geschlechtlichwerdens gewonnen werden können. Im
Kontext der deutschsprachigen erziehungswissenschaftlichen Frauen- und Geschlechterforschung liegen bislang erst wenige empirische Studien vor, die
Prozesse des Geschlechtlichwerdens mit Rückgriff auf die Theorien Judith
Butlers bearbeiten und deren Potentiale für sozialisationstheoretische Fragestellungen herausstellen. Die weitere, auf entsprechende Arbeiten zielende
Auswahl folgt zugleich den Kriterien, unterschiedliche Altersgruppen und Sozialisationsfelder zu berücksichtigen sowie anhand der vorgestellten Beispiele
einen möglichst breiten Einblick in eine Art „Lexikon für die Geschlechterkomplexität“ (Butler 2002: 6) zu ermöglichen. So entsteht eine Auswahl an
Studien, die verschiedene weitere theoretische Bezüge herstellen, mehr oder
weniger ausgeprägt auf Butlers Theorien – und dabei auf jeweils verschiedene
58
Transformatorische Denkbewegungen
Aspekte derselben – zurückgreifen und sich auch forschungsmethodologisch
deutlich voneinander unterscheiden. Diese Unterschiede im Einzelnen darzustellen, würde den Rahmen dieser Publikation sprengen.
2 ‚Einüben‘ statt ‚Werden‘ – Elemente und Erkenntnisse
einer performativen Sozialisationstheorie
Studien, die den Körper und seine Praxen als einen Ort der Auseinandersetzung mit geschlechts- und begehrensbezogenen Normen in den Mittelpunkt
ihrer Untersuchung stellen, gelingt es mithilfe von Butlers Theorie des Performativen, mikrosoziologische Betrachtungen mit Fragen der Subjektwerdung
zu verbinden. Die dabei nachgezeichneten geschlechts- und begehrensbezogenen Praktiken von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen lassen in unterschiedlichem Ausmaß Spielräume im Feld heterosexueller Zweigeschlechtlichkeit sichtbar werden. Diese sind im Alltagshandeln im Rahmen allgemeiner öffentlicher Räume wie auch in subkulturellen Orten bzw. ritualisierten
Ausnahmesituationen in jeweils spezifischer Form nachweisbar.
Mit ihrer ethnografischen Studie „Im Spielraum von Geschlecht und Begehren“ kommt Anja Tervooren (2006) das Verdienst zu, als eine der ersten
zentrale Aspekte der Theorien Butlers nicht nur aufgegriffen, sondern in einer
Wechselbeziehung von empirischen Erkenntnissen und sozialisationsbezogenen Überlegungen zu einer „Skizze einer performativen Sozialisationstheorie“
(ebd.: 9) weiterentwickelt zu haben. Dabei zeigt Tervooren, wie mit Butlers
Konzept der Performativität das konstitutive Verhältnis der untersuchten Kinder zu gesellschaftlichen Normen der Geschlechtsidentität herausgearbeitet
werden kann, ohne ihnen ihre Handlungsfähigkeit abzusprechen. Davon ausgehend, dass Sozialisation adäquat weder als ein passiver Prozess noch als ein
in souveräner Weise aktiver verstanden werden kann, spricht Tervooren (ebd.:
37) von einem „Aufwachsen zwischen Tun und Widerfahren“. Sie analysiert
Interaktionen und Praxen im Kontext von Schule, in denen die Heranwachsenden vor dem Horizont heterosexueller Zweigeschlechtlichkeit diese aufrufen
aber auch unterwandern.
Im Mittelpunkt der von ihr entwickelten performativen Sozialisationstheorie steht Bourdieus Begriff des ‚Einübens‘, der das gängige sozialisationstheoretische ‚Werden‘ zu spezifizieren vermag und im Unterschied zum geläufigen Begriff des ‚Einschreibens‘ das aktive Moment des Subjekts markiert.
Doch während Bourdieu die Wiederholung der körperlichen Praxen veränderungsresistent entwirft, kann mit Butlers Gedanken der Reinszenierung, für die
Tervooren eine Verknüpfung der symbolischen mit der sozialen Sphäre ableitet, auch das Neue in den Blick genommen werden: „Das Einüben wiederholt
59
Jutta Hartmann
etwas, ohne dass sie [die Reinszenierung; J.H.] das Vorgegebene bloß ausdrücken würde, es zeigt sich als Transformation des Bestehenden, das ein spezifisches Verhältnis von Ähnlichkeit und Differenz generiert“ (ebd.: 23). Tervooren lässt am empirischen Material nachvollziehbar werden, wie sich die „Unterwerfung des Subjekts unter die symbolische Ordnung […] in den Akten seines Körpers“ (ebd.: 18) vollzieht, die Bezugnahme auf vorgängige Handlungen eine ästhetische ist und sich die gesellschaftlichen Machtverhältnisse im
Prozess der Verkörperung zwar allmählich im Habitus verfestigen, jedoch angesichts ihres phantasmatischen Charakters instabil und anfechtbar bleiben
(ebd.: 35f.). Indem sie die wiederholende Aktivität des Subjekts, den zwingenden Charakter der Verfehlung sowie das in der Reinszenierung liegende Potential der Neuschöpfung berücksichtigt, kann Tervooren nicht nur herausarbeiten, welche Traditionen die Kinder weiterreichen, sondern auch, welche
Spielräume sie beim Einüben von Weiblichkeit und Männlichkeit, von gleichund gegengeschlechtlichem Begehren in dem Prozess, in dem sie „immer wieder zu Mädchen und Jungen werden“ (ebd.: 37), nutzen.
So kommt Tervooren zu der Erkenntnis, dass viele Mädchen „sich auch im
Alltag an den Geschlechterinszenierungen der Jungen [orientieren; J.H.], während letztere Weiblichkeit nur spielerisch erproben, um ihre Beziehung zu dieser bald wieder zu verwerfen“ (ebd.: 225). Die von den Jungen verwendeten
Spielräume erweisen sich als kleiner als die der Mädchen, aber auch Jungen
finden „Mittel und Wege, Identifizierungen mit Weiblichkeit und Besetzungen
homosexueller Positionierungen zu erproben“ (ebd.). Gleichzeitig arbeitet Tervooren die Fragwürdigkeit heraus, die bei Erwachsenen gängige Verknüpfung
von sex, gender, Begehren und Sexualität auf Kinder zu übertragen.
Wie das Geschlecht begreift die Forscherin auch das Begehren als ereignishaft und ständig aufzuführen. So kann sie nachzeichnen, wie genussvoll die
Kinder verschiedene Begehrensweisen durchspielen und wie sie, den Zwang
zur heterosexuellen Positionierung erfassend, sich mit dem Tabu der Homosexualität auseinandersetzen. Anknüpfend an Butlers Betonung der Sozialität des
geschlechtlichen Tuns arbeitet Tervooren die kollektive Natur wie die Bedeutung der Peer-Group als zentrales Feld der Erprobung heraus und spezifiziert
so die sozialisationstheoretische Bedeutung, die der Beziehung zu anderen im
Prozess des Einübens von Geschlecht in diesem Alter zukommt:
„Was bei den Mädchen über das Primat der gleichgeschlechtlichen Clique und der besten
Freundin als Nähe auch zu Homosexualität nur anklingt, inszenieren die Jungen offensiv vor
der Kamera. Das spielerische Aufführen homosexueller Sexualpraktiken ermöglicht ihnen,
die für sie vordringlichsten Themen ihres Alters zu bearbeiten: die Setzung als männliches
Ich und die rituelle Trennung vom Weiblichen, die Annäherung an Sexualität im Allgemeinen, das Verhältnis zu anderen Jungen und die Beziehung zum anderen Geschlecht.“ (ebd.:
226f.)
Tervoorens Skizze einer performativen Sozialisationstheorie erweist sich als
ein gelungener Versuch, mit Rückgriff auf das Konzept der Performativität
60
Transformatorische Denkbewegungen
struktur- und handlungstheoretisch orientierte Perspektiven zusammen zu denken und dabei Macht als sowohl in den Strukturen verortet als auch „von den
einzelnen Subjekten in den Händen gehalten“ (ebd.: 36) wahrzunehmen. Mit
den Begriffen der Resignifikation und des Phantasmatischen bereichert Tervooren die Sozialisationsforschung mit theoretischen Perspektiven, die es ermöglichen, Spielräume beim Einüben in das normative Geflecht heterosexueller Zweigeschlechtlichkeit sichtbar und uneindeutige Geschlechterinszenierungen in ihrer Komplexität auf eine Weise erklärbar werden zu lassen, die
auch innerpsychische Faktoren in ihrer diskursiven Bedingtheit berücksichtigt.
Einen kreativen Umgang mit normativen Vorgaben arbeitet auch Bettina
Fritzsche (2003) in ihrer empirischen Studie zu kulturellen Praktiken des FanSeins bei Mädchen am Übergang von der Kindheit zur Jugend heraus. Während dieses Fan-Sein häufig als der Inbegriff von Heterosexualisierung begriffen wird, dokumentieren die Interviews mit Mädchen, die Fans von Boy und
Girl Groups sind, deren aktive Auseinandersetzung mit der Geschlechterdichotomie und der Norm der Heterosexualität. Sie belegen, dass die Wirkungen
entsprechender Medien auf die Mädchen keine kausalen sind, die Folgen nicht
den Bedingungen ihres Sozialisationsprozesses entsprechen. Die Praxen der
Mädchen erweisen sich demgegenüber als ein dynamischer Vorgang, bei dem
im Zuge komplexer Begehrensverhältnisse und wechselnder Identifizierungen
normative Vorstellungen ständig durchkreuzt werden.
Am Beispiel von Mädchen, die bei einem Auftritt ihre männlichen Stars
imitieren und sich dabei von anderen Mädchen mit Liebeszurufen feiern lassen, arbeitet die Forscherin heraus, wie die Mädchen zugleich ein gleich- wie
ein gegengeschlechtliches Begehren inszenieren. Butlers Überlegungen zur
unbewussten Dimension von Geschlecht folgend macht Fritzsche Begehrenssituationen nachvollziehbar, die mit den normativen Dualitäten von männlich
und weiblich, von homo- und heterosexuell nicht mehr zu begreifen sind und
die – von Fritzsche als „begehrende Identifizierung“ und „identifikatorisches
Begehren“ begriffen – die vorherrschende Geschlechterordnung unterlaufen
und zugleich „die Wirkungsmacht der heterosexuellen Matrix“ bestätigen
(ebd.: 94).
Fritzsche vertritt die These, dass die „Fragilität einer kohärenten Geschlechtsidentität“ für Kinder in der Übergangsphase zur Adoleszenz offensichtlich deutlicher wahrnehmbar ist als für Erwachsene, weswegen die beginnende Adoleszenz als ein „Raum für Unsicherheiten und Ängste, jedoch auch
für einen besonders kreativen Umgang mit dem Gesetz“ einzuschätzen ist
(Fritzsche 2004: 88). So berichtet ein zu ihrem Fan-Sein interviewtes Mädchen
von dem Gerücht, dass ihre Boygroup eigentlich aus Mädchen bestünde. Die
Sorge dieses Mädchens, die boys könnten girls und ihr Begehren womöglich
lesbisch sein, wertet Fritzsche als Hinweis darauf, dass es dem Mädchen um
die mit der männlichen Geschlechtsidentität der boys einhergehende heterose-
61
Jutta Hartmann
xuelle Symbolisierung ihres Fan-Seins geht. Die Forscherin erkennt das sexuelle Selbstverständnis des Mädchens als eines, das nicht von natürlichen Gegebenheiten ausgeht, sondern durch Suchbewegungen charakterisiert ist. Fritzsche arbeitet eine variantenreiche Bewegung des Annäherns an und Entfernens
von normative(n) Vorlagen heraus und lässt so ein performatives Einkreisen
der sexuellen Identität sichtbar werden. Der Rückgriff auf Butlers Theorie der
Performativität ermöglicht es auch Fritzsche, sozialisationsrelevante Zusammenhänge auf der Ebene von Geschlecht und Begehren in einer Komplexität
zu analysieren, die quer zu einer vereindeutigenden Entweder-oder-Matrix
liegt.
Wie das Verworfene auch im Erwachsenenleben einen ritualisierten Raum
erhalten kann, macht Kerstin Bronner (2011: 35) in ihrer Studie nachvollziehbar, die „meist unbewusst, temporär und spontan“ sich vollziehende „Genderspiele“ bei Fastnachtteilnehmenden untersucht und die These vertritt, dass der
über das Setting der Fastnacht gegebene Freiraum genutzt werde, um im heteronormativ strukturierten Alltag nicht zugelassenen Bedürfnissen zu folgen.
Ihre ethnografische Untersuchung, wie Geschlechterbilder handlungspraktisch
verhandelt werden, zeigt u.a., inwiefern „Hexenrolle und -kostüm“ experimentelle Möglichkeitsräume für homosoziale und -erotische Kontakte und Körperlichkeiten eröffnen, die außerhalb derselben zwischen Männern als kaum realisierbar erscheinen (ebd.: 214). Dass die Wissenschaftler*in auf öffnende
Praktiken zumeist unmittelbar folgend auch schließende Praktiken von der Person selbst oder eine*r Interaktionsteilnehmer*in beobachten kann (ebd.:
244ff.), bestätigt den auch in der besonderen Fastnachtsituation wirksam bestehen bleibenden heteronormativen Rahmen.
Deutlich in einem subkulturellen Kontext verortet, in dem das Spiel mit
den Geschlechtern eine zentrale Rolle spielt, untersucht die Studie von Nadine
Heymann (2014) Codes und (Körper-)Routinen der Protagonist*innen3 des Visual Kei. Deren subkulturelle Kritik an der gesellschaftlichen Ordnung artikuliert sich in einer ästhetischen Praxis und Körperlichkeit, die mehrdeutige geschlechtliche Körper und bisexuelles Begehren ermächtigen. Als diskursive
Vorlagen dienen den Jugendlichen geschlechtlich veruneindeutigte Körper japanischer Rock-Musiker*innen. Entsprechend unterstreichen die Protagonist*innen ihre Abkehr von eindeutigen Geschlechtszugehörigkeiten über die
Darstellung eines schmalen und schlanken Körpers und langer bunter Haartracht, durch auf Körper und Körpergefühl wirkende Kleidung und Accessoires sowie durch das Annehmen geschlechtlich nicht markiert wirkender japanischer Namen. Auch von der Möglichkeit einer „Umgewöhnung“ in ein
anderes Geschlecht ausgehend (ebd.: 244) signalisieren sie ein Verständnis
ihres Körpers als gestaltbares Instrument und ihrer Identität als veränderbar.
3
62
Die Protagonist*innen des Visual Kei bestehen der Perspektive der Forscher*in folgend vor
allem aus Mädchen sowie aus einigen transgeschlechtlichen Jungen und wenigen cis-männlichen Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen.
Transformatorische Denkbewegungen
Heymann interessiert sich für Subjektformen, die sich in körperlichen
Handlungen bilden. Sie konzeptualisiert die Effekte wiederholender Praxis –
Butler in Anschluss an und Abgrenzung von Bourdieu folgend – mit der
„Denkfigur der Sedimentierung“ (ebd.: 221), wobei sie sowohl die mögliche
Stabilisierung wie auch das gegebene Potential der Transformation betont.
Selbst verschoben zu hegemonialen Geschlechternormen liegend, entfalten die
Praktiken des Visual Kei in ihrer Wiederholung nun jedoch einen stabilisierenden Niederschlag in einer subkulturellen Normalität, die über subkulturelle
„Kreisläufe der Anerkennung“ (ebd.: 221f.) uneindeutige Subjektpositionen
mit subkulturellem Kapital privilegiert. Als der herrschenden Ordnung widerstreitend erweist sich im Visual Kei auch das Begehren. Bisexualität ist konstitutiv für das Selbstverständnis in dieser Subkultur, das Schreiben von Boys’
Love Mangas eine beliebte Praxis. Dabei handelt es sich um von und für Mädchen sowie häufig von ihnen gemeinsam verfasste pornografische Liebesgeschichten über schwule Jungen und Männer, die zart und feminin gezeichnet
sind. In der Gleichzeitigkeit von Identifikation und Begehren gegen die Regeln
der symbolischen Ordnung verstoßend, interpretiert Heymann Boys’ Love
Mangas als eine Selbstermächtigungsstrategie der diese Praxis ausführenden
Mädchen. Diese besetzen Sexualität nicht nur positiv und vermögen im Erfinden der Geschichten den Umgang mit Liebe, Begehren und Sexualität zu erproben; in der „ritualisierten Wiederholung wird die Synchronität zwischen
sexueller Identität und Begehren“ zugleich auch in Frage gestellt (ebd.: 186).
Die Auseinandersetzungen mit normativen Vorlagen erfolgen im Visual Kei
insbesondere auf körperlicher, visueller und ästhetischer Ebene. Da die Forscherin sie dagegen kaum auf rationaler oder reflexiver Ebene findet, spricht
sie von widerspenstigen, nicht jedoch von widerständigen Praxen (ebd.: 223).
Auch lassen sich Brüche zwischen Praxen und Sprache der untersuchten
Protagonist*innen feststellen. Nur wenige verwenden Begriffe wie transgeschlechtlich, transsexuell oder trans* zur eigenen Verortung. Die meisten können mit diesen Bezeichnungen kaum etwas anfangen und greifen in der Selbstbeschreibung auf im dichotomen Denken verhaftete Begriffe wie ‚kerlig‘ oder
‚androgyn‘ zurück. In Ermangelung einer alternativen Sprache für ihre Selbstverortung quer zu heterosexueller Zweigeschlechtlichkeit entsteht ein auffallendes Spannungsverhältnis zwischen einem unreflektierten praktischen Wissen auf der einen und dem dominanten gesellschaftlichen Wissen, an dem die
Protagonist*innen sprachlich partizipieren, auf der anderen Seite.
Wie zugleich an das subkulturelle Feld herangetragene Begriffe wie Trans*
scheitern können, macht Heymann am Beispiel von Mero deutlich, der eine
Personenstandsänderung anstrebend Testosteron nimmt und eine operative
Entfernung der Brust plant. Er begreift sich als „‚von geburt an ein junge‘“
(ebd.: 53) seiend und weist die Annahme der Forscherin zurück, als Mädchen
sozialisiert worden zu sein. Mit Butler lässt sich dies als eine Normaneignung
lesen, „die sich gegen deren geschichtlich sedimentierte Wirkungen richtet“
63
Jutta Hartmann
und, als auflehnendes Moment interpretiert, die „Zukunft durch den Bruch mit
der Vergangenheit begründet“ (Butler 1998: 225). Doch wie der Begriff
‚Trans*‘ in dieser Forschungssituation scheitert, vermag auch die Bezeichnung
‚Junge‘ die spezifische Lebenslage von Mero letztlich nicht zu fassen. Butlers
kritischer Haltung gegenüber kulturellen Bedeutungen und Kategoriensystemen folgend kann Nadine Heymann (2014: 286) mit ihrer Studie überzeugend
aufzeigen, wie auch „theoretische Konzepte und Kategoriensysteme in der
Konfrontation mit den Widersprüchlichkeiten und Mehrdeutigkeiten sozialer
Wirklichkeit brüchig werden können“. Will Sozialisationsforschung der in ihrem Forschungsdesign angelegten Tendenz der Vereindeutigung begegnen,
gilt es daher nicht nur offen zu sein für die Praxen, die üblicherweise durch die
Raster der gängigen Ordnung fallen, wie für die Vielfalt an geschlechtlichen
und sexuellen Existenzweisen, sondern genau hier mit der Praxis der Kritik
anzusetzen und in diesem Sinne die Kategorien selbst als situiert, prozesshaft
und offen für neue Bedeutungen zu konzeptualisieren.
In einer die Debatte dynamisierenden Weise gelingt es den in diesem Abschnitt vorgestellten Studien nicht nur werdende und seiende, sondern auch
verworfene bzw. in unterschiedlichen Kontexten in verschiedener Weise doch
lebbare nicht-normative geschlechtliche und sexuelle Praxen und Existenzweisen sichtbar und in ihrer Hervorbringung als einen Mechanismus von Gender
nachvollziehbar zu machen. Der dekonstruktiven Perspektive Butlers folgend,
der entsprechend die Ausschließungslogik von Normen auf das verweist, was
sich diesen nicht fügt, verschiebt sich mit Rückgriff auf ihre Theorie das Erkenntnisinteresse der Sozialisationsforschung auch auf die Geschlechtergrenzen und die Möglichkeiten zu deren Verschiebung. Deutlich öffnen die auch
in Verbindung mit weiteren Theorien entwickelten Studien den Blick auf Praxen, die nicht in der hegemonialen Ordnung aufgehen. Dabei leistet der in den
Studien vorgenommene Bezug auf Butlers Konzept der Performativität einen
Beitrag dazu, sowohl die Reproduktion als auch den Wandel der gesellschaftlich-kulturellen Ordnung systematisch zu erfassen und empirisch zu konkretisieren, in welcher Weise normative Vorgaben zugleich Spielräume für eine
verändernde Praxis enthalten. Das bereichernde Moment für die Sozialisationsforschung liegt in der theoretischen Sensibilisierung für die dem Sozialisationsprozess inhärenten Bedingungen und Grenzen der Möglichkeit der Transformation von stets mit normativen Diskursen verbundenen Praxen und Identitätsmustern. Mit der Möglichkeit der Verschiebung von Geschlechtergrenzen
kommt nicht nur eine real gelebte Vielfalt geschlechtlicher und sexueller Subjektpositionen und damit zusammenhängend komplexer Begehrens- und Identifizierungsverhältnisse in den Blick. Die vorgestellten Studien zeigen, wie es
darüber hinaus möglich ist, über Zugänge, die sich mit gender- und heteronormativen Vorgaben auseinandersetzen und zugleich deren Überschreitung untersuchen, auch der kritisierten Tendenz zur Vereindeutigung heterosexueller
Zweigeschlechtlichkeit in der Sozialisationsforschung zu begegnen: „So gerät
64
Transformatorische Denkbewegungen
die Brüchigkeit des Sozialisationsprozesses, die zwischen der Auseinandersetzung mit abstrakten Geschlechternormen und deren notwendigem konstitutivem Verfehlen in ihren eigentlichen Aufführungen angesiedelt ist, in den
Blick“ (Fritzsche/Tervooren 2006: 159). Es ist die mit der Theorie der Performativität gegebene Fokussierung auf die Spielräume von Geschlecht, die es
ermöglicht, sich der Pluralität von Geschlechtsidentitäten auf der Ebene der
Geschlechterdimensionen selbst zuzuwenden und damit einer Komplexität
von Geschlecht, wie sie durch Butlers Überlegungen zur Kontingenz von sex,
gender & desire, zur inhärenten Differenz als konstitutivem Bestandteil von
Identität sowie zur zeitlichen Instabilität von Geschlechtlichkeit aufgrund der
Notwendigkeit wiederholter Reartikulationen des Subjekts als kennzeichnend
für Geschlecht verstehbar wurde.
Eine entsprechend weiterentwickelte performative Sozialisationstheorie
stellt Unterschiede nicht einfach reproduzierend fest, sondern lässt sie in deren
Machtförmigkeit wie Kontingenz und Beweglichkeit nachvollziehbar werden.
Strukturierende Machtverhältnisse werden weder verleugnet noch hypostasiert, dafür aber subversive Möglichkeitsräume des Sozialisationsprozesses
mit in den Blick genommen und non-konforme Uneindeutigkeiten, Brüche und
Verschiebungen in den Praxen oder – wie im nächsten Kapitel aufgegriffen –
in erzählten Lebensgeschichten beschreib- und erklärbar gemacht.
3 Dynamisch und dezentriert –
lebensgeschichtliche Dimensionen
und die Wechselseitigkeit von Differenzkategorien
Lebensgeschichten gelten als Orte biografisch erfahrener oder sich im Erzählen vollziehender Lern- und Veränderungsprozesse. So verstanden ermöglichen sie es nachzuvollziehen, wie vielfältig wiederholte Praxen und Diskurse
sich im Laufe der Zeit zu dauerhafteren Strukturen des Seins und zu Selbsttheorien verfestigen sowie aktuelle Selbstpräsentationen orchestrieren; wie
folglich auch heteronormative Zweigeschlechtlichkeit konserviert oder beispielsweise im Falle spezifischer Lebenserfahrungen transformiert wird. Im
Folgenden soll anhand einer empirischen Studie erörtert werden, mit welchem
Erkenntnisgewinn die für die Sozialisationsforschung wesentlichen Dimensionen der Lebenszeit und -geschichte mit Butlers diskurstheoretischer Fassung
von Geschlecht zusammengeführt werden können. Einem entsprechenden Zugang folgt Marc Thielen (2009) in seiner Studie über in Deutschland lebende
iranische Männer, die aufgrund ihrer ‚sexuellen Orientierung‘ ihr Herkunfts-
65
Jutta Hartmann
land verließen. Die Studie macht nachvollziehbar, wie transkulturelle Erfahrungen zu biografisch veränderten Konstruktionen von Männlichkeit und Sexualität im Migrationskontext führen.
Butlers Theorie der diskursiven Konstruktion von Identitäten mit narrativem Interviewmaterial zusammenführend kann Thielen herausarbeiten, wie
sich die Akteure „in ihren biografischen Erzählungen immer wieder auf fertige
Muster, auf Identitätshülsen, die ihnen in den unterschiedlichen Kontexten der
Herkunfts- und Zielgesellschaften offeriert werden“, beziehen und wie sie
diese identifizierend aneignen, aber auch modifizierend verschieben. Als zentral für das eigene sexuelle Selbstverständnis erweisen sich die unterschiedlichen Diskurse zu gleichgeschlechtlichem Begehren, mit denen die Interviewten in bedeutenden Phasen ihres Lebens in Kontakt kommen. Vor dem Hintergrund familiärer Sozialisationserfahrungen in Kindheit und Jugend, die ausschließlich durch heterosexuelle Normalitätsvorstellungen charakterisiert waren, ist für die Interviewten ein lebensgeschichtlicher Rahmen gegeben, der
ihre weitere biografische Arbeit strukturiert. Thielen arbeitet heraus, wie bei
einigen der Interviewten ihre im Erwachsenenalter im Iran gelebte Sexualität
zwischen Männern zunächst nicht mit einer identitären Subjektverortung oder
Lebensweise einhergeht und erst durch die Konfrontation mit verschiedenen
Sexualitätsdiskursen und durch die Aneignung vorgefundener Identitätskonzepte in der Migration ein verändertes sexuelles Selbstverständnis sowie eine
Lebensweise mit gleichgeschlechtlichen Liebesbeziehungen auftritt (ebd.:
170).
Gleichzeitig erleben die Akteure diese neue Selbstverortung subjektiv ganz
unterschiedlich. Die Evaluation reicht von der Verstärkung erlebter Traumatisierungen durch den homogenisierenden Sexualitätsdiskurs der Einwanderungsbehörde über innere Konflikte angesichts eigener verfestigter heteronormativer Normalitätsvorstellungen bis hin zu einer – als über Bildungsprozesse
mittels Literatur, Filme und Kontakte zur schwulen Subkultur ermöglicht beschriebenen und positiv bewerteten – Identifikation als ‚schwul‘ mit einer späteren – vermutlich über die Teilhabe an entsprechenden Debatten orchestrierten – Distanzierung von zunehmend als einschränkend erlebten Identitätsmodellen hin zu einem offenen geschlechtlich-sexuellen Selbstverständnis. Thielen verdeutlicht, dass die vielfältigen Lebensweisen, über die sich die interviewten Männer begreifen, kaum in den dominanten Sexualitätsdiskursen –
weder des Herkunfts- noch des Ziellandes – aufgehen. Insbesondere am Beispiel der als „Geschichte reflexiver Identitätsentgrenzung“ (ebd.: 155ff.)
porträtierten Biografie zeigt sich, wie innerhalb einer Lebensgeschichte verschiedene sexuelle Selbstverortungen eingenommen werden können und wie
wenig sich Begehren „als eine stabile Größe begreifen“ lässt, „die zu einem
bestimmten biografischen Moment feststeht“ (ebd.: 219).
66
Transformatorische Denkbewegungen
Sind Diskurse über Subjekte „für die gelebte und aktuelle Erfahrung eines
solchen Subjekts konstitutiv“ (Butler 1993: 132; Hervorh. i. Orig.) und entstehen spezifische Selbstverständnisse, Handlungsstrategien und Lebensweisen
im untrennbaren Zusammenspiel von Erfahrungen und Diskursteilhaben, dann
hat sich biografieorientierte Sozialisationsforschung für die durch die Lebensgeschichten fließenden Diskurse zu interessieren, die die Interviewten aufgreifen und weitertragen und dabei gegebenenfalls auch verändern. Ein solches
Subjektverständnis ist anschlussfähig an ein Verständnis von Biografie, das
diese als einen „Ort oder ein generatives Prinzip der Hervorbringung sozialen
Handelns und gesellschaftlicher (Differenz-)Verhältnisse“ (Dausien 2006: 30)
begreift. Generiert werden in den Prozessen des Erzählens jedoch auch die
Subjekte selbst, denn – so Nadine Rose (2012) – die Geschichten, mit denen
die biografische Forschung arbeitet, erzählen weniger „über das Werden des
Subjekts“, sondern vielmehr lässt „das Erzählen dieser Geschichte […] das
Subjekt erst werden, was es bereits meint zu sein“ (ebd.: 112; Hervor. i. Orig.).
Dabei regen Butlers diskurs- und differenztheoretische Perspektiven die biografiebezogene Sozialisationsforschung an, das Interesse von der bisherigen
Konzentration auf Verstetigung und Verfestigung nicht nur auf das mit der
Verzeitlichung gegebene Potential der Verschiebung und Veränderung des Geschlechtlichwerdens zu lenken, sondern sich auch „stärker dem Uneindeutigen,
dem Dazwischen und dem Widerstreitigen“ (Thielen 2009: 264) zuzuwenden.
Dieses gilt es diskurstheoretisch betrachtet nun wiederum nicht als radikalen
Bruch oder als jenseits bestehender Machtbedingungen lokalisiert zu verstehen, sondern als Dynamisierung in einem den Sozialisationsprozess kennzeichnenden und im Horizont heteronormativer Diskurse liegenden kontingenten Spielraum – als eine Dynamisierung, die mit Butler gesprochen als eine Art
„Improvisation im Rahmen des Zwangs“ (Butler 2009: 9) zu erkunden wäre.4
Darüber hinaus lässt eine differenztheoretische Sensibilisierung gegenüber
der Inkohärenz von Hetero- wie Homosexualität die in den Erzählungen auftretenden Widersprüchlichkeiten und Vielschichtigkeiten in ihrem ebenso unberechenbaren wie hervorbringenden Charakter begreifen. Entsprechend kann
4
Im Unterschied zu den bildungstheoretischen Anknüpfungen an Butlers Theorieprogramm
von Nadine Rose und Hans-Christoph Koller (2013) würde ich diese Improvisationen nicht
ohne weitere Differenzierung als Bildungsbewegungen kennzeichnen und weiter prüfen wollen, welche Art von Verschiebung oder Transformation entsprechend welcher Kriterien als
Sozialisation und welche als Bildung qualifiziert werden kann bzw. sollte. Butler (1995: 15)
selbst nimmt keinen Bezug auf den Bildungsbegriff, setzt jedoch bspw. den Begriff der Handlungsfähigkeit nicht für jedwede Verschiebung ein, sondern explizit für eine „kritische Umarbeitung der offensichtlich konstitutiven Geschlechtsnormen“ im Prozess der Wiederholung. Damit bindet sie Subversion an ein reflektiertes Wiederholen, gleichwohl sich auch
diese Reartikulation weder als voluntaristisch noch als völlig kontrollierbar erweise. Wünschenswert erscheint mir eine weitere Auslotung der theoretischen Überschneidungen von
bzw. Grenzlinien zwischen sozialisations- und bildungstheoretischen Fragen, die einer dualistischen Sicht auf Macht/Reproduktion und Befreiung/Transformation widersteht.
67
Jutta Hartmann
Thielen den dynamischen Charakter von geschlechtlich-sexuellen Lebensweisen in der Migration und deren Dispersion an den Kreuzungen verschiedener
Differenzen rekonstruieren, ohne identitätslogische Kurzschlüsse zu produzieren. Zugleich verdeutlicht die Studie, wie vermessen es wäre, mit westeuropäischen Zielgesellschaften der Migration verbundene Sexualitätsdiskurse als
per se emanzipativ zu begreifen. Thielen arbeitet heraus, wie sich Heteronormativität hier auch in Verknüpfung mit Rassismus konstituiert und das angebotene Identitätskonzept einer schwulen Identität auch als sexuelle Reglementierung begriffen werden kann (ebd.: 166). So weist die Studie nicht nur Homogenitätsmythen über die vermeintlich patriarchal-konservative Sexualität
von Migranten zurück, sie legt auch wiederholt den Abschied von der Idee
nahe, es gäbe so etwas wie „universell gültige, eindeutig katalogisierbare sexuelle Orientierungen“ (Castro Varela/Dhawan 2009: 106).
Marc Thielens Studie macht nachvollziehbar, wie sich in der wechselseitigen Bedingtheit verschiedener Differenzkategorien uneinheitliche, zum Teil
widersprüchliche Diskurse und kulturelle Codes vermischen. Entsprechende
konzeptionelle Verschiebungen vermögen Sozialisation als einen vielschichtigen Prozess auszuweisen, der nicht nur nicht für alle gleich verläuft, sondern
vielmehr vielfach nach situativen, sozialen, (sub)kulturellen, institutionellen,
biografischen, geografischen, politischen und historischen Kontexten und damit zusammenhängenden Ordnungsverhältnissen zu differenzieren ist und das
Nachdenken über ‚Geschlechtlichwerden und -sein‘ entsprechend weiter qualifiziert. Zusätzlich finden sich in Thielens Studie Hinweise auf die Bedeutung,
die Bildungsangeboten im Prozess der Sozialisation zukommen kann. Diesem
Aspekt soll im Folgenden weiter nachgegangen werden.
4 Gender-non-konforme Positionierungen –
pädagogische Herausforderungen auf dem Weg zu einer
neuen Geschlechterkomplexität
Interessiert sich Sozialisationsforschung, einem politischen Impetus folgend,
auch für Fragen nach den Möglichkeiten von Emanzipation, der Lebbarkeit
alternativer Geschlechtsordnungen und dem produktiven Beitrag, den (pädagogische) Bildung hierzu leistet, dann hat sich erziehungswissenschaftliche
Forschung reflexiv auch eigenen Ansatzpunkten und Herausforderungen zuzuwenden: Welchen Subjekten gilt die pädagogische Aufmerksamkeit, welche
Ausschlüsse werden dabei – oft entgegen besserer Absicht – produziert und
welche diskursiven Angebote halten mit welcher – z.T. unintendierten – Wirkung Einzug in pädagogische Prozesse bzw. sollten dies begründet tun?
68
Transformatorische Denkbewegungen
Barbara Schütze (2010: 71f.) problematisiert mit Blick auf erziehungswissenschaftliche Studien, dass diese eher auf alltägliche Grenzverwischungen
denn auf das Selbstverständnis und die Alltagspraxen der Menschen blicken,
die sich deutlicher an der Grenze heterosexueller Zweigeschlechtlichkeit verorten. Dem begegnen Studien wie die von Bettina Kleiner (2015a), die gendernon-konforme Jugendliche, die sich als lesbisch, schwul, bisexuell oder transidentisch verstehen, zu ihren Erfahrungen in der Schule befragt und dabei auf
ein Feld fokussiert, das Butler folgend (2014: 183f.) in besonderer Weise durch
eine Empfänglichkeit für wie eine Verletzlichkeit durch Normen entlang verschiedener Differenzordnungen gekennzeichnet ist. Diese gehen nicht nur mit
Platz zuweisenden, sondern auch mit privilegierenden oder benachteiligenden
Anrufungen und Zuschreibungen einher, mit denen die Einzelnen einen Umgang finden müssen, wobei sie im Bestreben, anerkannt zu sein, „bestimmte
Wünsche und Sehnsüchte verleugne[n] oder zerstör[en]“ (ebd.: 185). So berichtet beispielsweise Jannes (vgl. Kleiner 2015b: 265ff.) über wiederholte
homophobe Beschämungen in einer Zeit, in der er*sie sich selbst noch nicht
mit Fragen geschlechtlicher oder sexueller Identität beschäftigt habe. Unter
den Verletzungen leidend und von der anwesenden Lehrperson ermutigt, positioniert sich Jannes im Zuge eines Klassenvortrags zum Thema Mobbing spontan als homosexuell. Die spezifische Situation ermöglicht es ihm*ihr, hierüber
eine machtvollere Position einzunehmen und das eigene Befinden in der
Schule deutlich zu verbessern. Im emanzipativ-selbstbewusst erscheinenden
‚Ja, ich bin schwul‘ unterwirft Jannes sich jedoch insofern der dominanten
Ordnung, als er*sie in einer biografischen Zeit der geschlechtlichen und sexuellen Suchbewegung dem Zwang vereindeutigender Identifizierung folgt. Sich
mit der Selbstpositionierung als schwul implizit männlich verortend, übergeht
Jannes ein vage wahrgenommenes körperliches Unbehagen, eine mögliche geschlechtliche Ambivalenz und verschließt sich mit dem ‚Outing‘ zunächst weiteren Optionen des Identifizierens und Begehrens. Seine Handlungsfähigkeit
erweist sich so als durch eine widersprüchliche Gleichzeitigkeit gekennzeichnet, ermächtigend positioniert und normalisierend unterwirft er sich gegenüber
der vorgefundenen Ordnung.
Sensibilisiert durch Butlers Subjekttheorie „einer machtkritischen und performativen Lesart von Differenz“ (ebd.: 262) kann Kleiner nicht nur die weiterhin bestehende geschlechtsbezogen zurichtende Wirkmächtigkeit beschämender Praktiken in der Schule sowie Möglichkeiten eines selbstbewussten
Entgegentretens herausarbeiten. Vielmehr gelingt es ihr wiederum selbst vereinfachenden Emanzipationsmodellen gegenüber sensibilisierend aufzuzeigen, wie im Rückgriff auf diese erneut bestehende Differenzordnungen aufgerufen und nur bedingt verändert reinstalliert werden. Demgegenüber kann
Kleiner die fragwürdigen Effekte identitätsorientierter Ansätze aufzeigen und
69
Jutta Hartmann
überzeugend für ein Thematisieren von Differenzordnungen mit deren Herstellungspraxen sowie für das Erörtern von möglichen Irritationen und Unklarheiten in einer heteronormativitätskritischen Pädagogik eintreten.
Ebenfalls auf Butlers ethisch-normativen Impetus einer Öffnung geschlechtlicher Möglichkeiten Bezug nehmend untersucht Uta Schirmer (2010)
Erfahrungen mit gender-non-konformen Positionierungen, die nicht im Rahmen formaler Bildung, sondern in einem informellen Setting situiert sind. Die
Forscherin interessiert sich für die transformierende Wirkung heteronormative
Geschlechtlichkeit bewusst übertretender Praxen auf das geschlechtliche
Selbstverhältnis der von ihr interviewten Personen, die sich innerhalb des subkulturellen Raums der deutschsprachigen Drag King-Szene bewegen. So beispielsweise Filip, der sich mit der Einnahme von Testosteron körperlich wohler fühlt und als Mann gesehen werden möchte (ebd.: 408). Während er sich
als Transmann versteht, lehnt er es jedoch als Zumutung ab, sich zugleich auch
als Mann empfinden zu sollen. Davon ausgehend, ein ‚weibliches Wesen‘ zu
besitzen, will er dieses leben. Indem sie verschiedene Weisen der Verkörperung und Identifizierung rekonstruiert, arbeitet Schirmer (2007: 46) heraus,
wie „die Frage nach einer die Person bestimmenden ‚inneren‘ geschlechtlichen
Wahrheit wirksam zurück“ gewiesen und den mit vorherrschenden Geschlechtszumutungen verbundenen Effekten wie Selbstzweifel, Scham oder
Pathologisierung entgegengetreten werden kann.
Anhand kollektiver Praxen zeichnet die Autorin Möglichkeiten nach, Geschlecht ‚anders‘ zu leben.5 Dabei, so wird deutlich, geht es vergleichbar dem
Gedanken der Performativität jedoch nicht darum, diese Potentiale einfach
freizulegen, vielmehr besteht die Herausforderung darin, diese produktiv zu
entwickeln. Die Forscherin betont in Anschluss an Butlers Buch Undoing Gender, wie diese „die Möglichkeit der Anfechtung hegemonialer Normen nicht
mehr vorwiegend aus deren ‚innerer‘ Instabilität heraus [bestimmt], sondern
[…] explizit auf die Notwendigkeit und auch Möglichkeit der Entwicklung alternativer Normen [verweist]“ (2010: 45). Entsprechend erkennt Schirmer in
der Destabilisierung hegemonialer Wissensweisen eine Bedingung der Möglichkeit, alternative geschlechtliche Existenzweisen ausdrücken und in einem
kollektiven Rahmen ausloten zu können. Sie leitet die Notwendigkeit von Räumen und Praxen ab, in denen „andere Formen von Beziehungen, andere Selbstverhältnisse und Lebensweisen gestaltet werden können, in denen Freiheit
konkretisiert und lebbar wird“ (ebd.: 407).
Die skizzierten Studien zu non-konformen Geschlechtlichkeiten sensibilisieren dafür, wie Sozialisation nicht nur mit Blick auf die Reproduktion der
sozialen Ordnung, sondern auch auf eine explizite Emanzipation von derselben
normativ fundiert bleibt. Sie unterstreichen den Stellenwert von alternativem
5
70
Gleichwohl bleiben die Alternativen auch hier prekär. Hegemoniale Geschlechterdiskurse
„ergreifen und positionieren“ die Interviewten weiterhin, sie strukturieren deren Selbstbezüge mit (ebd.: 48).
Transformatorische Denkbewegungen
Wissen wie (kollektiven) Reflexionsprozessen als notwendige Bedingung erweiterter geschlechtlicher Möglichkeiten, die zugleich sozial lebbar sind. Um
Geschlecht nicht länger auf Weiblichkeit und Männlichkeit zu reduzieren, regt
Butler „ein neues, legitimierendes Lexikon für die Geschlechterkomplexität“
an (2002: 6). Ein erster Schritt hierzu mag darin liegen, die Rede von Geschlechterdifferenzen zu erweitern. Sie markiert dann auch die Differenz zwischen normativen und non-konformen Geschlechterpositionen, wobei auch
diese Dualität in Frage steht. Einblicke in Bildungsinstitutionen zeigen, dass
sich die in diesem Kontext nahegelegten Selbstverständnisse im Vergleich zu
früheren Zeiten zwar als moderat vervielfältigt, jedoch zugleich nach wie vor
identitätslogisch begrenzt erweisen und einer dynamisierenden Revision bedürfen. Die Geschlechtsidentität als diskursiv gebunden zu verstehen justiert
Bildungsperspektiven neu: „Wenn ich immer von Normen konstituiert werde,
die nicht von mir stammen, dann muss ich verstehen können, wie diese Konstituierung erfolgt“ (Butler 2009: 31). Zu einer zentralen Bildungsaufgabe
avanciert es, sich für Identifizierungsprozesse zu interessieren und zu erkennen, inwiefern die spezifische Existenz des Subjekts an den Verlust anderer
möglicher Existenzweisen geknüpft ist.
Studien zu non-konformen Geschlechtlichkeiten einfach als Beiträge zu einer ‚anderen‘ oder ‚besonderen‘ lesbischen, schwulen oder trans*-Sozialisation zu begreifen, träfe den Kern der mit poststrukturalistischen Theorien ermöglichten Verschiebung nicht. Auch wenn es zu einer bestimmten Zeit in einem bestimmten Kulturkreis so etwas wie vergleichbare Erfahrungen und entwickelte Charakteristika geben mag, würde eine entsprechende Interpretation
die Annahme vorgängiger Identitäten aufrufen. Damit würde sie es verpassen,
nicht nur die konstitutive Bedingtheit der jeweiligen Subjekte, sondern auch
deren über die Studien zu Performativität nachgewiesene Möglichkeit zu fassen, sich dynamisch in Rissen der vorherrschenden Ordnung zu bewegen. Zugleich würde der anhand biografischer Studien hervorgehobene Aspekt eines
zwar kontinuierlichen, zugleich jedoch in unterschiedlichen Situationen, Kontexten und Zeiten verlaufenden und dabei potentiell mit ganz verschiedenen
Diskursteilhaben und Selbstverständnissen verbundenen Prozesses nicht berücksichtigt werden. Nicht zuletzt bliebe die durch die zuletzt genannten Studien in Erinnerung gerufene Erkenntnis unbedacht, dass die Norm selbst in
verschiedenen Versionen auftritt und in stets widersprüchlichen Auseinandersetzungsprozessen kein eindeutiges oder gar stabiles Sozialisationsergebnis
hervorzubringen vermag (vgl. Butler 2014: 179). Und: Wenn die Norm den
Bereich des Sozialen umreißt, dann bleibt ein mögliches Außerhalb von ihr
immer in Bezug zu dieser Norm definiert. Dadurch sind die „Spielarten von
Gender, die nicht in das binäre Muster passen, […] ebenso Teil von Gender
wie jedes seiner zutiefst normativen Beispiele“ (Butler 2009: 74).
71
Jutta Hartmann
5 Transformatorische Denkbewegungen –
dynamisierte Sozialisationstheorie
Sozialisationsforschung versucht nicht nur Reproduktions- und Wandlungsprozesse in der Relation von Individuum und Gesellschaft zu erfassen, sie
durchläuft vielmehr selbst Transformationen der Diskursivierung: Während
zunächst mittels Rollentheorie deutlich politisch ausgerichtet gegen biologistische Begründungen Position bezogen, Macht- und Gewaltverhältnisse thematisiert und die Gesellschaftlichkeit der Geschlechterkategorie herausgestellt
wurden, erschien mit eng konstruktivistisch ausgerichteten mikrosoziologischen Studien des doing gender das Potential zur Kritik sowohl den Verhältnissen wie dem eigenen Verhalten gegenüber stark eingeschränkt. Demgegenüber trat im Paradigma geschlechtsspezifischer Sozialisation das konstruktivistisch zu Recht in Erinnerung gerufene aktive Gestaltungspotential der Individuen in den Hintergrund und vermochte die Relationalität von Geschlecht
kaum zu erfassen.
In diesem Aufsatz wurde die These vertreten, dass poststrukturalistische
Perspektiven, wie sie am Beispiel der Theorien Judith Butlers vorgestellt wurden, weniger antagonistisch zum sozialisationstheoretischen Paradigma stehen
als häufig angenommen, und dass sich, ohne die verschiedenen Paradigmen
gleichzusetzen, zentrale Berührungspunkte aufzeigen lassen. Die Diskussion
ausgewählter Studien in Anschluss an Butler belegt, wie diese in der Lage sind,
über diskurs- wie praxistheoretische Überlegungen wiederholt bemängelten
struktur- wie subjekttheoretischen Verengungen der deutschsprachigen Debatte um Sozialisation und Geschlecht konstruktiv zu begegnen. Eine in Anschluss an Butlers Theorien transformierte Sozialisationstheorie kann Kritiklinien und Verschiebungen der Sozialisationsdebatte integrieren: Mit einer
deutlichen Betonung der gesellschaftlich-kulturellen Dimension der Subjektbildung erscheint das in seiner Psyche wie in seinem Körper entessentialisierte
Subjekt mit Blick auf seine Handlungsfähigkeit gleichwohl nicht überdeterminiert. Am kontinuierlichen Tun der Subjekte festhaltend erlaubt das Konzept
der Performativität die Dominanz der Strukturen und damit auch Aspekte wie
Gewalt und Verletzlichkeit als wichtige Sozialisationsfaktoren in der Debatte
zu halten. Die performative Verschiebung öffnet den Weg, Fragen nach dem
Wie und dem Warum sichtbar gewordener Differenzen zu erhellen, d.h. die
Frage, in welcher Weise sich die jeweilige Differenz konstituiert und existiert,
mit der machttheoretischen Frage, welche Rolle Sprache, Wissen und Normen
dabei spielen, zu verbinden. Das in den Praxen liegende Aufrufen wie Untergraben normativer Vorlagen, die Gleichzeitigkeit im Hervorbringen und Verwerfen spezifischer Subjektpositionen, die wechselseitige Wirkkraft verschiedener Differenzkategorien wie die Berücksichtigung damit zusammenhängen-
72
Transformatorische Denkbewegungen
der Diskriminierungserfahrungen markieren Facetten einer poststrukturalistisch reformulierten Sozialisationstheorie, die geeignet dafür erscheint, sich
der Komplexität des Geschlechtlichwerdens und -seins anzunähern. Sichtbar
werden Spielräume und Geschlechterordnungen, die mit den bisherigen Theorieperspektiven nicht in den Blick gekommen sind.
Widersprüche verbleiben in den vorherrschend verwendeten Begrifflichkeiten. Im Unterschied zu bisherigen sozialisationstheoretischen Ansätzen, die
in der Untersuchung des Wechselverhältnisses von Individuum und Gesellschaft diese im Grunde dennoch zunächst getrennt entwerfen, stehen sich Subjekt und Diskurs in poststrukturalistischen Zugängen nicht als zwei separat
denkbare Dimensionen gegenüber, die einander lediglich beeinflussen. Das
Subjekt ist hier stets diskursiv und der Diskurs subjektiv hervorgebracht und
Geschlecht als ein Mechanismus der Konstitution von mit Diskursen gleichursprünglichen Subjekten entworfen. Ein entscheidender Unterschied zwischen dem Konzept der Performativität und üblichen Sozialisationstheorien
liegt somit in der Theoretisierung des Spannungsverhältnisses von Autonomie
und Heteronomie. Gilt Subjektivität als entscheidender Ansatzpunkt von
Macht und Subjektivierung als zentraler Ort gesellschaftlich-kultureller Aushandlung, dann ist das Individuum nicht in die gesellschaftlich-kulturelle Ordnung heterosexueller Zweigeschlechtlichkeit integriert, sondern mittels dieser
Struktur als Subjekt konstituiert. Dessen Handlungsfähigkeit kann nicht souverän, sondern nur im Horizont gesellschaftlich-kultureller Diskurse und Praxen entwickelt werden.
Auch wenn hier keine terminologische Übereinstimmung zur bisherigen
Sozialisationsdebatte besteht, ist der Gedanke einer Emanzipation nicht völlig
verworfen. Denn Ansatzpunkt einer Bewegung zu mehr Freiheit ist mit
Foucault (1977) das gesellschaftliche Individuum, das sich als widersprüchliches Subjekt seiner Vielfältigkeit gewahr wird und sich zu seinen Weisen der
Unterwerfung reflektierend verhält. Foucaults Überlegungen zum Ethos des
Subjekts legen das Moment der bewussten Transformation – der Suche nach
anderen Möglichkeiten zu denken, zu tun und zu sein – als eine Form von Kritik und Befreiung nahe. Wenn Bildung die Handlungsmacht des Subjekts befördert, mag ihr das Potential zukommen, solch befreiende Impulse anzubieten, ohne einem umfassenden Befreiungsversprechen zu folgen. Butler schließt
die Möglichkeit einer Wiederaneignung von als problematisch erkannten Begriffen der Moderne nicht aus und dekontextualisiert auch den Begriff der Freiheit, statt ihn zu verwerfen: „[…] jede Handlungsfähigkeit, auch die der Freiheit, steht in Bezug zu einem ermöglichenden und begrenzenden Feld von
Zwängen“ (Butler 1995: 28). Entgegen einer Befreiung als radikalem Dagegen
wären Kritik und Emanzipation so gesehen an eine reflexive Schleife auf das
eigene Verhaftetsein gebunden. Eine transformierte Sozialisationsforschung
mag Bildung neue Anregungen hierfür bieten.
73
Jutta Hartmann
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76
Zugewinne und Fallen –
aktuelle Veränderungen in Geschlechtervorstellungen
und ihre Probleme
Barbara Rendtorff
Der Titel „Geschlecht – Sozialisation – Transformation“, den sich das vorliegende Jahrbuch gegeben hat, unterstellt zweierlei: einen Zusammenhang der
gereihten Begriffe und dass dieser Zusammenhang unklar oder jedenfalls diskussionswürdig sei. Ob dabei die Bewegung von hinten nach vorne gedacht
wird – also: wie Transformation via Sozialisation das geschlechtliche Subjekt
erfasst – oder umgekehrt: wie das Geschlecht/Geschlechterverhältnis via Sozialisation die Transformation von Gesellschaft beeinflusst, sei zunächst dahingestellt. In jedem Fall gibt der Titel eine Koppelung vor, in der der Sozialisationsprozess als Motor, als ‚Transformator‘ oder als Mittler gefasst wird, der
das Verhältnis von geschlechtlichen Individuen und Gesellschaft modelliert
bzw. die Frage aufklären soll, wie die Struktur des Geschlechterverhältnisses
in der jeweiligen Gesellschaft beschaffen ist, tradiert wird und auf die Individuen einwirkt.
Meine Überlegungen zu diesem Themenfeld haben mich zu der These geführt, dass die derzeit beobachtbaren Tendenzen in der Rede über ‚Geschlecht‘, in den Zuschreibungen an Frauen/Mädchen und Männer/Jungen, in
Inszenierungen und Theoretisierungen von Männlichkeit und Weiblichkeit
zwar ein breites Feld von widersprüchlichen Positionen abbilden, dabei aber
dennoch in einigen Grundlinien übereinstimmen und diese dadurch gewissermaßen gemeinsam befestigen. Mir scheint sich dabei eine Art Bemühen zu
zeigen, Geschlecht, Geschlechterordnung und Geschlechterverhältnisse unterkomplex nicht als in sich widersprüchlich erscheinen zu lassen, sondern Modernisierungs- ebenso wie Retraditionalisierungsbemühungen vorrangig auf
der Ebene von Verteilungen und Verantwortlichkeiten abzuhandeln, wobei
quasi unbemerkt einige zentrale Zuschreibungen an Weiblichkeit unsichtbar
gemacht überdauern. Auch die aktuell auffällige, unter Stichworten wie
‚Pinkifizierung‘ debattierte Zunahme geschlechterbezogener Produkte, vom
Barbara Rendtorff
Kinderbad („Prinzessinnenbad“ und „Siegerbad“ von Bübchen) bis zum Knabberzeug (Pom-Bär „Only for Boys“ [Wild Paprika] und „Only for Girls“
[Sweet Paprika])1 muss als offensive Vereindeutigungsstrategie der Komplexitätsreduktion eingeschätzt werden – auch wenn zunächst unklar bleibt, ob es
sich um Re-Souveränisierungsbemühungen (Forster 2006) handelt oder ob hier
Gegenbewegungen gegen ein bereits eingetretenes Brüchigwerden der ‚heteronormativen Matrix‘ zum Ausdruck kommen. Fest steht jedenfalls, dass Kinder und Jugendliche heutzutage sehr viel ausdrücklicher von vereindeutigenden Geschlechterbildern bedrängt werden als in den vergangenen Jahrzehnten,
dieser Prozess und seine Folgen bislang aber noch kaum differenziert analysiert worden sind. Ohne sicher zu sein, dass meine These sich als weiterführend
erweisen wird, möchte ich sie hier zur Diskussion stellen und zunächst erläutern, was mich zu dieser Überlegung bewogen hat.
Mein erster Anlass beruht auf Erfahrungen im universitären Alltag.2 In vielen
Äußerungen und Hausarbeiten von Studierenden fällt mir auf, dass sie zwar
eine große ausdrückliche Bereitschaft zeigen, Mädchen und Frauen zuzugestehen, dass sie ‚dasselbe können‘ und ‚tun dürfen‘ wie Jungen und Männer, dass
dieses Zugeständnis jedoch die basalen stereotypen Zuschreibungen an männlich und weiblich offenbar nur sehr selektiv tangiert. Dies deckt sich mit Befunden und Überlegungen an anderer Stelle, die zeigen, dass die in der sozialpsychologischen Forschung seit langem als Geschlechtstypisierung beschreibendes Gegensatzpaar etablierte Gegenüberstellung von Wärme/Expressivität
und Kompetenz/Instrumentalität – kurz: von communion und agency – in Bewegung geraten ist. Dabei werden agency, Kompetenz und Leistungsfähigkeit
zunehmend auch Frauen zugeordnet, während die communion-Zuschreibung
jedoch exklusiv bei ihnen verbleibt (vgl. z.B. Eckes 2004; Ebert/Steffens 2012:
28; Metz-Göckel 2014; Lehner 2015).
Mit communion sind hier der grundsätzlich Frauen zugeschriebene Aspekt
des ‚Bezogenseins‘, eine „Fokussierung auf andere Menschen“ (Ebert/Steffens
2012: 28) sowie die aus dieser Vorstellung abgeleiteten Verpflichtungen gemeint. In dem seit dem 19. Jh. ausgestalteten Bild von bürgerlicher Mütterlichkeit, der liebenden Mutter im Kreise ihrer Kinder, ist diese Bezogenheit eng
verbunden mit Zuwendung/Zuneigung und mit Wärme (daher auch die prominente Verwendung der ‚Wärme-Dimension‘ in der sozialpsychologischen Stereotypenforschung), denn ‚Wärme‘ ist die konkrete erfahrungsbezogene Seite
der „ziemlich abstrakten Idee“ dessen, was metaphorisch „Zuneigung“ genannt
1
2
78
Vgl. als ersten Einblick http://www.buzzfeed.com/philippjahner/komplett-uberflussig-gegenderte-produkte.
Sie stammen aus Eingangsfragebögen in Seminaren und aus schriftlichen Arbeiten, die nicht
systematisch ausgewertet wurden, und geben insofern eine persönliche Erfahrung wieder. Ich
kann dabei übrigens keinen deutlichen Unterschied zwischen Studentinnen und Studenten
erkennen – in beiden Gruppen zeigen sich sehr traditionelle, aber auch differenzierte Positionen.
Zugewinne und Fallen – aktuelle Veränderungen in Geschlechtervorstellungen
wird (Lakoff/Wehling 2008: 21). Und eben diese ‚Wärme-Dimension‘, so zeigen auch Ebert/Steffens, ist als weibliches Stereotyp nach wie vor ungebrochen
(a.a.O.: 36). Dies begegnet mir beispielsweise in studentischen Arbeiten, wenn
Kinder von den Studierenden adressiert werden als bedürftiger Teil von Familien, als Angewiesene, denen Mitgefühl gebührt, wenn sie ‚in den Kindergarten gesteckt‘ werden, weil ‚ihre Mutter keine Zeit für sie hat‘. Es tauchen hier
relativ häufig Formulierungen auf, die an die ‚Schlüsselkinder‘-Debatte der
1970er Jahre erinnern – wobei deren These einer grundsätzlichen Gefährdung
und Benachteiligung von Kindern erwerbstätiger Mütter von der pädagogischen Forschung ja seit langem zurückgewiesen worden ist.
Nach meinem Eindruck gehen viele Studierende also davon aus, dass heutzutage jede/r, insbesondere junge Erwachsene wie sie selbst, frei entscheiden
könne(n), welchen geschlechterbezogenen Lebensentwurf oder sexuelle Orientierung er oder sie leben will, doch wenn es ‚grundsätzlich‘ wird, dann zeigt
sich, dass die Übernahme von Sorge für Kinder, soziale Belange (Kindergarten, Schule, Nachbarschaft) und Wohnlichkeit des Hauses als erwartbare Orientierung den Frauen weitgehend ungebrochen, aber stillschweigend zugeordnet ist. Dass dies ‚stillschweigend‘ geschieht, hat zur Folge, dass diese Zuordnung dem Diskurs entzogen wird und gewissermaßen absinkt auf eine Ebene
fundierender Selbstverständlichkeit.
Die großzügig gewährten Zugeständnisse an weibliche Zugewinne sind zudem oftmals eingebettet in eine sehr enge Vorstellung von ‚fortschrittlicher
Entwicklung‘, in der diese Zugewinne als selbsttätig geschehene und fortschreitende Modernisierungserfolge erscheinen (‚heutzutage‘ haben sich die
Vorstellungen ‚gewandelt‘) oder aber als Ergebnis feministischer Aktivitäten
(‚die Frauen haben [nur] die Mädchen gefördert und es dabei zum Nachteil der
Jungen übertrieben‘). Wie bei einer Waage scheint der ‚Gewinn‘ auf der einen
Seite selbsttätig einen ‚Verlust‘ auf der anderen zu evozieren. So fehlt in kaum
einer studentischen Arbeit der Hinweis darauf, dass heutzutage die Jungen die
Bildungsverlierer seien und das Übermaß an Frauen in pädagogischen Berufen
dafür verantwortlich sei – diese Einschätzung wird den Studierenden ja in der
Presse und teilweise sogar in pädagogischen Schriften nahegelegt. Dabei verstellt die Interpretation dieser Veränderungen als ‚Gewinn‘ und ‚Verlust‘ an
Leistungsfähigkeit und -output den Blick auf den eigentlich wichtigen Punkt.
Denn die Mischung aus Zugewinn an Kompetenz und gleichzeitiger exklusiver
Zuordnung zum ‚Bezogensein‘ hat ja für Mädchen/Frauen als Kehrseite zur
Folge, dass sich für Jungen und männliche Jugendliche keine Verbreiterung
ihrer Männlichkeitsvorstellungen ergibt – im Gegenteil: Auf der einen Ebene
(agency und Kompetenz) machen die Mädchen ihnen Konkurrenz oder überholen sie gar, aber zu der anderen Ebene (communion) erhalten sie keinen Zugang. Im Übrigen ist aus vielen empirischen psychologischen Studien bekannt,
79
Barbara Rendtorff
dass Eltern und insbesondere Väter die „Gendergrenzen“ für Jungen enger auslegen, stärker kontrollieren und verhandeln als bei Mädchen (vgl. Fine 2012:
322 und passim).
Dies alles ist selbstverständlich ein Effekt der Persistenz von Geschlechterauffassungen und -positionierungen, deren strukturelle Wirksamkeit im gesamtgesellschaftlichen Diskurs und deren mögliche Veränderung aber derzeit
allenfalls in Bezug auf Männlichkeit diskutiert werden (vgl. Bereswill et al.
2007; Baader et al. 2012; vgl. aber auch Fleig 2014).
Die Folgen sind ambivalent: Erstens bleiben agency und communion,
‚weiblich‘ und ‚männlich‘ konnotierte Zuschreibungen weiterhin gespalten
und voneinander getrennt. Zweitens bleiben Jungen und männliche Jugendliche gewissermaßen ‚stecken‘ in der Zuordnung zu instrumentellen Aktivitäten
und traditionell ‚männlichen‘ Skills (Überlegenheit, Rivalität usw.; vgl. z.B.
Cornwell et al. 2011), zugleich aber werden aufgrund der weiterhin andauernden Gewohnheit der Höherbewertung als männlich eingestufter Tätigkeitsfelder die den Frauen zugeordneten Arbeiten gewissermaßen ‚automatisch‘ mit
entwertet. Die Doppelzuordnung von agency als Gewinn der Frauen und communion als ihre überdauernde Verpflichtung und spezifisch bleibende Kompetenz erweist sich so gesehen nicht einfach als Zugewinn, sondern zugleich auch
als eine Falle, und sie ist vor allem auch deshalb riskant, weil sie ein Einfallstor
für romantisierende modernitätskritische und wertkonservative Kritik an der
„Emanzipation als Irrtum“ (Kahlert 2007: 196) anbietet.
Hier ergibt sich nun, als zweiter Ausgangspunkt meiner Überlegungen, eine
Verbindung zu einer spezifischen Denk- und Argumentationsfigur auf einem
anderen Terrain, auf dem ebenfalls die Frage von ‚Zugewinn und Falle‘ diskutiert wird. In der etwa mit dem Ausdruck ‚Selbstsozialisation‘ nahegelegten
Vorstellung ‚wählt‘ das Kind aus dem zur Verfügung stehenden Angebot das
aus, was ‚zu ihm passt‘. Grundsätzlich ist die (auf Hurrelmanns Paradigma des
produktiv realitätsverarbeitenden Subjekts zurückgehende) Vorstellung einer
aktiven Beteiligung des Subjekts an seiner Persönlichkeitsentwicklung durch
seine individuelle Art und Weise der Verarbeitung von Erfahrungen und Umwelteinflüssen zwar durchaus inspirierend, aber es lässt sich hier ein zeittypischer, schwerwiegender Umschlag beobachten: von der Vorstellung eines MitBeteiligtseins des Individuums an seinen Lebensumständen und seinem Bildungsprozess zur selbsttätigen und selbstverantworteten Konstruktion seiner
selbst, seiner Lernprozesse und der Ausgestaltung seiner Geschlechtlichkeit
als frei gewähltem und selbst verantwortetem Prozess. Dem, was hier als Selbständigkeit ausgegeben wird, liegt also eine verkürzte und verfälschende Vorstellung von Autonomie bzw. Freiheit zugrunde, in der die sich aus Begrenzungen, Angewiesensein und Selbstverantwortung ergebenden Widersprüchlichkeiten gewissermaßen banalisiert werden. Mit der Beschreibung geschlechtstypischer Sozialisation als einer selbst induzierten ‚Herstellung‘ von
Geschlecht zu einem selbst arrangierten Tableau verschwinden die Dramen des
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Zugewinne und Fallen – aktuelle Veränderungen in Geschlechtervorstellungen
Sexuellen, die Verunsicherungen und Verlockungen, die die Geschlechtlichkeit spannungsvoll umgeben. Es verschwinden gesellschaftliche Machtverhältnisse ebenso wie die strukturelle Dimension der symbolischen Organisation von Zweigeschlechtlichkeit und der daraus resultierenden Bedeutungen.
Die geschlechterbezogenen gesellschaftlichen Ungleichheits-Strukturen erscheinen dann als eine Art Fehlentwicklung, die aber durch das ‚richtige‘ Handeln leicht beeinflussbar sei und verändert werden könne – so kann man dann
auf die Idee kommen, ein geschlechtergerechter Unterricht müsse „geschlechtsblind“ sein (Benke 2012: 219). Wer also in Geschlechterstrukturen
‚verhaftet bleibt‘, ist selber schuld.
In ihren Überlegungen zu den aktuellen „widersprüchliche[n] Zeiten des
Aufwachsens“, die geprägt sind von Beschleunigung, Flexibilisierung und
Selbstoptimierung, beobachten Vera King und Katarina Busch (2012) denn
auch, dass diese die „Flexibilisierung von Familie“ und zugleich „erhöhte Ansprüche an familiale Erziehungspraxis“ (ebd.: 9) zur Folge haben, und sie beobachten als eine Folge dieser paradoxen Anforderungen die Tendenz, Kinder
als „weniger bedürftig anzusehen und als autonom(er) zu konstruieren“, als sie
tatsächlich sind (ebd.: 17). Dies korrespondiert mit der Betonung von Eigenaktivität und Selbststeuerung von Lernprozessen, die Selbstkontrolle und
Selbstbestrafung bei Fehlverhalten einschließen – auch einen andauernden
„Zwang zur Selbstthematisierung“ (Rosa 2002: 279).
Da sie von einem kompetenzorientierten Fortschrittsdenken getragen sind,
bergen diese Strategien also ein in Bezug auf die Geschlechterthematik folgenreiches Risiko: Indem sie die Verantwortung für das Gelingen des Bildungsprozesses auf das einzelne Kind übertragen, wirkt sich hier die allgemein bekannte Tatsache aus, dass Mädchen ein schwächeres intellektuelles und leistungsbezogenes Selbstvertrauen aufweisen als Jungen. Auch wenn ihr allgemeines Zutrauen in ihre Fähigkeiten wächst, so gilt dies doch nicht für die
Schule, ungeachtet der besseren Schulnoten (vgl. z.B.: Sprietsma 2011; König
et al. 2011: 416ff.; Schauder 2012: 204). Dies ist ein Sachverhalt, der noch auf
Aufklärung wartet, der aber dazu beiträgt, dass Mädchen ihre Leistungen tendenziell unterschätzen, dass sie ihre Bildungsvorteile nicht in den Beruf mitnehmen, dass Ehrgeiz bei Mädchen eher an die Erfüllung von Vorgaben gebunden bleibt denn an kreativ-problemlösendes Vorgehen usw. (als Übersicht
siehe Herwartz-Emden et al. 2012). Auch hier scheint mir die These berechtigt,
dass der Verweis auf die Möglichkeiten von Selbststeuerung sowohl deren erzwungene Notwendigkeit überdeckt als auch mit dem Schein voller Wahlfreiheit die komplexen strukturellen Zwänge und Verstrickungen geschlechtlicher
und geschlechterbezogener Entwicklung dramatisch unterschätzt.
Um in der Komplexität der umgebenden Welt und ihren Möglichkeiten Unterschiedliches – folglich auch unterschiedlich Mögliches – überhaupt wahrzunehmen, als Vorbedingung dafür, es für sich selbst reklamieren zu können,
bedarf es einer spezifischen „Bereitschaft“, schreibt Ludwik Fleck in einem
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Barbara Rendtorff
seiner wissenstheoretischen Texte aus den dreißiger Jahren, einer Offenheit,
die als Fähigkeit und als Denkbegrenzung im Prozess der „gewöhnlichen Erziehung“ als ein spezifischer Denkstil hervorgebracht wird. Was LehrerInnen
oder Eltern als wesentlich erachten, teilt sich in diesem Prozess dem Heranwachsenden mit und beschränkt damit zugleich seine Wahrnehmung – und
Fleck konstatiert, dass „ein großer Teil der Bildung des Kindes“ gerade darauf
beruhe, „das sehen zu lernen, was die Älteren sehen“ (1983: 63f.), was einen
großen Verlust für das mögliche Wissen bedeuten könne. Die unbemerkte (und
vom Kind nicht reflektierbare) Einübung in das ‚Wissen der Älteren‘ wird
aber, davon ist auszugehen, in Aufgabenstellungen und pädagogischer Adressierung immer den Rückgriff auf Bekanntes, als ‚sicher‘ Geltendes nahelegen,
und es darf wohl vermutet werden, dass hier ein großes Risiko für Reifizierungen in Bezug auf Geschlechterkonnotationen angelegt ist. Jede Vereindeutigung bedeutet Beschränkungen ‚möglichen Wissens‘, so dass die vorne beschriebenen Beispiele in ihrer Wirkung eben nicht unterschätzt werden dürfen,
auch wenn sie auf den ersten Blick banal erscheinen mögen.
Dies führt zu meinem dritten Ausgangspunkt.
Ein in der (Schul-)Pädagogik und den Fachdidaktiken momentan sehr strapaziertes Thema ist die Frage nach den Gründen für die Technikferne von
Mädchen, die seit einigen Jahren durch den anhaltenden Mangel an qualifizierten Fachkräften ökonomisch drängend geworden ist (vgl. Benke 2012; Thaler/
Hofstätter 2012). Dies ist ein nicht unwesentlicher Aspekt, denn er verdeutlicht, dass nicht der Wunsch nach Öffnung und Abmilderung geschlechtstypischer (Selbst-)Zuschreibungen von Mädchen in Bezug auf Technik im Wege
pädagogischer Maßnahmen hinter dieser Debatte steht (außer für einige der
beteiligten Geschlechterforscherinnen), sondern das ‚Fit-Machen‘ der Mädchen für die verwaisten, weil von den Männern zugunsten attraktiverer Arbeitsfelder verlassenen Tätigkeitsbereiche. Als Königsweg gilt es allenthalben,
die ‚Passung‘ zwischen den offenbar un- oder doch schwer vermittelbaren Feldern ‚Weiblichkeit‘ und ‚technisch-naturwissenschaftliche Themen‘ zu erhöhen – etwa durch Aufgreifen vermeintlicher ‚Interessen‘ von Mädchen oder
die Veränderung ihrer individuellen Haltung und ‚Passung‘ zum fraglichen
Feld (etwa durch Girls’ Days). Insbesondere das Konstatieren von ‚Interessen‘
ist hier ein problematischer Punkt, denn auch dieser ist ein Einfallstor für unreflektiert bleibende essentialistische Vorstellungen, wenn nämlich geschlechtstypische Interessen diagnostiziert und dann in einem naturalisierenden Fehlschluss als ‚gegebene‘ beantwortet und bedient werden. Das klassische Beispiel dafür ist der vielfach propagierte Rat, das technische Prinzip der
Pumpe den Jungen am Beispiel der Ölpumpe zu erläutern und den Mädchen
mit der Herzpumpe (vgl. stellvertretend Hartinger 2008: 301), wobei die oben
diskutierte ‚Bezogenheit‘ und ‚Fokussierung auf andere Menschen‘ hier kollektiv den Mädchen als Etikett (und als Verpflichtung) angeheftet wird.
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Zugewinne und Fallen – aktuelle Veränderungen in Geschlechtervorstellungen
Als veränderungsbedürftig werden also die Mädchen selbst angesehen,
nicht die Fächer, Fachkulturen oder gar gesellschaftlich-kulturelle Strukturen.
Unübertreffbar auf den Punkt gebracht wird dies in einer Formulierung von
Ursula Kessels, die schreibt, ein „Ansatzpunkt zur Erhöhung der Passung“ sei
„das Selbst der Mädchen und Frauen“: „Hierbei ist weniger daran gedacht, direkt und unmittelbar ‚Mädchen zu verändern‘, damit sie in ihrer eigenen
Selbstwahrnehmung besser zu MINT-Fächern passen. Vielmehr soll es darum
gehen, solche Identitätsaspekte von Mädchen, die nicht zum Bereich passen,
situational zu de-aktivieren und damit nicht handlungsleitend werden zu lassen“ (Kessels 2012: 182). Hier wird ein in meinen Augen alarmierendes Menschenbild sichtbar, eine mechanistische, unhistorische, sozialisations-, kulturund gesellschaftsbezogene Aspekte leugnende Vorstellung von historischen
Formungsprozessen und der möglichen selektiven ‚Löschung‘ von einzelnen
ihrer Effekte. In dieser Perspektive mutiert Geschlecht – alle Erkenntnisse aus
soziologischer und erziehungswissenschaftlicher Geschlechterforschung der
letzten Jahrzehnte salopp überspringend – zu einem dem Subjekt eher äußerlichen Aspekt, einer Summe von Einzelfaktoren, leicht zugänglich und veränderlich durch gezielte Intervention. Mir scheint auch, dass hier eine bereits
überholte Vorstellung von ‚Sozialisation‘ (vgl. dazu Dausien 1999) durchscheint, mit der Vorstellung, dass Mädchen im Sozialisationsprozess ‚zu etwas
geformt‘ worden seien, ihnen etwas von außen aufgezwungen worden sei, was
sich deshalb eben auch wieder ‚entfernen‘ lässt. Damit wird aber – und das ist
hier der wichtigste Punkt – der individuelle Gestaltungsspielraum letztlich
doch einem vermeintlichen geschlechtsgruppenverursachten Kollektivinteresse untergeordnet – oder anders gesagt: Die Verantwortung für Veränderung
wird den Einzelnen aufgetragen, ohne die Bedingungen aufzuklären, die zur
Unterordnung unter das Geschlechtsgruppenkollektiv geführt haben. Und
diese – das weiß die Geschlechterforschung seit langem – liegen weder in der
einzelnen geschlechtlichen Person begründet noch in einem einfachen pädagogischen Formungsprozess.
Daniel Tröhler (2014) hat kürzlich mit Blick auf das Thema des DGfEKongresses „Traditionen und Zukünfte“ die unterschiedliche Entwicklung erziehungswissenschaftlicher Theorien und Positionen in Deutschland und den
USA mit der hier dominanten lutherischen ‚Innerlichkeit‘ und dem dort dominanten calvinistischen Fortschrittsoptimismus in Zusammenhang gebracht,
wobei letztere Theorielinie vor allem die Machbarkeit betont, die rationale und
quasimechanische Beeinflussbarkeit des Menschen. Diese Vorstellung von
Beeinflussbarkeit kann nur funktionieren, wenn das menschliche Handeln lediglich in einem schmalen, zuvor abgesteckten Terrain wirksam werden soll,
eben der steuerbaren Erhöhung oder Verstärkung eines selektierten Aspekts,
bei Kontrolle aller übrigen – wie in Skinners Diktum „If man is free, technology of behavior is impossible“ (zit. bei Tröhler 2014: 18). Das behavioristi-
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Barbara Rendtorff
sche Menschenbild, das auch die heutige empirische psychologische und erziehungswissenschaftliche Forschung beeinflusst hat, legt solche segmentierten mechanistischen Strategien der Förderung nahe, doch führen gerade diese
mit einiger Sicherheit dazu, dass die grundlegenden Vorstellungen des Denkens über weiblich und männlich im vorne angesprochenen Sinne unverändert
bleiben und die eigene Behauptung der Wählbarkeit zur Farce wird. So zeigt
denn auch die aktuelle internationale Studie zur Computerkompetenz von
Mädchen und Jungen ICILS (Bos et al. 2014), dass Mädchen sich für weniger
kompetent halten als Jungen (ebd.: 218), obgleich dies in keinem einzigen der
21 Teilnehmerländer faktisch der Fall war – im Gegenteil lagen ihre Kompetenzwerte auch in Deutschland signifikant über denen der Jungen (ebd.: 216).
Die Studie von Huguet/Régner (2009) zeigt ergänzend, dass die negative
Selbsteinschätzung von Mädchen in Bezug auf Geometrie auch bei selbst ausgewerteter guter Leistung und trotz „counter-stereotype beliefs“ nicht verschwindet und die faktische Leistung massiv beeinflusst – hier im Vergleich
zum sehr viel besseren Ergebnis derselben Aufgabe, wenn sie als „Zeichentest“
ausgegeben wurde (ebd.: 1026). Auch wenn die ‚mechanistischen‘ Veränderungspläne noch so logisch erscheinen – wenn sie nicht die Dynamik der Geschlechterordnung, ihre symbolische Dimension und die subtilen Mechanismen durchsichtig machen, die zu ihrem Überdauern beitragen, werden Strategien der Dethematisierung und ‚Löschungs‘-Versuche wirkungslos bleiben.
Der erste Hinweis, den wir für unsere Ausgangsfrage gewonnen haben, besteht
also in dem Widerspruch, dass zwar bildungs- und leistungsbezogene sowie
gesellschaftliche Zugewinne der Frauen verzeichnet und ihnen zugestanden
werden (auch wenn sie teilweise als Ausdehnung auf ehemals männliches Terrain identifiziert werden); dass zugleich aber die prominente zentrale Zuordnung von Frauen zu communion und sozialer Nähe in Verbindung mit letztlich
doch fehlender Passung zu Kompetenz überdauert. Dies hat zur Folge, dass
Veränderungsbewegungen von Männern in Richtung auf weiblich konnotierte
Bereiche nicht gleichfalls als deren Modernisierungsgewinne bewertet werden
können, so dass Frauen in einem doppelten Sinne in die ‚Falle‘ geraten – sofern
sie die überwiegende Verantwortung für und Zuordnung zu communion unerkannt behalten, dieser Bereich aber gleichzeitig als nicht erstrebenswert abgewertet bleibt, die Zuordnung zu sozialer Verantwortung also nicht zu Ansehen
und Anerkennung führt. Ein weiterer wichtiger Aspekt, der hier nicht weiter
verfolgt werden kann, liegt dann natürlich darin, dass der Bereich von communion und sozialer Sorge selbst somit der beschriebenen Tendenz zu Entwertung
ausgesetzt ist.
Was ehemals als pädagogisch-politisches Projekt der Verflüssigung von
‚Gendergrenzen‘ angetreten ist, erweist sich also als moderate Verschiebung
an der Oberfläche, die im Gewande von ‚Zugeständnissen‘ an Mädchen und
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Zugewinne und Fallen – aktuelle Veränderungen in Geschlechtervorstellungen
Frauen daherkommt – damit den ‚Zugewinn‘ betont um den Preis von Entwertung und Verschwindenlassen der als ‚traditionell‘ geltenden ehemals weiblichen Aufgabenbereiche. So wird die darunter liegende, unbeeindruckt bleibende Struktur geschlechtlicher Zuordnungen dem kritischen Blick entzogen
und die Komplexität der Geschlechterordnung und ihrer inhärenten Widersprüche wird in ein ‚mehr oder weniger‘ aufgelöst, weil die Oberflächenstruktur als die eigentlich wichtige Ebene ausgegeben und dem völlig unzureichenden Zugriff des einzelnen Kindes und seinen ‚Interessen‘ überantwortet wird.
Ich habe zweitens vorne argumentiert, dass die im pädagogischen Feld,
aber nicht nur dort auffallenden Vorstellungen von instrumenteller Planbarkeit
und Machbarkeit, die Übertragung der Verantwortung für das gelingende Leben einschließlich der Geschlechtlichkeit auf das einzelne Kind zwar allenthalben modern und zeitgemäß wirken, zugleich aber eine völlige Überforderung darstellen und deshalb gewissermaßen ‚hinterrücks‘ zum Überdauern
nicht reflektierter (und vom je einzelnen Kind auch nicht durchschaubarer) Geschlechterstereotype beitragen. Ist die Vorstellung der freien Gestaltung und
Wählbarkeit von Geschlechteraspekten bei der Ausgestaltung der eigenen Position schon an sich hoch problematisch, so ist es ganz gewiss die Idee, dass
Kinder ohne weitere Unterstützung als kognitiv-rationale Appelle in der Lage
sein sollten, andere Zuschreibungen vorzunehmen als die ihnen routinemäßig
angebotenen. Auch wenn das im Einzelfall unter glücklichen Umständen
durchaus gelingen mag, kann es doch nicht als Strategie überzeugen.3
Drittens hat sich schließlich gezeigt, wie im (schul-)pädagogischen Kontext beide vorher festgestellten Problematiken einander gegenseitig verstärken.
Dabei wurde deutlich, dass auf beiden Ebenen dieselbe Problemstruktur – besser: Problemvermeidungsstruktur – am Werke ist. Was hier sichtbar wird, ist
ein durchgängiges Bemühen, sich nicht mit der Komplexität geschlechterbezogener Sortierungs-, Ordnungs- und Bewertungsroutinen zu konfrontieren
(oder die Unfähigkeit dazu), sondern sie als Handlungsroutinen, als quantifizierbare, als mechanisch bearbeitbare oder auf individuellen (gewissermaßen
‚intrinsischen‘) Antrieb zurückführbare Phänomene zu behandeln.
Es entsteht allerdings der deutliche Eindruck, dass gerade die Verschiebung, die Übertragung der Verantwortung für das Gelingen des eigenen Lebens auf das einzelne Kind entscheidend dazu beiträgt, dass die (angeblich)
intendierten Prozesse der Milderung von Stereotypen, der Erweiterung des Repertoires für Selbstentwürfe von Kindern usw. scheitern, weil sie jenen aufgeladen wurden, die am wenigsten dafür gerüstet sind. Die Botschaft, dass es sich
bei der Entwicklung einer eigenen Geschlechtsposition um einen pragmatisch
zu bewältigenden, frei gestaltbaren Prozess handle, sowie die Aufforderung,
diesen Prozess breit und unvoreingenommen (unbeeinflusst durch stereotype
3
Neuerdings ist die Diagnose ‚leicht reizbar, wütend und/oder traurig‘ als Störungsbild in das
DSM V aufgenommen worden (Ärzteblatt 2010) – damit werden Symptome und Anzeichen
einer Überforderung zusätzlich pathologisiert.
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Barbara Rendtorff
Festlegungen) zu gestalten, ist verlogen und zynisch und verdeckt zudem, dass
auch die Erwachsenen selbst in dieser Hinsicht keineswegs souverän handeln
können.
Aus wissenschaftstheoretischen, erkenntniskritischen und aus sprachbezogenen Studien wissen wir auch, dass eine spezifisch fokussierte Aufmerksamkeit (etwa auf eine zu lösende Aufgabenstellung) immer mit einer „spezifische[n] Blindheit“ (Fleck 1983: 62) gegenüber den nicht fokussierten Aspekten einhergeht, dass das Entstehen der Fähigkeit, bestimmte Zusammenhänge
zu verstehen, vom „Schwinden der Fähigkeit begleitet wird, bestimmte andere
wahrzunehmen“ (ebd.). Das betrifft Erkenntnisprozesse, die aus Beobachtungen erwachsen, ebenso wie die Ebene der sprachlichen Vermittlung, denn
sprachliche Verständigungsprozesse unterliegen ebenfalls einer Struktur, die
selektiv vorgeht (durch Fokussierung oder Betonung einzelner Aspekte und
Weglassen anderer) und restriktiv wirkt: „Metaphors hide and highlight“
(Lakoff/Wehling 2008: 28). Die Mischung und Verbindung von Betonen und
Weglassen entscheidet darüber, auf welche Aspekte einer Sache wir uns konzentrieren und welche wir beiläufig behandeln – und diese dann unter Rückgriff auf Schon-Bekanntes und Gewusstes quasi unreflektiert mitführen. Wir
können mit einiger Sicherheit annehmen, dass hier deshalb auch das Risiko
angelegt ist, weiterhin beobachtete Geschlechterunterschiede dann als naturgegeben zu interpretieren.
Auch der Begriff ‚doing gender‘ hat im Übrigen einen Umschlag mitgemacht, zumindest aber eine Verkürzung erfahren und ist von einer ethnographischen Beobachtungskategorie, die beschreiben soll, wie sich die Subjekte
handelnd eine Position aneignen, welche Mittel und Strategien sie dabei verwenden, welches ihre Bezugskategorien sind, in welchen Arrangements sich
der Prozess organisiert usw., in die Vorstellung umgeschlagen, dass wir es
durch den Einsatz von Verstärkung und Unterlassen selbst in der Hand hätten,
was in Bezug auf Geschlechtlichkeit und geschlechtliche Positionierung im
gesellschaftlichen Feld aus uns wird. Dies steht auch in wohlmeinenden und
engagierten schulbezogenen Schriften für Lehrkräfte im Vordergrund. Doch
obgleich es selbstverständlich sinnvoll ist, bei Mädchen das Interesse an den
naturwissenschaftlichen Fächern und bei Jungen die Lesefreude zu fördern, ist
der oft erweckte Eindruck, damit sei das Problem dann schon an seiner Wurzel
gepackt, doch sehr irreführend. Der Prozess der ‚Einübung‘ von Geschlechtervorstellungen wird so auf die instrumentelle Aneignung von Kompetenzen und
Orientierungen verkürzt und verstärkt zudem noch die Gefahr des Umschlags
in geschlechterbetonende Strategien (wie im erwähnten Beispiel der Öl- und
Herzpumpe, oder wenn eine Schulministerin empfiehlt, man solle den Mädchen klar machen, dass Chemie etwas mit Kosmetik zu tun habe, dann würden
sie sich schon dafür interessieren; vgl. Rendtorff 2014: 116). Aus der Vorstellung, dass Subjekte ihre individuelle Auslegung einer ansonsten symbolisch
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Zugewinne und Fallen – aktuelle Veränderungen in Geschlechtervorstellungen
gegründeten Geschlechtsposition handelnd aneignen, wird nun die Idee selbsttätiger und spielerischer Produktion von Geschlecht – die Fähigkeit zu geschlechtsuntypischem Verhalten wäre also ein Effekt ihrer eigenen Wirkung.
Mittlerweile wird die Tatsache, dass auch die leibliche Dimension (offenbar
zur allgemeinen Erleichterung) damit aus der Debatte verschwindet, zunehmend kritisch gesehen und diese wird erneut zur Sprache gebracht (vgl. etwa
Barad 2012; Marzano 2013). Auch an dieser Stelle scheint mir also die These
gerechtfertigt, dass eine Komplexitätsreduktion in Bezug auf die strukturelle
Dimension von Geschlecht zu einer unterkomplexen Vorstellung von Ursachen und Veränderungsmöglichkeiten geschlechterbezogener Positionierungen führt oder führen kann und dadurch zu einer Verschiebung von Handlungsnotwendigkeiten auf eine Oberflächenebene beiträgt, so dass die Struktur, die
der Problematik zugrunde liegt, nicht in den Blick kommen kann und verkannt
wird (vgl. Rendtorff 2008).
Die Tendenzen zu einer instrumentellen und mechanistischen Betrachtung von
Zugewinnen in Bezug auf geschlechterbezogene Verhaltensrepertoires verweisen nicht zuletzt auf eine reduzierte Vorstellung davon, was produktiv ist für
menschliche Entwicklung und auch für die Entwicklung von geschlechterbezogener Selbstauffassung. Produktiv und initiierend für die Entwicklungen der
Einzelnen wie auch der Zivilisation insgesamt sind immer Reaktionen auf Irritation, Unverstandenes und Unbekanntes. Was das Denken anregt, ist immer
die Frage, die Herausforderung, die von dem Unverstandenen, Unzusammenpassenden, von Spannung und dem Widersprüchlichen ausgeht und Mühe zu
ihrer Überwindung erfordert, während „Rezeption“ ohne Widerstand und Konflikt eine „Aneignung“ im emphatischen Sinne und damit einen Beitrag zur
Autonomieentwicklung des Kindes nicht ermöglichen kann (Frijhoff 2010:
29). Spannung und Widersprüche liegen aber nicht (nur) im Außen, sie stoßen
dem Kind nicht (nur) zu, es stößt auch nicht darauf als eine zu bewältigende
Aufgabe, sondern sie sind selber zentraler Bestandteil menschlicher Existenz.
Das Sexuelle und das Geschlechtliche sind ein unbegreifliches und auch beunruhigendes Terrain, das Kinder und Jugendliche zutiefst verunsichert – dies ist
ein zentrales Moment der psychoanalytischen Vorstellung vom Menschen als
einer in sich spannungsvollen geschlechtlichen Existenz (vgl. List 2009: 84ff.).
Besonders deutlich wird das strukturierende Moment von Geschlecht in
Lacans Verwendung der ‚Barre‘, gewissermaßen einer Bebilderung eines psychischen strukturierenden Vorgangs als elementarer Kennzeichnung von Identität: In der Zeichentheorie symbolisiert die ‚Barre‘ (oder: der Balken) die
Trennung zwischen Signifikant und Signifikat und soll verdeutlichen, dass
beide zwar aufeinander bezogen, aber dennoch Zeichen und Bedeutung unüberwindlich voneinander getrennt sind und bleiben müssen. Lacan überträgt
dies in das Subjekt selbst, um zu verdeutlichen, dass die sprachliche und geschlechtliche Verfasstheit des Menschen ihn sozusagen ‚durchstreichen‘, ihn
als gespaltenes, in sich widersprüchliches Subjekt entstehen lassen und (s)eine
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Barbara Rendtorff
harmonische Verfasstheit unmöglich machen – es ist gerade dies, was das
menschliche Subjekt ausmacht (vgl. Fink 2006: 58ff.). Die ‚Durchstreichung‘,
die Lacan auch als ‚Mangel‘, als ‚Riss‘ oder als ‚symbolische Kastration‘ beschreibt (vgl. Rendtorff 1996), bewirkt zwar eine Entfremdung des Subjekts,
erhält aber zugleich auch mit dem Begehren die Spannung immer aufrecht und
sorgt so für Aktivität und Entwicklung. Auch in einer freudianischen Perspektive wirkt die Geschlechtlichkeit des Menschen selbst mit ihrer Spannung, ihren Erregungen und ihrer Lustsuche als Motor seiner Entwicklung, ohne dass
dies jemals zu einem Ende führen würde. Die Frage des Heranwachsenden:
‚Wer bin ich – für mich und für die Anderen, und wie werde oder will ich
sein?‘ ist keine Frage, auf die es eine Antwort gäbe, sondern belässt das Subjekt im Prozess des Aufwachsens in einem spannungsvollen Zustand. Ganz im
Gegenteil zu der vorne beschriebenen ubiquitären Tendenz, Geschlecht als ein
Oberflächenphänomen zu beschreiben und als solches auch zu beantworten,
würde sich von hier aus viel eher die Notwendigkeit ergeben, die Tatsache des
‚Durchgestrichenseins‘ als produktiven Ausgangspunkt für Fragen und Suchen
zu nehmen und gerade nicht eine verschließende instrumentelle Antwort anzubieten.
Aus dieser Vorstellung würde folgen, dass die produktiven, der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen förderlichen Aspekte sich um Konflikt,
Beunruhigung und Widerspruch drehen – und nicht etwa um Bewältigung und
Erfüllung von Aufgaben. Das in der bürgerlichen Familie ebenso wie in der
Pädagogik hoch wirksame Konfliktvermeidungsgebot erweist sich hier als
doppelt hinderlich: Es macht es den ‚als Mädchen‘ sozialisierten Kindern
schwerer, sich in Beziehungen als konkurrent zu erleben oder als überlegen zu
setzen, wie den ‚als Jungen‘ sozialisierten, sich als angewiesen oder abhängig
zu erfahren. Und die (pädagogische) Vorstellung von Konfliktvermeidung
kann auch zu Verwirrung führen – etwa wenn eine Schule als mädchenfördernde Devise ausgibt „Wir lesen nur Bücher von starken Mädchen“ (der Standard 2008). Der Zugewinn an agency auf der Seite der Mädchen wird sich also
erst dann als Potential erweisen können, wenn diese aus dem Modus der Berechnung heraustreten kann, nicht als ein einfaches ‚Mehr‘ erscheint, sondern
eine andere Art von Perspektive auf offene Fragen hin ermöglicht.
Die Dethematisierung und das Verschwindenlassen von Widersprüchlichkeiten durch die Übertragung der (Selbst-)Kontrolle der Prozesse auf die Kinder bringen hier deshalb keine Lösung. Denn die zentrale Voraussetzung für
den produktiven Umgang mit Widersprüchlichkeit ist ja die Fähigkeit, in der
Beziehung zum Anderen diesen als letztlich unsteuerbar (uneinholbar anders)
und auch sich selbst als nicht vollständig durchschaubar und lenkbar zu erfahren. Diese grundlegende Differenz, die das (‚gebarrte‘, durchgestrichene) Subjekt durchzieht und seine Beziehungen fundiert, darf nicht zum Verschwinden
gebracht werden – „weil die Aufhebung der Differenz in der Konsequenz zu
einer Aufhebung des Denkens“ führen würde (List 2009: 129).
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Zugewinne und Fallen – aktuelle Veränderungen in Geschlechtervorstellungen
Im (pädagogischen) Modus der Selbstkontrolle ist das Kind (selbstverständlich gilt dies auch für uns Erwachsene) aber zugleich Subjekt und Objekt
des Prozesses (vgl. Rosa 2002: 279), sofern es sich zu sich als dem zu Kontrollierenden verhält, und die dafür nötige grundsätzliche Kontingenzannahme
erschwert es noch dazu, in Strukturen zu denken oder diese überhaupt wahrzunehmen. Dabei sind aber die Voraussetzungen für eine reflexive Selbstbestimmung nicht gegeben, weil die Distanz fehlt, die für jede Art von Erkenntnis
oder Reflexion die Voraussetzung bildet. Es mag überinterpretiert sein, aber
mir scheint sich hier auch die Gefahr einer Re-Zentrierung des Subjekts anzudeuten, oder eine Re-Souveränisierungstendenz, die eigentlich einem überholten Subjektverständnis angehört (vgl. z.B. Lettow 2012).
Zurück zum Anfang. Die Alternative, die Reihung der Titel-Begriffe dieses
Bandes von hinten nach vorne oder aber umgekehrt zu lesen, war also falsch
gestellt. Tatsächlich lautet die Antwort, dass die Rede von einer ‚Transformation‘ der Geschlechterordnung (ganz unabhängig davon, ob diese als ‚Angleichung‘ von Geschlechterpositionen oder als Einfügung in allgemein dominierende Effektivitätsvorstellungen gedacht wird) selbst schon einer Täuschung
aufsitzt, sofern sie die Vorstellung eines ‚Modernisierungsfortschritts‘ der
weiblichen Geschlechterposition in einem sich quasi selbsttätig vollziehenden
Prozess nahelegt. Damit würde die Wirkmächtigkeit von Geschlecht auf einer
untauglichen Ebene lokalisiert und die Dimension verfehlt, die für eine Veränderung der Geschlechterordnung zentral ist. Wenn es nicht in der Mitte der
Reihe, in dem zuvor als Motor oder eben ‚Transformator‘ beschriebenen Term
‚Sozialisationsprozess‘, zu einem eigens intendierten Zuwachs von Reflexionsfähigkeit in Bezug auf Geschlechterzuschreibungen kommt, wird es keine
wirkliche Veränderung geben, die imstande wäre, Mädchen und Jungen von
den jeweiligen Begrenzungen und Zwängen zu entlasten, die ihnen durch geschlechterbezogene Zuschreibungen auferlegt werden. Und diese Intervention
kann nur sinnvoll geschehen, wenn sie Konfliktreiches und Widersprüchliches,
Unabgeschlossenes und unabschließbare Offenheit sehr grundsätzlich und
nicht nur in Bezug auf Geschlecht positiv fokussiert, zu Auseinandersetzung(en) einlädt und diese attraktiv und produktiv gestaltet. Mädchen werden
trotz des ihnen attestierten Zugewinns an agency im häuslichen wie im schulischen Kontext sehr stark auf prosoziales Verhalten und Harmonie verpflichtet
und Jungen ohne Zuwachs an communion weiterhin daran gewöhnt, dass andere für sie die soziale Verantwortung übernehmen – so hindert man beide
daran, sich uneinschätzbaren und unübersichtlichen Prozessen mit offenem
Ausgang zu konfrontieren, und versperrt damit beiden die Möglichkeit, auch
ihre eigenen inneren und sozialen Widersprüchlichkeiten als produktiv zu erleben.
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Barbara Rendtorff
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Sozialisation im Kontext des Krisendiskurses
über Jungen
Mechthild Bereswill, Gudrun Ehlert
Schlagen wir Fachzeitschriften oder populäre Magazine auf, wird seit gut zehn
Jahren eine geschlechter- und bildungspolitische Diagnose verhandelt: Jungen
gelten im Vergleich mit Mädchen als besonders unterstützungs- und förderungsbedürftig. Die Auffälligkeiten oder Bedürftigkeiten von Jungen werden
mit einer problematischen Aneignung und Ausgestaltung von Geschlechtsidentität erklärt. Männlichkeit kann demnach nur erfolgreich entwickelt werden, wenn Männer für Jungen als Bezugspersonen zur Verfügung stehen. Der
als zu einseitig und dominant eingeschätzte Einfluss von Müttern und professionellen Frauen in Einrichtungen der Erziehung und Bildung wird zugleich
als kontraproduktiv für die Entwicklung von Jungen bewertet.
Begründet wird diese Sicht mit psychoanalytischen, bindungstheoretischen
und entwicklungspsychologischen Erklärungsansätzen zur Bedeutung von Vätern und Männern für die Entwicklung von Kindern. Ebenso werden neurowissenschaftliche und evolutionsbiologische Befunde herangezogen, die die Existenz und die Bedeutung von Geschlechterunterschieden für das Verhalten von
Menschen betonen.
Dabei finden sich teilweise harsche Zurückweisungen sozialwissenschaftlicher Einsichten der Geschlechterforschung, wenn beispielsweise in der Einleitung zum „Handbuch Jungen-Pädagogik“ (2008) vertreten wird, in der aktuellen Geschlechtertheorie sei „das Geschlecht als biologische Tatsache
(‚sex‘) durch einen simplen Trick aus dem Verkehr gezogen [worden]: Es
wurde ausgetauscht durch das ‚soziale Geschlecht‘ (‚gender‘), welches ausschließlich erlernt sei, während das biologische Geschlecht fortan nicht mehr
auftauchte“ (Matzner/Tischner 2008: 12). Die aggressive Abwertung einer differenzierten erkenntniskritischen Reflexion der Kategorie Geschlecht steht im
Kontext einer gewichtigen geschlechterpädagogischen Debatte, deren Wissensbestände umkämpft und ganz offensichtlich im Wandel sind.
Mechthild Bereswill, Gudrun Ehlert
Der vorliegende Beitrag setzt bei dieser geschlechtertheoretischen Diskurskonstellation an. Im ersten Schritt wird an die differenzierte feministische
Theoriebildung zu Geschlechtersozialisation erinnert und die Komplexität und
Mehrdimensionalität der Kategorie Geschlecht entfaltet (1). Dieser Schritt
dient als Hintergrundfolie für die kritische Diskussion der Debatte über Jungen
als benachteiligte Verlierer im gesellschaftlichen Wandel des Geschlechterverhältnisses (2). Abschließend wird der Frage nachgegangen, wie sozialisationstheoretische Perspektiven konturiert werden können, die auf normative und essentialisierende Setzungen verzichten, ohne die strukturierende Wirkung von
Geschlecht für die Herausbildung einer vergesellschafteten Subjektivität zu
verleugnen (3).
1 Geschlechtersozialisation als mehrdimensionale Dynamik
Wer sich aus sozialwissenschaftlicher Perspektive mit dem Verhältnis von Sozialisation und Geschlecht auseinandersetzt, trifft auf differenzierte und kontroverse Theorie- und Forschungstraditionen (Maihofer 2002; Bilden 1991;
Hagemann-White 2004; Bilden/Dausien 2006). In der deutschsprachigen
Frauen- und Geschlechterforschung wird Sozialisation seit Ende der 1960er
Jahre zunächst mit Blick auf die gesellschaftliche Benachteiligung von Mädchen und Frauen thematisiert. Weibliche Sozialisation galt als Schlüsselkonzept zur Erklärung von Unterdrückung im Geschlechterverhältnis. „Zugleich
wuchs aber der Unmut, denn die Erklärungen setzten als gegeben voraus, dass
Frauen generell jenen Sozialcharakter aufweisen, dessen Entstehung sie begreiflich machen wollten“ (Hagemann-White 2004: 149). So geriet das Konzept der geschlechtsspezifischen Sozialisation seit Anfang der 1990er Jahre in
die Kritik. Zentrale Einwände richteten sich gegen eine zu deterministische
Sichtweise auf das Verhältnis von Subjekt und Gesellschaft sowie gegen die
Tendenz der Vereinheitlichung von Weiblichkeit (und Männlichkeit) (vgl.
ebd.: 151). Das ging mit dem generellen Einfluss sozialkonstruktivistischer
Ansätze in der Geschlechterforschung einher sowie mit dem Anspruch, keine
Unterscheidungsforschung zu betreiben (Kelle 1999), die ihrerseits wieder
neue Stereotype und vor allem Naturalisierungen von Geschlecht produzieren
würde (Gildemeister/Wetterer 1992).
Geschlechtertheoretisch betrachtet gewinnen die kritischen Auseinandersetzungen mit Konzepten der geschlechtsspezifischen Sozialisation ihre Brisanz im Kontext von fortlaufenden erkenntniskritischen Reflexionen in diesem
Feld. Gerungen wird um angemessene theoretische und empirische Zugänge
zur Komplexität und Relationalität von Geschlecht. Wie wird das Verhältnis
von Struktur und Handeln begriffen? Wie vermitteln sich Diskurse und Prak94
Sozialisation im Kontext des Krisendiskurses über Jungen
tiken miteinander? Wie lässt sich die intersektionale Verflechtung von Geschlecht mit anderen sozialen Kategorien der Ungleichheit und Unterscheidung erfassen? Wie kann Geschlecht als ein Aspekt von Subjektivität untersucht werden, ohne essentialistisch zu argumentieren? Die Fragen berühren
auch das strittige Konzept der Sozialisation, bei dem es grundlegend darum
geht, die Wechselwirkungen von Verhältnissen und Verhalten zu bestimmen.
Die Dialektik von gesellschaftlichen und subjektiven Dynamiken im Prozess
der Sozialisation kann dabei immer nur in Ausschnitten untersucht werden.
Dies erfordert theoretische und methodologische Verortungen sowie Einsichten in die Potenziale und die Grenzen jeweiliger Erklärungsansätze und Theorietraditionen (Becker-Schmidt 2006: 291f.). Das betrifft sowohl die Konzeptualisierung von Sozialisation als auch von Geschlecht.
Die Differenzierung verschiedener theoretischer Konzeptionen von Geschlecht haben wir an anderer Stelle ausführlich diskutiert (Bereswill/Ehlert
2010). Wir skizzieren im Folgenden drei ausgewählte Theorieansätze und fragen nach deren sozialisationstheoretischen Implikationen: Geschlecht als
Strukturkategorie, Geschlecht als soziale Konstruktion und Geschlecht als
Konfliktkategorie. Es handelt sich nicht um ein Mehrebenenmodell, denn gesellschaftstheoretische Aussagen zu Geschlecht als Strukturkategorie können
nicht bruchlos mit solchen zu Geschlecht als soziale Konstruktion oder zur
konflikthaften Aneignung von Geschlechtsidentität durch die Subjekte verknüpft werden.
Geschlecht als Strukturkategorie setzt Gesellschaft als einen komplexen Zusammenhang voraus, dessen gesamtes Gefüge auch durch Geschlecht mitstrukturiert wird. Diese Sicht wird mit dem Begriff Geschlechterverhältnis auf
den Punkt gebracht, der darauf verweist, dass Frauen und Männer als soziale
Gruppen (nicht als Subjekte) zueinander ins Verhältnis gesetzt werden, beispielsweise auf dem Arbeitsmarkt oder im Bildungswesen. Es handelt sich um
ein metatheoretisches und herrschaftskritisches Konzept, mit dem Ungleichheit zwischen den Geschlechtern auch in ihren verdeckten Momenten analysiert wird (Becker-Schmidt 1993, 1985). In der Männlichkeitsforschung finden
sich hier Anknüpfungsmomente zu Connells Konzept der hegemonialen
Männlichkeit und zu Bourdieus männlicher Herrschaft (Connell 1987;
Connell/Messerschmidt 2005; Bourdieu 2005). Die gesellschaftstheoretische
Brille, die diese Zugänge verbindet, fokussiert bei Fragen der Sozialisation immer die Auseinandersetzung der Subjekte mit den Verhältnissen, die sie sich
aneignen. Geschlechtersozialisation aus dieser Perspektive zu untersuchen,
lenkt den Blick auf das Beharrungsvermögen und den Wandel von Herrschafts- und Ungleichheitsverhältnissen, deren Struktur und Wirkung nicht offen vor den Subjekten liegen, ihre Lebensentwürfe aber maßgeblich strukturieren. Dies ist keine deterministische Sicht auf das Subjekt in der Gesellschaft,
sondern wirft Fragen nach der widerständigen, ambivalenten und brüchigen
95
Mechthild Bereswill, Gudrun Ehlert
Aneignung von Strukturvorgaben auf. Geschlechtersozialisation wird so als
dialektischer Prozess der Vergesellschaftung in einer durch Geschlecht strukturierten historisch spezifischen Situation verstanden.
Wird Geschlecht als soziale Konstruktion konzipiert, so wird Gesellschaft als
Sinn- und Handlungszusammenhang vorausgesetzt. Der Fokus richtet sich auf
das Zusammenspiel von implizitem und explizitem Wissen, Handeln und
wechselseitigen Interpretationsleistungen von Subjekten in konkreten sozialen
Kontexten. Die soziale Ordnung einer Gesellschaft ist immer auch eine Geschlechterordnung, deren Struktur durch regelgeleitetes Handeln reproduziert
und transformiert wird. Gesellschaftliche Verhältnisse werden demnach interaktiv hergestellt und soziale Hierarchien sind das Ergebnis von verfestigten,
institutionalisierten Zuschreibungen, deren Begründung (nicht nur) im Fall
von Geschlechterordnungen häufig auf Naturalisierungen basiert (Goffman
1977; Gildemeister/Robert 2008; Wetterer 2009). Sozialisation wird aus dieser
Sicht als ein intersubjektiver Prozess verstanden, in dessen Verlauf die soziale
Identität des Subjekts sich im intersubjektiven Austausch mit signifikanten und
generalisierten Anderen generiert (Mead 1968). Geschlecht gewinnt seine Bedeutung im Prozess des doing gender, in wechselseitigen Zuschreibungen und
Interpretationen von Geschlechterdifferenz. Geschlechtersozialisation wird interaktions- und handlungstheoretisch als aktiver Prozess der Zuschreibung und
Konstruktion von Unterschieden und Bewertungen analysiert. Für die Frage,
wie Verhältnisse und Verhalten zueinander vermittelt sind, fokussiert die sozialkonstruktivistische Brille die interaktive und intersubjektive Herstellung
von sozialer Ordnung. Geschlecht kann diese Ordnung stabilisieren – als handlungsleitendes Deutungsmuster der Zweigeschlechtlichkeit – oder irritieren.
Geschlechterdifferenz wird als interaktiver Aspekt der sozialen Identität von
Menschen rekonstruiert, wobei sich sozialisationstheoretisch die Frage nach
deren Verfestigung über den jeweiligen Kontext hinaus stellt.
Aus einer subjekttheoretischen Perspektive wird Geschlecht als Konfliktkategorie untersucht. Welche auch unbewussten Brüche und Konflikte zeigen sich
im Prozess der Geschlechtersozialisation? In den Vordergrund treten dabei die
eigensinnigen, subjektiven Aneignungs- und Verarbeitungsmuster von Differenz und Hierarchie. Im Mittelpunkt stehen die intrasubjektiven Konfliktdynamiken des Subjekts und die Aneignung, Aus- und mögliche Umgestaltung oder
auch Zurückweisung kultureller Konstruktionen von Geschlechterdifferenz
(Bereswill 2014; Ehlert 2012). Dies öffnet den Zugang zu lebenslang konflikthaften Auseinandersetzungen mit gesellschaftlichen Identitätszwängen, die
durch Brüche und Ambivalenzen gekennzeichnet sind (Becker-Schmidt/
Knapp 1987). Die sozialpsychologisch fundierte subjekttheoretische Perspektive auf Geschlechtersozialisation reduziert Sozialisation nicht auf entwicklungs- oder kognitionspsychologische Theorien, sondern fragt nach dem kom96
Sozialisation im Kontext des Krisendiskurses über Jungen
plexen Wechselverhältnis zwischen widersprüchlichen, ungleichzeitigen gesellschaftlichen Konstellationen und der Konflikt- und Ambivalenzfähigkeit
des Subjekts.
Die bisherigen Überlegungen verdeutlichen die Komplexität und Kontextgebundenheit geschlechtertheoretischer Perspektiven und ihrer sozialisationstheoretischen Implikationen. Die damit verbundenen Ausdifferenzierungen
sind erkenntnisleitend für gegenwärtige Theorie- und Forschungsansätze zur
Geschlechtersozialisation. Vor diesem Hintergrund werden die Forschungsansätze und Befunde in der im Folgenden untersuchten Debatte auf ihren Bezug
zur Komplexität von Geschlecht und ihre theoretische Verortung befragt.
2 Die Entwicklung und Erziehung von Jungen in der Krise?
Im Mittelpunkt der Fachdebatten über die Entwicklung von Jungen steht „die
Figur des gefährdeten Jungen“ (Rose 2013: 55). Lotte Rose untersucht diesen
Diskurs im Zusammenhang der Elementarpädagogik, wo männliche Bezugspersonen als Gegenüber für Jungen in öffentlichen Erziehungseinrichtungen
gefordert werden. Hierbei „ist es primär der Junge, der als sozialisationsgestörte, beunruhigende Kristallisationsfigur dem Mann in der professionellen
Kindererziehung massive Dringlichkeit verschafft“ (ebd.: 56).
Die Diagnose von den fehlenden männlichen Bezugspersonen in öffentlichen Einrichtungen korrespondiert mit der Bewertung einer gewandelten, genauer gesagt aus dem Gleichgewicht geratenen Geschlechterordnung. So heißt
es beispielsweise einleitend im „Handbuch Jungen-Pädagogik“: „Bis zum
Ende der 1960er-Jahre bestand in unserer Gesellschaft eine ausgewogene Verteilung jeweils dem männlichen und dem weiblichen Geschlecht zugeschriebener Werte. […] Diese Balance besteht heute nicht mehr“ (Matzner/Tischner
2008:10). Nach dieser Lesart ist die Ordnung der Geschlechter seit gut vierzig
Jahren gestört. Idealtypisch wird die gesellschaftliche Geschlechterordnung
hier rückwärtsgewandt als komplementäres Arrangement von differenten Werten konstruiert.
Es handelt sich um eine bemerkenswerte Umdeutung von Ungleichheiten
im Geschlechterverhältnis. Dies betrifft sowohl die Idealisierung der sozialen
Ordnung der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft als auch das Bild von den
ausbalancierten Werten, das ganz ohne Hierarchien und Bewertungen auskommt. Dies legt eine harmonische gesellschaftliche Situation nahe, die durch
die wohl dosierte Verteilung geschlechtsspezifischer Werte stabil gehalten
worden sei. Die rückwärtsgewandte und manifeste Idealisierung der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft mag eher eine Ausnahme im hier untersuchten
97
Mechthild Bereswill, Gudrun Ehlert
Diskurs sein. Das Beispiel verdeutlicht aber eine generelle Argumentationslinie: Der Wandel der Geschlechterordnung wird immer wieder herangezogen,
um die „Figur des gefährdeten Jungen“ (Rose) zu plausibilisieren. Dies steht
im Kontext eines breiteren Diskurses zu Männlichkeiten ‚in der Krise‘, der
geschlechtertheoretisch sehr kritisch reflektiert wird (vgl. die Beiträge in: Bereswill/Neuber 2011). In einschlägigen Publikationen zur gegenwärtigen Situation von Jungen wird das Krisenszenario entlang wiederkehrender Deutungsmuster entfaltet. Konstatiert wird eine Identitätskrise der Jungen, betont wird
die große Bedeutung von Geschlechterunterschieden, einhergehend mit der
fraglosen Reproduktion des Unterschieds, verbunden mit der Abwertung von
Weiblichkeit.
2.1 Die Identitätskrise der Jungen
Eine Diagnose der für Jungen belastenden gegenwärtigen gesellschaftlichen
Situation betrifft den Wandel von Familienbeziehungen. Beklagt werden die
Abwesenheit von Vätern in Familien mit alleinerziehenden Müttern sowie der
Wandel von familialen Beziehungen generell (Aigner 2011). So erklärt Frank
Dammasch die Störung der Leistungsfähigkeit und der psychosozialen Gesundheit von Jungen, insbesondere im Hinblick auf die steigende Zahl von
AD(H)S-Diagnosen: „Die Bildungsmisere der Jungen mit ihrer abnehmenden
Fähigkeit, schriftliche Texte lesen, verstehen und reflektieren zu können (vgl.
Baumert et.al. 2001), und das Anwachsen psychosozialer Störungen von
männlichen Kindern und Jugendlichen verdeutlichen, dass die familieninternen und soziodynamischen Verschiebungen vor allem zu Lasten des männlichen Teils der jungen Bevölkerung gehen“ (Dammasch 2011: 69).
Hier wird von zwei kontextspezifischen, geschlechtsgebundenen Befunden
– einem Befund der Schulforschung und einem klinischen Befund – auf gesellschaftlichen Wandel geschlossen und generalisiert. Jungen sind demnach außerordentlich belastet und reagieren mit Leistungsversagen und psychischer
Auffälligkeit. Die Zeitdiagnose Dammaschs basiert auf quantitativen Befunden mit denen statistische Verteilungen zu Geschlecht erkennbar werden.
Diese aus ihrem spezifischen Forschungskontext herausgelösten Daten bilden
die Ausgangsbasis für weit reichende Schlussfolgerungen. Gesellschaftlicher
Wandel scheint dabei eins zu eins auf das Verhalten und die Beziehungen der
Subjekte durchzuschlagen. Diese bruchlose Entsprechung ist mit einer ‚Einheitsunterstellung‘ verbunden: Die konstatierte Belastung betrifft nicht weniger als den „männlichen Teil der jungen Bevölkerung“ – also alle Jungen? Selten wird differenziert, welche Gruppen von Jungen (und Mädchen) im Bildungsprozess benachteiligt oder von Zuschreibungen der Devianz betroffen
sind.
98
Sozialisation im Kontext des Krisendiskurses über Jungen
Die schablonenhafte Konstruktion einer Opferposition von Jungen erinnert
an die Anfänge der feministischen Sozialisationsforschung, in der Formulierungen wie „Mädchen lernen …, Frauen sind …, Töchter werden …“ die gesellschaftliche Lage von Frauen und Mädchen verdeutlichen sollten (Hagemann-White 2004: 151). Nun sind es offenbar ‚die Jungen‘, die als benachteiligte Gruppe unter den gesellschaftlichen Entwicklungen leiden. Verantwortlich wird dafür immer wieder die Dominanz von Weiblichkeit gemacht.
Die Überlegungen von Dammasch stehen exemplarisch für das breit vertretene Motiv der fehlenden oder abwesenden Väter in der Familie und der
fehlenden Männer in Einrichtungen der öffentlichen Erziehung und Bildung
(vgl. Aigner/Poscheschnik 2011; Rohrmann 2008; Böhnisch 2013). Aus dieser
Sicht ist evident, „dass der Mangel an reifen männlichen Vorbildern innerhalb
und außerhalb der Familie bei alleiniger Wertschätzung weiblicher Interaktionsmuster in den sozialen und pädagogischen Institutionen die reife Geschlechtsidentitätsentwicklung des [sic] Jungen behindert und sie zunehmend
zu Störern werden lässt“ (Dammasch 2011: 69).
Dammasch knüpft mit dieser Einschätzung an psychoanalytische Theorieauffassungen an. Eine „reife Geschlechtsidentität“ entwickelt sich demnach
auf der Basis von Identifikationen des Kindes mit weiblichen und männlichen
Bezugspersonen, insbesondere im triangulierenden Wechselspiel von Dyade
und Triade mit der Mutter und dem Vater. Diese Dynamik sei aufgrund der
Abwesenheit von „reifen“ Männern und der Dominanz von Weiblichkeit
grundlegend gefährdet. Die Konsequenz aus dieser Situation sei die Herausbildung einer männlich konnotierten Devianz.
Damit wird die aus psychoanalytischer Sicht entscheidende Triangulierung
zwischen einem Kind, seiner Mutter und einer weiteren Bezugsperson fraglos
heteronormativ festgeschrieben. Männlichkeit oder Geschlechtsidentität ist
aus dieser Sicht letztlich das Ergebnis einer unilinearen gleichgeschlechtlichen
Identifikation zwischen Jungen und Männern. Zugespitzt gesagt, kann Männlichkeit nur durch den Mann in den Jungen gelangen, Geschlechtsidentität beruht auf einer gleichgeschlechtlichen Spiegelung, die durch Geschlechterdifferenz flankiert wird. Dieses Modell blendet die konflikthaften, umwegigen und
ungleichzeitigen Prozesse der Aneignung von Geschlechterdifferenz aus, wie
sie in der psychoanalytischen Geschlechtertheorie ausführlich diskutiert worden sind (vgl. Benjamin 1993; Connell 1994; Fast 1991; Liebsch 1994; Rendtorff 2003; Rohde-Dachser 1991). Männlichkeit wird stattdessen auf einen
störanfälligen Identitätsaspekt reduziert und gleichzeitig als normative Tatsache unterstellt.
In der Folge wird Männlichkeit nicht als gesellschaftliche Konstruktion reflektiert. „Männliche Sozialisation ist auf die aktive Aneignung der Strukturen
einer erwachsenen Männlichkeit ausgerichtet, die in hohem Maße von dem
99
Mechthild Bereswill, Gudrun Ehlert
Ideal der hegemonialen Männlichkeit geprägt sind. Das, was in einer Gesellschaft in einer bestimmten Epoche als männlich gilt, bestimmt den Rahmen
der männlichen Sozialisation“ (Meuser 2013: 35).
Statt Geschlechtersozialisation im Anschluss an solche theoretischen Überlegungen zu Männlichkeit als komplexes und widersprüchliches Wechselspiel
von gesellschaftlichen und subjektiven Konstellationen zu thematisieren,
bleibt die Analyse auf entwicklungspsychologische oder rollentheoretische
Aspekte der Herausbildung von Geschlechtsidentität beschränkt. So argumentiert Inés Brock (2012: 6ff.) unter Bezug auf bindungs- und rollentheoretische
Ansätze mit einem Geschlechtsrollenmodell, bei dem Mutter und Vater sowie
weibliche und männliche Professionelle als grundverschiedene Vorbilder gezeichnet werden.
Auch Klaus Hurrelmann, dessen Sozialisationstheorie sich am Modell der
Entwicklungsaufgaben von Havighurst orientiert, betont in einem Streitgespräch mit Hannelore Faulstich-Wieland, es ginge „um die Frage des Rollenvorbilds, das den Jungen fehlt. Wenn ich als Schüler nur mit Frauen zu tun
habe, weiß ich nicht, wie ein Mann mit bestimmten Situationen umgeht“ (Spiewak/Otto 2010: 4). Das lerntheoretische Konzept, das hier vertreten wird, reduziert Geschlechtersozialisation auf Lernen am Modell. Das Modell wird
gleichzeitig naturalisiert.
2.2 Die Reproduktion des Unterschieds
Mit der rollenförmigen Unterscheidung von Frauen und Männern steht Hurrelmann nicht allein. Die Behauptung, Frauen und Männer oder Mädchen und
Jungen seien grundsätzlich verschieden, bildet eine wesentliche Basis für die
Debatte über die Benachteiligung, Gefährdung und Störung von Jungen. Diese
Polarisierung wird einerseits entwicklungs-, kognitions- oder lerntheoretisch
begründet. Andererseits gewinnt eine Produktion von Geschlechterwissen an
Einfluss, die sozialisationstheoretische Fragen mit Hilfe von neurowissenschaftlichen und evolutionsbiologischen Ansätzen beantwortet, indem Belege
für die Evidenz angeborener Geschlechtsunterschiede formuliert werden (Bischof-Köhler 2006; 2008; Strüber 2008; Brock 2012). Grundlegende Argumente für die Berücksichtigung angeborener Anlagen liefert Doris BischofKöhler, wenn sie betont, das unterschiedliche Verhalten von Eltern im Umgang mit Mädchen und Jungen sei auch eine Reaktion auf deren geschlechtstypische Verhaltensweisen. „Um einen Jungen zu beruhigen, muss man mit
ihm anders umgehen als mit einem Mädchen. Sozialisation ist keine einsinnig
kausale Einflussnahme, sondern ein interaktiver Prozess, bei dem geschlechtstypische Verhaltensvorgaben und Reaktionsbereitschaften der Kinder die
Richtung mitbestimmen“ (2008: 22). Bischof-Köhler proklamiert den Determinismus von Geschlechterunterschieden: Nach ihrer Überzeugung sind die
100
Sozialisation im Kontext des Krisendiskurses über Jungen
(zwei) Geschlechter „von Natur aus anders“, so der Titel ihrer Buchveröffentlichung zur „Psychologie der Geschlechtsunterschiede“ (2006). Sie geht von
„anlagebedingten Dispositionen“ (2008: 31) aus und naturalisiert aus dieser
Sicht Geschlechterhierarchien: „Das hat beispielsweise zur Folge, dass Positionen, die ein besonderes Maß an Wettbewerbsorientiertheit voraussetzen, eben
in erster Linie von Männern besetzt sein werden, während Frauen in größerer
Zahl etwa in Aufgabenbereichen mit stärkerer Personorientiertheit zu finden
sind“ (ebd.).
Dass Mädchen und Jungen mit natürlichen und unterschiedlichen Dispositionen ausgestattet seien, vertritt auch Inés Brock. Sie zieht Untersuchungen
heran, nach denen Mädchen und Jungen schon vor der Geburt „ungleiche Startbedingungen“ (2012: 7) aufwiesen und Mädchen dabei zunächst „angeborene
Entwicklungsvorteile“ (ebd.) hätten, die aus ihrer Sicht aber auch dazu führen
können, dass Mädchen zu kurz kämen, beispielsweise weil ihnen die Väter als
Gegenüber für das Erlernen einer offensiven Emotionsregulation fehlten.
Beide Autorinnen argumentieren mit angeborenen Unterschieden, die es im
Erziehungsprozess zu berücksichtigen und gezielt zu stärken oder auszugleichen gilt. Geschlecht ist demnach ein gegebener Unterschied, der nicht mehr
als Ergebnis sozialen Handelns analysiert, sondern als Ausgangspunkt für soziales Handeln anerkannt und entsprechend als Basis für Bindungsangebote
und pädagogisches Handeln berücksichtigt werden sollte.
Hier gelangt auch die Hirnforschung ins Spiel, deren Deutungshoheit in
den Fachdebatten zu Bildung und Erziehung in den letzten Jahren deutlich zugenommen hat. So betont Daniel Strüber die Gleichzeitigkeit von natürlichen
Unterschieden und der Modellierbarkeit von Gehirnen. „Männliche und weibliche Gehirne unterscheiden sich zwar in vielen Aspekten, aber die Plastizität
und damit Lernfähigkeit ist davon nicht betroffen. Plastizität bildet auch die
hirnbiologische Voraussetzung dafür, bestehende Geschlechtsunterschiede hinsichtlich kognitiver und anderer Fähigkeiten großenteils ausgleichen zu können. Entsprechend sollte die Kenntnis dieser Geschlechtsunterschiede in der
Pädagogik als Anreiz dienen, Jungen und Mädchen gezielt in den Bereichen
zu fördern, die ihnen schwer fallen“ (Strüber 2008: 45f.). Vor diesem Hintergrund schließt Strüber weiter, dass „weibliche“ und „männliche Gehirne“ mit
unterschiedlichen Lernfähigkeiten und Motivationsstrukturen ausgestattet
seien, und stellt die Frage, „ob der Lernkontext mittlerweile vielleicht zu einseitig auf weibliche Fähigkeiten und Arbeitsweisen ausgerichtet ist, so dass das
männliche Gehirn nicht genug Anreize wahrnimmt, um seine Fähigkeiten einzusetzen“ (ebd.: 46). Hier schließt sich der Kreis erneut, wenn die unterstellte
Krise der Jungen mit einer angeblich einseitigen Förderung von Mädchen und
mit biologistischen Beweisführungen begründet wird.
101
Mechthild Bereswill, Gudrun Ehlert
2.3 Die Abwertung von Weiblichkeit
Die Einschätzung, Jungen seien im Erziehungs- und Bildungsprozess benachteiligt, weil in der Familie die Mütter und in den Institutionen die Frauen dominieren, wird breit geteilt (vgl. Aigner/Poscheschnik 2011; Matzner/Tischner
2008; Rohrmann 2008; kritisch: Brandes 2011). Tim Rohrmann schreibt beispielsweise „den ‚Gärten der Frauen‘ fehlt das ‚männliche Element‘“ (Rohrmann 2008: 157) und ironisiert damit die strukturelle Tatsache, dass Tätigkeiten, die kulturell mit einem „mütterlich-sorgenden Moment“ assoziiert werden
(Rendtorff 2003: 166), gegenwärtig mehrheitlich von Frauen ausgeübt und
schlecht bezahlt werden. So empfiehlt der „Bericht des Beirats Jungenpolitik“
aus dem Jahr 2013 auch nicht von ungefähr die Erhöhung des Anreizes für
Jungen, solche Berufe zu ergreifen, mithilfe der Anhebung von professionellen
Standards und Vergütungen (BMFSFJ 2013: 18). Dem blumigen Bild von
Rohrmann und dem geschlechterpolitischen Interventionsvorschlag des Beirats gemeinsam ist, dass die mit der geschlechtlichen Arbeitsteilung einhergehende Abwertung von Weiblichkeit unreflektiert mitläuft und den Frauen damit implizit die Verantwortung für Fehlentwicklungen zugeschrieben wird.
Klaus Hurrelmann und Gudrun Quenzel beklagen die gleiche Struktureigentümlichkeit für die Schule, wenn sie schreiben, dort würden „bei der
weiblichen Übermacht zwangsläufig typisch weibliche Muster“ den Schulalltag bestimmen (2008: 3). Diese Argumentationsfigur zielt auf die kontraproduktiven Wirkungen einer durch doppelte Differenz gekennzeichneten Bildungssituation: Weil Mädchen und Jungen sowie Frauen und Männer sich
grundlegend unterscheiden, sind Institutionen, in denen Frauen als Professionelle die Mehrheit darstellen, für eines der beiden Geschlechter nicht hinreichend ausgerüstet – die ‚Feminisierung der Pädagogik‘ gehe zu Lasten der Jungen und Mädchen würden bevorzugt behandelt.
Bemerkenswert ist, dass die starke These zum Zusammenhang von Geschlechtsidentität und institutionellen Sozialisations- und Bildungsprozessen
empirisch bislang wenig untersucht ist und anhand vorhandener Studien nicht
belegt werden kann (Brandes 2011; Bundesjugendkuratorium 2009; Forster
2007). Das räumen selbst die ein, die die Dominanz von Frauen gleichzeitig
problematisieren und bekämpfen (Aigner/Poscheschnik 2011; Rohrmann
2008; Quenzel/Hurrelmann 2010). Empirische Evidenz scheint aber für die
weit reichende „Ontologisierung von Geschlechterverhältnissen“ (Forster
2007: 63) nicht erforderlich zu sein. Im Vordergrund steht vielmehr die Unterstellung von Geschlechterunterschieden als unhintergehbare Tatsache. „In der
Feminisierungsdebatte wird die Geschlechterordnung durch eine Trennung
von Weiblichkeit und Männlichkeit, denen jeweils eindeutig unterscheidbare
Attribute zugeordnet werden können, stabilisiert“ (ebd.: 61). Umgekehrt gesagt, wird die Erschütterung dieser Ordnung als so bedrohlich erlebt, dass der
Einfluss von Weiblichkeit hypostasiert und diese gleichzeitig abgewertet wird.
102
Sozialisation im Kontext des Krisendiskurses über Jungen
Wie bedrohlich der gesellschaftliche Wandel erlebt wird, wird im Ansatz
von Quenzel und Hurrelmann (2010) deutlich, wenn sie davon ausgehen, dass
die gegenwärtige Situation im Bildungssystem Ausdruck einer gesellschaftlichen Veränderung sei, in deren Verlauf sich ein soziales Stratifikationsmuster
umgekehrt habe. Anders gesagt, nehmen sie an, dass Jungen gegenüber Mädchen gegenwärtig bereits benachteiligt sind und langfristig gesellschaftlich abgehängt werden.
Die behauptete Umstrukturierung im Geschlechterverhältnis wird als Folge
einer Entwicklung eingeschätzt, in deren Verlauf ‚typisch‘ weibliche Verhaltensmuster von Mädchen dazu führen, dass diese sich dem gesellschaftlichen
Umbruch von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft anzupassen und
deutlich mehr Leistungsbereitschaft zu zeigen in der Lage seien, wohingegen
Jungen sich strukturkonservativ an veralteten Rollenbildern orientierten und
ihre Leistungsfähigkeiten gleichzeitig überschätzten (Hurrelmann/Quenzel
2008: 2).
Als Beleg für die sozialisationstheoretische These zum Wandel der Sozialstruktur werden zahlreiche Befunde der internationalen Jugend- und der Schulforschung angeführt, um zu zeigen, dass wir es mit dem seltenen Fall der Umkehr eines Stratifikationsmusters zu tun hätten (Quenzel/Hurrelmann 2010:
61). Für Hurrelmann ist damit eine düstere Zukunft verbunden, wenn er prognostiziert, in dreißig Jahren seien „alle gehobenen Berufe mehrheitlich in
Frauenhand“ (Spiewak/Otto 2010: 2). Die phantasierte Umkehrung von Geschlechterhierarchien verweist auf die Tiefenstruktur der Debatte zur Krise der
Jungen.
3 Komplexität und Offenheit
Die untersuchte geschlechtertheoretische Diskurskonstellation ist gekennzeichnet durch offene und subtile Feindseligkeiten gegenüber feministischen
Wissenschaftstraditionen und gegenüber Weiblichkeit. Theoretische Verortungen, Begriffsbildungen und Schlussfolgerungen kommen fast ohne Bezüge zu
Ansätzen der Geschlechterforschung, insbesondere der Männlichkeitsforschung aus und führen gleichzeitig zu weit reichenden Aussagen über die Evidenz von Geschlechterunterschieden. Ein unterkomplexes Modell von Geschlechtsidentität wird mit biologistischen Setzungen begründet. Geschlechtersozialisation ist zu einer bruchlosen Entsprechung von gesellschaftlicher
Ordnung und gefährdeter Identität verflacht und wird als Prozess verstanden,
der auf natürliche Unterschiede aufsetzt und diese allenfalls ausgleichen kann.
Ebenso unterkomplex fällt die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Un-
103
Mechthild Bereswill, Gudrun Ehlert
gleichheitsverhältnissen und mit der Arbeitsteilung der Geschlechter in Institutionen aus. Sozialisation changiert in diesem Argumentationsgang lediglich
zwischen der normativen Optimierung von individueller Entwicklung und deren Gefährdung durch den Wandel der Geschlechterordnung.
Zu betonen ist der weit reichende Einfluss von neurowissenschaftlichen
und evolutionsbiologischen Konstruktionen von Weiblichkeit und Männlichkeit als Beleg für die Evidenz von Unterschieden, die als ‚Anlagen‘ festgeschrieben werden. Hier greift eine Verschiebung in der Wissensordnung zu
Geschlechtersozialisation: Die offen gehaltenen, auf Komplexität abzielenden
Theorietraditionen der Geschlechterforschung werden zwar nicht vollständig
verworfen, setzen aber bestenfalls nachrangige Impulse, wenn das Soziale des
Geschlechts ins Spiel kommt.
Geschlechtertheoretische Ansätze zu Sozialisation sind vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen keinesfalls überholt. Ganz im Gegenteil, solange
Sozialisationskonzepte einen wesentlichen Anteil an der Naturalisierung und
Tradierung von Geschlechterannahmen haben, ist eine geschlechtertheoretisch
fundierte Sozialisationsforschung ein unverzichtbares Instrument der Aufdeckung von biologistischen Unterstellungen (vgl. Rendtorff 2003: 163).
Wie kann Geschlechtersozialisation theoretisch erfasst und empirisch untersucht werden, ohne dass normative, essentialisierende oder deterministische
Annahmen den Blick lenken? Auf diese Frage gibt es keine einheitliche Antwort. Es zeigen sich aber Konturen einer an Komplexität und Offenheit orientierten Sozialisationstheorie (vgl. Hagemann-White 2006: 76), die durch das
ausdifferenzierte Wissen der Geschlechterforschung immer weiter transformiert wird, statt ein einheitliches Modell zu bieten. „Dazu gehört begriffliche
Übersetzungsarbeit, die notwendig ist, um unterschiedliche Sichtweisen in ein
Ergänzungsverhältnis zueinander zu überführen, ohne dabei die Bruchstellen
unkenntlich zu machen, die jeder Ebenenwechsel mit sich bringt“ (BeckerSchmidt 2006: 304f.). Beziehen wir diese Überlegungen auf die im ersten Abschnitt dieses Beitrags skizzierten Theorieansätze zu Geschlecht, ergibt sich
daraus die ambitionierte Aufgabe, strukturtheoretische, Interaktions- und diskurstheoretische sowie subjekttheoretische Ansätze nicht gegeneinander auszuspielen, sondern auf ihre wechselseitigen Übersetzungs- und Vermittlungspotenziale hin zu untersuchen.
Eine solche Übersetzungsleistung, die ansteht, betrifft ganz besonders die
fehlende Ausbuchstabierung einer „angemessenen Subjekttheorie“ (Dausien
2006: 21), dies haben sowohl Andrea Maihofer (2002) als auch Bettina Dausien ausführlich diskutiert. „Es geht um die Herausforderung, das Subjekt in
seinen gesellschaftlichen Verhältnissen und die Gesellschaft in ihrer Dimension als historische Konfiguration sozialer Subjektverhältnisse zu begreifen,
ohne das eine in das jeweils andere aufgehen, aber auch ohne die beiden Seiten
dualistisch auseinanderfallen zu lassen“ (Dausien 2006: 27).
104
Sozialisation im Kontext des Krisendiskurses über Jungen
Wie kann dieses Kunststück gelingen? Im fortlaufenden Dialog über die
Reichweite und die Grenzen unserer jeweiligen Konzepte, aber auch, indem
wir uns dazu durchringen, Subjektivität als eine komplexe Dynamik weiter
auszubuchstabieren. Ziel kann dabei eine Auffassung des Subjekts sein, die auf
normative Prämissen verzichtet und die Herausbildung einer strukturierten
Subjektivität nicht an Leistung oder Störung misst. Subjektivität wäre vielmehr
als ein lebenslanger biographischer Prozess zu rekonstruieren, in dessen Mittelpunkt die Verarbeitung von unbewussten wie bewussten Konflikterfahrungen von Menschen steht. Identität wird demnach immer neu ausbalanciert, sie
bildet keine abgeschlossene Einheit und kann kein normatives, durch Reife gekennzeichnetes Entwicklungsziel sein. In diesem Sinne begreifen wir Geschlecht als eine Konfliktkategorie und betonen damit die spannungsreiche und
brüchige intrasubjektive Aneignung und Verarbeitung von intersubjektiven
Repräsentanzen und kulturellen Repräsentationen der Geschlechterdifferenz.
Die subjektiven Identifizierungen von Menschen gehen nicht in der klassifizierenden Wirkmacht des kulturellen Symbolsystems auf. Frauen repräsentieren keine bruchlose Version von Weiblichkeit, Männlichkeit und Männer bilden keine Handlungseinheit, auch wenn dies in Prozessen des ‚doing gender‘
so erscheint. Sozialisation ist vielmehr ein ungleichzeitiger, unabgeschlossener
Prozess der Herausbildung eines Subjekts in konkreten Geschlechterverhältnissen. Damit greift auch eine unmittelbare Verknüpfung von sozialem Handeln mit der subjektiven Bedeutung von Geschlechterdifferenz zu kurz (vgl.
Bereswill 2014: 195ff.).
Begreifen wir Geschlechtersozialisation als einen vielfach gebrochenen,
durch Ungleichzeitigkeiten und Konflikte gekennzeichneten Prozess der Vergesellschaftung, so verweist dies auf die metatheoretische Frage, wie wir Gesellschaft gegenwärtig denken. In diesem Sinn plädieren wir für ein fortlaufendes Wechselspiel zwischen einer rekonstruktiv angelegten, empirisch begründeten Theoriebildung und gesellschaftstheoretischen Fragen, die den eigenen
Denkhorizont immer wieder öffnen.
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108
Empirische Analysen –
Transformationen von
Geschlechterverhältnissen
Die (De-)Thematisierung von Geschlechterhierarchien
im Verhältnis akademischer Sozialisationsprozesse und
gesellschaftlicher Diskurse.
Eine qualitativ-rekonstruktive Analyse studentischer
Gruppendiskussionen1
Sabine Klinger
1 Einleitung
Den Ausgangspunkt dieses Beitrags bildet die Frage nach den Thematisierungsweisen von Geschlecht und Geschlechterfragen bei Studierenden der Erziehungswissenschaft. Dabei geraten zum einen die akademische Sozialisation
und zum anderen gesellschaftliche Transformationsprozesse und Diskurse in
den Blick. Auch wenn davon auszugehen ist, dass das Studium für die Studierenden einen „konjunktiven Erfahrungsraum“2 (Bohnsack 2006: 280f.; Mannheim 1980) darstellt, bleibt die Frage offen, inwieweit dieser den sozialisatorischen Horizont für das Reden über Geschlecht bildet und inwiefern er gleichzeitig von gesellschaftlichen Transformationen und Modernisierungsprozessen überlagert wird. Diese Überlegungen basieren auf einer empirischen Studie
zu den Fragen, wie Studierende der Erziehungswissenschaft Geschlecht3 thematisieren und wie diese Thematisierungen durch gemeinsame Erfahrungen
im Studium und durch gesellschaftliche Geschlechterdiskurse geprägt sind.
Als Referenzrahmen für die Analyse der sprachlichen Artikulationen der
Studierenden fungieren Überlegungen zu rhetorischen Modernisierungsprozessen (Wetterer 2003) und zu einem neuen neoliberalen Geschlechtervertrag
(McRobbie 2010). Angelika Wetterer merkt hinsichtlich der Fragen nach der
1
2
3
Ich möchte den Herausgeber_innen recht herzlich für ihre produktiven Anregungen und
Kommentare danken.
Konjunktive Erfahrungsräume entstehen in verschiedenen Dimensionen: zum einen in konkreten Gruppen, wie Peergroups von Jugendlichen oder Studierenden oder in Nachbarschaften; zum anderen gibt es aber auch in größeren organisationalen Kontexten wie beispielsweise in Bundeswehr, Kirche, Parteien, Sportvereinen oder Bildungsinstitutionen wie der
Universität Dimensionen konjunktiver Erfahrung (vgl. Schäffer 2012: 142).
Die Verwendung des deutschsprachigen Begriffs Geschlecht soll an den ursprünglichen radikalen Impetus feministischer Gesellschaftskritik erinnern und gleichzeitig die Karriere des
Begriffs gender vom kritischen Konzept zum mainstreamlabel hinterfragen (vgl. Knapp
2008: 301).
Sabine Klinger
Modernisierung und der Relevanz des Geschlechterverhältnisses in der heutigen westlichen Gesellschaft an, dass die gegenwärtige Situation vor allem
durch Widersprüche, Brüche und Ungleichzeitigkeiten gekennzeichnet sei
(vgl. 2003: 288). Sie beschreibt ein Nebeneinander von Gleichheit und Ungleichheit und die Diskrepanz zwischen den Überzeugungen und dem Handeln
der Individuen. Angela McRobbie (2010) konstatiert, dass junge Frauen heute
mit „neuen Gender-Diskursen“ konfrontiert seien und ihnen ein „neuer Geschlechtervertrag“ angeboten werde.
Im Folgenden wird als Einstieg die im Zentrum stehende qualitativ-rekonstruktive Analyse studentischer Gruppendiskussionen dargestellt (Kapitel 2),
auf deren Basis vier Thematisierungsweisen von Geschlecht und Geschlechterfragen (3.1 Numerische Feminisierung des Studiums, 3.2 Geschlecht als
curriculares Querschnittsthema, 3.3 Geschlechtergerechte Sprache, 3.4 Gleichberechtigung und Emanzipation) rekonstruierbar sind. Hierbei wird die Frage
diskutiert, inwiefern neben dem Studium auch gesellschaftliche Transformations- und Modernisierungsprozesse als wichtiger konjunktiver Erfahrungsraum fungieren. In der anschließenden Verknüpfung mit den theoretischen Referenzpunkten (Kapitel 4) lässt sich nachzeichnen, dass bei der studentischen
Auseinandersetzung mit Geschlecht und Geschlechterfragen auf den von Angela McRobbie konstatierten „neuen Geschlechtervertrag“ (2010) sowie die
„rhetorische Modernisierung“ (Wetterer 2003) Bezug genommen wird und
diese als Orientierungsrahmen rekonstruiert werden. Auch wenn mit diesem
Beitrag weder klassische Sozialisationsfragen, wie z.B. die Genese von Identität (Maihofer 2002), noch Fragen nach geschlechtsgebundener Sozialisation
(Dausien 1996), fokussiert werden, ist es Ziel dieses Artikels, die Sozialisationsdebatte auf Basis der empirischen Befunde weiter anzuregen und die Frage
zu diskutieren, welche Herausforderungen sich daraus für diese Debatte ergeben (Kapitel 5).
2 Eine qualitativ-rekonstruktive Analyse studentischer
Gruppendiskussionen
Das im Folgenden dargestellte empirische Material basiert auf vier Gruppendiskussionen, an denen sich 14 Studierende (zwei männlich, zwölf weiblich;
sieben Bachelor- und sieben Diplomstudierende) aus zwei deutschsprachigen
Universitäten beteiligt haben. Die Teilnahme von Bachelor- und Diplomstudierenden berücksichtigt den Wandel des europäischen und deutschen Hochschulsystems, das zum Zeitpunkt der Erhebung vom Bologna-Prozess und den
damit verbundenen Veränderungen der universitären Hochschulausbildung auf
das Bachelor-Master-System geprägt war. Die Teilnehmer_innen befanden
112
Die (De-)Thematisierung von Geschlechterhierarchien
sich zum Zeitpunkt der Gruppendiskussionen zwischen dem zweiten und dreizehnten Semester ihres Studiums. Die Gruppenzusammenstellung erfolgte hinsichtlich des Studiengangs (Bachelor- bzw. Diplomstudiengang) homogen. An
beiden Universitäten haben sich je eine geschlechterheterogene Gruppe und
eine -homogene (Frauen-)Gruppe zusammengefunden. An jeder der Universitäten gibt es ein Zentrum für die Erforschung der Geschlechterverhältnisse und
für feministische Wissenschaft, die entsprechende Studienprogramme offerieren (siehe Klinger 2014: 132). Da die Gruppendiskussionsteilnehmer_innen in
der Regel über eine gemeinsame Erfahrungsbasis verfügen (vgl. Przyborski/
Wohlrab-Sahr 2009: 113) und die Gruppe der Studierenden der Erziehungswissenschaft repräsentieren, entspricht die Zusammensetzung der Gruppen
dem Prinzip der „Realgruppen“ (ebd.). Die vier Gruppendiskussionen wurden
mit den Bezeichnungen ‚Holz‘, ‚Feuer‘, ‚Wasser‘, ‚Metall‘ versehen und nach
der dokumentarischen Methode (Bohnsack 2008: 134ff.) ausgewertet (siehe
Klinger 2014: 157ff.).
Die dokumentarische Methode beruht auf den metatheoretischen Grundlagen der praxeologischen Wissenssoziologie und steht in der Tradition der Wissenssoziologie Karl Mannheims. Das Interpretationsverfahren der dokumentarischen Methode ermöglicht nicht nur einen Zugang zu reflexiven und theoretischen Wissensbeständen, sondern auch zu einem impliziten, handlungsleitenden Wissen (vgl. Bohnsack 2008). Die Unterscheidung zwischen kommunikativem (oder immanentem) und konjunktivem (oder dokumentarischem) Sinngehalt ist hierbei zentral, da sie Zugang zu beiden Wissensebenen eröffnet (vgl.
Kubisch 2008: 75). Während es sich beim kommunikativen Wissen um ein
öffentliches und reflexiv zugängliches Wissen handelt, basiert das konjunktive
Wissen auf der gemeinsam gelebten milieuspezifischen Praxis der Akteur_innen. Dort, wo Menschen eine bestimmte Sozialisationsgeschichte und Handlungspraxis teilen und sich unmittelbar verstehen, spricht Mannheim von „konjunktiven Erfahrungsräumen“ (vgl. ebd.). Die konjunktiven Erfahrungen stellen ein verbindendes Element zwischen den einzelnen Personen dar, wodurch
sich kollektive Erfahrungsaufschichtungen bilden (vgl. Schäffer 2012: 142).
Aus Sicht der dokumentarischen Methode ist davon auszugehen, dass Individuen oder Gruppen immer an mehreren verschiedenen konjunktiven Erfahrungsräumen teilhaben. Diese können beispielsweise geschlechts- oder generationsspezifisch geprägt sein und sich außerdem wechselseitig überlagern
(vgl. Bohnsack 2001b; Kubisch 2005: 75). Gemeinsame Erfahrungen sind hier
nicht auf das Kognitive zu reduzieren, sondern basieren auf dem gemeinsamen
Handeln und Erleben der Personen. Diese gemeinsam erlebte und gelebte
Handlungspraxis wird internalisiert und inkorporiert, „d.h. in das Wie, in den
modus operandi der körperlichen und auch sprachlichen Praktiken eingeschrieben“ (Bohnsack 2001a: 331).
Im Auswertungsprozess lassen sich auf Basis dieser methodologischen
Überlegungen kollektive Orientierungen bzw. kollektives Wissen durch die
113
Sabine Klinger
wechselseitige Bezugnahme der Teilnehmer_innen rekonstruieren. Das unmittelbare Verstehen innerhalb einer Gruppe wird möglich, indem sich gemeinsam geteiltes, atheoretisches Wissen in einem „konjunktiven Erfahrungsraum“
(Bohnsack 2006: 280f.; Mannheim 1980) konstituiert. Dazu muss eine gewisse
Selbstläufigkeit der Diskussion gegeben sein und die Teilnehmer_innen müssen zumindest phasenweise ohne Eingriffe der Forscher_innen miteinander
sprechen (können) (vgl. Bohnsack 2010: 106). Zudem gibt die Diskursorganisation (vgl. Przyborski 2004) Aufschluss darüber, ob und wie Studierende Geschlecht thematisieren (siehe Klinger 2014: 157ff.).
3 Thematisierungsweisen von Geschlecht
und Geschlechterfragen
Im Folgenden werden unterschiedliche Thematisierungsweisen von Geschlecht anhand von vier Gruppendiskussionsauszügen dargestellt. Dabei handelt es sich nicht um die in der dokumentarischen Methode üblichen, abschließenden sinngenetischen bzw. soziogenetischen Typenbildungen, sondern um
die interpretative Generierung von Orientierungsrahmen vor dem Hintergrund
kollektiver Erlebnisschichtung, welche zugleich die Voraussetzung und das
Produkt einer gemeinsamen Praxis bildet (vgl. Bohnsack 2001b: 231ff.). Mit
dem Begriff der Thematisierung knüpfe ich an dieser Stelle an die Überlegungen von Angelika Wetterer an (Wetterer 2002: 149). Bezugnehmend auf das
Konzept des undoing gender unterscheidet sie aktive Strategien der ‚Neutralisierung‘ von der eher passiven ‚Nicht-Thematisierung‘ von Geschlecht. Bei
letzterer bleibt die Hintergrunderwartung der Geschlechtsdarstellung latent, sie
wird nicht problematisiert. Neutralisierung und Neutralisierungsstrategien beziehen sich hingegen erkennbar auf die Normalitätserwartung der Geschlechtszuordnung und versuchen, ihr mehr oder weniger aktiv und absichtsvoll entgegenzuwirken (vgl. ebd.).
Diese Überlegungen von Angelika Wetterer decken sich zum Teil mit den
Befunden der hier dargestellten Studie. Anhand der am empirischen Material
vorgestellten Thematisierungsweisen wird zum einen deutlich, dass die Hintergrunderwartung der Geschlechtsdarstellung und -zuordnung zumeist latent
bleibt und nicht zum Gegenstand der Diskussion gemacht wird. Zum anderen
dokumentiert sich die Begrenztheit der akademischen Sozialisation und des
konjunktiven Erfahrungsraumes des Studiums. Dieser wird von allen Gruppen
als ‚numerisch feminisiert‘ wahrgenommen.
114
Die (De-)Thematisierung von Geschlechterhierarchien
3.1 Numerische Feminisierung des Studiums
Die statistische Repräsentation von Frauen und Männern spielt in jeder der
Gruppendiskussionen eine wichtige Rolle. Dabei werden kollektive Wissensbestände und gemeinsame Erfahrungsstrukturen zur Artikulation gebracht, die
auf der Basis von existenziellen, erlebnismäßigen Gemeinsamkeiten in konjunktiven Erfahrungsräumen gebildet werden (vgl. Przyborski/Wohlrab-Sahr
2009: 105). Diese Diskussion um die zahlenmäßige Repräsentanz der Geschlechter wirft die Frage nach der Feminisierungsthese4 des Faches und des
Studiums auf. In der Gruppe Holz, an der sich sechs Bachelorstudierende, fünf
Frauen und ein Mann, beteiligten, wird die Überrepräsentation von Frauen hervorgehoben und das Studium der Erziehungswissenschaft als „typischer Frauenstudiengang“ bezeichnet.
Tomke:
Mika:
Tomke:
Luan:
Tomke:
Mika:
[…]:
Tomke:
Mika:
Tomke:
[…] es ist auffällig, dass wir einen unglaublichen Frauenüberschuss haben.
ŊJa?
In der Erziehungswissenschaft. Also wenn da mehr als drei Männer in einem
Seminar sitzen, ist das schon eine @ordentliche@ Quote
ŊFindest du das auffällig?
Ja.
Ja.
Also jetzt die Erziehungswissenschaftler, wenn man da mal guckt, ich meine
aus dem Stegreif denke ich könnten wir alle mindestens drei vier fünf Professoren der Erziehungswissenschaften nennen, was verwundert, dass aber unter
den Studenten, also in meinem Semester, mit mir angefangen da wüsste ich
nicht wie viele Jungs da dabei waren. Da kenne ich mal vereinzelt welche aus
höheren Semestern, aber auch nicht wirklich viele, also Erziehungswissenschaften,
Ŋ Maximal fünf Prozent würde ich jetzt sagen aus dem Bauch.
Ŋ Erziehungswissenschaften sind ja
eindeutig eher so ein typischer Frauenstudiengang.
(Gruppe Holz, Beginn: Zeile 937)5
Mit dem „unglaublichen Frauenüberschuss“ betont Tomke die numerische Feminisierung des Faches. Dies elaboriert sie an dem Beispiel, dass Männer nicht
typischerweise dieses Studium wählen, sondern eine Ausnahme darstellen. Um
das Auffällige an der Geschlechterverteilung hervorzuheben, unterstreicht
Tomke zudem das ungleiche Verhältnis von Professoren und den Studenten.
4
5
Aktuell wird die Feminisierungsdebatte insbesondere im Rahmen des Bildungswesens und
der Schule geführt. Es ist jedoch davon auszugehen, dass diese Diskussion auch auf das Studium der Erziehungswissenschaft übertragen werden kann. Im Bildungswesen und in der
Schule wird die These von der Feminisierung als Ursache für Jungenbenachteiligung rezipiert (vgl. Rieske 2011: 50). Dies ist jedoch eine verkürzte Darstellung und Verwendung der
Feminisierungsthese (vgl. ebd. 2011: 50).
Die Transkription orientiert sich an den Regeln von Talk in Qualitative Social Research.
115
Sabine Klinger
Indem sie ausführt, dass „wir alle“ mehrere Professoren nennen könnten, generalisiert sie ihre persönliche Erfahrung und verleiht ihr damit mehr Gewicht.
Mika validiert Tomkes persönliche Einschätzung und Erfahrung. Indem
Tomke Erziehungswissenschaft als „typische[n] Frauenstudiengang“ bezeichnet, bringt sie das Ungleichgewicht bei der Verteilung von Studentinnen und
Studenten zum Ausdruck. Damit konkludiert sie gleichsam diese Passage. Hier
dokumentiert sich, dass der Studiengang Erziehungswissenschaft als numerisch feminisiert erlebt wird. Die Feminisierungsthese, auf die hier Bezug genommen wird, umfasst drei Dimensionen (Francis/Skelton 2005): (1) eine numerische Feminisierung (d.h. ein erhöhter Frauenanteil), (2) eine kulturelle Feminisierung (d.h. als ‚weiblich‘ klassifizierte Fähigkeiten, Interessen und Verhaltensweisen werden in einer Fachkultur höher geschätzt und stärker gefördert) sowie (3) eine politische Feminisierung (d.h. feministische Positionen,
Ansichten und Pädagogiken werden verbreitet) (vgl. Rieske 2011: 50). Auch
wenn sich der höhere Frauenanteil in der Erfahrung der Studierenden als relevant erweist, bleibt hervorzuheben, dass gleichzeitig eine vertikale Segregation
im Studium (Vergleich zwischen Anzahl der Studentinnen und Professorinnen) existiert und damit bestehende Geschlechterhierarchien trotz des Frauenüberschusses reproduziert und tradiert werden. Somit zeigt sich, dass ein rein
numerischer Anteil an der Teilhabe keine automatische Veränderung gesellschaftlicher Strukturen mit sich bringt (vgl. Rieske 2011: 50ff.). Die Thematisierung der statistischen Repräsentation von Frauen und Männern im Studiengang und -fach und die numerische Feminisierung des Studiums basieren auf
dem gemeinsamen Erleben der Teilnehmer_innen und bilden somit ihren Orientierungsrahmen. Im Gegensatz dazu stellt die Thematisierung von Geschlecht als Querschnittsthema im Curriculum kein verbindendes Element
zwischen den einzelnen Personen dar, wie im Folgenden dargestellt wird.
3.2 Geschlecht und Geschlechterfragen
als curriculares Querschnittsthema
In der Gruppe Holz wird von einer Teilnehmerin Kritik an den androzentrischen Inhalten einer Lehrveranstaltung geübt und bemängelt, dass geschlechterreflektierende Inhalte nicht als Querschnittsthema im Curriculum vertreten
sind. Diese Kritik wird von ihren Kommiliton_innen nicht aufgegriffen und
bleibt ein Einzelbeitrag und ein individuelles Thema. Ähnliches lässt sich in
der Gruppe Wasser rekonstruieren: Hier beschreibt eine Teilnehmerin ihre anfängliche Auseinandersetzung mit Geschlechterfragen. Sie führt aus: „[I]ch
habe ein Seminar durch Zufall belegt, was mit Geschlecht und Erziehung war,
[…] und dann fand ich das eigentlich irgendwie spannend […]“ (Zeile 463).
Für sie stellt das Studium demnach einen wichtigen Ort für die Auseinander-
116
Die (De-)Thematisierung von Geschlechterhierarchien
setzung mit Geschlecht dar und sie greift auf ihre studiumsbezogenen Erfahrungen zurück. Bei diesen zwei Beispielen kommt es zu keiner wechselseitigen
Bezugnahme der Gruppendiskussionsteilnehmer_innen, was darauf schließen
lässt, dass es innerhalb des konjunktiven Erfahrungsraums des Studiums zu
keinen gemeinsamen Erfahrungen gekommen ist und damit kein kollektives
Wissen (vgl. Przyborski/Wohlrab-Sahr 2009: 105) hinsichtlich der curricularen (Gruppe Wasser) bzw. kritischen (Gruppe Holz) Auseinandersetzung mit
Geschlecht und Geschlechterfragen geteilt wird. Die Diskussionen sind keineswegs von feministischen Ansichten und Pädagogiken geprägt. Daher lässt
sich in den Gruppendiskussionen die (gesellschafts-)kritische Auseinandersetzung mit Geschlecht und Geschlechterfragen nicht als kollektives Orientierungsmuster rekonstruieren, stattdessen ist der gemeinsame Erfahrungsraum
vor allem von der numerischen Feminisierung geprägt. Aspekte der politischen
Feminisierung dokumentieren sich nicht, wie in der nachstehenden Diskussionspassage zur geschlechtergerechten Sprache deutlich wird.
3.3 Geschlechtergerechte Sprache
Bei der Thematisierung der geschlechtergerechten Sprach- und Sprechpraxis
der Studierenden dokumentiert sich keine gemeinsame Praxis, sondern vor allem kommunikativ-generalisierendes (theoretisches) Wissen. In zwei Gruppen
(Metall und Wasser) wird geschlechtergerechte Sprache von den Gruppendiskussionsteilnehmer_innen initiativ angesprochen; bei den anderen beiden
Gruppen wurde sie auf Nachfrage der Interviewerin diskutiert. In den Gruppen
Metall und Wasser wird geschlechtergerechte Sprache als eine Form der Auseinandersetzung mit Geschlecht und Geschlechterfragen an der Universität
und im Studium dargestellt. Diese Form der Thematisierung wird teils positiv
bewertet und teils als nicht notwendig oder übertrieben bezeichnet. Mit Ausnahme der Gruppe Metall dominiert die Verwendung des generischen Maskulinums; geschlechtergerechte Paarbildungen oder andere Formen geschlechtergerechter Sprache sind die Ausnahme. Am Ende einer Passage zur Relevanz
von geschlechtergerechter Sprache im Studium konkludiert eine Gruppendiskussionsteilnehmerin aus der Gruppe Holz (Zeilen: 1197–1201):
Luan: Ich denke auch manchmal, also ich meine wir sind ja in der privilegierten Situation,
dass für uns schon einige weibliche Wesen was erreicht haben, und gar nicht mehr
so klar, es gibt diese Benachteiligung, aber ich finde so im Unialltag, habe ich da
nicht das Gefühl ich müsse jetzt unbedingt, beweisen, dass Frauen und Männer, und
Schülerinnen und Schüler oder so.
Luan hebt ihre Orientierung hervor, dass Frauen ‚heute‘ „in der privilegierten
Situation“ seien, „dass für uns schon einige weibliche Wesen was erreicht haben“. ‚Früher‘ bildet hier den unausgesprochen negativen Orientierungshori-
117
Sabine Klinger
zont. Darin wird die Vorstellung eines modernisierten Geschlechterverhältnisses als Orientierungsrahmen deutlich. Im „Unialltag“ habe Luan „nicht das Gefühl, ich [Luan] müsse jetzt unbedingt beweisen, dass Frauen und Männer und
Schülerinnen und Schüler, oder so“ benachteiligt werden. In dieser Logik müssen Frauen im universitären Alltag, der als numerisch feminisiert wahrgenommen wird, nicht durch eine geschlechtergerechte Schreib- und Sprechpraxis
hervorgehoben werden. Daher stellt das als numerisch feminisiert rekonstruierte Studium der Erziehungswissenschaft die im Hintergrund wirksame Argumentationsbasis bei der Diskussion zu geschlechtergerechter Sprache dar. Die
Studierenden scheinen davon auszugehen, dass ein rein numerischer Vorsprung von Frauen ausreichend sei, um eine Veränderung gesellschaftlicher
Strukturen zu initiieren, und dass sich die ,,Idee der Gleichheit‘‘ (Koppetsch/
Burkart 1999: 193) und der Gleichberechtigung selbstwirksam erfülle. In Bezug auf Geschlecht und Geschlechterfragen findet durch diese Handlungspraxis eine erneute Neutralisierung und Verdeckung von sozialen Ungleichheiten
und deren Wirkmechanismen statt.
Zu einem späteren Zeitpunkt greift Loris das Thema nochmals auf und erweitert die Diskussion zur geschlechtergerechten Sprache um die Variante des
gender gaps. Dieser stellt für die Teilnehmer_innen jedoch kein geteiltes Wissen dar und kann somit auch nicht als kollektive Orientierung der Gruppe fungieren:
Loris:
Luan:
???:
Luan:
Tomke:
Loris:
Luan:
Loris:
Luan:
Loris:
Luan:
Loris:
Luan:
Robyn:
Loris:
Tomke:
Luan:
Also so ,Schüler‘, und dann Bindestrich unten, und dann ,innen‘.
ŊJa?
ŊEcht?
Hab ich ja noch nie gesehen.
ŊEhrlich?
ŊDas hab ich auch noch nie gesehen.
Weil, also ich hab gehört (lacht)
ŊWarum?
Dass es deshalb so ist dass alle, mit jetzt mit eingeschlossen sind, die nicht
wissen, oder die
Ŋ Ob sie männlich oder weiblich sind.
Ŋ Ja genau,
Ŋ Alles klar.
Damit die dann auch noch eingeschlossen sind (lacht).
Ŋ Das dritte Geschlecht.
Oh mein Gott das ist ja total korrekt.
(lacht)
Vom Gender- zum Diversitymanagement
((durch die Gruppe geht ein Raunen, und tiefes Ausatmen))
Das finde ich dann anstrengend.
(Gelächter)
(Gruppe Holz, Beginn: Zeile 1273)
118
Die (De-)Thematisierung von Geschlechterhierarchien
Mit dem gender gap beschreibt Loris keine Handlungspraxis, sondern ein theoretisches Wissen. Aus den folgenden Nachfragen und Kommentaren: „Ja?“;
„Echt? Hab ich ja noch nie gesehen“; „Ehrlich?“ wird deutlich, dass Loris als
Einzige diese Schreibweise kennt. Auf Luans Frage nach der Sinnhaftigkeit
des gender gaps erläutert Loris, dass damit „alle […] eingeschlossen sind, die
nicht wissen, oder die“. Luan ergänzt Loris: „Ob sie männlich oder weiblich
sind“, Loris ratifiziert Luans Fertigstellung, und Luan gibt ihrerseits an, dass
sie verstanden habe. Luan elaboriert noch weiter: „Damit die dann auch noch
eingeschlossen sind (lacht).“ Demnach gibt es laut Luan nicht nur Männer und
Frauen, die ein- oder ausgeschlossen werden, sondern auch „das dritte Geschlecht“. Die vage und zaghaft wirkende Formulierung „also ich habe gehört“
verleiht der Aussage den Charakter eines Gerüchts und wirkt wie Halbwissen,
zudem erscheint ihr Erklärungsversuch aufgrund ihres Lachens etwas unsicher
bzw. verliert den Charakter der Ernsthaftigkeit. Loris bringt durch ihren Beitrag einen neuen Aspekt in die Diskussion ein, nämlich dass es mehr als zwei
Geschlechter und Geschlechtsidentitäten gebe und auch diese durch die Sprache ein- bzw. ausgeschlossen werden könnten. Dies stellt für die Gruppendiskussionsteilnehmer_innen jedoch kein geteiltes Wissen und somit auch keine
kollektive Orientierung dar, wie sich an den Reaktionen von Robyn, Tomke
und Luan erkennen lässt.
In Robyns Beitrag („Oh mein Gott, das ist ja total korrekt“) steckt eine implizite Ablehnung. „Das“ kann sich zum einen auf den gender gap beziehen,
aber zum anderen auch auf die Auseinandersetzung mit einem „dritte[n] Geschlecht“. Tomke fasst leise zusammen: „Vom Gender- zum Diversitymanagement“, also von Gender, der Zweigeschlechtlichkeit, zur Vielfalt. Die Ablehnung dieser Orientierung wird auch durch ein „Raunen“ hörbar, das durch die
Gruppe geht. Abschließend konkludiert Luan: „Das finde ich dann anstrengend.“ Robyns Einwürfe bringen ihre Ablehnung hinsichtlich einer Diskussion
zu Geschlechterfragen zum Ausdruck und zudem werden die geschlechtergerechte Sprache und ihre Schreibweisen als mühevoll degradiert und als von
außen herangetragene Reglements zurückgewiesen. Die kritische Auseinandersetzung mit der Zweigeschlechtlichkeit und der Möglichkeit weiterer Geschlechtsidentitäten wird als ‚zu anstrengend‘ empfunden. Hier lässt sich rekonstruieren, dass die Gruppe die Verwendung des gender gaps und der geschlechtergerechten Sprache als kollektive Orientierung ablehnt.
Interessant ist an dieser Stelle, dass „das dritte Geschlecht“ bzw. die Möglichkeit, dass es Personen gibt, die nicht wissen (wollen), „ob sie männlich
oder weiblich sind“, nicht diskutiert wird. Dies verweist darauf, dass das kulturelle System der Zweigeschlechtlichkeit und seine symbolische Ordnung
hier als fundamentale Orientierungs- und Ordnungsrahmen gelten (MicusLoos 2013: 180). Gleichzeitig wird auf eine (kritische) Auseinandersetzung
mit der geschlechtlichen Norm der Zweigeschlechtlichkeit und der Heteronor-
119
Sabine Klinger
mativität verzichtet6. Auch Geschlechterhierarchien und -differenzen und deren kulturelle sowie soziale Machtwirkungen werden erneut nicht reflektiert,
es wird Stillschweigen darüber bewahrt (siehe Wetterer 2002: 290). Hingegen
wird die Orientierung an Gleichberechtigung und Emanzipation ausdrücklich
verbalisiert, was auch in der nächsten Passage der Gruppe Feuer zu beobachten
ist.
3.4 Gleichberechtigung und Emanzipation
Der folgende Auszug aus der Gruppe Feuer, die sich aus zwei Bachelorstudentinnen zusammensetzt, zeigt durch die verbalen Beteuerungen von Gleichberechtigung und Emanzipation eine Thematisierungsweise von Geschlecht, die
frei von jeglicher feministischer Kritik ist. Im nachstehenden Auszug wird
deutlich, dass die Erfolge des Feminismus zwar anerkannt werden und zu einem Teil des Alltagsverständnisses geworden sind, zugleich wird die Hervorhebung von Geschlechterfragen aber abgelehnt:
Alex:
Nikita:
Alex:
Nikita:
Also ich vermute das auch, also dass da von uns, also in unserem Alter niemand das für wirklich so bedeutend hält; also es gibt sicherlich welche, aber
dass es eher die die Minderheit ist, die sich dafür einsetzen würden. […] Es
ist uns eigentlich klar, warum das ist, aber im Prinzip ist uns auch schon klar,
das haben wir schon hinter uns, das Thema. Müssen wir das jetzt noch mal
diskutieren und noch mal feststellen. […] Also es ist so (wäre) schon was
Banales wo man denkt: Das nervt jetzt langsam mal. So. Also so kommt es
mir jetzt gerade vor.
Ja ich hab immer das Gefühl, dass es von denen, die das so fordern, im Prinzip auch so ein Punkt @Emanzipation ist@, dass (noch) die Frau genannt
werden muss, unbedingt die weibliche Form, aber wie gesagt, für mich spielt
das irgendwie keine Rolle, […]
Also mir würde das auch so gehen, wenn ich in so einer Arbeit irgendwas
von Therapeuten und Pädagogen lese, dass mir aus meiner Alltagserfahrung
klar ist, da gibt es männliche und weibliche, […] [und] es steht ja letztlich
doch allen offen.
Ja
(Gruppe Feuer, Beginn Zeile: 529)
Alex validiert die Orientierung, dass geschlechtergerechte Sprache nicht wichtig sei, und grenzt ihren Geltungsbereich auf eine bestimmte Altersgruppe bzw.
Generation ein. Mit dem Verweis auf das „Alter“ wird implizit auf einen Generationenwechsel hingedeutet. Die Ausführungen zur Sprache sind in einem
6
120
Dies steht im Gegensatz zur aktuellen Diskussion der Geschlechterforschung, welche queertheoretische Perspektiven in den Blick nimmt. Es werden Machtmechanismen untersucht, die
Identitäten zuordnen, anordnen und kontrollieren, und Prozesse der Identifizierung als fragwürdige Voraussetzungen von Identität verstanden (vgl. Castro Varela 2011).
Die (De-)Thematisierung von Geschlechterhierarchien
vergleichenden Bedeutungsrahmen eingebettet, der die ‚heute‘ erreichte Gleichberechtigung („das haben wir schon hinter uns das Thema“) der ,früheren‘ Benachteiligung von Frauen gegenüberstellt. Für eine ‚jüngere‘ Generation, zu
der sich auch die Teilnehmer_innen zählen, sei die geschlechtergerechte Sprache nicht relevant, nur „die Minderheit“ setze sich dafür ein. Die Gleichberechtigung und Emanzipation gilt – zumindest in der Arbeitswelt – als erreicht,
und deshalb erscheint die kontinuierliche Forderung danach als „banal“ und
als etwas, das „jetzt langsam mal nervt“. Die Studentinnen machen deutlich,
dass sie sich bereits emanzipiert und gleichberechtigt fühlen. Und mit der Argumentationsfigur, sich vom generischen Maskulinum angesprochen zu fühlen, validieren sie die Emanzipation und Gleichberechtigung von Frauen. Es
kommt zu einer verbalen Beteuerung von Gleichheit und Gleichberechtigung.
Indem die Teilnehmer_innen das generische Maskulinum als ‚richtige und normale‘ Sprache darstellen, betonen sie, dass die geschlechtergerechte Sprache
eine formale Anforderung sei, die es in einem bestimmten universitär-akademischen Rahmen zu erfüllen gelte.
Für Alex und Nikita sind Emanzipation und Gleichberechtigung heute bereits erreicht, weshalb sie dieses Thema für die jüngere (Frauen-)Generation
als abgeschlossen betrachten. Die erreichte Gleichberechtigung identifizieren
Nikita und Alex in der scheinbar freien Teilhabe beider Geschlechter am Arbeitsmarkt, dieser „steht ja letztlich doch allen offen“. In dieser Betrachtungsweise scheinen Probleme, Benachteiligung und hinderliche gesellschaftliche
Strukturen nicht der Rede wert, wodurch es zu einer Individualisierung von
Gelingen und Scheitern kommt. Mit dem Vergleich der aktuellen Situation mit
‚früher‘ versuchen die Student_innen aller Gruppendiskussionen deutlich zu
machen, dass sich Frauen heute emanzipiert und gleichberechtigt fühlen und
Selbstbestimmung, Autonomie und Gleichberechtigung zentrale Bestandteile
des Alltagswissens junger Frauen sind. In Abgrenzung zu „früher“ wird betont,
dass heutzutage Frauen und Männern alle Wege offen stünden. Mit dieser Argumentationsfigur kommt es zwar zu einer Thematisierung von Geschlecht
und Geschlechterfragen, durch den historischen Vergleich implizieren die Studierenden jedoch, dass sich bereits Veränderungen vollzogen haben und daher
heute kritische Auseinandersetzungen und Reflexionen nicht mehr notwendig
seien. In der Diskussion kommt es zu einer Vermischung von (a) ‚Alltagswissen‘ oder vortheoretischem Wissen, das sich (implizit) an Vorstellungen bzw.
an inkorporiertem Wissen von Geschlechterdifferenz und -hierarchie orientiert, und (b) einer (explizit gemachten) Vorstellung von Toleranz, Egalität und
Individualität, die sich an einem kommunikativen (öffentlichen) Wissen(-sdiskurs) orientiert (vgl. Klinger 2014: 267).
121
Sabine Klinger
4 Die (De-)Thematisierung von Geschlechterhierarchien
im Kontext der rhetorischen Modernisierung und des
neuen Geschlechtervertrags
Neben der von Angelika Wetterer angeführten Nicht-Thematisierung und
Neutralisierung von Geschlechterdarstellungen (Wetterer 2002: 149) lässt sich
für die studentische Auseinandersetzung mit Geschlecht ein weiteres Phänomen beschreiben, das hier als (De-)Thematisierung bezeichnet wird. Damit
wird darauf verwiesen, dass bei der Thematisierung von Geschlechterfragen
gleichzeitig eine reflexive Auseinandersetzung mit Geschlechterhierarchien
und -ordnungen nicht stattfindet. Bei der (De-)Thematisierung wird keine feministische Gesellschaftskritik artikuliert und somit auf kritische Reflexionen
verzichtet. Auf diese Weise werden geschlechtsbezogene Ungleichheit, Hierarchie und Benachteiligung verdeckt (vgl. Bitzan 2002: 30).
Diese Form der (De-)Thematisierung ist zum einen Ausdruck davon, dass
die Thematisierung von Geschlechterhierarchien und der feministische Impetus keinen Orientierungsrahmen für Studierende darstellen. Vielmehr wird die
Orientierung an einer „Art rhetorische[r] Gleichheit“ (McRobbie 2010: 18) bei
gleichzeitiger Reproduktion hierarchischer Geschlechterverhältnisse (Koppetsch/Burkhart 1999) erkennbar. Gesellschaftliche Transformationsprozesse
wie die Entöffentlichung geschlechtshierarchischer Widersprüche und Individualisierung gesellschaftlicher Konflikte, die ihre Lösung zu einer Privataufgabe machen (vgl. Bitzan 2000: 340), bilden die Grundlage für dieses kommunikativ-generalisierte Wissen. Daraus folgend kann zum anderen davon ausgegangen werden, dass die (De-)Thematisierung ein Resultat von konkurrierenden und sich überlagernden Erfahrungsräumen ist, an denen die Studierenden
teilhaben. Meine These lautet deshalb, dass konjunktive Erfahrungen, basierend auf aktuellen gesellschaftlichen Diskursen – z.B. durch die Zurschaustellungen des Nicht-mehr-nötig-Habens bzw. des ‚Zu-weit-Gehens‘ feministischer Politik oder durch einen medialen Diskurs, in dem Jungen als Bildungsverlierer darstellt werden (vgl. Fegter 2012), – eine kritisch-reflexive studentische Thematisierung von Geschlecht und Geschlechterfragen erschweren,
weshalb es zur Praxis der (De-)Thematisierung von Geschlechterhierarchien
kommt. Zur Explikation dieses nicht studiumsbezogenen Erfahrungsraums,
der vor allem von gesellschaftlichen Diskursen geprägt ist, werden im Anschluss die Überlegungen von Angelika Wetterer zur „rhetorischen Modernisierung“ (2003) und der von Angela McRobbie postulierte „neue Geschlechtervertrag“ (2010) aufgegriffen. Dabei wird deutlich, wie sich die Studierenden
zu verschiedenen Aspekten dieser Gesellschaftsdiagnosen verhalten und dass
ihre sprachliche Praxis nicht auf eine gemeinsam erlebte und gelebte Handlungspraxis innerhalb ihres Studiums verweist.
122
Die (De-)Thematisierung von Geschlechterhierarchien
Angelika Wetterer beschreibt mit dem Begriff der „rhetorischen Modernisierung“ eine Neuerung, „die sich im Diskurs und der Sprache, kaum jedoch
in der Praxis zeigt“ (Wetterer 2006: 12). Dieser Widerspruch wird von den
Individuen mit der De-Thematisierung der Ungleichheit aufgelöst, welche
dadurch jedoch nicht aus der Welt geschafft, sondern vielmehr vor Kritik geschützt wird. Die hierarchische Struktur der Geschlechterunterscheidung wird
aus dem individuellen Erfahrungs- und Sprachrepertoire ausgeschlossen und
damit unsichtbar gemacht (vgl. Wetterer 2003: 290). In Anlehnung an Cornelia
Koppetsch und Günter Burkart (1999) nennt Angelika Wetterer die Mechanismen, auf die dabei zurückgegriffen wird, die „Logik der Diskurse“ (ebd.: 298).
Dabei wird die Ungleichheit als „Folge einer freien und bewusst getroffenen
Wahl“ (ebd.) verstanden, für welche die Akteur_innen selbst verantwortlich
seien; strukturell angelegte Probleme werden so personalisiert und individualisiert. Die paradoxe Situation besteht somit darin, dass, während in der Diskurslogik eine Gleichheitsrhetorik vorherrscht, in der Praxis soziale Ungleichheiten fortbestehen können. Angelika Wetterer spricht in diesem Zusammenhang davon, dass Gleichberechtigung als „Regulativ des Redens“ fungiert
(Wetterer 2013: 247).
Um die Frage der Thematisierung von Geschlecht im Zusammenhang mit
gesellschaftlichen Transformationsprozessen zu diskutieren, werden auch die
Überlegungen von Angela McRobbie herangezogen. Sie konstatiert in ihrer
Studie „Top Girls – Feminismus und der Aufstieg des neoliberalen Geschlechterregimes“ (2010), dass gegenwärtig jungen und gut ausgebildeten Frauen aus
westlichen Ländern von Seiten neoliberaler Regierungsformen und Popkulturen ein „neuer Geschlechtervertrag“ (McRobbie 2010: 57) und „eine Art rhetorische Gleichheit“ (ebd.: 18) angeboten würden. Ihnen wird ,offeriert‘, an der
Öffentlichkeit teilzuhaben, am Arbeitsmarkt erfolgreich zu partizipieren, sich
weiterzubilden, selbstbestimmt einen oder auch keinen Kinderwunsch zu artikulieren und genug Geld zu verdienen, um an einer an Konsum orientierten
Gesellschaft teilzuhaben (vgl. ebd.: 37). Die damit (performativ) hervorgebrachten Frauen(bilder) zeigen die erreichten Erfolge in der Gleichstellung der
Geschlechter und legen nahe, dass feministische Interventionen und Kritik an
(patriarchalen) Herrschaftsverhältnissen nicht mehr notwendig seien (vgl.
Klinger 2014: 323). Im Gegenzug zur öffentlichen Sichtbarkeit wird von
Frauen allerdings (implizit) erwartet, auf feministische Politik und Positionen
zu verzichten (vgl. McRobbie 2010: 37). Angela McRobbie konstatiert eine
Zurschaustellung des Nicht-mehr-nötig-Habens oder gar des Schädlich-Seins
bzw. des Zu-weit-Gehens feministischer Politik. Zwar werden in dieser Vorgehensweise die Erfolge des Feminismus anerkannt – dies ist auch ein zentraler
Unterschied zu traditionellen Backlash-Debatten –, doch feministische Gesellschaftskritik wird als unzeitgemäß abgetan. Den Verzicht auf feministische Inhalte und Forderungen nennt Angela McRobbie in Anlehnung an Stuart Hall
„Politik der Desartikulation“ (ebd.: 47ff.). Diese Überlegungen verbinden sich
123
Sabine Klinger
mit den von Susanne Maurer „Verheißungen des Neoliberalismus“ (Maurer
2006: 241) genannten Strukturen. Sie thematisieren das Aufgreifen und die
Funktionalisierung emanzipatorischer, feministischer Anliegen, die diese auf
die Frage nach Erwerbstätigkeit und Wettbewerbsfähigkeit reduzieren: So sind
die hohen Erfolgsquoten bei der Erlangung von Qualifikationen zum Maßstab
der bisher erreichten Gleichberechtigung geworden (vgl. McRobbie 2010:
113).
In den vier geführten Gruppendiskussionen mit Studierenden der Erziehungswissenschaft basieren die sprachlichen Praktiken der Studierenden vor
allem auf einem konjunktiven Erfahrungsraum, der vom gegenwärtigen Zeitgeist, den gesellschaftspolitischen Situationen und Diskursen geprägt ist. Dieser scheint den studiumsbezogenen und wissenschaftlichen Erfahrungsraum,
in dem die akademische Sozialisation erfolgt, zu überlagern und zu dominieren. Um weiterführend der Frage nach der (De-)Thematisierung von Geschlecht und Geschlechterhierarchien vor dem Hintergrund sich transformierender sozialer Bedingungen und neuer neoliberaler Diskurse und Strukturen
auf den Grund gehen zu können, ist es zielführend, die bisherigen Überlegungen durch eine sozialisationstheoretische Perspektive zu ergänzen. Gleichzeitig werden dadurch die Sozialisationsdebatten um eine stärkere Gewichtung
gesellschaftlicher Diskurse und Transformationsprozesse erweitert.
5 Gesellschaftliche Diskurse und ihre Bedeutung
für die Sozialisationsdebatte
Bereits Anfang der 1970er Jahre bildeten sozialisationstheoretische Überlegungen den politisch-programmatischen Rahmen, um Frauen- und Geschlechterfragen kritisch zu diskutieren. Hieraus entwickelte sich auf Basis empirischer und theoretischer Differenzierung das Konzept der geschlechtsbezogenen Sozialisation, das in weiterer Folge breit diskutiert und rezipiert wurde
(vgl. Dausien 2006: 22f.). Dies differenzierte zwischen ‚weiblich‘ und ,männlich‘ mit dem Ziel, die Polarisierung der Geschlechter abzubauen. Gleichzeitig
entstand die Kritik, dieser Ansatz würde die unterschiedliche Bewertung der
Geschlechter intensivieren und reproduzieren, statt diese aufzulösen (vgl. Breitenbach/Hagemann-White 1994: 256). Bettina Dausien fasst die Kritik an der
geschlechtsbezogenen Sozialisation mit folgenden drei Punkten zusammen:
(1) das Problem der Re-Naturalisierung und Reifizierung auf methodologischer Ebene, (2) die theoretische Konstruktion und Überfokussierung der Geschlechterdifferenz und (3) die Annahme einer eindeutigen, stabilen geschlechtlichen Identität (vgl. Dausien 2006: 25).
124
Die (De-)Thematisierung von Geschlechterhierarchien
Auch wenn die Kritik an der geschlechtsbezogenen Sozialisation mit theoretischen Perspektiven wie der Intersektionalität oder der Interdependenz sowie den Queer Studies – zumindest teilweise – entkräftet wird, gerät eine andere zentrale Problemstellung (fast) völlig aus dem Blick (vgl. Maihofer 2002:
15). Laut Andrea Maihofer werde folgende wichtige subjektorientierte Frage
entweder gar nicht mehr oder nur mehr in sehr reduzierter Form gestellt: Wie
wird in „diesen konkreten Gesellschaftsverhältnissen unter Bedingungen eines
hegemonialen Diskurses qualitativer, heterosexueller Geschlechterdifferenz
aus einem kleinen Wesen eine erwachsene ‚Frau‘ (und) oder ein erwachsener
‚Mann‘ […] und wie […] modifiziert [sich] dies im Laufe des Lebens“ (2002:
16). Diese Frage nach dem „Subjekt und seiner Geschichte“ (Dausien 2006:
17), also nach dem ‚Gewordensein‘ von Geschlecht, hat die Art und Weise im
Blick, wie in dieser Gesellschaft Individuen – die sich als Frau oder Mann
,geworden‘ und ,seiend‘ empfinden – existieren, sich verändern, handeln und
denken (vgl. Maihofer 1995: 108).
Vor diesem Hintergrund wird für die Sozialisationsdebatte vor allem die
Frage nach der Formation der Subjekte durch gesellschaftliche Diskurse relevant. Somit eröffnet sich auch die Perspektive auf das Zusammenwirken unterschiedlicher gesellschaftlicher Diskurse, mittels derer zentrale gesellschaftliche Normen transportiert werden und an denen sich die Individuen in ihren
Lebens- und Existenzweisen orientieren bzw. orientieren müssen. Auch die
oben dargestellten empirischen Befunde verdeutlichen, dass die Berücksichtigung der Diskurslogiken sowie miteinander konkurrierende und sich überlagernde konjunktive und kommunikative Erfahrungsräume eine wichtige Rolle
spielen, um die Bedingungen der Möglichkeiten von Subjektbildung genauer
in den Blick zu nehmen.
Insbesondere weil die soziokulturellen und diskursiven Rahmungen von
Sozialisation bislang wenig Beachtung fanden (Götsch 2014: 45), plädiere ich
dafür, dass die Analyse der gesellschaftlichen Diskurse und deren Einfluss auf
Wahrnehmungs-, Handlungs- und Bewertungsprozesse für die Sozialisationsfragen stärkere Berücksichtigung finden. Für eine kritisch reformulierte (geschlechtsbezogene) erziehungswissenschaftliche Sozialisationsforschung bedeutet dies, die gegenwärtigen gesellschaftlichen Diskurse und gesellschaftlichen Transformationsprozesse stärker in der theoretischen Konzeption wie
auch der empirischen Forschung aufzugreifen. Dies bedenkend, kann in Zeiten
neoliberaler Vereinnahmungen und Verkürzungen auch die Frage nach dem
sozialisatorischen Horizont der (De-)Thematisierung von Geschlecht neu verhandelt werden.
125
Sabine Klinger
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128
Paradoxien heteronormativer Sozialisation
Monika Götsch
Vor dem Hintergrund gegenwärtiger gesellschaftlicher Transformationsprozesse verweist Andrea Maihofer (2007: 281ff.) auf die Komplexität sowie paradoxe Gleichzeitigkeit von Wandel und Persistenz der Geschlechterverhältnisse, „von Chancen und Zwängen, von Ermächtigungen und Verunsicherungen“ (ebd.: 283). Diese paradoxen Gleichzeitigkeiten sieht sie als Phänomen
von historischen Umbruchphasen an, in denen „sich Altes, Neues und Zukünftiges noch unentschieden und uneindeutig auf komplexe Weise mischen“
(ebd.: 297f.). Es handelt sich dabei sowohl um verschiedene widersprüchliche
Prozesse als auch um Erscheinungen, die in sich selbst widersprüchlich sind.
Beispielhaft führt Andrea Maihofer (ebd.: 301) hierfür die „Relativierung von
Geschlechterdifferenzen einerseits und deren Re-Markierung andererseits“ an.
Zugleich verweist sie auf die zweischneidige Bedeutung moderner Paradigmen, wie der Möglichkeit der freien Wahl, die zunächst mit Freiheit, Individualität und Vielfalt verbunden scheint, aber zugleich Fremdbestimmung und
Ungleichheit bedeuten kann. Ein weiterer Widerspruch zeigt sich darin, dass
die Welt als sich stark verändernd wahrgenommen wird, aber das Soziale, folglich auch die Geschlechterverhältnisse in besonderer Weise naturalisiert und
ontologisiert werden. Angesprochen werden damit Paradoxien u.a. bezüglich
Geschlecht und Sexualität, mit denen Individuen und Kollektive in sozialisatorischen Prozessen konfrontiert sind bzw. die sie in sozialisatorischen Prozessen re-produzieren. Obwohl Sozialisation inzwischen als relativ variabel konzipiert wird (vgl. Bilden/Dausien 2006; Grundmann 2006; Hurrelmann et al.
2008), erscheint sie – insbesondere in Verbindung mit Heteronormativität – als
frei von Widersprüchen. Im Folgenden soll am Beispiel von Gruppendiskussionen mit Jugendlichen gezeigt werden, wie die Re-Produktion heteronormativen Wissens als sozialisierte und sozialisierende Praxen verstanden werden
Monika Götsch
kann und welche Paradoxien – in Anschluss an Andrea Maihofers Überlegungen – dieses Wissen offenbart. Zuvor wird zunächst aufgezeigt, auf welcher
theoretischen Grundlage bezüglich Heteronormativität und Sozialisation die
empirischen Ergebnisse interpretiert werden.
1 Heteronormatives Wissen
Heteronormativität bzw. die Interdependenz von Sexualität und Zweigeschlechtlichkeit wird hier als historisch-kulturelle Wissensformation verstanden, die Gesellschaft und Individuen in Machtverhältnissen strukturiert (Wagenknecht 2007: 16ff.; Degele 2004: 51ff.). Geschlecht und Sexualität werden
demnach in ihrer wechselseitigen Bezogenheit ‚gewusst‘ und in sozialisatorischen Praxen re-produziert. Es ist ein (implizites und explizites) Wissen über
gesellschaftliche Strukturen, über Kollektivitäten, Identitäten, Handlungs- und
Verhaltensweisen, über Orte und Körper, die erst durch dieses Wissen geschlechtlich-sexuell werden – dieses Wissen ist folglich produktiv. Prozesse
und Effekte von Sozialisation rufen demnach Zweigeschlechtlichkeit und Heterosexualität als Norm sowie Hierarchisierungen, Naturalisierungen und Normalisierungen hervor und werden durch sie hervorgerufen. ‚Wissen‘ definieren Berger und Luckmann (2004: 1) „als die Gewißheit, daß Phänomene wirklich sind und bestimmbare Eigenschaften haben“ (Berger/Luckmann 2004: 1).
Entsprechend bedeutet heteronormatives Wissen, was wir im Hinblick auf Geschlecht und Sexualität bzw. Vergeschlechtlichungen und (Hetero)Sexualisierungen für wirklich halten, was normiert und normalisiert (Hark 2009: 31; Wagenknecht 2007: 17). Es ist ein Wissen, das wir als ‚Wirklichkeit‘ selbstverständlich wissen, das keiner Erklärung bedarf und scheinbar von allen Individuen ‚natürlich‘ geteilt wird (Berger/Luckmann 2004: 26ff.; Hark/Genschel
2003: 136f.). So auch das Wissen über die soziale (heteronormative) Welt, die
als ‚objektiv‘ vorgegeben wahrgenommen wird – was Bourdieu als „Doxa“
(2009: 325) bezeichnet. Heteronormatives Wissen zeigt, dass und wie Individuen sowie Kollektive die Welt sinnhaft re-produzieren und systematisieren.
Referenzen hierfür sind alltägliche Aktualisierungen und Repräsentationen
von Geschlecht und Sexualität, von vergeschlechtlichten und (hetero)sexualisierten Strukturen sowie von Geschlechterdifferenz (Hirschauer 1996: 249;
Götsch 2014: 58f.).
Heteronormativität reguliert Geschlecht und Sexualität einerseits sowie
entsprechende Verhaltens-, Denk- und Wahrnehmungsweisen andererseits. In
spätmodernen Gesellschaften geschieht dies jedoch nicht mehr über Verbote
und Repression, sondern über Ein- und Ausschlüsse, über Normalisierung und
die Etikettierung als ‚Andere‘, d.h. über das Wissen, was richtig und falsch ist,
was (partiell und/oder auf bestimmte Weise) dazugehört oder nicht (Hark
130
Paradoxien heteronormativer Sozialisation
2009: 29; Engel 2008: 43; Berger/Luckmann 2004: 28). Heteronormativität ist
folglich „ein binäres, zweigeschlechtlich und heterosexuell organisiertes und
organisierendes Wahrnehmungs-, Handlungs- und Denkschema, das als
grundlegende gesellschaftliche Institution durch Naturalisierung von Heterosexualität und Zweigeschlechtlichkeit zu deren Verselbstverständlichung beiträgt“ (Degele 2004: 52). Zugleich reduziert Heteronormativität Komplexitäten, so dass Geschlecht und Sexualität für alle auf einfache, bipolare Weise
erkennbar und deutbar werden (Degele 2004: 52f.). Die ‚natürliche Tatsache‘
der Heterosexualität lässt auch die angenommene Dichotomie von Geschlecht
zur selbstverständlichen Natur werden und vice versa. Die scheinbar von Natur
aus Gegensätzlichen, Frau und Mann, ergänzen sich ideal als heterosexuelles
Paar und das heterosexuelle Paar bestätigt wiederum die vorgeblich naturgegebene bipolare und hierarchische Zweigeschlechtlichkeit. Entsprechend erfolgt die Ausgrenzung, Abwertung und/oder Hervorhebung nicht-heterosexueller Begehrensformen und uneindeutiger Geschlechtlichkeiten (Degele 2004:
51ff.; Ziegler 2008: 13ff.; Hark 2009: 29; Hark/Genschel 2003: 140). „Heteronormativität geriert sich somit als selbstverständlich gegebene, biologisch
begründete und moralisch überhöhte Regel, die alles, was ‚anders‘ ist, als erklärungsbedürftig, naturwidrig und verwerflich konstruiert, um in der Abgrenzung von diesen Anderen die Normalität des Doppelgebots von Geschlechterdifferenz und Heterosexualität zu bestätigen“ (Kraß 2009: 10). Ausgegrenzte
und als anders etikettierte Sexualitäten und Geschlechtlichkeiten sind demnach
für Heteronormativität konstitutiv (Butler 1997: 259f.). Darüber hinaus reguliert Heteronormativität auch Vorstellungen über die Organisation des Sozialen, über richtige und falsche Beziehungen, über (un)angemessene Arbeitsaufgaben und die Verteilung von Ressourcen: „Heteronormativität ist sämtlichen
gesellschaftlichen Verhältnissen eingeschrieben; auch Rassismus und Klassenverhältnisse sind heteronormativ geprägt“ (Wagenknecht 2007: 17). Folglich
bestimmt Heteronormativität immer auch über das Selbstverhältnis der Subjekte, sie ist Orientierungsrahmen für ‚normale‘ wie für ‚abweichende‘ Identitäten (Fritzsche/Hartmann 2007: 135).
2 Sozialisierende und sozialisierte Praxen
In der Geschlechter- wie in der Sozialisationsforschung steht seit längerem die
Annahme einer determinierenden Sozialisation und die damit verbundene Idee
der Ausbildung einer stabilen und kohärenten sexuellen und geschlechtsspezifischen Identität in der Kritik (Bilden 1991: 279ff.; Zinnecker 2000: 272ff.).
Im Anschluss daran wird Sozialisation hier als relativ variable verstanden, die
Heteronormativität in der Interdependenz subjektiv-identitärer und gesellschaftlich-historischer Dimensionen re-produziert. Dies knüpft an das Konzept
131
Monika Götsch
von lebenslanger Sozialisation als sozialer interaktiver Praxis an, wie es
Matthias Grundmann (2006) entworfen hat. Nach Grundmann bedingen sich
Identitäten und Kollektivitäten sowie Handlungen und Strukturen gegenseitig
– oder geschlechtertheoretisch gewendet: Heteronormative Strukturen und
Normalisierungen wirken auf Individuen wie Identitäten ein, während gleichzeitig Individuen und Identitäten heteronormative Verhältnisse (mit)gestalten
– egal ob affirmativ oder subversiv. Heteronormative Sozialisation stellt Vergemeinschaftungen und Beziehungen ebenso her wie individuelle (auch widerständige) Handlungsweisen und Haltungen, die entsprechende Kollektivität
erst ermöglichen und zugleich (soziale) Identitäten hervorrufen (Grundmann
1999: 55ff.). Sozialisation wird damit als Prozess und Effekt zugleich gedacht,
als sozialisierende und sozialisierte Praxen (Götsch 2014: 36ff.). Der Verweis
auf sozialisierende und sozialisierte Praxen ermöglicht es, Sozialisation als relativ brüchig und ergebnisoffen – ergo relativ stabil und ergebnissicher – zu
charakterisieren, als die Interdependenz von Prozessen und Effekten, die
Strukturen stabilisieren und soziale Integration befördern, aber auch die Eigensinnigkeit gegenüber vorgegebenen Normen zulassen (Grundmann 1999: 28;
Grundmann 2006: 51). Bezüglich Heteronormativität wird dann einerseits erklärbar, wie und dass Individuen zwar zu einer geschlechtlich-sexuellen Vereindeutigung ihrer Körperpraxen und Lebensweisen und damit zur Ausbildung
einer kohärenten Identität gezwungen zu sein scheinen, aber diese dennoch relativ variabel gestalten können. Andererseits lässt sich erfassen, dass und wie
sich Individuen heteronormativen Anforderungen widersetzen, dies aber dennoch nur in Referenz auf die vorherrschenden Normen und Normalisierungen
heterosexueller Zweigeschlechtlichkeit realisieren können (Maihofer 2002:
13ff.). Deutlich werden somit Paradoxien, die Sozialisation wie auch Heteronormativität bzw. heteronormativer Sozialisation inhärent sind. Erst ein Konzept von Sozialisation, das die relative Variabilität und gleichzeitig relative
Stabilität berücksichtigt, die in und durch sozialisatorische Praxen hervorgerufen werden, lässt es zu, die Re-Produktion heteronormativen Wissens in seinen
Widersprüchlichkeiten zu erfassen.
Sozialisierte und sozialisierende Praxen offenbaren und habitualisieren
sich in relativ regelmäßigen, sich wiederholenden Interaktionen zwischen Individuen bzw. in Interaktionen zwischen Individuen und ihrer (sozialen wie
materiellen) Umwelt. In und durch Aushandlungen von Normen, Regeln und
Bedürfnissen, in und durch den Austausch von Erfahrungen, Wissensbeständen und Handlungspraxen werden kollektive sozialisatorische Lebenspraxen
hervorgebracht. Sozialisation findet folglich insbesondere in sozialen Bezugsgruppen statt, die zugleich Effekte von Sozialisation in Verbindung mit gesellschaftlichen und milieuspezifischen Normen (der Beziehungs(un)möglichkeiten) sowie von individuellen Bedingungen sind (Grundmann 2006: 44; 98;
153). So gedacht verfügt Sozialisation nicht nur über verfestigendes, beständiges, sondern auch über konflikthaftes, fragiles Potential. Heteronormativitäten
132
Paradoxien heteronormativer Sozialisation
werden dann bedingt als situative Konstruktionen gefasst und zugleich als sozialisatorische (materialisierende) Effekte begriffen. Das schließt an Andrea
Maihofers (2002: 25) Verweis an, dass „Individuen […] nicht nur (unentwegt)
zu Geschlechtern [gemacht] werden: sie ‚sind‘ es dann auch bzw. existieren
als solche“. Sozialisierende und sozialisierte (interaktive) Praxen „sind für das
gemeinsame Verstehen der sozialen Beziehungen, mithin für die Entstehung
gemeinsamer Überzeugungen konstitutiv“ (Grundmann 2006: 41). Entsprechend lässt sich zeigen, dass und wie heteronormative (Beziehungs-)Praxen
sich über davon abweichende ‚andere‘, nicht-heteronormative (Beziehungs-)
Praxen realisieren (Götsch 2014: 187ff.). Die daraus angenommene gleiche soziale Lage, die so erlebt wie auch von außen zugeschrieben wird, schafft (kollektive) Identitäten, die diese Annahme wiederum hervorbringen.
Dies betrifft auch das heteronormative Selbstverhältnis als Frau oder Mann,
das sich durch Prozesse und Effekte der „Vereinheitlichung“ und „Vereigenschaftlichung“ (Maihofer 2002: 25) materialisiert und als Realität erlebt wird.
Entsprechend wird heteronormatives Wissen sozialisierend und sozialisiert inkorporiert. Sozialisation ist folglich immer auch eine soziale Körperpraxis. Der
Körper verkörpert das Soziale, indem Handlungsschemata und Strukturen
durch sich regelmäßig wiederholende Praxen wie Regeln und Rituale inkorporiert werden und zugleich sozialisatorische Praxen hervorrufen (Bourdieu
2005: 114ff.). Die Inkorporiertheit und Materialität heteronormativen Wissens
zeigt sich u.a. in einer spezifischen Bildförmigkeit: „Mächtige Visualisierungen sorgen für eine ständige Augenfälligkeit der Realität. Und über das, was
sich zeigt, braucht man nicht zu sprechen“ (Hirschauer1996: 247). Damit verweist Stefan Hirschauer auf die scheinbar offensichtlichen heteronormativen
Eindeutigkeiten, wie sie beispielsweise durch das (angenommen geschlechtsspezifische) körperliche Auftreten von Personen in sozialisatorischen Interaktionen sichtbar werden. Heteronormativität ist demnach auch sozialisiertes und
sozialisierendes Körperwissen, ein „Wissen vom Körper, im Körper und am
Körper“ (Hirschauer 2008: 83). Körperwissen bezieht sich demnach auf unbewusste und bewusste Aspekte. Eng damit verknüpft ist Sprache, die es erst
ermöglicht, Körper, Geschlecht und Sexualität im wiederholenden Benennen
zu re-produzieren (Butler 1997: 139 f.). Sprache als Medium der gegenseitigen
Verständigung, der Legitimierungen und Plausibilisierungen, des gemeinsam
geteilten Sinnwissens und der kollektiven Geschichte (Berger/Luckmann
2004: 39ff.) hat eine wichtige sozialisatorische Funktion. Dies zeigt sich u.a.
in spezifischen sozialisierten und sozialisierenden Praxen des Erzählens – wie
sie in den hier erörterten empirischen Ergebnissen deutlich werden.
133
Monika Götsch
3 Erzählte Paradoxien – paradoxe Erzählungen
Die hier vorgestellten Erzählungen über Heteronormativität stammen von insgesamt 51 Jugendlichen im Alter von 12–20 Jahren, die in 14 altershomogenen, geschlechtshetero- und homogenen Gruppendiskussionen sowie 11 biografisch-orientierten Einzelinterviews erhoben und mit der dokumentarischen
Methode (Bohnsack 2007: 31ff.; ebd. 129ff.) ausgewertet wurden. Alle Jugendlichen besuchten zum Erhebungszeitpunkt die gleiche Real- bzw. Berufsschule einer Kleinstadt im ländlichen Raum. Die folgenden Zitate sind Zitate
der Jugendlichen und sollen hier das Erläuterte auf der Deutungsebene der Jugendlichen illustrieren. Ein Orientierungsmuster der Jugendlichen ist dabei die
Unterscheidung – in Selbst- und Fremdpositionierungen – von Mädchen und
Jungen. Wenn im Folgenden von Mädchen und Jungen die Rede ist, dann um
diese erzählten Identitätskonstruktionen der Jugendlichen darzustellen.
Es zeigt sich, dass die Jugendlichen alters- und geschlechtsunabhängig immer wieder auf gleiche Thematisierungen und Erzählfiguren zurückgreifen,
um die geschlechtlich-sexuelle Welt zu erklären. Auf der Grundlage einer induktiven, komparativen Analyse der Gruppendiskussionen und Interviews mit
dem Ziel einer sinngenetischen Typenbildung (Nohl 2012: 51ff.; Kelle/Kluge
2010: 86) konnten sieben zentrale Erzählungen (s.u.) rekonstruiert werden. Die
Jugendlichen verdichten dabei heteronormative Orientierungsmuster in ihrer
Wiederholung zu mythenhaften Erzählungen. Erzählungen werden hier nicht
in Abgrenzung zu anderen Textsorten im Sinne Schützes (1987: 146ff.; für die
dokumentarische Methode s. Nohl 2012: 20ff.), sondern in Anschluss an die
Narratologie (vgl. Fludernik 2010) weiter gefasst, nämlich als narrative Interaktionsprozesse, d.h. als spezifische soziale und sozialisatorische Praxen verstanden. Erzählungen halten demnach sinnhafte und ordnende Erklärungs- und
Erkenntnismuster für das Verstehen der (heteronormativen) Welt bereit, die
u.a. im Rückgriff auf Analogien und Metaphern Zusammenhänge herstellen
und Kausalitäten begründen (Fludernik 2010: 9f.; Kabasci 2009). Anders als
bei Schütze (1987: 14) wird nicht die Rekapitulation biografischer Erfahrung
als Erzählung definiert, vielmehr haben die Erzählungen hier einen symbolischen Charakter: Sie dienen den Jugendlichen als Relevanzrahmen, um eigene
Erfahrungen bzw. die der anderen einzuordnen, zu bewerten und zu legitimieren. Das Erzählen ist zugleich Austausch und Rückversicherung des kollektiven heteronormativen Wissens, in Form von ‚Mythen‘ wird die soziale Welt
verständlich gemacht. „So beinhalten und vermitteln Mythen unter anderem
ein Verständnis von Macht und Moral sowie Schemata zur Klassifikation und
Bewertung von Anderen. Solche Konzepte haben großes Wirkungspotenzial,
sie liegen den Handlungen von Menschen […] zugrunde – in diesem Sinne
bilden Mythen einen integralen Bestandteil der Wirklichkeit“ (Mader 2008:
15). Mythen verstanden als tradierte Erzählungen (ebd.: 15ff.) legen in ihren
134
Paradoxien heteronormativer Sozialisation
Wiederholungen Sagbares offen bzw. verbergen Nicht-Sagbares. Dies scheint
zunächst auf eine kohärente Logik des erzählten heteronormativen Wissens zu
verweisen. Aber das Verschweigen dient nicht immer dazu, Erzählungen und
Benennungen ‚glatt zu bügeln‘, vielmehr widersprechen sich die verschiedenen Erzählungen bzw. sind in sich widersprüchlich und offenbaren damit Paradoxien sozialisierender und sozialisierter Praxen. Wie und wo diese Widersprüchlichkeiten bezüglich heteronormativen Wissens in Erzählungen von Jugendlichen zum Vorschein kommen, wird im Folgenden gezeigt.
Die sieben zentralen Erzählungen der Jugendlichen handeln: 1) „Von der
Sexualität ‚Früher‘ und ‚Heutzutage‘“, 2) „Vom Reif-Werden und (Un)ReifSein“, 3) „Vom optimierbaren Körper“, 4) „Von Geschlechterbeziehungen
zwischen Nähe und Distanz“, 5) „Von ernsthafter Liebe und ‚Sex‘ mit Spaß“,
6) „Von Prinzessinnen und Rittern“, 7) „Von der ‚Schlampe‘“ (Götsch 2014:
113ff.). Im Folgenden werden bezugnehmend auf diese Erzählungen, wie bereits angekündigt, insbesondere die Paradoxien in und zwischen diesen Erzählungen herausgearbeitet. Als Orientierung hierfür dienten neben den theoretischen Überlegungen von Andrea Maihofer (2007) auch die Anregungen Dominique Schirmers (2005: 108) für die empirische Analyse von Heteronormativität. Sie zeigt auf, dass Widersprüchlichkeiten für die Erklärung der (heteronormativen) Welt konstitutiv sind und durch die Interpretation von Widersprüchen entsprechende Orientierungsmuster aufgedeckt werden können.
4 Zwischen Pluralisierung und Differenz
Die Jugendlichen beschreiben in der Erzählung Von der Sexualität ‚Früher‘
und ‚Heutzutage‘ ‚moderne‘, pluralisierte Gesellschaften als geprägt von individuell wähl- und gestaltbaren sexuell-geschlechtlichen Vielfältigkeiten. Andererseits stellen sie – im Widerspruch dazu – in der Erzählung Von Geschlechterbeziehungen zwischen Nähe und Distanz dar, wie geschlechtlich-sexuelle
Differenzen in Beziehungen Nähe und Distanz regulieren. Implizit wird dem
die Naturhaftigkeit und damit die Unentrinnbarkeit von bipolarer Sexualität,
Geschlecht und Geschlechtlichkeit unterlegt.
Die Erzählung Von der Sexualität ‚Früher‘ und ‚Heutzutage‘ dient den Jugendlichen als Orientierungsrahmen, um Sexualität und Geschlechterbeziehungen in ihrer ‚modernen‘, vielfältigen Ausprägung im Vergleich zu herkömmlichen, differenzorientierten und restriktiven Vorstellungen einzuordnen. Demnach werden Geschlechterstereotype ‚heute‘ im Gegensatz zu ‚früher‘ obsolet, wenn Frauen in modernen Gesellschaften ihr Leben selbstständig
gestalten, erwerbstätig sind und sich für Technik interessieren, während Männer zugleich Fürsorgeberufe ausüben und nicht entlohnte Versorgearbeiten in
der Familie übernehmen. Durch gesellschaftlichen Wandel und Emanzipation
135
Monika Götsch
gibt es nun keine klar zugewiesenen Geschlechterrollen, keine geschlechtsspezifischen Aufgabenbereiche mehr, vielmehr ist es nun so, dass jede_r entsprechend ihre_r Fähigkeiten und Bedürfnissen leben kann, so „dass Frauen so und
so sind, und dass Männer so und so sind, und dass jeder verschieden ist“1 und
sein kann. Empathie, Beziehungsorientierung und Rationalität werden nicht
mehr geschlechtsspezifisch konnotiert, sondern: „es kommt auf den Typ
Mensch drauf an, wie er ist, wie er sich verhält, wie er lebt“. Dies gilt ‚heute‘
auch für sexuelle Präferenzen und Orientierungen, die ebenso selbstbestimmt
wählbar erscheinen: „Jeder hat seine Vorlieben, jeder muss wissen was er will,
manche stehen auf Männer, manche auf Frauen, manche stehen auf beides, wie
auch immer“. Maßstab für gelungene sexuelle Interaktionen und Beziehungen
sind die Verwirklichung individueller Bedürfnisse, Gleichberechtigung, Spaß
und Glück. „Jeder kann seine eigenen Entscheidungen treffen, wie er das
macht. Einer mag’s so, der andere so“.
Pluralisierung und freie Wahl wird in der Erzählung Von Geschlechterbeziehungen zwischen Nähe und Distanz nicht thematisiert, vielmehr geht es im
Gegensatz dazu um klare Regeln bezüglich der Möglichkeiten freund_innenschaftlicher Nähe und der Notwendigkeit von Distanz zu potenziellen Sexualpartner_innen. Dafür bedarf es einer eindeutigen Kategorisierung entlang geschlechtlich-sexueller Differenzen. Um die jeweiligen Spezifika freund_innenschaftlicher Beziehungen darzustellen, führen die Jugendlichen sechs Kategorien an und unterscheiden zwischen lesbischen Mädchen, schwulen Jungen, heterosexuellen männlichen Mädchen, heterosexuellen weiblichen Mädchen, heterosexuellen weiblich-sozialisierten Jungen und heterosexuellen
männlichen Jungen. Eine besondere Form freund_innenschaftlicher Intimität
ist demnach zwischen heterosexuellen (weiblichen) Mädchen möglich, weil
sie „dieselben Probleme“ haben und auf die gleiche Weise „weiblich denken“.
Darüber hinaus ist ein Spezifikum dieser Freund_innenschaften, dass sich heterosexuelle Freundinnen körperlich sehr nahe kommen können, ohne sexuell
zu werden: „Für die ist es selbstverständlich und nicht in irgendeiner Weise
erotisch oder intim, sondern einfach nur freundschaftlich“. Da schwule Jungen
in ähnlicher Weise ‚gleich‘ fühlen und handeln wie heterosexuelle Mädchen,
ist auch zwischen ihnen eine große Nähe möglich: „Also bei einem Mädchen
und einem schwulen Freund, der denkt dann auch ein Stück weit [gleich] und
dann kann man sich auch über Jungs mit ihm unterhalten“. Um diese Nähe zu
ermöglichen, ist es notwendig, dass sich der homosexuelle Junge als homosexuell zu erkennen gibt, da das Mädchen sonst die Nähe (hetero)sexuell statt
freund_innenschaftlich deuten würde. Implizit geschieht hier eine Normalisierung von Heterosexualität, weil Nähe zwischen Mädchen und Jungen zunächst
immer heterosexuell gedeutet wird und daher nur zwischen einander nicht potentiell Begehrenden möglich ist. Das ‚andere‘ Begehren, das homosexuelle
1
136
Dies und die folgenden Zitate sind Zitate der Jugendlichen. Um den Lesefluss nicht zu stören,
werden sie ohne Quellenangabe dargestellt.
Paradoxien heteronormativer Sozialisation
Begehren, muss explizit gemacht werden, um dann auch ‚andere‘ Formen der
Nähe (und Distanz) zulassen zu können. Entsprechend ist für heterosexuelle
Mädchen zu weiblich-sozialisierten Jungen zwar eine ‚geistige‘ Nähe auf der
Ebene des gegenseitigen Verstehens möglich, dennoch muss zu ihnen als potentielle Sexualpartner auch eine gewissen Distanz gewahrt werden.
In ähnlicher Weise wie zwischen heterosexuellen Mädchen wird auch die
freund_innenschaftliche Nähe zwischen heterosexuellen Jungen beschrieben:
„Wir denken halt gleich [wir] Männer“. Aber körperliche Nähe ist für sie nur
bedingt möglich: „Jungs dürfen nicht mit Jungs küssen“, weil sie anders als die
Mädchen sonst Gefahr laufen, als schwul kategorisiert zu werden. Der Hinweis
auf diese Gefahr zeigt erneut auf, dass in der Logik dieser Erzählung Sexualitäten und das geschlechtliche Handeln eindeutigen Regeln folgen, sie sind
nicht selbstbestimmt wählbar. Für Jungen sind zudem Freund_innenschaften
zu homosexuellen Mädchen möglich – ebenso zu heterosexuellen männlichen
Mädchen, die die gleichen Interessen haben und die „man […] auf den ersten
Blick besser verstanden“ hat. Entsprechend diskutiert das eine Gruppe: „Es
gibt ja auch manche Mädchen, die sind so ja männlich. Und sie können dann
auch so Quatsch machen mit den Jungs, und wenn sie dann mal mit Wasser
bespritzt werden, dann finden sie es zum Beispiel nicht so schlimm und lachen
halt“.
Deutlich wird in dieser Erzählung, dass die Einordnung als ‚gleich‘ versus
‚ungleich‘ eindeutige geschlechtlich-sexuelle Unterscheidungen braucht, womit heteronormative Kategorien (weiblich versus männlich, Frau versus Mann
sowie homosexuell versus heterosexuell) in besonderer Weise relevant gemacht werden. In der Logik der Erzählung Von ‚Früher‘ und ‚Heutzutage‘, in
der diese Relevanzen als tradiert zurückgewiesen werden, müssten im Gegensatz dazu Freund_innenschaften wie sexuelle Beziehungen in jeder Form und
mit allen auf jede erdenkliche Weise möglich sein.
5 Zwischen Gleichstellung und Hierarchisierung
Von ernsthafter Liebe und ‚Sex‘ mit Spaß ist u.a. eine Erzählung über die
Gleichstellung und Gleichberechtigung von Geschlechtern und Sexualitäten –
folglich werden sexuelle Interaktionen zur Aushandlungssache (vgl. Schmitt
1998: 11 f.). Im Widerspruch dazu beschreiben Von der ‚Schlampe‘ und Von
Prinzessinnen und Rittern, wie und dass heterosexuelle Mädchen und heterosexuelle Jungen als grundsätzlich Verschiedene in einer Hierarchie verortet
sind.
Die Erzählung Von ernsthafter Liebe und ‚Sex‘ mit Spaß unterscheidet zwischen Liebe, die von Ernsthaftigkeit geprägt ist, während sexuelle Aktivitäten
137
Monika Götsch
(ohne Liebe) darauf abzielen, Spaß zu haben. Egal in welchem Beziehungsarrangement sexuelle Interaktionen stattfinden, müssen diese zwischen den Sexualpartner_innen gleichberechtigt ausgehandelt werden. Bezüglich Sexualität
ist demnach „nichts unmöglich“, weil jede_r individuelle Vorlieben hat, jede_r
„mag es ja anders“. Ziel einer (hetero)sexuellen Begegnung ist, „dass beide
Beteiligte ihre sexuellen Bedürfnisse, dass die sexuellen Bedürfnisse befriedigt
werden“, d.h. dabei ihren Spaß haben. Damit keine_r benachteiligt wird und
die jeweiligen Grenzen gewahrt sowie die jeweiligen Wünsche erfüllt werden,
müssen sich die Sexualpartner_innen zunächst über die sexuelle Interaktion
verständigen: „dann kann man halt darüber reden und dann zusammen zu einem Schluss kommen“, oder: „das muss [man] halt schon klar sagen, was Sex
für einen ist und das auch vorher“. Schließlich müssen dann beide einvernehmlich ihr Einverständnis geben, wie die Partner_innen sexuell aktiv werden.
Die Erzählung Von der ‚Schlampe‘ handelt von der unterschiedlichen Bewertung promiskuitiven heterosexuellen Verhaltens von Mädchen und Jungen.
Während heterosexuelle Jungen dadurch aufgewertet werden, bedeutet es für
heterosexuelle Mädchen eine massive Abwertung. Jungen können deshalb
keine Schlampen sein, weil sie viele unterschiedliche heterosexuelle Erfahrungen machen müssen: „Jungs probieren halt mehr aus“ und „die Jungs haben
dann schon mehr Rechte irgendwie mal mit einer anderen was zu machen“.
Jungen brauchen diese Erfahrungen, um über das Ausprobieren schließlich die
große Liebe zu finden und in diese Beziehung die heterosexuellen Erfahrungen
einzubringen. Mädchen sollten dagegen nicht erfahrener sein als die Jungen,
weil das für diese eine Abwertung bedeuten würde. Wenn Mädchen als
‚Schlampen‘ diffamiert werden, haben sie keine Chance mehr, einen festen
Partner zu finden. Das bedeutet, ‚Schlampen‘ haben die Funktion, den Jungen
heterosexuelle Erfahrungen zu ermöglichen und zugleich den „guten Mädchen“ zu garantieren, dass diese von den Erfahrungen der Jungen profitieren
und vor Promiskuität geschützt werden: „Wenn es keine Schlampen mehr geben würde, dann würde man die guten Mädchen gar nicht mehr schätzen“.
Die Erzählung Von Prinzessinnen und Rittern zeigt auf, dass und wie heterosexuelle Mädchen auf ‚ritterliche‘, d.h. rücksichtsvolle Jungen angewiesen
sind, damit ihre vorgeblich naturgegebenen, (hetero)sexuellen Bedürfnisse befriedigt werden. Diese vorgeblichen Bedürfnisse der Mädchen sind Zärtlichkeit und Zeit bei sexuellen Interaktionen. Zugleich wird den Jungen zugeschrieben, dass sie (hetero)sexuelle Beziehungen initiieren müssen. Wenn die
Mädchen Glück haben, ist ihr Sexualpartner, von dem sie ausgewählt wurden,
empathisch, „voll fürsorglich“ und ein „ganz sensibler Mann“, dann wird er
ihre Wünsche wahrnehmen und darauf eingehen. Haben sie kein Glück und ihr
Sexualpartner ist ein „Macho“, „lieblos“, „rabiat“ und „sehr grob“, wird er nur
auf seine eigene sexuelle Befriedigung abzielen. Mädchen scheinen dem Glück
138
Paradoxien heteronormativer Sozialisation
oder Unglück schicksalhaft ausgeliefert zu sein, die Möglichkeit, ihre Bedürfnisse einzufordern oder den Sexualpartner aktiv auszuwählen, wird nicht erzählt.
Die Jugendlichen erzählen (Hetero)Sexualität zunächst als Aushandlungssache zwischen gleichberechtigten und individuellen Partner_innen einerseits,
und andererseits beschreiben sie in weiteren Erzählungen, im Widerspruch
dazu, Mädchen als passiv und Jungen als aktiv, was durch entsprechende Beund Entwertungen gestützt wird. Wer so eindeutig unterschieden und in einer
Hierarchie verortet wird, kann dann aber sexuelle Interaktionen nicht mehr
selbstbestimmt aushandeln, vor allem dann nicht, wenn unbedingte Passivität
(von heterosexuellen Mädchen) und unbedingte Aktivität (von heterosexuellen
Jungen) zur Norm erhoben werden.
6 Zwischen Sozialität und Naturalisierung
Die Jugendlichen erzählen Vom Reif-Werden und (Un)Reif-Sein als jugendspezifische Reifeentwicklung, die sie ambivalent sowohl sozialisatorischen wie
biologischen Wirkungen zuschreiben. In ähnlich widersprüchlicher Weise
wird Vom optimierbaren Körper erzählt, der einerseits (geschlechtliche) Natur,
andererseits in jeglicher Hinsicht entsprechend sozialer Notwendigkeiten veränderlich ist.
Die Erzählung vom Reif-Werden und (Un)Reif-Sein setzt sich mit der Jugendphase auseinander, die als spezifische Phase der ‚Reifeentwicklung‘ bezüglich Sexualität und Geschlecht erzählt wird. Möglichkeiten und Grenzen
von ‚Reife‘ werden hierbei sowohl alters- wie auch milieuspezifisch definiert
– also auf vorgeblich naturgegebene wie auf soziale Bedingungen bezogen.
Reifeentwicklung bedeutet in der Fortschrittslogik der Jugendlichen, ein ganz
und gar zivilisierte_r und moderne_r Mensch zu werden. Je nach sozialer und
ethnischer Zugehörigkeit wird ein unterschiedlicher Reifegrad erreicht, zugleich bedingt das Alter (Un)Reife: „Eine Zwölfjährige ist doch total unreif“.
Vollkommene Reife bedeutet demnach, (heterosexuelles) Begehren auszubilden („die Reife erlangt man ja mit der Zeit einfach selber, dass man den bestimmten Stellenwert für Sex sag ich mal einfach festigt“), verantwortungsvolle (sexuelle) Beziehungen einzugehen und Toleranz gegenüber nicht-heterosexuellen Lebensweisen auszubilden. Vor allem diese Toleranz muss aktiv
gelernt werden: „Es ist ja oft so, dass man sich Sachen bei anderen abschaut,
dass man einfach Leute sieht, die sagen: ja soll doch jeder machen was er will,
oder soll doch jeder schlafen mit wem er will. Und dass man einfach, wenn
man eine bestimmte Reife erlangt hat, einfach sagen kann, he Moment, das ist
eigentlich ganz sinnvoll, solche [homosexuellen] Leute nicht anders zu behandeln, sondern einfach normal zu behandeln“. Implizit liegt dem die Annahme
139
Monika Götsch
einer naturgegebenen Heterosexualität zugrunde, die einfach da ist, die ganz
selbstverständlich zu dieser Toleranz ermächtigt, während Homosexualität auf
diese Toleranz angewiesen ist. Intoleranz gegenüber Homosexualität bzw. Homophobie wird zugleich als Zeichen von Unreife gedeutet.
In der Erzählung über das Reif-Werden und das (Un)Reif-Sein wird deutlich, dass Mädchen anders als Jungen in besonderer Weise von Unreife betroffen sind. Für Mädchen wie Jungen gehört die (hetero)sexy Inszenierung zur
Reifeentwicklung. Während die Mädchen dabei aber zunächst scheitern („ich
hab’s immer versucht, aber es hat nicht hingehauen“), gelingt dies Jungen
problemlos, indem sie „halt öfter in den Spiegel“ schauen. Es sind dann auch
die Mädchen, die Gefahr laufen, sich zu früh zu heterosexuellen Aktivitäten
drängen zu lassen. Sie „sind so naiv noch ein bisschen […] das denkt man, der
Junge liebt dich wirklich über alles und dann ist es später doch nicht so und er
will dich nur ins Bett kriegen“. Jungen hingegen initiieren zu früh nicht ernsthafte (hetero)sexuelle Aktivitäten. Selbst in ihrer Unreife werden sie zu einem
sich idealiter ergänzenden heterosexuellen Paar: das passive, zu früh verführte
Mädchen und der aktive, zu früh verführende Junge.
Vom optimierbaren Körper erzählt über die Möglichkeiten der Optimierbarkeit und die Optimierungsnotwendigkeiten des Körpers einerseits, andererseits über das Körperschicksal der Mädchen, dem sie naturgegeben ausgeliefert scheinen. Zunächst wird der Körper als veränderliche Hülle (durch Schönheits-OPs, ‚Geschlechtsumwandlung‘ und Körperinszenierungen) mit einem
unveränderlichen ‚Innen‘ konzipiert. Dieses Innere meint Gefühl und Psyche
und betrifft auch die eigentliche, konstante Geschlechtlichkeit. Das Körperäußere, das sichtbare Körpergeschlecht wird hingegen aufgrund seiner Veränderungsmöglichkeiten nicht mehr als zuverlässig dargestellt. Geschlecht wird
damit zunächst nicht über den sichtbaren Körper naturalisiert, sondern über das
Innere, „das Selbst“, „das Eigentliche“ einer Person. Zur (u.a. geschlechtlichen) „Selbstfindung“ muss die Körperhülle demnach dem Inneren angepasst
werden. Ziel ist die (geschlechtliche) Vereindeutigung, die Kohärenz von Innen und Außen, die nicht selbstverständlich naturgegeben scheint. Das betrifft
sowohl Trans*Personen wie auch Frauen mit zu kleinen Brüsten, Menschen
mit zu großen Nasen oder auch die (hetero)sexy Inszenierung – es sind immer
notwendige heteronormative Optimierungen. Zugleich und widersprüchlich
dazu wird der Mädchenkörper als unveränderliche Natur konzipiert, dem die
Mädchen von Natur aus unentrinnbar, schicksalhaft ausgeliefert sind: „wir
werden schwanger, wir kriegen unsere Tage“. Zudem hat die Natur den Mädchenkörper zu einem gefährdeten gemacht: Mädchen sind sexualisierter Gewalt ausgeliefert und zu schwach, sich körperlich dagegen wehren zu können.
In diesen beiden Erzählungen wird offensichtlich, dass und wie sexuellgeschlechtliche Phänomene, insbesondere der Körper, in ambivalenter Weise
sowohl der Natur wie der Kultur zugeschrieben werden und damit als (un)veränderlich bestimmt werden. Veränderlichkeit suggeriert die Kontingenz von
140
Paradoxien heteronormativer Sozialisation
Geschlechtlichkeit, Sexualität und Körper – aber der Mädchenkörper erscheint
naturgegebener als der Jungenkörper und dennoch bedarf der Mädchenkörper
größerer Optimierungsanstrengungen, um heteronormativ ‚richtig‘ zu sein.
7 Sozialisatorische Paradoxien –
paradoxe Heteronormativität
Referenzrahmen ist für die Jugendlichen die bipolare Geschlechtlichkeit von
Frauen und Männern, sowie daraus logisch folgend die Normalität der Heterosexualität. Auch wenn sie Körper, Geschlechtlichkeiten und Sexualitäten in
Teilen pluralisiert und veränderlich denken, so geschieht dies immer in Bezug
zu heteronormativen Grundannahmen. Die Jugendlichen aktualisieren Heteronormativität und variieren bzw. modifizieren sie zugleich. Das verweist auf
eine sozialisatorische Bewegung bzw. sozialisierte und sozialisierende Praxen
heteronormativen Wissens, die in sich widersprüchlich-komplex sind. Die Jugendlichen re-produzieren damit mutmaßlich Gleichzeitigkeiten, wie sie in gesellschaftlichen Diskursen und für sie in gelebten (sexuellen) (Geschlechter)Beziehungen zum Vorschein kommen. Da ist einerseits das Reden über
Gleichstellung, das Negieren der Relevanz von Geschlecht und zugleich das
Bestehen auf (naturgegebenen oder sozialisierten) Geschlechterdifferenzen.
Da ist andererseits Erwerbs- und Versorgearbeit meist geschlechtsspezifisch
segregiert, Männer verdienen mehr als Frauen, und zugleich wird die Möglichkeit der freien, geschlechtsunabhängigen Wahl suggeriert und teilweise auch
gelebt. Da wird Homosexualität in öffentlichen Foren normalisiert und zugleich wird ‚normale‘ Sexualität mit Heterosexualität gleichgesetzt. Wie sollte
da heteronormative Sozialisation nicht paradox sein?
Ähnlich wie Luc Boltanski und Ève Chiapello (2006) dies für den ‚neuen‘
Kapitalismus konstatieren, scheint auch die feministische Kritik an der Naturalisierung von Geschlechterhierarchie und -differenz sowie die damit verbundene Forderung, Geschlecht und Sexualität als sozial hergestellt und als in ihren Vielfältigkeiten gleichwertig zu begreifen, produktiv vereinnahmt und umgedeutet zu werden, ohne Heteronormativität als Normalisierungsdirektiv aufzugeben. Sozialisation in ihrer Verschränkung identitärer und soziokultureller
Dimensionen ermöglicht es, komplexe und widersprüchliche (heteronormative) Identitäten in Abgrenzung zu ‚Anderen‘ und in der Normalisierung des
Eigenen herzustellen und diese Identitäten kontextspezifisch adäquat zu aktualisieren. Für die Jugendlichen hat dies die Funktion, sich je nach Anforderung
eher als ‚modernes‘, tolerantes Subjekt (so beispielsweise in der Schule) oder
als insbesondere normale heterosexuelle Mädchen und Jungen (beispielsweise
in der Peergroup) positionieren zu können. Und: Sie können pluralisierte und
zugleich heteronormative Subjekte ‚sein‘.
141
Monika Götsch
Für Sozialisierte und sozialisierende Praxen bedeutet dies, dass diese sich
in den Spannungsfeldern zwischen Pluralisierung und Differenz, zwischen
Gleichstellung und Hierarchisierung sowie zwischen Sozialität und Naturalisierung bewegen. Sozialisatorische Anforderungen sind nicht (mehr) darauf
ausgerichtet, Geschlecht und Sexualität entweder als different, hierarchisch
und naturgegeben oder als pluralisiert, gleichgestellt und sozialisiert zu re-produzieren. Sozialisatorische Anforderungen verlangen vielmehr einen angemessenen und flexiblen Umgang mit dem ‚sowohl als auch‘, ohne jedoch (heteronormative) Machtverhältnisse in Frage zu stellen.
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Monika Götsch
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144
Offener Teil
Neue Konstellationen für Männlichkeitsentwürfe –
Potentiale einer in der Paarbeziehung geteilten
Elternschaft für Entwicklungsmöglichkeiten
von Jungen und jungen Männern
Karin Flaake
1 Sozialisation und Geschlecht in Familien –
Vorbemerkungen
Sozialisationsprozesse in Familien sind – so die Perspektive psychoanalytischsozialwissenschaftlicher Ansätze – von Anbeginn an auch von geschlechtsbezogenen Gehalten geprägt: Phantasien, die mit dem Geschlecht des Kindes verknüpft sind, gehen schon vorgeburtlich in Erwartungshaltungen der Eltern ein
und strukturieren dann – oft entgegen bewusster Intentionen – frühe Beziehungsmuster (vgl. zusammenfassend Rendtorff 2003: 56ff.). Sobald Kinder
über die sozialen Kategorien der Geschlechterdifferenzierung und der eigenen
Geschlechtszugehörigkeit verfügen, spielen zudem doing gender-Prozesse –
das Sich-Präsentieren als Mädchen oder Junge gemäß kulturell vorherrschenden Geschlechterbildern – eine Rolle (zur Bedeutung der Praktiken der Geschlechtsunterscheidung vgl. z.B. Kelle 2006).
Als strukturierende Rahmenbedingung für Sozialisationsprozesse in der
Familie fungiert zudem eine gesellschaftliche Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern, in der es überwiegend Frauen sind, die für die frühe Betreuung
und Versorgung ihrer Kinder zuständig sind. An dieser Zuständigkeit hat sich
in den vergangenen Jahrzehnten in der BRD trotz Veränderungen in geschlechtsbezogenen Zuweisungs- und Ungleichheitsmustern und in den Leitbildern für Geschlechterbeziehungen in Familien wenig verändert. So engagieren sich viele Männer zwar sehr viel stärker als noch ihre Väter im Bereich von
Kinderbetreuung und -erziehung1, Studien zur geschlechtsbezogenen Zeitverwendung zeigen jedoch, dass Frauen weiterhin den überwiegenden Anteil der
1
Ein Indikator für solche Tendenzen ist die von Vätern in Anspruch genommene Möglichkeit,
nach der Geburt eines Kindes die Erwerbstätigkeit zu unterbrechen. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes haben 27,3 Prozent der Väter der 2011 geborenen Kinder Elterngeld
bezogen. Es zeigen sich allerdings auch Grenzen der Beteiligung von Vätern an der frühen
Kinderbetreuung: Drei von vier Vätern (77 Prozent) erhielten das Elterngeld für maximal
zwei Monate, lediglich knapp sieben Prozent haben das Elterngeld für zwölf Monate in Anspruch genommen. Geschlechtsbezogene Ungleichheiten in der Nutzung des Elterngeldes
Karin Flaake
Familienarbeiten übernehmen und insbesondere in den ersten Lebensmonaten
und -jahren die zentralen Bezugspersonen für ihre Kinder sind (vgl. zusammenfassend Rusconi/Wimbauer 2013; Wippermann 2014). Es ist naheliegend,
dass eine solche Konstellation Auswirkungen auf Sozialisationsprozesse hat.
So weist die Soziologin und Psychoanalytikerin Ilka Quindeau – Analysen der
US-amerikanischen Sozialwissenschaftlerin und Psychoanalytikerin Nancy
Chodorow aus den 1980er Jahren (Chodorow 1985) differenzierend aufgreifend (Quindeau 2013) – darauf hin, dass Kinder beiderlei Geschlechts, Jungen
ebenso wie Mädchen, Wünsche nach emotionaler und körperlicher Nähe und
Geborgenheit – auch gestützt durch gesellschaftliche Mutterbilder – an die
Mutter, eine Frau, binden und bei gelingenden Interaktionen Entsprechendes
wesentlich mit ihr erleben, während Väter eher für Abgrenzung und Distanzierung, für aktive Weltaneignung und Autonomie stehen.2 Für Jungen ist damit
– unter Bedingungen einer gesellschaftlichen Differenzierung der Geschlechter, die stärker auf Entgegensetzung als auf Ähnlichkeit basiert – eine spezifische Anforderung verbunden: Um im gesellschaftlichen Sinn männlich zu werden, um sich einer sozial akzeptierten Männlichkeit zu versichern, müssen im
Verlauf des Heranwachsens, insbesondere in der Adoleszenz, weiblich konnotierte Anteile aus dem Selbstverständnis und der Selbstdarstellung ausgeschlossen werden. Frühe Identifizierungen mit als mütterlich und damit weiblich konnotierten Anteilen konfligieren mit einem positiv besetzten Selbstbild
als Junge und Mann, „andersgeschlechtliche Identifizierungen [fallen] bei der
Ausbildung der Geschlechtsidentität […] der Verdrängung anheim“ (Quindeau 2013: 187). Damit ist die innerpsychische Basis dafür gegeben, dass Fürsorge, liebevolle Bezogenheit und Verantwortung für familiale Alltagsaufgaben – in geschlechtertheoretischen Analysen unter dem Begriff „care“ gefasst
– weiterhin wesentlich als Terrain von Frauen gesehen werden und entsprechend in die gesellschaftliche Geringerbewertung des den Frauen Zugewiesenen und als weiblich Konnotierten eingebunden sind (vgl. z.B. Brückner 2015;
Fleßner 2013).
Im Folgenden geht es auf der Basis einer empirischen Studie um die auf
die Sozialisation von Jungen und jungen Männern bezogenen Potentiale einer
Familienform, in der sich Mütter und Väter von Anbeginn an die Verantwortung und Zuständigkeit für Familienaufgaben – die Betreuung und Versorgung
der Kinder sowie die Hausarbeiten – geteilt haben und die Frauen kontinuierlich erwerbstätig waren. In einer solchen Konstellation haben Jungen die ersten
2
148
zeigen sich durch einen Vergleich mit den Frauen: 95 Prozent der Mütter bezogen Elterngeld,
in neun von zehn Fällen für zwölf Monate. Verdeutlicht werden diese Ungleichheiten auch,
wenn man die Zahl der das Elterngeld nicht in Anspruch nehmenden Väter benennt: Es sind
72,7 Prozent (Statistisches Bundesamt 2013). 2012 hat sich der Anteil der Väter, die Elterngeld bezogen, etwas erhöht (auf 29,3 Prozent), die durchschnittliche Bezugsdauer hat sich
jedoch verkürzt: 78,3 Prozent erhielten das Elterngeld für maximal zwei Monate.
Zu den psychisch strukturierenden Funktionen von Vater und Mutter und den darin enthaltenen kulturtypischen Elementen vgl. Rendtorff 2003: 99f.
Neue Konstellationen für Männlichkeitsentwürfe
oft prägenden Beziehungserfahrungen mit Personen beiderlei Geschlechts gemacht, sie haben körperliche und emotionale Nähe nicht nur mit einer Frau,
der Mutter, sondern auch mit einem Mann, dem Vater erfahren. Es geht um die
Frage, inwieweit diese veränderten Rahmenbedingungen in der Familie für die
Söhne Geschlechterbilder ermöglichen, in denen – über die Erfahrung liebevoll-versorgender Zuwendung des Vaters – Fürsorglichkeit, liebevolle Bezogenheit und Verantwortung für familiale Alltagsaufgaben auch als Elemente
einer positiv besetzten Männlichkeit gesehen und in eigene Identitätsentwürfe
integriert werden können. Zentrale Bedeutung für entsprechende Entwicklungen von Jungen und jungen Männern haben dabei die Verhaltensmöglichkeiten
der Eltern: Inwieweit ist es ihnen in der Beziehung zu ihren Söhnen möglich,
sich auf eine Weise zu verhalten, die zu einer Verflüssigung tradierter Geschlechterkonstruktionen beitragen kann? Im Zentrum der folgenden Überlegungen stehen dabei insbesondere die innerpsychischen Herausforderungen,
die für Väter und Mütter mit einem Konzept von paritätischer Elternschaft verbunden sind: jene Prozesse, über die sich trotz veränderter Familienkonstellation eine Weitergabe tradierter Orientierungen vollziehen kann, sowie Elemente der Prozesse, die einer Verflüssigung tradierter Geschlechterkonstruktionen zuträglich sein können.
2 Zur Studie
Die folgenden Analysen sind Teil einer umfassenderen Studie zu Familiendynamiken und Sozialisationsprozessen in Familien mit einer in der Paarbeziehung geteilten Elternschaft (zu Dynamiken in der Paarbeziehung und Entwicklungsmöglichkeiten der Töchter vgl. die ausführliche Darstellung der Ergebnisse in Flaake 2014).
In die Untersuchung einbezogen sind zwölf Familien, in denen sich die Eltern von Anbeginn an die Verantwortung für die Betreuung, Versorgung und
Erziehung der Kinder sowie die Hausarbeiten geteilt haben. Den Frauen hat
diese Aufgabenteilung mit dem Partner eine kontinuierliche Erwerbstätigkeit
ermöglicht. Es sind heterosexuell lebende Familien aus einem städtisch orientierten westdeutschen Mittelschichtmilieu mit hohem Ausbildungsniveau und
ohne Einwanderungsgeschichte, zudem Familien, in denen eine ausreichende
finanzielle Basis für die Realisierung partnerschaftlicher Elternschaftsvorstellungen und die Möglichkeit zu Teilzeitarbeit oder flexiblen Arbeitszeitgestaltungen gegeben ist.3 Befragt wurden Mütter und Väter sowie deren Söhne und
3
Bezogen auf die Väter wurde als Kriterium für die Auswahl der Familien festgelegt, dass sie
sich – nach eigenen Angaben und denen der Partnerin – schon frühzeitig mindestens ebenso
149
Karin Flaake
Töchter, die zwischen 13 und 27 Jahre alt und damit in einer lebensgeschichtlichen Phase waren, in der sich Geschlechterbilder und geschlechtsbezogene
Identitäten neu konstellieren bzw. schon konstelliert haben. Die Familienmitglieder wurden getrennt voneinander auf der Grundlage eines flexibel zu handhabenden Leitfadens befragt, in dem lediglich zentrale Themenbereiche aufgeführt waren. Zur Auswertung der Interviews diente eine Verbindung von
psychoanalytisch orientiertem mit einem textanalytischen Vorgehen. In einem
ersten Schritt wurden nach einem psychoanalytisch orientierten Verfahren
zentrale Muster und Themen der Interviews und der Familien herausgearbeitet.
Dabei waren neben den manifesten Gehalten der Interviews auch Irritationen,
die sich an Besonderheiten des Textes festmachen ließen, und die Dynamiken
in der Interpretationsgruppe Mittel zum Verstehen. Auf diese Weise war es
möglich, auch latente, nicht bewusste Gehalte herauszuarbeiten. In einem
zweiten Schritt wurden diese Muster und Themen als Vermutungen benutzt,
die es durch ein genaues textanalytisches Vorgehen zu bestätigen oder aber zu
modifizieren bzw. abzulehnen galt (zur Methode vgl. Flaake 2014; Frommer
2007; Klein 2000). Auf dieser Basis wurde für jede Familie eine ausführliche
Fallstudie erarbeitet, in der es sowohl um die Dynamiken in der Paarbeziehung
als auch um die Interaktionsmuster zwischen den Vätern bzw. Müttern und
ihren Söhnen bzw. Töchtern geht.
Die Fokussierung auf Familien aus einem nicht migrantisch geprägten Mittelschichtmilieu lässt keine Aussagen über allgemeinere Orientierungsmuster
von Paaren in der BRD zu, die sich um eine in ihrer Beziehung geteilte Elternschaft bemühen. Es lassen sich jedoch Aussagen über mögliche Problemkonstellationen machen, auf die Frauen und Männer treffen, wenn sie in ihrer Familie andere als die gesellschaftlich vorherrschenden Formen geschlechtsbezogener Aufgabenverteilungen leben wollen. Deutlich werden können die Herausforderungen, die für Frauen und für Männer mit einer Verflüssigung traditioneller geschlechtsbezogener Zuweisungen verbunden sein können, sowie
unterschiedliche Umgehensweisen mit diesen Herausforderungen.
umfassend wie die Mütter an der Kinderbetreuung und -erziehung sowie der Hausarbeit beteiligt haben. An Berufen der Mütter und Väter sind vertreten: Tätigkeiten als Lehrende an
Schulen oder in anderen Ausbildungsbereichen, z.B. der Erwachsenenbildung, andere Tätigkeiten im öffentlichen Dienst, meist in höheren Positionen, Tätigkeiten im sozialpädagogischen Bereich, leitende Funktionen in privatwirtschaftlichen Unternehmen und Arbeiten als
Selbstständige im Familienunternehmen.
150
Neue Konstellationen für Männlichkeitsentwürfe
3 Vater-Sohn-Beziehungen und innerpsychische
Herausforderungen für Väter: Weitergabe eigener
erlebter Begrenzungen und Veränderungsmöglichkeiten
In den in die Untersuchung einbezogenen Vater-Sohn-Beziehungen zeigen
sich Erweiterungen tradierter Geschlechterbilder neben Beharrungstendenzen.
So schafft die zeitlich umfassende und kontinuierliche Anwesenheit des Vaters
in der Familie neue Formen der Nähe und Verbundenheit zwischen Vätern und
Söhnen, eine Vertrautheit miteinander, die sich in Familien, in denen die Väter
durch eine vollzeitige Erwerbstätigkeit in geringerem Maße für ihre Kinder
präsent sind, nur schwer entwickeln kann (zu Vater-Sohn-Beziehungen in Familien mit vollzeitiger Erwerbstätigkeit des Vaters und Zuständigkeit der Mutter für Familienarbeiten vgl. Flaake 2005). Ein 22-jähriger junger Mann schildert die gute Beziehung zu seinem Vater vor dem Hintergrund der Erfahrungen
in den Familien seiner Freunde, in denen die Väter weniger anwesend sein
können: „Die haben nicht so ’n unsichtbares Band zum Vater, so dass man
immer wieder nach Hause kommt. Und sich nicht so lange hinsetzt und so
lange redet, über alles, über Gott und die Welt. Da hätte ich nicht so ’n gutes
Verhältnis zu meinem Vater, und man würde sich nicht so schätzen.“ Ähnlich
äußert sich der 24-jährige Bruder: „Er [der Vater, K.F.] war immer da. Das war
toll.“ In einigen Interviews wird deutlich, dass die Voraussetzung für eine liebevolle, vertraute Beziehung zum Vater der Zeitfaktor ist: Ohne die Möglichkeit, viel Zeit mit dem Vater zu verbringen, hätte sich – so wird betont – keine
so intensive Beziehung ergeben. „Dadurch dass er sehr viel zu Hause ist, können wir viel zusammen machen. Sonst wäre das Verhältnis ganz anders. Ich
glaube, dann würde ich mich gar nicht an meinen Vater wenden mit irgendwelchen Fragen“, berichtet ein 18-jähriger junger Mann, und ähnlich ein
20-jähriger: „Sonst hätte ich ’ne größere Distanz zu meinem Vater. Wenn er
voll gearbeitet hätte, wär das ’ne sehr abwesende Rolle gewesen. So war es
schön.“
Zugleich werden in den meisten der untersuchten Vater-Sohn-Beziehungen
jedoch Begrenzungen deutlich, wenn es um eine zärtlich-liebevolle körperliche Nähe und ein Sich-weich-und-verletzlich-Zeigen geht, Begrenzungen, die
sowohl einige Söhne als auch Väter mit Bedauern schildern. So beschreibt ein
22-jähriger junger Mann seinen Vater als „unnahbar“, als „verschlossenen
Menschen“, der „sehr sparsam“ mit Umarmungen und anderen Gesten der Zuneigung ist. „Mein Vater redet nicht viel. Er ist nicht so aufgeschlossen und
zeigt nicht so seine Gefühle. Dadurch haben wir nie über das, was uns bewegt,
gesprochen“, schildert er eine emotionale Distanz, die sich trotz der umfassenden Präsenz des Vaters von Anbeginn an und zahlreicher von beiden als befriedigend erlebter gemeinsamer Alltagsunternehmungen herausgebildet hat.
„Dass das Körperliche dann doch so zwischen den Männern ziemlich selten
151
Karin Flaake
vorkommt“, kennzeichnet ein Vater die Beziehung zwischen sich und seinen
Söhnen, „Bemitleiden oder Betüddeln, das war nicht so mein Ding“, ergänzt
er selbstkritisch.
In vielen der untersuchten Vater-Sohn-Beziehungen sind Aktivitäten wichtig, in denen der Wunsch zum Ausdruck kommt, sich einer gemeinsamen
Männlichkeit zu versichern. Große Bedeutung haben männlich konnotierte Bereiche wie Fußball und abenteuer- und risikoreiche Unternehmungen, zudem
spielerisch-aggressive Wettkämpfe, in denen Väter und Söhne ihre Kräfte miteinander messen. In diesen Aktivitäten sind liebevolle Seiten enthalten, jedoch
auf eine spezifische Weise: Nähe und Verbundenheit werden begrenzt durch
ihre Einbindung in Gegenteiliges, in oft konkurrenzorientierte, aggressive und
damit Abgrenzung schaffende Verhaltensmuster. So ist es auch in Vater-SohnBeziehungen, in denen die Väter ihre kleinen Söhne schon früh betreut und
versorgt haben, nicht leicht, zu einem veränderten Verständnis von Männlichkeit zu finden, in dem auch eine zärtlich-liebevolle körperliche Nähe untereinander und das Zeigen weicher, verletzlicher Seiten Raum haben.
In zahlreichen Interviews mit Vätern wird eine Weitergabe von Begrenzungen in Vater-Sohn-Beziehungen über die Generationen hinweg deutlich. Nahezu alle Väter beschreiben, dass sie ihren eigenen Vater als wenig liebe- und
verständnisvoll erlebt und das als Mangel empfunden haben. „Liebevolle Gesten gab es so gut wie keine, da war nie so ’ne Zuneigung da“; „Ich hätte mir
mehr Vaterliebe und Anerkennung gewünscht“; „Dass man sich auch umarmen darf, das hab ich bei meinem Vater nie kennengelernt, da hieß es, ein
Junge weint nicht, ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich getröstet worden bin“, sind typische Schilderungen von Vätern über ihre Beziehung zum
eigenen Vater. „Von daher war dieses Sven in den Arm nehmen immer so ’n
bisschen verhalten“, verbindet ein Vater seine körperliche Distanz zum Sohn
mit eigenen Erfahrungen: „Ich hab körperliche Berührung mit meinem Vater
überhaupt nicht erlebt.“ Er wollte es mit seinem Sohn ganz anders machen:
„So auf keinen Fall“, habe er sich nach der Geburt des Kindes gesagt, ist dann
jedoch mit den Grenzen seiner inneren Möglichkeiten konfrontiert worden.
Deutlich werden Facetten jener Prozesse, über die sich – trotz anderer Intentionen – die Weitergabe eigener erlebter Beschränkungen an die Kinder,
aber auch die Veränderung erlebter Muster vollziehen kann. Die intensive Beziehung zu Kindern und Jugendlichen bedeutet immer auch die Wiederbegegnung mit eigenen früheren Erlebensweisen, mit eigenen früheren Wünschen
und Ängsten und deren Umgestaltung in der Auseinandersetzung mit der sozialen Umgebung. Diese Prozesse der Umgestaltung sind auch wesentlich von
gesellschaftlichen Geschlechterbildern geprägt, für heranwachsende Jungen
als akzeptabel bzw. unerwünscht Erlebtes hängt eng mit gesellschaftlichen
Männlichkeitskonstruktionen zusammen. Durch die Begegnung mit ihren Söhnen werden in Vätern sowohl eigene frühere Wünsche als auch deren Verarbeitungsformen in sozialen Beziehungen aktualisiert, verdrängte, unbewusst
152
Neue Konstellationen für Männlichkeitsentwürfe
gemachte Bedürfnisse kehren wieder und müssen erneut verarbeitet werden.
Diese erneute Verarbeitung kann auf unterschiedliche Weise geschehen: Im
kleinen Sohn können noch einmal all jene Gefühlsäußerungen und Wünsche
abgewehrt werden, die Väter selbst früher als wenig akzeptabel erfahren haben, Väter können die Wiederbegegnung mit verdrängten früheren Strebungen
aber auch zu Prozessen eigener Veränderung nutzen, zu einer Erweiterung
emotionaler Möglichkeiten in der Beziehung zum Sohn, die langfristig auch
Männlichkeitsbilder erweitert.
Einige Väter haben die durch die Beziehung zum Sohn angestoßenen Verunsicherungen aufgelöst, indem sie aus der überlegenen Position des erwachsenen Mannes am Sohn wiederholt haben, was sie selbst früher erlebt hatten.
Im kleinen Sohn sind all jene Verhaltensweisen und Wünsche erneut abgewehrt worden, die in der eigenen Kindheit als wenig akzeptabel erlebt und in
Prozessen des Aufwachsens als Junge und Mann zunehmend aus dem Selbstbild ausgeschlossen wurden.4 So berichtet ein Vater selbstkritisch, dass es ihm
nicht möglich war, einfühlsam mit für den Sohn Schmerzlichem umzugehen,
seine Angebote an ihn zielten darauf, Hilflosigkeit, Abhängigkeit und Leid in
ihr Gegenteil zu verkehren: in die einseitige Betonung von Autonomie und ein
Bemühen um Unabhängigkeit und Stärke. „Ich habe Dinge unbeachtet gelassen. Also gar nicht gekuckt, was macht der eigentlich, sondern mir gesagt, der
kommt schon klar“, schildert dieser Vater seine Tendenzen, die trost- und liebesbedürftigen Seiten des Sohnes, seine Wünsche nach zärtlichem Austausch
übersehen und mit ihm einseitig stark bewegungsorientierte, oft mit dem Risiko von Verletzungen verbundene Aktivitäten – „Toben und Tollen, wilde Sachen, auch Gefährliches, das konnte nicht wild und toll genug sein“ – geteilt
zu haben. Beschrieben werden Entwicklungen des Sohnes, durch die er Emotionen, die Ausdruck von Verletzlichkeit, Schmerz und Schwäche waren, immer weniger zeigen konnte und ihm so der innere Bezug zu solchen Gefühlen
verloren zu gehen drohte: „Er hat sich immer versteckt, wenn er geweint hat.
Er hatte so ’ne Art, sich sehr zurückzuziehen, wenn es ihm schlecht ging, wenn
er Probleme hatte. Er hat wenig kommuniziert, hat das mehr so mit sich ausgemacht, schon als Kind.“ „Ich konnte ihm das nicht anders zeigen“, beschreibt dieser Vater seine eigenen Grenzen, die auch damit zusammenhingen,
dass er durch die Begegnung mit der Abhängigkeit und Hilflosigkeit des Neugeborenen eine für ihn schwer erträgliche „Entbehrung“ spürte, wohl eine Erinnerung an eigene frühere Erlebensweisen, der er durch eine Distanzierung
von entsprechenden Gefühlen des Sohnes zu begegnen suchte.
4
Vera King beschreibt die diesem Muster zugrunde liegenden Prozesse anschaulich: Kinder
rühren „an kritische Punkte der eigenen Entwicklungsgeschichte […]. Der Vater [kann] auf
schmerzliche Weise mit der Erfahrung konfrontiert sein, dass das, was sein Kind von ihm
möchte, er selbst nicht bekommen hat. Die Absicht, […] gegenüber dem kleinen Sohn väterlich zu sein, kann dadurch von auftauchenden Mangelgefühlen […] überwältigt und […]
verhindert werden, vor allem dann, wenn er sich mit seinen eigenen Entbehrungen emotional
nie auseinandergesetzt hat“ (King 2013: 41).
153
Karin Flaake
Ein anderer Vater schildert ähnliche Verhaltensmuster gegenüber seinem
Sohn: „Da ist der Tim mal bei uns im Garten mit anderen Kindern wild rumgerannt und mit dem Kopf voll vor die Schaukel. Er war ganz erschrocken und
hat mich angeguckt, so fragend‚ was ist jetzt passiert? Ich hab dann gesagt,
toll, nichts passiert, weiter. Und da ist er weiter gerannt, hat nicht geweint und
so, obwohl er hinterher ’ne dicke Beule am Kopf hatte.“ Mit „Toll, nichts passiert, weiter“ auf die Frage des kleinen Sohnes „Was ist […] passiert?“ wird
die Botschaft vermittelt, dass es am besten sei, Schmerzen zu ignorieren – sie
zu „nichts“ werden zu lassen – und sie durch nach außen gewandtes Agieren
zu übergehen – „weiter“ zu ‚rennen‘ –, wohl ein Muster, das in der Kindheit
des Vaters auch für ihn selbst prägend war und das er an seinen Sohn weitergibt. Früher als schmerzlich Erlebtes wird auf diese Weise im Sohn erneut abgewehrt, eine damals entwickelte Bewältigungsstrategie damit erneut stabilisiert.
Einigen Vätern ist es von Anbeginn an möglich gewesen, eine körperlich
nahe und emotional offene Beziehung zum Sohn herzustellen, anderen gelang
es, das Bedauern über den Mangel an emotionaler und körperlicher Nähe zum
Sohn umzusetzen in eigene Veränderungen und damit auch Wandlungen in der
Beziehung zum Sohn. Diese Väter hatten keine bessere Beziehung zu ihrem
Vater erlebt als die übrigen, es war ihnen aber möglich, die Beziehung zum
Sohn für eigene Weiterentwicklungen zu nutzen. Eigene, im Verlauf des Heranwachsens verdrängte Strebungen wurden nicht im kleinen Sohn erneut abgewehrt, sondern waren Auslöser für eigene Veränderungen, für eine emotionale Öffnung und damit für eine partielle Korrektur der Auswirkungen eigener
früherer Sozialisationserfahrungen (vgl. Schon 2002: 29). So schildert ein Vater, dass er sich durch die intensive Beziehung zu den Söhnen mit seinen eigenen früheren Erfahrungen als Kind auseinandersetzen konnte, ein für ihn wesentlicher Aspekt seiner persönlichen Weiterentwicklung, der es ihm ermöglicht hat, sich den Söhnen gegenüber anders zu verhalten, als er es selbst erlebt
hat: „Das war wichtig für meine persönliche Entwicklung. Wenn man kleine
Kinder ernst nimmt, kommen viele eigene Familiendinge wieder hoch, die eigene Familiengeschichte. Es hat mich bereichert in der Fähigkeit, mich mit
meinen eigenen Lebensthemen und familiären Belastungen auseinanderzusetzen und Dinge ganz bewusst anders zu gestalten, als ich sie erlebt habe.“ Möglich wurde diese „persönliche Entwicklung“, weil er sich von der „Lebendigkeit“ seiner Söhne berühren lassen und dadurch emotionale „Verkrampfungen“ – gefühlsmäßige Blockaden – lösen konnte: „Die Kinder mit ihrer Lebendigkeit und ihrer Energie, das habe ich bei beiden als so bereichernd erlebt, es
hat viele Verkrampfungen bei mir gelöst.“ Gegenüber seinen Söhnen konnte
sich dieser Vater auch mit weichen, verletzlichen Seiten zeigen, z.B. bei einer
schweren Erkrankung seiner Mutter, eine Qualität der Beziehung, die die
Söhne schätzen und die auch ihr Männlichkeitsbild verändert hat. So berichtet
154
Neue Konstellationen für Männlichkeitsentwürfe
der ältere, 22 Jahre alte Sohn: „Wir haben uns da noch mal sehr intensiv kennengelernt über die Geschichte mit seiner Mutter. Weil er mir die Möglichkeit
gegeben hat, auch über diese ganz emotionalen Themen zu reden. Er ist da
emotional sehr berührt gewesen, hat auch die Schmerzen zugelassen. Ich
konnte seine Verletzlichkeit sehen und auch meine Verletzlichkeit, meine
Ängste zeigen. Er hat mich nah an sich rankommen lassen, wir sind uns emotional genauso nahe gekommen wie ich mit meiner Mutter. Ich hab mich ihm
da sehr verbunden gefühlt.“ Die Wertschätzung für die emotionale Offenheit
des Vaters verbindet er mit einem veränderten, für ihn positiven Männlichkeitsbild: „Das hat meine Beziehung zu ihm verstärkt, weil ich ihn als Mann
wahrgenommen hab, der diese emotionale Seite leben kann und sich dafür
nicht schämt, und das fand ich toll.“ Er beschreibt auch sich als Person, die
sich um eine solche Verbindung von emotionaler Offenheit und Mannsein bemüht.
4 Mutter-Sohn-Beziehungen und innerpsychische
Herausforderungen für Mütter: Auseinandersetzung mit
gesellschaftlich nahegelegten Mutterbildern
Die Mutter-Sohn-Beziehung hat in den meisten der in die Untersuchung einbezogenen Familien – sowohl nach den Schilderungen der Söhne als auch denen der Mütter und Väter – eine andere Qualität als die Vater-Sohn-Beziehung:
Trost, Wärme, Geborgenheit und liebevolle körperliche Nähe gab es in der
Kindheit der Söhne sehr viel stärker in der Beziehung zur Mutter, auch derzeit
verbinden die Söhne solche Beziehungsqualitäten stärker mit ihrer Mutter als
mit dem Vater. Ein 13-Jähriger beschreibt den Unterschied zwischen der Liebe
zum Vater und zur Mutter so: „Ich hab meinen Vater auf jeden Fall sehr lieb,
aber das ist was anderes als bei meiner Mutter. Mit meinem Vater, das ist mehr
so Kumpel, freundschaftsmäßig. Mit meiner Mutter umarme ich mich öfter
und wenn ich ein Problem hab geh ich eher zu ihr.“ So hat sich ein Element
tradierter geschlechtsbezogener Zuordnungen auch in Familien erhalten, in denen eine Verflüssigung solcher Zuordnungen angestrebt wird: die Frauen als
die für Fürsorge im Sinne von Trost, Wärme, Geborgenheit und körperliche
Nähe Zuständigen, die Männer als die primär Abgrenzung, Autonomie, Rationalität und aktiv nach außen Gewandtes Repräsentierenden. Dem liegt ein Zusammenspiel der Orientierungs- und Verhaltensmuster in der Paarbeziehung
zugrunde, das Ausdruck gesellschaftlicher Geschlechterkonstruktionen ist.
Der für die Mehrzahl der befragten Väter kennzeichnenden Hemmung,
wenn es um emotionale Offenheit und eine zärtliche körperliche Nähe zum
kleinen Sohn geht, entspricht auf Seiten der in die Untersuchung einbezogenen
155
Karin Flaake
Mütter eine große Bereitschaft, sich auf die emotionale Befindlichkeit ihrer
Kinder einzulassen und sich umfassend für sie verantwortlich zu fühlen. Deutlich wird die große Bedeutung normativer Bilder von einer ‚guten Mutter‘5, die
für Frauen eine Verführung schaffen können, sich insbesondere in der frühen
Beziehung zum Kind in einer herausgehobenen Position zu erleben, eine Haltung, die verhindern kann, dass dem Partner Raum für eine gleichgewichtige
und eigenständige Gestaltung der Beziehung zum Kind gelassen wird. So können in normative Bilder einer ‚guten Mutter‘ eingebettete gesellschaftliche
Stilldiskurse (vgl. Freudenschuß 2012) bei Frauen zu einer – ursprünglichen
Planungen zuwiderlaufenden – Haltung beitragen, sich insbesondere in den
ersten Lebensmonaten als einzigartige, dem Partner überlegene Bezugsperson
für ihr Kind zu erleben. „Ich fühlte mich so was von unersetzlich“, beschreibt
eine der Befragten ihre Gefühle beim Stillen, zu dem sie sich, trotz Brustentzündung, gezwungen hat. „Ich wollte das unbedingt packen, ich wollte das
Kind stillen“, schildert sie den Druck, unter dem sie sich gefühlt hat. Nahegelegt wird die Vorstellung von einer einzigartigen Bedeutung der Mutter – z.B.
der mütterlichen Milch als Nahrung – für das Kind, eine Vorstellung, die als
Kehrseite des narzisstischen Gewinns – des Gefühls einzigartiger Bedeutsamkeit – immer auch die Gefahr von Versagensängsten und Schuldgefühlen enthält. In den Schilderungen einer der Befragten wird das Zusammenspiel von
inneren Bindungen an Vorstellungen von einer guten Mutter, Versagensängsten und zugleich Gefühlen, besonders wichtig für das Kind, einen kleinen
Sohn, zu sein, besonders deutlich. Obwohl es eine Vereinbarung in der Paarbeziehung gibt, dass beide Elternteile gleichermaßen zuständig sind, wenn der
Sohn nachts aufwacht und schreit, ist es doch die Mutter, die schneller reagiert
und ihrem Partner damit die Möglichkeit nimmt, selbst aktiv zu werden. „Ich
kann nicht schlafen, ich bin dann hellwach und kriege so ein Schreck-wasmuss-ich-machen-Gefühl“, beschreibt sie ihre Empfänglichkeit für Signale des
Kindes, zu dem sie eine „sehr innige Beziehung“ schildert. Sie scheint schon
auf seine Rufe zu warten: Sie „kann nicht schlafen“ und ist „hellwach“. Zugleich ist dieses Warten mit Unsicherheit und Angst verbunden: „Schreck, was
muss ich machen?“, fragt sie sich, wohl in der Befürchtung, auf Signale des
Kindes – vielleicht im Sinne des Bildes von einer einfühlsamen Mutter, die die
Äußerungen ihres Kindes unmittelbar zu verstehen in der Lage ist – nicht angemessen reagieren zu können. Diese Verbindung von Gefühlen eigener Bedeutsamkeit, Resonanzbereitschaft, wenn es um Äußerungen von Bedürftigkeit des Kindes geht, und Versagensängsten hat die Basis geschaffen für große
5
156
Die normative Wirkung von Bildern einer „guten Mutter“ – die Vorstellung, dass die Mutter
insbesondere in den ersten Lebensmonaten und -jahren die beste Bezugsperson für ihr Kind
ist und sie ganz für es da sein sollte – sowie die damit immer auch verbundenen Versagensängste und Schuldgefühle sind in Westdeutschland stärker ausgeprägt als in Ostdeutschland
(vgl. Heß 2010: 261ff.; Kortendiek 2010).
Neue Konstellationen für Männlichkeitsentwürfe
Bemühungen, dem Sohn gerecht zu werden, und damit für eine besonders innige Mutter-Sohn-Beziehung, die wiederum nahelegt, dass das Kind sich mit
Wünschen nach Trost, Wärme, Geborgenheit und zärtlich-liebevoller körperlicher Nähe stärker an die Mutter als an den Vater wendet, eine Situation, die
von der Befragten als befriedigend und als Vorteil gegenüber dem Partner und
vom Partner einerseits als kränkend, andererseits aber auch als entlastend erlebt wird, weil er sich zunächst sehr unsicher in der Beziehung zu seinem Sohn
fühlte.
In den Familien, in denen die Väter mit ihren Söhnen eine auch von zärtlich-liebevoller körperlicher Nähe und emotionaler Offenheit getragene Beziehung entwickeln konnten, wird deutlich, dass dem auf Seiten der Frauen eine
Relativierung der eigenen Bedeutsamkeit als Mutter entspricht. Diese Relativierung wird von den Frauen einerseits als erleichternd erlebt – denn insbesondere die frühe Beziehung zu Kindern ist mit einer Vielzahl widersprüchlicher
Gefühle verbunden, zu denen auch Beängstigendes und Verunsicherndes gehört (vgl. z.B. Freiberger 2007) –, andererseits aber auch als schmerzlich: „Da
ist Lars [der Sohn, K.F.] vom Fahrrad gefallen, weint: Papaaa, statt Mama. Das
ist einfach die erste Reaktion, und das tut dann schon weh“, beschreibt eine der
Befragten ihre Gefühle, als sie die starke Bindung des Sohnes an den Vater
bemerkt. Die Schilderungen des Vaters zeigen die große Zuneigung, körperliche Zärtlichkeit und emotionale Offenheit in der Beziehung zum jetzt 13-jährigen Sohn: „Ich war schlecht gelaunt und hab mich Lars gegenüber aufgebaut,
ich wollte durchsetzen, dass er den Müll sofort runterbringt. Das ging zu weit,
was ich da getrieben hab, das ging nicht. Dann bin ich zu ihm hoch gegangen
und hab mich bei ihm entschuldigt. Er hat mir sofort verziehen. Er hat mich
sofort in den Arm genommen und gesagt, war ja vielleicht auch doof, dass ich
das nicht gemacht habe. Da war ich ganz angerührt, dass er mich so nehmen
kann, obwohl ich da so ’n Zampano gemacht hab. Er war ganz offen in dem
Moment, hätte ich fast geheult.“ Es gibt – jenseits adoleszenter Abgrenzungsbemühungen des Sohnes, über die auch berichtet wird – eine Ebene zwischen
beiden, durch die es möglich ist, dass der Vater gegenüber seinem Sohn Fehler
eingestehen und der Sohn diese Haltung des Vaters annehmen kann: Er ‚verzieh‘ ihm „sofort“ und gab zu, dass auch sein Verhalten problematisch –
„doof“ – war. Beide, Vater und Sohn, zeigten sich einander „ganz offen“, der
Vater war „ganz angerührt“ vom Verständnis seines Sohnes, er „hätte [...] fast
geheult“, der Sohn konnte dem Vater seine Zärtlichkeit zeigen: Er ‚nahm‘ ihn
„in den Arm“. Diese innige Vater-Sohn-Beziehung konnte sich entwickeln,
weil es der Mutter möglich war, ihren Schmerz über die zeitweise nur sekundäre Bedeutung für den Sohn auf eine Weise zu verarbeiten, durch die die Eigenständigkeit und Intensität dieser Beziehung nicht beeinträchtigt wurde.
Auch in einer anderen Familie wird deutlich, dass der Offenheit des Vaters
für eine innige Beziehung zu seinen Söhnen eine Bereitschaft seitens der Part-
157
Karin Flaake
nerin entspricht, Abschied von Vorstellungen eigener herausgehobener Bedeutsamkeit zu nehmen. Die Befragte schildert als Folge entsprechender Veränderungen in ihren Perspektiven auf Elternschaft ihr Bemühen, eigenständige
Vater-Sohn-Beziehungen aktiv zu unterstützen: „Jetzt macht ihr was zusammen“, habe sie dann oft gesagt und sich „absichtlich aus diesen Aktivitäten
zurückgezogen, weil ich wollte, dass das deren Ding ist“. Sie kann die sich
entwickelnde Intensität wertschätzen: Die „innige Beziehung“ zwischen ihrem
Partner und den Söhnen ist für sie „wunderschön“. Auf dieser Basis entwickelt
sich eine Vater-Sohn-Beziehung, die der ältere Sohn als ebenso intensiv wie
die zur Mutter beschreibt.
5 Resümee
Ein zentrales Element gesellschaftlicher Geschlechterkonstruktionen mit den
damit verbundenen Ungleichheiten im Geschlechterverhältnis bezieht sich auf
die Verknüpfung fürsorgebezogener Qualitäten mit Weiblichkeit und – damit
zusammenhängend – die Zuweisung des gesellschaftlich unverzichtbaren, aber
im Vergleich zur Erwerbsarbeit deutlich geringer bewerteten Bereichs von
‚care‘, von Fürsorge und Zuwendung, an Frauen (vgl. z.B. Brückner 2015;
Fleßner 2013). In den Einzelnen verankert wird eine solche Zuweisung wesentlich über Prozesse geschlechtsbezogener Sozialisation in Familien mit primärer Zuständigkeit der Mütter für Familienarbeiten: Die Erfahrung körperlicher und emotionaler Fürsorge vermittelt sich unter diesen Bedingungen wesentlich über die Beziehung zu einer Frau, der Mutter; sie ist – auch bei Erwerbstätigkeit – die für Familienarbeiten zentral Zuständige, während für
Selbstdefinitionen und Identitätskonstruktionen von Männern – auch wenn sie
sich zunehmend bei Kinderbetreuung und -erziehung beteiligen – Außerfamiliales, insbesondere der Bereich der Erwerbsarbeit zentral ist (vgl. z.B. Kortendiek 2010). Veränderte Aufgabenverteilungen in Familien können ein erster
Schritt hin zu Umgestaltungen gesellschaftlicher Weiblichkeits- und Männlichkeitskonstruktionen sein: Wenn auch Männer für ihre Kinder von Anbeginn an als liebevoll-fürsorgliche Personen und Frauen als in einem Bereich
außerhalb der Familie Engagierte erfahrbar werden, können – bezogen auf die
Söhne – Geschlechterbilder möglich werden, in denen Fürsorglichkeit, liebevolle Bezogenheit und Verantwortung für familiale Alltagsaufgaben auch als
Elemente einer positiv besetzten Männlichkeit gesehen und in eigene Identitätsentwürfe integriert werden. In den Interviews mit Paaren, die sich für eine
in ihrer Beziehung geteilte Zuständigkeit für Familienarbeiten und eine kontinuierliche Erwerbstätigkeit der Mutter entschieden haben, wird deutlich, dass
Veränderungen geschlechtsbezogener Zuordnungen in den Alltagsarrange158
Neue Konstellationen für Männlichkeitsentwürfe
ments mit Verunsicherungen verbunden sein können, denn bisherige Selbstdefinitionen und für das Selbstverständnis und Selbstbewusstsein als wichtig Erlebtes verlieren an selbstverständlicher Gültigkeit. Für Männer und für Frauen
ist dabei Unterschiedliches verunsichernd; wie mit diesen Verunsicherungen
umgegangen werden kann, gestaltet den Verlauf der in der Paarbeziehung geteilten Elternschaft: ob Verunsicherungen für eigene Veränderungen genutzt
werden können oder aber durch den Rückgriff auf traditionelle Muster stillgestellt werden.
Für Männer kann es in der Beziehung zu ihren Söhnen besonders verunsichernd sein, mit eigenen, in Prozessen des Aufwachsens als Junge aus dem
Selbstbild und Selbstbewusstsein ausgeschlossenen und als weiblich definierten Anteilen konfrontiert zu werden. Das betrifft insbesondere Gefühle, die
Ausdruck von Bedürftigkeit, Verletzlichkeit, Abhängigkeit und Hilflosigkeit
sind, aber auch Wünsche nach zärtlich-liebevoller körperlicher Nähe unter
Männern. Ihren Söhnen Fürsorge im Sinne von Trost, Wärme, Geborgenheit
und körperlicher Nähe geben zu können, ist für Väter mit der Herausforderung
verbunden, entsprechende Anteile in sich selbst zuzulassen und in ein positiv
besetztes Selbstbild zu integrieren.
Für Frauen ist eine in der Paarbeziehung geteilte Elternschaft mit der Herausforderung verbunden, sich zu trennen von Vorstellungen einer herausgehobenen Bedeutsamkeit als Mutter, insbesondere in der frühen Beziehung zum
Kind, und diese von Anbeginn an offen zu halten für eine gleichgewichtige
Gestaltungsmöglichkeit des Partners. Solche Prozesse können als schmerzlich
erlebt werden – bedeuten sie doch den Abschied von narzisstischen Gratifikationen durch das Gefühl einzigartigen Wichtigseins – aber auch als Entlastung,
denn die wesentlich durch gesellschaftlich nahegelegte normative Bilder einer
‚guten Mutter‘ geprägten Vorstellungen enthalten als Kehrseite zugleich die
Gefahr von Versagensängsten und Schuldgefühlen.
Gelingt Paaren das Zusammenspiel von Veränderungen – Männern die Integration als weiblich definierter Anteile in ihr Selbstbild, Frauen die Relativierung von Vorstellungen mütterlicher Bedeutsamkeit –, ergeben sich für die
Söhne Erfahrungsmöglichkeiten, die die Basis für Männlichkeitsbilder sein
können, in denen liebevolle Bezogenheit und Fürsorge für andere enthalten
sind. Entsprechende Veränderungen sind jedoch für Eltern nicht leicht und für
viele nur partiell und schrittweise möglich. Aber auch solche vorsichtigen
Wandlungsprozesse der Eltern schaffen – verglichen mit den Möglichkeiten,
die Familien mit Zuständigkeit der Mütter für Familienarbeiten bieten – erweiterte Entwicklungschancen für die Söhne: Bei allen befragten Söhnen gibt es
in den eigenen Zukunftsvorstellungen eine Offenheit für egalitäre Geschlechterbeziehungen in der Familie, wenn auch bei einigen zugleich mit einer Sympathie für traditionelle Arrangements: Sie würden sich wesentlich auf Initiative
der Partnerin für eine egalitäre Aufgabenverteilung entscheiden, weniger jedoch basierend auf eigenen Wünschen. In allen Vater-Sohn-Beziehungen hat
159
Karin Flaake
sich eine Form der Nähe und Verbundenheit, der Vertrautheit miteinander entwickelt, die in Familien mit zeitlich geringerer Präsenz des Vaters kaum Chancen gehabt hätte, sich herzustellen. Diese Beziehungsqualitäten zwischen Vätern und Söhnen können Auswirkungen auf zukünftige Beziehungsgestaltungen der Söhne als Väter haben: Für sie wird die Begegnung mit Bedürftigkeit,
Verletzlichkeit, Abhängigkeit und Hilflosigkeit ihrer Söhne möglicherweise
nicht mehr so verunsichernd sein wie für ihre Väter, so dass eine größere Bandbreite von Gefühlen in der Vater-Sohn-Beziehung Raum hat.
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161
(Un-)Ordnungen der familialen Sorge?
Mütter und die diskursive Figur des ‚aktiven Vaters‘
Rhea Seehaus
1 Einleitung
Für die Geschlechterverhältnisse der familialen Sorgearbeit lassen sich gegenwärtig diskursive und praktische Transformationsprozesse festhalten. Sowohl
wissenschaftliche Studien als auch öffentliche Diskussionen verweisen darauf,
dass die väterliche Beteiligung am Schwangerschaftsgeschehen und bei der
Geburt sowie die spätere Involvierung in die elterliche Sorgearbeit zugenommen haben (vgl. u.a. Otto 2011) und – nicht zuletzt über die ‚Vätermonate‘ des
Elterngeldes – auch staatlich gefördert werden (vgl. u.a. Ehnis/Beckmann 2010).
Familiale Sorge-Aufgaben, so präsentieren es Politik und Medien, sollen nun
zwischen den Eltern aufgeteilt werden und nicht mehr ausschließlich in den
Zuständigkeitsbereich von Müttern fallen. Bisherige Geschlechtertexte in der
Elternschaft scheinen vielfach in Auflösung begriffen zu sein (vgl. Jurczyk/
Thiessen 2011: 339), bzw. werden plötzlich zum Aushandlungsgegenstand öffentlichen Interesses – festgemacht wird dies immer wieder an der Figur des
‚aktiven Vaters‘. Diese auf die Sorgearbeit bezogenen Umbrüche in den Vaterschaftskonzepten und -praxen werden in den Sozialwissenschaften relativ
intensiv thematisiert, vaterbezogene Forschung mit dem Schwerpunkt des ‚aktiven Vaters‘ ist in den letzten Jahren deutlich expandiert (vgl. u.a. Ehnis 2009;
Possinger 2013). Aus dem (wissenschaftlichen) Blick gerät jedoch vielfach das
Verhältnis der Mütter zu dieser neuen diskursiven Orientierungsfigur. Diesem
soll im Folgenden anhand der Ergebnisse einer Interviewstudie nachgegangen
werden.
Rhea Seehaus
2 Die familiale Sorge um das Kind –
aktive Vaterschaft als historisch neues Phänomen
Sorgearbeit findet in vielfältigen Bereichen des sozialen Lebens statt, der vorliegende Beitrag fokussiert sie im Bereich von Elternschaft.1 Aus der Geburt
eines Kindes resultiert für Eltern die Notwendigkeit, Sorgearbeit zu leisten.
Aufgrund der leiblichen Angewiesenheit des Säuglings muss der familiale Alltag (neu) organisiert und ausgehandelt werden: Gebürtlichkeit wird damit –
analog zur Sterblichkeit – zum konstituierenden Element von Sorgearbeit. Wie
diese organisiert ist, ob sie vorrangig als familiale Aufgabe gesehen wird oder
durch professionelle Dienstleistungen ergänzt wird, kann – je nach gesellschaftlicher Verfasstheit – unterschiedlich geregelt werden und lässt sich auch
nicht von historischen Entwicklungen trennen. Fragen des Sorgens und Entwürfe der Frauenrolle scheinen jedoch untrennbar verwoben (vgl. Moser/Pinhard 2010: 11) – darauf haben nicht zuletzt auch die jeweiligen wohlfahrtsstaatlichen Regelungen und hegemonialen Diskurse sowie die interaktiven
Praxen ‚im Kleinen‘ einen nicht unerheblichen Einfluss. Jurczyk und Rerrich
merken dazu an: „Durch gezielte normative Regelungen wie auch ‚unter der
Hand‘ wird durch soziale Zuweisungs- und Codierungsprozesse eine bestimmte Art der Lebensführung, die die praktische Sorge für andere Personen
umfasst, mit ihren Elementen der Angebundenheit und Emotionalität, zur typisch weiblichen Lebensführung gemacht“ (1993: 274).
Für Elternschaft lässt sich somit eine enge Verknüpfung von Generationenund Geschlechterordnung konstatieren, wenngleich mittlerweile immer wieder
die Entstehung neuer ‚Ordnungen der Sorge‘ (vgl. Toppe 2010) konstatiert
wird, in denen sich neue (normative) Elternschafts- und Geschlechterideale abzeichnen. Diese rücken insbesondere den Vater ins Zentrum der Aufmerksamkeit: Bilder des ‚aktiven Vaters‘ sind in Werbung und Alltag zunehmend vertreten und positiv konnotiert (vgl. u.a. Baader 2006: 117; Thiessen/Villa 2009:
7).2 Allmählich bilden sich gesellschaftliche Orientierungsmuster für neue Vaterschaftsentwürfe heraus und dem aktiven Vater werden in zunehmendem
Maße Anerkennung und Achtung gezollt: Er wird nicht mehr ausschließlich
1
2
164
Sorge wird im Sinne von care als interaktive Praxis verstanden, die auf Zeit, kommunikativen
Raum und materielle Ressourcen angewiesen ist. Unter dem Begriff care lässt sich demnach
„eine Vielfalt von reproduktiven, fürsorglichen, betreuenden und pflegenden Tätigkeiten“
(Gerhard 2010: 221) fassen. Er schließt an die in den 1970er und 80er Jahren von feministischen Auseinandersetzungen angestoßenen Diskussionen zum Thema Haus- und Familienarbeit an (vgl. Gather/Othmer/Senghaas-Knobloch 2013: 204).
Diese Studien sowie die folgenden beziehen sich in der Regel auf heterosexuelle (verheiratete) Eltern mit eigenen Kindern. Dies bedeutet eine starke Fokussierung auf eine spezielle
Familienform, die andere Familienformen nicht in den Blick nimmt. Dies ist jedoch zugleich
auch die Familienform, die im Sample der vorliegenden Studie repräsentiert ist. Siehe Anmerkung 5.
(Un-)Ordnungen der familialen Sorge?
auf die „Alimentation des Nachwuchses“ (Jurczyk/Lange 2009: 14) verpflichtet, sondern die familiale Sorgearbeit soll geteilt werden. Väter sollen eine
emotional-zugewandte Bindung zum Säugling und Kind entwickeln und sich
verantwortlich kümmern (vgl. u.a. Ehnis/Beckmann 2010: 313ff.). Das „fathering“ (Meuser 2009: 220) ist in höchstem Maße erwünscht, betont wird mittlerweile auch die Bedeutung der fürsorglichen Väter für die kindliche Entwicklung und Sozialisation (vgl. Reinwand 2012: 431f.). Im Zuge dieser Entwicklungen sind Forschungen zum Thema Vaterschaft deutlich expandiert: Gefragt
wird beispielsweise nach neuen (diskursiven) Männlichkeitsentwürfen im
Kontext von Vaterschaft (u.a. Kassner 2008; Wolde 2007), subjektiven Vaterschaftskonzepten (u.a. Matzner 2004) sowie Vaterschaft und Erwerbsarbeit
(u.a. Ehnis 2009; Possinger 2013). Die Studien zeigen nachdrücklich, dass die
Figur des Vaters als Haupternährer allmählich brüchig wird und sich nicht nur
neue Familienbilder, sondern auch neue, pluralisierte Vaterschaftsformen entwickeln, in denen der ‚aktive Vater‘3 zum Leitbild avanciert. Studien zur Arbeitsteilung (vgl. Kortendiek 2010: 446) zeigen jedoch auch, dass sich, obwohl
mit der Figur des aktiven Vaters zugleich auch egalitäre Elternschaft zur neuen
familialen Norm wird (vgl. Correll 2010: 270) und sich diskursiv die ‚Ordnungen der Sorge‘ verändern, nicht zwangsläufig entsprechend tragfähige Elternschaftsrealitäten ausbilden. Vielen Elternpaaren gelingt es offenbar trotz guter
Absichten nur unzureichend, den gewünschten Weg zum paritätischen ElternSein auch erfolgreich zu gehen: Die pränatalen Selbstansprüche egalitärer Elternschaft sind nach der Geburt offenbar nur sehr schwer tatsächlich (langfristig) zu realisieren (vgl. Rüling 2010: 4775). Palz, Werneck und Beham (2006:
15) verweisen darauf, dass der Prozentsatz derjenigen Väter, die als aktive zu
bezeichnen seien, vor der Geburt des Kindes weitaus höher lag als drei Jahre
nach der Geburt. Auch Kassner (2008: 143) weist in seiner Untersuchung darauf hin, dass die Erosion normativer Leitbilder nicht zwangsläufig eine veränderte Vaterschafts- bzw. Familienpraxis bedeutet. Veränderungen bezögen
sich vielfach nur auf die Ebene der Diskurse und Leitbilder und weniger auf
die Ebenen kollektiver Deutungsmuster und individueller Praxen.
Die in Familien stattfindenden Entwicklungen lassen sich als Re-Traditionalisierungseffekte bezeichnen (vgl. u.a. die Studien von Reichle 1996; Rüling
2007; Walter/Künzel 2002), die als „besonderes Moment der Aktivierung alter
Muster mit dem Elternwerden“ (Kerschgens 2009: 18) beschrieben werden
können. Elternschaft und die potentiell stattfindenden, auf die Geschlechterverhältnisse bezogenen Transformationsprozesse werden vielfach ausschließlich über die vaterschaftsbezogenen Veränderungen wissenschaftlich in den
Blick genommen. Eine ähnliche Konjunktur bei der Mutterschaftsforschung
lässt sich nicht ausmachen. Dabei verändert sich, z.B. aufgrund der „Norm der
3
Synonym: ‚neuer Vater‘ oder ‚engagierter Vater‘.
165
Rhea Seehaus
Doppelverdienerfamilie“ (Fraser 2009: 51), die zu einer allgemeinen Erwerbsarbeitszentrierung des Lebens sowohl von Männern als auch von Frauen führt
(vgl. König 2012: 48), vermutlich auch das Leben von Müttern. Ob und was
dies für die mütterliche Sorgearbeit bedeutet, bleibt in der Regel unerwähnt.
Hünig und Peter bemerken dazu, dass explizite „Mütterbelange und Problemlagen von Frauen“ (2010: 191f.) meistens nur “implizit im Kontext von Familienrhetorik (mit-)verhandelt und diskutiert“ (ebd.) und deshalb im „erziehungswissenschaftlichen Fachdiskurs fehlen“ (ebd. 192) würden.
3 Fragestellung und Methode
Vor dem Hintergrund eines abgeschlossenen qualitativen Forschungsprojekts
zur elterlichen Sorge um das Kind (Seehaus 2014)4 wird im Folgenden stärker
die Perspektive der Mütter ins Zentrum gerückt. Ausgangspunkt der Analysen
ist die Beobachtung, dass in den Interviews, obwohl in den meisten Familien
die Mütter als die Hauptzuständigen für die Sorgearbeit dargestellt werden,
insbesondere von ihnen das Engagement der Väter sehr ausführlich thematisiert wird (vgl. Seehaus 2014: 59f.). Im Sinne der thematischen Diskursanalyse
(Höhne 2003) wird das Interview als Instanz der Diskursreproduktion verstanden und die Darstellungen der Mütter bzw. Eltern zur innerfamilialen Arbeitsteilung werden als Ausgangspunkt genutzt, um zu untersuchen, wie geschlechtsspezifische Zuständigkeiten thematisiert werden und wie in diesen
zugleich mögliche Anrufungen und Aufforderungen durch Diskurse, gesellschaftliche Normen und eigene Vorstellungen sichtbar werden – in aller Widersprüchlichkeit, die diese mit sich bringen. Dabei wird die These vertreten,
dass die Figur des aktiven Vaters, die in aktuellen Elternschafts- und Vaterschaftsdiskursen so prominent ist, gerade nicht nur Väter anruft, sich als solche
4
166
Die Studie untersucht anhand von Interviews mit Müttern, Vätern und Eltern die Konstruktionslogiken von Elternverantwortung. Fokussiert werden dabei die normativen Rahmungen
dieser ‚Sorge um das Kind‘ und ihre Folgen für Geschlechterverhältnisse und Normierung
von Elternschaft. Der offene Leitfaden enthielt die Themenkomplexe Familie(nleben), Entwicklung des Kindes, kindermedizinische Vorsorge-Untersuchungen und Elternbildung-/Elterninformationen. Es wurden 28 Interviews geführt, in 25 Familien waren die Kinder unter
sechs Jahren, in drei Familien unter neun Jahren. In sechs Familien waren die Mütter zum
Zeitpunkt des Interviews ausschließlich für die Sorgearbeit zuständig und gingen aus diesem
Grund seinerzeit keiner Erwerbsarbeit nach. In drei Familien war mindestens ein Elternteil
zum Interviewzeitpunkt gerade erwerbsarbeitslos. In fünf Familien hatten die Väter ihre Erwerbsarbeitszeit zugunsten der Sorgearbeit eingeschränkt. Das Sample weist eine relativ
große soziale Homogenität auf, es sind überwiegend Eltern der ‚Mittel- und Oberschicht‘.
Dies bringt einerseits eine hohe Vergleichbarkeit der einzelnen Interviewausschnitte mit sich,
während andererseits damit auch die Reichweite der Ergebnisse beschränkt ist: Die Figur des
‚aktiven Vaters‘ ist sicherlich nicht für alle Schichten in dieser Weise zentral (vgl. auch Meuser/Scholz 2012: 37).
(Un-)Ordnungen der familialen Sorge?
zu zeigen, sondern auch Mütter zu speziellen Selbstpositionierungen und
Fremdpositionierungen bezüglich des Vaters herausfordert. Das Interview
wird damit als Ort verstanden, an dem solche Anrufungen aktualisiert werden.
Dies bedeutet zugleich auch, dass nicht die praktische Ausgestaltung der Elternschaft oder mögliche Widersprüche zwischen elterlichen Planungen und
Praxen rekonstruiert werden. Ein solcher Anspruch auf eine egalitäre Ausgestaltung von Elternschaft wurde auch nicht erhoben. Aus diesem Grund wird
auch im Folgenden keine weitere Differenzierung des Konzepts ‚aktiver Vater‘
vorgenommen, wie sie Kassner (2008: 144) vorschlägt, um zwischen ‚tatsächlich‘ egalitär verteilter Sorgearbeit und deutlich weniger egalitären Verteilungen zu differenzieren. Der ‚aktive Vater‘ wird in dem vorliegenden Beitrag
nicht als spezieller Vatertypus in den Blick genommen, dessen Ausprägung,
Verbreitung und Differenzierung untersucht werden sollen. Stattdessen soll er
als diskursive Figur verstanden werden, auf die die InterviewpartnerInnen Bezug nehmen (müssen). Damit wird rekonstruiert, wie „Diskurse an Subjekte
gelangen“ (Correll 2010: 80), und insbesondere auf die Mütter fokussiert.
Um dies zu rekonstruieren, greife ich auf das Konzept der ‚Anrufung‘ (vgl.
u.a. Althusser 1977; Butler 1997) als sensibilisierendes Konzept der Analyse
zurück. Anrufungen sind spezielle Adressierungen der Individuen als Subjekte, die sich als „soziale Zuschreibungen“ verstehen lassen, „die die Aufforderungen zu bestimmten Verhaltens- und (Be-)Handlungsweisen vermitteln“
(Ott/Wrana 2014: 19). Solche Adressierungen werden durch institutionalisierte
Settings vollzogen oder sind diskursiv in gesellschaftlichen Institutionen, politischen Programmen und sozialen Konstellationen enthalten (vgl. ebd.). Anrufungen können demnach als Adressierungen durch eine spezifische Ordnung
verstanden werden, auf die die Individuen reagieren (vgl. Wrana 2006: 136).
Konstitutiv für das ‚Funktionieren‘ der Anrufung ist jedoch nicht nur die
Adressierung, sondern auch ihre Beantwortung (vgl. Graefe 2010: 292): Die
Subjekte müssen diese Subjektpositionen selbstständig unter Ausnutzung ihres
Handlungsspielraums ausfüllen, was bedeutet, dass sie sich den Anrufungen
nicht einfach ‚unterwerfen‘, sondern sich diese eigensinnig aneignen – den
Subjekten ist es durchaus möglich, „dem Ruf nicht in der erwarteten Weise zu
folgen“ (Graefe 2010: 292).
Diese zweite, antwortende Seite der Anrufungen ist diejenige, welche im
Folgenden betrachtet werden soll. Ich setze deshalb bei den auf die väterliche
Sorge und den aktiven Vater bezogenen Äußerungen5 an und rekonstruiere,
„was in den Redeereignissen des Interviews“ (König 2008: 4789) geschieht
und welche Selbst- und Machtverhältnisse in der „Logik dieses Geschehens“
(ebd.) konstituiert werden.
5
Diese Szenen wurden aus dem Gesamtmaterial der Studie mithilfe einer thematischen Kodierung markiert.
167
Rhea Seehaus
4 Neu-Ordnungen der Sorge – empirische Ergebnisse
Während zwar einerseits in den Interviews die Sorgearbeit beständig feminisiert und zur Hauptaufgabe der Mutter erklärt wird, ist andererseits oftmals das
väterliche Engagement Gegenstand der Narrationen der Mütter – der ‚aktive
Vater‘ wird zur Leitfigur. Die Bezugnahmen auf diese Figur können zu zwei
Thematisierungsweisen verdichtet werden, die hier anhand von Interviewsequenzen exemplarisch illustriert werden sollen.
4.1 Verhinderte Väter – Zeitkonkurrenzen aktiver Väter
In einem Teil der auf den Vater bezogenen Interviewsequenzen wird insbesondere das Thema Zeit in den Vordergrund gerückt. Während das Zeitbudget der
Mütter offenbar eines ist, das in der Wahrnehmung der InterviewpartnerInnen
nur selten konkurrierende Zeiten enthält und deshalb kaum Erwähnung findet
(vgl. Seehaus 2014: 97), stellen die Mütter immer wieder besondere Zeitkonkurrenzen der Väter heraus, die sich in einer Unzufriedenheit der Väter niederschlagen: Diese würden gerne mehr Zeit mit den Kindern verbringen, aufgrund
der Konkurrenz zwischen Erwerbs- und Sorgezeit sei dies jedoch nur schwer
zu bewerkstelligen. Thematisiert werden vielfältige familiale Praktiken, mit
denen versucht werde, dem Vater mehr Zeit mit dem Kind zu ermöglichen, so
zum Beispiel ein sehr früher Arbeitsbeginn, die Parzellierung von Arbeitszeiten oder die gemeinsam verbrachte Mittagspause. Der aktive Vater, um den es
in den Darstellungen letztendlich immer geht, wird als ‚verhinderter‘, in seiner
Sorgezeit von externen Einflüssen eingeschränkter Vater entworfen. Interessanterweise zeigt sich in den Interviewsequenzen, dass diese Zeitkonkurrenzen
weniger mit der väterlichen Erwerbsarbeit begründet als vielmehr durch die
individuellen Zeitrhythmen des Kindes verursacht dargestellt werden, so zum
Beispiel, dass die Schlafenszeit des Kindes immer mit dem Heimkommen des
Vaters am Abend zusammenfalle. Nicht die väterliche Erwerbszeit, sondern
die ‚Kinderzeit‘ macht Probleme.
Anhand der folgenden Sequenz soll gezeigt werden, dass jedoch nicht nur
die Sorge- und Erwerbsarbeit miteinander konkurrieren können, sondern mitunter auch die Freizeit. Zugleich rückt damit auch die diskursive Dynamik in
den Blick, die im Interview entstehen kann, wenn dem Vater kein sehr großes
Engagement bescheinigt wird. Die Interviewerin stellt der Mutter die Frage,
ob sie als Paar vor der Geburt des Kindes bestimmte Vorstellungen hatten, wie
das Familienleben aussehen könnte. Die Interviewte berichtet ausführlich über
168
(Un-)Ordnungen der familialen Sorge?
den Wunsch der Eltern, dass die Mutter eine möglichst lange Elternzeit nehmen würde. Daraufhin setzt folgende Sequenz ein6:
Fr. W.: Für mich war’s eigentlich eh klar, weil ich mir gedacht hab, ja wenn ich in Karenz
bin, dann bin ich sowieso immer beim Baby und und für für nen Papa eben da war’s,
(…) bin ich auch erst nachher eigentlich draufkommen, dass er also schon mhm (..)
er hat sich für sich selber eigentlich so (..) glaub ich des so vorgestellt dass er dann
viel mehr (.) Zeit mit uns verbringt. Also so am Abend, nach dem Arbeiten und und
halt nur, (.) was weiß ich, ausnahmsweise mhm sich mit Freunden trifft oder halt so
die Hobbies weiterführt und (..) das hat genau drei Wochen @geklappt@ und dann
((Lachen)), dann hat er einfach auch gemerkt, so das=das haltet er irgendwie auch
nicht aus. Und dann haben wir uns mal ausgesprochen und dann mhm ich mein,
dass, es soll schon das bisherige Leben eigentlich irgendwie weiter geführt werden,
also es soll sich net alles ändern, nur das, das ist dann einfach eh schon zu viel. (.)
Es ändert sich sowieso viel ((Lachen)) ja und das war vielleicht das, ja was man sich
vorher anders vorgestellt hatte.
(Interview Frau Wagner, S. 5, Z. 127–139)
Zwar wird das Zeitkonzept der Mutter als dasjenige dargestellt, welches nach
der Geburt ausschließlich als Sorgezeit veranschlagt wird, jedoch werden auch
für das Zeitkonzept des Vaters Veränderungen benannt. Während die Erwerbszeit nicht angetastet wird, hätte der Vater, so die Interviewte, seine Freizeit
durch Sorgezeit ersetzen wollen. Diese versuchte Priorisierung konkurrierender Zeiten sei jedoch gescheitert, weil der Vater sie nicht ertragen hätte. Das
‚Geständnis‘ der Mutter über dieses Scheitern wird lachend vorgetragen, so als
solle die Nichteinhaltung der ursprünglich stärker egalitären Vorstellungen abgemildert werden. Möglicherweise ist dies auch einer Scham der Interviewerin
gegenüber geschuldet, da eingestanden werden muss, dass der Vater zwar auf
die aktuellen Adressierungen als aktiver Vater reagiert, jedoch nach kurzer Zeit
die Freizeit vor der mit dem Kind verbrachten Zeit priorisiert. Die väterliche
Sorgezeit wird in dieser Thematisierung – im Gegensatz zur mütterlichen Zeit
– als fragil dargestellt: Sie bleibt Verhandlungssache und letztendlich rücknehmbar, auch wenn vorab andere Vorstellungen und Wünsche herrschten.
Betrachtet man den weiteren Interviewverlauf, so ist festzustellen, dass
diese von der Mutter vorgenommene Positionierung des Vaters als wenig aktiver Vater von ihr nur eine Sequenz später deutlich abgeschwächt wird, als sie
herausstellt, dass er die Subjektposition des aktiven Vaters doch übernehme.
Fr. W.: Ja, aber Hobbies hat er sehr (.) also bei seinen, (.) also er hat die ganze Zeit nen
Hobby gehabt und das hat er jetzt eigentlich momentan ziemlich aufgegeben. Aber
auch (.) er hat’s (.) ja mhm auch leicht aufgeben. Es war nicht so, dass er gesagt hat:
6
Für die Transkription gelten folgende Regeln: (.) = kurze Gesprächspause (Anzahl der Punkte
zeigt die Länge an), fett = laut gesprochen, unterstrichen = betont gesprochen, @ = lachend
gesprochen. Alle Daten zu Personen, Orten und Berufsbezeichnungen wurden anonymisiert.
169
Rhea Seehaus
„Okay, jetzt hab ich ein Baby und jetzt (spricht mit etwas weinerlicher, verstellter
Stimme) muss ich halt“, sondern „Es ist so, jetzt hat einfach sie hat jetzt einfach
Priorität halt und das ist, (.) das passt da.“
(Interview Frau Wagner, S. 7, Z. 175–181)
Der vorherige Entwurf des Vaters als stark freizeitorientierter Vater, der wenig
Zeit für sein Kind hat, wird mit Nachdruck relativiert: Der Vater hätte auf ein
Hobby verzichtet und das sei ihm nicht schwergefallen. Damit wird ihm in
dieser Thematisierung noch nachträglich die Übernahme der Subjektposition
des aktiven Vaters attestiert. Insofern weist jedoch die Darstellung des väterlichen Engagements im Interviewverlauf keinen stringenten Verlauf auf: Mal
wird sein (zeitliches) Engagement als eher gering ausgewiesen, an anderer
Stelle wird dies jedoch abgeschwächt – so als müsste ein Ausgleich geschaffen
werden. Dies lässt sich auch darauf zurückführen, dass die derzeitigen Diskurse um aktive Vaterschaft und egalitäre Elternschaft, in denen die Sorgearbeit zwischen den Elternteilen verteilt wird, vermutlich eine gewisse Wirksamkeit entfalten. Im Kontext des Interviews scheint es für die Mutter nicht einfach
zu gestehen, dass der Vater sich entgegen seiner ursprünglichen Idee weitestgehend aus der Sorgearbeit zurückgezogen hat und ihr Arbeitsteilungsmodell
einer geschlechterspezifischen Logik folgt. Stattdessen werden bestimmte Bereiche des väterlichen Engagements herausgestellt, um aufzuzeigen, inwiefern
die Subjektposition des ‚aktiven‘ und damit auch des ‚guten‘ Vaters ausgefüllt
wird. Anzunehmen ist, dass diese typische Ambivalenz in den mütterlichen
Erzählungen Konfliktpotentiale in der Elternbeziehung andeutet – auch wenn
sie nicht explizit angesprochen werden.
4.2 Anzuleitende Väter – Inkompetenzen aktiver Väter
Wie bereits angedeutet, zeigt sich in vielen Interviews mit Müttern ein doppelter Bezug auf das väterliche Engagement. Zwar wird einerseits an die Subjektposition des aktiven Vaters angeknüpft und diese für den eigenen Partner beansprucht, andererseits erfolgt häufig auch eine Relationierung des väterlichen
Engagements mit dem mütterlichen, bei der letztendlich die väterliche Subjektivierung hinsichtlich der aktiven Vaterschaft angezweifelt wird. Diese zweite
Thematisierungsweise soll im Folgenden exemplarisch an einem Auszug aus
einem Paarinterview beleuchtet werden. In der Sequenz wird der Interviewerin
zu Beginn ein gleichberechtigtes Elternpaar präsentiert, das sich dagegen
wehrt, Mütter per se als die kompetenteren Elternteile im Bereich der Sorgearbeit zu verstehen, während dies im Interviewverlauf auf interaktiver Ebene in
gegenteiliger Weise ausgestaltet wird. Die Interviewstelle ist Teil einer längeren Passage, in der die Interviewerin die Frage stellt, ob es bei der Erziehung
Bereiche gebe, die das Elternpaar miteinander aushandeln müsse. Die Eltern
berichten, dieselben Erziehungsvorstellungen zu verfolgen, abgrenzend davon
170
(Un-)Ordnungen der familialen Sorge?
erzählt die Mutter, dass ihr Mann in seinem Sorgehandeln bereits häufiger
Maßregelungen durch andere Frauen ausgesetzt war. Als sich der Vater während des Interviews erneut über diese Situationen, in denen er als unwissender
Vater adressiert wurde, ärgert, gibt die Mutter dem Gespräch eine neue Richtung.
Fr. T.: Ja Frauen fühlen sich schon ein bisschen oft auf den Schlips getreten, wenn wenn
einfach Männer auch (ein Wort unverständlich: daheim?) den Weg da gehen sozusagen. Es ist, ich bin da anders. Mich stört’s wirklich nicht. Im Gegenteil, es ist mir
sogar sehr wichtig, ich muss mich da gar nicht so viel zurücknehmen. Mhm man
muss sagen halt einfach manchmal ein bisschen mehr lächeln über gewisse Dinge,
wenn’s zum Beispiel Männer schaffen es ja, das ist ein @Phänomen@ ((Lachen)),
dass man Kleidung praktisch anzieht sozusagen. Weil’s bei den Kindern und Babykleidungen ist ja voll oft so, dass hinten zugebunden wird oder so und das hat man
ja selber nicht, weil hinten kann man ja sehr schlecht was zusammen machen. Also
das ist bei den Kleidern aber so. Bei den üblichen Männerkleidungen macht man
halt vorn zu und darum müssen auch sämtliche Knöpfe auch. Wenn da vorn normalerweise eine große Blume auf dem Rock drauf ist, die ist dann halt hinten, weil vorn
die Knöpfe sind, ((Interviewerin lacht)) also das schaffen nur Männer.
(Interview Herr und Frau Terland, S. 14f., Z. 678–688)
Mit der Redensart ‚auf den Schlips treten‘ – als Synonym für das Gefühl vieler
Frauen beim väterlichen Engagement – wird in der Thematisierung der Mutter
das Bild eines Geschlechterverhältnisses aufgerufen, in dem „Mütter sich
schwer damit tun, dem Mann Raum für sein Vatersein zu geben“ (Jurczyk/
Lange 2009: 2) und in dem zugleich die Sorgearbeit maternalisiert wird. Von
dieser Subjektposition grenzt sich die Mutter jedoch scharf ab, indem sie ihr
die Position der auf Egalität bedachten Mutter entgegensetzt und diese für sich
reklamiert. Darauffolgend beschreibt sie sich jedoch als genaue Beobachterin
und Kommentatorin des väterlichen Tuns. Mit der Bemerkung, über seine Fehler ‚lächelnd‘ hinwegzusehen, wird sie in der Thematisierung als Gatekeeperin
des väterlichen Engagements entworfen, die dem Vater einen gewissen Handlungsspielraum eröffnet. Mit der Darstellung dieser Differenz – der Vater ist
der Ausgelachte, die Mutter die (Aus-)Lachende – wird das Engagement des
Vaters deutlich abgewertet. Auf verbaler Ebene wird jedoch Toleranz hinsichtlich der Unwissenheit des Vaters demonstriert und dies im Anschluss exemplarisch am Beispiel der Ankleidesituation illustriert. Väter, so lautet ihre stereotypisierende Einschätzung, zögen Kinder eher nach praktischen Gesichtspunkten an. Indem dies generalisierend allen Männern zugeschrieben wird,
werden in der Darstellung erneut Differenzkategorien aktiviert: Den kompetenten sorgenden Müttern werden die inkompetenten sorgenden Vätern gegenübergestellt. Diese, so die Darstellung, seien nicht nur wenig bewandert in der
täglichen Praxis der Kinderbekleidung, sondern würden auch einfache an der
Kleidung angebrachte Hinweise nicht erkennen. Umgehend wehrt sich der Vater gegen diese Zuschreibung.
171
Rhea Seehaus
Hr. T.: Ja aber es liegt achtzig Prozent ((Fr. T. lacht)) von der Zeit am Rücken und da drücken die Knöpfe.
Fr. T.: @Naja, das läuft schon, das Kind. Das läuft schon, das Kind@.
Hr. T.: Da drücken die Knöpfe.
Fr. T.: @Ist ja ganz egal@. Aber wie gesagt, das hab @ich überall entdeckt@, quer durch
alle Bildungsschichten. Also das ist ((Lachen)) und da muss man schmunzeln darüber, nicht und da darf man halt nicht ((Lachen))
Hr. T.: Ja, wer sagt das, dass das so sein muss, oder?
Fr. T.: @Ja, dass die Blume am Rücken ist? Nein, ist ja wurscht@. ((Lachen))
I.:
@Deswegen sind ja extra noch mal die Schildchen drin, damit man sich orientieren
kann@.
Hr. T.: Ja, die schneiden wir raus. ((gemeinsames Lachen))
Fr. T.: Ja von meiner Nichte gibt’s ein Kindergartenfoto. Die hat @den Kragen da oben
[zeigt auf die Nasenspitze, Anm. R.S.] und die Blumen da hinten und das ist herrlich.
Aber das ist überall und jede und alle Väter machen das so. Engagierte Väter@ natürlich, die ihre Kinder anziehen und sowas find ich @super@. ((Lachen))
I.:
@Aber das sind ja auch Nettigkeiten, irgendwo@.
Fr. T.: Ja es ist eh herrlich. Und so muss man halt dem Ganzen irgendwie begegnen und
manchmal sind halt andere Dinge, die schon ein bisschen, wo man sich dann vielleicht als Mutter denkt, okay ja mhm ja da ist vielleicht der Zugang einfach ein bisschen anders und da muss man halt einmal, reden wir halt mal drüber und und meistens ist es dann eh so, dass man irgendwo einen Weg findet, dass dir irgendwas
einleuchtet, oder mir irgendwas einleuchtet. Das hat dann eh gepasst.
(Interview Herr und Frau Terland, S. 15, Z. 690–722)
Der Vater weist die Adressierung als inkompetenter Vater zurück und verteidigt sein Engagement als stärker auf die kindlichen Bedürfnisse ausgerichtet.
Damit wird die väterliche Ankleidungsvariante legitimiert und der Lächerlichkeit entzogen. Gerade durch den Vorzug der Funktionalität der Ankleideweise
gegenüber der Ästhetik wird zwar die Differenzierung zwischen Mutter und
Vater aufrechterhalten, jedoch für den Vater positiv gewendet: Er kümmere
sich gerade nicht um den rein modischen Aspekt, sondern vielmehr um die
Befindlichkeiten des Kindes, womit er für sich selbst die Position des sorgenden Vaters reklamiert. Die Mutter widerspricht, wenn auch in humorvoller
Weise, der Selbstdarstellung dieser Subjektposition und führt seine Argumentation ad absurdum – seinen Widerstand ‚fegt‘ sie gewissermaßen vom Tisch,
indem sie die Diskussion (vorerst) für erledigt erklärt. Dann führt sie jedoch
ihre Meinung zur Geschlechterdifferenz zwischen Müttern und Vätern weiter
aus und erklärt dies als deutlich wirksamer als ‚Bildungsdifferenzen‘. Sie restabilisiert die Subjektposition der kompetenten, dem Vater überlegenen Mutter, indem sie sich als Beobachterin und zurückhaltende Kommentatorin des
väterlichen Sorgeverhaltens entwirft. Das folgende kurze verbale Ringen um
die Positionierung der Mutter als Expertin wird von ihr entschieden, indem sie
die Thematik erneut beendet. An dieser Stelle mischt sich jedoch die Interviewerin ein und führt das Thema weiter, indem sie den Vater in ironischer
Weise mit den Bekleidungsnormen konfrontiert, womit er erneut als unwissender Vater entworfen wird. Mit seiner Antwort opponiert der Vater gegen das
172
(Un-)Ordnungen der familialen Sorge?
von der Interviewerin indirekt angedeutete Frauenbündnis und glättet die PaarDifferenz: Auch wenn das Paar sich auf der interaktiven Ebene des Interviews
in bestimmten Punkten uneinig ist, ist es der Interviewerin offenbar nicht erlaubt, diese Differenzierung fortzuführen. In der sich daran anschließenden
Darstellung der Mutter festigt diese die Subjektposition der Gatekeeperin:
Zwar wird das Engagement der Väter gelobt, die Mutter nimmt sich jedoch
heraus, zu entscheiden, ob und wie weit sie das Verhalten des Vaters akzeptiert
und mitträgt oder ob sie interveniert. Sie stellt sich damit auch als „Evaluatorin“ (Meuser 2011: 77) der väterlichen Sorgearbeit dar: Dem Vater wird damit
gerade kein fraglos anerkannter Platz in der Sorgearbeit zugestanden, während
sich für die Mutter eine deutliche Verteidigung ihrer ‚Hoheitsrechte‘ und ihrer
Deutungsmacht konstatieren lässt.
5 Schluss: (Un-)Ordnungen der Sorge
Der Beitrag ging von der These aus, dass sich die Figur des aktiven Vaters, die
in aktuellen Vaterschafts- und Elternschaftsdiskursen eine große Rolle spielt,
in spezifischer Weise auch in den Interviews mit Eltern zeigt und gerade nicht
nur Väter ‚anruft‘, sich als solche zu zeigen, sondern auch Mütter zur Stellungnahme herausfordert. Die Häufigkeit der Darstellungen in den Interviews sowie die vehementen Versuche der Interviewpartnerinnen, die Interviewerin zu
überzeugen, zeigen, dass keine Zweifel bei der Interviewerin aufkommen sollen, dass es sich bei dem betreffenden Vater nicht um einen ‚aktiven Vater‘
handeln könnte. Es entsteht somit der Eindruck, dass diese Diskurse nicht nur
für die Väter Anrufungen zur ‚aktiven Vaterschaft‘ enthalten, sondern letztendlich auch für die Mütter, sich als Teil eines egalitären Elternpaares zu zeigen und damit auch den Vater ihres Kindes/ihrer Kinder als aktiven Vater zu
präsentieren. Damit erhöhen solche Diskurse gerade nicht nur den normativen
Druck auf Väter, wie es Meuser (2009: 85) konstatiert, sondern, so muss ergänzt werden, offenbar auch auf die Mütter. Die Mütter zeigen sich jedoch
eigensinnig und widerspenstig in der Beantwortung der Diskursanrufungen:
Zwar weisen sie die Väter als engagierte aus, transformieren die Figur des ‚aktiven Vaters‘ jedoch zugleich in die des ‚inkompetenten, anleitungsbedürftigen
Vaters‘. Sie entwerfen sich damit vielfach als ‚Zugangskontrolleurinnen‘ des
Sorgeterritoriums, die über die Möglichkeiten der Väter entscheiden, in den
familiären Bereichen aktiv zu werden. In den Darstellungen zeichnen sich damit weiterhin Reste der alten Geschlechterasymmetrie in der Elternschaft ab,
indem Mütter die Hauptverantwortung und Sorgehoheit beanspruchen und der
Vater als unterlegener Neuling behandelt wird.
173
Rhea Seehaus
Dies, so die abschließende These, hängt nicht zuletzt damit zusammen,
dass die Diskurse zur egalitären Elternschaft zwar den Vater als gleichgestellten Kooperationspartner anrufen, jedoch vielfach Mütter auch weiterhin –
wenn auch manchmal eher subtil – als Hauptverantwortliche für die gute Entwicklung des Kindes adressieren (vgl. Schneider 2002: 12).7 Studien zur Arbeitsteilung in Familien (vgl. u.a. Cornelißen 2005: 267; Cornelißen/Rusconi/
Becker 2011: 14) zeigen, dass der diskursiv vielfältig verhandelten und immer
wieder thematisierten Figur des aktiven Vaters – die ja immer wieder als Synonym für eine egalitärere Arbeitsverteilung gilt – oftmals auch weiterhin die
ungleiche Verteilung der täglich geleisteten Sorgearbeit gegenübersteht und
sich damit offenbar für Mütter in Bezug auf die Sorgearbeit wenig verändert.
Transformationen der Sorge finden derzeit offenbar noch eher auf diskursiver
Ebene denn auf der Ebene familialer Praxis statt. Zudem ist die Figur des ‚aktiven Vaters‘ sehr positiv aufgeladen und bietet Vätern auch neue Anerkennungsfelder, während für Frauen im Rahmen der Sorgearbeit das Pendant fehlt.
„Auf der Ebene der Politik, auch und gerade der derzeitigen Familienpolitik
und der Arbeitsmarktpolitik, sind ‚gute Mütter‘ vor allem solche, die einen
‚guten Beruf‘ haben, ‚gutes Geld‘ nach Hause bringen, für ‚gute (materielle)
Verhältnisse‘ sorgen. Zugleich sind ‚gute‘ Mütter im Sinne des kleinkindlichen
Bildungswesens oder der Jugendhilfe solche, die für ihre Kinder dauerverfügbar sind und allerlei zeitliches, finanzielles und inhaltliches Engagement zugunsten der Bildung der Kinder zeigen“ (Thiessen/Villa 2009: 13). Die Ausbalancierung zwischen diesen unterschiedlichen Adressierungen – als ‚traditionelle Hausfrau‘, weil sie ausschließlich für das Kind da sein möchte und nicht
oder nur sehr wenig erwerbstätig ist, und der Rolle als ‚Rabenmutter‘, weil sie
genau das Gegenteil tut – muss jede Frau individuell leisten. Anzunehmen ist,
dass diese Balance mehr als schwierig zu halten ist und zugleich von dem
neuen „Helden“ (Pohl 206: 171) – dem gesellschaftlichen, diskursiven Entwurf
des aktiven Vaters, der beides vereint – empfindlich gestört wird. Die gezeigten mütterlichen Umgangspraktiken mit der diskursiven Figur des aktiven Vaters lassen sich auch als Distinktions- und Exklusionspraktiken verstehen, die
sich vermutlich genau in diesem Dilemma der Mütter verorten lassen: Sie können als Versuch verstanden werden, auch weiterhin die ‚Regie‘ in der elterlichen Sorgearbeit führen zu können und die Sorgehoheit zu behalten, da der
‚aktive Vater‘ zumindest diskursiv zunehmend Raum greift, sich jedoch noch
nicht zwangsläufig Veränderungen in den Elternschaftsrealitäten zeigen.
7
174
Diese pränatalen Anrufungen von Müttern und Vätern sind auch Thema des von Lotte Rose
geleiteten HMWK-Projekts „Statuspassage Elternschaft. Zur Herstellung geschlechtsspezifischer Ungleichheiten in den pränatalen Praxen von Müttern und Vätern“, das derzeit an der
FH Frankfurt am Main durchgeführt wird. In diesem Projekt werden Institutionen der Natalität, wie Informationsabende in Entbindungskliniken und Geburtsvorbereitungskurse, ethnographisch beobachtet und die jeweiligen institutionellen Anrufungen, aber auch die Konstruktionspraxen von Mutter- und Vaterschaft praxisanalytisch untersucht.
(Un-)Ordnungen der familialen Sorge?
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178
Ambivalenzen und transformative Potenziale
im Arbeitskontext Wissenschaft:
Zur Vereinbarkeit von Wissenschaft und Elternschaft
in Dual-Career-Familien
Stefanie Leinfellner
1 Einleitung und Überblick
Dual-Career-Familien gelten als vergleichsweise neue Lebensform, die angesichts globaler Reproduktionskrisen und sozialer Ungleichheitsverhältnisse im
Kontext gesellschaftlicher Transformationen auf den Ebenen von Familie, Arbeit und Geschlecht betrachtet werden muss. Im folgenden Beitrag wird das
Vereinbarkeitsmodell der Dual-Career-Familie, im Speziellen von Doppelkarrierefamilien aus dem Arbeitskontext Wissenschaft, in den Blick genommen.
Veränderungen wie auch Konflikte auf verschiedenen Ebenen betreffen dort
sowohl die Sphäre der Erwerbsarbeit als auch die von intimen Beziehungen.
Mit welchen Ambivalenzen werden Doppelkarrierepaare bei der Vereinbarkeit
von Elternschaft und Wissenschaftskarriere in diesen Sphären konfrontiert und
wie bewältigen sie diese? Sind dabei Transformationen erkennbar, die ein Aufbrechen geschlechtsspezifischer Zuschreibungen und Definitionen befördern?
Und inwieweit fordern im Speziellen Doppelkarrierepaare aus dem Arbeitskontext Wissenschaft eine Veränderung der Institution Hochschule als Arbeitsort heraus?
Zur Beantwortung der genannten Leitfragen werden im Beitrag zunächst
Traditionen und Transformationen im Kontext von Arbeit und Familie und deren Verwobenheit beleuchtet (2), bevor die Gruppe der Dual Career Couples
näher in den Blick genommen wird (3). Im Folgenden wird dann eine Interviewstudie mit Doppelkarrierefamilien vorgestellt (4), um im weiteren Verlauf
des Beitrags eine Analyse der Ambivalenzen im Arbeitskontext Wissenschaft
hinsichtlich der Vereinbarkeit von wissenschaftlicher Karriere und Familie
vorzunehmen (5). Abschließend werden die zusammengetragenen Ergebnisse
diskutiert und Ambivalenzen wie Transformationen auf den Ebenen von Familie, Arbeit und Geschlecht ausgelotet (6).
Stefanie Leinfellner
2 Traditionen und Transformationen im Kontext
von Arbeit und Familie
Kontexte von Arbeit und Leben unterliegen in der bundesrepublikanischen Gegenwartsgesellschaft zahlreichen Transformationen. Globalisierung und Internationalisierung sowie die verstärkte Bildungsbeteiligung und Berufsorientierung junger Frauen strukturieren und erweitern die zunehmend entgrenzte Arbeitswelt. Auf der anderen Seite ziehen Individualisierung, (familien-)demographischer Wandel sowie Pluralisierung und Diversität von Lebensformen
und Lebensmodellen sich wandelnde Funktionen von Familie nach sich und
fordern ‚Familie‘ zugleich als Verantwortungs- und Sorgegemeinschaft, als
Sozialisationsinstanz (vgl. Nave-Herz 2004; König 1972) sowie als „performative Gemeinschaft“ (Rendtorff 2007: 104) heraus.
Gesellschaftliche Transformationen, wie die Erosion der strukturellen
Grenzziehungen von Arbeit und Familie, reißen neue Konflikt- und Problemfelder auf und bergen zugleich Potenziale neu zu verhandelnder Geschlechterverhältnisse – z.B. wenn sich Partnerinnen und Partner nicht mehr zwischen
Arbeit oder Familie entscheiden wollen. Vor allem Paare mit gleichermaßen
hohen Ausbildungsqualifikationen und beruflichen Orientierungen sind bestrebt, eine gleichberechtigte Arbeitsteilung in der Erwerbs- wie der Privatsphäre zu realisieren. Entgegen egalitär orientierten Ansprüchen im Paarverhältnis tendieren jedoch (auch hochqualifizierte) Paare ab dem Zeitpunkt
der Familiengründung in der Praxis weiterhin zu traditionellen Geschlechterarrangements (vgl. Abele 2010: 29ff.; Reichle 1996; Rüling 2007); die Rede ist
von der sogenannten Traditionalisierungsfalle nach der Geburt eines Kindes.
Der Hauptverdiener wird zwar nicht mehr von der Vollzeit-Haus- und -Ehefrau
gestützt, jedoch oftmals von der in Teilzeit erwerbstätigen Partnerin, die weiterhin den größeren Teil der unbezahlten Haushalts- und Care-Tätigkeiten
übernimmt. Staatliche und politische Regulierungen von Arbeits- und Lebensverhältnissen wie auch infrastrukturelle und ökonomische Rahmenbedingungen scheinen weiterhin traditionelle Familienstrukturen und Vereinbarkeitsarrangements zu begünstigen. Ebenso stützen kulturelle Muster patriarchale
Strukturen im Paar- und Familienleben und damit Prozesse der Vergeschlechtlichung und Ungleichverteilung von Ressourcen.
Gegenwärtig werden Geschlecht und Familie im Zuge von Ökonomisierungs- und Flexibilisierungspolitik aktueller Gesellschaften zugleich als Ressourcen verhandelt, deren Kapital es im Sinne der zu verwertenden Arbeitskraft der Mütter und Väter voll auszuschöpfen gilt. Dies wird im Folgenden
auch für den Arbeitskontext Wissenschaft und die Dual-Career-Förderung
nachgezeichnet. Heike Kahlert erkennt – als Folge „des nachhaltigen Geburtenrückgangs in den europäischen Wohlfahrtsgesellschaften“ und als Folge
„der Verknappung von verfügbaren Humanpotenzialen“ (2013: 36) – einen
180
Wissenschaft und Elternschaft in Dual-Career-Familien
transnational in der EU-Politik betriebenen Wandel vom Leitbild der „modernisierten Versorgerehe“ (Rendtorff 2011: 41 sowie Peuckert 2008: 240) hin
zur Zwei-Verdiener-Familie bzw. Dual-Career-Familie.1 Dabei habe, so Fraser, die Neue Frauenbewegung mit der Kritik am Familienlohn „unwissentlich
und unwillentlich dem neuen Geist des Neoliberalismus eine ganz wesentliche
Zutat [ge]liefert“: eine Zutat, „die dem flexibilisierten Kapitalismus einen höheren Sinn, einen moralischen Vorsprung zubilligt“ (Fraser 2009: 52). Im Kontext des Vereinbarkeitsdiskurses habe sich der „Traum von der Frauenemanzipation in den Dienst der kapitalistischen Akkumulationsmaschine gestellt“
(ebd.). Denn nach der zweiten Frauenbewegung stieg zwar der Frauenanteil in
Bildungs- und Arbeitskontexten an, die Verteilung von unbezahlter Hausarbeit
und Sorgetätigkeit und von bezahlter Arbeit wurde jedoch weder gänzlich neu
bewertet noch neu organisiert.
Es zeigt sich eine Gegensätzlichkeit zwischen dem, was auf normativer
Ebene in Gesellschaft und Politik als Leitbild propagiert wird, und der erläuterten Traditionalisierungsfalle, die auf der Mikroebene der Familie von Starrheit geprägt ist. Weil die Übernahme der Routinen alltäglicher Reproduktionsarbeit weiterhin in den Zuständigkeitsbereich der Frau fällt, beschreiben
Oberndorfer und Rost, die grundlegende Veränderungen in den Verhaltensmustern und Männlichkeitskonstrukten von Vätern in Frage stellen, eine „verbale Aufgeschlossenheit bei weitgehender Verhaltensstarre“ (Oberndorfer/
Rost 2002: 14)2. Behnke und Meuser (2005: 128) analysieren in ihrer Studie
über Dual Career Couples in ähnlicher Form bezogen auf die Berufs- und Karriereorientierung in Paaren eine faktische Vorrangigkeit der Karriere des Mannes parallel zu einer Gleichwertigkeit der beruflichen Ambitionen beider Partner_innen als lediglich idealisierter Basis der Beziehung.
3 Dual Career Couples
Theoretische wie empirische Studien (Ostermann 2002; Peuckert 2008;
Schulte 2002; Solga/Wimbauer 2005) verweisen darauf, dass infolge der Individualisierung weiblicher Lebenszusammenhänge und der Bildungsbeteiligung sowie der wachsenden Karriereorientierung von Frauen die Anzahl der
Akademiker_innenpaare steigt. Metz-Göckel und Mitarbeiterinnen stellen darüber hinaus die These auf, dass ‚traditionelle‘ Paarkonstellationen, in denen
die Partnerinnen „um den Preis ihrer eigenen beruflichen Karriere die gesamte
1
2
Darin begründet sieht Kahlert auch die politischen Bestrebungen zur Integration von Frauen
in den Arbeitsmarkt sowie die „gezielte[n] Anstrengungen zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf“ (Kahlert 2013: 36).
Angelika Wetterer (2003: 286) verweist in ähnlicher Form auf eine lediglich „rhetorische
Modernisierung“ der Geschlechterverhältnisse.
181
Stefanie Leinfellner
Haushalts- und Familienarbeit übernehmen“, vor allem im Arbeitskontext
Wissenschaft abnehmen, während Paarbildungen, „in denen die reproduktive
Arbeit neu verhandelt und verteilt wird“ (Metz-Göckel et al. 2014: 26), zunehmen.3 Dennoch geben bislang lediglich Schätzungen Auskunft über die Häufigkeit dieses Paarmodells in Deutschland (vgl. Abele 2010: 25; Solga/Wimbauer 2005: 9f.; Schulte 2002: 256). Zugleich bedingt die oftmals nicht eindeutige Definition von Dual Career, wer zu dieser Gruppe gezählt wird oder
nicht. Im Folgenden werden einige Merkmale genannt, die eine Charakterisierung von Dual Career Couples erlauben. Die Gruppe der Dual Career Couples
kennzeichnet berufliches „commitment“ (Behnke/Meuser 2005), eigenständige Berufslaufbahnen, eine lebenslange Karriereorientierung sowie hohe Egalitätsansprüche in der Partnerschaft (vgl. auch Solga/Wimbauer 2005: 9). Als
„Paare auf Augenhöhe“ (Lukoschat/Walther 2008) haben beide Partner_innen
in der Regel gleichermaßen hohe Ausbildungsqualifikationen, ohne dass jedoch in beiden Fällen Vollzeiterwerbstätigkeit gegeben sein muss (vgl. Abele
2010: 22). Nebst Paaren in der Wissenschaft können Dual Career Couples
ebenfalls Paare „in anderen anspruchsvollen und herausfordernden akademischen Berufen“ sein (Gramespacher/Funk/Rothäusler 2010: 13). In der spezifischen Personengruppe der Wissenschaftler_innen sind Dual Career Couples
jedoch vermehrt anzutreffen, was dem Hinweis von Gramespacher und Funk
entspricht, „dass der Berufstätigkeit [bei Dual Career Couples] aufgrund inhaltlicher Interessen nachgegangen wird, und dass sie weder ausschließlich
noch vorrangig ökonomisch begründet ist. [Denn] dieses Merkmal gilt in aller
Regel für wissenschaftliche Karrieren“ (2009: 137). Die Ergebnisse von
Rusconi und Solga bestätigen, dass „die Karrierechancen von (partnerschaftlich gebundenen) Frauen in der Wissenschaft zumeist an die Realisierungschancen von Doppelkarrieren gebunden“ sind (2011: 20).
Dual Career Couples setzen sich zum Ziel, (bestenfalls gleichberechtigt)
das Karrierebestreben beider Partner_innen im Erwerbsleben erfolgreich mit
den Sorgeaufgaben im Kontext des Privatlebens zu vereinbaren. Metz-Göckel
und Mitarbeiterinnen fassen solche Paarbeziehungen als „symmetrische[]
Paar- und Elternbeziehungen in dem Sinne, dass bei (vergleichbarer) Qualifikation und Berufstätigkeit auch die reproduktiven Arbeiten zwischen den Geschlechtern gleich verteilt“ werden (Metz-Göckel et al. 2014: 21). Trotz ihrer
Abwendung von geschlechterungleichen Paararrangements sehen sich jedoch
auch Dual Career Couples mit den erläuterten traditionalisierenden politischen
Regulierungen und strukturellen Rahmungen konfrontiert. Rusconi und Solga
identifizieren das Vorhandensein von Kindern (insbesondere unter Dreijährigen) als entscheidenden Einflussfaktor für die Erwerbs- und Karrierekonstellationen bei Paaren sowie für die Realisierung von Doppelkarrieren, weil es
3
182
Auch in den Ergebnissen von Behnke und Meuser finden sich „die am weitesten enttraditionalisierten Paararrangements […] bei den jungen Wissenschaftlerpaaren“ im Alter von Ende
20 bis Anfang 30 (Behnke/Meuser 2005: 132).
Wissenschaft und Elternschaft in Dual-Career-Familien
„auch in Akademikerpartnerschaften eine klassische geschlechtstypische Arbeitsteilung“ forciert (2008: 17). Die Autorinnen analysierten im Rahmen des
Projektes „Gemeinsam Karriere machen“ die Verflechtung von Berufskarrieren und Familie in Akademiker_innenpartnerschaften. Sie unterscheiden in ihren Ergebnissen hierarchische, individualistische und egalitäre Verflechtungsweisen bzw. Koordinierungsarrangements (vgl. Rusconi/Solga 2011: 25). Vergleichsweise selten konnten Rusconi und Solga egalitäre Koordinierungsarrangements ausmachen, im Rahmen derer sie „für die langfristige Realisierung
einer Gleichwertigkeit von Karriere, Partnerschaft und evtl. Elternschaft […]
Einschränkungen der Karrieren beider Partner“ befürchten, weil „Karrierepotenziale zugunsten der Familie nicht ausgeschöpft werden“ könnten (ebd.: 25).
Lukoschat und Walther (2008) sehen im Gegensatz dazu gerade in der gemeinschaftlichen Bewältigung der Berufs-, Familien- und Reproduktionsarbeit
einen sehr entscheidenden Erfolgs- und Zufriedenheitsfaktor von Dual Career
Couples. In ihrer Studie über die Situation von knapp 1.200 in der Wirtschaft
beschäftigten Doppelkarrierepaaren nennen die Autorinnen den Mehrwert des
Spagates zwischen Berufswelt und Familie „das Beste aus zwei Welten“ (Lukoschat/Walther 2008: 130), auch wenn sie weiterhin Handlungsbedarf feststellen und die Forderung nach konkreten Maßnahmen an Politik und Wirtschaft adressieren. In Fallbeispielen der Autorinnen wird die eigene Familie
von den Befragten als positive Ressource für das berufliche Engagement, die
eigene Leistungsfähigkeit und das Beachten von persönlichen Grenzen beschrieben.
Tomke König verweist ebenfalls auf transformative Potenziale, die der Reproduktionsarbeit innewohnen: „Neue Momente der Geschlechterordnung, die
im Umgang mit den Anforderungen der Reproduktionsarbeit entstehen, wirken
sich so gesehen langfristig auf den gesamtgesellschaftlichen Umgang mit der
Reproduktionsarbeit aus. Die Geschlechterverhältnisse werden als Auslöser
oder ‚Motor‘ für eine gesamtgesellschaftliche Transformation des Ökonomischen verstanden“ (2012: 215).
Gesellschaftliche Transformationsprozesse hinsichtlich Familie, Arbeit
und Geschlecht sowie die von König angesprochene Motorenfunktion sollen
im Folgenden in Bezug auf den Arbeitskontext Wissenschaft und auf die im
Rahmen einer Interviewstudie befragten Dual-Career-Familien analysiert und
hinterfragt werden.
183
Stefanie Leinfellner
4 Datenmaterial und -analysen
Für die folgenden Analysen wird empirisches Datenmaterial aus einer Interviewstudie herangezogen, für die 14 teilstrukturierte, problemzentrierte Leitfadeninterviews (vgl. Witzel 1982) mit Dual-Career-Familien aus dem Hochschulraum NRW und angrenzenden Bundesländern geführt wurden. Acht
Doppelkarrierepaare sowie deren fünf- bis zwölfjährige Kinder berichten in
biographisch angelegten Paar- bzw. Kinderinterviews aus ihrem Berufs- und
Familienalltag.4 „Die Konstruktionsprinzipien des problemzentrierten Interviews (PZI) zielen [dabei] auf eine möglichst unvoreingenommene Erfassung
individueller Handlungen sowie subjektiver Wahrnehmungen und Verarbeitungsweisen gesellschaftlicher Realität“ (Witzel 2000).
Für die Rekrutierung der Befragten und die Zusammensetzung des Samples
waren folgende Kriterien entscheidend: dass die Paare die für die Studie festgelegte Definition von Dual Career für das eigene Lebensmodell bestätigen
(vgl. Definition unter 3.), dass mindestens eine/r im Dual Career Couple eine
wissenschaftliche Karriere im universitären Kontext verfolgt und auf Professurebene angelangt ist und dass die Paare mit mindestens einem Kind unter 12
Jahren im eigenen Haushalt zusammenleben. Die Stichprobe umfasst sowohl
reine Wissenschaftler_innenpaare als auch gemischte Paarkonstellationen aus
Wissenschaft und Wirtschaft mit jeweils ein bis drei Kindern. Zum Sample
zählen zwei Professor_innenpaare, drei Professor_innen mit einer Partnerin/einem Partner im außeruniversitären Forschungsbereich bzw. im Forschungsmanagement sowie drei Professor_innen, deren Partner_innen sich (z.T. nach vorheriger Berufslaufbahn in der Wissenschaft) für ein Angestelltenverhältnis in
der Wirtschaft bzw. für eine selbstständige Tätigkeit entschieden haben. Mit
Blick auf den in der Studie und für die Analysen fokussierten Arbeitskontext
Wissenschaft bzw. die universitäre Karrierelaufbahn haben alle befragten Professor_innen einen Lehrstuhl an einer Universität inne.
Die aufgezeichneten Interviews wurden mittels qualitativer Analyseverfahren5 zunächst detailliert als Einzelfall und im Anschluss systematisch kontrastierend entlang eines im Forschungsprozess induktiv wie deduktiv erarbeiteten
Kategoriensystems analysiert – orientiert an Witzels Hinweisen zur Erhebung
und Auswertung der empirischen Daten des PZI „als induktiv-deduktives
Wechselverhältnis“ (Witzel 2000: 2).
4
5
184
Die detaillierten, am Lebensverlauf der Befragten orientierten Interviews wurden über einen
Zeitraum von einer Stunde (Kinderinterviews) bis 2,5 Stunden (Paarinterviews) durchgeführt. Sofern die Familien weitere jüngere Kinder hatten, wurden diese nicht interviewt.
Vgl. methodisches Vorgehen der Auswertung des PZI nach Witzel (2000) sowie das der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring (2010, 2002).
Wissenschaft und Elternschaft in Dual-Career-Familien
5 Ambivalenzen im Arbeitskontext Wissenschaft
„Doppelte Vergesellschaftung“ (Becker-Schmidt 2003), unterschiedliche Logiken der Sphären Produktion und Reproduktion und eine hohe Rate von Kinderlosigkeit bei Wissenschaftler_innen (vgl. Metz-Göckel et al. 2009; Lind
2010) in einer Zeit der Krisen und sozialen Transformationen legen mitunter
eher die Unvereinbarkeit von doppelter Karriere (in der Wissenschaft) und Familie nahe. Geschlecht gilt dabei weiterhin als ungleichheitsfördernder Faktor
im Erwerbssystem im Allgemeinen wie im Wissenschaftssystem im Speziellen. Wie im Verlauf des Beitrags noch konkretisiert wird, unterliegt auch das
Wissenschaftssystem als Arbeitsort zahlreichen Transformationsprozessen,
wie z.B. der Entwicklung hin zu marktförmig organisierten Universitäten im
Zuge wachsender Transnationalisierungs- und Ökonomisierungsprozesse, in
deren Kontext entsprechende Steuerungsinstrumente an Hochschulen Einzug
halten (vgl. Binner et al. 2013: 9). Solche Entwicklungen und Umwälzungsprozesse haben nicht nur Auswirkungen auf die Strukturierung und Finanzierung von Universitäten, sondern unmittelbar auch auf die Beruflichkeit als
Wissenschaftler_in (z.B. hinsichtlich Eigenständigkeit oder Abhängigkeit im
wissenschaftlichen Arbeits-, Lehr- und Forschungsalltag) und auf die Vereinbarkeit von Dual Career und Familie.
5.1 Transformative Potenziale in der Vereinbarkeitspraxis
von Dual-Career-Familien?
Obwohl Behnke und Meuser (2005: 128) die Gleichheitsannahme der beruflichen Ambitionen beider Partner als paarspezifische „illusio“ – als oftmals lediglich idealisierte Basis in Doppelkarrierebeziehungen – entlarven (vgl. 2.),
zeigt sich im analysierten Interviewmaterial der Studie vor allem im Feld der
Erwerbsarbeit, dass der angestrebten Egalität und Gleichwertigkeit der Paare
in einem hohen Maße entsprochen wird. Häufig wechselt je nach „Vertragsvereinbarung“ (Paarinterview [PI] Bayer6) der Partner_innen, welche Karriere
zu welchem Zeitpunkt Vorrang hat. Dabei wird viel Wert darauf gelegt, dass
dieser Wechsel gleichrangig und gleichwertig vollzogen wird.
Die interviewten Dual Career Couples wurden zu ihren Berufsbiographien,
zu Abstimmungsprozessen auf den jeweils eigenständigen Karrierewegen, zur
Vereinbarkeit von Karriere und Sorgearbeit und zu Strukturen im Familienalltag befragt. Dabei berichten die Wissenschaftler_innenpaare beispielsweise
die prekären Beschäftigungsbedingungen im Arbeitskontext Wissenschaft bestätigend , dass sie durch ihre jeweils unsicheren Beschäftigungsverhältnisse
zur Existenzsicherung der Familie beide Karrieren gleichermaßen intensiv
6
Alle Namen und Ortsangaben der in der Interviewstudie Befragten wurden anonymisiert.
185
Stefanie Leinfellner
verfolgen mussten. Aus dem Datenmaterial könnte also paradoxerweise mit
Blick auf Geschlecht aus der doppelt-prekären Beschäftigungssituation im
Wissenschaftssystem transformatives Potenzial abgeleitet werden. Die Strategie, beide Karrieren im Lebensverlauf (mitunter zu unterschiedlichen Zeiten
mit wechselnden Schwerpunktsetzungen) gleichberechtigt zu realisieren, entspricht auf der ideellen Ebene zugleich den Egalitätsansprüchen der Paare. Bei
den befragten Dual-Career-Familien fällt häufig an bedeutsamen Schnittpunkten im Lebensverlauf die Entscheidung zugunsten der Karriere der Frau aus,
z.B. weil sie es ist, die als Erste den Ruf an eine Universität erhält und damit
eine langfristige und die Familie finanziell absichernde Berufsperspektive in
Aussicht gestellt bekommt. Das schildert beispielsweise Familie Kemper nach
der Erstberufung von Frau Kemper. Herr Steinbach (wie z.B. auch Herr Wiemann), der für die Betreuung und Sorge seines Kindes im ersten Lebensjahr
vorrangig verantwortlich ist – und zugleich für anfallende Hausarbeiten –,
nutzt die Elternzeit nach der Geburt der Tochter, um sich beruflich in der Wissenschaft neu zu orientieren. Das Vereinbarkeitsarrangement bei Familie Riehl
– mit ihrer Berufung auf einen Lehrstuhl und seiner wachsenden Selbstständigkeit – entwickelt sich hingegen erst schrittweise dahingehend, dass reproduktive Arbeiten vermehrt Herrn Riehl zugeschrieben werden: „Das war wirklich so ein organischer Prozess, dass sich das stärker in meinen Verantwortungsbereich verlagert hat“ (PI Riehl, #00:50:13-7#).
Im Feld der Familien- und Reproduktionsarbeit finden sich somit bei den
befragten Paaren sowohl traditionelle als auch von traditionellen Zuschreibungen abgewandte Aufgabenzuteilungen für unterschiedlichste Tätigkeitsbereiche. Die Paare wirken innerhalb dieser Koordinierungsarrangements als Eltern
multiplizierend, weil ihre Kinder innerhalb der Familienstrukturen und -routinen geschlechter(un)spezifische bzw. geschlechter(un)gerechte Arbeitsteilungen wahrnehmen und reproduzieren. Durch die eigene Vereinbarkeitspraxis
möchten die befragten Dual-Career-Familien bestehende Familienbilder – vor
allem hinsichtlich der Arbeitsteilung – auf der Ebene des eigenen Familiensystems verändern, indem sie gleichberechtigte Strukturen in der Aufteilung von
Zuständigkeiten zu etablieren versuchen. In der Datenanalyse der Kinder- wie
auch der Paarinterviews zeigt sich, dass die befragten Dual-Career-Eltern, innerhalb einer reflektierten Perspektive auf Geschlecht und auf die Wirkung
von Geschlechternormen, bestrebt sind, den Nachwuchs weniger in Richtung
polarisierender Geschlechterzuweisungen zu beeinflussen. Bezeichnende Aussagen der Kinder bestätigen, dass die Haltungen und Deutungen der Eltern von
ihnen wahrgenommen und nicht selten reproduziert werden.
Mit der Vorbildfunktion, die sich etwa Frau Steinbach zuschreibt, korrespondiert auf Seiten ihrer fünfjährigen Tochter eine Auffassung von Arbeitsteilung zwischen den Eltern, die – an (Geschlechter-)Gerechtigkeit orientiert –
durch das Prinzip „abwechselnd[er]“ Zuständigkeiten für Betreuungszeiten
und Hausarbeiten gekennzeichnet ist. Besonderes Potenzial für ein Aufbrechen
186
Wissenschaft und Elternschaft in Dual-Career-Familien
geschlechtsspezifischer Aufgabenverteilungen in der Haus- und Sorgearbeit
kommt ferner Pendelsituationen, Elternzeiten sowie Zeiten der Nichterwerbstätigkeit des Vaters zu. Die Kinder erleben, dass die Arbeit im Haushalt nicht
abhängig vom Geschlecht, sondern in Abhängigkeit vom Erwerbsarbeitsvolumen bzw. von der Anwesenheit zu Hause verteilt wird. Die zwölfjährige Tochter Bianca der Familie Bayer leitet daraus egalitäre Ansprüche bezüglich der
Aufgabenteilung in einer zukünftigen eigenen Partnerschaft ab:
„Also ich werde später meinem Freund auf jeden Fall sagen, dass der Haushalt nichts für
Frauen ist, das machen alle beide. Ich find das überhaupt nicht gut, dass das früher nur Frauen
gemacht haben. Ich finde das stimmt nicht, dass Männer das viel besser können – äh – also
arbeiten. Und Frauen viel besser Haushalt. […] Also wenn man beides gleich viel beibringt,
beide gleich viel fördert, dann finde ich, kann man das beides.“
Entlang der sozialen Konstruktion von Geschlecht argumentiert Bianca, dass
geschlechterstereotype Aufgabenzuteilungen nicht in der naturbedingten Geschlechterdifferenz, sondern in der geschlechtstypisierenden Sozialisation begründet liegen, da Mädchen und Jungen unterschiedliche Kompetenzen nahegelegt bekommen.
Die befragten Paare möchten gegenüber ihren Kindern wie auch in ihrem
beruflichen und privaten sozialen Umfeld mit der Intention, bewusst als Multiplikator_innen neuer Vereinbarkeitsmodelle zu wirken, zur (positiven) Aussenwirkung des Dual-Career-Modells beitragen. Der Anspruch und die Selbstwahrnehmung, aktiv transformierend zu wirken, finden sich in zahlreichen
Paarinterviews wieder. Frau Steinbach (Professorin) zielt in Interaktionen darauf, irritierend ‚dazwischen‘ zu gehen, Verwirrung zu stiften und nachhaltig
entgegen traditioneller Geschlechterorientierung zum Umdenken zu bewegen.
Sie reflektiert Gespräche mit einem anderen Wissenschaftler_innenpaar:
„Ich erinnere mich gut an verschiedene Gespräche, wo ich einem anderen Paar, die [ebenfalls] beide Wissenschaftler sind, er eine W3, sie eine W2, gesagt habe, zu dem Mann in dem
Fall […]: Wieso gehst du jetzt nicht mal in Elternzeit? Ist doch viel einfacher, anstatt dass
du immer pendelst! Setz’ doch einfach mal ein Jahr aus! Und der hat mich angeguckt, als
hätte ich sie nicht mehr alle! Und hat gesagt: Das geht doch nicht! Aber dass seine Frau das
tut, hat er überhaupt nicht reflektiert!“ (PI Steinbach, #02:22:57-0#)
Frau Kemper hingegen, ebenfalls eine der befragten Professorinnen, sieht sich
klar in der Rolle der Multiplikatorin gegenüber dem wissenschaftlichen Nachwuchs, den sie dazu motivieren möchte, trotz mitunter vereinbarkeitsunfreundlicher Rahmenbedingungen eine wissenschaftliche Karrierelaufbahn in Betracht zu ziehen:
„Ich mache es ganz bewusst. […] Alle meine Diplomand_innen und Doktorand_innen, die
mit Kindern konfrontiert wurden oder mit der Entscheidung, bekomme ich jetzt ein Kind
oder nicht, rufen mich noch regelmäßig an und fragen nach. […] Ich versuche die immer
dazu zu animieren, weiterzumachen. […] Ich sage dann: Du hast das Potenzial. Jetzt überlege dir, was du gerne machen willst. Es ist schwer und man muss kämpfen! Aber du solltest
es nicht von vorne herein ausschließen … die akademische Karriere.“ (PI Kemper,
#01:51:20-8#)
187
Stefanie Leinfellner
Die befragten Wissenschaftlerinnen berichten, dass sie sich im Karriereverlauf
als Wissenschaftlerin und Mutter nicht selten gegen stereotype Leitbilder in
einem männlich konnotierten Arbeitsfeld7 durchsetzen mussten (vgl. Leinfellner 2014: 86). Arbeitsverhältnisse in der Wissenschaft weisen entlang eines
„Male- bzw. Gender-Bias“ (vgl. z.B. Kortendiek et al. 2013: 353) weiterhin
geschlechterhierarchische Strukturen auf. Zugleich ist aus dem Datenmaterial
abzulesen, dass vorrangig die Interviewpartnerinnen ihre Aufgabe in der selbst
gewählten Funktion als sozialisierend Transformierende sehen.
5.2 Dual-Career-Förderung im Kontext der Ökonomisierung von
Hochschulen
Wie bereits entlang der Thesen von Fraser (2009) analysiert wurde (vgl. 2.),
gilt Vereinbarkeit entgegen der Intentionen der Frauenbewegungen der 70er
Jahre heute im Kontext des demographischen Wandels, des Fachkräftemangels
und des internationalen Wettbewerbs um hochqualifizierte Wissenschaftler_innen weniger als emanzipatorisches denn als ökonomisches Projekt (Thon
2014). Auch Heike Kahlert (2013: 48) unterstreicht die rein ökonomische und
demographische Funktionalität der Chancengleichheit, die sich u.a. am Beispiel der Dual-Career-Förderung aufzeigen lässt: Im Kampf um die ‚besten
Köpfe‘ implementieren Hochschulen verstärkt Service- und Unterstützungsprogramme zur Förderung von Dual Career Couples, um sie beispielsweise
zum gemeinsamen Ortswechsel zu motivieren (Gramespacher/Funk/Rothäusler 2010). Nicht erstaunlich ist, dass sich diese Entwicklungen im Zuge des
organisational turn ereignen, durch den Hochschulen „entlang des Leitbildes
einer ‚entrepreneurial university‘“ (Riegraf/Weber 2013: 68) und mit dem Ziel
von Exzellenz- und Effizienzsteigerung aktuell als miteinander im Wettbewerb
stehende Organisationen adressiert werden. Es gilt im Rahmen von Berufungsverhandlungen die besten Wissenschaftler_innen für die eigene Universität zu
gewinnen. Um diesem Ziel näher zu kommen, liegt ein zentraler Schwerpunkt
der Beratungsarbeit der Dual Career Services in der Unterstützung bei der
Stellensuche für die Partnerin/den Partner der bzw. des zu Berufenden.
Die interviewten Familien, von denen einige im Berufsverlauf bei der Synchronisation ihrer Karrieren Hilfestellung von Dual Career Services und ähnlichen Förderprogrammen in Anspruch genommen haben, bewerten in den geführten Interviews die Zielgerichtetheit und Effektivität von Dual-CareerMaßnahmen mitunter kritisch. Herr Johanson berichtet im Rahmen der Dual-
7
188
Wissenschaft als Lebensform ist „in einem sozialen Kontext [entstanden], in dem eine komplementäre Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen vorherrschte“ (Metz-Göckel et al.
2014: 25).
Wissenschaft und Elternschaft in Dual-Career-Familien
Career-Förderung der Universität, an die er berufen wurde, von zuvorkommenden Angeboten für seine Partnerin, die nach der Promotion nach einer attraktiven Stelle suchte. Schwieriger wird es dann, wenn bei einem zu beratenden
Paar beide eine wissenschaftliche Karrierelaufbahn verfolgen bzw. beide bereits auf Professurebene angelangt sind. Das interviewte Paar Steinbach realisiert zwei Karrieren in der Wissenschaft (zum Interviewzeitpunkt beide auf
Professurebene an zwei verschiedenen Universitäten) im Rahmen einer Pendelsituation über eine Distanz von 250 Kilometern und hat, wie bereits erwähnt, eine Tochter im Alter von fünf Jahren. Frau Steinbach konnte im Berufungsverfahren erfolgreich eine (befristete) Stelle für ihren Mann heraushandeln, während Herr Steinbach zu einem späteren Zeitpunkt beim Ruf an eine
andere Universität keine Unterstützung für seine Partnerin erfährt. Akademische Kultur und deutsches Hochschulrecht erschweren offenbar noch signifikant die Arbeit der Services und damit die Verbesserung der Bedingungen für
doppelte Karrieren in der Wissenschaft. Aus der Perspektive des Professor_innenpaars Kemper sind deutsche Universitäten mit der Situation von Doppelkarrierepaaren noch überfordert:
„Es ist nicht im Bewusstsein! […] Auf zwei Menschen derselben Karrierestufe sind sie [Universitäten] nicht vorbereitet. […] Und auf die Situation, dass die Frau den Ruf erhält und der
Mann etwas sucht, sind sie schon gar nicht vorbereitet.“ (PI Kemper, #00:56:30-7#)
Die Paare des Samples schildern unterschiedliche Erfahrungen mit der DualCareer-Förderung, weil Dual Career an Universitäten in Deutschland – z.B. in
Abhängigkeit von der Implementierung, Verortung und Ausstattung von Dual
Career Services – sehr unterschiedlich thematisiert und umgesetzt wird.
Woelki und Väth diskutieren die Ausrichtung und Zielsetzung der Dual Career
Services in der Praxis der jeweiligen Hochschulen sowie „die Zusammenhänge
zwischen der Förderung von Dual Career Couples und erstens der Frauenförderung, zweitens der Familienförderung, sowie drittens der Organisationsentwicklung“ (Woelki/Väth 2010: 195). Sie sehen in diesem Zusammenhang
transformatives Potenzial im Sinne einer „Selbstreproduktion von Organisationsstruktur und Organisationskultur […] [hin] zu breiter angelegten Veränderungsprozessen in Kultur und System der Wissenschaft“ (ebd.: 206) mit dem
Ziel, traditionelle Familienbilder und Geschlechterrollen aufzubrechen. Dies
gilt jedoch nur, wenn Dual Career „als ein Instrument der Familienförderung
einer Organisation“ gewertet wird und damit zugleich „das kritische Potenzial
des komplexen Gender-Begriffs […] nicht aus dem Blickfeld gerät“ (ebd.:
202).
Hochschulen unterstützen zum einen bei der Stellensuche am neuen Standort bzw. versuchen zum gemeinsamen Ortswechsel zu motivieren (vgl. Gramespacher/Funk/Rothäusler 2010). Zum anderen setzen sie sich mit dem Ziel der
Bestenauslese gegen das in den USA gängige „Dual Hiring“ (Henderson/
189
Stefanie Leinfellner
Gilmartin/Schiebinger 2008) zur Wehr, da ‚paarweise‘ zu berufen hieße, mit
„dem Vorurteil der Vetternwirtschaft“ (Winde 2010: 194) konfrontiert zu werden. Frau Lenze erzählt dazu:
„Mich hat es ehrlich gesagt eher gestört, dass es in Verbindung mit Dual Career gebracht
wurde. […] Mir ist durchaus begegnet, dass Leute gesagt haben: Das ist ja über Dual Career
gelaufen. Nach dem Motto: Wer weiß, ob du diese Stelle hättest, wenn nicht Dual Career.“
(PI Lenze, #01:35:23-2#)
Dual Career Services haben mit dem Nepotismusverdacht also ebenso zu
kämpfen wie die Paare, die im Rahmen von Dual-Career-Programmen erfolgreich bei der Stellenvermittlung unterstützt wurden.
5.3 Optimierungszwänge und Entgrenzungsdynamiken
im Wissenschaftssystem als Arbeitsort
In den Interviews berichten die befragten Wissenschaftler_innen von einem
enormen Anstieg des Arbeitsaufwandes für Drittmitteleinwerbungen und Bürokratie sowie Gremien- und Vernetzungsarbeit. Ein Professor_innenpaar des
Samples, das Paar Steinbach, analysiert angesichts der stetig wachsenden Anforderungen und wettbewerbsorientierten Reglementierungen im wissenschaftlichen Karriereverlauf eine „Grundlogik […] des Immer-Weiterkommens“ (PI Steinbach, #02:25:28-6#), die Herr Steinbach als sich „steigernden
Imperativ“ (PI Steinbach, #02:25:29-8#) bezeichnet. Im Generationenvergleich des Arbeitskontextes Wissenschaft stellt Frau Steinbach fest:
„Das ist etwas, glaube ich zumindest, was sich in unserer Generation stark verändert hat, was
ich in meiner Vorgängergeneration häufig nicht so beobachte.“ (PI Steinbach, #02:25:43-0#)
Hand in Hand mit der verstärkten Wettbewerbsorientierung an Universitäten
geht die 2002 eingeführte Umstellung auf die W-Besoldung der Professuren in
Deutschland. Seitdem wird „fast ein Viertel der vorgesehenen Durchschnittsgehälter von Professor_innen für leistungsbezogene Zulagen wie Berufszusagen, Übernahme von Verwaltungsaufgaben oder besondere wissenschaftliche
Leistungen reserviert“ (Janson/Schomburg/Teichler 2006: 79), was unweigerlich wie gewollt zu einer verstärkten Leistungsmessung und -bewertung auf
Professurebene führt. Frau Steinbach bestätigt und kritisiert diese Entwicklungen im Wissenschaftssystem:
„Eigentlich ist gerade dieses W2, W3, also dieses Besoldungssystem, diese […] Leistungszulagen und dieses ganze System darauf ausgelegt, auf immer höher, weiter, schneller! Es
hört ja nicht auf mit der Professur. Im Gegenteil, das erste was man macht, ist festzulegen:
Was leiste ich in den nächsten drei Jahren, damit ich die Zulage in Höhe von XY kriege?
Und danach muss ich wieder neu verhandeln. Und wenn ich nicht gut verhandle und nichts
geleistet habe, dann gehen meine WiMi-Stellen weg. […] Und natürlich heißt W2 eigentlich
auch W3, sobald das geht. […] Und […] da kann man natürlich immer weiter. Leistung,
Leistung.“ (PI Steinbach, #02:25:28-6#)
190
Wissenschaft und Elternschaft in Dual-Career-Familien
Von der kontinuierlich erfassten Leistung der Professor_innen hängen sowohl
die Berechnungen von deren Leistungszulagen in der W-Besoldung wie auch
Sachmittelbudgetierungen und Personalausstattungen der Fakultäten ab. Die befragten Professor_innenpaare sehen sich mit diesen Entwicklungen im Wissenschaftssystem doppelt konfrontiert bzw. müssen doppelt mit ihnen ‚haushalten‘.
Becker-Schmidt analysiert in diesem Zusammenhang die „Subjektivierung
von Arbeit“ im Kontext postfordistischer Formen der Arbeitsorganisation mit
dem Ziel von „Leistungssteigerung durch Selbstkontrolle und Eigenverantwortung“ (Becker-Schmidt 2011: 14) als Vernutzung der „physischen, psychischen und mentalen Kräfte von Menschen zu Zwecken […], die sich gegen
diese richten“ (ebd.). Nicht mehr zwischen Selbst- und Fremdsteuerung unterscheidend würden abhängig Beschäftigte oftmals unbemerkt ihre Instrumentalisierung „unter dem betrieblichen Druck von wachsenden Qualifikationsanforderungen, die sich mehr und mehr auf intrinsische Motivationsstrukturen
ausweiten, und aus Angst vor Entlassungen oder Karriereknicks“ (ebd.) in die
eigene Regie nehmen. Becker-Schmidt fasst dies als „kapitalistische[n] Raubbau an menschlichen Anlagen“ (ebd.). Frau Steinbach erinnert Unzufriedenheit und große Erschöpfung in ihrem ‚Leben zwischen zwei Welten‘, konfrontiert mit privaten Belastungen in der Familienphase mit Säugling sowie hohen
zeitlichen Erwerbsarbeitsbelastungen, Verantwortlichkeiten für den eigenen
Lehrstuhl und den eigenen Erwartungen an die wissenschaftliche Karrierelaufbahn, bevor sie (wie ihr Partner) an ihrer Universität eine Teilzeitprofessur
aushandelt und so ihre Arbeitszeit bewusst reduziert.8 Tomke König (2012)
berichtet ebenfalls von erschöpften Paaren, die an die physischen und psychischen Grenzen ihrer Belastbarkeit stoßen (vgl. ebenfalls Peuckert 2008: 239),
und sieht das Problem der Doppelbelastung darin, dass weiterhin eine geschlechtliche Arbeitsteilung vorausgesetzt wird, indem diejenigen, die beides
machen wollen, „sich an den Maßstäben messen (lassen), die diejenigen setzen, die nur eins machen“ (ebd. 2012: 193). Das gilt, wie Paare des Samples
berichten, auch für den Arbeitskontext Wissenschaft. Interviewpartner_innen
der Studie kritisieren entlang der „Gesetzmäßigkeiten des Marktes Wissenschaft“ (PI Lenze) zugleich eine mit der Effizienz- und Wettbewerbssteigerung
Hand in Hand gehende Ausbeutung junger Wissenschaftler_innen. Das auf
Professurebene sowie im Forschungsmanagement tätige Wissenschaftler_innenpaar Lenze beschreibt eine Programmatik der „Verschrottung des wissenschaftlichen Nachwuchses“ (PI Lenze), weil junge Wissenschaftler_innen im
Rahmen prekärer Beschäftigungsverhältnisse an Universitäten „in Projekten
mitarbeiten, volle Lehrleistungen erbringen und ihre wissenschaftliche Weiterqualifizierung oftmals unbezahlt in der Freizeit realisieren“ sollen (Leinfellner 2014: 87f.).
8
Das Paar Steinbach realisiert für einen begrenzten Zeitraum ein doppeltes Teilzeit-Professuren-Modell als Koordinierungsarrangement – ein in der deutschen Wissenschaft noch keineswegs gängiges Modell.
191
Stefanie Leinfellner
So wird ‚Raubbau‘ am Arbeitsvermögen in der Wissenschaft mit Hilfe institutionalisierter Leistungsbemessungssysteme, Personalstrukturen und Beschäftigungsbedingungen auf der Ebene der Professuren und des wissenschaftlichen Nachwuchses betrieben. Diese wiederum stützen die Reproduktion geschlechterorientierter Strukturen und Unvereinbarkeiten bei der Ausbalancierung von (doppelter) Wissenschaftskarriere und Familie in diesem Arbeitsfeld.
6 Diskussion
Im Beitrag wurden Transformationen in Kontexten von Arbeit und Leben beleuchtet: Entwicklungen und Veränderungen in der Organisation von Arbeit,
von Wissenschaft als Arbeitsort, von wissenschaftlicher Karrierelaufbahn, in
der Arbeitsteilung von Familien, in der Abstimmung von Karrierewegen und
im Geschlechterverhältnis. Gesellschaftliche Transformationsprozesse wie
auch Individualisierungs- und Biographisierungsprozesse stagnieren nicht,
sondern schreiten fort (vgl. Bilden 2006: 48). Entsprechend ihrem je historisch
veränderlichen Charakter, der zugleich Potenzial für Veränderung birgt, und
in Abhängigkeit von den jeweils vorfindbaren gesellschaftlichen Kontexten
und Anforderungen sind Familie, Arbeit und Geschlecht prozessbedingte Reaktionen und Reproduktionen im gegebenen (historisch-gesellschaftlichen, öffentlichen wie privaten) Raum. Sie strukturieren sich im dynamischen Gleichgewicht der aktuell gesellschaftlich vorherrschenden (binären) Geschlechterordnung und bedingen zugleich die Ausdeutungen und das Ausgestalten der
eigenen Position im gesellschaftlichen Gefüge – als Elternteil, Wissenschaftler_in oder Arbeitnehmer_in.
Anhand von Interviewanalysen wurde offengelegt, wie die befragten im
Wissenschaftssystem Beschäftigten mit Umwälzungsprozessen und Veränderungen im Arbeitskontext Wissenschaft umgehen und inwieweit diese unter
Umständen auch Potenziale für Transformationen auf der Ebene von Familie
und Geschlecht bergen. Während die Rahmungen für eine gelingende Vereinbarkeit von Beruf und Familie als Bedingungen der Möglichkeiten auf (hochschul-)politischer Ebene gesteckt werden müssen, werden die Aushandlungen
und konkreten Realisierungen geschlechter(un)gleicher Arbeitsteilung – wenn
auch verwoben mit den vorfindbaren strukturellen Rahmenbedingungen als
förderlichen oder aber hemmenden Kontextfaktoren – im jeweiligen Paarverhältnis festgelegt. Beide Teilbereiche sowie deren Verschränkung wurden anhand ausgewählter Datenmaterialausschnitte analysiert.
Die steigende Zahl der Dual Career Couples entwickelt trotz des derzeitigen Mangels an adäquaten Vorbildern im eigenen Umfeld kreative Strategien
bei der Vereinbarung von wissenschaftlicher Karriere und Familie. Wie am
Interviewmaterial aufgezeigt, möchten die befragten Dual-Career-Familien
192
Wissenschaft und Elternschaft in Dual-Career-Familien
Transformationen im Hinblick auf gesellschaftliche Geschlechterverhältnisse
in bestehende Systeme wie das Hochschulsystem oder das eigene Familiensystem hineintragen. Sie sind sich des eigenen wie des an sie herangetragenen
Anspruchs, nämlich im sozialen beruflichen wie privaten Umfeld als Multiplikator_innen für gesellschaftliche Transformationen zu wirken (vgl. Lukoschat/Walther 2008), bewusst. „Ob man sich jetzt als Vorbild fühlt? Notgedrungen. Aber sowas kostet einfach Kraft!“ (PI Steinbach, #02:20:48-1#), so
Herr Steinbach im Paarinterview. Transformationen in Gang zu setzen, in Interaktionen zu irritieren, ‚dazwischen‘ zu gehen, Überzeugungstäter_in zu
sein, heißt auch gegen geschlechterstereotype Windmühlen (im Arbeitskontext
Wissenschaft) anzukämpfen. Im Sample finden sich durchaus „egalitäre Koordinierungsarrangements“, die Rusconi und Solga (2011) in ihrer Studie nur
sehr selten ausmachen konnten (vgl. 3.). Geschlechtsspezifische Zuweisungen
(bewusst) aufweichend, scheint im alltagspraktischen Bild der Dual-CareerFamilie (wenn auch nur langsam) die Trennlinie von „öffentlich“ und „privat“
zu zerbröseln. Sie ist wesentliche Grundlage binärer Geschlechterzuordnungen
im Arbeits- und Familienalltag und damit reproduzierter Ungleichheiten auf
gesellschaftlicher Ebene. Die ‚Brösel‘ müssen (nur) konsequent aufgekehrt
werden, um die Forderungen der Frauenbewegungen hin zu einer gesamtgesellschaftlichen Transformation einzulösen und das transformierende Potenzial der Dual-Career-Familienform als „Motor“ (vgl. König 2012) für gesamtgesellschaftliche Veränderungsprozesse auf der Ebene von Geschlecht zu nutzen – und zwar mit dem Ziel, „mit der systematischen Abwertung von […]
Sorgetätigkeiten und der geschlechterorientierten Arbeitsteilung […] Schluss
zu machen“ (Fraser 2009: 49).
Hinsichtlich der derzeit vorfindbaren Rahmenbedingungen für die Vereinbarkeit von doppelter Erwerbsarbeit und Familie darf die „hinter dem neuen
Leitbild verborgene Realität [im] ‚desorganisierte[n]‘ neoliberalen Kapitalismus“ (Fraser 2009: 51f.) jedoch nicht ausgeblendet werden. Trotz der an die
Dual-Career-Familienform herangetragenen Vorbild- und Multiplikatorenfunktion sowie der Bewusstheit und des Selbstanspruchs der Paare für Transformation sind aus dem analysierten Datenmaterial Verunsicherungen und
Verletzbarkeiten der mitunter erschöpften Dual-Career-Familien abzulesen, da
Rahmenbedingungen noch ungenügend gesteckt sind. Während sich im Kontext aktueller gesellschaftlicher Transformationsprozesse bekannte Ungleichheitsverhältnisse resistent fortschreiben, scheinen in den befragten DualCareer-Familien realisierte Symmetrien im Geschlechterverhältnis auf, die
dazu anspornen, neue Formen und Wege der Vereinbarkeit von Wissenschaftsberuf(ung) und Familie(nverantwortung) zu denken – mit dem Ziel, das Wissenschaftssystem als Arbeitsort zum Multiplikator für andere Arbeitskontexte
zu etablieren.
193
Stefanie Leinfellner
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196
Tagungsbericht
„Erziehung – Gewalt – Sexualität“.
Tagungsbericht zur Jahrestagung der Sektion
Frauen- und Geschlechterforschung der DGfE
an der Universität Paderborn (05./06. März 2015)
Anne-Dorothee Warmuth
Pädagogischen Erziehungsverhältnissen sind strukturell ungleiche Machtverteilungen inhärent – sowohl aufgrund von generationalen Konstellationen als
auch in institutionellen pädagogischen Kontexten, was stets die Gefahr in sich
birgt, gewaltförmige Elemente und Strukturen hervorzubringen, etwa in Form
explizit pädagogischer Strategien oder durch subtile Arrangements. Die Problematik betrifft daher sowohl die Ebenen der pädagogischen Theorien, Institutionen, Praxen und Arrangements als auch das familiale Handeln.
Gewalt hat dabei aber auch häufig einen Bezug zum Sexuellen – zum einen
in Verbindung zu sexualisiertem Lustgewinn, der aus Dominanz und Überwältigung erwachsenden Lust oder den Auswirkungen von Gewaltwiderfahrnissen auf intime Beziehungen. Zum anderen kommt normativen Konzepten von
Heterosexualität in gewaltförmigen Beziehungskonstellationen – auch zwischen Kindern und Jugendlichen – in Bezug auf die Unterscheidung von
‚männlich‘ und ‚weiblich‘ oder von ‚Angemessenheit‘ in Bezug auf sexuelle
Orientierung, Verhalten und Selbstdarstellung eine wichtige Rolle zu.
Zugleich ist aber auch das Sexuelle Bestandteil vieler Erziehungskonstellationen, bedenkt man einmal die grundsätzlich einfühlende und von Liebe,
Empathie, Zärtlichkeit, Nähe und Unterstützung geprägte Haltung von Pädagog_innen. Besonders die zuletzt vermehrt zu beobachtende Tendenz, Übertretungen ethischer Grenzen überwiegend als Verfehlungen einzelner Personen oder Einrichtungen zu diskutieren, ohne diese in einen größeren Zusammenhang zu stellen, deutet jedoch auf ein erhebliches Reflexionsdefizit der Erziehungswissenschaft bezüglich dieser Dimensionen hin – und dies vor allem
im Hinblick auf die eigenen Grundlagen und Praxen.
Die diesjährige Jahrestagung hatte daher das Ziel, das Verhältnis von Erziehung, Gewalt, Sexualität und Geschlecht insbesondere auf strukturelle und
symbolische Dimensionen von Erziehungs- und Bildungsprozessen zu beziehen, bei denen Gewaltförmigkeit in unterschiedlicher Art und Weise – etwa als
Anne-Dorothee Warmuth
Macht-über-andere oder als Definitionsmacht – eine Rolle spielt. Aus einer
Geschlechterperspektive zeigt sich in diesem Kontext darüber hinaus, dass Geschlechterkonstruktionen nicht seltenTeil von Dominanzpraktiken sind, zur
Legitimierung von Gewaltverhältnissen beitragen oder durch Gewalt hergestellt werden; soweit der vom Vorstand der Sektion formulierte Call.
Der Jahrestagung, die am 05. und 06. März an der Universität Paderborn
stattfand und vom Vorstand der Sektion, Barbara Rendtorff, Claudia Mahs
(beide Paderborn) und Thomas Viola Rieske (Berlin), veranstaltet wurde, war
in diesem Jahr erstmalig eine Forschungswerkstatt vorgelagert. Dieser lag die
Idee zugrunde, denjenigen, die an Forschungsprojekten arbeiten, die Möglichkeit zu eröffnen, sich über die besonderen Aspekte der Forschung zu Geschlechterfragen in den Erziehungswissenschaften auszutauschen. So steht
eine Forschungspraxis, die die Kategorie Geschlecht berücksichtigt oder in den
Mittelpunkt stellt, grundsätzlich vor spezifischen Herausforderungen – sei es
in Bezug auf Fragestellungen, Forschungsstrategien und -methoden, Theorie,
Material oder die beteiligten Personen. Auch methodische Entscheidungen
sind dabei nicht nur vor dem Hintergrund queer_feministischer Methodenkritiken und Impulse zu treffen, sondern stehen immer auch im Zusammenhang
mit diskursiven oder auch lokalen institutionellen Bezügen, die durch die eigene Arbeit hergestellt werden. Darüber hinaus erfordert das Verhältnis von
Theorie und Empirie – so der Call zur Forschungswerkstatt – immer wieder
eine grundlegende Reflexion, die sich insbesondere aus der Spannung von Offenheit für aus dem Forschungsmaterial resultierende Impulse einerseits und
Festlegungen durch gegenstandstheoretische Bestimmungen andererseits
ergibt.
1 Forschungswerkstatt
Die Forschungswerkstatt untergliederte sich aufgrund der im Call skizzierten
Themenfelder und Problemstellungen in folgende drei Schwerpunkte, zu denen – jeweils eingeleitet durch einen Input einer Diskutantin – unterschiedliche
Beiträge vorgestellt und diskutiert wurden:
1. methodische Entscheidungen,
2. das Verhältnis von Theorie und Empirie,
3. die geschlechtertheoretische Auswertung empirischen Materials.
Den ersten Themenschwerpunkt leitete Barbara Rendtorff mit der Fragestellung ein, wie Theorie dazu verhelfen kann, Stereotypenbildung im Forschungsprozess zu vermeiden. So gelte es herauszufinden, was durch die theoretischen
200
„Erziehung – Gewalt – Sexualität“ (Paderborn 5./6. März 2015)
Vorannahmen der Beteiligten jeweils aus dem Blick gerät und worin der jeweilige Erkenntnisgewinn liegen könnte. Problematisiert wurde insbesondere
eine teilweise Beliebigkeit der in der Geschlechterforschung verwendeten Begriffe – auch in der oftmals wenig reflektierten Bezugnahme auf Autor_innen
wie Judith Butler oder der ‚inflationären‘ Verwendung von Begriffen wie Heterogenität. Auf den Input von Barbara Rendtorff folgten zwei Berichte aus
Dissertationsprojekten von Lydia Jenderek (Berlin) und Svenja Garbade (Hildesheim), die im Anschluss ausführlich diskutiert wurden. Zunächst stellte Lydia Jenderek ihr Forschungsprojekt zur Konstitution von Geschlechterdiskurs
und -praktiken in der Schule mit Fokus auf geschlechterbewusste Lehrkräfte
vor. Anschließend berichtete Svenja Garbade anhand von Interviewausschnitten mit Erzieher_innen, die sie zuvor über einen längeren Zeitraum in ihrer
Tätigkeit begleitet hatte, aus ihrer Arbeit zu geschlechtsspezifischen Deutungsmustern und ihren strukturellen Resonanzen in der frühen Kindheit.
Mit der Frage, wie auch Methodologie dazu beitragen kann, Stereotypenbildung zu vermeiden, beschäftigte sich der Input von Antje Langer (Frankfurt)
zum zweiten Themenschwerpunkt. Sie leitete ihre Ausführungen mit der These
ein, dass auch Methoden zur Gegenstandserzeugung beitragen, wobei das Verhältnis von Reifizierung und Naturalisierung wie auch Typen- und Stereotypenbildung maßgeblich sind. In ihrem Input stellte sie zudem die Überlegung
an, ob es ggf. Methodologien gibt, die weniger zur Stereotypenbildung beitragen, und fragte abschließend provokativ, aus welchem Grunde letztere eigentlich vermieden werden sollte. Auf diesem Hintergrund wurden dann die anschließend vorgestellten Arbeiten diskutiert: Das war zunächst ein Beitrag von
Heike Rainer (Hildesheim) zum Thema Genderreflexion als fachlicher Standard in der Sozialen Arbeit – am Beispiel des Handlungsfeldes der Schulsozialarbeit, in dem sie u.a. einige Interviewausschnitte aus ihrem Material zur
Diskussion stellte. Danach folgte Kerstin Bronner (St. Gallen), die die Konzeption sowie die Ergebnisse eines bereits abgeschlossenen Forschungsprojektes zum Thema Der Beitrag der Eltern zur ‚geschlechtsuntypischen‘ Studienwahl der Kinder im Hinblick auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf vorstellte. Die Studie konnte zeigen, dass sich die Annahme der Verstärkung einer
geschlechtstypischen Studienwahl durch die häusliche Arbeitsteilung der Eltern nicht bestätigen lässt. Die Forschungswerkstatt endete am zweiten Tag mit
einem Beitrag von Christiane Bomert (Münster) zum Thema Geschlechterverhältnisse im Wandel von Privatheit und Öffentlichkeit am Beispiel neoliberaler
Mutterschaft.
Insgesamt zeigte sich, dass in den Beiträgen und den Fragen zur Anlage der
Arbeiten und Forschungsprojekte stärker Überlegungen zur Methodologie
denn solche zur Theorie im Vordergrund standen, wobei insbesondere die
Frage nach dem Umgang mit bzw. der Vermeidung von Stereotypenbildung
und Reifizierung viele der Forschenden beschäftigte. In diesem Zusammenhang wurde auch darüber diskutiert, an welchen Stellen der Einbezug sozialer
201
Anne-Dorothee Warmuth
Kategorien wie Geschlechtsidentität, Alter, Sozialisation u.Ä. der Befragten
bei der Auswertung und Interpretation der Daten legitim und produktiv ist und
wo er hingegen eher zur Reifizierung beiträgt sowie den Blick auf andere relevante Momente verstellt. Dementsprechend wurde innerhalb der zwei Tage
auch immer wieder über einen angemessenen Umgang nicht nur mit den erhobenen Daten, sondern vor allem auch mit den Interviewten gesprochen. So
stand u.a. die Frage im Vordergrund, wie Interviewende es vermeiden können,
durch die Art und Weise der formulierten Fragen sowie der Lenkung des Gesprächsverlaufs Stereotype erst zu erzeugen. Dabei wurde auch über die Problematik der Hervorrufung sozial erwünschter Antworten durch die befragten
Personen diskutiert. Die rege Beteiligung an der Forschungswerkstatt zeigte,
dass eine große Nachfrage nach vergleichbaren Angeboten sowie ein hoher
Diskussions- und Beratungsbedarf über den Umgang mit Forschungsgegenständen – insbesondere in Bezug auf die Methodologie, aber auch auf die Theoriebildung – besteht. Weiterhin wäre danach zu fragen, aus welchen Gründen
Probleme im Forschungsprozess eher im Hinblick auf die Methoden auftauchen bzw. dort stärker wahrgenommen werden, Fragen zur Theorie jedoch offenkundig weniger im Fokus stehen.
2 Jahrestagung
Im Anschluss an die Forschungswerkstatt folgte die 16. Jahrestagung der Sektion Frauen- und Geschlechterforschung, die mit einem einführenden Vortrag
von Meike Baader (Hildesheim) zum Thema Erziehung – Gewalt – Sexualität
in geschlechtergeschichtlicher Perspektive eröffnet wurde. Ihren Beitrag, in
dem sie anhand verschiedener Theorieströmungen und pädagogischer Diskurse die enge Verbindung von Erziehung, Gewalt und Sexualität in historischer Perspektive nachzeichnete, leitete sie gleich zu Beginn mit der Feststellung ein: „Gender matters, class matters, history matters“. Dabei zeigte sie insbesondere anhand einiger historischer Beispiele sowie Fälle aus der Gegenwart
– u.a. durch Bezugnahme auf die Missbrauchsfälle an der Odenwaldschule und
die Diskussionen um den Politiker von Bündnis 90/Die Grünen, Daniel CohnBendit, und dessen Äußerungen zur kindlichen Erotik –, wie die Vorstellungen
zur kindlichen Sexualität sich im Zeitverlauf gewandelt haben. Dabei wurde
der enge Zusammenhang von Erziehungspraktiken zu Sexualität und Gewalt
immer wieder deutlich: von der Befreiung der kindlichen Sexualität als Befreiung des Individuums im Sinne eines Beitrags zum persönlichen Glück über die
Forderung nach der Entgrenzung kindlicher und erwachsener Sexualität in den
Debatten der 1970er Jahre bis hin zum Perspektivwechsel in den Diskursen der
Ersten und Zweiten Frauenbewegung. So sei im Engagement gegen sexuellen
202
„Erziehung – Gewalt – Sexualität“ (Paderborn 5./6. März 2015)
Missbrauch innerhalb der Ersten Frauenbewegung primär mit dem Mitleidsgefühl in einer christlich-religiösen Perspektive im Sinne von Charité argumentiert worden – dies habe zugleich die Organisation Sozialer Arbeit beeinflusst –, was zur Vorstellung von der Vulnerabilität des Kindes ab dem Ende
des 19. Jahrhunderts beigetragen habe. Im Kontext der Zweiten Frauenbewegung habe sich die Argumentation hingegen auf die rechtliche Ebene verlagert,
wobei vor allem das Recht auf ein „Nein“ des Kindes stark gemacht worden
sei. Angelehnt an die Debatten um den sexuellen Missbrauch von Jungen an
reformpädagogischen Einrichtungen oder in kirchlichen Institutionen, infolgedessen die Reformpädagogik wie auch der Zölibat mittlerweile verstärkt am
Pranger stünden bzw. infrage gestellt würden, wurde zum Ende des Vortrags
die in den öffentlichen Debatten häufig vorkommende Parallelisierung von
Homosexualität und Pädophilie problematisiert. Dabei wurde in der anschließenden Diskussion kritisiert, dass im öffentlichen wie im wissenschaftlichen
Diskurs das Augenmerk häufig ausschließlich auf Jungen als Missbrauchsopfer gerichtet sei, wohingegen der Missbrauch von Mädchen aus dem Blick
gerate. In diesem Kontext wurde auch die Frage diskutiert, ob das Aufdecken
der Missbrauchsskandale in Zusammenhang mit (oder sogar als Folge) der Infragestellung von Männlichkeit (durch Umbrüche im Geschlechterverhältnis)
und den daran anschließenden Benachteiligungsdiskursen zu betrachten sei,
nach denen nun Jungen auch als Opfer in den Fokus rückten.
An den Einführungsvortrag schloss zunächst ein Beitrag von Martin
Grosse, Johanna Hess und Alexandra Retkowski (Kassel) an, die unter dem
Titel Sexualisierte Situationen in der pädagogischen Praxis. Bewältigungsweisen und normative Orientierungen von PädagogInnen Ergebnisse aus einem
Ende 2013 angelaufenen Forschungsprojekt zum Thema „Berufsbiographische
Identitätskonstruktionen und Sexualität“ vorstellten. Aus der Perspektive der
Professionsethik befasst sich dieses mit der Frage, wie sich pädagogische
Fachkräfte innerhalb berufsbiografischer Erzählungen in ihrer professionellen
Identität in Bezug auf die Beziehungen zu Kindern und Jugendlichen im Umgang mit Sexualität entwerfen.
Im zweiten Block folgten zwei parallele Vorträge von Jana Johannson
(Berlin) sowie von Folke Bordersen und Simon Volpers (Göttingen). Jana Johannson untersuchte unter dem Titel Der Körper als Kriegsschauplatz von Erziehung – Ein historischer Diskurs anhand von Erziehungsratgebern aus der
‚Schwarzen Pädagogik‘ des 18. und 19. Jahrhunderts sowie anhand des Films
„Das weiße Band“ von Michael Haneke (2009) und den dort gezeigten Erziehungspraktiken, wie gesellschaftliche Vorstellungen von Erziehung Gewaltausübung legitim, ja sogar geboten erscheinen ließen und wie sich dies auch
im Hinblick auf die sexuelle Identitätsfindung von ‚Knaben‘ niedergeschlagen
hat.
In einem parallelen Vortrag stellten Folke Brodersen und Simon Volpers
die Ergebnisse einer empirischen Untersuchung zur Orientierungsphase für
203
Anne-Dorothee Warmuth
Erstsemesterstudierende an der Universität Göttingen vor, die im Wintersemester 2013/14 durchgeführt wurde. Unter dem Titel Rosa Hemden tragen nur
Homos stellten sie die Frage, wie die Aushandlung von (Hetero-)Sexualität innerhalb entsprechender Arrangements eine Rolle spielt bzw. auf welche Weise
sie wirksam wird. Dabei konnten sie aufzeigen, inwiefern entsprechende Aushandlungsprozesse in solchen von ihnen als „nicht intendierte Beziehungsarrangements“ bewerteten Einführungswochen von Gewalt und Macht gekennzeichnet sind, die sich u.a. in der Überschreitung körperlicher Integrität bspw.
durch entsprechend praktizierte Übungen sowie in der beständigen Aktualisierung heteronormativer Vorstellungen und stereotyper Rollen- wie Handlungsvorschriften ausdrückten.
Der erste Tagungstag endete mit der Mitgliederversammlung der Sektion, bei
der der bisherige Vorstand um Barbara Rendtorff, Claudia Mahs und Thomas
Viola Rieske verabschiedet und durch Eva Breitenbach (Bochum) als Vorsitzende, Walburga Hoff (Münster), Sabine Toppe und Thomas Viola Rieske
(beide Berlin), der seine Vorstandsarbeit auch in der nächsten Amtszeit fortsetzen wird, ersetzt wurde.
Der zweite Veranstaltungstag begann mit zwei Parallelvorträgen von Milena
Noll (Frankfurt) und Sandra Glammeier (Paderborn). Milena Noll, die unter
dem Titel Sexualisierte Gewalt und Erziehung die Ergebnisse einer von ihr
durchgeführten Studie vorstellte, befasste sich mit der Frage, welche Auswirkungen das Erleben von sexueller Gewalt in Kindheit und Jugend von Müttern
langfristig auf die Erziehung der eigenen Kinder hat, wobei ihre Auswertung
auf zehn narrativen Interviews mit Frauen der Jahrgänge 1941 bis 1976 basierte. Sie verdeutlichte, wie die traumatisch-biografischen Erlebnisse Folgen
bis in die Beziehungsgestaltung zu den eigenen Kindern zeitigen. Die Interviews konnten dabei zeigen, dass sich die Sprachlosigkeit der Mütter in der
nächsten Generation wiederholt und die Kinder Teil einer Beziehungsproblematik werden, die sie selbst kaum überwinden können. Noll berichtete, dass in
den Schilderungen der Betroffenen der fehlende Schutz durch die eigenen
Mütter in der Phase des sexuellen Missbrauchs rückwirkend als schlimmer dargestellt wird als die eigentliche Tat. Dies führte sie darauf zurück, dass die Tat
als solche zwar abgeschlossen sei, der Wunsch nach Anerkennung durch die
Mütter jedoch weiterbestehe.
In ihrem parallel stattfindenden Beitrag Erziehung und sexuelle Gewalt –
Handlungsorientierungen von PädagogInnen im schulischen Kontext stellte
Sandra Glammeier erste Zwischenergebnisse des Paderborner BMBF-Projektes „Sexualisierte Übergriffe und Schule – Prävention und Intervention“ und
ihrer daran anschließenden qualitativen Studie zu den Handlungsorientierungen und Deutungsmustern von Lehrkräften im Kontext von sexueller Gewalt
vor. Der Vortrag zeigte als ein Muster in den Orientierungen der befragten
Lehrkräfte eine zweifelnde Haltung gegenüber den Aussagen von (weiblichen)
204
„Erziehung – Gewalt – Sexualität“ (Paderborn 5./6. März 2015)
Betroffenen auf. Glammeier verdeutlichte, dass z.B. die Angst, selbst sexueller
Übergriffe beschuldigt zu werden oder befürchteten Falschbeschuldigungen
Glauben zu schenken, mit einer Orientierung am Selbstschutz einhergehen
kann, die das Handeln zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexueller
Gewalt behindern kann. Sie wies auf die Notwendigkeit hin, den Zusammenhang zwischen nicht-intentionalen Aspekten von Erziehung und dem Geschlechterverhältnis noch näher zu untersuchen.
Unter dem Titel Junge Opfer? Zur (These der) Verleugnung männlicher
Betroffenheit von sexualisierter Gewalt im pädagogischen Feld zeigte Thomas
Viola Rieske im zweiten Vortragsblock zunächst ein besonderes Konfliktpotenzial in Bezug auf den sexuellen Missbrauch von Jungen und Männern auf,
das vor allem in der Schwierigkeit bestehe, sich zu ‚outen‘: So sei sexualisierte
Gewalt grundsätzlich mit der Hierarchisierung von Männlichkeit verwoben, da
männliche Betroffene sexualisierter Gewalt von Männern teilweise als ‚unmännlich‘ und ‚schwul‘ konstruiert werden. Dies spiegelt sich Rieske zufolge
teilweise auch in einem mangelnden Bewusstsein für männliche Betroffenheit
von sexualisierter Gewalt im Bereich der Jungenarbeit wider, wo die Schutzbedürftigkeit von Jungen selten in den Blick gerate und daher meist nicht Bestandteil entsprechender Leitlinien sei. Dabei wurde von Situationen in der
Jungenarbeit berichtet, in denen die Beteiligten von den Pädagog_innen – mit
dem Ziel, mehr körperliche Nähe zwischen Jungen zu ermöglichen und bestehende Distanzverhältnisse abzubauen – teils zu engem, die eigene körperliche
Integrität verletzendem Körperkontakt genötigt wurden, der insbesondere,
aber nicht nur für Betroffene sexuellen Missbrauchs als höchst problematisch
zu werten ist. Rieske zeigte auf, dass vor allem eine starke Orientierung an
einer als bearbeitungsbedürftig angesehenen hegemonialen Männlichkeit in
Jungenarbeit und Wissenschaft nicht nur zu einer Reproduktion dieser hegemonialen Männlichkeitsentwürfe beiträgt, sondern auch die Verleugnung
männlicher Betroffenheit von (sexualisierter) Gewalt verstärkt. Dazu tragen
auch der stetige Vergleich von Jungen/Mädchen und Männern/Frauen und der
damit verbundene Fokus auf unterschiedliche Privilegien bei, die andere geschlechtliche Existenzweisen ausschließen. Angelehnt an die Überlegungen
von Edgar Forster schlug Rieske stattdessen vor, Männlichkeit eher als Kette
von Bedeutungen zu betrachten, um auch als ‚unmännlich‘ markierte Männlichkeiten in den Blick zu nehmen.
Zeitgleich untersuchte Mart Busche in dem Beitrag Jugendliche Gewaltdistanz: geschlechtlich-sexuelle Aspekte in pädagogischen Settings, wie Jugendliche im Alter von 14–16 Jahren ihre eigene Gewaltdistanz beschreiben
und inwiefern dabei ein Rückgriff auf gesellschaftliche Ressourcen erfolgt.
Mit Fokus auf pädagogische Orte, Handlungen und Beziehungen widmete sich
der Beitrag insbesondere der Frage nach von den Jugendlichen als unterstüt-
205
Anne-Dorothee Warmuth
zend wahrgenommenen geschlechtlichen und sexuellen Dimensionen, woraufhin Überlegungen zu Rückschlüssen für pädagogisches Handeln und die Professionsethik angestellt wurden.
Die Tagung endete mit zwei Parallelvorträgen von Sebastian Winter
(Bielefeld) und Eva Breitenbach (Bochum). Unter dem Titel „Angst vor dem
Kind?“ Väterliches Erleben von Intimität und Nähe bei der Kleinkindpflege
stellte Winter Interviewausschnitte mit Vätern vor, in denen diese von Momenten körperlicher Nähe mit ihren Kindern und von Pflegesituationen – insbesondere mit Töchtern – berichteten. Die Ausschnitte zeigten, dass entsprechende Situationen auf Seiten der Väter zum Teil enorme Unsicherheiten hervorrufen, wobei vor allem im Umgang mit Töchtern eine permanente Pädophilieangst allgegenwärtig ist. Aus einer psychoanalytischen Perspektive und angelehnt an Rolf Pohls (2004) Überlegungen zum „Männlichkeitsdilemma“1
stellte Winter heraus, dass aktives Vatersein eine Herausforderung für die zuvor einverleibte Hexis darstelle, die sich mit ihrer libido dominandi nicht ohne
Konflikte zu einer väterlich zärtlichen Leiblichkeit umformen lasse. Für Männer sei es daher in der Regel unproblematischer bzw. tendenziell besser mit der
Hexis zu vereinbaren, mit ihren Kindern draußen zu toben, als sie zu trösten
oder mit ihnen Zärtlichkeiten auszutauschen. Vor dem Hintergrund einer häufigen Angst vor den eigenen inneren Regungen, die sich dann nicht selten in
einer Pädophilieangst manifestiere, hob Winter dabei deutlich den Mangel einer der Mutterliebe vergleichbaren Vorlage seitens der Väter hervor.
Der von Eva Breitenbach als Workshop konzipierte Beitrag zum Thema
(Kindliche) Sexualität und sexualisierte Gewalt als Gegenstand der Hochschullehre befasste sich schließlich mit der Überlegung, wie an Hochschulen
ein angemessener Rahmen zur theoretischen wie praxisbezogenen Bearbeitung
des Themenspektrums sexueller Gewalt und zur Thematisierung von pädagogischen Beziehungen als Machtverhältnissen geschaffen werden kann. Zum
einen fragte Breitenbach danach, wie entsprechende Themen in der Lehre adäquat behandelt werden können, zum anderen widmete sie sich der Frage, welche Beziehungsgestaltung zwischen Lehrenden und Studierenden Voraussetzung dafür ist, dass sowohl eine fachliche wie persönliche Reflexion und Bildung ermöglicht werden als auch bzw. zugleich der Reflexionsraum der Hochschule in seiner spezifischen Konstellation bestehen bleibt. Im Workshop
wurde deutlich, dass eine Befähigung zur Prävention von und Intervention bei
sexualisierter Gewalt im Rahmen einer pädagogischen Ausbildung unerlässlich ist, der universitäre Rahmen dies aber zum Teil durch Elemente wie Benotung oder Gruppengröße auch behindert. Hilfreich ist es laut manchen
Workshopteilnehmenden, das Thema im Rahmen einer Blockveranstaltung zu
bearbeiten und Selbstreflexionen zu theoretisieren.
1
206
Pohl, Rolf (2004): Feindbild Frau. Männliche Sexualität, Gewalt und die Abwehr des Weiblichen. Hannover: Offizin Verlag.
„Erziehung – Gewalt – Sexualität“ (Paderborn 5./6. März 2015)
Die Tagung endete mit einem gemeinsamen Ausklang, bei dem einige
Punkte nochmals aufgegriffen und in Einzelgesprächen vertieft wurden. Die
Tagung zeigte, dass es einen großen Forschungs- und Diskussionsbedarf bezüglich des Spannungsverhältnisses und der stetigen Überlagerung von Erziehung, Gewalt und Sexualität gibt, wobei besonders folgende drei Themenstränge in den Beiträgen wiederholt aufgegriffen wurden: Erstens die Überlagerung von Erziehungspraktiken mit – und dies insbesondere in historischer
Perspektive – der Ausübung von Gewalt, bei der auch Sexualität häufig eine
zentrale Rolle spielt, zweitens das Thema des sexuellen Missbrauchs auf institutioneller wie auch familialer Ebene und (a) dessen Einfluss auf Erziehungspraktiken und professionsethische Vorstellungen sowie (b) entsprechende
Thematisierungsmöglichkeiten in pädagogischen Kontexten, und drittens die
Gewaltförmigkeit heterosexueller, zweigeschlechtlicher Normierungsprozesse
im Hinblick auf die individuelle sexuelle Identität. Auch wenn in den Beiträgen und den sich anschließenden Diskussionen immer wieder auf die Kategorie Geschlecht verwiesen wurde, wäre eine stärker geschlechtertheoretisch ausgerichtete Perspektive an einigen Stellen jedoch durchaus wünschenswert gewesen.
207
Verzeichnis der Autor_innen
Bereswill, Mechthild, Dr. phil. habil., Professorin für Soziologie sozialer Differenzierung und Soziokultur an der Universität Kassel; Arbeitsschwerpunkte: Geschlechterforschung, soziale Probleme und soziale Kontrolle,
soziale Ungleichheit, qualitative Methodologien.
Dausien, Bettina, Dr. phil. habil., Professorin für Pädagogik der Lebensalter
am Institut für Bildungswissenschaft der Universität Wien. Arbeitsschwerpunkte: Bildung im Lebenslauf, Biographie- und Geschlechterforschung, interpretative Sozialforschung.
Ehlert, Gudrun, Prof. Dr. phil., Einzelhandelskauffrau, Dipl.-Sozialarbeiterin/Sozialpädagogin (FH), Dipl.-Sozialwissenschaftlerin, Professorin für
Sozialarbeitswissenschaft an der Fakultät Soziale Arbeit der Hochschule
Mittweida. Arbeitsschwerpunkte: Professionsforschung, Geschlechterforschung und Soziale Arbeit, Soziale Ungleichheit und Intersektionalität.
Flaake, Karin, Dr. rer. pol. habil., pensionierte Professorin für Soziologie mit
dem Schwerpunkt Frauen- und Geschlechterforschung an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Arbeitsschwerpunkte: Geschlecht und Sozialisation, Sozialpsychologie der Geschlechterverhältnisse, Arbeit mit
psychoanalytisch-hermeneutischen Methoden der Textinterpretation.
Götsch, Monika, Dr. phil., Koordinatorin des Promotionskollegs „Leben im
transformierten Sozialstaat (TransSoz)“ an der TH Köln. Arbeitsschwerpunkte: heteronormative Geschlechterverhältnisse, Trans*Geschlechtlichkeiten, Sexualität, Sozialisation, Wissens- und Wissenschaftssoziologie,
qualitative Sozialforschung.
Hartmann, Jutta, Dr. phil., Professorin für Allgemeine Pädagogik und Soziale
Arbeit an der Alice Salomon Hochschule Berlin. Arbeitsschwerpunkte:
Kritische Bildungstheorie, Gender & Queer Studies, Pädagogik vielfältiger Lebensweisen.
Klinger, Sabine, Dr.in phil., MA of arts, Universitäts-Assistentin am Institut
für Erziehungs- und Bildungswissenschaft im Arbeitsbereich Sozialpädagogik an der Karl-Franzens-Universität Graz. Arbeitsschwerpunkte: Geschlechterforschung, Sozialpädagogik, Bildung, qualitative Sozialforschung.
Leinfellner, Stefanie, Dipl. Päd., Promovendin am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Paderborn. Arbeitsschwerpunkte: Geschlechter-,
Familien- und Hochschulforschung, Wissenschaftskarrieren, Dual Career,
gesellschaftlicher Wandel und Struktur sozialer Ungleichheiten, qualitative Methoden.
Verzeichnis der Autor_innen
Rendtorff, Barbara, Dr., Professorin für Schulpädagogik und Geschlechterforschung an der Fakultät für Kulturwissenschaften, Universität Paderborn.
Arbeitsschwerpunkte: Theorie der Geschlechterverhältnisse, Tradierung
von Geschlechterbildern im Kontext von Schule und dem Aufwachsen von
Kindern.
Seehaus, Rhea, Dr. phil., wiss. Mitarbeiterin am Gender- und Frauenforschungszentrum an der Frankfurt University of Applied Sciences. Arbeitsschwerpunkte: prä- und postnatale Elternschaft, Sorge/Elternverantwortung, Kindheitsforschung, erziehungswissenschaftliche Essensforschung,
ethnografische Methoden.
Thon, Christine, Dr. phil., Juniorprofessur für Erziehungswissenschaften mit
dem Schwerpunkt Geschlechterforschung an der Europa-Universität Flensburg. Arbeitsschwerpunkte: Bildung und Geschlecht im Kontext gesellschaftlicher Transformationsprozesse, erziehungswissenschaftliche Subjektkonzeptionen, qualitativ-rekonstruktive Forschungsmethoden.
Walgenbach, Katharina, Dr. päd., Gastprofessorin an der Humboldt Universität zu Berlin. Institut für Erziehungswissenschaft, Abt. Allgemeine Erziehungswissenschaft/Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterstudien.
Arbeitsschwerpunkte: Geschlechterforschung, Intersektionalität in Erziehungs- und Bildungsprozessen, Sozialisationsforschung.
Warmuth, Anne-Dorothee, M.A. M. Ed., wissenschaftliche Mitarbeiterin in der
AG Schulpädagogik mit dem Schwerpunkt Geschlechterforschung und im
Zentrum für Geschlechterstudien/Gender Studies an der Universität Paderborn. Arbeitsschwerpunkte: Geschlechterverhältnisse und Schule, Tradierungsprozesse von Geschlecht in der Sozialisation von Kindern und Jugendlichen, Narrative von Mütterlichkeit und Väterlichkeit.
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