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Einleitung Die Wirklichkeit der Wahrnhmung

2024, Schlette, M. & Tewes, C. (2024). Einleitung Die Wirklichkeit der Wahrnehmung. In M. Schlette & C. Tewes (Ed.), In Kontakt mit der Wirklichkeit: Die Perspektivität verkörperter Wahrnehmung (pp. 1-28). Berlin, Boston: De Gruyter.

https://doi.org/10.1515/9783111338453-002

Dem Alltagsverständnis zufolge bringt uns die Wahrnehmung in einen Kontakt mit der Wirklichkeit. Die Stabilisierung der Wahrnehmungsgewissheit ist tief im subjektiven Bildungsprozess verankert, hat sich alltagspraktisch bewährt und in der Sprache sedimentiert. Andererseits hat sich durch Erfahrungen kultureller Diversität und sozialer Differenz auch die Auffassung verbreitet, dass die Welt nur gleichsam durch die Brille spezifischer Herkünfte und Zugehörigkeiten wahrgenommen wird. Die Spannung zwischen realistischen und konstruktivistischen Interpretationen des menschlichen Weltbezugs bildet die Ausgangssituation, mit der sich die Beiträge zu dem geplanten Sammelband In Kontakt mit der Wirklichkeit. Interdisziplinäre Beiträge zur Situiertheit der Wahrnehmung auseinandersetzen. Ziel ist es, die Wahrnehmungsgewissheit des direkten Realismus zu verteidigen, ohne die berechtigten Einwände außer Acht zu lassen. Nicht nur der Begriff der Wahrnehmung wird dabei einer grundlegenden Prüfung unterzogen, sondern auch der Begriff der Wirklichkeit und mit ihm ein angemessenes Verständnis davon, als leiblich verkörperte Individuen in einer gemeinsam geteilten Welt zu sein.

Uncorrected proof. Please cite: Schlette, M. & Tewes, C. (2024). Einleitung Die Wirklichkeit der Wahrnehmung. In M. Schlette & C. Tewes (Ed.), In Kontakt mit der Wirklichkeit: Die Perspektivität verkörperter Wahrnehmung (pp. 1-28). Berlin, Boston: De Gruyter. https://doi.org/10.1515/9783111338453-002 Magnus Schlette & Christian Tewes Einleitung Die Wirklichkeit der Wahrnehmung 1. Thema Die Sinneswahrnehmung hat eine besondere Bedeutung für das menschliche Selbst- und Weltverhältnis, weil sie nicht nur die grundlegende Bedingung dafür ist, dass der Mensch sich zur Welt in Beziehung setzen kann, sondern sie ihm darüber hinaus sein In-der-Welt-Sein auf genuine Weise bezeugt. Die klassisch-neuzeitliche philosophische Wahrnehmungslehre attestierte der Wahrnehmung allerdings zumeist ihre prinzipielle Unzuverlässigkeit und Täuschungsanfälligkeit. Die Wahrnehmung gebe allenfalls die Voraussetzung, nicht aber den epistemischen Grund unserer Welterkenntnis her. Denn abhängig von Standpunkt und Beschaffenheit des Wahrnehmungssubjekts könne am Gegenstand ganz Unterschiedliches wahrgenommen werden, das ihm eigentlich gar nicht zukomme. „Obwohl wir alle denselben Umschlag sahen“, so George Edward Moores notorisches Anschauungsbeispiel des im Hörsaal hochgehaltenen Briefumschlags, „hat [j]eder von uns [...] wahrscheinlich eine zumindest leicht verschiedene Farbnuance gesehen.“ (Moore 1966, 32) Die Skepsis gegenüber der epistemischen Validität der Wahrnehmung beschränkt sich nicht auf die Wahrnehmung sekundärer Qualitäten. So betonte beispielsweise Alfred Ayer auch die Unzuverlässigkeit der Wahrnehmung primärer Qualitäten, wo er bemerkt, die Dinge sähen aus der Entfernung kleiner aus als sie sind (Ayer 1940, 9). Beispiele dieser Art sind Legion, sie werden bereits von Descartes und Locke angeführt und sie werden bis heute immer wieder aufgegriffen. Es gelte einen Weg zu finden, schreibt Descartes in der Synopsis seiner Meditationen, „unser Denken von den Sinnen abzulenken“ (Descartes 1993, 7). Die Wahrnehmung belehre uns nur unzureichend und irreführend über die Beschaffenheit der Welt und bedürfe daher einer Falsifikationsprobe auf wissenschaftlicher Grundlage. Diese Forderung artikuliert die Grundüberzeugung des Hauptstrangs moderner Erkenntnistheorie diesseits der metaphysischen und methodologischen Unterschiede zwischen Rationalismus und Empirismus. Sie besteht darin, eine standpunktunabhängige Auffassung von der Welt zu begründen. Thomas Nagel hat in The View From Nowhere die Begründung dieser Konzeption im Rahmen des Leib-Seele Problems wie auch der physikalistischen Wahrnehmungstheorie 1 weitergehend untersucht. Wahrnehmungen sind nach moderner naturwissenschaftlicher Auffassung durch kausale Prozesse wie die Reflexion von Licht und die Affizierung sensorischer Nerven verursacht, die vielfältige Effekte auf unseren Körper haben. Diese Effekte können auftreten, ohne dass damit eine Wahrnehmung einhergehen muss; die „wahre“ Natur des wahrgenommenen Gegenstandes oder Szenarios, so die Schlussfolgerung, kann von der Wahrnehmungserscheinung abgetrennt werden, bzw. muss keine Ähnlichkeit zu ihr aufweisen (Nagel 1986, 14). Mit dieser Gedankenfigur, so Nagel, wird nicht nur die jeweils leiblich partikulare Sicht auf die Realität aus einer physikalistisch-naturalistischen Konzeption der Wirklichkeit ausgeschlossen, sondern die sogenannten sekundären Qualitäten wie Geschmack, Geruch, also wie es sich anfühlt oder etwas tönt, werden als Erscheinungen nicht mehr der externen Welt zugerechnet (Nagel 1986, 14). Daraus resultiert eine mathematisch-strukturwissenschaftliche Auffassung der Realität, welche in der Moderne eine besondere Wirkmächtigkeit entfaltet hat. Die Formulierung von Maßstäben der Erkenntnis standpunktunabhängiger Eigenschaften des Wahrgenommenen beruht somit auf der Mathematisierung des Wahrnehmungsgegenstandes. Sie soll gewährleisten, was Bernard Williams als absolute Auffassung der Welt bezeichnet hat. Demnach sei es auf lange Sicht hin möglich, eine Auffassung von der Welt zu entwickeln, „zu der alle beliebigen Forscher gelangen könnten, auch wenn sie ganz anders beschaffen wären als wir selbst“ (Williams 1985, 139). Die Bemühung darum lässt sich ideengeschichtlich bis zum antiken Materialismus zurückverfolgen. So war bereits Demokrit der Auffassung, dass sinnliche Qualitäten wie Farbe oder Süße subjektive Empfindungen sind, die durch geometrische Gestalteigenschaften und mechanische Bewegungseigenschaften kleinster physikalischer Einheiten, die er Atome nennt, verursacht würden. Laut Williams war es nur ein „Katzensprung“ von Demokrits Materialismus zu Descartes’ „project of pure inquiry“, das Williams als Initiation des wissenschaftlichen Zeitalters interpretiert hat (Williams 1990, 242). Williams betont, das Wesentliche am cartesianischen Projekt sei seine Unterscheidung primärer und sekundärer Qualitäten auf der Grundlage von Verfahren mathematischer Quantifizierung der Erscheinungswelt, wie sie oben von Nagel skizziert wird. Diesem Projekt seien Empirismus und Rationalismus gleichermaßen, und überhaupt die neuzeitlichen Wissenschaften von Newton bis in die Gegenwart verpflichtet. Die Konsequenz dieser Unterscheidung besteht in der Feststellung eines Spannungsverhältnisses zwischen der Subjektivität und der Objektivität der Wahrnehmung. Bis heute wird das Spannungsverhältnis zwischen der Subjektivität und der Objektivität der Wahrnehmung mehrheitlich zuungunsten der Wahrnehmungsgewissheit ausgelegt. Die Wahrnehmungsskepsis hat dem Deutungsmuster des sogenannten Repräsentationalismus Vorschub 2 geleistet, demzufolge Wahrnehmungen interne mentale Repräsentationen der Außenwelt sind. In keinem Fall gäben die Repräsentationen verlässlichen Aufschluss über die Wirklichkeit. Ihr Gehalt könne entweder auf die physikalischen Eigenschaften der Außenwelt oder die neuronalen Eigenschaften des Gehirns reduziert werden. Konsequent zu Ende gedacht mündet diese Position in Spielarten des naturalistischen Konstruktivismus, bei denen Perzeptionen für reine Konstruktionen des Gehirns ohne eine Verankerung in der Wirklichkeit gehalten werden (Roth 1997, 252–254). Insbesondere Thomas Metzinger hat die damit verbundenen epistemischen wie auch ontologischen Konsequenzen in radikaler Form auf den Begriff gebracht. Auf der Grundlage einer physikalistisch-naturalistischen Konzeption der Wirklichkeit benötigen wir seiner Auffassung nach eine leistungsfähige Theorie, die erklärt, wie es überhaupt zur Illusion eines subjektiven Zentrums bzw. einer spezifischen Perspektivität eines Subjekts auf die Welt kommt. Zu diesem Zweck entwirft er ein mentales Selbstmodell des Gehirns, das sich durch referentielle Opazität auszeichne und die Erklärung der genannten Phänomene leisten soll, nämlich: „Die Entstehung einer unhintergehbaren Ich-Illusion, die im Grunde gar keine ist, weil sie niemandes Illusion ist.“ (Metzinger 1996, 153) Damit ist allerdings keinesfalls das letzte Wort über die Wahrnehmungsgewissheit gesprochen. Die verschiedenen Varianten des naturalistischen Konstruktivismus setzten sich vielmehr dem Verdacht aus, dass ihre Modelle der menschlichen Wahrnehmung auf höchst problematischen theoretischen Hintergrundannahmen beruhen. In Metzingers Konzeption wird dies besonders deutlich, da er eher bereit ist, die Existenz von Subjektivität zu leugnen, als zu fragen, wie das Spannungsverhältnis zwischen der Subjektivität und der Objektivität der Wahrnehmung befriedigend aufgelöst werden kann, ohne einen der beiden Pole letztendlich zu eliminieren. Gehen wir deshalb einen Schritt zurück. Die Rehabilitierung der Wahrnehmungsgewissheit muss u. a. an dem „argument from illusion“ (A. Ayer) ansetzen, das den Repräsentationalismus seit Locke befördert hat. Tatsächlich hat es immer wieder prominente Ansätze gegeben, den Schluss von der Täuschungs- und Irrtumsanfälligkeit der Wahrnehmung auf die Indirektheit des Realitätsbezugs anzufechten. So wendete beispielsweise John Austin gegen Alfred Ayer ein, nur weil es im Allgemeinen stimme, dass wir auch wirklich die Dinge gesehen haben, die wir gesehen zu haben glauben, könnten wir uns überhaupt täuschen, d.h. diesen Begriff jeweils situationsangemessen verwenden (Austin 1975, 24). Unsere Erfahrungen richten die Normalitätsstandards auf, an denen wir uns orientieren oder die uns vorgehalten werden, wenn wir erkunden, ob wir uns getäuscht haben. Ähnlich argumentierte auch Max Scheler in seiner Kontroverse mit dem Repräsentationalismus Nicolai Hartmanns. Schon der Begriff der „möglichen Täuschung“ setze den Begriff 3 einer täuschungsfreien Wahrnehmung voraus und gerade das Phänomen der Enttäuschung widerlege die Schlussfolgerung von dem vermeintlichen Täuschungsbild auf das grundsätzlich vorliegende Erkenntnisbild. (Scheler 1976, 203) Auch Austins zweiter Einwand gegen die Ausbeutung des Täuschungsphänomens für den Repräsentationalismus trifft nicht nur Ayer und Price, die explizit adressiert werden, sondern eine von diesen beiden Autoren exemplarisch vertretene typisch repräsentationalistische Argumentationsstrategie. Zwar gebe es, so Austin, fraglos genügend Fälle, in denen nicht entscheidbar ist, ob wir etwas tatsächlich wahrgenommen oder uns das nur eingebildet haben. Diese Fälle seien aber kein Einwand gegen unseren direkten Realitätsbezug. Denn aus der phänomenalen Ununterscheidbarkeit des Täuschungsfalls vom täuschungsfreien Wahrnehmungsfall folge mitnichten, dass beide denselben intentionalen Gehalt haben. Und es sei ebenso falsch, dass „zwei Dinge, die nicht ‚generisch dieselben’ – d.h., nicht von ‚gleicher Art’ – sind, sich weder gleichen noch sehr ähnlich sein können.“ Austin verdeutlicht das am Beispiel des Spiegelbildes: „[…] [W]enn ich z.B. nie einen Spiegel gesehen hätte und man mir sagte, (a) daß man in Spiegeln die Reflexion von Gegenständen sieht und (b) daß Reflexionen von Dingen nicht ‚generisch dasselbe’ seien wie die Dinge selbst, bestünde dann ein Grund für mich, nun zu erwarten, daß es einen riesengroßen Unterschied zwischen meinem Sehen der Dinge und meinem Sehen ihrer Reflexionen gäbe? Natürlich nicht; wenn ich klug wäre, würde ich einfach abwarten, um zu sehen, wie eine Reflexion aussieht.“ (Austin 1975, 69) Mit ähnlichen Argumenten wird der Repräsentationalismus auch in der Gegenwart kritisiert. Daraus, dass der mentale Zustand, in dem man sich im Täuschungsfall befindet, phänomenal ununterscheidbar vom täuschungsfreien Wahrnehmungsfall sein kann, folgt nicht, dass beispielsweise Sehen und Halluzinieren das Bewusstsein desselben intentionalen Gehalts beinhalten. Hilary Putnam bezeichnet dieses Argument als disjunktive Konzeption der Erfahrung. Das bloß Erscheinende und das tatsächlich Seiende hätten keinen ‚größten gemeinsamen Faktor’: “In Scene 1 someone (person A) sees a yellow door. In Scene 2 it seems to someone (person B) that (s)he is seeing a yellow door. On the disjunctive view ‘visually experiencing a yellow door’ is disjunctive (or ambiguous). It can consist either of seeing a real door with a real color quality (yellow) or in seeming to do that. The conclusion that there is an HCF (Highest Common Factor), a mental ‘color quale’, simply doesn’t follow from the facts of Scene 1 and Scene 2.” (Putnam 1999, 152–153) Freilich reicht es zur Zurückweisung des Repräsentationalismus nicht, dem ‚argument from illusion’ zu begegnen. Es muss auch problematisiert werden, was Bernard Williams in seiner Verteidigung der Idee von Wissenschaft als eines „project of pure inquiry“ den 4 „archimedischen Punkt“ genannt hat (Williams 1990, 67). Die Wirklichkeit der Wahrnehmungswelt werde zwar in der natürlichen Einstellung intendiert, auf die der Wahrnehmungsglaube sich verlässt, tatsächlich aber erst in der wissenschaftlichen Einstellung verbürgt. Der archimedische Punkt ist demnach der Maßstab der Kritik am lebensweltlichen Realismus. Es ist aber umstritten, ob er sich auch gut begründen lässt. „Ohne in eine skeptische Einstellung zur allgemeinen Verlässlichkeit der Wissenschaft zu verfallen, kann man durchaus vermuten“, bemerkte John McDowell gegenüber Williams, „so etwas wie ein philosophisches Hirngespinst stecke in dem Gedanken, die Vorstellung von der Wissenschaft könne einen Begriff von einem ‚archimedischen Punkt’ vermitteln, der es ermögliche, zwischen bestimmten Repräsentationen der Welt und der Welt selbst einen Vergleich anzustellen.“ (McDowell 2009a, 198) Auch ohne den archimedischen Punkt lasse sich eine wissenschaftlich objektive Komponente ausmachen, die unserer Weltsicht innewohnt. Und die Verwirklichung des Ideals wissenschaftlicher Konvergenz würde sich dann auf dem Weg der internen Kontrolle des Inhalts dieser objektiven Komponente vollziehen. Nur betont McDowell: „Das, worüber wir nicht mehr verfügen, ist ein metaphysischer Grund dafür, der objektiven Komponente unserer Weltsicht den Rang eines Rahmens zuzuschreiben, in dem jede philosophische Reflexion über den restlichen Teil unserer Realitätssicht angestellt werden muß.“ (McDowell 2009a, 202) Die wahrnehmungsphilosophische Konsequenz der Zurückweisung des archimedischen Punktes der Wissenschaft im Sinne eines physikalistisch-naturalistischen Realismus ist, dass es keine standpunktunabhängige Realitätshaltigkeit der Wahrnehmung gibt. Das gilt zumal von den sekundären Qualitäten, weshalb erwogen werden darf, ob man die Unterscheidung zwischen primären und sekundären Qualitäten nicht besser fallen lassen sollte (vgl. McDowell 2009b, 225) Missverständlich ist demnach bereits die Unterscheidung zwischen primären und sekundären Qualitäten im Sinne einer Disjunktion zwischen (objektiven) Tatsachen und (subjektiven) Erlebnissen. Ihr zufolge wäre allein die Auffassung der Welt hinsichtlich ihrer primären Qualitäten ein Kandidat objektiven Wissens, während, wie wir gesehen haben, Aussagen, die auf sekundäre Qualitäten referieren, lediglich subjektive Einstellungen zur Welt zum Ausdruck brächten. Dass dies in einem weiteren Schritt gar zu Eliminierung dieser Einstellungen und des subjektiv erlebten Zentrums führen kann, wenn man einmal die zugrunde liegende Disjunktion mit ihren ontologischen Konsequenzen akzeptiert, hatten wir beispielhaft an Metzingers Illusionstheorie des Selbst (oder Selbstmodell) bereits ausgeführt. 5 Allerdings beruht diese Argumentation auf der ungerechtfertigten Verwechselung des Anwendungsbereichs zweier grundverschiedener Entgegensetzungen von ‚Objektivität’ und ‚Subjektivität’ (McDowell 2009b, 211). Der Maßstab des einen Gegensatzes ist der Realitätsbezug des Bewusstseins, der des anderen die Standpunktunabhängigkeit des Bewusstseins. Dem ersten Maßstab zufolge ist objektiv, was Gegenstand eines Realitätsbezugs ist und wodurch der Realitätsbezug erfüllt wird. Dem zweiten Maßstab zufolge ist objektiv ausschließlich, was von jedem beliebigen Standpunkt aus den Realitätsbezug erfüllt, mit Bernard Williams: eine Auffassung von der Welt, „zu der alle beliebigen Forscher gelangen könnten, auch wenn sie ganz anders beschaffen wären als wir selbst.“ (Williams 1985, 139) Was dem zweiten Maßstab zufolge subjektiv ist, kann gleichwohl dem ersten zufolge objektiv sein: es gibt die standpunktrelative Erfüllung von Realitätsbezügen. Wir deuten McDowells Ausführungen so, dass bereits die Zuschreibung, was als objektiv oder subjektiv für die Wahrnehmungskonstitution gilt, sich nicht exklusiv und standpunktunabhängig von einer faktisch vorherrschenden wissenschaftlichen Position festlegen lässt. Solch eine Auffassung würde auf eine Selbstimmunisierung einer Konzeption hinauslaufen, welche die eigene Perspektivität ihrer Aussagen wie bei Metzinger nicht reflexiv auf den Prüfstand stellt. So ist es keinesfalls ausgemacht, dass der lebensweltliche Wahrnehmungsbezug erst im Rahmen einer naturalistisch verstandenen wissenschaftstheoretischen Konzeption eine objektive bzw. intersubjektive Geltung gewinnen kann. Denn warum sollte nicht umgekehrt die Reflexion auf lebensweltliche Geltungsansprüche ihrerseits über den Realitätsstatus wissenschaftlicher Aussagen Aufschluss geben können? Doch leistet der erste Maßstab und die mit ihm verbundene Realitätskonzeption nicht einer konstruktivistischen Auffassung der Wirklichkeit Vorschub? Wenn es die Relation zum standpunktabhängigen Bewusstsein ist, das über den Realitätsbezug entscheidet, handelt es sich bei den Wahrnehmungsgehalten dann nicht doch um Produkte einer Erzeugung unter den jeweiligen Standpunktbedingungen? So droht die Zurückweisung eines naturalistischen Konstruktivismus mit Konzessionen gegenüber einem kulturalistischen Konstruktivismus erkauft zu werden, der im Übrigen, anders als der naturalistische Konstruktivismus, Alltagsevidenzen für sich in Anspruch nehmen kann. Denn es hat sich durch Erfahrungen kultureller Diversität auch die Auffassung verbreitet, dass die Welt nur gleichsam durch die Brille einer bestimmten Kultur, allgemeiner: einer spezifischen sozialen Herkunft und Zugehörigkeit wahrgenommen wird. Die Schlüsselfrage lautet, wie es möglich ist, die schwer zu erschütternde Überzeugung, dass wir es mittels unserer Sinneswahrnehmung mit der Wirklichkeit zu tun haben, so auf den Begriff zu bringen, dass wir gleichzeitig den unterschiedlichen körperlichen, kulturellen und sozialen 6 Vermittlungen des Weltbezugs gerecht werden. Nicht nur der Begriff der Wahrnehmung wird dafür einer grundlegenden Prüfung zu unterziehen sein, sondern auch der Begriff der Wirklichkeit und mit ihm ein angemessenes Verständnis davon, als leiblich verkörperte Individuen in einer gemeinsamen Welt zu sein. Dafür gilt es vor allem, zwischen der grundsätzlich nur perspektivengebundenen Zugänglichkeit zu Wahrnehmungsgehalten und ihrer beliebigen Erzeugung zu unterscheiden, wie ein phänomenologischer Vergleich zwischen Wahrnehmungen und Imaginationen verdeutlicht. Eine Strategie, die gleichermaßen berechtigten, aber so widersprüchlichen Evidenzen auf eine Weise in Einklang zu bringen, mit der sich die Überzeugung rechtfertigen lässt, durch die phänomenale Wahrnehmung in Kontakt mit der Wirklichkeit zu sein, besteht darin, diesen Kontakt durch die Verbindung interaktions- und intersubjektivitätstheoretischer Grundannahmen zu bestimmen. Die Verteidigung der epistemischen Zuverlässigkeit der Wahrnehmung und mit ihr eines in der Wahrnehmung basierten lebensweltlichen Realismus kann von diesen Grundannahmen einer Anthropologie der Wahrnehmung ihren Ausgang nehmen. Menschen finden sich durch ihre Wahrnehmung in der Welt vor, setzen sich wahrnehmend zur Welt in Beziehung und verlassen sich im Großen und Ganzen auch auf die Wahrnehmung als Zeugnis ihres In-der-Welt-Seins. Es ist deshalb theoretisch unzureichend, die Wahrnehmung von dem Strukturzusammenhang des In-der-Welt-Seins zu isolieren und gesondert zu analysieren. Vielmehr ist die Einbettung der Wahrnehmung in den Lebenszusammenhang zu berücksichtigen. Das bedeutet, dass die Wahrnehmung einerseits im (menschlichen) Organismus verkörpert und dieser Organismus andererseits immer schon interaktiv auf seine Umwelt bezogen ist. In seinem Umweltverhältnis sind Reiz und Reaktion funktional differenzierte Phasen des Handlungsvollzugs: erst im Zusammenhang eines spezifischen Handlungsinteresses werden bestimmte Wahrnehmungsinhalte als Reize erfasst, bestimmte Verhaltensweisen als Reaktionen auf diese Reize ausgeführt (Dewey 2002). Vor allem wird nur wahrgenommen, was dem Organismus auch wert ist, wahrgenommen zu werden, wobei der Wertbegriff auf der untersten Stufe des Widerspiels von Reiz und Reaktion nicht mehr bedeutet als die Lebensförderlichkeit oder -abträglichkeit des Wahrgenommenen. Aus der Einbettung kognitiver Leistungen in den Struktur- bzw. Funktionszusammenhang des Lebens (Crone/Heilinger 2008, 16ff) folgt also zwingend die Revozierung der Tatsachen-Werte-Dichotomie. Der durch James Gibson (1979) geprägte Begriff der affordances (Affordanzen), dessen Gehalt der Sache nach bereits den Vertretern der philosophischen Anthropologie ebenso geläufig war wie den Phänomenologen und Pragmatisten, deutet diese enge Verschränkung erkenntnis- und werttheoretischer Sachverhalte an. Was dem Wahrnehmenden als affordances seiner Interaktion mit der Umwelt 7 begegnet, ist allenfalls analytisch in eine deskriptive und eine evaluative Komponente zerlegbar. In der Wahrnehmung sind beide Komponenten unlösbar miteinander verbunden. Das Wahrgenommene ist durch seinen Aufforderungscharakter qualifiziert, sich innerhalb der Struktureinheit des Individuums und seines Milieus in einer bestimmten Weise zuwendend oder abwendend zu ihm zu verhalten. Bringt uns die Wahrnehmung in einen cum grano salis zuverlässigen Kontakt mit der Wirklichkeit – die Ausgangsthese einer Anthropologie der Wahrnehmung –, dann besteht dieser Kontakt in einer unlöslichen Einheit von Wahrnehmung und Wertauffassung. Die Aufgabe des intersubjektivitätstheoretischen Ansatzes in der Anthropologie der Wahrnehmung ist es wiederum, den intrinsisch intersubjektiven Charakter der Wahrnehmung auszuweisen. Wahrnehmungen können nicht nur kommuniziert werden, sondern sie sind vor allem auch das grundlegende Medium der intersubjektiven Koordination von Einstellungen und Handlungen. Die Intersubjektivität der Wahrnehmung bezeichnet den Sachverhalt, dass die Realitätshaltigkeit der Wahrnehmung und mit ihr die Selbstevidenz der Wahrnehmung, welche die Wahrnehmungsgewissheit für sich in Anspruch nimmt, überhaupt erst durch die Einbettung der Wahrnehmung in intersubjektive Beziehungen gewährleistet wird. Die Realitätshaltigkeit der Wahrnehmung beruht also darauf, dass die Wahrnehmungsgewissheit intersubjektiv vermittelt ist. Sie kann nicht allein aus der Dyade der Mensch-Umwelt-Interaktion begründet werden, sondern bedarf des personalen Anderen. Das Schlüsselkonzept, über das die intrinsische Intersubjektivität der Wahrnehmung bestimmt werden kann, ist der Begriff der gemeinsamen Aufmerksamkeit, der besagt, dass interagierende Subjekte einander in ihrem Weltbezug wahrnehmen und via Koordination ihrer Weltbezüge zugleich dessen gewahr sind, dass sie vom jeweils anderen in ihrem Weltbezug wahrgenommen werden. Über den Begriff der gemeinsamen Aufmerksamkeit lässt sich die Dyade Mensch – Umwelt zur Triade Ego – Alter Ego – Umwelt erweitern. Ausgehend vom Konzept der gemeinsamen Aufmerksamkeit können perspektivische Ansichten des umwelthaft Begegnenden als Ansichten von auch aus anderen Perspektiven zugänglichen Gegenständen konzeptualisiert werden. Deren Objektivität beruht auf ihrer Zugänglichkeit aus verschiedenen Perspektiven und durch unterschiedliche Wahrnehmungssubjekte (Fuchs 2017, 78). Beruht das Konzept der Intersubjektivität der Wahrnehmung auf einem intersubjektivitätstheoretisch erweiterten Interaktionismus, dann muss es auch der Revozierung der TatsachenWerte-Dichotomie gerecht werden können, die der Interaktionismus nahelegt. Die durch die implizite Intersubjektivität der Wahrnehmung vermittelte Objektivierung der Wahrnehmungswelt kann sich dann nicht allein auf die deskriptiven Eigenschaften der Gegenstände 8 beschränken, sondern muss ihre evaluativen Eigenschaften einschließen. Die Berücksichtigung der Standpunktrelativität des Realitätsbezugs wird bei der Wahrnehmung deskriptiver Eigenschaften eine andere Rolle spielen als bei der Wahrnehmung evaluativer Eigenschaften. Auch Fragen der Spannung zwischen unterschiedlichen Perspektiven und ihrer Vereinbarkeit miteinander werden sich im erkenntnistheoretischen Kontext anders stellen als im werttheoretischen Zusammenhang. Wie sich diese Perspektiven als Bestandteile nicht eines archimedisch, sondern standpunktsensibel gedachten ‚Gefüges der Welt’ (Bernard Williams) manifestieren und institutionalisieren, ist nach wie vor klärungsbedürftig. Es gilt zu untersuchen, wie sich in der Gegenstandswelt ein Netzwerk intentionaler Angebote herausbildet, das die Intersubjektivität der Wahrnehmung sowohl bezeugt als auch stabilisiert, und wie sich in diesem Netzwerk ein Zusammenhang von wahrnehmungsbasierten ikonischen, indexikalischen und symbolischen Verweisungen herausbildet. Dabei ist es fruchtbar davon auszugehen, dass sich standpunktrelative Realitätsbezüge als solche überhaupt erst unter der Voraussetzung der Intersubjektivität der Wahrnehmung ausbilden können und erst auf ihrer Grundlage die grundsätzliche epistemische Zuverlässigkeit erlangen, die der Wahrnehmungsglaube für sich in Anspruch nimmt. Die Rehabilitierung der Wahrnehmungsgewissheit gegenüber dem Repräsentationalismus und Konstruktivismus muss den erkenntnistheoretischen Begriffsrahmen der klassischen Wahrnehmungstheorie durch eine Verschränkung von Interaktions- und Intersubjektivitätstheorie gleichsam ökologisieren. Dem interaktionstheoretischen Ansatz zufolge ist die Handlung primär. Innerhalb ihrer stehen Subjekt und Objekt, Wahrnehmungen – verstanden als Affordanzen – und darauffolgende Reaktionen in einer Wechselbeziehung, die sich in dem sensomotorischen Austauschverhältnis des (menschlichen) Organismus mit seiner Umwelt herausbildet. Die Objektivierungsleistung der Wahrnehmung beruht zunächst auf diesem Austauschverhältnis, wird aber erst durch die intersubjektive Vermittlung der Umweltbeziehung vervollständigt und stabilisiert. Die interaktionstheoretisch begründete Dyade Mensch – Umwelt muss daher zu einer Triade Ego – Alter Ego – Umwelt erweitert und der Realitätsbezug der Wahrnehmung in diesem Sinne trianguliert werden. Wo dies geschieht, erweisen sich auch Wahrnehmung und Zeichengebrauch als intern verknüpft. Um zu erforschen, welche Stufenfolgen die Prozesse dieser Triangulierung der Objektivierung durchlaufen, ist unter systematischen und entwicklungsgeschichtlichen Gesichtspunkten (phylo- und ontogenetischen) zu untersuchen, welche Bedingungen vorliegen müssen, damit Perzeptionen im Interaktionsgeschehen die ihnen von der naiven Wahrnehmungsgewissheit zugeschriebene Rolle auch erfüllen können. Wechselseitige Perspektivenübernahmen in der geteilten Intentionalität und die gemeinsame Bezugnahme auf 9 Wahrnehmungsgehalte (triadische Kommunikation) bilden dafür eine zentrale Grundlage (Tomasello et al. 2005). Durch die Intersubjektivität der Wahrnehmung in der Lebenswelt bildet sich ein Netzwerk intentionaler Angebote oder Affordanzen heraus, das den Menschen in seiner erkennend-wertenden Ausrichtung an der Beschaffenheit der Welt anleitet und seine Weltbeziehungen reguliert. Derartige Wahrnehmungsangebote manifestieren sich dabei nicht nur in direkten zwischenleiblichen Interaktionen, sondern auch in der Herstellung und Auseinandersetzung mit Artefakten wie der Erstellung von Werkzeugen und ihrer Rückwirkung auf Kognition und Wahrnehmung, wie sie z. B. in der material engagement Theorie untersucht werden (Malafouris 2013). Eine zentrale Rolle spielt dabei generell das Auftauchen von Hindernissen innerhalb des Interaktionskreises, die für das nicht Konstruierte der Wahrnehmung einstehen und im selben Zug Selbstbewusstsein wie Gegenstand entstehen lassen. Die Ökologisierung der ursprünglich erkenntnistheoretischen Frage nach der Realitätshaltigkeit der menschlichen Sinneswahrnehmung impliziert daher auch, dass die genannten Fragestellungen durch einen interdisziplinären Zugang bearbeitet werden müssen. Pragmatistische, phänomenologische, analytische und hermeneutische Methoden und Gesichtspunkte werden dabei eine zentrale Rolle spielen; dies schließt die Einbeziehung entwicklungspsychologischer, kulturanthropologischer und psychopathologischer Forschung zu den oben entwickelten Aspekten der Wahrnehmungsgewissheit mit ein (vgl. Schlette/Fuchs/Kirchner 2017). 2. Die Konzeption des Bandes 2.1 Zur übergreifenden Fragestellung Im Rahmen wahrnehmungsphilosophischer Referenztheorien werden üblicherweise drei Aspekte unterschieden, nämlich der intentionale Akt, der Gehalt der Intention wie auch der durch den intentionalen Akt hergestellte Bezug auf Gegenstände. Auf dieser Grundlage wird dann häufig zwischen einer objektivierbaren Realität (z. B. H2O) und einer nur subjektiven Erscheinung der Gegenstandswelt (sekundäre Qualitäten der Wahrnehmung, z.B. die Farbe, der Geruch des Wassers) differenziert. Auch Fehlrepräsentationen sollen auf dieser Theoriegrundlage erklärt werden. Der dualen Gegenüberstellung korrespondiert die Entgegensetzung von Tatsachen und Werten des Wahrnehmungsgehaltes. Wie oben dargelegt, lassen sich weder dieser Dualismus noch die Tatsachen-Werte-Dichotomie im Rahmen der Verschränkung eines interaktions- mit einem intersubjektivitätstheoretischen Ansatz der Wahrnehmungsanalyse 10 aufrechterhalten. Aber wie kann die Objektivität der Wahrnehmung insbesondere vor dem Hintergrund einer Zurückweisung der Tatsachen-Werte-Dichotomie begründet werden? Mit anderen Worten: Was zeichnet standpunktrelative Objektivität aus? Wie ist die Perspektivität der Wahrnehmung mit ihrem Objektivitätsanspruch vereinbar? Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes teilen die Grundüberzeugung, dass die Wahrnehmung verkörpert ist. Wahrnehmung ist ein Ereignis in der Welt, das wesentlich durch die physische, lokale und kulturelle Verortung des Wahrnehmenden und des Wahrgenommenen bestimmt ist. In diesem weiten Sinne lässt sich aus der Verkörpertheit der Wahrnehmung ihre Standpunktgebundenheit ableiten und damit auch im sowohl wörtlichen wie metaphorischen Sinn von der (multiplen) Perspektivität der Wahrnehmung sprechen, ohne den ihr inhärenten Anspruch aufgeben zu müssen – im Unterschied beispielsweise zum Träumen, Tagträumen oder Halluzinieren –, im Kontakt mit der Wirklichkeit zu sein. Die Wirklichkeit, von der hier die Rede ist, kann freilich nicht die subjektunabhängige, an sich seiende Objektwelt wahrnehmungsphilosophischer Referenztheorien sein, sondern allenfalls die relationale Wirklichkeit, die sich der Austauschbeziehung zwischen den Wahrnehmenden und dem Wahrgenommenen verdankt. Dies berücksichtigt, verhindert die Perspektivität der Wahrnehmung nicht etwa ihren Kontakt mit der Wirklichkeit, sondern sie ist charakteristisch für die Art und Weise, durch die Wahrnehmung mit der Wirklichkeit in Kontakt zu sein. Allerdings ist es die Aufgabe einer Reflexion des Wahrnehmungsereignisses und seiner Prägnanzbildung durch Sprache, Kunst und andere kulturelle Symbolmedien zu explizieren, in welcher Weise uns die jeweilige Wahrnehmung bzw. die Artikulation des Wahrnehmungsereignisses über die wahrgenommene Wirklichkeit belehrt. Erst der Rekonstruktion des Wahrnehmungsereignisses und seiner Artikulation eröffnet sich, ob der die Wahrnehmung charakterisierende, gleichsam naive Objektivitätsanspruch berechtigt und in welcher Weise er zu verstehen ist. Der Band lotet durch unterschiedliche disziplinäre Zugänge – von der Philosophie und Theologie über die Psychiatrie und Literaturwissenschaft bis zur Entwicklungspsychologie und Paleoanthropologie den Zusammenhang aus, in dem die Standpunktrelativität der Wahrnehmung mit ihrer Prägnanz als Sachverhalt einer leiblich und kulturell situieren, intersubjektiv vermittelten Austauschbeziehung zur Welt steht. Wie ist es, als leiblich und kulturell situierter Mensch vermöge der Wahrnehmung in Kontakt mit der Wirklichkeit zu sein? Kann der Wahrnehmende wahrnehmend zwischen objektiven und subjektiven Aspekten seiner Wahrnehmung unterscheiden? Und wie ist diese Unterscheidung unter Voraussetzung des erwähnten relationalen Wirklichkeitsbegriffs zu verstehen (vgl. Tewes 2009)? Basiert der Wahrnehmungsgehalt immer auch schon auf begrifflichen oder protobegrifflichen Konstituenten? Und gibt es eine 11 Korrelation zwischen unterschiedlichen Wahrnehmungsperspektiven und den Medien ihrer Artikulation? Was ist die Funktion des Symbolischen und der Sprache bei der Regulierung und Stabilisierung gemeinsamer Bezugnahmen auf Wahrnehmungsgehalte? In Bearbeitung dieser und anderer Fragen steht der Band in einem sachlichen Zusammenhang mit Forschungen einerseits zur intrinsischen Verkörpertheit des Geistigen, andererseits zur Perspektivität des Erkennens. Forschungen zur intrinsischen Verkörpertheit des Geistigen gehen davon aus, dass kognitive Prozesse wesentlich durch die leibliche Verfasstheit des sensomotorischen Systems und dessen Situiertheit in einer ökologischen und sozialen Umwelt bestimmt sind (Fuchs/Schlette/Tewes 2022). Die Einsicht in die leibliche Verfasstheit und die ökologische Situiertheit des Mentalen verbindet klassische Positionen des Linkshegelianismus (Feuerbach) und der philosophischen Hermeneutik (Dilthey), des Pragmatismus (Dewey, Mead) der Phänomenologie (Heidegger, Merleau-Ponty) und der philosophischen Anthropologie (Plessner, v. Uexküll). In einem Zeitraum von etwa einhundert Jahren (ca. 1850 – ca. 1950) entwickeln sich zwischen diesen unterschiedlichen philosophischen Ansätzen grundsätzliche Übereinstimmungen in Anerkennung des Sachverhalts, dass der menschliche Geist unhintergehbar verkörpert ist. Die gegenwärtige Forschung zur ‚situated cognition‘ (Robbins/Aydede 2009) und zur ‚embodied‘ oder ‚4E-cognition‘ (Newen/de Bruin/Gallagher 2018), die von den Kognitionswissenschaften ausging (Varela/Thompson/Rosch 1993) und sich im Schnittfeld von Kognitionswissenschaften und Philosophie des Geistes (in ihren phänomenologischen, pragmatistischen und analytischen Spielarten) verorten lässt, kann sich auf diese Vorarbeiten berufen und hat sie zum Teil auch bereits entsprechend gewürdigt (Gallagher 2016; ders. 2009; Johnson 2016; Fingerhut/Hufendiek/Wild 2013). Mittlerweile kann von Verkörperung auch als einem neuen Paradigma einer interdisziplinären Anthropologie gesprochen werden (Etzelmüller/Fuchs/Tewes 2017; Etzelmüller/Tewes 2016). Hinter dem Kürzel ‚4E‘ verbergen sich gemäß dem Schema von genus proximum und differentia specifica vier unterschiedliche Aspekte von Verkörpertheit im weiten bzw. generischen Sinn: erstens die Verkörpertheit des Geistes im engeren Sinn, derzufolge „kognitive Zustände wesentlich dadurch geprägt sind, wie der Körper beschaffen ist, in dem sie stattfinden“ (Breyer 2015, 31); ein Beispiel ist die Konstitution von Emotionen: So gibt es eine Tendenz in den Kognitionswissenschaften, Emotionen mit Urteilen bzw. Evaluationen gleichzusetzen, wohingegen in Embodiment-Theorien der leibliche Ausdruck wie in der Körperhaltung, der sprachlichen Intonation, der Mimik oder gestischen Artikulation eine ko-konstitutive Funktion für die Realisierung von Emotionen wie bei Angst, Freude oder Ärger bis hin zum Lebensgefühl 12 (Fuchs 2012) oder zu den sogenannten ‚existential feelings‘ (Ratcliffe 2012) zugeschrieben wird (Colombetti 2020); zweitens die Ausgedehntheit des Geistes, derzufolge mentale Leistungen in die Sensorik und Motorik „hineinreichen“ (Breyer 2015, 31) – also beispielsweise der Connaisseur (des Weines, der Musik usw.) über besondere sinnliche Unterscheidungsfähigkeiten, der Virtuose (des Handwerks, des Klavierspiels, des Surfens usw.) über besonderes Handlungswissen verfügt – und gegebenenfalls an technische Bedeutungsträger – wie z.B. den Taschenrechner oder ‚Ottos Notizblock‘ (Clark/Chalmers 2013) – ausgelagert, nämlich qua ‚extended mind‘ externalisiert werden; drittens die Eingebettetheit des Geistes, derzufolge „kognitive Prozesse von der Umwelt und einzelnen Gegenständen in ihr unterstützt werden“ (ebd., 32) – wie beispielsweise das Handwerk durch die Ordnung der Werkstatt (Haugeland 2013; Sterelny 2013); und schließlich viertens die enaktive Leistung des Geistes, wonach der Geist der Welt nicht ‚tatenlos‘ gegenübersteht, sondern sie – wie der Bildhauer sein Material – handelnd umformt, gestaltet (Noe/O’Regan 2013). Dieser Gesichtspunkt ist im Enaktivismus für die sensomotorische Wahrnehmung in ihren unterschiedlichen Sinnesmodalitäten wie auch übergreifender Integration als sense-making bezeichnet worden (Thompson 2007). Haben die Vertreter des Enaktivismus die Wahrnehmung zunächst im Hinblick auf ihre biologischen Grundlagen untersucht, ist der Ansatz in späteren Arbeiten auch für die Erforschung der sozialen Wahrnehmung weiter entwickelt worden (Gallagher 2008, Fuchs/De Jaegher, 2009, Tewes 2017). Dabei ist für die intersubjektive Wahrnehmungskonstitution deren verschränkte wechselseitige Dependenz und soziale Inkorporation auch als participatory- sense-making charakterisiert worden (Fuchs/De Jaegher, 2009). Mit der physiologischen Verkörpertheit, der organischen und technischen Ausgedehntheit, der ökologischen Eingebettetheit und der enaktiven Ausrichtung sind zentrale Parameter der Standpunktrelativität des Geistigen und damit zugleich der Perspektivität menschlicher Sinneswahrnehmung benannt. Menschen nehmen die Welt „aus einer leiblich verankerten Perspektive heraus“ (Breyer 2015, 63) wahr. Die Wahrnehmung ist verkörpert, als verkörperte standpunktrelativ und damit perspektivisch in der Welt verortet und auf sie ausgerichtet. Forschungen zur Verkörpertheit des Geistigen und zur Perspektivität der Erkenntnis stehen daher in einer Beziehung wechselseitiger Ergänzung. Wortgeschichtlich ist der Begriff der Perspektive vom lateinischen ‚perspectivum‘ bzw. ‚perspicere‘ abgeleitet, das so viel bedeutet wie ‚durchschauen‘, ‚deutlich sehen‘; begriffsgeschichtlich (König 1989) weitet sich der Anwendungsbereich des Wortes von der Bezeichnung einer spezifischen Eigenschaft von Wahrnehmungsereignissen zur im weiteren Sinne kulturell, sozial, auch ökonomisch – etwa in ihrer „Bedingtheit durch Bedeutungsmomente der 13 bürgerlichen Gesellschaftsstruktur“ (Holzkamp [1973] 2006, 202) – vermittelten Sinnbeziehung zwischen dem Wahrnehmungssubjekt und der Welt. Eine wesentliche Bedeutung kam bei dieser Bedeutungsverschiebung der Entdeckung der Linear- bzw. Zentralperspektive durch die Künstler und Kunsttheoretiker der italienischen Renaissance zu. Leon Battista Alberti gab der Linearperspektive unter Bezugnahme auf die Euklidische Geometrie mit seinem Modell der ‚Sehpyramide‘ ein mathematisches Fundament (Alberti [1436] 2010), Leibniz überführte sie in eine metaphysische Kategorie, die nun nicht mehr nur eine Eigenschaft der Wahrnehmung bezeichnet, sondern jeweils eine unter vielen Ansichten bezeichnet, die in ‚prästabilierter Harmonie‘ unterschiedliche Zugänge zu der einen Welt ermöglichen (Leibniz [1714] 1998). Damit verschiebt sich dann auch der wörtliche zum übertragenen Verwendungssinn des Perspektivenbegriffs – mit allen begrifflichen Schwierigkeiten, die eine solche Übertragung mit sich bringt (Strobach 2019, 69). Johann Martin Chladenius, demzufolge wir „diejenigen Umstände unserer Seele, Leibes und unserer ganzen Person, welche machen, oder Ursach sind, daß wir uns eine Sache so, und nicht anders vorstellen, […[ den Sehe-Punckt nennen [wollen]“ (Chladenius 1742, § 309), hat Leibniz‘ metaphysischen Perspektivismus hermeneutisch fruchtbar und schließlich auch zur Grundlage historischer Erkenntnis gemacht (Schlette 2013). Wird Leibniz‘ Metaphysik ein „objektiver Perspektivismus“ attestiert, so figuriert Nietzsche als Vordenker eines „subjektiven Perspektivismus“ (Bühring 2014, 87, 96), demzufolge objektive Geltungsansprüche für die perspektivisch gebrochene Erkenntnis dekonstruiert werden. Allerdings ist diskutabel, ob Nietzsches Erkenntniskritik sich nicht vielmehr nur gegen den klassischen Objektivitätsbegriff: die Dichotomisierung von Subjektivität und Objektivität richtet und Formen einer standpunktrelativen Objektivität geradezu ausdrücklich einräumt (Strobach 2019, 74). Friedrich Kaulbach unterscheidet, Nietzsche folgend, zwischen Objektwahrheit und Sinnwahrheit, wobei die letztere besagt, dass „der Mensch sich seine Welt durch perspektivische Deutungen schafft, die für ihn Wahrheit hat, weil sie seiner Stellung zur Welt angemessen ist“ (Kaulbach 1990, 116), und postuliert einen ‚Willen zur Sinnwahrheit‘. Für Erich Rothacker ist die Wirklichkeit Inbegriff der Erfahrung bedürfnis- und interessenbasierter Bedeutsamkeiten (Rothacker [1948] 2008, 118), die sich durch kognitive Distanzierung und Versachlichung objektivieren lassen. Allerdings ersetzt er den Begriff der Perspektive durch den des Aspekts und vertritt einen „aspektivische[n] Realismus“ (Bühring 2014, 145). Auch in der neueren Diskussion wird der Aspektbegriff zur Abwehr des Relativismus dem Begriff der Perspektive vorgezogen (Tetens 2019). Jedenfalls zeigt die Reflexion menschlicher Erkenntnisund Deutungsansprüche seit Nietzsche, dass sich die Anerkennung ihrer Perspektivität mit dem Problem des Relativismus herumschlägt. Dabei ist der Ehrgeiz der Überwindung von 14 Perspektivität zugunsten einer a-perspektivischen objektiven Erkenntnis ausdrücklich erst jüngeren Datums und hat sich erst im späten 19. Jahrhundert, in der Zeit der Ausbreitung des Szientismus als Weltanschauung, durchgesetzt (Daston 1992). In der Gegenwart entwickeln sich dagegen Tendenzen, den Perspektivismus als Voraussetzung von Objektivität anzuerkennen (von Sass 2019; Asmuth/Landenne 2018): „Der im Begriff der Perspektive artikulierte Gedanke einer unaufhebbaren Vermittlung des Weltzugangs muss keineswegs einen Verzicht an Objektivität bedeuten. Es kommt darauf an, wie diese Vermittlung gedacht wird; und gerade der Begriff der Perspektive hilft zu sehen, dass eine solche Vermittlung als eine durch und durch objektive Leistung verstanden werden kann, die einen Standpunkt überhaupt erst als solchen konstitutiert.“ (Volbers 2019, 243) Der vorgelegte Band verortet sich im wahrnehmungstheoretischen Schnittfeld des Verkörperungsansatzes und des Perspektivismusdiskurses. Klassische Vorarbeiten zur perspektivischen Struktur der leibgebundenen Wahrnehmung liegen im Kontext sowohl des Pragmatismus als auch der Phänomenologie vor. Mit ihnen gehen auch die Beiträge dieses Bandes von der unaufhebbaren Perspektivität der Dingwahrnehmung (Husserl 1976, 351) und damit vom Korrelationsapriori zwischen Wahrnehmungsakt und Wahrnehmungsgegenstand aus. In der neueren phänomenologischen Forschung wird dieses Korrelationsapriori intersubjektivitätstheoretisch gedeutet: „Every perception refers, with necessity, to further possible perceptions. These perceptions – being in principle incompatible with my present perception – are the perceptions of possible Others. Consequently, every appresentation as well as every object-appearance, due to their horizonedness, presuppose a reference to the open intersubjectivity (cf. Hua XIII 463).” (Zahavi 1997, 312). Die Beiträge des vorliegenden Bandes stellen den Zusammenhang zwischen dem wörtlichen und dem übertragenen Verwendungssinn des Perspektivenbegriffs heraus, indem sie danach fragen, wie sich die intersubjektive Dimension der Wahrnehmung auf dem Weg ihrer Artikulation kulturell manifestiert. Was sie verbindet, ist der Gedanke, dass die Wahrnehmung durch die Verkörpertheit des Wahrnehmenden intrinsisch strukturiert ist, die Struktur der Wahrnehmung aber offen für unterschiedliche kulturelle Medien ihrer Artikulation ist, die wiederum der Wahrnehmung nicht äußerlich bleiben, sondern zu ihrer Prägnanzbildung beitragen: Die Prägnanzbildung der Wahrnehmung ist konstitutiv für ihre Objektivierungsleistung, mit anderen Worten: die symbolischen Ressourcen, auf die der Wahrnehmende zur Artikulation seiner Wahrnehmung zurückgreift, sind zugleich Wege und Weisen, in Kontakt mit der Wirklichkeit 15 zu sein. (Jung 2023, v.a. Kap. 5) Zu diesem Grundgedanken stellen die nachfolgenden Beiträge exemplarische Phänomenbeschreibungen, Begriffs- und Fallanalysen sowie Theorierekonstruktionen bereit. Sie erheben nicht den Anspruch auf systematische Geschlossenheit. Vielmehr wollen sie als Anregungen einer work in progress verstanden sein, die Anregungen aus Verkörperungsdiskurs und Perspektivismusdebatte intersubjektvititäts- und kulturtheoretisch im Kontext einer interdisziplinären Anthropologie weiterdenkt und sich dabei methodisch gleichermaßen durch die jeweiligen Stärken von Phänomenologie, Hermeneutik, Pragmatismus und analytischer Philosophie bereichern lässt. 2.2 Schwerpunktsetzungen der Beiträge Der Band bearbeitet das Thema mit sechs Schwerpunktsetzungen. Den Anfang machen die Beiträge von Lambert Wiesing und Thomas Fuchs. Sie haben eine gewissermaßen protreptische Funktion: Am Beginn des Bandes sollten Aufsätze stehen, die, statt sich explizit im argumentativen Kontext einer wahrnehmungsphilosophischen Debatte zu verorten, die Leserinnen und Leser durch die Evidenzerzeugung phänomenologischer Beschreibung zur Reflexion ihrer eigenen Wahrnehmung auf die in ihr transparenten Grundstrukturen des Wahrnehmungsereignisses anleiten sollen, denen zufolge sich die Wahrnehmung stets einer intrinsischen, leiblich verkörperten Verschränkung von Subjekt und Objekt verdankt. Diese Strukturen reichen von kategorisierbaren Wahrnehmungsstilen im Beitrag von Lambert Wiesing bis zu pathologischen Wahrnehmungsverzerrungen, in denen Thomas Fuchs zufolge Wirklichkeit entweder durch die Verfremdung des Wahrgenommenen zu einer als bedeutungslos erfahrenen starren Gegenständlichkeit oder durch seine Auflösung in einer enthemmten Imaginationstätigkeit kollabiert. Die Frage nach den Kriterien der Unterscheidung zwischen einer ‚normalen’, intersubjektiv nachvollziehbaren, und einer pathologisch verzerrten Wahrnehmung führt auf die erkenntnistheoretische Auseinandersetzung mit dem Verhältnis zwischen den begrifflichen und nicht-begrifflichen Wahrnehmungsanteilen, denen sich Jens Bonnemann und Christian Tewes im zweiten Schwerpunkt des Bandes jeweils in Auseinandersetzung mit klassischen Positionen der phänomenologischen und der sprachanalytischen Diskussion zuwenden. Beide stimmen darin überein, den begrifflichen Status der Wahrnehmung nicht auf deren propositionalen Gehalt zu beschränken, sondern um die Konzepte, sei es eines „anschaulichen Denkens“, so Bonnemann mit Bezug auf Rudolf Arnheim, oder von empraktisch wirksamen Bildschemata der Wahrnehmung, so Tewes unter Bezugnahme auf Mark Johnson, zu erweitern. 16 Die kulturtheoretische Dimension der Frage nach dem begrifflichen Gehalt der Wahrnehmung bearbeiten die Beiträge des folgenden Schwerpunkts. Ralf Becker greift aus einer phänomenologischen Perspektive auf Ernst Cassirer zurück, Tullio Viola orientiert sich am ‚Chicagoer Zweig‘ des Pragmatismus, an George Herbert Mead und John Dewey. Beide schreiben der Wahrnehmung das Potential einer symbolischen Prägnanz zu, die sie in unterschiedlichen kulturellen Lebensformen ausbilden und artikulieren, aber unter Bedingungen kulturellen Wandels auch verlieren kann. Damit leisten die Autoren einen Beitrag zur Problematisierung der dichotomischen Entgegensetzung konstruktivistischer und realistischer Theorieansätze. Ihre Aufsätze legen es nahe, nach einem dritten Weg zu suchen, der falsche Vereinseitigungen vermeidet, und den Argumenten gerecht zu werden, die beide Seiten für sich in Anspruch nehmen können. Der Grundgedanke, dass die Wirklichkeit der Wahrnehmung auf ihrer symbolischen Prägnanz beruht, liegt mindestens implizit auch den Beiträgen der beiden nächsten Schwerpunkte zugrunde. In dem ersten der beiden gehen Uta Schaffers und Matthias Jung nämlich der Frage nach der gestaltrichtigen Artikulation von Wahrnehmung im Medium der Literatur nach. Während sich Uta Schaffers mit deutlichen Bezügen zu Thomas Fuchs’ Phänomenologie pathologischer Wahrnehmungsformen mit der literarischen Thematisierung von Angstzuständen befasst, geht Matthias Jung dem Faszinosum des nature writing nach, dem er unter Rekurs auf Charles Sanders Peirce eine semiotische Pointe abgewinnt. Magnus Schlette und Gregor Etzelmüller wiederum befassen sich in dem nachfolgenden Themenschwerpunkt mit Kunst und Religion als Medien der Artikulation wahrgenommener Wirklichkeit. Während sich Schlette Konrad Fiedlers Grundgedanken der künstlerischen Ausdrucksbewegung in Vermittlung von Auge und Hand widmet, arbeitet Etzelmüller die Bedeutung heraus, die die verkörperungstheoretische Überzeugung einer Einheit von Wahrnehmung und Bewegung für die religiöse Gotteserkenntnis und deren theologisch-dogmatische Verarbeitung besitzt. Die Schwerpunktsetzungen des Bandes folgen der Logik der Ausweitung der wahrnehmungsphilosophischen Reflexion zunächst vom Konkreten zum Allgemeinen: von der phänomenologischen Beschreibung zu erkenntnistheoretischen Modellbildungen, und zurück vom Allgemeinen zum Konkreten: von den erkenntnistheoretischen Modellbildungen zu kulturtheoretisch relevanten Kontexten der Wahrnehmungsphilosophie, in denen wiederum an Fallbeispielen die Wirklichkeit der Wahrnehmung interpretativ erschlossen werden kann. Den Abschluss des Bandes bildet die Einbettung der Fragestellung in die onto- und phylogenetische Perspektive, die von dem entwicklungspsychologischen Beitrag Stefanie Höhls, Markus Tüntes und Trinh Nguyens sowie dem paläoanthropologischen Beitrag Miriam Haidles geleistet wird. 17 Der Beitrag von Höhl, Tünte und Nguyen widmet sich der Wirklichkeit von Fremdwahrnehmung in ihrem Spannungsverhältnis zu unterschiedlichen Anlagen interozeptiver Sensitivität, denen zufolge soziale Räume auch jeweils anders erfahren werden. Es hängt demnach, wie empirische Studien zeigen, von der interozeptiv gegenwärtigen Zuständlichkeit des Wahrnehmenden ab, wie er auf sein Gegenüber reagiert und mit ihm interagiert. Die Wirklichkeit des Anderen verdankt sich unter anderem auch der intrikaten Vermittlung von Interozeption und Exterozeption in der Fremdwahrnehmung. Miriam Haidle weitet die ontogenetische zur phylogenetischen Perspektive und die dyadische Relation von Ego und Alter Ego zur Triade des material engagement mit einer widerständigen Welt. Die Wirklichkeit der Wahrnehmung ist die Wirklichkeit kooperativer Bearbeitung des Wahrgenommenen, über deren kulturkonstitutive Bedeutung uns figürliche Darstellungen aus der Altsteinzeit ein frühes Zeugnis ablegen. 3. Die einzelnen Beiträge 3.1 Phänomenologie der Wahrnehmung Lambert Wiesing analysiert in seinem Aufsatz „Die Wirklichkeit der Wahrnehmung: ein doppeltes Stilphänomen“ die intrinsische Bestimmung des Wahrgenommenen durch die stilistischen Relationen, in denen es einerseits zueinander und andererseits zum Wahrnehmenden steht. Die Pointe seiner Ausführungen besteht darin, dass die Beziehungen des Wahrgenommenen untereinander innerhalb eines Wahrnehmungsfeldes auf Anschauungsformen beruhe, in denen dem Wahrnehmenden seine Partizipationszumutung, beim Wahrgenommenen leibkörperlich anwesend, selbst in der wahrgenommenen Welt involviert und von ihr betroffen zu sein, stets auf eine bestimmte Weise mitbewusst sei. Präreflexives Selbstbewusstsein, im Zustand des Wahrnehmens in einer bestimmten Relation zum Wahrgenommenen zu stehen, und intentionales Wahrnehmungsbewusstsein, dem das Wahrgenommene stets in bestimmter Relation zueinander steht, sind demnach gleichermaßen konstitutiv für das Widerfahrnis, Teil der Welt zu sein und in ihr Wirklichkeit zu erfahren. Die der Wahrnehmung in doppelter Weise eingeschriebene Stilistik entfaltet Wiesing in produktiv-weiterführender Aneignung des ästhetischen Formalismus Heinrich Wölfflins, indem er auf dessen Kategorien des Malerischen und des Linearen zurückgreift: Im Lichte des präreflexiven Selbstbewusstseins, entweder in leiblich-malerischer oder körperlich-linearer Weise Teil der wahrgenommenen Welt zu sein, tritt das Wahrgenommene zueinander in eine entsprechend strukturierte Beziehung. 18 Auch Thomas Fuchs erschließt die Wirklichkeit der Wahrnehmung in seinem Aufsatz „Polare Grundstrukturen der Wahrnehmung. Phänomenologie und Psychopathologie“ anhand zweier Polaritäten im Weltverhältnis des Menschen. Einerseits verknüpfen sich laut Fuchs in jeder Wahrnehmung exogene: sensomotorisch-enaktive und endogene: autochthon-imaginative Komponenten, die sich wechselseitig balancieren; exogene Affektionen verbinden sich mit endogenen Vorgestalten, Protentionen und Antizipationen zur Prägnanz einer Wahrnehmung; der Realitätsgehalt der Wahrnehmung sei darüber hinaus inter-enaktiv mit fremden Perspektiven vermittelt, die ihre Subjektzentriertheit kontrastieren und relativieren. Andererseits sei die Wahrnehmung durch die Polarität eines pathischen: empfindenden, und eines gnostischen: erkennenden Moments bestimmt, wie Fuchs unter Bezug auf zentrale Kategorien der Wahrnehmungstheorie von Erwin Straus darlegt; während das pathische Moment den leib- und affektgebundenen Charakter jeder Sinneswahrnehmung bedinge, bilde das gnostische Moment den Sachgehalt der Wahrnehmung heraus. Die Wirkungsweise der Polaritäten werde besonders eindrücklich dort, wo sie gestört sei und sich eines der beiden Momente gegenüber dem anderen verselbständige, es im Extremfall sogar verdränge: Derealisation oder Subjektivierung des Erlebens in Illusion, Halluzination und Wahn. 3.2 Der Status des Begrifflichen in der Wahrnehmung Jens Bonnemann widmet sich in seinem Beitrag „Die Intelligenz der Sinne. Zum Gestaltcharakter in der Ding- und Fremdwahrnehmung“ der vor allem in der Analytischen Philosophie seit ihrer postempiristischen Kritik am ‚Mythos des Gegebenen’ (Sellars) verbreiteten These von der Sprachabhängigkeit der Wahrnehmung, der zufolge die sinnlichen Gehalte ihre Erkenntnisfunktion nicht dem Wahrnehmungsvermögen, sondern ihrer Durchdringung mit den Begriffen des Verstandes verdanken würden. Bonnemann betont zunächst, dass auch die Phänomenologie Husserls der Gleichsetzung der Wahrnehmung mit den Empfindungsdaten kritisch gegenüberstehe, gleichwohl aber mit seiner Unterscheidung zwischen Empfindungsdaten und Wahrnehmungsnoema einem Dualismus verhaftet bleibe, in dem sich mit der behaupteten Identität der Empfindungsdaten gegenüber wechselnden apperzeptiven Deutungen der Mythos des Gegebenen auf andere Weise reproduziere. Demgegenüber führt Bonnemann die gestaltpsychologisch inspirierte Theoriebildung innerhalb der phänomenologischen Schule ins Feld, zunächst Aron Gurwitschs Husserl-Kritik und schließlich Rudolf Arnheims Konzeption des anschaulichen Denkens. Arnheim verstehe die Wahrnehmung als das Erfassen von Struktureigenschaften am sinnlichen Material; nicht richte sich die Erfahrung nach den Begriffen, die der 19 Geist vermittels Sprache und Denken an das Wahrgenommene herantrage, sondern die begriffliche Erkenntnis sei umgekehrt der sinnlichen Gestaltwahrnehmung abkünftig; Typisierungen und Kategorisierungen des Wahrgenommenen seien wahrnehmungsimmanent und durch Schulung der Wahrnehmung bilde sich eine Anschauungsintelligenz heraus. Bonnemann attestiert Arnheims Auffassung der Wahrnehmungsformen allerdings „einen unverkennbar platonistischen Zug“, der sich schwer mit der Anerkennung kulturell varianter Wahrnehmungsstile vermitteln lasse. Während Bonnemann die systematische These, die Wahrnehmung sei ein sprachunabhängiges Vermögen der Erfassung von Struktureigenschaften am Wahrgenommenen, in Auseinandersetzung mit einem innerphänomenologischen Disput entwickelt, wendet sich Christian Tewes in seinem Beitrag „Begriffliche und nicht-begriffliche Wahrnehmungsgehalte. Ein verkörperungstheoretischer Klärungsversuch“ diesem Thema ausgehend von einer sprachanalytischen Kontroverse zwischen Donald Davidson und John McDowell zu. Beide Autoren beziehen unterschiedliche Positionen in dem Versuch, das Verhältnis von sprachlichen Begriffsschemata und Wahrnehmungsgehalten zu bestimmen. Davidson zufolge sollen die Ursachen von Sinnesreizen die Wahrnehmungsurteile zugleich bestimmen und rechtfertigen. Tewes schließt sich McDowells Kritik an, dass Davidson damit die von ihm eigentlich abgelehnte Gedankenfigur des ‚Mythos des Gegebenen‘ voraussetzen müsse. Das Problem sehe McDowell in Davidsons Dichotomisierung von Wahrnehmung und Begriff. Im Rückgriff auf Kantische Gedankenfiguren argumentiere McDowell für die Gleichursprünglichkeit von Begriff und sinnlichem Gehalt, von sinnlicher Affizierung und begrifflicher Auffassung. Freilich könne McDowells Auffassung vom durchgängig begrifflich konstituierten Wahrnehmungsgehalt wiederum nicht zufriedenstellend der phänomenalen Fülle des Wahrgenommen gerecht werden, dessen Feinkörnigkeit sich seiner vollständigen Konzeptualisierbarkeit zu entziehen scheine. Einen Schritt zur Lösung dieses Problems deute sich in dem theoretischen Bezugsrahmen des Enaktivismus, insbesondere in Mark Johnsons Theorie der Bildschemata an. 3.3 Die symbolische Prägnanz der Wahrnehmung Ralf Becker nimmt sich in seinem Aufsatz „Symbolische Artikulation des Wahrnehmungsfeldes“ vor, die Strukturiertheit der Wahrnehmung von der präsymbolischen Gliederung des Wahrnehmungsfeldes durch synkinetische Kommunikation im Anschluss an Erwin Straus über seine Ausdifferenzierung durch symbolische Artikulation im Anschluss an Ernst Cassirer bis zu Formen der symbolischen Desartikulation unter Bezugnahme auf Erich Rothacker in ihrem 20 systematischen Zusammenhang darzustellen. Im Zentrum des Beitrags steht Cassirers Begriff der symbolischen Prägnanz. Der Symbolbegriff markiere die via regia zwischen dem assoziationistischen Modell des Sensualismus und dem inferentialistischen Modell des Rationalismus. Aufgrund ihrer symbolischen Prägnanz seien die Wahrnehmungen in unterschiedliche Sinnsphären eingebettet, innerhalb derer sich auf dem Wege der kulturellen Habitualisierung Weltansichten und mit ihnen spezifische Wahrnehmungsstile ausbilden. Ferner umfasse die symbolische Prägnanz der Wahrnehmung Phänomene der bestimmten Negation, also der Wahrnehmung des Abwesenden als eines Abwesenden; kraft symbolischer Prägnanz seiner Wahrnehmung besitze der Mensch – mit Plessner – einen ‚Sinn fürs Negative’. Im Horizont dieser Sinnsphären seien daher – abgesehen von pathologischen Ursachen – auch kulturell bedingte Desartikulationen des Wahrnehmungsfeldes zu verzeichnen, die dann einträten, wenn aufgrund eines Wandels kultureller Deutungsmuster bereits artikulierte Wahrnehmungsfelder ihre symbolische Gliederung wieder verlieren. So sei die Strukturiertheit der Wahrnehmung von der synkinetischen Gliederung des Wahrnehmungsfeldes über die symbolische Prägnanz der Wahrnehmung bis zu seiner Desartikulation eine Frage der Bildung und Erziehung. Wie soll ein durch die Wahrnehmung ermöglichter direkter Zugang zur Welt möglich sein, wenn die Wahrnehmung zugleich soziokulturellen Veränderungen unterliegt? Tullio Viola beantwortet diese Frage in seinem Beitrag „Direkte Wahrnehmung und Kulturwandel. Ein pragmatistischer Ansatz“ im Anschluss an den theoretischen Bezugsrahmen des symbolischen Interaktionismus von George Herbert Mead. Mead zufolge begreife der Handelnde die Gegenstände der Wahrnehmung der Sache nach im Sinne des allerdings erst von James Gibson geprägten Begriffs als Affordanzen, die unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Perspektiven, die auch andere Handelnde auf denselben Gegenstand einnehmen können, eine intersubjektiv stabile Bedeutung annehmen. Dewey folgend schlägt Viola anschließend vor, die Konstitution des Wahrnehmungsreizes durch Erkundung der Umwelt nicht als einen Konstruktions, sondern als Artikulationsprozess zu verstehen, in dem die zunächst noch qualitativ unbestimmten Bedeutungen der Wahrnehmungsinhalte durch Symbolverwendung spezifiziert werden. Der Begriff der Artikulation nimmt für Viola dabei eine Zwischenstellung zwischen Konstruktion und Entdeckung ein. Die Vermittlung zwischen der objektiven Welt und der kulturellen bzw. kulturell bedingten Wahrnehmung sucht er abschließend unter Bezugnahme auf Arbeiten von Fabrice Clément und Laurence Kaufmann sowie Webb Keane auf einem Weg, der die Rolle des Kulturwandels, nicht: statt, sondern in der direkten Wahrnehmung würdigt: Situationen fordern unmittelbar zu sozialer Kooperation auf, kooperative Handlungen verfestigen sich in kollektiven Wahrnehmungs- und Verhaltensmustern, die kulturell variabel wiederholt 21 werden können, auf diesem Wege zunächst zu Handlungsregelmäßigkeiten mit schließlich kulturabhängigen Normen führen. 3.4 Prägnanzbildung der Wahrnehmung durch Literatur Uta Schaffers‘ Aufsatz „‚Stell dir vor, du würdest ohne Fell geboren’. Selbst- und Weltwahrnehmung und die Suche nach geteilter Erfahrung in Clemens J. Setz’ Erzählung Geteiltes Leid“ widmet sich einer Erzählung, in der das Spannungsverhältnis zwischen idiosynkratischer Wahrnehmung und intersubjektiver Verständigung auf zweierlei Weise thematisiert wird: einerseits evoziert der Autor die Interdependenz von Wahrnehmungen und veränderlichen affektiven Zuständen anhand von psychotischen Angstzuständen, unter denen sich die Physiognomie der Dinge wandelt – hier deuten sich enge Bezüge zur Phänomenologie der pathologischen Wahrnehmung im Beitrag von Thomas Fuchs an; andererseits problematisiert er die Einsamkeit des Erfahrungssubjekts, das in seiner Bemühung um Mitteilung scheitert. Damit erörtert Schaffers im Medium der literarischen Textanalyse das Proprium der Literatur, Unsagbares zur Sprache zu bringen, damit das genuin Nichtsprachliche zu artikulieren und zugleich die Grenzen der Sprache im Bemühen um Artikulation der Reichhaltigkeit von Wahrnehmung zu reflektieren. Matthias Jungs Beitrag „Nature Writing als wahrnehmungsbezogene Artikulation“ ergänzt die Auseinandersetzung mit der sprachlich angemessenen Artikulation von Wahrnehmung durch die Reflexion auf die ihrerseits wahrnehmungsstimulierende Kraft literarischer Sprache. Zunächst greift er den Gedanken der symbolischen Strukturiertheit bzw. Artikuliertheit der Wahrnehmung unter Bezugnahme auf die Semiotik von Charles Sanders Peirce auf. Wahrnehmung und Artikulation seien unselbständige Teilaspekte eines Zusammenhangs zwischen dem sozialen Organismus und der Umwelt, der handlungstheoretisch aufzufassen ist. In diesem handlungstheoretischen Bezugsrahmen seien die direkte Referenz der ikonischen und indexikalischen Wahrnehmung mit der indirekten Referenz der Symbolzeichen arbeitsteilig so verschränkt, dass der handelnde Organismus Affordanzen wahrnimmt und in den Sinnzusammenhang seines Weltverhältnisses integriert, während derselbe Sinnzusammenhang umgekehrt wiederum einen Möglichkeitsspielraum von Affordanzen auf ikonisch-indexikalischer Ebene eröffnet. Im Kontext von Peirce‘ semiotischer Theorie widmet sich Jung dann dem nature writing als einem künstlerischen Fallbeispiel der wahrnehmungszentrierten Artikulation: gutes nature writing evoziere Wahrnehmungen, die erst durch den sensibilisierenden Effekt des Schreibens, durch die literarische Form des evokativen Schreibens, möglich würden. Evoziert würden wahrnehmungsgebundene Zeichenformen (Icons, Indices) im Medium der vom Hier und Jetzt 22 entkoppelten Sprache (Symbols). Insbesondere im Werk Thoreaus lasse sich die Verschmelzung von Naturwahrnehmung und Naturschilderung als Aspekten eines kontinuierlichen Interaktionszusammenhanges nachvollziehen. 3.5 Prägnanzbildung von Wahrnehmung in Kunst und Religion Magnus Schlette befasst sich in seinem Beitrag „Auge und Hand. Kunst als Erkenntniskritik im Anschluss an Konrad Fiedler“ mit Konrad Fiedlers Werk am Schnittpunkt zwischen Wahrnehmungs- und Kunstphilosophie. Dem kunstwissenschaftlichen Diskurs der Moderne zufolge verschiebe sich die Aufgabe künstlerischer Gestaltung immer mehr von der Ab-bildung der Wirklichkeit zu ihrer symbolischen Artikulation im Vollzug der künstlerischen Tätigkeit. Einer der zentralen Proponenten dieser Auffassung sei Konrad Fiedler. Fiedler, der einen Weg zwischen den beiden zu seiner Zeit vorherrschenden ästhetischen Strömungen des Historismus und des Naturalismus gesucht habe, begreife das Wesen der künstlerischen Tätigkeit als Ausdrucksbewegung. Die Aufgabe des Künstlers bestehe darin, die gewöhnliche Erfahrung – in ihrer Einheit volitionaler, emotionaler und kognitiver Aspekte – im Modus des künstlerischen Sehens zum Gegenstand einer gestalterischen Aufgabe zu machen. Bei dieser Aufgabe handele es sich um die Einübung und Artikulation einer Art des Sehens zweiter Ordnung, das sich in beständiger Wechselwirkung zwischen Auge und Hand vollzieht. Fiedler vertrete die Auffassung, dass die Wert- und Sinngebundenheit der Wahrnehmung nicht als Zuschreibung einer bestimmten subjektiven oder kollektiven Bedeutung an die vermeintlich vorab gegebenen Wahrnehmungsinhalte zu verstehen sei, sondern als intrinsisch sinn- und wertförmige Verfasstheit des Anschauungsgegenstandes im Ereignis seiner Wahrnehmung; dessen Gehalt gelange in der Artikulation des künstlerischen Sehens zur Evidenz des Bildbetrachters. So bezeuge das künstlerische Werk die Welthaltigkeit der Wahrnehmung in einer wiederum die Wahrnehmung sensibilisierenden Art und Weise. In seinem Aufsatz „Die Einheit von Wahrnehmung und Bewegung und ihre Bedeutung für die Gotteserkenntnis“ nutzt Gregor Etzelmüller unterschiedliche Anregungen aus Gestaltkreistheorie, Pragmatismus, Phänomenologie und Kognitionswissenschaften, um den Gedanken der irreduziblen Einheit von Motorik und Sensorik, von Verhalten und Wahrnehmung auf einen erkenntnistheoretisch tragfähigen Begriff zu bringen. Denn darin sieht er eine Herausforderung für die Theologie, den klassischen cartesischen Dualismus von Körper und Geist zugunsten einer monistischen Position zu überwinden und in ihrem Lichte die Sinnressourcen der biblischen Texte für die Deutung der conditio humana und die Gestaltung eines der Gegenwart 23 angemessenen Gottesverhältnisses neu zu bestimmen. Einerseits erschließe sich von den genannten Theorieansätzen her das intuitive Verständnis, das die biblischen Überlieferungen von der vorreflexiven Intentionalität des menschlichen Leibes bezeugten. Andererseits werde von den biblischen Texten her evident, dass die genannten Theorieansätze die theologische Reflexion des Gottesverhältnisses befruchten können. Welches Innovationspotential der Konfrontation der biblischen Texte mit den modernen Theorieansätzen zu entnehmen ist, verdeutlicht Etzelmüller an einer zugleich affirmativen und kritischen Auseinandersetzung mit der Theologie Karl Barths. 3.6 Zur Onto- und Phylogenese der Wahrnehmung Stefanie Höhl, Markus Tünte und Trinh Nguyen befassen sich in ihrem Beitrag „Welche Rolle spielt Interozeption für soziale Kognition und Interaktionen in der frühen Entwicklung?“ mit dem Zusammenhang zwischen der individuell unterschiedlichen Empfänglichkeit für physiologische Signale (wie beispielsweise den Rhythmus des eigenen Herzschlags) und der Fähigkeit einerseits zur Perspektivenübernahme und andererseits zur direkten Spiegelung einer anderen Person. In einem zweiten Schritt wird dieser Zusammenhang auf die Mutter-Kind-Interaktion in der frühkindlichen Entwicklung enggeführt und die Bedeutung der Interozeption für Bindungserfahrungen untersucht. Der Beitrag zielt darauf, die dreigliedrige Relation zwischen Interozeption, Exterozeption und Intersubjektivität im menschlichen Weltverhältnis entwicklungspsychologisch zu erhellen. Miriam Haidle widmet ihren Beitrag „Ein Löwe ist ein Löwe ist ein Löwe? Intersubjektivität und die Interpretation figürlicher Darstellungen der Altsteinzeit“ einer paleoanthropologischen Kritik der Tatsachen-Werte-Dichotomie. Grundlage ihrer Argumentation ist die Auffassung der Wahrnehmung nicht als Ereignis, sondern als Performanz mit unterschiedlichen Entwicklungsdimensionen. Die Performanz beinhalte körperliche, mentale und emotionale Aspekte, die sich in Auseinandersetzung des Organismus mit der Umwelt evolutionär-biologisch, ontogenetischindividuell und historisch-sozial entwickeln. Diese Entwicklungsdimensionen charakterisierten den Raum, in dem das material engagement eines Organismus mit der widerständigen Welt und des social engagement mit anderen Individuen (gegenüber der widerständigen Umwelt) verortet werden muss. In dem mehrdimensionalen Raum des materiellen und sozialen Engagements bilde sich für die Beteiligten die Realität in einem Prozess der – mit Thomas Fuchs: interenaktiv vermittelten Einheit von Wahrnehmung und Wertnehmung hervor. Wie die Wahrnehmung von Wirklichkeit durch ihre Inkorporation in eine intersubjektiv und kulturell vermittelte 24 Praxis immer mehr historisch variable Bestimmungen aufnimmt, verdeutlicht Haidle an Löwendarstellungen aus der Altsteinzeit. Bibliographie Alberti, Leon Battista (2010): Della Pittura – Über die Malkunst [Erstausgabe 1436]. Darmstadt:n Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Asmuth, Christoph/ Landenne, Quentin (Hg., 2018): Perspektivität als Grundstruktur der Erkenntnis. Würzburg: Königshausen & Neumann. 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