Inszenierung, Auratisierung, Transzendierung
Glauben, Sehen, Kaufen
Manfred Prisching
Beitrag zur Ad-Hoc-Gruppe »Offene Räume geschlossener Sinnsysteme. Inszenierungslogiken
und -effekte in Kirche, Kaufhaus, Kunstmuseum«
Räume sind nicht nur Behältnisse, sondern Ausdruck gesellschaftlicher (oder partikulärer) Imaginationen, und sie wollen das von ihnen vertretene Transzendente oder Imaginäre vergegenständlichen,
darstellen, fördern und inszenieren. Das gilt ganz offensichtlich für Kirchen, aber auch für Kunstmuseen und Einkaufszentren, den drei hier zu vergleichenden Gebilden. Es handelt sich jeweils um ‚gebaute
Weltsichten‘, errichtet zu bestimmten (nicht nur funktionellen) Zwecken, als Verkörperungen des jeweils Unsichtbaren und Symbolischen jenseits der gemauerten Räumlichkeiten. Ich setze das voraus
und konzentriere mich darauf, gewisse Gemeinsamkeiten von Kirchen1, Kunstmuseen2 und Shopping
Malls3 herauszuarbeiten: Unter der Perspektive, dass wir es mit drei Sorten von Räumen zu tun haben,
die (jeder auf seine Weise) ‚Transzendenzen‘ (im weitesten Sinne, wie bei Thomas Luckmann: Erfahrungen des Außeralltäglichen) auslösen (sollen) (Luckmann 1991: 164ff). Es sind im Zeitalter der ‚transzendentalen Obdachlosigkeit‘ (um mit Georg Lukács zu sprechen) (Lukács 2000) keine besonders starken Transzendenzen, eher ‚transzendentale Imaginationen‘ oder ‚imaginäre Transzendenzen‘. Ich wer-
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Kirchen gibt es viele: Kathedralen und Stadtpfarrkirchen, Friedhofskirchen und Dorfkirchen, Bergkapellen und Klosterkirchen, Tempel und Moscheen und andere; die vorliegende Argumentation bezieht
sich auf die ‚großen abendländischen Kirchen‘, die Dome und Kathedralen (Duby 1988).
Es gibt viele unterschiedliche Museen, deren Anbieter und Nachfrager ganz unterschiedlichen Logiken
folgen; bei den nachfolgenden Vergleichen werden nur die historischen und künstlerischen Museen
beziehungsweise Galerien ins Auge gefasst. Daneben gibt es aber auch Museen für Autos und
Schlüssel, für Volkskunde und Feuerwehr, für Jagd und Technik, das Freilichtmuseum aus alten
Bauernhäusern, Schlösser und Stifte als Museen und unzählige andere. Unlängst bin ich auf das
Museum of Broken Relations gestoßen: „verlorene Liebe“. Jeweils sind ihre Funktionen, Zielgruppen,
Darstellungsformen ebenso unterschiedlich wie ihr Distinktionspotenzial für BesucherInnen sowie
deren Erwartungshaltungen (Heesen 2012).
Für die Kategorie des Kaufens sollen die Shopping Malls stehen. Sie sind die am weitesten fortgeschrittenen Fazilitäten, in denen sich Konsumgesellschaften verkörpern, und es sind tatsächlich räumliche
‚Innovationen‘. Auch wenn man auf alte Märkte in der klassischen Welt verweisen kann, so wird doch
üblicherweise das 1956 entstandene Southdale Center in Minneapolis, welches von dem emigrierten
österreichischen Architekten Victor Gruen konzipiert wurde, als erste Mall im modernen Sinne angeführt (Gruen 2014).
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de den Vergleich anhand bestimmter Kategorisierungen von Transzendenzen anstellen, entlang der
Kategorien von Heiligkeit oder Außerordentlichkeit.
Gebaute Weltsichten
Kirche, Museum und Shopping Mall haben als Gebäude, als Räume ihre Funktionen: Orte für religiöse
Rituale, künstlerische Expositionen und kommerzielle Kaufgelegenheiten. Aber sie haben als unterschiedliche ‚Erfahrungsräume‘ („Erfahrungsräume sind besondere raumzeitliche Konfigurationen, in
denen Dinge und Ereignisse für spezifische Erfahrungen präsentiert werden“ Schützeichel 2016: 657)
etwas Gemeinsames: ihre architektonische Verkörperung von Weltsichten.
Die Kirche und das Jenseits
Kirchenräume sind in ihrer Ausgestaltung immer als auratische und auratisierende, sakrale und sakralisierende Räume betrachtet worden. Eine besondere Räumlichkeit, die sich von ihrer Umwelt abschließt, soll Transzendenz ermöglichen und anstoßen, sie soll Glaubenselemente bewahren, verstärken, symbolisieren, sie soll überhaupt durch symbolhafte Verkörperungen eine „andere“ Welt ins Leben oder ins Gedächtnis rufen – denn trotz und wegen ihrer Abschließung von der Außenwelt soll sie
letzten Endes das Ganze, die Erde und den Himmel, repräsentieren. Religion verkörpert sich nicht nur
in Glaubenssätzen, sondern auch in der Infrastruktur, in einer Architektonik, die Bedeutung verkörpert
und Geschichten erzählt.
Das Museum und die göttliche Kunst
Religiöse Gefühle und Bedürfnisse können auf andere Sinnstiftungsquellen übertragen (oder durch
diese ersetzt) werden, etwa auf politische Ideologien und nationalistische Gefühle. Die Kunst ist besonders häufig als ‚Feld‘ angesprochen worden, das Ähnlichkeit mit religiösen Gefühlen aufweist, und
Museen sind als Orte identifiziert worden, an denen quasi-religiöse/transzendente Gefühle (die ‚göttliche Kunst‘) erfahren werden können. Museen wurden (seit dem 19. Jahrhundert, dem Jahrhundert
ihres Entstehens) mit symbolischer Aufladung versehen. Sie wurden für das Bildungsbürgertum (mit
Ausnahme bürgerlicher ‚Banausen‘) zu Manifestationen von Bildung und geistiger Tiefe, zum ‚eigenen
Territorium‘, als Gegenstück zu politischen Institutionen, als Bollwerk gegen eine Politik, die man
(noch) nicht erobern, ändern oder besetzen konnte. Die bürgerliche Welt wurde über zweihundert
Jahre von dem Selbstverständnis geprägt, dass die Kunst (das ‚vollendete Werk‘) dem Leben einen Sinn
verleihe und in religiöse Dimensionen führe, dass sie auf das Unsagbare, auf einen unverfügbaren,
transzendenten ‚Rest‘ menschlichen Daseins, verweise.
Die Shopping Mall und ihre Kultreligion
Manche haben im kapitalistisch-konsumistischen Treiben der Spätmoderne das Ausleben quasireligiöser Gefühle wiedergefunden. Berühmt ist Walter Benjamins Fragment über den Kapitalismus als
Religion, in Anknüpfung an Max Weber4, in dem er vermerkt, dass der Kapitalismus essenziell der Be-
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Benjamin hat dabei an Max Weber angeknüpft, dem zufolge die alten, entzauberten Götter in Gestalt
persönlicher Mächte ihren Gräbern entsteigen; aber er hat den Gedanken nicht zu Ende führen kön-
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friedigung derselben Sorgen, Qualen und Unruhen diene, auf die ehemals die sogenannten Religionen
Antwort gaben; er sei vielleicht die extremste Kultreligion, die es je gegeben habe. Gegen Ende seiner
kurzen Notizen schreibt Benjamin: „Das Christentum zur Reformationszeit hat nicht das Aufkommen
des Kapitalismus begünstigt, sondern es hat sich in den Kapitalismus umgewandelt.“ (Benjamin 2009:
17f.) Die Shopping Mall ist nun aber das entwickelte Symbol des ‚reifen Kapitalismus‘ schlechthin, der
kein Produktionskapitalismus (mit Schornsteinen und Fließbändern) mehr ist, sondern ein Konsumkapitalismus. In dieser Epoche sind Shopping Malls, die (in quasireligiöser Sprache) ‚Konsumtempel‘ oder
‚Kathedralen des Konsums‘, Inkarnationen der Unendlichkeit des Kaufens. ‚Shopping‘ ist ja auch viel
mehr als ‚Einkaufen‘ – es kommt dabei die Sinnstiftung für das Leben ins Spiel, die freie Zeitverbringung, das Flanieren, ja das ‚gute Leben‘ des Käufers als Ideal. Diese Überhöhung und Idealisierung
schafft erst die Verbindung zum Religiösen.5
Heiligkeit der Räume
Kirche, Museum und Shopping Mall können als ‚heilige Räume‘ bezeichnet werden – für die Kirche ist
es selbstverständlich, beim Museum zögern wir, beim Einkaufszentrum mag dies irritierend klingen.
Die Kirche als heiliger Raum
Kirche trennt das Sakrale vom Profanen (Eliade 1998). Es gibt heilige Gegenstände, Worte, Symbole,
Rituale; vor allem aber heilige Orte, Stätten, Bauten, die man nicht durch unziemliches Gebaren ‚entheiligen‘ darf. Die Respektierung der Heiligkeit wird selbst noch von ‚distanzierten‘ Personen verlangt,
etwa wenn von touristischen Besuchern und Besucherinnen eine geziemende Kleidung eingefordert
wird. Heilige Räume und Objekte besitzen eine ‚Aura‘, eine diffuse, rational kaum objektivierbare, aber
oft intensiv empfundene Ausstrahlung, mit numinosen Komponenten, der Erfahrbarkeit von Ehrfurcht
oder Schrecken (Otto 1917). Da die unsichtbaren Wesenheiten, denen solche Gefühle gelten sollen,
nicht unmittelbar erfahrbar sind, muss ihre Existenz, ja Präsenz durch ein symbolbeladenes Ambiente
vermittelt und plausibilisiert werden.
Die Aura kann durch Unziemliches oder Ungehöriges verletzt werden. Wenn angesichts der
schwindenden religiösen Nachfrage in europäischen Ländern entsprechende Infrastruktur abgebaut
werden muss, erzeugt es allgemeines Unbehagen, wenn gotische Kirchen umstandslos in Fitnessstudios oder Diskotheken umgewandelt werden. Meist verlangt man zumindest eine ‚kulturnähere‘ Nutzung des ‚heiligen‘ Ortes. ‚Inkonsistenz‘ zwischen dem Heiligen und Unheiligen entsteht auch, wenn
ihre Finanznot Kirchen dazu veranlasst, bei der Renovierung von Kirchengebäuden die Planen für das
Baugerüst an Sponsoren zu verkaufen – sodass, manchmal über viele Jahre hinweg, eine gotische Kirche vorwiegend als Plakatträger für Coca-Cola, Schuhe oder Fruchtsaft in Erscheinung tritt. Das Gefühl
der Heiligkeit will sich bei diesem Anblick nicht recht einstellen.
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nen. Max Weber wiederum war nach seiner Amerika-Reise (Scaff 2011) vom ‚amerikanischen Traum‘
so fasziniert, dass er ihn zum Kern seiner Kapitalismus-Analyse gemacht hat.
Die Sprache bietet auch eine Brücke zur Kunst, wenn sich nämlich viele Shopping Malls neuerdings als
‚Galerien‘ bezeichnen, so als würden sie Kunstgegenstände verkaufen.
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Museen und ihre Heiligen
Museen produzieren die Auratisierung der Kunst. Die Objekte werden aus ihrem früheren Kontext
gelöst, sie werden auf ihre Funktion als Kunst reduziert.6 Pierre Bourdieu sagt: „Das Museum […] ist
gewiss der Ort schlechthin für jenen mit der unermüdlichen Stetigkeit der Dinge unablässig wiederholten Akt der Konstitution, die den den Kunstwerken übertragenen sakralen Status und die von ihnen
verlangte sakralisierende Einstellung bekräftigt und unablässig reproduziert.“ (Bourdieu 2001: 461)
Dinge, die anderweitig verwendet wurden, werden in einen ästhetisch-künstlerischen Zusammenhang
gestellt: als Semiophoren, wie das Krzysztof Pomian (1998) nannte.7 Museen haben die Kraft, Kunst zu
erzeugen: Das Objekt kommt nicht in das Museum, weil es Kunst ist, sondern es wird Kunst, weil es im Museum ist.
Der Sakralisierungsmodus des Kunstwerks hat jedoch einen Wandel erfahren: die Umstellung auf
die Konstruktion ‚individueller Genialitäten‘. Heilig ist nicht mehr das Kunstwerk, sondern der Künstler.
Wenn man durch die Kunstbetrachtung schon nicht Gott nahekommt, dann dem ‚göttlichen Genie‘.
Gerade die Inauguration der ‚modernen Kunst‘, bei der man den künstlerischen Wert nicht in der Beschaffenheit des Kunstwerks verankern kann, beruht deshalb – paradoxerweise – auf starken romantischen Elementen, auf der Verankerung des Schaffens in der authentisch-einzigartigen Persönlichkeit:
die eigene Schöpfung, die Schöpfung aus Freiheit, die sich anderen Zwängen nicht fügen möchte – das
ist Rebellion und Bohème, Romantik und Genialität (Campbell 1987). Die Genialität des Künstlers freilich wird in einem gemeinschaftlichen Glaubens- und Konstruktionsprozess ‚geschaffen‘, insbesondere
durch Galeristen, Verleger, Intendanten, die sich an diesem Prozess keineswegs interesselos und uneigennützig beteiligen, sondern die, wenn es ihnen gelingt, das Image eines Genies aufzubauen, an diesem Konstruktionsakt Geld verdienen. Dennoch setzt dies den Künstler enorm unter Druck, weil ihm
in einer Szene, in der es praktisch schon alles gibt, angesonnen wird, etwas ganz anderes, ganz Neues
zu erschaffen.8
In Wahrheit gehört ein solcher Schöpfer-Mythus dem theologischen Denken an, während das
Kunstwerk doch aus dem künstlerischen Feld, seinen Diskursen und Logiken stammt. 9 Museen sind
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Pierre Bourdieu schreibt: „Die öffentlichen Einrichtungen, Museen zum Beispiel, die nur dazu da sind,
in oft ganz anderer Absicht produzierte Werke (wie religiöse Gemälde, für den Tanz oder den Gottesdienst geschaffene Musik usw.) der Kontemplation zugänglich zu machen, fördern nicht nur das Anwachsen einer Öffentlichkeit für kulturelle Werke, die sich somit imstande (und genötigt) sieht, sich
Bildung zu verschaffen: Sie bewirken einen sozialen Schnitt, der dadurch, dass er die Werke aus ihrem
Kontext gelöst, sie ihrer unterschiedlichen religiösen oder politischen Funktionen entkleidet und somit
durch eine Art anhaltender epoché auf ihre Kunstfunktion im eigentlichen Sinne reduziert.“ (Bourdieu
2001: 461).
Semiophoren in diesem Sinne sind Bedeutungsträger, deren Bedeutung erst durch den Museumskontext entsteht – eine brauchbare Truhe vom Bauernhof wird zum Exempel für Volkskunst; sie ist dann
nicht mehr Alltagsgegenstand, ihre ursprüngliche Relevanz verblasst; sie vermittelt Sichtbares und Unsichtbares.
Allerdings ist auch die Festlegung der Neuheit ein Akt der Konstruktion – irgendwie müssen Objekte
und Handlungen aus den vorhandenen kulturellen Archiven hervorstechen, manchmal geht es aber
auch bloß um eine Umwertung: Etwas Profanes, Wertloses wird als neuer kultureller/künstlerischer
Wert durchgesetzt (Grojs 2002).
Man sollte, sagt Pierre Bourdieu, aufhören, in der theologischen Logik des ‚ersten Beginns‘ zu denken,
die unvermeidlich in den Glauben an den ‚Schöpfer‘ mündet; denn in Wahrheit wird das Kunstwerk im
skizzierten Feld geschaffen. Was für das Kunstwerk gilt, gilt auch für Ausstellungen. Es ist der Diskurs
über Kunstwerke und Ausstellungen, „kein bloß unterstützendes Mittel mehr zum besseren Erfassen
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Produktionsstätten symbolischen Kapitals, sie erschaffen (zusammen mit Galeristen, Kommentatoren
und Verlegern) das, was an der Kunst von Bedeutung ist, sie sind die Erzeuger von Distinktionen: zwischen Kunst und Nichtkunst, zwischen wichtiger und unwichtiger Kunst, zwischen hohem und niedrigem Preis – was funktioniert, solange alle Akteure durch den Glauben daran geeint werden, dass das
Ranking von Kunstwerken nicht ‚beliebig‘ ist.10 Die Ehrfurchtserzeugung wird durch die üblichen Kommentare forciert, die aus Banalitäten kosmische Geheimnisse herausinterpretieren.
Shopping Malls und ihre Paradiese
Shopping Malls, die ‚Kathedralen des Konsums‘, sind Verkörperungen der modernen ‚Fülle‘, des
Marktversprechens von Fortschritt und Wohlstand. Sie verkörpern das zweifelhaft gewordene Jenseits
im Diesseits. Ihr ‚Heilsversprechen‘ ist nicht weniger als ‚alles‘ – alles soll es dort geben, grenzenlos und
multioptional (Gross 1994). Alle Güter transportieren auch Appräsentationen aller anderen Güter, die
zufällig nicht vorhanden oder sichtbar, die aber grundsätzlich in diesem ‚Einkaufsparadies‘ in Reichweite sind oder sein könnten. Kaufen ist eine der starken Kräfte, die dem Leben in einer spätmodernen Gesellschaft Sinn verleihen, Sinnstiftungsinstanz und somit zumindest ein partielles funktionelles
Äquivalent zur Religion.
Auch Shopping Malls müssen eine impressionistisch-emotionale Ganzheit bieten, die ‚ganze Welt‘,
sie sollen nicht nur zufällige Ansammlungen von Shops sein: ein ganzheitliches Erlebnis. So gibt es beispielsweise spezielle Unternehmen, die (über die Klimaanlage) sogar für die passende olfaktorische
Komponente hinsichtlich der jeweils angebotenen Produkte sorgen: Es muss der themenspezifisch
richtige, angenehme Geruch vorhanden sein – eine Parallelität zur klugen olfaktorischen Beförderung
von Transzendenzerfahrungen in den Kirchen mittels Weihrauch. Neben der Beeindruckungsqualität
durch die Vielzahl der konkreten Güter hat die Shopping Mall aber immer auch eine Metabotschaft:
die Botschaft von der Güterfülle und ihrer Wichtigkeit schlechthin. Sie bietet nicht nur Anschaulichkeit,
sondern konstruiert eine Relevanzstruktur.
Außeralltäglichkeit der Institutionen
Kirche, Museum und Shopping Mall haben gemeinsam, dass sie außeralltägliche Räumlichkeiten sind,
Räume anderer Qualität als der Parkplatz und der Friseurladen. Sie vermitteln und inszenieren das
Gefühl, dass man, zeitlich begrenzt, aus dem ‚normalen Leben‘ aussteigen kann. Aber der Außeralltäglichkeitscharakter ist bei allen drei Institutionen im Abnehmen.
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und Würdigen, sondern ein Moment der Produktion des Werks, seines Sinns und seines Werts.“
(Bourdieu 2001: 276)
Die Position des genialen Künstlers ist nicht gesichert, wenn (im nächsten Modernisierungsschritt)
Kunst als demokratische Allerweltssache angesehen wird; und das wird durchaus durch bestimmte
Kunsttheorien unterstützt. Objets trouvés kann jeder finden. Doch ein ‚begnadeter‘ Künstler ist, wer
als solcher gilt. Der ‚unbedarfte‘ Ausstellungsbesucher sieht nicht ganz ein, wie ein paar auf die Platte
geklebte Tischutensilien mit existentiell-ästhetischen Geheimnissen (und hohen Preisen) verbunden
sein sollen – ein paar alte Häferl und Zigarettenstummel hat schließlich jeder zu Hause.
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Die Kirche als Abglanz des Himmels
Kirche ist ein außeralltäglicher Raum, nicht nur wegen seiner Heiligkeit, er sollte auch (insbesondere in
der katholischen Kirche) einen Abglanz des unvorstellbar schönen Himmels darbieten – mit Licht, Figuren, Schätzen, Bildern, allein schon in seiner Größe und Raumwirkung, mit vielen Kerzen, die gegenüber den Kienspänen der bäuerlichen Hütte unglaublichen Lichterglanz vermittelten, mit Weihrauchgerüchen, die ungekannte Gefühle wach riefen. (Die protestantischen Kirchen waren anders konzipiert, mit ihrer Orientierung auf die Schrift, die Lektüre, das Argument; aber im europäischen Bereich
haben sie sich der katholischen Emotionalisierung ein Stück weit angepasst.)
Freilich gilt schon für die traditionellen Kirchen, dass sie im Bewusstsein des heutigen Besuchers
nicht mehr so imponierend wirken, durch Größe, Licht und Reichtum. Fußballstadien sind größer,
Neonlichter sind greller als die paar Dutzend Kerzen, und den Reichtum ist man gewohnt. Die
Außerweltlichkeit des Darstellungsrepertoires hat abgebaut. Nicht durch unmittelbaren Eindruck
erfährt man, wie imponierend die Kirche ist, sondern durch die Lektüre des Reiseführers. Moderne
Kirchen haben ihre Impressionsinszenierungen umgestellt. Sie werden oft – aus praktischen Gründen
– dem Typus von Mehrzweckräumen nachempfunden, zumindest von der Anmutung her, und die
aufgewertete Pfarrgemeinschaft sitzt halbrund um den Altar, ganz anders als in orthodoxen Kirchen,
wo das Göttliche fern und verborgen ist. Das Szenarium ist praktisch, brauchbar, ästhetisch – und
natürlich ‚demokratisch‘; aber es ist der Aura des Ortes nicht unbedingt förderlich. Bindung erfolgt
eher durch Community.
Museen als Kunstsphären
Museen sind außeralltägliche Räume, sie sollen das ‚Eintauchen‘ in eine Kunstsphäre ermöglichen. Alte
Museen sind den Palästen nachempfunden, aus deren Sammlungen sie entsprungen sind; aber auch
neu gebaute Museen werden von den Städten als architektonische Vorzeigeobjekte, als Wahrzeichen,
entworfen. Museen sind angeblich zweckfrei, praktisch jedoch heute für den kommunalen Tourismus
wichtig; als ‚bürgerliches Ereignis‘11 haben sie (im Vergleich mit der Reputation des 19. Jahrhunderts12)
aber abgebaut (Fuhrmann 2000).
Freilich gibt es räumliche Konzessionen an den Zeitgeist: Eine Ausstellung kann definiert werden als
das Ensemble jener Räumlichkeiten, die man durchschreiten muss, um vom Museumscafé zum Museumsshop zu gelangen. In Letzterem kann man sich für die Unberührbarkeit der Kunstwerke entschädigen, man tritt aus der ungewohnten Befindlichkeit der Interesselosigkeit wieder in den gewohnten Zustand der Kaufentscheidung. Die Außerordentlichkeit des Museums wird, ebenso wie bei den Kirchen,
Es gibt gewisse Nachklänge – die Eröffnung der Festspiele von Bayreuth oder Salzburg ist noch ein ‚gesellschaftliches Ereignis‘, bei den Expositionen der Museen fällt es schwerer, Ereignishaftigkeit zu inszenieren (Gebhardt et al. 2000).
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Mit der Reputation dieses Jahrhunderts ist gemeint, dass die Kunst in der bürgerlichen Welt eine ganz
besondere, verehrungswürdige Stellung eingenommen hat, dass es auch einen dauernden Diskurs
über den bürgerlichen Bildungskanon gibt: „Im 19. Jahrhundert hat die ästhetische Kultur, die Kunst
eine neue Funktion gewonnen. Sie nimmt, bis dahin unerhört, einen zentralen Platz im bürgerlichen
Leben, ja in der Lebensbilanz ein. Die Welt der Kunst hat ihr eigenes Recht, ihr eigenes Gewicht. Und
sie orientiert zugleich über die Wirklichkeit und das Leben, verklärend und versöhnend oder analysierend und aufdeckend, präsentierend und diskutierend. Sie stiftet Sinn oder legt ihn dar, sie nimmt teil
an dem neu in Gang gesetzten Prozeß der Auseinandersetzung von Individuum und Welt. Für die Geschichte der Seele […] wie für die Geschichte des Selbst- und Weltverständnisses wird die Kunst ganz
zentral; sie ist nicht nur Indiz, sondern Organ solcher Geschichte.“ (Nipperdey 1983: 533)
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auch dadurch reduziert, dass Museen für neue soziale Gruppen und Funktionen erschlossen werden:
Die Kinder schickt man auf eine Art Schnitzeljagd und lässt sie im Gruppenraum basteln und malen.
Geschlossene Gruppen aus der Oberschicht können die Räume für ein Geschäfts- oder Hochzeitsdinner mieten: Filet de porc vor dem Gemälde von Albrecht Dürer. Das mindert das Gefühl der Erhabenheit der Räume.
Doch auch die Inflationierung der Kunstobjekte hat einen Abbau ihrer Besonderheit mit sich gebracht: Wenn in einer ‚demokratisierten Kulturwissenschaft‘ alles, was Menschen hervorgebracht haben, zu Kulturobjekten erklärt wird, und wenn jeder Mensch sich als Künstler oder Künstlerin betrachten kann, weil es diskriminierend wäre, ihm diese kreative Potenz abzusprechen, dann ist auch die
Gesamtheit jener Objekte, die sich ins Museum verirrt haben, eine Selektion von Zufälligkeiten; theoretisch unterfüttert durch die Perspektive, dass die Welt bloß aus Millionen von Zeichen besteht, über
die man ohnehin nicht Bescheid wissen kann oder muss.13 Da liegt es nahe, Kunst anders einzuschätzen: nach ihrem Beitrag zur Emanzipation oder nach ihrer Erlebniswirkung. Indem Kunstobjekte zunehmend auch an anderen öffentlichen Orten, bis hin zu Garagen und Fabriken, ausgestellt werden,
wird die funktionale Differenz zwischen Kunst und Konsum eingeebnet: „Kunstorte“, so sagt Rainer
Schützeichel lapidar, „werden zu Konsumorten.“ (Schützeichel 2016: 657)
Shopping Malls und ihre Stimmungswelten
Shopping Malls sind außeralltägliche Räume, weil sie durch ihre Gestaltung eine vom Alltag abgehobene Gefühlslage erzeugen sollen, die den Einzelnen ‚verzaubert‘, in ‚Kaufstimmung‘ versetzt, ihn von der
Außenwelt isoliert, auf dass er zeitliche (und finanzielle) Grenzen vergisst. Die frühen Shoppingmalls
waren große Betonkästen, die nur nach innen geschaut haben; und die Exegeten der Architektonik
haben damit argumentiert, dass die Außenwelt ausgeschaltet werden sollte: Man solle in eine ganz
eigene, künstliche Welt eintauchen, die Zeit vergessen, durch nichts aus der konsumistischen Benommenheit herausgerissen werden.14 Die Welt der neuen Einkaufszentren ist attraktiver geworden, zugleich aber konventioneller: Vielfach gibt es nun doch große Glasfassaden, Passagen, die Kombination
mehrerer Komplexe. Auch die Gewöhnung an die Shopping Malls führt zur Selbstverständlichung und
zur Entauratisierung. Die ‚Fülle‘ der Güter ist selbstverständlich geworden, immer mehr geht es um
das Kauferlebnis: choice und buying. Man hat schon alles, kauft deshalb das Erlebnis des Kaufens – ganz
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Eine solche Neuordnung ergibt sich zwingend aus einer Verschiebung des Zugangs zu Kunstwerken:
„Wenn die Kulturwerte der ehemals ‚großen Texte‘ (Dante, Shakespeare, Goethe etc.) verschwunden
sind, braucht man von keinem Professor der Kulturwissenschaft heute noch erwarten, dass er sie
kennt und anerkennt; denn aus den ‚Klassikern‘ wurden zunächst ‚Texte‘, dann ‚kulturelle Symbole‘,
schließlich ‚Zeichen‘ – und die Welt ist voller Zeichen, aus konstruktivistischer Sicht: besteht eigentlich
nur aus vom Menschen gemachten Zeichen. Alles ist Kultur, aber hat nur Bedeutung, insofern es performativer Parameter einer sozial relevanten Gruppe ist.“ (Albrecht 2015: 39) Man kann die Verschiebung folgendermaßen auf den Punkt bringen: „Die bürgerliche Gesellschaft egalisierte den sozialen
Raum, indem sie die Diversifizierung in die Kultur auslagerte, und zwar nach hierarchischen Prinzipien.
Alle konnten gleich sein, insofern sie die Suprematie der Werke Homers, Shakespeares, Goethes und
Schillers anerkannten. In der Gegenwart dagegen wird die Kultur egalisiert, indem der soziale Raum
segmentiert wird: Alles ist Zeichen, damit die Identitätsarbeit sozialer Gruppen Anerkennung finden
kann.“ (Albrecht 2015: 40)
Shopping Malls wirken, ganz anders als Kirchen, im klassischen Fall nicht nach ‚außen‘, sie sind ‚nach
innen‘ gekehrt; ursprünglich überhaupt schmucklose Beton-Container, umgeben von einem Parkplatz.
Sie sind ‚umgestülpte‘ Innenstädte, sie suggerieren das geschützte Innenstadterlebnis. Umgekehrt
tendieren auch die Räume der echten Innenstädte zu einer ‚Mallisierung‘.
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so wie in der Kirche und im Museum. Immerhin stellt die Shopping Mall einen Ort besonderer Verlässlichkeit dar, die sich auch an Äußerlichkeiten ablesen lässt: Ordnung, Sauberkeit, Sicherheit, Schutz vor
dem Wetter und vor unangenehmen Temperaturen; anders als die städtischen Zentren, wo man,
wenn man nicht aufpasst, in die Hundeexkremente tritt. Die Shopping Mall ist der letzte Ort, an dem das
Leben in Ordnung zu sein scheint, in einer Art von sekundärer Verlässlichkeitssuggestion – das funktioniert sogar weitaus besser als die Anrufung von Geistern in der Kirche.
Symbolische Welten
Soweit die Außeralltäglichkeit von Kirche, Museum und Shopping Mall durch dichte Symbolik unterstützt wird, ist diese nur für jene Besucherinnen und Besucher verständlich, die ein entsprechendes
Vorwissen mitbringen. Die symbolische Dekoration dient zur Mitvergegenwärtigung von Phänomenen,
welche die unmittelbare Wahrnehmung übersteigen: die Welt der Götter, die Welt der Kunst, die Welt
der Fülle.
Narrative des Kirchenraums
Kirchen übermitteln ihre die Alltäglichkeit übersteigende Sinn- und Glaubenswelt durch Architektur,
Bilder und Fresken, Statuen und andere Objekte. Sie erzählen Geschichten, durch Kerzen und Engel,
durch gotische Himmelsstürmerei, durch barock sich auftürmende Pracht. Der Kirchenraum spricht in
mehreren Sprachen, für unterschiedliche Adressaten; er musste seinerzeit die biblia pauperum bieten,
aber auch Ästhetik für höhere Schichten. Doch nach dem Verlust des religiösen Kosmions (Voegelin
1959) ist die Kirche immer mehr ein Ensemble undurchschauter Symbolik für den Gegenwartsmenschen geworden, mit einer entsprechenden Minderung des Beeindruckungs- und Vermittlungspotenzials. Nicht nur der Tourist, auch der Gläubige bewegt sich in einer undurchschauten Welt. Sie spricht
nicht mehr zu ihm. Sie erzählt keine Geschichten. Sie ist immer noch beeindruckend, aber die Kommunikation ist gestört oder abgebrochen. Sie ist schön, aber hat keinen ‚Sinn‘ mehr. Der Guide Michelin erklärt die kunsthistorischen Schätze – eine ‚Resemiotisierung‘ in das Künstlerische hinein: Schon
die Kirche selbst wird zum Museum.
Moderne Kirchen sind oft, durch ein gewisses (durchaus bewundernswertes) Faible der Kirche für
moderne Kunst, für das allgemeine Publikum, für das ‚Fußvolk‘, schwerer zugänglich. Während der alte
Symbolismus gerade ungebildete Besucher/-innen ansprechen sollte, adressiert der neue Symbolismus der modernen Kunst das gebildete Publikum, welches in den ‚offenen Kunstwerken‘ (Eco 1982)
Interpretationsanregungen für ein zweifelhaft gewordenes Glaubensgebäude findet. Amerikanische
quasi-protestantische Kirchen setzen nicht mehr auf die protestantische Tradition der Bibelexegese,
sondern auf das reine Gefühl: echte Emotionalität, Gemeinschaftsgefühl, bis hin zur Ekstase. Gott ist
nicht rätselhaft, sondern freundlich, zugänglich; kein Richter, sondern ausschließlich Erlöser; und der
Platz im Himmel muss nicht durch sündenloses Leben erarbeitet werden, sondern ist den Gläubigen
zuverlässig reserviert. Wolfgang Fach bezeichnet dies als verbreiteten ‚konfessionellen Populismus‘
(Fach 2012). Für solche Denominationen gilt besonders, was für die moderne Religiosität überhaupt
gesagt wird: Jeder hat nach Belieben seine ‚Bastelreligion‘ (Barz 1992) zu gestalten, indem er sich im
globalen ‚Supermarkt der Religionen‘ (Graf 2014) bedient.
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Museen und ihre Symbolik
Kirchen und Museen befördern Transzendenz. Hans-Georg Soeffner hat mehrfach auf den Unterschied hingewiesen, dass die Kunst sich letzten Endes doch auf die innerweltliche Erlösung richtet,
nicht auf die Erfahrung von Jenseitigkeit (Soeffner 2012).15 Gleichwohl geraten die beiden Dimensionen
– Religion und Kunst – dadurch wieder in enge Berührung, dass nicht so wenige ‚intellektuelle‘ Geistliche und Laien die Kunstbetrachtung und -versenkung als wesentliche Stütze dafür betrachten, bei der
Erweckung eines auf das Jenseits gerichteten Transzendenzgefühls Hilfe zu leisten. Die Beziehung ist
deshalb ambivalent: Einerseits handelt es sich um einen Wettstreit um die Besetzung ‚großer Transzendenzen‘, um ein substitutives/kompetitives Verhältnis – Kunst anstelle von Religion. Andererseits ist
das Verhältnis komplementär – Kunst als Mittel zur Religion; so wie sie es eindrucksvoll in den alten
Kathedralen getan hat. Heute freilich findet dies eher auf einer psychologisch-ästhetisch-meditativen
Ebene statt.
Museen des 19. Jahrhunderts fügen die Kunstwerke in eine bürgerliche und nationale Ordnung, mit
engem sakralen Bezug; im 20. Jahrhundert geht es um die Inszenierung der Autonomie von Kunst; im
21. Jahrhundert um Erlebnisse oder Events (Schützeichel 2016: 655) Ausstellungen, ja auch Museen,
stellen sich selbst aus, die Kunstwerke werden instrumentell gegenüber dem ‚Ereignis‘. 16 Museen müssen sich durch Besucherzahlen rechtfertigen, deshalb einen Massenmarkt bedienen und zu Eventagenturen werden. Sie konkurrieren mit vielen anderen, leicht zugänglichen Entertainmentangeboten, während das eigentliche Verständnis eines Kunstwerkes einen recht langen ‚Anlauf‘ erfordert – das gilt für
bildende Kunst, für Musik, für Literatur. Kunst ist inegalitär.
Shopping Malls und ihre Erzählungen für alle
Shopping Malls sind ‚Massenräume‘, und ihre Verstehbarkeit muss sich dem Verständnishorizont der
Besucher/-innen anpassen. Ohnehin tun sich Shopping Malls schwer, einerseits den Willen zum Luxus,
andererseits einer Diskontkultur Rechnung zu tragen, insgesamt allerdings auch ein allgemeines Upgrading im Rahmen einer anspruchsvoller werdenden Konsumgesellschaft vorzunehmen. Shopping
Malls sprechen die Massensprache. Sie bieten ‚Massen-Luxus‘, also jene Luxusimitation, welche die Vor-
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Angela Keppler (1999) hat an die Tatsache, dass Soeffner nicht von Erlösung, sondern von Loslösung
gesprochen hat (im Sinne von: die Kunst bietet eine andere Welt an, keine höhere Welt), angeknüpft,
indem sie argumentiert, dass der Mangel an Erlösungskraft dazu führen müsste, dass die Kunst nicht
mehr als Diesseitsreligion zu betrachten wäre und deshalb nicht mehr im Wettbewerb mit den eigentlichen Religionen steht. Das ist aber deshalb nicht überzeugend, weil man dann wiederum eine sehr
enge Religionsdefinition voraussetzt, nämlich tatsächlich die Verbindlichkeiten einer ‚letzten‘ Sinnstiftung. Es ist fraglich, inwieweit dies eine postmoderne Religiosität leistet; vielmehr kann es um mehr
oder minder stabile oder leistungsfähige Sinnstiftungssysteme gehen, die durchaus nicht immer eine
vollständige Antwort auf die letzten Fragen geben müssen – insofern würde ich der Kunstsphäre
(ebenso wie neuerdings: wieder erwachten nationalistisch-folkloristischen Sinngebilden) ihr ‚religiöses
Potenzial‘ nicht bestreiten.
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Auch Museen sind, insbesondere durch die künstlerischen Modernismen, symbolische Ensembles, die
für die meisten Menschen unbegriffen bleiben. In einem bestimmten Sinne haben sie die Kommunikation ebenso abgebrochen wie die Kirchen – einerseits hat sich der Wissensbestand der Besucher verändert, die zu Analphabeten der hergebrachten Symboliken geworden sind, andererseits können (und
wollen) moderne Kunstwerke oft keine Informationen oder Botschaften mehr übermitteln. Selbstzentrierte Künstler wollen oft ihr Denken gar nicht preisgeben oder konzentrieren sich auf die reine
Form.
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stellung des Durchschnittsbürgers vom Luxus erfüllt.17 Auch die Shopping Mall kreiert – durch den
einen oder anderen Trick – jene Produkte, die sie verkauft (zum Beispiel durch Branding); sie erhalten
ihren Wert durch den (sichtbaren und unsichtbaren) Kontext – ganz so wie die Kirche seinerzeit jene
Sünden ‚geschaffen‘ hat, für die sie anschließend Ablass verkauft hat, und so wie der Marktwert von
Künstler/-innen inszeniert wird, auf dass anschließend ihre Produkte als Investitionen gewertet und
gehortet werden.
Wenn das Bildungsbürgertum zum (finanzstarken) Konsumbürgertum wird, bietet sich ein einfaches Kriterium des künstlerischen Urteils an: das Geld. So treffen sich diese ‚Kunstbegeisterten‘ nicht
im Museum, sondern auf der Kunstmesse (Ullrich 2006: 190f.), die ja auch nichts anderes ist als eine
themenspezifische Shopping Mall. In der wirklichen Shopping Mall findet die ‚Wiederverzauberung‘ der
Besucher/-innen vermittels einzelner Shops statt, je nach Marketingkonzept, oder dadurch, dass die
Shopping Mall als ganze tendenziell zum ‚Lebensraum‘, zum Symbol des modernen Daseins, wird: zur
Flaniermeile, zum Aufenthaltsort (sie wird es oft auch für Halbwüchsige und Senioren). Sie punktet als
‚Erlebnisraum‘, Lebensraum oder Kunstwerk.
Sinnlichkeit der Wahrnehmungen
Kirche, Museum und Shopping Mall haben gemeinsam, dass sie Gefühle oder Stimmungen auslösen,
die Menschen ‚ergreifen‘ wollen, auch ohne Worte, ohne Erklärungen.
Kirche und Leidensgefühle
Die christliche Kirche bietet in hohem Maße Leidensgeschichte. Denn erstaunlicherweise operiert ihre
Symbolik mehr mit dem Tod des Religionsstifters als mit seiner zum Glaubensbestand gehörenden
Auferstehung, und auch die Leiden der eigenen Anhängerschaft (in Form von Märtyrerdarstellungen)
werden mit hoher Intensität präsentiert, Knochen, Gräber, Folterszenen. Diese Darstellungen stammen aus einer Zeit, in der Aura erzeugt werden konnte durch Schrecken, Angst, Gericht, Hölle – das
Diesseits als unleidliches Durchgangsstadium, während die Erlösung durch den Tod und nach dem
Tode erfolgt. Diese Suggestion verfängt in einer spätmodernen Gesellschaft nicht mehr: Christen sind
der Überzeugung, dass die Hölle gegen die Menschenrechte verstoße, Gott ist deshalb von einem
strafenden zu einem sozialtherapeutischen Gott geworden. 18 Das spätmodern-individualistische
Selbstverständnis, dass das gute Leben auf ein gutes Selbstgefühl hinauslaufe, wird auf dem kompetitiven Glaubensmarkt umgesetzt in ‚positive Sentimentalität‘, in Glücks- und Sicherheitsgefühl für kleine
Leute, wogegen man mit quasi-Breughelschen Höllenbildern Menschen, die im Kino schon ganz andere Apokalypsen gesehen haben, nicht beeindrucken kann.
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Manchmal genügt es allerdings, auf irgendwelche Verpackungen ‚limited edition‘ draufzuschreiben,
um die Illusion wachzurufen, dass der Käufer entweder in der Luxuskategorie angesiedelt oder gar als
eine Art ‚Kunstsammler‘ anzusehen sei.
Viele amerikanische Sekten haben den zeitgeistkonformen Umbau konsequent vollzogen, sie haben
Angst durch Fröhlichkeit ersetzt, Action in die Kirche gebracht, den Vollzug von Wundern routinisiert.
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I N S Z E N I E R U N G , A U R AT I S I E R U N G , T R A N S Z E N D I E R U N G
Museen und seelische Erhebung
Museen sind Räume der ‚seelischen Erhebung‘, Tempel der Kunst, mit ‚demütigen‘ Betrachtern.19 Indem
Museen Kunstwerke zur ‚Kunst‘ schlechthin bündeln, erschaffen sie eine neue, nicht-zweckhafte, abgesonderte Welt, unabhängig von der ursprünglich privat-funktionellen Nutzung von Kunstwerken. Es
ist erstens das Selbstverständnis der Interesselosigkeit: Alle diese Objekte sind nicht nützlich, dienen
weder zur Verherrlichung noch zur Geldgewinnung; und Einschätzung und Verständnis beruhen auf
der Anwendung des richtigen, kultivierten Geschmacks. Es ist zweitens der Modus der Unantastbarkeit:
Diese Objekte sind nicht zu berühren, zu betasten, zu riechen, man hat Abstand zu halten (Ullrich
2006: 186f.).
Auch diese Welt benötigt eine Glaubenslehre – denn worauf soll sich die Bewertung des Schönen
gründen, die Unterscheidung von Kunst und Nichtkunst? Die Kunst kann nicht mehr, wie in vergangenen Zeiten, mit sonstigen Wertsystemen verknüpft werden, mit Religion oder Magie, Wertekosmion,
Nationalismus, politischer Ideologie oder Vernunft. Dirk Baecker schlägt deshalb vor, dass nur noch
das ‚Design‘ als komplexitätsreduzierender Faktor der Spätmoderne brauchbar sei (Baecker 2015).
Dabei bleibt aber für die Kunst kein abgehobener Raum, vielmehr wird sie im Zuge einer Ästhetisierung des Alltags ununterscheidbar: eine Ware wie andere auch.
Design ist Lifestyle, und dies betrifft in durchaus vergleichbarer Weise den Bereich der Kirche, der
Kunst und der Shopping Mall – alle diese Erfahrungen sind der Identitätskonstruktion des Akteurs dienlich. Im Erleben von Kirche, Kunst und Shopping Mall definiert man sein Selbst – oder wenigstens eine
kleine Gruppe seiner Selbste. Wenn man fragt: Bin ich ein Hilfiger-Typ oder ein Esprit-Typ? Ein IKEA-Typ
oder ein Alessi-Typ?, dann kann man auch fragen: Passen die Präraffaeliten zu mir, die Impressionisten
oder die neuen Wilden? Das schafft ein neues Verhältnis – denn man kann anschließend mit derselben
geistigen Haltung der Selbstzentriertheit in die Shopping Mall hinübergehen.
Shopping Malls und ihre Euphoriegefühle
Shopping Malls verkörpern den abstrakten Glauben an Wohlstand, Fülle, Reichtum, sie repräsentieren
eine sinnlich imponierende Konsumwelt, die Totalität des Kaufens, jenseits vereinzelter Einkaufs- und
Beschaffungsmöglichkeiten. Shopping Malls sind Räume der Euphorie, der Erregung der Sinne, des
‚emotional arousal‘, denn die Grundlage einer spätmodern-konsumistischen Gesellschaft ist die ‚glückliche Stimmungslage‘, die alle Beschränkungen vergisst. „In Werbung und Warenästhetik ist […] kein
Platz für tragische Helden, existenzielle Opfer, komplizierte Konflikte. Nie wird eine Stimmung vielschichtig, ein Motiv unheimlich, ein Topos grausam. Vielmehr gibt es nur strahlende Sieger, Erfolgsgeschichten, ‚happy ends‘, glückliche und konfliktfreie Verhältnisse, aseptische Beziehungen.“ (Ullrich
2006: 197) Das Einkaufszentrum ist die Garantie solcher Stimmungslage – oder auch nicht.
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Museen, so sagen Wackenroder und Tieck 1797, in der frühen Romantik, sollten Tempel (!) sein, wo
man in stiller und schweigender Demut und in herzerhebender Einsamkeit die großen Künstler bewundern möchte. Wörtlich heißt es an dieser Stelle kritisch: „Bildersäle werden betrachtet als Jahrmärkte, wo man neue Waren im Vorübergehen beurteilt, lobt und verachtet; und es sollten Tempel
sein, wo man in stiller und schweigender Demut, und in herzerhebender Einsamkeit, die großen
Künstler, als die höchsten unter den Irdischen, bewundern, und mit der langen, unverwandten Betrachtung ihrer Werke, in dem Sonnenglanze der entzückendsten Gedanken und Empfindungen sich
erwärmen möchte.“ Die Betrachtung der Kunstwerke wird unmittelbar in religiösen Kontext gestellt:
„Ich vergleiche den Genuss der edleren Kunstwerke dem Gebet.“ (Wackenroder, Tieck 2016: 60)
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MANFRED PRISCHING
Resümee
Wir haben uns mit einigen Kategorien symbolischer Ähnlichkeiten zwischen den drei Typen von funktionell differenzierten Räumlichkeiten befasst: Kirchen, Museen und Shopping Malls. Gott ist nicht
mehr allgegenwärtig, auch im kirchlichen Rahmen schwächelt er; zugleich haben ‚konkurrierende Götter‘ ihre Positionen gestärkt, zeitweise haben diese Götter sich vorwiegend im Museum aufgehalten,
immer stärker sind sie in die Shopping Mall abgewandert. Man kann die drei in Betracht stehenden
Räumlichkeiten als Elemente eines spätmodernen Pantheons betrachten.
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