BIOSEMANTIK
Repräsentation, Intentionalität, Norm
HABILITATIONSSCHRIFT
zur Erlangung der Lehrbefähigung für das Fach Philosophie
vorgelegt dem Fakultätsrat der Philosophischen Fakultät I der
Humboldt-Universität zu Berlin von
Dr. Markus Wild
geb. am 06. April 1971 in Flawil (CH)
Präsident: Prof. Dr. Jan-Hendrik Olbertz
Dekan: Prof. Michael Seadle, PhD
Zulassung zum Verfahren: 14.07.2010
Habilitationskolloquium: 15.12.2010
Gutachter:
Prof. Dr. Wolfgang Detel
Prof. Dr. Dominik Perler
Prof. Dr. Tobias Rosefeldt
„nous autres naturalistes“
(Michel de Montaigne)
2
Vorwort
Bücher haben ihre Schicksale auch schon bevor sie Bücher sind. Zum thematischen Kern
dieses Buchs gehört es, dass Intentionalität und Normativität wesentlich geschichtlich sind.
Und es gehört zu seinem methodischen Kern, dass Philosophie ohne ihre Geschichte blind
und Philosophiegeschichte ohne Philosophie leer ist. Es mag deshalb erlaubt sein, etwas
über sein bisheriges Schicksal zu sagen.
Die Erstskizze zu diesem Buch, die mittlerweile fünf Jahre alt ist, fasste die Absicht,
ein funktionales und darwinistisches Argument für die Existenz eines nicht-begrifflichen
Inhalts der visuellen Wahrnehmung zu formulieren. Dieses Argument zielte auf eine
Verbindung der Debatte um die Zulässigkeit nicht-begrifflicher Inhalte mit einer
bestimmten Version der Teleosemantik. Bei dieser Version handelte es sich um den durch
Fred Dretske und Michael Tye seit 1995 verteidigten Repräsentationalismus, für den alle
Aspekte der Wahrnehmung repräsentationale Aspekte sind. Mittlerweile halte ich diese
Version der Teleosemantik und ihren Repräsentationalismus für falsch. Der Grund dafür
besteht, vereinfacht gesagt, darin, dass sie der Komplexität der intentionalen und
phänomenalen Beschaffenheit von Lebewesen nicht gerecht werden kann.
Als weitaus ansprechendere und anspruchsvollere Version der Teleosemantik stellt
sich Ruth Millikans Biosemantik dar. Zu dieser Einsicht hat sicher nicht zuletzt auch das
persönliche Gespräch mit dieser Philosophin ihren Teil beigetragen hat. Die Biosemantik
sollte das Argument der Erstskizze, das ich nach wie vor für richtig halte und in diesem
Buch auch vertrete1, stützen. Allerdings sind Millikans gelegentliche Äußerungen zur
Wahrnehmung im Allgemeinen und zum Sehen im Besonderen zwar äußerst anregend,
dafür wenig systematisch. Zwei zusätzliche Schwierigkeiten gesellten sich hinzu. Die zweite
Schwierigkeit besteht darin, dass Millikan (und viele andere Vertreterinnen und Vertreter
eines teleologischen Ansatzes in der Philosophie des Geistes) zwar munter davon
ausgehen, dass die Philosophie naturalistisch verfahren soll, dass es natürliche Normen gibt
und dass Menschen wesentlich Tiere sind. Nur leistet sie für diese drei weder
unerheblichen noch selbstverständlichen Annahmen tatsächlich keine ausreichende
philosophische Arbeit. Die dritte Schwierigkeit betrifft weniger die Biosemantik selbst,
sondern
ihre – man
muss
wohl
sagen:
eher
verhaltene – Rezeption
in
der
deutschsprachigen Philosophie. Fast drängt sich der Eindruck auf, man entgehe einer
Auseinandersetzung mit diesem komplexen Theoriegebäude dadurch, dass man es auf dem
1
Vgl. Abschnitt 5.1.4.2.
3
philosophischen Wohnungsmarkt mit ganz anderen naturalistischen Ansätzen klassifiziert
und so preislich massiv unterbewertet.
Um die Erstskizze herum begannen sich also nicht wenige Aufgaben zu türmen.
Die letzte der genannten drei Schwierigkeiten habe ich dadurch angepackt, dass ich die
Grundgedanken von Millikans Biosemantik in einen anderen Kontext als jenen der
zeitgenössischen Naturalismusdiskussion versetzte, der ihr jedoch keineswegs äußerlich ist.
Dieser Kontext wird zum einen durch die pragmatistische Semiotik von Charles S. Peirce
und Charles W. Morris und zum anderen durch den normativen Naturalismus von Wilfrid
Sellars gebildet. Daraus ist das erste Kapitel dieses Buches geworden.
Die Bewältigung der zweiten Schwierigkeit bestand schlicht darin, die erwähnten
drei Annahmen extensiv zu verteidigen. Die treibende Intuition der Biosemantik lautet, die
Normativität von intentionalen Repräsentationen, d.h. ihre Möglichkeit richtig oder falsch
zu sein, mit dem dezidierten Verweis auf die natürliche Teleologie zu erklären.
Repräsentationen sind Strukturen, die die Funktion haben, etwas als etwas zu
repräsentieren, und die bisweilen diese ihre Funktion nicht erfüllen. Es ist also der
teleologische Begriff der Funktion der intentionalen Repräsentationen Normativität
verleiht. Handelt es sich hier denn tatsächlich und im vollen Sinn des Wortes um
Normativität? Handelt es sich nicht nur um etwas, das dem Vollsinn einer Norm analog
ist? Und warum sollen natürliche (biologische) Funktionen für kulturelle Wesen, wie wir es
sind, von Bedeutung sein? Es musste also erstens gezeigt werden, dass ein Naturalismus
nach Darwin berechtigt ist von einer natürlichen Teleologie zu sprechen und dass das
Geschäft der philosophischen Erklärung (darum geht es in der Philosophie) als
Vereinheitlichung betrieben werden muss. Daraus ist das zweite Kapitel geworden.
Zweitens musste dargelegt werden, dass sowohl natürliche als auch kulturelle und
moralische Normen Normen gleicher Art, Normen im selben Sinne sind. Damit befasst sich
das für dieses Buch zentrale dritte Kapitel, in welchem ich auch weit über das von Millikan
oder anderen Versionen der Teleosemantik vertretene Ideengut hinausgehe und die
Biosemantik mit Ansätzen der neoaristotelischen Tugendethik in Verbindung setze.
Schließlich musste für die dritte Annahme argumentiert werden, dass Menschen wesentlich
Tiere sind. Das vierte Kapitel unternimmt deshalb eine Verteidigung dieser als
„Animalismus“ bezeichneten These.
Einer Verteidigung jeder dieser drei Annahmen legen sich Vorurteile in den Weg,
die beiseite geschafft werden mussten. Dazu gehören etwa die Vorurteile, dass der
Naturalismus reduktionistisch sei und dass es einen Gegensatz zwischen einem
Naturalismus der ersten und der zweiten Natur gebe, dass Normen wesentlich Tun- oder
4
Sollensnormen sind oder dass Darwin und Aristoteles Antipoden wären, dass Menschen als
Tiere betrachten bedeute, sie zu „vertieren“, oder dass nicht-menschliche Tiere des
Selbstbewusstseins als einer wesentlichen Bedingung für Personalität und Rationalität
entbehrten.
Erst im fünften und letzten Kapitel finden sich die Überreste der Erstskizze und
der Versuch, eine biosemantische Theorie der Wahrnehmung zu formulieren. Darin
bestand ja die dritte Aufgabe, die sich um die Erstskizze auftürmte. Ich habe dabei, für
einen
Naturalisten
vielleicht
erstaunlich
genug,
die
besten
Anregungen
in
phänomenologischen Wahrnehmungstheorien, in der philosophischen Ästhetik und in der
Philosophie von Thomas Reid angetroffen. Ich habe lange gebraucht um zu sehen, warum
es so schwierig ist, eine biosemantische Wahrnehmungstheorie im Ansatz zu formulieren.
Das Vorurteil, das sich mir hierbei in den Weg legte, bestand darin, dass eine
philosophische Wahrnehmungstheorie, im Unterschied zu einer empirischen, bei einer
Innenperspektive anzusetzen habe, und nicht bei einer Außenperspektive. Dem Gegensatz
zwischen Innen- und Außenperspektive und den Gründen, die zu einem philosophisch
gemeinten Ansatz von außen führen, wird im letzten Kapitel aus diesem Grunde nicht
wenig Raum gewährt.
Man sieht es: Bücher haben also ihre Schicksale auch schon bevor sie Bücher sind.
Aus dem ursprünglichen Plan der Formulierung, Artikulation und Verteidigung eines
Arguments ist ein Buch geworden, das nach einem einheitlichen naturalistischen Bild unserer
Stellung in der natürlichen Welt strebt (die unter anderem auch das ursprüngliche Argument
enthält). Das Ziel hat sich also gewandelt und ist ein anderes geworden. Immer weniger
ging es um die präzise Ausarbeitung eines Arguments als um die einheitliche Skizze eines
Bildes vor dessen Hintergrund weitere philosophische Arbeit geleistet werden kann.
Den in meiner Tierphilosophie2 formulierten Grundsätzen folgend verwende ich
häufig durch empirische Forschungen informierte Beispiele aus dem Reich der Tiere. Diese
an paradigmatischen Tierbeispielen, aber auch an historischen oder ästhetischen Beispielen,
orientierte Argumentation ist der Biosemantik nicht äußerlich, sondern sie entspricht
sowohl ihrem naturalistischen und historischen Ansatz als auch ihrer Methode der
Theoriekonstruktion.3 Die teilweise extensive Bezugnahme auf naturgeschichtliches und
sonstiges historisches Material mag manchen in einer philosophischen Arbeit überraschen.
Mich hingegen hat vielmehr die Uninformiertheit überrascht, mit der naturalistische
Philosophen und deren Kritiker empirisches Material bisweilen einsetzen. Das Buch ist
2
3
Wild 2008.
Vgl. dazu Abschnitt 1.1.6.
5
nicht zuletzt auch deshalb ein umfangreiches Buch geworden. Dies stellt in einer
zeitschriftenaufsatzformatfixierten Zeit vielleicht eine Zumutung dar. Als schwache
Entschuldigung kann ich nur vorbringen: Es hätte sogar noch umfangreicher werden
sollen.4
***
Zu den Schicksalen eines Buchs gehören immer auch Menschen, denen man für Rat und
Tat zu danken hat. In erster Linie danke ich ausnahmslos allen, sowohl derzeitigen als auch
ehemaligen Mitarbeitern am Lehrstuhl für theoretische Philosophie der HumboldtUniversität zu Berlin und im Leibniz-Projekt „Transformationen des Geistes“ von
Dominik Perler und natürlich ihm selbst. Insbesondere Johannes Haag (Potsdam), Martin
Lenz (Berlin) und Simone Peter (Basel) haben Stücke dieser Arbeit gelesen, kommentiert,
gelobt, beargwöhnt und beanstandet. Danke dafür! Weiter danke ich zahlreichen
Gesprächsteilnehmern während Vorträgen und Workshops in Konstanz, Potsdam, Berlin,
Zürich, Bern und Fribourg. Schließlich bedanke ich mich bei Ruth Millikan (Connecticut),
die herzlich, witzig und scharfsinnig immer wieder auf Mails von mir geantwortet hat. Und
weil Bücher ihre Schicksale haben, wird diese Reihe zu bedankender Menschen und der
Dank, den ich den darin bereits aufgeführten schulde, dessen bin ich mir sicher, noch
länger werden. Das sind Schulden, auf die man sich freut.
Berlin, im Juni 2010
Markus Wild
4
Vgl. dazu das Nachwort.
6
INHALT
1. BIOSEMANTIK IM KONTEXT
1.1. Grundzüge der Biosemantik .............................................................................................. 9
1.1.1. Vorhaben, Vorgehen, Vorurteile ....................................................................... 9
1.1.2. Repräsentation und Intentionalität .................................................................. 22
1.1.3. Repräsentationaler Inhalt und intentionaler Inhalt .......................................... 34
1.1.4. Grundbegriffe der Biosemantik ...................................................................... 49
1.1.5. Der Bienentanz als Paradigma der Biosemantik .............................................. 62
1.1.6. Theoriekonstruktion: Aussagen und Überzeugungen ...................................... 69
1.1.7. Die Reichweite der Biosemantik: Bakterien und Lyrik .................................... 78
1.2. Rekontextualisierung der Biosemantik .......................................................................... 89
1.2.1. Pragmatistische Semiotik und Sellars .............................................................. 89
1.2.2. Peirce: Anticartesianismus und Semiotik ......................................................... 92
1.2.3. Mead: Kommunikation und Bedeutung .......................................................... 96
1.2.4. Morris: Semiotischer Behaviorismus ............................................................... 99
1.2.5. Normative Transformation des semiotischen Behaviorismus........................ 103
1.2.6. Sellars: Normativer Naturalismus.................................................................. 111
1.2.7. Sellars: Tierliche Repräsentations-Systeme (TRS) .......................................... 128
1.3. Vier Probleme der Biosemantik .................................................................................... 135
2. NATURALISMUS
2.1. Natürliche Teleologie .................................................................................................... 140
2.2. Was der Naturalismus der Biosemantik nicht ist ........................................................ 157
2.3. Vereinheitlichung und Biologischer Naturalismus ..................................................... 166
2.4. Zwei Naturen, ein Naturalismus .................................................................................. 189
3. NATÜRLICHE NORMEN
3.1. Normative Kategorien .................................................................................................... 200
3.1.1. Das Normativitätsproblem ........................................................................... 200
3.1.2. Hartmann über Tunsollen und Seinsollen ..................................................... 205
3.1.3. Geach über „gut“ ......................................................................................... 208
3.1.4. Was sind normative Kategorien? .................................................................. 212
3.2. Funktionale normative Kategorien ............................................................................... 217
3.2.1. Gegen Searles Funktionsthese ...................................................................... 217
3.2.2. Gegen die Organismustheorie ...................................................................... 226
3.2.3. Biologische funktionale normative Kategorien: die Standardsicht ................. 231
3.2.4. Das Auge als Beispiel.................................................................................... 244
3.2.5. Kulturelle funktionale normative Kategorien ................................................ 250
3.2.6. Kulturelle Welt und Kreativität ..................................................................... 261
3.3. Spezifische normative Kategorien ................................................................................. 274
3.3.1. Thompson und Foot über Lebensformen..................................................... 274
3.3.2. Aristotelische Lebensformen als biologische Arten ....................................... 289
3.3.3. Natürliche Gutheit für Menschen ................................................................. 300
7
4. SUMPFMANN UND ANIMALISMUS
4.1. Hat die Biosemantik ein Sumpfmannproblem?........................................................... 313
4.2. Das Argument für den Animalismus ............................................................................ 329
4.3. Das Ersetzungsproblem ................................................................................................ 336
4.4. Selbstbewusstsein: Das Schimpansen-Argument ........................................................ 342
5. EINE BIOSEMANTISCHE THEORIE DES SEHENS
5.1. Konsumenten und Produzenten .................................................................................... 353
5.1.1. Ein Biologiemärchen .................................................................................... 354
5.1.2. Erste Reaktion: Mangelnde Differenzierungen ............................................. 357
5.1.3. Zweite Reaktion: Kritik der produzentenorientierten Version....................... 361
5.1.3.1. Information als Grundlage? ................................................................... 365
5.1.3.2. Die Verwechslung von R-Inhalt und IR-Inhalt ...................................... 368
5.1.3.3. Das Problem der Gehaltsbestimmung.................................................... 370
5.1.3.4. Die Transparenz der Erfahrung ............................................................. 379
5.1.4. Zwei Gemeinsamkeiten teleosemantischer Theorien der Wahrnehmung ...... 384
5.1.4.1. Sehen als Repräsentieren ........................................................................ 384
5.1.4.2. Vier Arten nicht-begrifflichen Inhalts .................................................... 396
5.1.5. Dritte Reaktion: Kritik der Kausalen Theorie des Sehens ............................. 406
5.1.5.1. Das Nomische Korrelationsprinzip........................................................ 406
5.1.5.2. Kausale Theorie des Sehens und veridische Halluzinationen .................. 408
5.1.5.3. Superman, Geronimo, Zombies und Olfaktoren .................................... 411
5.2. Innenperspektive und Außenperspektive ..................................................................... 418
5.2.1. Sehen als Prozess in der Welt und als Erfahrung von der Welt ....................... 418
5.2.2. Erstes Problem der Innenperspektive: Unmittelbarkeit ................................. 422
5.2.3. Zweites Problem des Innenperspektive: Einheitlichkeit ................................ 431
5.2.4. Drittes Problem der Innenperspektive: Überintellektualisierung ................... 433
5.3. Eine biosemantische Theorie des Sehens .................................................................... 445
5.3.1. Drei Motivationen für die Außenperspektive ................................................ 445
5.3.1.1. Commonsense und die Außenperspektive ............................................. 445
5.3.1.2. Das Winckler-Beckett-Problem.............................................................. 448
5.3.1.3. Der blinde Geronimo ............................................................................ 454
5.3.2. Die biosemantische Theorie der (visuellen) Wahrnehmung .......................... 457
5.3.2.1. Input-, System- und Output-Komponenten von P-Mechanismen .......... 457
5.3.2.2. R-Inhalte und IR-Inhalte von Wahrnehmungsempfindungen ................ 461
5.3.2.3. Anmerkung über Qualia......................................................................... 466
5.3.3. Aneignungen und Eignungen ....................................................................... 468
5.3.3.1. Sehen als Tätigkeit von Lebewesen ........................................................ 468
5.3.3.2. Tätigkeiten als Aneignungen .................................................................. 475
5.3.3.3. Eignungen ............................................................................................. 485
5.3.4. Natürliche und erworbene Wahrnehmung .................................................... 489
5.3.4.1. Reids semiotischer Realismus ................................................................. 489
5.3.4.2. Natürliche und erworbene Wahrnehmung ............................................. 494
5.3.4.3. Erworbene Wahrnehmung und kulturelle Kategorien ............................ 500
5.3.5. Fotografische Transparenz und Homogenitäts-Einschränkung..................... 508
Nachwort ............................................................................................................................... 520
Literatur ................................................................................................................................. 524
8
1. BIOSEMANTIK IM KONTEXT
1.1. Grundzüge der Biosemantik
1.1.1. Vorhaben, Vorgehen, Vorurteile
Das Ziel dieses Buches5 ist die Verteidigung einer sowohl anspruchsvollen als auch
attraktiven Version der Teleosemantik. Teleosemantische Theorien sind naturalistische und
repräsentationalistische Theorien des Geistes. Ihr Kennzeichen ist der Rückgriff auf einen
teleologischen und normativen Begriff der Funktion zur Erklärung des intentionalen
Inhalts von Repräsentationen. Den für sie relevanten Begriff der Funktion und ihr
Verständnis von Lebewesen führen die meisten Versionen der Teleosemantik auf die
Evolutionstheorie von Darwin zurück.6 Die hier vertretene Version der Teleosemantik, die
ich als „Biosemantik“ bezeichnen werde,7 nimmt im Wesentlichen auf Ruth Millikans
Arbeiten Bezug.8 Anspruchsvoll ist diese Version einerseits in ihrer Reichweite und
Das Buch ist in fünf Kapitel eingeteilt. Auf alle Einteilungen unterhalb der Ebene von Kapiteln beziehe ich
mich mit dem Ausdruck „Abschnitt“. Innerhalb des Textes und der Fußnoten wird bisweilen auf Abschnitte
vor- oder zurückverwiesen, indem nach einer Behauptung im Text in Klammern die Nummerierung des
entsprechenden Abschnitts angeführt wird, beispielsweise „(2.4.)“ oder „(5.1.3.1.)“. Die kürzeren Kapitel 2
und 4 enthalten lediglich Abschnitte (wie etwa 2.1. oder 4.3.), die längeren Kapitel 1 und 3 hingegen enthalten
auch Unterabschnitte (wie 1.1.5. oder 3.3.1.). Bei Kapitel 5 habe ich mich der dafür entschieden nicht nur
Unter- sondern auch Unterunterabschnitte zu verwenden (wie 5.3.4.2.). Dies ist zwar nicht schön, dafür aber
gut. Es erhöht die Übersichtlichkeit über den komplizierten und verzweigten Gedankengang im letzten
Kapitel.
6 Wie Karen Neander es ausdrückt: „There are a number of different teleological theories of mental content
[…] it’s central to all of them that a certain normative notion of function underwrites a certain normative
notion of content.“ (Neander 2006: 550) Auf Literatur wird durchgehend nach der Art des vorstehenden
Beispiels verwiesen. Die ausführlichen bibliographischen Angaben finden sich im Literaturverzeichnis. Auf
Seitenzahlen wird mit arabischen Ziffern, auf Buchkapitel hingegen mit römischen Ziffern verwiesen. Die
fünf Bücher von Millikan werden mittels der folgenden, auch von Millikan verwendeten, Siglen zitiert, die
sich abermals am Anfang des Literaturverzeichnisses aufgeführt finden: LTOBC = Millikan 1984 (Language,
Thought and Other Biological Categories), WQP = Millikan 1993a (White Queen Psychology), OCCI = Millikan 2000a
(On Clear and Confused Ideas), VM = Millikan 2004a (Varieties of Meaning), LBM = Millikan 2005a (Language. A
Biological Model).
7 Ich werde den Ausdruck „Biosemantik“ stets als Namen für das gesamte philosophische Projekt Millikans
verwenden. Dieser Gebrauch weicht von demjenigen Millikans ab, denn sie bezeichnet als „Biosemantik“
lediglich jenen Teil ihres Ansatzes, der sich mit dem intentionalen Inhalt innerer Repräsentationen befasst
(WQP: IV, Millikan 2009a). Es scheint mir aber sinnvoll zu sein, einen Namen für das gesamte Projekt zu
haben, der Millikans Teleosemantik von anderen Versionen unterscheidet. Da Millikan nicht nur innere
Repräsentationen, sondern auch kommunikative Signale und sprachliche Repräsentationen als biologische
Kategorien betrachtet – schließlich bezeichnet der Titel ihres Erstlings Language, Thought and Other Biological
Categories sowohl Sprache als auch Denken als biologische Kategorien – ist diese erweiterte Verwendung
gerechtfertigt. Die Biosemantik ist also eine besonders ambitionierte Version der Teleosemantik.
8 LTOBC liefert die begrifflichen, semantischen und ontologischen Grundlagen der Biosemantik, die
Aufsätze in WQP behandeln vorwiegend die Philosophie des Geistes, jene in LBM die Sprachphilosophie.
VM gibt eine semiotische Reformulierung der Biosemantik und ergänzt sie um eine Theorie der natürlichen
Zeichen. OCCI schließlich formuliert eine in LTOBC noch fehlende Theorie der Begriffe. Das Projekt bleibt
5
9
andererseits dadurch, dass sich Anschlussmöglichkeiten an andere philosophische Theorien
ergeben; attraktiv ist die Biosemantik durch ihre vereinheitlichende, explanatorische Kraft.
Die vorliegende Arbeit strebt nach der Skizze eines einheitlichen naturalistischen Bildes
unserer Stellung in der natürlichen Welt – eine Skizze, auf deren Grundlage und mithilfe
der in ihr artikulierten Theorieelemente weitere philosophische Arbeit geleistet werden
kann. So erweist sich die Biosemantik, entgegen ihrem vorwiegend schlechten Ruf in der
deutschsprachigen Philosophie, als produktives philosophisches Projekt.9 Dabei wird
Millikans Ansatz nicht nur in einigen Punkten präzisiert und korrigiert oder von
Einseitigkeiten und Mängeln befreit, sondern die implizite naturalistische Grundlage des
biosemantischen Ansatzes, die Millikan selbst weder explizit macht noch verteidigt, wird
erarbeitet.
Die meisten teleosemantischen Theorien beginnen mit der Analyse der
Repräsentationen in simplen Organismen. Auch ich möchte die Grundidee der
Teleosemantik anhand eines solchen Beispiels einführen, das im Folgenden öfters
auftauchen wird. Es sollen dabei auch grundsätzliche Optionen für teleosemantische
Theorien unterschieden werden, um die Biosemantik genauer charakterisieren zu können.10
Im Atlantik kann man Bakterien finden, die kleine magnetische Teilchen in sich tragen,
sogenannte „Magnetosome“. Diese Magnetosome funktionieren im Prinzip wie
Kompassnadeln: Sie richten sich in kleinen Ketten parallel zum Magnetfeld der Erde aus.
Und als Folge davon richten sich auch die Bakterien entsprechend aus. Was ist die
Funktion dieser Magnete? Da die Linien des Magnetfeldes in der nördlichen Hemisphäre
nach unten zeigen (in Richtung des nördlichen geomagnetischen Pols), bewegen sich die
Bakterien der nördlichen Erdhälfte mittels ihres Fortbewegungsapparats und angewiesen
durch ihre inneren Magnetosome in Richtung des geomagnetischen Nordpols. Diese
Bakterien überleben nur in sauerstofflosem Wasser, sauerstoffreiches Wasser ist für sie
toxisch. Weil die Bewegung in Richtung geomagnetischer Norden die Bakterien weg von
sauerstoffreichen und für sie toxischen Wasseroberflächen in sauerstoffarme, tiefere
Wasserschichten bringt, ist es naheliegend, dass die Funktion dieses sensorischen Systems
darin besteht, die Richtung sauerstoffarmer Wasserschichten anzuzeigen. Magnetosome
zeigen die Ausrichtung des geomagnetischen Erdfeldes an und haben die Funktion, die
in den Grundzügen von LTOBC bis LBM dasselbe, Millikan verändert jedoch auf eine bisweilen verwirrende
Weise ihre Begrifflichkeit und setzt unterschiedliche Akzente, was leicht zu Fehldeutungen führen kann.
9 Vgl. dazu die Ausführungen weiter unten in diesem Abschnitt.
10 Das folgende Beispiel für Repräsentationen einfacher Organismen hat Dretske 1986 als erster verwendet.
Die Organismen sind zwar einfach, aber das Beispiel offenbar nicht, was eher groteske Missverständnisse in
der philosophischen Literatur belegen (Rowlands 1997; Heckmann 1994: 206ff.). Diese Form der
Magnetotaxis wurde ursprünglich an Magnetospirillum mangetotacticum durch Richard Blakemore entdeckt, auf
dessen Forschung Dretske sich bezieht (vgl. Blakemore 1975, 1981; Blakemore und Frankel 1981).
10
Bakterien in für sie vorteilhafte Lebensräume zu manövrieren. Der Teleosemantik zufolge
legt
die
Funktion
der
kleinen,
parallel
zum
Erdmagnetfeld
ausgerichteten
Magnetosomketten den Inhalt dieser repräsentationalen Strukturen fest.
Die Magnetosome haben also eine bestimmte Funktion. Sie sind da, um etwas
Bestimmtes zu tun, und weil sie etwas Bestimmtes tun, sind sie da. Der Ausdruck „da“
bezeichnet sowohl die Tatsache, dass diese Teilchen überhaupt als biologische
Eigenschaften der Bakterien existieren, als auch die Tatsache, dass sie sich an einer
bestimmten Stelle dieser Bakterien befinden. Das ist der teleologische Aspekt von
Funktionen. Die Funktion der Magnetosome ist historisch entstanden, denn bei dem
Navigationssystem der Bakterien handelt es sich offenbar um eine Adaptation, und eine
solche Adaptation kann als Resultat der Evolution durch die natürliche Selektion
verstanden werden.11 Die Funktion der Magnetosome wird also durch einen
naturhistorischen Prozess erklärt. Aufgrund dieser Wirkungen wurden Magnetosome im
Laufe der Evolution selektiert. Bei Funktionen handelt es sich deshalb nicht um beliebige
Wirkungen, sondern um selektionierte Wirkungen. Aufgrund ihrer Funktion sollen die
Magnetosome bestimmte Wirkungen für das Bakterium tun. Bilden sich die Magnetosome
beispielsweise nur mangelhaft aus, so können sie diese Wirkungen nicht zeitigen. Dennoch
ist es auch die Funktion schadhafter Magnetosome, bestimmte Wirkungen zu zeitigen. Das
ist es, was sie als Magnetosome tun sollen, als deformierte Exemplare jedoch nicht tun
können. Funktionen als selektierte Wirkungen haben also eine normative Dimension. Die
naturhistorisch oder kulturhistorisch selektierten Wirkungen eines Merkmals mit einer
normativen Dimension werde ich von jetzt an als „Echte Funktionen“ (proper function)
bezeichnen.12 Nicht alle Versionen der Teleosemantik sind der Ansicht, dass Funktionen
historisch bestimmt werden müssen. Denn Funktionen können beispielsweise auch durch
kausale Rollen in einem Organismus bestimmt werden. Auch teilen nicht alle
teleosemantischen Theorien die Ansicht, dass Funktionen eine normative Funktion
zukommt. Denn Funktionen scheinen eher biologische Tatsachen als Normen zu sein.13
11 Häufig wird der Ausdruck „Adaptation“ in Lehrbüchern der Evolution als durch natürliche Selektion
entstandenes biologisches Merkmal definiert. Ich möchte unter einer „Adaptation“ jedoch zunächst einfach
ein Merkmal verstehen, das einem Lebewesen dazu verhilft, sich in seiner Umwelt zu behaupten und sich zu
vermehren. Die natürliche Selektion ist eine Erklärung für die Existenz solcher Merkmale. Vgl. zu diesem
Punkt die Abschnitte 2.2. und 3.2.3.
12 Der Ausdruck „proper function“ ist Millikans Ausdruck (vgl. LTOBC: I, WQP: I, Millikan 1989, 2002). Die
Großschreibung des Adjektivs „echt“ soll, wie weitere Großschreibungen von Adjektiven auch, anzeigen,
dass es sich um einen Begriff mit einer normativen Dimension handelt. Ich werde beispielsweise in den
Abschnitten 1.1.4. und 2.3. weitere solche Begriffe einführen (wie den Begriff der „Normalen Erklärung“
oder des „Biologischen Naturalismus“).
13 Die Verteidigung der Historizität und Normativität von Funktionen findet sich in Abschnitt 1.1.4. und in
Kapitel 3.
11
Wir haben anhand der Magnetosome umrissen, was eine Echte Funktion sein soll.
Doch worin genau besteht die Echte Funktion der Magnetosome? Magnetosome zeigen
die Richtung des geomagnetischen Nordpols an, es besteht eine naturgesetzliche Relation
zwischen der Ausrichtung der Magnetosome und der Richtung des geomagnetischen
Nordpols. Nun könnte man sagen, dass es die Echte Funktion der Magnetosome ist, die
Richtung des geomagnetischen Nordpols anzuzeigen. Die Magnetosome repräsentieren
demzufolge die Richtung des geomagnetischen Nordpols.14 Aber was will das Bakterium
am Nordpol? Was es braucht sind weder Eisberge noch Eisbären, sondern sauerstoffarme
Wasserschichten.
Die
Magnetosome
sollen
die
Bakterien
in
sauerstoffarme
Wasserschichten manövrieren. So kann man sagen, dass es die Echte Funktion der
Magnetosome ist, die Richtung solcher Wasserschichten anzuzeigen. Die Magnetosome
repräsentieren demzufolge die Richtung sauerstoffarmer Wasserschichten.15 Die erste
Antwort achtet nur auf die Magnetosome und auf die durch sie gebildeten
repräsentationalen Strukturen, die zweite Antwort hingegen achtet darauf, was diese
Strukturen den Bakterien nützen. Die erste Antwort richtet das Augenmerk auf die
Hervorbringung oder Produktion der repräsentationalen Strukturen, die zweite hingegen
auf ihre Nutzung oder Konsumation. Entsprechend unterschiedlich fällt die Festlegung der
Echten Funktion der Magnetosome aus, und entsprechend verschieden fällt auch die
Bestimmung des Inhalts der repräsentationalen Strukturen aus. Man kann deshalb zwischen
zwei grundsätzlichen Versionen der Teleosemantik unterscheiden, nämlich einer
produzentenorientierten und einer konsumentenorientierten Version. Die Biosemantik ist eine
konsumentenorientierte Version.16
Nun mag eine dieser beiden Versionen vielleicht plausibel für solch simple
Repräsentations-Systeme wie magnetotaktische Bakterien sein, doch wie steht es mit
anspruchsvolleren Repräsentations-Systemen? Es ist umstritten, ob die Teleosemantik
anspruchsvoll oder doch lieber bescheiden sein sollte. Diese Meinungsverschiedenheit hat
unterschiedliche Aspekte. Bescheidene Theoretikerinnen und Theoretiker betrachten die
Vgl. Dretske 1986.
Vgl. WQP: IV.
16 Vgl. WQP: IV; Matthen 2006. Zum Konsumenten vgl. die Abschnitte 1.1.3.-1.1.4. Allerdings bedeutet dies
nicht, dass Produzenten in der Biosemantik keine Rolle spielen: „As a corrective to the emphasis that others
in the teleosemantic business have placed on the function of the representation producers, Millikan […] has
recently been emphasizing the devices that use or ‘consume’ representations. The official statement of
Millikan’s position, LTOBC, however, emphazises producer and consumer equally. It also distinguishes the
functions of these two from a third and quite different thing, the representation itself. The roles that these
three items play are distinct but equally important for an analysis of mental semantics.“ (WQP: 125f.) Auf das
Zusammenspiel von Produzent und Konsument in Wahrnehmungen werde ich in Kapitel 5 ausführlich zu
sprechen kommen.
14
15
12
Teleosemantik als valable Theorie für einige unflexible angeborene Repräsentationen,17 als
semantisches Fundament der Neurobiologie18 oder als Theorie von Überzeugungen und
Wünschen unter Ausschluss des phänomenalen Bewusstseins.19 Andere hingegen
betrachten die Teleosemantik unbescheiden als Theorie für alle mentalen Zustände,20
einschließlich des phänomenalen Bewusstseins.21 Anspruchsvolle Versionen schließlich
betrachten die Teleosemantik als Theorie für alle repräsentierenden Entitäten, nicht nur für
mentale Repräsentationen, sondern auch für nicht-mentale Repräsentationen wie
sprachliche Repräsentationen und andere kulturelle Produkte. Die anspruchsvolle Version
der Teleosemantik ist die Biosemantik.
Bescheidenheit ist nicht immer eine Tugend. Meines Erachtens sollte eine
philosophische Theorie anspruchsvoll sein. Das liegt in der Natur philosophischer
Theorien, die als solche nach Vereinheitlichung streben (2.3.-2.4.). Die Biosemantik erhebt
den Anspruch, nicht nur eine naturalistische Theorie des Geistes zu sein, sondern auch eine
entsprechende Theorie der Kultur zu liefern. Sie ist eine Theorie nicht nur für die
intentionalen Inhalte der internen Zustände und externen Signale sprachloser Lebewesen,
sondern auch für die intentionalen Inhalte der internen Zustände und externen Symbole
fantasie- und sprachbegabter Lebewesen. Die Biosemantik ist also anspruchsvoll, sie geht
von
einem
historisch-normativen
Begriff
der
Funktion
aus,
und
sie
ist
konsumentenorientiert. Diese vier Charakteristika (anspruchsvoll, historisch, normativ,
konsumentenorientiert) zusammen zeichnen die Biosemantik gegenüber anderen
Teleosemantiken aus.
Das Ziel dieser Schrift ist, so sagte ich, die Verteidigung der Biosemantik. Die
Strategie zur Erreichung dieses Ziels besteht im Folgenden: Ausgegangen wird von
(scheinbar theorieinternen) Problemen der Teleosemantik. Ich nenne sie hier kurz in Form
von vier Fragen und werde sie am Ende dieses Kapitels ausführlicher erläutern (1.3.):22
Vgl. Sterelny 1990; Neander 1996, 2006; Price 2001.
Vgl. Ryder 2004.
19 Vgl. McGinn 1989.
20 Vgl. Papineau 1993.
21 Vgl. Dretske 1995.
22 Ein weiterer, häufig gegen die Biosemantik vorgebrachter Kritikpunkt lautet, dass es ihr nicht gelingen
kann höherstufige Formen der Repräsentation einzubeziehen, wie sie für endliche, rationale Wesen
charakteristisch sind. Ich kann in dieser Arbeit nicht auf dieses Problem eingehen, sondern lediglich die
Grundlagen für eine naturalistische Beantwortung der entsprechenden Frage legen. Die in Millikans
Biosemantik im Detail möglicherweise unzureichend artikulierte Theorie solcher höherstufiger
Repräsentationen ist durchaus offen für Elemente des Sozialpragmatismus, wie sie Robert Brandom
(Brandom 1994, 2000) artikuliert hat, vermeidet aber einige Probleme desselben. Sowohl Millikan als auch
Brandom übernehmen und transformieren zahlreiche Elemente der Philosophie von Sellars (vgl. LBM: IV).
Zu Sellars als theoretischem Hintergrund der Biosemantik vgl. die Abschnitte 1.2.6.-1.2.7.
17
18
13
(1) Betreibt die Teleosemantik die Wiederbelebung eines veralteten Begriffs der
natürlichen Teleologie?
(2) Braucht die Teleosemantik einen normativen Begriff der Funktion?
(3) Kann die Teleosemantik das Sumpfmannproblem lösen?
(4) Soll die Teleosemantik produzenten- oder konsumentenorientiert sein?
Diese Probleme können deshalb als nur scheinbar theorieintern behandelt werden, weil sie
Varianten grundlegender philosophischer Problemstellungen sind. Ich will diese
Behauptung anhand der Frage (4) erläutern. Diese Frage zielt auf die Natur intentionaler
Inhalte. Ein Beispiel eines solchen scheinbar theorieinternen Problems ist das sogenannte
„Disjunktionsproblem“.
Das
Problem
besteht
darin,
dass
der
Inhalt
einer
repräsentationalen Struktur wie jene der Magnetosome einfach aus einer Disjunktion von
„geografischer Nordpol oder geomagnetischer Nordpol oder Abwärts oder sauerstoffarme
Region oder Eisenstab oder …“ bestehen könnte. Wenn dies zuträfe, wäre nicht zu
erkennen, inwiefern die Repräsentation des Bakteriums überhaupt einen bestimmten Inhalt
hätte. Warum sollte man dann meinen, die Teleosemantik sei eine Theorie über
intentionale Inhalte? Naturalistische Theorien der Intentionalität teilen die Absicht, das
Disjunktionsproblem naturalistisch lösen zu wollen. Die entsprechende Diskussion droht
in eine Art exklusiver Selbstzerfleischungsdiskussion zu degenerieren, etwa so wie
„degenerierende Forschungsprogramme“ an selbst gemachten Problemen zu scheitern
drohen. Nun ist das Disjunktionsproblem nur eine besondere Ausprägung eines
allgemeinen philosophischen Problems, nämlich desjenigen der Fehlrepräsentation: Wie
können repräsentationale Inhalte von etwas handeln, das nicht existiert oder nicht so, wie
es für ein Subjekt repräsentiert wird? Wie können Repräsentationen falsch sein? Diese
Fragen zielen auf die Intentionalität als Eigenschaft von Repräsentationen, sie zielen (mit
Kant gesprochen) auf den Grund der „Beziehung desienigen [sic], was man in uns
Vorstellung nennt, auf den Gegenstand“.23 Dieser Grund muss eine normative Dimension
haben, weil er erklären muss, wie die intentionale Beziehung eine Beziehung der
Repräsentation auf ihren Gegenstand sein kann. Eine Repräsentation hat gleichsam die
Aufgabe, einen bestimmten Gegenstand zu repräsentieren. Bisweilen kann sie diese
Aufgabe nicht erfüllen, und zwar wenn sie auftritt, ohne dass ihr Gegenstand sozusagen
dafür verantwortlich wäre. Sie erfüllt dann nicht die Aufgabe, die sie erfüllen sollte. Und
darin liegt die normative Dimension der Repräsentation. Diese normative Dimension ist,
abstrakt gesprochen, ein Maß, von der die Repräsentation abweichen kann. Ohne eine solche
23
AA X: 130. Ich werde Kants Frage in Abschnitt 1.1.2. erläutern.
14
normative Dimension (ohne die Möglichkeit der Fehlrepräsentation) hat eine
Repräsentation keinen intentionalen Inhalt (keinen ihr zugeeigneten Gegenstand). Woher
hat die Repräsentation jedoch das Maß, von dem sie (als Fehlrepräsentation) abweichen
kann? Aufgrund solcher Fragen bezeichnet Millikan das Problem der Fehlrepräsentation als
„Normativitätsproblem“.24 Dies sind offensichtlich keine theorieinternen Fragen eines
philosophischen Sonderzirkels. Die Biosemantik versucht, eine naturalistische Antwort auf
Kants Frage und damit auf das Normativitätsproblem zu geben.
Die Probleme (2) bis (4) entsprechen natürlich den genannten Charakteristika, die
die Biosemantik von anderen teleosemantischen Ansätzen unterscheidet. Da die
Biosemantik auf Echte Funktionen zurück greift, muss sie eine Antwort auf die Frage
geben können, wie etwa den Funktionen biologischer Merkmale Normativität zukommen
kann. Sie braucht also eine Theorie natürlicher Normen. Eine Antwort auf Frage (2) muss
sich der Frage nach dem Wesen der Normativität stellen. Weiter sind Echte Funktionen
wesentlich historisch. Ein wundersam entstandenes Wesen ohne jede Vorgeschichte, das
sich wie eine normale, erwachsene Person verhält (der sogenannte „Sumpfmann“), scheint
der Biosemantik zufolge keine intentionalen Zustände haben zu können. Wie kann das
sein? Eine Auseinandersetzung mit Frage (3) kommt nicht ohne eine These über das
Wesen
der
menschlichen
Natur
aus.
Schließlich
ist
die
Biosemantik
eine
konsumentenorientierte Version der Teleosemantik. Dies hat insbesondere Auswirkungen
auf die Wahrnehmungstheorie. Wird der Inhalt von Wahrnehmungen durch die Bedingung
festgelegt, die vorliegen muss, damit ein Konsument seine Funktion ausüben kann? Wie
kann der Vorrang des Konsumenten begründet und gegen unintuitive Implikationen
verteidigt werden?
Ein biosemantischer Ansatz zur Lösung dieser Probleme führt, so meine
Überlegung, zu Zusammenschlüssen mit anderen philosophischen Positionen. Die
biosemantische Antwort auf Frage (2) geht in die gleiche Richtung wie naturalistische
Formen der Tugendethik, die sich auf die aristotelische Ethik stützten: Beide behaupten die
Existenz natürlicher Normen.25 Die gegen die Biosemantik sprechende Intuition, dass der
Sumpfmann doch offensichtlich auch intentionale Zustände hat, wird in Verbindung mit
dem Animalismus gelöscht. Sowohl für den Animalismus als auch für die Biosemantik sind
Menschen essenziell Lebewesen (Tiere). Lebewesen gehören zu einer Lebensform (einer
biologischen Art) und Arten sind historische Individuen.26 Die biosemantische Behandlung
der Frage (4) muss auf die Behandlung der Motorintentionalität in der Phänomenologie
WQP: 3.
Vgl. Hursthouse 1999; Foot 2001.
26 Vgl. Olson 1997, 2007.
24
25
15
zurückgreifen: Beide gestehen den Handlungstendenzen des Körpers eine Rolle zu in der
Festlegung des Inhalts von Wahrnehmungen.27
Die Strategie besteht also im Folgenden: Probleme der Biosemantik werden durch
Rückgriff auf andere philosophische Theorieformationen gelöst, wobei stets gezeigt wird,
inwiefern die Biosemantik diesen Theorieformationen ihrerseits unter die Arme greifen
kann. Die Theorieformationen können der Biosemantik bei der Lösung ihrer Probleme
helfen, die Biosemantik hingegen bietet diesen unterschiedlichen naturalistischen Ansätzen
eine sie vereinheitlichende Struktur. Wie ich zeigen werde besteht in der Vereinheitlichung
eine wesentliche Erklärungsleistung von Theorien. Die Zusammenschlüsse mit anderen
Theorieformationen ergeben sich aus Millikans Arbeiten. Der Zusammenschluss mit dem
Aristotelismus ist auf der Ebene der Ontologie bereits in OCCI vorgenommen.28 Die
Verbindung zum Animalismus ergibt sich aus dem methodischen Ansatz, unsere Form der
Intentionalität als Ausprägung tierlicher Intentionalität zu fassen.29 Der Zusammenschluss
mit Maurice Merleau-Pontys Theorie der Wahrnehmung ergibt sich aus Millikans
Akzeptanz von James Gibsons Wahrnehmungspsychologie.30 Schließlich drängen sich
demjenigen, der sowohl Millikans Arbeiten als auch die Werke von Thomas Reid kennt
immer wieder Übereinstimmungen im Bereich der Wahrnehmungstheorie auf, die ich in
Kapitel 5 auch auszunutzen will.31
Aus dieser Strategie ergibt sich die Struktur der Arbeit. Zu Beginn dieses ersten
Kapitels werden die Grundzüge der Biosemantik dargestellt (1.1.3.-1.1.7.). Diese
Darstellung hat in erster Linie expositorischen Charakter, nicht argumentativen. Die
anschließenden vier Kapitel widmen sich je einem dieser vier Probleme. Sie schlagen
prinzipielle Lösungen vor (keine theorieinternen Reparaturversuche) und verbinden im Zuge
der Artikulation dieser Lösungen die Biosemantik mit anderen philosophischen
Theorieformationen. Durch diese Zusammenschlüsse erfährt die Biosemantik gleichsam
Unterstützung „von außen“, geht jedoch zugleich auch Verbindungen ein, die es erlauben,
dass sich Biosemantik und andere Ansätze gegenseitig erhellen. Die explanatorische Kraft
der Biosemantik vis-à-vis prinzipiellen philosophischen Fragen und ihre vereinheitlichende
Kraft stellen m.E. das beste Argument zu ihren Gunsten dar.
Vgl. Merleau-Ponty 1945.
Vgl. LBM: VI.
29 Vgl. LTOBC: V-IX, WQP: IV, VM I-II, LBM: IX.
30 Vgl. VM: 159ff.
31 Millikan ist wiederholt auf Übereinstimmungen zwischen ihrer Version der Teleosemantik und Reids
Philosophie hingewiesen worden (mündliche Mitteilung von Ruth Millikan).
27
28
16
Die Biosemantik hat, wie ich oben angedeutet habe, in der deutschsprachigen Philosophie
einen eher schlechten Ruf. Insgesamt scheint die Teleosemantik im deutschen Sprachraum
wenig präsent und spielt in der philosophischen Diskussion bislang kaum eine Rolle. Zu
Unrecht. Insbesondere die Biosemantik Millikans verdient es, aus ihrer weitgehenden
Randexistenz in der deutschsprachigen Philosophie heraus zu kommen.32 Mit der
Randexistenz (buchstäblich in Fußnoten und Abschnittsenden) der Biosemantik sind
Phänomene unterschiedlicher Art gemeint. Hier einige Beispiele:
1. Meistens wird Millikans Biosemantik als Appendix zu Fodors Psychosemantik
behandelt,33 d.h. sie wird als ein Naturalisierungsprojekt von der gleichen Art wie die
Psychosemantik betrachtet. Deshalb wird die Geltung von Einwänden gegen die
Psychosemantik explizit oder implizit auf die Biosemantik vererbt.34 Millikans
Biosemantik wird nicht zu Unrecht als Versuch betrachtet, das Disjunktionsproblem
der kausalen Theorie mentaler Repräsentationen zu lösen und so als Alternative zu
Fodors Psychosemantik gewertet.35 Doch es bleibt unklar, ob sich die Probleme, die
sich für „Fodor (und alle anderen naturalistischen Vertreter kausaler Theorien mentaler
Repräsentationen)“36 stellen, auch auf die Biosemantik auswirken sollen, die ja zwar
eine naturalistische Theorie mentaler Repräsentation ist, aber keine kausale Theorie
mentaler Repräsentationen. In der Kritik des Naturalismus von Geert Keil etwa werden
Bio- und Psychosemantik unter dem Titel einer „Kausaltheorie der Repräsentation“
behandelt.37 Wiederum wird die Biosemantik nicht zu Unrecht als Versuch betrachtet,
das Disjunktionsproblem zu lösen, und so als teleologische Alternative zur
Psychosemantik behandelt. Wiederum wird die Biosemantik auch als „teleologische
Überbietung der Kausaltheorie der Repräsentation“ betrachtet. Denn: „Kausalen
Antezedenzien wird zugleich eine biologische ‚proper function’ zugeschrieben.“38 Was
sollen hier kausale Antezedenzien sein? Vermutlich die Ursachen einer Repräsentation.
Eine Ausnahme ist Detel 2001a, 2001b und Detel und Samson 2002. Die Situation hat sich in den letzten
Jahren noch nicht wesentlich verändert. (Vgl. aber die noch nicht publizierte Habilitation von Mathias Vogel)
Es gilt wie vor acht Jahren: „Im deutschen Sprachraum wird die TS [Teleosemantik] bislang nahezu
vollständig ignoriert – sehr zu Unrecht, denn selbst wenn man (wie ich selbst) zu der Auffassung neigt, dass
die semantische Dimension des Geistes nicht vollständig naturalisiert werden kann, ist es doch von großer
theoretischer Bedeutung, sich klarzumachen, was die fortgeschrittensten Naturalisierungsversuche der
Semantik zu leisten vermögen.“ (Detel 2001a: 466). Ich stimme zu, teile aber nicht den Vorbehalt gegen den
Naturalismus. Worin diese Differenz genau besteht, hängt freilich davon ab, was man als Naturalisierung
durchgehen lässt. Anders als in Deutschland hat die Teleosemantik beispielsweise in Frankreich längst
philosophisch Fuß gefasst (vgl. Proust 1997; Jacob 1997).
33 Fodor 1987.
34 Eine solche Vererbung findet sich bei Putnam 1992: II-III.
35 Willaschek 2003: 167 n208.
36 Willaschek 2003: 169.
37 Keil 1993a: 84ff.
38 Keil 1993a: 98.
32
17
Doch die Ursache meiner (veridischen) Repräsentation eines Hasen (nämlich der Hase)
hat sicher nicht die Echte Funktion, meine mentale Repräsentation zu verursachen.
Hasen sind nicht dazu da, um in mir Hasenvorstellungen zu bewirken! Nach dieser
kurzen Charakterisierung des teleologischen Ansatzes finden wir statt einer Kritik das
Folgende: „Ich bin überzeugt, die wesentlichen Teilargumente für eine gründliche
Widerlegung des Teleofunktionalismus beisammen zu haben, die in dem Nachweis
bestünde, dass in dem so sorgfältig aufgebauten vermeintlich evolutionstheoretischen
Begriffsapparat doch wieder unanalysierte intentionalistische Elemente enthalten sind.
[…I]ch muss aus Gründen der Darstellungsökonomie darauf verzichten.“39
2. Bisweilen fristet die Biosemantik auch eine positive Randexistenz. Sie wird als Theorie
angeführt, die entweder ein entscheidendes Problem löst oder einem bestimmten
philosophischen Irrtum nicht verfällt. So kann etwa im Rahmen einer externalistischen
Erkenntnistheorie
die
Normativität
von
Gegengründen
auf
die
natürliche
Verlässlichkeit meinungsunterdrückender Prozesse zurückgeführt werden. Die
Einbeziehung solcher Prozesse ist wichtig, weil epistemische Verlässlichkeitstheorien
erklären müssen, warum eine verlässlich gebildete Meinung gerechtfertigt sein soll, auch
wenn das Subjekt Gegengründe hat. Nun, eine solche Meinung ist nur gerechtfertigt,
wenn die Gegengründe des Subjekts verlässlich unterdrückt werden. Solche
meinungsunterdrückenden Prozesse seien zuverlässig, „gdw. sie mehr falsche als wahre
Meinungen unterdrücken, gegeben ihre Inputs sind wahr“.40 Solche Prozesse könnten
im Verlauf der Evolution die Echte Funktion erwerben, meinungsunterdrückend zu
sein, denn dadurch würde sich die Zuverlässigkeit eines kognitiven Systems ja
entscheidend verbessern. Wenn dies nämlich die Echte Funktion solcher Prozesse ist,
kommt der Meinungsunterdrückung eine normative Dimension zu und „Millikan liefert
mit ihrer Theorie biologischer Funktionen und Zwecke die fehlende Verknüpfung.“41
In diesem durchaus positiven Zeugnis der Randexistenz kommt der Biosemantik
freilich eher die Rolle eines Deus ex machina zu, denn es wird nicht ausgewiesen, dass
und wie die Biosemantik die ihr zugedachte und nicht unerhebliche Rolle spielen
könnte, sondern in erster Linie darauf hingewiesen, dass sie es könnte. Einem weiteren
positiven Zeugnis zufolge verfällt die Biosemantik nicht einem schwerwiegenden
philosophischen Irrtum. Die Biosemantik sei eine der wenigen ausgearbeiteten
naturalistischen Versionen des Repräsentationalismus in der Philosophie des Geistes,
„deren Ansatz nicht in den epistemologischen Fundamentalismus zurückfällt, sondern
Keil 1993a: 98. Keil verspricht, dies nachzuholen, was er auch tut in Keil 1993b.
Grundmann 2003: 338.
41 Grundmann 2003: 339.
39
40
18
die Sellarssche Kritik am Mythos des Gegebenen beherzigt.“42 Auch hier würde man
gerne wissen, warum und wie Millikan diesen Rückfall trotz Naturalismus vermeidet.
Die Juxtaposition von Biosemantik und Psychosemantik ist, wie ich meine, irreführend.
Das Irreführende der Juxtaposition wird überdeckt durch die beiden Projekten gemeinsame
Absicht, das Disjunktionsproblem zu lösen. Wie gesagt ist dieses Problem eine besondere
Ausprägung der viel generelleren philosophischen Bestrebung, auf Kants Frage eine
Antwort zu geben und das Normativitätsproblem zu lösen. Obwohl Biosemantik und
Psychosemantik eine naturalistische Antwort auf Kants Frage zu geben versuchen, sind die
Unterschiede zwischen Millikan und Fodor in dieser Hinsicht so gravierend, dass wir uns
durch die Juxtaposition lieber nicht irreführen lassen sollten.43 Fodor beginnt mit einer
kausal-informationalen Theorie darüber, was Repräsentationen sind. Das Problem der
Fehlrepräsentation versucht er mithilfe seiner Theorie der asymmetrischen Abhängigkeit zu
lösen, bestreitet aber, dass es sich hier um ein Normativitätsproblem handelt. Die Frage, ob
eine Repräsentation falsch oder wahr ist, ist für ihn keine normative, sondern eine faktische
Frage. Sie fragt nicht, was getan werden soll, sondern was ist. Millikan beginnt mit einer
Abbildtheorie darüber, was Repräsentationen sind. Das Problem der Fehlrepräsentation
betrachtet sie als Normativitätsproblem, weil Normen nicht nur Dinge betreffen, die getan
werden sollen, sondern auch die Frage berühren, wie Dinge sein sollen.44 Das
Normativitätsproblem löst die Biosemantik mithilfe des Begriffs der Echten Funktion. Hier
sind weitere Gegensätze:
-
Während Millikan jegliche Annahme eines unmittelbar Gegebenen entschieden
zurückweist45 tritt Fodor als Verteidiger des Gegebenen auf.46
-
Während Fodor den semantischen Internalismus und den engen Gehalt verteidigt,47 ist
Millikan eine extreme semantische Externalistin.48
-
Während Fodor eine Implementierung intentionaler Zustände in einer rein
komputationalen Struktur vorschlägt, die als Sprache des Geistes betrachtet werden
Haag 2001: 148 n8.
Millikan nimmt in WQP: VI selbst eine solche Juxtaposition vor, betont aber die Unterschiede zu wenig.
Im Interview Lenz und Wild 2011 hingegen werden die Differenzen deutlich benannt.
44 Vgl. dazu die in Abschnitt 1.2.6. eingeführte Unterscheidung zwischen „Regeln der Kritik“ und „Regeln
des Handelns“ bei Sellars und die vergleichbare Unterscheidung zwischen „Seinsollen“ und „Tunsollen“ bei
Nikolai Hartmann in Abschnitt 3.1.2.
45 Vgl. Millikan WQP: XIV.
46 Vgl. Fodor 2007.
47 Vgl. Fodor 1987. Später modifiziert Fodor seine Position (vgl. Fodor 1994: II).
48 Vgl. Millikan 2004b.
42
43
19
kann,49 weist Millikan sowohl diese Form der Implementierung als auch die Annahme
einer Sprache des Geistes zurück.50
-
Während Millikan intentionale Zustände als etwas betrachtet, das Gegenstand einer
nicht-nomologischen Biosemantik ist,51 sieht Fodor intentionale Zustände als Objekte
für eine nomologisch verfasste kognitive Psychologie.52
-
Während Millikan auf Darwins Theorie der natürlichen Selektion zurückgreift, um
Kants Frage zu beantworten,53 lehnt Fodor jeglichen Rückgriff dieser Art vehement
ab54 und ist entschieden der Ansicht, dass die natürliche Selektion nichts erklärt.55
Die erwähnten Gegensätze sind für die Biosemantik charakterisierend. Einer bestimmten
Auffassung der Biologie (genauer: der Evolutionsbiologie) zufolge gibt es in ihr keine
Naturgesetze. Trifft diese Auffassung zu und wird die Intentionalität mentaler Zustände im
Rückgriff auf die natürliche Selektion erklärt, kann es sich dabei nicht um nomologische
Erklärungen handeln.56 Millikan betrachtet den Rückgriff auf die Evolutionstheorie als
Ausdruck der Ablehnung des Mythos des Gegebenen. Zugleich führt dieser Rückgriff in
ihren Augen zu einem starken semantischen Externalismus.57 Ich hoffe, dass der Hinweis
auf diese Gegensätze zeigen kann, dass die Juxtaposition von Bio- und Psychosemantik
irreführend ist. Zwar verfolgen beide Theorien das Projekt einer naturalistischen Antwort
auf Kants Frage, freilich unter ganz unterschiedlichen Bedingungen. Man kann Millikans
Biosemantik deshalb nicht als Reformulierung der Psychosemantik behandeln.
Aus den genannten Gründen erscheint mir eine Rekontextualisierung der Biosemantik
angebracht. Das oben angeführte zweite positive Zeugnis der Randexistenz der
Fodor 1987: 135ff.
Vgl. WQP: IV.
51 Vgl. WQP: III.
52 Vgl. Fodor 1994: I.
53 Vgl. WQP: II, Millikan 1991a, 2002d.
54 Vgl. Fodor 1987: 104ff., 2002.
55 Vgl. Fodor 2008.
56 Vgl. WQP: III. Ich komme auf die These, dass es in der Biologie keine Naturgesetze geben soll, in
Abschnitt 2.3. zu sprechen.
57 Sellars hat eine Kritik am Mythos des Gegebenen auf exemplarische Weise an Wahrnehmungserlebnissen
durchgeführt. Sellars argumentiert, dass Sinnesdaten, insofern sie Bestandteil einer kausalen durch
Naturgesetze regulierten Kette sind, nicht als epistemische Fundamente für Urteile mit begrifflichen Inhalten
dienen können. Epistemische Urteile können nur durch andere Urteile gerechtfertigt werden. Der Einbezug
bloßer Sinnesdaten als Begründern sei ein Fehler von der Art des naturalistischen Fehlschlusses in der Ethik
(Sellars 1997: 18f., 33ff.). Die Konsumentenorientierung der Biosemantik führt zu einer vergleichbaren Kritik.
Sensorische Inputs repräsentieren nicht ihre unmittelbaren Ursachen, sondern dasjenige, was ein Lebewesen
braucht, um zu gedeihen.
49
50
20
Biosemantik gibt einen Fingerzeig. Millikan bezeichnet sich als loyale Schülerin von
Sellars.58 Wie ich zeigen werde, kann eine Verortung der Biosemantik im Kontext der S
Sellarsianischen Philosophie ihre philosophische Motivation und ihren systematischen
Anspruch zur Geltung bringen. Die Biosemantik bietet einen Ansatz zu einer allgemeinen
Theorie der Zeichen.59 Als solche führt sie die Semiotik von Charles S. Peirce und Charles
W. Morris weiter. Auch diesen Kontext gilt es zu berücksichtigen. Damit wird sie in einen
ihr angemessenen Kontext versetzt, den die übliche Verbindung mit Fodors Projekt nicht
hergibt.60 Dies möchte ich in der zweiten Hälfte dieses Kapitels tun (1.2.1-1.2.7.).
Ein weiteres Problem für die Rezeption der Biosemantik stellen die Begriffe dar,
mit deren Hilfe ich die Teleosemantik eingangs charakterisiert habe, nämlich als
naturalistische, repräsentationalistische Theorie des Geistes, die auf einen teleologischen Begriff der
Funktion
zurückgreifen.
Was
soll
unter
„Repräsentation“,
„Teleologie“
und
„Naturalismus“ verstanden werden? Der Begriff der Repräsentation wird in den
Abschnitten 1.1.2.-1.1.3. eingeführt und differenziert. Eine Position des Naturalismus, die
ich als „Biologischen Naturalismus“ bezeichnen werde,61 und seine Verträglichkeit mit der
Teleologie werden in Kapitel 2 dargelegt und verteidigt. Es ist im Zuge dieser Darlegungen,
wie ich meine, unerlässlich, verbreitete Vorstellungen und Vorurteile zu Repräsentation,
Teleologie und Naturalismus auszuräumen. Denn es sind nicht zuletzt bestimmte
Vorstellungen und Vorurteile hinsichtlich dieser Begriffe, die einem positiven Verständnis
der Biosemantik im Wege stehen. Die Diskussion dieser Begriffe ist jedoch auch deshalb
unerlässlich, weil die meisten teleosemantischen Theoretikerinnen und Theoretiker, gerade
auch Millikan, sich fortwährend auf sie berufen, ohne sie zu reflektieren.
Dabei wird Wert auf die historische Erläuterung der Begriffe gelegt, und zwar
deshalb, weil es häufig bestimmte philosophiehistorische Narrative sind, die Vorstellungen
und
Vorurteile
speisen
und
am
Leben
erhalten.
Es
gibt
einen
einfachen
alltagshermeneutischen Grund für den Rückgriff auf die Philosophiegeschichte. Will man
verstehen, warum eine Person bestimmte Vorstellungen und Vorurteile unterhält, die man
vielleicht nicht teilt, und will man verstehen, warum eine Gruppe von Personen auf
bestimmte Themen auf eine Weise reagiert, die einen vielleicht befremdet, dann ist es
WQP: 310.
Vgl. LTOBC, Part II: „A General Theory of Signs“.
60 Die Juxtaposition von Biosemantik und Psychosemantik verdankt sich nicht zuletzt dem Bedürfnis,
Überblicke über die philosophische Landschaft zu geben. Philosophische Geografie und Topologie sind
wertvolle didaktische Werkzeuge, sie sollten aber keine kritischen Werkzeuge sein.
61 Die Großschreibung des Adjektivs ist wiederum, wie im Fall von „Echte Funktion“, ein Ausdruck davon,
dass der Begriff eine normative Dimension hat. Der Biologische Naturalismus ist eine darwinistische
Transformation von Sellars’ normativem Naturalismus (1.2.6.-1.2.7.) auf der Grundlage eines normativen
Verständnisses biologischer Funktionen.
58
59
21
hilfreich, sich eine Geschichte darüber erzählen zu lassen, wie diese Personen zu ihren
Vorstellungen und Reaktionen gelangt sind oder sich zu überlegen, wie diese Vorstellungen
und Reaktionen selbst entstanden sind. Auf diesem Weg gelangt man erstens über den
Dissens und das Befremden hinaus zu einem Verständnis der Vorstellungen und
Reaktionsweisen
dieser
Personen,
und
zweitens,
in
die
Position,
alternative
Rekonstruktionen der entsprechenden Geschichte (etwa der Philosophiegeschichte)
anbieten zu können, die die betreffenden Vorstellungen und Reaktionen abbauen können.
Das aus dieser alltagshermeneutischen Beobachtung folgende Prinzip lautet, dass
systematische philosophische Fragen und Positionen bzw. philosophische Vorurteile und
Reaktionen durch Nachvollzug ihrer historischen Genese verständlich bzw. durch das
Angebot alternativer historischer Erzählungen unschädlich gemacht werden können. Die
Philosophiegeschichte leistet so einen unabdingbaren positiven Beitrag für jedes
philosophische Projekt, dem es darum geht, ein Bild unserer Stellung in der Natur zu
zeichnen.
Ein dritter Grund für die Zurückweisung der Biosemantik – neben irreführenden
Kontextualisierungen und begrifflichen Vorurteilen – besteht natürlich in den oben
genannten Problemen. In einer bescheidenen und unterkomplexen Form kann die
Teleosemantik den für sie routinemäßig aufgeworfenen Problemen kaum Paroli bieten.
Darüber hinaus werden diese Probleme, wie gesagt, als theorieinterne Schwierigkeiten
betrachtet. Doch Theorien, die vorwiegend mit der Lösung der von ihr produzierten
Probleme befasst sind, können nur als „degenerierende Forschungsprogramme“ betrachtet
werden, nicht als produktive Forschungsprogramme. Die hier gewählte Strategie, diese
Probleme als Ausdruck grundlegender philosophischer Themen (und nicht als Ausdruck
häuslicher Zwistigkeiten) zu verstehen und die Biosemantik als explanatorisch und
unifikatorisch attraktiven Theorieansatz aufzufassen, soll die Mutmaßung zerstreuen, es
handle sich bei der Biosemantik um ein degenerierendes Projekt.
1.1.2. Repräsentation und Intentionalität
Teleosemantiken sind naturalistische Theorien der Intentionalität von mentalen – aber
auch anderen – Repräsentationen. Alle Versionen der Teleosemantik versuchen den
intentionalen Bezug einer Repräsentation auf ein Objekt unter Rückgriff auf einen
teleologischen Begriff der Funktion zu erklären. Teleosemantische Theorien sind
naturalistische Theorien, denn sie versuchen, eine Theorie des intentionalen Inhalts von
Repräsentationen zu entwerfen, die diesen Inhalt als Bestandteil der Natur, so wie sie von
22
den Naturwissenschaften aufgefasst wird, erklären soll. Intentionaler Inhalt wird
naturalisiert, indem für den repräsentationalen Inhalt einer Repräsentation angegeben wird,
warum eine bestimmte Repräsentation einen bestimmten Inhalt hat, ohne dass in der
Erklärung selbst auf ein intentionales Idiom zurückgegriffen wird. Hier trägt der Begriff der
teleologischen Funktion die Erklärungslast.
Der Begriff der Repräsentation ist mit zahllosen Missverständnissen und
Vieldeutigkeiten behaftet. Deshalb soll in diesem und im folgenden Abschnitt der
Repräsentationalismus der Biosemantik genauer charakterisiert werden. Zuerst will ich
mich dem Vorbehalt widmen, der Repräsentationalismus verfehle unsere alltäglichen
Redeweisen
über
Meinungen,
Gedanken,
Wünsche,
Absichten
usw.
Der
Repräsentationalismus entspricht im Gegenteil vollauf einer reflektierten Alltagseinstellung.
Anschließend soll der Vorbehalt ausgeräumt werden, der Repräsentationalismus sei eine
Art Beihilfe zu den Kognitions- und Neurowissenschaften. Der Repräsentationalismus
nimmt sich vielmehr einer altehrwürdigen philosophischen Frage an, die ich als „Kants
Frage“ bezeichnen und mit Brentanos Hilfe reformulieren werde. Sie lautet: Auf welchem
Grunde beruht die intentionale Beziehung einer mentalen Repräsentation auf ihren
Gegenstand? Die Hauptaufgabe des folgenden Abschnitts besteht dann darin, im
Anschluss an die Artikulation dieser Frage eine Reihe wichtiger Unterschiede im
Repräsentationsbegriff einzuführen, die für ein richtiges Verständnis der Biosemantik
bedeutend sind.
„Intentionalität“ und „Repräsentation“ sind Kunstworte aus der Erkenntnistheorie,
der Sprachphilosophie und der Philosophie des Geistes. Intentionalität ist die Eigenschaft
von Repräsentationen, sich auf etwas als etwas zu beziehen. Es hat den Anschein, dass wir
diese Eigenschaft normalerweise nicht Repräsentationen zuschreiben, sondern ganzen
Personen und ganzen Tieren: Karl bezieht sich in Gedanken auf die Maus im Estrich, die
Katze scheint in ihrem Verhalten auf die Maus im Estrich bezogen. Wodurch beziehen sich
Karl und die Katze auf die Maus? Eine in der Philosophie des Geistes verbreitete Antwort
lautet: durch „intentionale Zustände“, durch „mentale Repräsentationen“. Mentale
Repräsentationen sind intentionale Zustände, die sich auf etwas beziehen und einen
intentionalen Inhalt haben. Zustände mit einem solchen Inhalt sind Zustände von
intentionalen Systemen. Die Rede von „Zuständen“ ist oft genug auf bestimmte
intentionale Entitäten zugeschnitten, nämlich Überzeugungen, Wünsche, Absichten usw.
Bei den Systemen, die in diesen Zuständen sind oder diese Zustände haben, handelt es sich
paradigmatisch um Personen. Diese Redeweisen sind es, die auf den ersten Blick gerade in
der Anwendung auf Personen als künstlich erscheinen. Nicht die Zustände beziehen sich
23
auf etwas, sondern eine Person oder ein Tier. Führt nicht möglicherweise dieses Vokabular
einen großen Teil der Philosophie des Geistes auf einen Holzweg? Ich glaube, dieser
Eindruck ist oberflächlich, und diese künstliche Redeweise entfernt sich nicht weit von
gewöhnlicher Redeweise.
Wir schreiben Wünsche, Überzeugungen oder Absichten zwar Personen als
Ganzen zu, und nicht Teilen von Personen, wir können uns und andere jedoch auch
fragen, was jemand sich wünscht, was seine Ansichten über etwas sind oder worin seine
Absichten bestehen. Wir können über die Absichten, Wünsche und Ansichten von
Personen sprechen oder über sie nachdenken. Wir fragen uns dann etwa, was die „Inhalte“
seiner Wünsche, Absichten oder Ansichten sind. Worüber wir sprechen oder nachdenken,
wenn wir über die Absichten und Ansichten von Personen nachdenken, sind „mentale
Zustände“. Und es sind diese Absichten, Wünsche und Ansichten, die jenen Inhalt haben,
über den wir sprechen und nachdenken. Diese Differenzierungen treten eher zu Tage,
wenn wir uns hinsichtlich der Absichten und Ansichten anderer Gedanken machen und
Fragen stellen, als wenn wir anderen spontan Absichten und Ansichten unterstellen, wenn
wir uns also reflektierend auf andere beziehen. Wir können uns auch auf unsere eigenen
Absichten und Ansichten reflektierend beziehen, indem wir uns fragen, was wir eigentlich
wünschen, beabsichtigen oder über eine Sache denken. Da wir in der Philosophie ein
Vokabular benutzen wollen, um uns auf das, was sich andere Personen oder wir selbst
wünschen und denken, reflektierend zu beziehen, können wir es aus allgemeinen
Eigenschaften beziehen, die unsere alltäglichen Formen der Reflexion aufweisen.
Wir schreiben also beispielsweise einer Person P eine Absicht zu und dieser Absicht
einen Inhalt: P will einen Krimi kaufen. Indem wir der Absicht von P einen Inhalt
zuschreiben, können wir auf diese Absicht Bezug nehmen. Der Inhalt dessen, was P
beabsichtigt, individuiert die Absicht von P. Die Absicht von P motiviert und erklärt
beispielsweise auch Ps Handlungen. Was beabsichtigt P? P will einen Krimi kaufen, und
deshalb ist P in die Stadt gefahren. Der Inhalt dieser Absicht wird nicht P insgesamt
zugeschrieben, sondern allein der Absicht. Denn es ist nicht der ganze P, der seine
Handlung erklärt oder motiviert, sondern der Inhalt der Absicht von P.62 Eine weitere
Überlegung lautet: Hat P etwa sich widersprechende Absichten, so sagen wir zwar, dass
sich P in seinen Absichten widerspricht. Doch was sich widerspricht, sind die Absichten, P
62 Im Normfall und zur Beantwortung der Frage, warum P in die Stadt gefahren ist, reicht der Bezug auf seine
Absicht, um seine Handlung zu erklären. Die Absicht kann man also als Wunsch-Überzeugungspaar
auffassen, das aus einem Wunsch besteht einen Krimi zu kaufen, und aus der Überzeugung, dass in der Stadt
Krimis zu erwerben sind. Wenn wir jedoch weitere Fragen stellen wollen („Warum will P einen Krimi kaufen,
obwohl er noch über zehn ungelesene Krimis im Regal stehen hat?“) oder P in einem außergewöhnlichen
Zustand ist („P sollte doch im Bett bleiben.“) oder Ps Absicht anderen Absichten von P widerspricht („P hat
doch gesagt, er wolle diesen Montag nicht mehr in die Stadt fahren!“).
24
widerspricht sich via Inhalte. Wir sagen, dass P etwas beabsichtigt, also in einem
bestimmten Zustand ist, nämlich im Zustand des Beabsichtigens. Zwar gebrauchen wir den
Ausdruck „Zustand“ normalerweise für die ganze Person (P ist in einem aufgeregten
Zustand), doch wenn wir erklären wollen, warum P in einem aufgeregten Zustand ist, so
können wir beispielsweise auf die Inhalte seiner Überzeugungen Bezug nehmen: P denkt,
dass heute seine Familie zu Besuch kommt.
Der Inhalt einer Absicht kommt also nicht der ganzen P zu, sondern einem
Zustand von P. Es ist der Zustand, der von etwas handelt, sich auf etwas bezieht usw., der
einen Inhalt hat. Natürlich beabsichtigt P als ganze Person etwas, und nicht der Zustand.
Es wäre unsinnig zu sagen, dass die Absicht etwas beabsichtige. Doch das, was P
beabsichtigt, der Inhalt der Absicht, ist nicht ein Inhalt von P, sondern ein Inhalt seiner
Absicht. Es wäre unsinnig zu sagen, dass P als Person einen Inhalt hat. Wenn die Rede
davon, was Personen wollen, hoffen oder befürchten, zulässig ist, dann ist die reflektierte
Rede davon, welchen Inhalt ihre Absichten, Hoffnungen oder Befürchtungen haben,
keineswegs merkwürdig. Ebenso wenig ist es die Rede von „intentionalen Zuständen“ oder
„mentalen Repräsentationen“. Also kann man durchaus sagen, dass die Intentionalität von
Personen abhängig ist von ihren Zuständen. Vorausgesetzt, man will verstehen und
erklären, wie sich Lebewesen überhaupt auf etwas als etwas beziehen können. Wer ist es,
der dies verstehen will? Sicher sind dies die Kognitions- und Neurowissenschaften im
weitesten Sinne. Nur sind sie als solche nicht in der Lage, diese Frage zu klären.
Der Begriff der mentalen oder neuronalen Repräsentation fungiert seit geraumer
Zeit als theoretisch signifikanter Begriff in den Kognitions- und Neurowissenschaften. Ein
zentrales Anliegen dieser Wissenschaften besteht darin, Theorien darüber zu entwickeln,
wie natürliche oder künstliche „Agenten“ Informationen über ihre Umwelt zum Zweck
zielgerichteten Verhaltens speichern und prozessieren. Dabei werden Grundsatzdebatten
darüber geführt, ob die repräsentierte Information lokal oder verteilt gespeichert wird, ob
ihre Prozessierung komputational oder dynamisch verläuft, ob Computer oder Netzwerke
die geeigneten Prozessmodelle sind usw. Innerhalb der Kognitionswissenschaften gibt es
durchaus Herausforderungen an den theoretischen und praktischen Wert des Begriffs der
Repräsentation.63
Dennoch
sind
mentale
und
neuronale
Repräsentationen
als
explanatorische Entitäten ubiquitär. Doch diese Entitäten werden in den Kognitions- und
Neurowissenschaften eher zu explanatorischen Zwecken benutzt als selbst erklärt. Sie
bedürfen der Klärung: Was eigentlich sind Repräsentationen? Offenbar repräsentieren
63 Das Initialpapier gegen Repräsentation als Grundbegriff der Kognitionswissenschaften ist Brooks 1991;
kritisch dazu Clark und Toribio 1994.
25
Repräsentationen etwas, handeln von oder über etwas: Worin besteht die Natur dieser
Relation? Und offenbar gibt es unterschiedliche Arten von Repräsentationen: Worin
besteht die Natur mentaler oder neuronaler Repräsentationen?
Der größte Teil der Kognitions- und Neurowissenschaften geht heute von einer
repräsentationalistischen Theorie des Geistes aus. Gemäß einer repräsentationalistischen
Theorie des Geistes ist der Geist geradezu definiert als ein Vermögen zur Hervorbringung
von Repräsentationen. Geistige Zustände sind repräsentationale Zustände. Es gibt
zahlreiche unterschiedliche Arten von Repräsentationen: Worte, Sätze, Verkehrszeichen,
Theateraufführungen, Fotos oder Landkarten. Mit Sicherheit sind Sätze, Fotos und
Landkarten als solche keine geistigen oder neuronalen Zustände. Welche Art von
repräsentationalen Zuständen sind Zustände des Geistes oder Gehirns? Hier setzt die Rede
von „mentalen Repräsentationen“ ein. Doch an dieser Stelle droht ein definitorischer
Zirkel. Denn wenn der Geist ein Vermögen zur Hervorbringung von Repräsentationen
sein soll und diese Repräsentationen, im Unterschied zu anderen Arten der Repräsentation,
als mentale Repräsentationen aufgefasst werden, so hat man natürlich mit der Bestimmung,
der Geist sei ein Vermögen zur Hervorbringung von mentalen Repräsentationen, oder
mentale Repräsentationen seien Repräsentationen im Geist, nicht viel Aufschlussreiches
darüber gesagt, was mentale Repräsentationen sind.
Es ist auch nicht befriedigend, kognitive Fähigkeiten – wie die Aufnahme von
Informationen, deren Verarbeitung und deren Nutzung zur Verhaltenssteuerung – dadurch
zu erklären, dass der Geist oder das Gehirn jeweils bestimmte, diskrete Abbildungen formt
oder mithilfe einer Art Sprache des Geistes agiert oder seine aktuelle globale mentale
Landkarte laufend modifiziert, und dass der Geist oder das Gehirn mithilfe dieser
Repräsentationen die Umwelt, den Körper und die Relation zwischen Körper und Umwelt
darstellt und sich entsprechend orientiert. Denn die Klärung der ubiquitären Entität
„Repräsentation“ zielt auf die Natur von Repräsentationen. Zur Beantwortung dieser Frage
scheint auch die Auskunft nicht auszureichen, dass es zwischen gewöhnlichen
Abbildungen, den Worten und Sätzen einer natürlichen Sprache oder Landkarten auf der
einen Seite und den Strukturen und Prozessen im Geist oder im Gehirn auf der anderen
Seite nützliche Analogien gibt, denn diese Analogie beschwört bisweilen den Verdacht
herauf, dass es sich bei inneren Repräsentationen nur um metaphorische Geschöpfe
handelt, um Effekte von Sprachspielen, die nicht genuin explanatorisch sind.64 Es ist
weiterhin auch nicht ausreichend, auf die Frage, worin die Natur von Repräsentationen
bestehe, zu antworten, dass Lebewesen mithilfe von Repräsentationen Informationen aus
64
Vgl. Schneider 1998.
26
der Umwelt sammeln und sich diese zunutze machen. Denn wir wollten ja gerade wissen,
worin die Natur dessen besteht, das Lebewesen all dies ermöglicht. Schließlich reicht es
auch nicht aus, darauf zu verweisen, dass sich Millionen von Repräsentationen in der
Staatsbibliothek zu Berlin oder in meinem Gehirn finden. Wir fragten nach der Natur
dessen, was wir dort vorgeblich finden können.
Wie immer man den Beitrag empirischer Wissenschaften zu einer philosophischen
Beantwortung von Fragestellungen auch einschätzen mag (ich schätze ihn als sehr hoch
ein), sie können sicher keine entscheidende Rolle in der Beantwortung der Frage leisten,
worin die Relation zwischen einer Repräsentation und ihrem Objekt besteht, und was es
heißt, dass eine Repräsentation eine mentale Repräsentation ist. Die Teleosemantik
versucht auf diese beiden Fragen eine Antwort zu geben. Fragen über die Natur von
Repräsentationen lassen sich ganz unabhängig von der Positionierung zu den
Kognitionswissenschaften stellen und beantworten.65 Solche Fragen verweisen im
Gegenteil auf eine ehrwürdige philosophische Tradition.
In einem bekannten Brief an Marcus Herz vom 21. 2. 1772 hat Kant die Frage, wie
der Verstand eine Vorstellung von externen Gegenständen bilden könne, als „den Schlüßel
zu dem gantzen [sic] Geheimnisse, der bis dahin sich selbst noch verborgenen Metaphysik“
bezeichnet.66 Kants Frage lautet: „auf welchem Grunde beruhet die Beziehung desienigen
[sic], was man in uns Vorstellung nennt, auf den Gegenstand?“67 Kant bestreitet sowohl,
dass der Verstand Ursache des Gegenstands sein kann und er bestreitet auch, dass der
Gegenstand alleinige Ursache der Verstandesvorstellung sein könne. Kant besteht darauf,
dass Vorstellungen der Erfahrung Hilfe entlehnen müssen. Anders als in der Mathematik
oder in der Logik bringen nämlich beispielsweise sinnliche Vorstellungen ihre Gegenstände
und die Übereinstimmung mit diesen Gegenständen nicht selbsttätig hervor. Der Ausdruck
„Vorstellung“, den Kant in seiner Frage benutzt, ist eine Eindeutschung des lateinischen
Ausdrucks „repraesentatio“.68 Und „Verstand“ ist „intellectus“, nämlich das allgemeine
Vermögen, Vorstellungen hervorzubringen. In der gegenwärtigen Philosophie des Geistes
und in den Kognitionswissenschaften ist weniger von „Vorstellung“ oder „Verstand“ die
Rede, sondern vielmehr von „Repräsentation“ (representation), „Geist“ (mind) und „mentalen
Repräsentationen“ (mental representations). Nun geht es Kant im Brief an Herz noch nicht um
Vorstellungen im Allgemeinen, insbesondere noch nicht um sinnliche Vorstellungen, doch
vor dem Hintergrund der Entwicklung seines Denkens hin zur ersten Kritik kann man
Pace Cummins 1989: I.
AA X: 130.
67 AA X: 130.
68 KdrV B 376/ A 320 (AA III: 249).
65
66
27
Kants Frage als Frage nach dem Wesen der mentalen Repräsentation auffassen: Auf
welchem Grunde, beginnt sich Kant hier zu fragen, beruht die Beziehung einer mentalen
Repräsentation auf ihren Gegenstand?69
Bekanntlich hat Franz Brentano den Ausdruck „Intentionalität“ wieder in die
philosophische Diskussion aufgenommen. Dabei schließt er nicht nur an die durch
Aristoteles geprägten Diskussionen der Philosophie des Mittelalters an, sondern gibt auch
jenem Thema einen Titel, das die neuzeitlichen Philosophen von Descartes bis
Schopenhauer im Innersten beschäftigt hat. Ein Phänomen wird intentional genannt, wenn
es sich auf etwas bezieht, d.h. wenn es einen Bezugsgegenstand hat, wenn es von etwas
handelt, wenn es einen Inhalt hat. Über das Merkmal der Intentionalität verfügen
typischerweise geistige Zustände, wie Gedanken, Wahrnehmungen oder Wünsche. Man
kann die Intentionalität solcher Zustände wie folgt zum Ausdruck bringen: Wer denkt,
denkt an etwas, wer hört, hört etwas, wer wünscht, wünscht sich etwas. Wie Brentano sagt:
„In der Vorstellung ist etwas vorgestellt, in dem Urteile ist etwas anerkannt oder
verworfen, in der Liebe geliebt, in dem Hasse gehaßt, in dem Begehren begehrt usw.“70 Ein
Phänomen wird genau genommen erst dann intentional genannt, wenn es sich auf etwas als
etwas bezieht. Wenn ich sehe, sehe ich etwas als etwas, wenn ich denke, denke ich an etwas
als etwas und so weiter. Brentano versuchte, mithilfe des Begriffs der Intentionalität den
Gegenstandsbereich der Psychologie abzugrenzen, nämlich das Geistige. Er vertrat die
Auffassung, die Intentionalität sei „den psychischen Phänomenen ausschließlich
eigentümlich. Kein physisches Phänomen zeigt etwas Ähnliches.“71 Deshalb lautet Brentanos
These, dass Intentionalität das Merkmal des Geistigen ist. Brentano beschäftigte dabei u.a.
das Problem der intentionalen Inexistenz. Er war der Ansicht, dass geistige Phänomene
intentionale Inexistenz aufweisen. Der Begriff „Inexistenz“ soll nicht zum Ausdruck
bringen, dass intentionale Zustände von Dingen handeln können, die nicht (oder nicht
mehr oder noch nicht) existieren.72 Vielmehr geht es darum, dass das Objekt eines
intentionalen Zustands oder Akts, dasjenige, worauf der Geist gerichtet ist, im Geist selbst
existiert. Jeder intentionale Zustand, jeder intentionale Akt enthält „etwas als Objekt in
sich“.73 Im Hören eines Tons beispielsweise ist der gehörte Ton (ein physisches Ereignis)
im Akt des Hörens (ein geistiges Phänomen) enthalten. Wird jedoch nur ein Ton
halluziniert, so ist der Geist allein auf ein geistiges Phänomen gerichtet, ohne dass diesem
ein physisches Ereignis zugrunde liegt. Obwohl der Begriff der intentionalen Inexistenz das
Zu Kants Brief und seiner Entwicklung hin zur kritischen Philosophie vgl. Haag 2007: 43ff.
Brentano 1973, Bd. 1: 125.
71 Brentano 1973, Bd. 1: 125.
72 Dies wird oft falsch verstanden, etwa von Tye 1995: 94f.
73 Brentano 1973, Bd. 1: 125.
69
70
28
Phänomen der Fehlrepräsentationen nicht direkt bezeichnet, wie oft irrtümlicherweise
angenommen wird, kann man ihn doch als eine Reaktion auf ein entscheidendes Merkmal
von Repräsentationen auffassen. Repräsentationen können sowohl wahr als auch falsch
sein. Wie ist das möglich? Im Fall einer Fehlrepräsentation ist der Geist auf ein
intentionales Objekt gerichtet, dem kein physisches Ereignis entspricht.
Kants Frage kann als eine Variante des Problems der Intentionalität betrachtet
werden, und sie lässt sich entsprechend reformulieren: Auf welchem Grunde beruht die
intentionale Beziehung einer mentalen Repräsentation auf ihren Gegenstand? Es ist diese Frage, die ich
von jetzt an als „Kants Frage“ bezeichnen will. Kants erste Kritik und die Teleosemantik
teilen also ihre Ausgangsfrage.74 Kants Frage entsprechend muss die Teleosemantik den
Grund des intentionalen Bezugs von Repräsentationen angeben können. Kants Redeweise
von einem Grund kann man wohl so verstehen, dass es ihm um die Rechtfertigung unseres
Anspruchs auf die Gültigkeit des Gegenstandsbezugs von Vorstellungen (der
Intentionalität geistiger Zustände) auf Gegenstände zu tun war. Anders formuliert:
Welchen Grund können wir dafür angeben, dass Gegenstandsbezug tatsächlich Bezug auf
Gegenstände ist? Kant fragt also nicht einfach nach einer kausalen Grundlage für die
Relation zwischen Repräsentation und Objekt, sondern er fragt nach einer Rechtfertigung
für unsere unausgesprochen immer schon in Anspruch genommene Ansicht, dass die
Beziehung
auf
den
Gegenstand
tatsächlich
vorliegt.
Oder
in
der
transzendentalphilosophischen Formulierung: Worin liegt die Bedingung der Möglichkeit
der Beziehung von Vorstellungen auf ein Objekt? Natürlich folgt die Biosemantik nicht der
transzendentalphilosophischen Fragestellung. Doch dies bedeutet keineswegs, dass sie
lediglich nach einer kausalen Grundlage für die Relation zwischen Repräsentation und
Objekt sucht. Wie bereits am simplen Bakterienbeispiel deutlich wird, kann die aktuale
kausale Relation zwischen den Magnetosomen und sauerstoffarmen Wasserschichten keine
Rolle in der Festlegung des Inhalts dieser repräsentationalen Strukturen spielen.
Entscheidend ist vielmehr die Funktion des Konsumenten der Struktur. Diese Funktion
wird erklärt durch die Evolutionsgeschichte des Konsumenten. Es geht der Biosemantik
also, anders als Kant, nicht in erster Linie um Fragen der Rechtfertigung, sondern der
Integration repräsentationaler Zustände in die Natur. Der springende Punkt besteht darin,
dass diese Integration zugleich zeigen kann, inwiefern Repräsentationen eine normative
Dimension haben können.
74 Die Teleosemantik und Kants dritte Kritik teilen eine zweite für die Teleosemantik grundlegende Frage:
Wie ist die Zweckmäßigkeit von Naturprodukten zu verstehen? Die natürliche Teleologie werde ich u.a. im
Hinblick auf die Kritik der teleologischen Urteilskraft in Abschnitt 2.1. diskutieren.
29
Durch die Fokussierung auf die Sprache, die sich im Verlauf des 20. Jahrhunderts in
der Philosophie durchgesetzt hat, wurde Kants Frage durch die Frage ersetzt, wie die
Sprache gleichsam Zugriff auf die Welt haben kann. Die Biosemantik ist wesentlich eine
Theorie, die Kants Frage (sowohl in der mentalistischen als auch in der sprachlichen
Fassung) unter Rückgriff auf Darwins Theorie der Evolution (durch Natürliche Selektion)
zu beantworten versucht. Da die Teleosemantik eine naturalistische Theorie ist, versucht
sie das Problem auf andere Art und Weise zu lösen als der transzendentalphilosophische
Ansatz von Kant es tut. Es wurde gesagt, die Teleosemantik versuche Brentanos heiße
Kartoffeln aus dem Feuer zu holen.75 Das ist zwar salopp, doch treffend formuliert.
Andererseits ist der Bezug zu Brentano für die Teleosemantik in verschiedener Hinsicht
eine Quelle der Irreführung. An dieser Stelle möchte ich darauf eingehen, in welchen
Hinsichten der Bezug auf Brentano irreführend ist. Drei solche Hinsichten sind relevant:
Brentano zufolge weist kein physisches Phänomen Intentionalität auf. Damit
scheint ausgeschlossen, dass physische Systeme als solche Intentionalität aufweisen
können. Es reicht jedoch zu sagen, dass die Intentionalität für das Geistige charakteristisch
ist. Diese Formulierung bleibt gegenüber den unterschiedlichen Spielarten des
Naturalismus neutral. Falls beispielsweise das Geistige auf das Physische zurückgeführt
werden könnte, würden manche physischen Entitäten Intentionalität aufweisen, nichtgeistige physische Entitäten hingegen nicht. Brentano scheint auch biologische Systeme als
physische Systeme zu verstehen. Falls das Geistige ein biologisches Merkmal ist, haben
manche Lebewesen einen Geist, andere Lebewesen hingegen nicht. Und diese letzte
Position soll im Folgenden in der Tat vertreten werden.
Brentano betrachtet Intentionalität nicht nur einfach als ein für den Geist
charakteristisches Merkmal, sondern als das unterscheidende Merkmal des Geistigen, das
den Geist von allen anderen Phänomenen unterscheidet. Alle geistigen Zustände und nur
geistige Zustände sind intentional. Das sind zwei Thesen. Die erste These lautet, dass alle
geistigen Zustände intentional sind, die zweite These lautet, dass nur geistige Zustände
intentional sind. Tatsächlich sind einige Teleosemantiker der Ansicht, dass alle geistigen
Zustände intentionale Zustände sind.76 Andere bestreiten dies im Hinblick auf
phänomenale Zustände.77 Als „Intentionalismus“ kann man die These bezeichnen, dass alle
geistigen Zustände, gleich welcher Art, intentionale Zustände sind. Es ist freilich
umstritten,
ob
sich
auch
die
qualitativen
oder
phänomenalen
Aspekte
von
Wahrnehmungen, Körperempfindungen, Gefühlen, Stimmungen vollständig als intentional
Vgl. Walsh 2002.
Vgl. Tye 1995; Dretske 1995.
77 Vgl. McGinn 1989; Neander 1998.
75
76
30
beschreiben und erklären lassen oder nicht. Zunächst ist es sicher fair zu sagen, dass es
einfach unklar ist, ob Empfindungen wie Vergnügen, Schmerz oder Nervosität von
irgendetwas handeln oder nicht. Sie können beispielsweise von körperlichen Zuständen
oder von generellen Erfahrungsweisen der Welt handeln. Aber erscheinen sie uns denn so?
Und ist nicht gerade die Erscheinungsweise für phänomenale Zustände entscheidend? Der
Intentionalismus hat jedoch einen Vorteil: Er ist nicht gezwungen, unter dem Begriff des
Geistes eine lediglich nominale Einheit heterogener Elemente zu fassen, wie das häufig in
der gegenwärtigen Philosophie des Geistes der Fall ist. Wenn wir so reagieren, müssen wir
einen Weg finden, geistige Phänomene zu charakterisieren, der die zugrunde liegende
Einheit ihrer Klassifizierung als geistig abbildet. Der Gedanke beispielsweise, dass das
Phänomenale und das Intentionale zwei verschiedene Dinge sind, verzichtet auf einen
einheitlichen Gegenstand. Der Intentionalismus hingegen charakterisiert den Geist als
einen einheitlichen Untersuchungsgegenstand. Aus diesen Gründen erscheint der
Intentionalismus zunächst als attraktive Option.78 Der zweiten These zufolge weisen nur
geistige Zustände Intentionalität auf. Dagegen spricht, dass auch einfache Organismen auf
etwas als etwas gerichtet sein können, wie wir bereits anhand der Diskussion der
bakteriellen Magnetosome gesehen haben, und dass auch Worte, Sätze, Verkehrszeichen,
Bilder oder Landkarten dies tun. Doch weder beim Bakterium noch bei Artefakten handelt
es sich in einem landläufigen Sinn um Geistiges. Nun könnte man sagen: einfachen
Lebewesen kommt Intentionalität nur im Modus des Als-ob zu, und Artefakte erhalten ihre
Intentionalität von ihren Benutzern. Nur geistige Zustände sind Träger ursprünglicher
Intentionalität, Lebewesen und Artefakte hingegen sind lediglich Inhaber abgeleiteter
Intentionalität. Andere Theoretiker geben der Sprache den Vorrang. Ursprüngliche
Intentionalität kommt der Sprache zu, innere geistige Zustände oder das Verhalten von
Tieren haben in einem analogen Sinne Intentionalität. Die Biosemantik unterschreibt
keinen dieser Vorschläge. Zugespitzt könnte man sagen, dass sie aufgrund ihrer
darwinistischen
Perspektive
primitiven
Organismen
ursprüngliche
Intentionalität
zuschreibt; Personen und Zeichensysteme haben nur als historische Nachfolger einfacher
Lebewesen Intentionalität. Sowohl Personen als auch intelligenten Tieren kommt
Intentionalität zu. Sowohl einfachen Organismen wie Bakterien als auch subpersonalen
biologischen Prozessen kommt Intentionalität zu. Sowohl sprachliche als auch andere
Zeichensysteme sind Systeme mit Intentionalität, die nicht ausschließlich von ihren
Erfindern oder Benutzen abgeleitet ist. Man könnte auch sagen, dass die Biosemantik eine
78
Ich werde in Kapitel 5 dafür argumentieren, dass der Intentionalismus verworfen werden muss.
31
strikte Unterscheidung zwischen ursprünglicher und abgeleiteter Intentionalität bestreitet,
und zwar einfach deswegen, weil der Unterschied nicht klar gezogen werden kann.79
Obschon intentionale Inexistenz nicht dasselbe bedeutet wie Fehlrepräsentation,
werden Brentano und die Teleosemantik doch von einem ganz ähnlichem Problem
umgetrieben, nämlich von der Frage nach dem Wesen der Intentionalität. Nun finden wir
bei Brentano sowohl die Interpretation der Intentionalität als Gerichtetsein auf etwas als
etwas, als auch die Interpretation des intentionalen Akkusativs durch den Begriff der
intentionalen Inexistenz. Dies klingt ganz so, als würde es sich um Objekte im Geist
handeln, mithin um genuin geistige Objekte, auf die intentionale Zustände gerichtet sind.
Richtet sich der Geist auf ein Objekt, das nicht existiert (einen Ton, der als physisches
Ereignis jetzt gerade nicht existiert), so richtet er sich immer noch auf ein Objekt, nämlich
gleichsam auf den Ton als mentales Ereignis. Die Biosemantik hingegen bestreitet, dass
eine Lösung des Problems der Fehlrepräsentation auf die Annahme solcher mentaler
Objekte angewiesen ist. Leere, falsche oder halluzinatorische Repräsentationen handeln
nicht von einem Objekt mit besonderem ontologischen Wohnsitz („im“ Geist), es handelt
sich vielmehr um Repräsentationen, die ihre Echte Funktion nicht erfüllen können und
deshalb nicht repräsentieren.80 Ein Vergleich mag hier hilfreich sein: Eine Kaffeemaschine
kann ihre Funktion bisweilen nicht erfüllen, sei es, weil sie defekt ist oder weil die
Bedingungen nicht gegeben sind, die sie zur Ausübung ihrer Funktion braucht (vielleicht ist
das Mahlwerk verklemmt, vielleicht ist kein Wasser im Tank). Repräsentationen haben
Echte Funktionen, die sie aus denselben Gründen bisweilen nicht erfüllen können. Leere,
falsche oder halluzinatorische Repräsentationen werden dadurch erklärt, dass eine
Repräsentation ihre Funktion nicht ausüben kann und nicht durch ihre Gerichtetheit auf
ein mentales Objekt. Wenn eine Repräsentation etwas repräsentiert, das nicht existiert, dann
nicht deshalb, weil sie etwas Nichtexistentes repräsentiert, sondern weil sie nicht oder
nichts repräsentiert. (Zum Vergleich: Das Mahlwerk mahlt nicht, wenn es verklemmt ist,
und es mahlt nichts, wenn keine Kaffeebohnen vorhanden sind.)
Versteht man die Biosemantik also als den Versuch, Brentanos heiße Kastanien aus
dem Feuer zu holen, so muss man dies mit den genannten Einschränkungen (oder besser:
VM: I-II.
Nicht alle mentalen Repräsentationen haben die Funktion, etwas in dem Sinne zu repräsentieren, dass es
falsch oder wahr sein kann. Konative Repräsentationen repräsentieren einen Zustand, der herbeigeführt
werden sollte, damit die Repräsentation erfüllt wird, nicht einen Zustand, der vorliegen muss, damit die
Repräsentation wahr ist. Wie steht es mit Produkten der Einbildungskraft? Stellt man sich beispielsweise ein
Musikstück vor, dann gibt es prinzipiell zwei Möglichkeiten. Entweder das vorgestellte Musikstück ist eine
Repräsentation eines gehörten Musikstücks. Dann stellt sich die Frage, ob das gehörte Stück richtig oder
falsch vorgestellt wird. Oder man stellt sich ein Musikstück ohne Vorlage vor. Dies ist ein kreativer Akt, keine
Repräsentation, es handelt sich um eine Äußerung unseres Vorstellungsvermögens, die nicht die Funktion
hat, etwas zu repräsentieren. Ich werde in Kapitel 3 etwas über die Funktion der Vorstellungskraft sagen.
79
80
32
Erweiterungen) tun. Das Merkmal intentionaler Zustände besteht darin, dass sie wahr oder
falsch sein können. Das Problem der Intentionalität ist deshalb das Problem der
Fehlrepräsentation. Repräsentationen haben die Eigenschaft der Intentionalität, insofern
sie falsch oder wahr sein können. Intentionalität ist jedoch ein Merkmal, das nicht allein
dem Nicht-Physischen oder Nicht-Biologischen zukommen kann. Intentionalität ist ein
Merkmal, das nicht nur Geistigem, sondern allen Arten von Repräsentationen zukommt,
insofern sie wahr oder falsch sein können. Die biosemantische These lautet, dass die
Intentionalität subpersonaler, tierlicher, mentaler oder sprachlicher Repräsentationen eine
biologische Kategorie ist, sie kommt biologischen Systemen in einem weiten Sinne zu,
nämlich Systemen mit Echten Funktionen. Schließlich ist Intentionalität kein Merkmal, das
die Existenz mentaler Objekte impliziert. Intentionalität ist ein Merkmal von Zuständen
mit Echten Funktionen. Eine Fehlrepräsentation handelt nicht von einem mentalen
Objekt, sondern erfüllt ihre Funktion als Repräsentation nicht.
Der Liberalismus der Biosemantik lässt natürlich eine der oben gestellten Fragen
umso dringender werden: Was heißt es, dass etwas eine mentale Repräsentation ist?
Millikans Terminologie schwankt. In LTOBC bezeichnet sie nur jene Zustände und
Strukturen als Repräsentationen, die in etwa Überzeugungen und Aussagen entsprechen.
Andere Repräsentationen werden als „Zeichen“ oder „Icons“ bezeichnet. An anderen
Stellen benutzt sie den Ausdruck „Repräsentation“ jedoch für alle Vehikel oder verwendet
„Zeichen“ und „Repräsentation“ als austauschbar. Sie ist jedoch der Ansicht, dass mentale
Repräsentationen, wie etwa Menschen sie benutzen, sehr anspruchsvolle Kriterien erfüllen
müssen.81 Sie hebt insbesondere die Fähigkeit zur Identifikation des Objekts einer
Repräsentation hervor.82 Das ist der erste und entscheidende Aspekt für das Vorliegen
mentaler Repräsentationen. Man kann auf einer höherstufigen Ebene jedoch auch den
Aspekt betonen, dass in erster Linie Wesen mit bestimmten Formen von Selbstbewusstsein
(nämlich als Bewusstsein von eigenen mentalen Zuständen) Wesen mit Geist sind.83
Aus den Kommentaren zu Brentano ergibt sich noch eine andere Schwierigkeit.
Wir haben gesehen, dass Fehlrepräsentationen sich auf keine besonderen mentalen Objekte
beziehen, sondern nichts repräsentieren. Doch wenn wir etwa an die vollkommene visuelle
Halluzination einer Szenerie denken, so scheint für das erlebende Subjekt kein Unterschied
zu einer veridischen visuellen Wahrnehmung dieser Szenerie zu bestehen. In beiden Fällen
scheint es dem Subjekt, als würde seine Wahrnehmung etwas repräsentieren, und zwar
beide Male dieselbe Szenerie. Wie kann diese Ununterscheidbarkeit erklärt werden, wenn
Vgl. LTOBC: 96; WQP: IV; VM: XVIII-IX.
Vgl. dazu die Ausführungen in Kapitel 5.
83 Vgl. das „Schimpansenargument“ für Selbstbewusstsein bei Tieren in 4.4.
81
82
33
veridische Repräsentationen etwas repräsentieren, halluzinatorische hingegen nicht (visuelle
Halluzinationen bei Blinden) oder nichts (visuelle Halluzinationen bei Sehenden)
repräsentieren? Wie wir sehen werden lautet die Antwort, dass der Intentionalismus falsch
sein muss: Phänomenale Eigenschaften sind keine intentionalen Eigenschaften einer
Repräsentation (5.1.3.4., 5.1.5.3. 5.3.2.3.).
1.1.3. Repräsentationaler Inhalt und intentionaler Inhalt
Die Kognitions- und die Neurowissenschaften können, wie wir gesehen haben, als solche
keine Antworten auf die beiden folgenden Fragen geben: Worin besteht die intentionale
Relation zwischen einer Repräsentation und ihrem Objekt? Die Teleosemantik versucht,
auf diese Frage eine Antwort zu geben. Das Problem, das sich in dieser Frage verbirgt,
kann auf stark vereinfachte Weise eingeführt werden, indem man von einer überaus
einfachen Theorie der Repräsentation ausgeht. Nehmen wir an, dass der Bezug eines
Wortes – sicher eine Repräsentation im gebräuchlichsten Sinne des Ausdrucks – auf den
von ihm bezeichneten Gegenstand durch eine kausale Relation hergestellt werde. So
repräsentiert beispielsweise das Wort „Hund“ Hunde, weil es durch Hunde verursacht
wird, oder besser, weil sein Gebrauch durch Hunde verursacht wird. Man kann diesen
Vorschlag eine „simple kausale Theorie der Repräsentation“ (SKTR) nennen. Die
Probleme für SKTR liegen jedoch auf der Hand. Ich verweise auf fünf Probleme:
1. Äquivokation. Es gibt eine Menge von Ursachen dafür, dass eine Person, die Deutsch
spricht, das Wort „Hund“ gebraucht. So kann sie das Wort gebrauchen, weil sie einen
niederträchtigen Menschen sieht und ihn beschimpfen möchte. Das ist eine einfache
Fassung des Äquivokations-Problems für SKTR. Da ein und dasselbe Wort („Hund“)
zwei unterschiedliche Bedeutungen hat (es verweist auf Hunde und niederträchtige
Personen), kann die Bedeutung des Wortes nicht einfach in seiner Ursache bestehen.
Doch dieses Problem kann man leicht dadurch umgehen, dass man zwischen zwei
Worten unterscheidet, nämlich „Hund1“ (das Tier) und „Hund2“ (der Niederträchtige).
Außerdem gebrauchen wir „Hund2“ wohl in Abhängigkeit von „Hund1“, und nicht
umgekehrt.
2. Überdetermination.
Doch
selbst
wenn
wir
zwischen
verschiedenen
Verwendungsweisen von „Hund“ unterscheiden, so kann doch der Gebrauch dieses
Wortes auch durch ganz andere Dinge verursacht werden als durch Hunde. Vielleicht
wird er durch eine Frage verursacht, durch eine plötzliche Assoziation oder durch
34
Katzen. Die jeweiligen Ursachen des Wortgebrauchs können also sicher nicht festlegen,
worin die Bedeutung des Wortes besteht.
3. Fehlrepräsentation. Eine Person kann den Ausdruck „Hund“ auch dann gebrauchen,
wenn sie (fälschlicherweise) glaubt, das Tier vor ihren Augen (ein Schakal) sei ein
Hund. Wenn das Wort „Hund“ sich auf das bezieht, wodurch es (sein Gebrauch)
verursacht wird, so bedeutet das Wort sowohl Hund als auch Mensch als auch Schakal.
Dies ist eine einfache Version des Disjunktions-Problems für die simple kausale
Theorie der Referenz, weil die Bedeutung von „Hund“ so etwas wie „Hund oder
Mensch oder Schakal“ wäre.
4. Qua-Problem. Die Annahme ist sicher nicht unplausibel, dass der Gebrauch des
Wortes „Hund“ etwas mit der tatsächlichen kausalen Beziehung zu Hunden in der
Sprachgemeinschaft oder in der Biografie einer Sprecherin zu tun hat. Der Bezug des
Wortes „Hund“ in einer Sprachgemeinschaft wird durch Begegnungen mit einem
Hund kausal festgelegt. Mythisch gesprochen: Adam taufte dieses Tier vor seinen
Augen (einen Hund) auf den Namen „Hund“, und dadurch wurde die Bedeutung des
Wortes festgelegt. Doch was hat Adam mit dem Wort „Hund“ benannt? Nehmen wir
an, Adam habe auf einen Border Collie gedeutet. Doch dann wären Jack Russell keine
Hunde. Oder hat er nicht vielmehr ein schwarz-weißes, vierbeiniges Tier mit
buschigem Schwanz und spitzem Gesicht als „Hund“ bezeichnet? Doch dann wären
auch Stinktiere Hunde. Oder hat er auf ein Raubtier verwiesen? Wären dann Panther
auch Hunde? Hier handelt es sich um eine einfache Version des Qua-Problems für die
simple kausale Theorie der Referenz, weil nicht klar ist, qua welcher Beschreibung des
Bezugsgegenstandes die Bedeutung von „Hund“ ostentativ festgelegt wird. (Wird der
Bezugsgegenstand durch eine ausführliche Beschreibung der Spezies Hund festgelegt,
handelt es sich nicht mehr länger um eine kausale, sondern um eine deskriptive Theorie
der Referenz.)
5. Abgeschlossenheit der Lernperiode. Schließlich könnte man (was ebenfalls eine gewisse
Plausibilität beanspruchen darf) die Lerngeschichte für den Gebrauch von „Hund“ mit
einbeziehen. Der Novize wird durch einen Meister in die korrekte Wortverwendung
eingewiesen, indem der Meister den Novizen mit Aufgaben versieht und ihn
entsprechend korrigiert oder lobt. Zu einem bestimmten Zeitpunkt hat der Novize den
Gebrauch des Wortes selbst gemeistert und die Lernperiode ist vorüber. Doch wann ist
die Lernperiode vorüber? Wenn der Novize keine Fehler mehr begeht? Es wäre jedoch
merkwürdig, wenn zum reifen Gebrauch eines Wortes die Möglichkeit gehören würde,
keinen Irrtümern mehr zu unterliegen. Wenn der Novize überwiegend richtig liegt?
35
Doch es könnte durchaus sein, dass die Lernjahre mehr richtige Verwendungen
aufweisen als die Meisterjahre.84
Mit diesen fünf Problemen sind nicht alle Probleme für SKTR genannt. Die erste
Folgerung aus dieser Aufzählung besteht darin, dass der Hinweis auf eine kausale Relation
für sich genommen keine Antwort auf die Frage nach dem Grund des Bezugs einer
Repräsentation auf ein Objekt geben kann, und daran ändern weitere Probleme natürlich
nichts. Die zweite und wichtigere Konsequenz besteht darin, dass sich ein den fünf
Problemen gemeinsamer Kern abzeichnet. Wir wollten eine Antwort auf die Frage geben,
wie der Ausdruck „Hund“ Hunde repräsentieren kann, ohne eine Menge anderer Dinge
wie niederträchtige Personen, Stinktiere oder Schakale mit einzuschließen, und ohne Dinge
auszuschließen, bei denen es sich um Hunde handelt, und ohne den intentionalen Inhalt
der Repräsentation durch dasjenige festzulegen, was ihr Inhalt sein soll. Der Kern dieser
Probleme besteht darin, einer Repräsentation einen korrekten Inhalt zuzuweisen. Können
wir einer Repräsentation einen korrekten Inhalt zuweisen, dann haben wir nur die
gewünschten Dinge ausgeschlossen, nämlich die inkorrekten Inhalte (niederträchtige
Personen, Stinktier, Schakal), nicht aber die korrekten Inhalte (Jack Russell). Die Kernfrage
lautet deshalb: Wie können Repräsentationen falsch sein? Diese Frage zielt auf die
Intentionalität als Eigenschaft von Repräsentationen. Sie zielt auf den Grund der
„Beziehung desienigen [sic], was man in uns Vorstellung nennt, auf den Gegenstand“. Sie
formuliert das Problem der Fehlrepräsentation. (Das Disjunktionsproblem ist, wie wir in
Abschnitt 1.1.1. bereits gesehen haben, lediglich eine besondere Formulierung dieses
Problems.)
An dieser Stelle kommt die Teleosemantik ins Spiel und erklärt, dass das Problem
der Fehlrepräsentation unter Rückgriff auf einen teleologischen Begriff der Funktion zu
lösen ist. Der Ausdruck „teleologisch“ bezieht sich hier auf Folgendes: Ein Begriff ist
teleologisch, insofern er angibt, wozu etwas dient, und dadurch erklärt, warum Dinge
dieses Typs vorhanden sind. Das, wozu eine Repräsentation dient (ihre Funktion),
bestimmt ihren Inhalt, und der so bestimmte Inhalt ist der korrekte Inhalt der
Repräsentation. Ähnlich wie ein Instrument seine Funktion erfüllen oder nicht erfüllen
kann, kann auch eine Repräsentation ihre Funktion erfüllen oder nicht erfüllen. Mit der
Funktion wird einer Repräsentation der korrekte Inhalt zugewiesen. Der korrekte Inhalt ist
Die Annahme einer Lernperiode liegt Dretskes erstem Versuch einer Bestimmung des intentionalen Inhalts
von Begriffen und Überzeugungen zugrunde (vgl. Dretske 1981: 22-231). Erst aufgrund der Kritik in Fodor
1990: II ist Dretske zu einer teleologischen Lösung des Irrtumsproblems übergegangen (vgl. Dretske 1986,
1988: 64-70, 1995: 28; 2000: 213-216), nicht ohne, dass dem Lernen nach wie vor eine wichtige Rolle zukäme
(vgl. Dretske 1988: 95-107, 2000: 235-240 und Dretskes Antworten in McLaughlin 1991: 200-210).
84
36
der intentionale Inhalt, d.i. der Bezug der Repräsentation auf etwas als etwas. Doch die
Teleosemantik ist keine Theorie, die neben SKTR oder neben anderen naturalistischen
Theorien der Repräsentation ihrerseits eine Antwort auf Kants Frage versucht:
„Frequently [teleosemantic] theories have been classified as either picture theories,
causal or covariation theories, information theories, functionalist or causal role
theories, or teleological theories, the assumption being that these various categories
are side by side one another. But they are not. Teleological theories are specific
forms of one or another, or of some combination, of the other kinds of theories.
What teleological theories have in common is not any view about the nature of
representational content, that is, about what makes a mental representation
represent something. What they have in common is only a view about how
falseness in representations is possible.“85
Die Teleosemantik geht vielmehr von einer Theorie der Repräsentation aus und fügt ihr
dann einen teleosemantischen Zusatz hinzu, der das Problem der Fehlrepräsentation lösen
soll. Es ist deshalb irreführend, über die naturalistischen Antwortversuche von Kants Frage
zu sagen:
„Vielleicht handelt es sich – wie Dretske zunächst vermutete – um eine
informationale Beziehung; vielleicht ist es aber auch – wie Fodor meint – eine kausale
Beziehung; vielleicht hat Millikan Recht, nach der es sich […] um eine teleologische
Beziehung handelt; vielleicht ist aber auch ein Mix aus all diesen verschiedenen
Beziehungen für die Intentionalität mentaler Repräsentationen verantwortlich.“86
In diesem Zitat wird die teleologische Relation als eine Form der Relation neben
informationale, kausale und gemischte Relationen gestellt. Das ist ein Kategorienfehler. Es
wäre auch falsch zu sagen, die Biosemantik sei (etwa im Gegensatz zu Fodors
Psychosemantik) eine gemischte Theorie der Intentionalität, denn sie erklärt die
Intentionalität von Repräsentationen durch Funktionen allein, und nicht durch einen Mix
von Funktion und einer anderen Zutat. Es ist trotzdem irreführend zu sagen, dass es sich
bei der intentionalen Beziehung um eine teleologische Beziehung handle, weil die
Beziehung zum Objekt durch Isomorphie-Relation (durch ein abstraktes Abbild) hergestellt
wird, wie wir in diesen Abschnitt noch sehen werden. Die Teleosemantik ist auch nicht auf
eine kausale Theorie der Repräsentation angewiesen. Auch wenn der Teleosemantik die
Aufgabe zukommt, eine Erklärung dafür zu geben, wie Repräsentationen falsch sein
können, bedeutet dies keineswegs, dass ihr die Aufgabe zukommt, zu erklären, wie eine
kausale Theorie der Repräsentation das Problem der Fehlrepräsentation lösen könnte. Es
gibt mehr als nur kausale Theorien. Millikan verweist im vorletzten Zitat auf
unterschiedliche Optionen, nämlich „picture theories, causal or covariation theories,
85
86
Millikan 2009a: 394.
Barz 2006: 194.
37
information theories, functionalist or causal role theories“. Teleosemantiken unterscheiden
sich u.a. darin, welcher Repräsentationstheorie sie zu Hilfe kommen. So geht etwa Dretske
von einer Informationstheorie der Repräsentation aus, Tye von einer Kovarianztheorie,
Millikan von einer Abbildtheorie.87
Wir müssen also unterscheiden zwischen der Frage, was eine Repräsentation zu
einer Repräsentation macht, und der Frage, wie eine solche Repräsentation falsch sein
kann. Diese beiden Punkte sind äußerst wichtig, denn sie deuten an, dass verschiedene
Aspekte einer Repräsentation zu unterscheiden sind. Intuitiv kann man sagen: Eine
Repräsentation steht für etwas. Da wir uns für Intentionalität interessieren, müssen wir
sagen: Eine Repräsentation steht für etwas als etwas. Und da wir uns letztlich für mentale
Repräsentationen interessieren, können wir erweiternd sagen: Eine Repräsentation steht für
etwas als etwas für jemanden.88 Ich werde jetzt einige unterscheidende Begriffe einführen, die
diese Unterschiede explizit festhalten sollen. Diese Begriffe werden hilfreich sein, wenn es
darum geht, den komplexen Begriffsapparat der Biosemantik darzulegen.
1. R-Vehikel. Die Repräsentation oder das Zeichen selbst. Hierbei handelt es sich um das
„Repräsentations-Vehikel“ (R-Vehikel). Naturalistischen Theorien zufolge handelt es
sich dabei um materielle Zustände oder Ereignisse (Hirnstrukturen, Laute usw.). Die
Vehikel-Frage lautet: Was macht einen materiellen Zustand oder ein Ereignis zu einem
R-Vehikel, im Unterschied zu materiellen Strukturen oder Ereignissen, die keine RVehikel sind? R-Vehikel haben einen Inhalt. Diesen können wir, um ihn vom
intentionalen Inhalt des Vehikels zu unterscheiden, als „R-Inhalt“ bezeichnen. Es wird
sich im unmittelbaren weiteren Verlauf deutlicher zeigen, warum die Unterscheidung
zwischen zwei Arten von Inhalt wichtig ist.
2. P-Mechanismus. R-Vehikel sind Strukturen oder Ereignisse, die von etwas
hervorgebracht werden. Sie werden von einem repräsentationalen Mechanismus
produziert, modifiziert oder transformiert. Weil solche Mechanismen R-Vehikel
produzieren, kann man sie als „P-Mechanismen“ bezeichnen.
3. K-Mechanismus. Was befähigt ein System (einen Organismus) aufgrund eines RVehikels, bestimmte Dinge zu tun? Das R-Vehikel muss als etwas interpretiert werden,
das etwas als etwas repräsentiert, und zwar von einem Mechanismus, der den R-Inhalt
auf diese Weise interpretiert und es dem System aufgrund des so interpretierten RVgl. die Abschnitte 1.1.4. und 1.2.6.
Ich habe damit die Repräsentation dem Begriff des Zeichens angenähert, wie Peirce ihn verwendet: „A
sign, or representamen, is something which stands to somebody for something in some respect or capacity.“
(CP 2.228.) Wie wir noch sehen werden, entspricht dies durchaus der pragmatistisch-semiotischen Tradition,
der die Biosemantik entstammt (vgl. 1.2.1.-1.2.5).
87
88
38
Inhalts eines Vehikels erlaubt, bestimmte Dinge zu tun. Interpretierende Mechanismen
sind ebenfalls Bestandteile eines Systems. Millikan nennt solche Mechanismen
„Konsumenten“, weil sie die vom P-Mechanismus erzeugten R-Vehikel benutzen. Ich
werde von „K-Mechanismen“ sprechen.89
4. R-Ziel. Das repräsentierte Objekt, die repräsentierte Eigenschaft, die repräsentierte
Tatsache ist dasjenige, worauf die Repräsentation zielt. Cummins spricht vom „Ziel“
(target) einer Repräsentation.90 Ich werde den Ausdruck „Repräsentations-Ziel“
verwenden (R-Ziel). Die Ziel-Frage lautet: Wodurch wird ein bestimmtes R-Ziel
festgelegt?
Der intentionale Inhalt der Repräsentation (IR-Inhalt) ist nun kein eigenes Element neben
den genannten Elementen. Ich habe in der Diskussion von Brentanos These bereits gesagt,
dass intentionale Inhalte keine eigenen Objekte sind. Der IR-Inhalt ergibt sich aus dem
Zusammenspiel der genannten Elemente. Bringt ein P-Mechanismus ein R-Vehikel hervor
mit dem von einem K-Mechanismus interpretierten R-Inhalt, dass ein bestimmtes R-Ziel
vorliegt (mithin: mit einem IR-Inhalt), dann kann das System, wenn das R-Ziel vorliegt,
bestimmte Dinge tun bzw. es kann diese Dinge nicht tun, wenn das R-Ziel nicht vorliegt
oder auf andere Weise, als der IR-Inhalt angibt. Was sagt einem System, dass ein
bestimmtes R-Ziel vorliegt? Nun, der K-Mechanismus interpretiert den R-Inhalt eines RVehikels als Repräsentation eines bestimmten R-Ziels. Biosemantisch ausgedrückt ist es die
Echte Funktion des K-Mechanismus, der den R-Inhalt des R-Vehikels intentional
bestimmt. Effektiv verhilft der K-Mechanismus dem System dazu, bestimmte Dinge zu
tun. Damit der K-Mechanismus diese seine Funktion ausüben kann, muss das R-Vehikel
ein bestimmtes R-Ziel repräsentieren, mithin einen IR-Inhalt haben. Es ist also der KMechanismus (qua Echte Funktion), der den R-Inhalt des R-Vehikels intentional bestimmt.
Der IR-Inhalt ist dabei eine bestimmte Facette des R-Inhalts, nämlich jene Facette, die der
K-Mechanismus braucht, um seine Funktion ausüben zu können. Nun liegt es auf der
Hand, wie Fehlrepräsentationen entstehen. Sie entstehen, wenn ein IR-Inhalt vorliegt, nicht
aber das durch ihn angegebene, bestimmte R-Ziel, sondern ein anderes R-Ziel oder kein RZiel.
Ein Beispiel (auf das ich im Abschnitt 5.1.3.3. ausführlich zu sprechen kommen
werde) kann das Zusammenspiel der unterschiedenen Elemente veranschaulichen.
Schnappt ein Frosch nach einem kleinen, dunklen, vorbei fliegenden Bleikügelchen (R89 Peirce spricht von „interpretieren“ und bezeichnet Konsumenten als „Interpretanten“. Die Unterscheidung
zwischen K-Mechanismus und einem System, zu dem diese Mechanismen gehören, entspricht der
Unterscheidung zwischen Interpretant und Interpret von Morris, vgl. 1.2.4.
90 Vgl. Cummins 1996.
39
Ziel), weil sein Auge (P-Mechanismus) sich in einem Zustand (R-Vehikel) befindet, der
besagt, dass Froschfutter (etwa in der Gestalt dessen, was wir als „Fliege“ bezeichnen
würden) vorbeischwirrt (IR-Inhalt), dann kann der Frosch nicht tun, was er normalerweise
mit dem, worauf der IR-Inhalt zielt, tut, nämlich verdauen. Was der Frosch braucht, ist
Futter (nicht Blei). Der K-Mechanismus, der dem Frosch Futter zuführt, ist das
Verdauungssystem. Damit das Verdauungssystem seine Funktion (verdauen) ausüben kann,
muss das Froschauge sich in einem Zustand befinden, der etwas für den Frosch
Verdaubares repräsentiert, nämlich Froschfutter. (Damit der K-Mechanismus seine
Funktion ausüben kann, muss der P-Mechanismus ein R-Vehikel hervorbringen, das etwas
für das System Nützliches repräsentiert, und das ist der IR-Inhalt. Liegt ein anderes R-Ziel
vor, als der IR-Inhalt angibt, liegt ein Fall von Fehlrepräsentation vor.) Produziert das
Froschauge einen Zustand, der auf Bleikügelchen zielt, so kann es dem Verdauungssystem
nicht anzeigen, was es braucht, um seine Funktion ausüben zu können. Der IR-Inhalt ist
Froschfutter, doch das aktuelle R-Ziel ist das Bleikügelchen. Das R-Vehikel repräsentiert
falsch, und der Frosch bekommt nicht, was bekommen sollte. Dies trifft nicht auf den RInhalt des Vehikels zu. Das Vehikel repräsentiert ein kleines, schwarzes, bewegtes Objekt.
Ob es sich bei diesem Objekt um ein Bleikügelchen oder um eine Fliege handelt, spielt auf
dieser Ebene keine Rolle. Es spielt erst eine Rolle im Hinblick auf den K-Mechanismus.
Ein R-Vehikel repräsentiert also jenes R-Ziel, das zu repräsentieren es die Funktion
hat. Durch die Funktion wird der IR-Inhalt des R-Vehikels festgelegt. Dies verbindet alle
teleosemantischen Theorien. Wodurch erhält das R-Vehikel diese Funktion? Hier trennen
sich die Pfade, denn es gibt zwei Möglichkeiten: die Funktion des Vehikels ist abgeleitet
entweder von der Funktion des P-Mechanismus oder von der Funktion des KMechanismus. Für die konsumentenorientierte Biosemantik ist es entscheidend, dass die
Festlegung des IR-Inhalts eines R-Vehikels von der Funktion des K-Mechanismus
abgeleitet wird. Dem hingegen leitet sich der R-Inhalt des R-Vehikels von der Funktion des
P-Mechanismus ab.
Betrachten wir das genauer. Warum unterscheidet die Biosemantik R-Inhalt von
IR-Inhalt? Es ist eine Sache zu sagen, warum etwas ein R-Vehikel ist, denn hier geht es um
die Frage „what makes a representation represent something“. Doch es ist eine andere
Sache anzugeben, wie ein R-Vehikel falsch sein kann, „how falseness in representations“
möglich ist. Teleosemantiken erklären, wie der R-Inhalt eines R-Vehikels eine intentionale
Dimension (einen IR-Inhalt) haben kann. Millikan verweist, wie wir gesehen haben, auf
unterschiedliche Optionen für die Bestimmung des R-Inhalts: „picture theories, causal or
covariation theories, information theories, functionalist or causal role theories“.
40
Abbildungs-, Kausal,- Informationsrelationen und funktionale Relationen bestehen
zwischen vielen natürlichen Strukturen und Prozessen. Betrachten wir Millikans bevorzugte
Theorie der Repräsentation, die Abbildtheorie.91 Der Schatten eines Baumes bildet den
Baum ab, denn es bestehen Isomorphie-Relationen zwischen der Gestalt des Schattens und
der Gestalt des Baums. Diese Isomorphie-Relationen unterliegen einer systematischen
Transformation, die mit dem Verhältnis zwischen Baum und Sonne korrespondiert. Der
Schatten, den ein Baum wirft, ist ein Muster, das durch bestimmte Baum-und-SonnenBedingungen produziert wird und mit diesen Bedingungen über Transformationen hinweg
korrespondiert. Doch der Schatten ist als solcher keine Repräsentation des Baums (auch
wenn er als Repräsentation des Baums verwendet werden kann). Er ist kein R-Vehikel,
auch wenn Abbildungsrelationen zwischen der Gestalt des Schattens und der Gestalt des
Baums bestehen. Denn der Schatten ist nicht das Produkt eines P-Mechanismus, der die
Funktion hat, solche Muster zu produzieren. Demgegenüber ist das Muster auf der
Netzhaut der Augen eines Lebewesens, das den Schatten sieht, ein R-Vehikel. Es hat (als
Zustand des P-Mechanismus) die Funktion, Muster zu repräsentieren, die durch die
Verteilung von Lichtintensität in der Umwelt entstehen. Zwischen dem Muster auf der
Netzhaut und dem Schattenmuster bestehen ebenfalls Isomorphie-Relationen. Da solche
Relationen transitiv sind, bestehen sie auch zwischen dem Netzhautmuster und der
Baumgestalt. Auch wenn es die Funktion der Netzhaut ist, bestimmte Muster (R-Vehikel)
zu produzieren, und es nicht die Aufgabe der Baum-und-Sonnen-Bedingung ist, bestimmte
Muster (Schatten) zu produzieren (deshalb handelt es sich bei dem Schatten nicht von sich
aus um R-Vehikel), so haben wir immer noch keinen IR-Inhalt für das R-Vehikel, denn das
Netzhautmuster unterhält Isomorphie-Relationen zu zahlreichen Strukturen, nicht nur zum
Schatten, sondern auch zum Baum. Etwas ist also ein R-Vehikel, wenn es zwei
Bedingungen erfüllt:
(1) Ein R-Vehikel ist eine Struktur, die andere Strukturen abbildet.
(2) Ein R-Vehikel wird von einem P-Mechanismus hervorgebracht, der die Echte
Funktion hat, Strukturen hervorzubringen, die andere Strukturen abbilden.
Der Schatten scheidet aufgrund von (2) als Kandidat für ein R-Vehikel aus, das Auge bleibt
im Spiel. Doch die innere Struktur, die das Froschauge produziert, wenn es (beispielsweise)
auf eine Fliege reagiert, bildet zahlreiche externe Strukturen ab. Welche dieser
Abbildrelationen ist die entscheidende? Auch wenn ein P-Mechanismus die Funktion hat,
91
Vgl. LTOBC: V, WQP: 287, VM: VI, LBM: V.
41
R-Vehikel hervorzubringen, die repräsentieren, indem sie abbilden, so ist damit noch nicht
gesagt, welches dieser zahlreichen R-Ziele jenes Ziel ist, das den IR-Inhalt des R-Vehikels
darstellt. Die zentrale These der Biosemantik lautet, dass der IR-Inhalt eines R-Vehikels im
eben definierten Sinne durch die Funktion des K-Mechanismus festgelegt wird. IR ist im
Auge des Konsumenten.92 Der IR-Inhalt liegt im Auge des Konsumenten. Das R-Vehikel
muss ein bestimmtes R-Ziel repräsentieren, damit der K-Mechanismus seine Funktion für
das ganze System ausüben kann.
Die genannten Repräsentationstheorien sind also Theorien über R-Inhalt, nicht
über IR-Inhalt, denn keine dieser Theorien kann, für sich genommen, das Problem der
Fehlrepräsentation lösen. Eine Repräsentationstheorie, die dieses Problem lösen soll, muss
über eine normative Dimension verfügen, doch keine dieser Theorien hat als solche eine
normative Dimension. Die normative Dimension muss ins Spiel kommen, weil eine
Repräsentation ja sozusagen die Aufgabe hat, einen bestimmten Gegenstand zu
repräsentieren. Doch eine Repräsentation kann diese Aufgabe auch nicht erfüllen, sie kann
auftauchen, ohne dass der Gegenstand, den sie repräsentiert, vorhanden wäre. Sie erfüllt
dann die Aufgabe nicht, die sie erfüllen sollte. Darin liegt die normative Dimension der
Repräsentation. Diese normative Dimension ist, abstrakt gesprochen, ein Maß, von der die
Repräsentation abweichen kann. Deshalb ist das Problem der Fehlrepräsentation ein
„Normativitätsproblem“93 Ohne eine normative Dimension (ohne die Möglichkeit der
Fehlrepräsentation) hat eine Repräsentation keinen IR-Inhalt, keinen ihr zugeeigneten
Gegenstand. Woher hat die Repräsentation jedoch das Maß, von dem sie (als
Fehlrepräsentation) abweichen kann? Die aufgezählten Repräsentationstheorien nennen
lediglich aktuale oder potenzielle Beziehungen zwischen einem R-Vehikel und
irgendwelchen Korrelaten, oder sie verweisen auf aktuale oder potenzielle funktionale
Beziehungen zwischen R-Vehikeln. Sie können deshalb nicht erklären, warum einem RVehikel die Aufgabe zukommt, ein R-Ziel zu repräsentieren, ein korrektes R-Ziel zu haben.
Erst dadurch erhalten R-Vehikel Inhalt im strikten Sinne, nämlich einen IR-Inhalt. Als RInhalt ist der Inhalt eines R-Vehikels unbestimmt, erst als IR-Inhalt ist er bestimmt. Und
nur, wenn ein R-Vehikel einen bestimmten Inhalt hat, kann es auch falsch repräsentieren,
und hat mithin einen IR-Inhalt. Im Folgenden werde ich deshalb bestimmten intentionalen
Inhalt eines Vehikels (den IR-Inhalt) bisweilen tout court als „Inhalt“ ansprechen, niemals
den unbestimmten repräsentationalen Inhalt (den R-Inhalt).
92
93
Dank an Martin Lenz für diesen Slogan!
WQP: 3.
42
Selbst für Philosophen, die die eben eingeführten Unterscheidungen beherzigen,
scheint der Begriffsapparat der Biosemantik immer noch gehörige Schwierigkeiten zu
bereiten. Es ist jedoch wichtig, dass wir uns hier nicht von Anfang an in Verwirrungen
verstricken und die Biosemantik mit anderen Positionen verwechseln und die
Unterscheidungen durcheinander bringen. Vor allem müssen K-Mechanismen und das
System, zu dem sie gehören, auseinandergehalten werden. Betrachten wir zu diesem Zweck
die grobe Formulierung des teleosemantischen Zusatzes zu Theorien der Repräsentation
durch Mark Rowlands. Diese Formulierung berücksichtigt sowohl die produzenten- als
auch die konsumentenorientierte Teleosemantik:
„An item r [das R-Vehikel] qualifies as representational [als einen IR-Inhalt
habend] only if it has the proper function either of tracking the feature or state of
affairs s that produces it, or of enabling an organism or other representational
consumer to achieve some (beneficial) task in virtue of tracking s.“94
Rowlands selbst geht von einer repräsentationalen Theorie der zuverlässigen Kovarianz
(tracking) aus, der zufolge R-Vehikel r Informationen über ein Merkmal oder einen
Sachverhalt s tragen. Für produzentenorientierte Versionen ist für die Intentionalität die
Echte Funktion der P-Mechanismen entscheidend. P-Mechanismen haben die Echte
Funktion, bestimmte Input-Bedingungen anzuzeigen. Das angeführte Vehikel r ist ein
Produkt eines P-Mechanismus. Rowlands Formulierung ist unglücklich, weil sie den
Anschein erweckt, als wäre s selbst der Produzent des R-Vehikels. Das ist natürlich
teleosemantisch unsinnig. Der Baum wirft einen Schatten und derselbe Baum affiziert die
Netzhaut eines Lebewesens. Das Schattenmuster ist kein R-Vehikel, das Netzhautmuster
hingegen ist ein R-Vehikel. Der Produzent des Netzhautmusters ist, im technischen Sinne
der Biosemantik, nicht der Baum und nicht der Schatten, sondern das Auge (bzw. ein
bestimmter P-Mechanismus des Auges).
Der P-Mechanismus hat aus Sicht der konsumentenorientierten Biosemantik
lediglich die Funktion, R-Vehikel hervorzubringen. Der K-Mechanismus braucht die RVehikel für bestimmte Aufgaben. Gemäß der konsumentenorientierten Version haben die
Produkte des P-Mechanismus einen unbestimmten R-Inhalt, aber keinen bestimmten IRInhalt. Bezogen auf Rowlands Formulierung des teleosemantischen Zusatzes gilt, dass r nur
dann ein R-Vehikel ist, wenn r von einem P-Mechanismus hervorgebracht wird, der die
Funktion hat, solche Vehikel hervorzubringen. Doch für den IR-Inhalt verantwortlich ist
die Funktion des K-Mechanismus, nicht die (vom P-Mechanismus abgeleitete) Funktion
des Vehikels r. Rowlands betont deshalb zu Recht, dass „the notion of a representational
94
Rowlands 2006: 127.
43
consumer“ von größter Bedeutung für die Biosemantik ist.95 Nur nicht unter Ausschluss
des Produzenten. Konsumentenorientierte Versionen verzichten keineswegs auf PMechanismen, denn diese bringen R-Vehikel hervor, ohne die K-Mechanismen ihre
Funktionen nicht erfüllen könnten. Produzenten sind für den R-Inhalt verantwortlich,
Konsumenten für den IR-Inhalt.
Nun
sagt
Rowlands
in
dem
oben
angeführten
Zitat
über
die
konsumentenorientierte Teleosemantik: „An item r qualifies as representational only if it
has the proper function […] of enabling an organism or other representational consumer to
achieve some (beneficial) task in virtue of tracking s.” Merkwürdig ist die Formulierung
„enabling an organism or other representational consumer to achieve some (beneficial) task“. Was
meint Rowlands? Er ist der Ansicht, dass der biosemantische Begriff des Konsumenten
mehrdeutig ist. Deshalb das „or“. Um dies darzulegen verwendet Rowlands ein Beispiel
von Millikan.96
Der Schwanz des Bibers (die „Biberkelle“) erfüllt Funktionen beim Schwimmen
oder bei der Temperaturregulierung. Doch klatscht der Biber seine Kelle heftig aufs
Wasser, tauchen andere Biber sofort unter. Es scheint, dass das dabei erzeugte Geräusch
(nennen wir es „Kellenschlag“) Gefahr signalisiert und die Artgenossen vor dieser Gefahr
warnt, denn andere Biber reagieren auf den Kellenschlag und tauchen unter. Wie die
Reaktion zeigt, hat die Biberkelle also noch eine weitere Funktion: mit ihrer Hilfe warnen
Biber vor Gefahr. Was ist der Konsument des Kellenschlags? „The most obvious answer
is: other beavers. The consumers of the representations are, thus, other organisms.“97 Und
zwar handle es sich um „personal-level consumers“.98 Natürlich sei die Reaktion der
anderen Biber vermittelt durch subpersonale Mechanismen. Das Gehör nimmt das Signal
auf, leitet es ans Zentralnervensystem weiter, und ein Bereich im Motorkortex löst das
Abtauchen aus. „So, in addition to personal consumers – other beavers – we also have
subpersonal consumers.“99 Im Unterschied zu diesen subpersonalen Mechanismen seien
nur die personalen Konsumenten, nämlich die Organismen im Ganzen, für den Nutzen
einer Repräsentation empfänglich.
Doch der Gedanke, dass es sich bei einem Konsumenten um den ganzen
Organismus handelt, ist aus der Perspektive der Biosemantik unsinnig. Ein Konsument hat
95 Rowlands 2006: 132. Rowlands verweist auf den wichtigen Gedanken, dass produzenten- und
konsumentenorientierte Versionen der Teleosemantik nicht inkompatibel sein müssen: „there is no necessary
incompatibility between stimulus- and benefit-based accounts of representation“ (Rowlands 2006: 132). Auf
diesen wichtigen Hinweis werde ich in Kapitel 5 zurückkommen.
96 Vgl. WQP: IV.
97 Rowlands 2006: 132.
98 Rowlands 2006: 133.
99 Rowlands 2006: 133.
44
eine Echte Funktion, d.h. eine selektierte Wirkung. Organismen haben als Ganze keine
Echten Funktionen. Folglich kommen Echte Funktionen nicht den Organismen als
Ganzen zu. Echte Funktionen kommen Merkmalen oder Äußerungen von Organismen zu.
Durch die Wirkungen dieser Merkmale und Äußerungen haben bestimmte Organismen
einer Art im Unterschied zu anderen überlebt, und das erklärt, warum ein bestimmtes
Merkmal oder eine bestimmte Äußerung vorhanden ist. Natürlich muss der Organismus
relativ zu anderen Organismen ein Verhalten an den Tag legen, das ihm irgendeinen
Nutzen verschafft. Dieses Verhalten ist verursacht durch einen Mechanismus, der die
Echte Funktion hat, das betreffende Verhalten auszulösen. Dieser Mechanismus ist der KMechanismus. Natürlich schreiben wir das Verhalten100 dem Organismus zu, und natürlich
schreiben wir auch den Nutzen dem Organismus zu, denn die selektierte Wirkung eines KMechanismus muss dem Organismus dienen. Aus diesem Grund existiert der KMechanismus. Nur ist es dazu mitnichten erforderlich, dass wir dem ganzen Organismus eine
Echte Funktion zuschreiben. Es ist teleosemantischer Unsinn einem ganzen Organismus
eine solche natürliche Funktion zuzuschreiben.101 Ganze Organismen sind nur in einem
vagen – wie Rowlands sagt: „obvious“ – Sinne die Konsumenten von R-Vehikeln. Sie sind
keine K-Mechanismen im technischen Sinne der Biosemantik, vielmehr sind Organismen
Systeme mit K-Mechanismen. Es gibt deshalb diesbezüglich keine Ambiguität im Begriff
des Konsumenten.102
Wir haben einige wichtige Missverständnisse im Hinblick auf die Darstellung der
Biosemantik ausgeräumt und uns dabei bemüht, den Repräsentationsbegriff differenziert
zum Einsatz zu bringen. Dabei haben wir auch gesehen, dass und inwiefern die
Biosemantik
eine
konsumentenorientierte
Version
der
Teleosemantik
ist.
Die
Missverständnisse bestehen in der Gleichstellung der Biosemantik mit Theorien der
Repräsentation, ihrem Verständnis als Zusatz allein zu einer kausalen Theorie der
Repräsentation, und dem Gedanken, dass Organismen Konsumenten sind. Hinsichtlich
des Repräsentationsbegriffs hat sich als wichtiges Resultat ergeben, dass wir zwischen dem
unbestimmten R-Inhalt von R-Vehikeln und dem bestimmten IR-Inhalt unterscheiden
müssen, und dass die Biosemantik sowohl P-Mechanismen als auch K-Mechanismen einen
Platz einräumt.
100 Doch Verhalten ist, wie wir in Abschnitt 1.2.5. sehen werden, der Prozess des Auslösens von
Bewegungsabläufen und Bewegungsabbrüchen durch eine innere Ursache mit einer Direkten Echten
Funktion. Das Verhalten hat entsprechend eine Abgeleitete Echte Funktion.
101 Organismen kommen Cummins-Funktionen in einem Superorganismus oder in einem Biotop zu;
Organismen kommen kulturelle Funktionen in einer Kultur zu.
102 Eigentlich handelt es sich in dem Biberbeispiel um eine „Pushmi-pullyu-Repräsentation“ (vgl. LBM: IX).
Ihr Inhalt ist in etwa „Gefahr-hic-et-nunc-Abtauchen-hic-et-nunc“. Diese Art der Repräsentation ist gleichsam
janusköpfig. Vgl. dazu Abschnitt 5.1.2.
45
Ich möchte mich zum Schluss dieses Abschnitts mit einer unberechtigten
Einschränkung gegenüber der Biosemantik auseinandersetzen. Zu Beginn dieses
Abschnitts wurde gesagt, dass Teleosemantiken repräsentationalistische Theorien der
Intentionalität von mentalen – aber auch von anderen – Repräsentationen seien. Der
kursivierte Zusatz ist wichtig. Manchmal wird die Teleosemantik als „teleologische Theorie
des mentalen Gehalts“ bezeichnet, etwa in Neanders Charakterisierung: „There are a
number of different teleological theories of mental content […] it’s central to all of them
that a certain normative notion of function underwrites a certain normative notion of
content.“103 Aus dieser Charakterisierung folgt jedoch nicht, dass alle Versionen der
Teleosemantik teleologische Theorien nur des mentalen IR-Inhalts sind. Auch die Worte
und Sätze einer natürlichen Sprache oder die Farben und Zeichen einer Landkarte sind
Repräsentationen, deren Bezug auf Objekte und Sachverhalte die Teleosemantik zu
erklären versucht; doch dieser Bezug ist nicht prima facie ein mentaler Bezug, der IR-Inhalt
sprachlicher und kartografischer Repräsentationen ist nicht prima facie mentaler Inhalt. Die
Biosemantik erhebt durchaus den Anspruch gerade auch externe Signale und Symbole
(oder äußere intentionale Zeichen) einzubeziehen.
Es ist wichtig, sich von Anfang an klar zu machen, auf welche Weise Millikan
sprachliche
Repräsentationen
naturalistische)
philosophische
einbezieht.
Theorien
Zahlreiche
der
(naturalistische
Intentionalität
und
betrachten
nichtmentale
Repräsentationen als basal, sprachliche Repräsentationen als derivativ. Solche Theorien
erklären zuerst, worin der Inhalt von mentalen Repräsentationen besteht (paradigmatisch:
von Überzeugungen) und betrachten die Bedeutung von Äußerungen oder Sätzen einer
natürlichen, öffentlichen Sprache (paradigmatisch: von Aussagesätzen) als „Ausdruck“ von
mentalen Zuständen oder Äußerungsabsichten als dasjenige, was Äußerungen (in
bestimmten Kontexten) Bedeutung „verleiht“ usw. Diese mentalistische Auffassung des
Verhältnisses von Gedanken und Sprache steht lingualistischen Positionen gegenüber, die
behaupten, dass bestimmte oder alle Formen mentaler Repräsentationen sprachfähiger
Wesen von einer öffentlichen Sprache entwicklungsgeschichtlich oder sogar konstitutiv
abhängig sind. Lingualistische Positionen gehen von logischen Verbindungen zwischen
Denken und Sprechen aus. Man kann diverse Ausprägungen dieser Position
unterscheiden.104 Entweder wird das Sprechen einer Sprache als Konstitutionsbedingung
für Gedanken angenommen, sprachlose Wesen können dann keine Gedanken haben.105
Oder das Sprechen einer Sprache wird als Erkenntnisbedingung für Gedanken aufgefasst,
Neander 2006: 550.
Vgl. Wild 2006: 4ff.
105 Dies ist der Ansatz, der von Brandom 1994 und 2000b verfolgt wird.
103
104
46
sodass Wesen, die nicht sprechen, in einem epistemologischen Sinne keine Gedanken
haben können: Es fehlt einfach die ausschlaggebende Zuschreibungsbedingung für das
Haben von Gedanken, deshalb bleibt es schlicht unbestimmt, ob sprachlose Wesen
Gedanken haben. Wir haben kein anderes Mittel, auf Gedanken zu schließen, als dass ein
Wesen spricht. Das Sprechen ist keine Bedingung für das Haben von Gedanken
schlechthin, sondern für die Zuschreibung.106 Schließlich gibt es die Option, dass Sprechen
und
Denken
ko-emergent
sind,
entweder
indem
sie
beispielsweise
entwicklungsgeschichtlich betrachtet gemeinsam entstanden sind, oder indem sie
begrifflich voneinander abhängen.
Wie verhält sich Millikans Biosemantik zu den eben skizzierten Optionen? In
gewisser Weise steht ihr Ansatz quer zu der groben Unterscheidung zwischen
mentalistischen und lingualistischen Positionen. In ihrem Ansatz sind mentale
Repräsentationen insofern basal, als er es nicht nur erlaubt, sprachlosen Lebewesen
mentale Repräsentationen sui generis zuzuschreiben, sondern auch sprachfähigen Wesen
sprachunabhängige mentale Repräsentationen zuzuschreiben. Und tatsächlich hat der
Mentalismus im Gegensatz zum Lingualismus den überragenden Vorteil, dass er es erlaubt,
auch sprachlosen Lebewesen mentale Repräsentationen sui generis zuzuschreiben. Doch die
Worte und Äußerungen einer öffentlichen Sprache werden hier nicht lediglich als
„Ausdruck“ mentaler Repräsentationen betrachtet, ihnen wird Bedeutung nicht primär
durch Sprecherabsichten „verliehen“. Und im Gegensatz zu lingualistischen Positionen
sieht Millikan die Sprache weder als begrifflich konstitutiv noch als epistemologisch
kriterial für Gedanken. Der wesentliche Punkt besteht darin, dass Systeme mentaler
Repräsentationen und Systeme sprachlicher Repräsentationen prinzipiell als voneinander
unabhängig betrachtet werden können:
„I take language and thought to stand largely parallel to one another. For example,
the intentionality of each is defined independently of that of the other: thought is
possible without language, and language is possible that does not convey thought.
On the other hand, public language is not merely a stimulus to the development of
thought. It is constitutive of developed human thought.“107
Im Prinzip kann die Intentionalität äußerer Zeichen (wie Wörter und Sätze) ganz
unabhängig von der Intentionalität innerer Zeichen (wie Überzeugungen und Wünsche)
verstanden und untersucht werden. Folglich steht nicht die Frage der Abhängigkeit
zwischen Denken und Sprache im Vordergrund, sondern die Interaktion zwischen den
106
107
Dies ist der Ansatz, der von Descartes verfolgt wird, vgl. dazu Wild 2006: 182ff.
LBM: 92.
47
mentalen und den sprachlichen Repräsentationen, die sprachfähige Lebewesen ausbilden
und verwenden.
Die Biosemantik erschöpft sich also nicht in einer repräsentationalistischen Theorie
des Geistes. Diese Beobachtung ist wichtig. Verbindet man nämlich Repräsentationalismus
und Teleosemantik und richtet seinen Blick allein auf mentale Repräsentationen, so
ergeben sich zwei Thesen: (i) Alle mentalen Zustände sind repräsentationale Zustände. (ii)
Repräsentationale Zustände sind Zustände mit teleologischen Funktionen. Aus (i) ergibt
sich ein Schlussschema, das es erlaubt, von Aussagen der Art „S hat die Überzeugung, dass
p“ auf Aussagen der folgenden Art zu schließen: „S hat ein R-Vehikel r“. Dagegen wird
gerne der folgende Einwand erhoben: Der Repräsentationalismus führt zu einer abstrusen
Vervielfältigung von mentalen Vehikeln.108 So entspricht beispielsweise jeder einzelnen
Überzeugung, die wir einer Person zuschreiben, ein einzelnes R-Vehikel. Nun haben
Personen eine Unmenge von impliziten Überzeugungen: Sie glauben, dass Julius Cäsar nie
auf dem Mond gewesen ist, dass Elefanten nicht auf Bäumen wachsen, dass sie kleiner sind
als Saturn oder dass sie in ihrem Leben noch viele Male niesen werden. Vermutlich hat
kaum jemand irgendeine dieser Überzeugungen jemals ausdrücklich in Betracht gezogen.
Doch auf Anfrage würden die allermeisten Personen sagen, dass sie diese Dinge glauben.
Wir alle haben unzählige solcher dispositionalen Überzeugungen. Ist es nicht absurd
anzunehmen, dass jeder solchen Überzeugungen ein R-Vehikel in uns entsprechen muss?
Ob dies absurd ist oder nicht, die Biosemantik ist nicht auf diese Konsequenz festgelegt.
Personen mit Überzeugungen bilden nicht nur Überzeugungen aus, sondern sie treffen
auch Aussagen. Die Disposition auf die Frage, ob man glaube, dass Elefanten auf Bäumen
wachsen, mit der Äußerung „Nein“ zu reagieren, bedeutet nicht, dass die Person die
entsprechende mentale Repräsentation bereits gehabt haben muss, sondern sie bedeutet
lediglich, dass die Person auch mit sprachlichen Vehikeln umgehen kann. Doch der Inhalt
der sprachlichen Vehikel ist nicht abhängig von mentalen Repräsentationen. Es ist möglich,
durch eine Äußerung einen Inhalt affirmativ mitzuteilen, ohne dass man eine Überzeugung
gleichen Inhalts mitteilt. Und dies ist möglich, weil die Intentionalität des Sprechens und
des Denkens unabhängig voneinander bestimmt werden können. Das ist eine der Thesen
der Biosemantik. Ich habe sie an dieser Stelle lediglich angeführt, um zwei
Missverständnisse aus dem Weg zu räumen, nämlich einerseits das Missverständnis, die
Biosemantik sei allein eine Theorie mentaler Repräsentationen, und andererseits das
Missverständnis, die Biosemantik sei als repräsentationalistische Theorie auf die
Konsequenz eines absurden Überschusses an Vehikeln festgelegt.
108
Vgl. Kemmerling 2000.
48
1.1.4. Grundbegriffe der Biosemantik
In diesem Abschnitt will ich die Grundbegriffe der Biosemantik einführen und erläutern.
Millikans Biosemantik kann man durch drei komplexe Begriffe erläutern, nämlich die
Begriffe der Echten Funktion, der Normalen Erklärung und der Abbildungsregel. Im Zuge
des Aufbaus dieses Begriffsapparats wird sich zeigen, wie groß die Reichweite dieser
Theorie ist. Im Verlauf der Darstellung werde ich mich stets auf Beispiele stützen. Diese
Fokussierung auf Beispiele hat nicht allein illustrativen Charakter, sondern methodische
Gründe, wie ich in Abschnitt 1.1.6. zeigen werde. Der Ausgangspunkt der
Wiedergewinnung der natürlichen Teleologie ist, wie wir noch sehen werden, Darwins
Theorie der Evolution (2.1.). Der Ausgangspunkt der zeitgenössischen teleologischen
Auffassung des Funktionsbegriffs ist jedoch die Analyse des Begriffs durch Larry Wright.
Es ist nicht nur nützlich, sondern auch angemessen, den biosemantischen Begriff der
Echten Funktion mit Bezug auf diesen Ausgangspunkt einzuführen.
Wright zufolge ist die Funktion einer kulturellen oder biologischen Entität eine
bestimmte Wirkung davon, dass diese Entität vorhanden ist, und es ist dieselbe Wirkung,
die erklärt, warum die Entität vorhanden ist. So beschwert etwa ein Briefbeschwerer
Papiere und verhindert, dass die Papiere vom Winde verweht werden. Doch zugleich
erklärt diese Wirkung, warum der Briefbeschwerer auf den Papieren liegt. Jemand hat ihn
auf sie gelegt, um zu verhindern, dass die Papiere weg geweht werden. Dazu ist dieser
Briefbeschwerer da (an diesem besonderen Ort vorhanden). Briefbeschwerer im
Allgemeinen sind da (überhaupt vorhanden), um etwas Bestimmtes zu bewirken, und weil
sie dies bewirken, sind sie da. Also meint Wright:
„The function of X is Z iff: (i) Z is a consequence (result) of X’s being there, (ii) X
is there because it does (results in) Z.“109
Wrights Analyse ist historisch, weil der zweite Teil das Vorhandensein von X durch die
vergangenen Wirkungen von X erklärt. Allerdings deckt diese Analyse zu viele Fälle ab.
Versucht ein Monteur ein Loch in einem Gasschlauch zu reparieren, wird dabei durch das
austretende Gas außer Gefecht gesetzt und an der Reparatur gehindert, dann ist die
Wirkung des Lochs die Erklärung dafür, dass das Loch nach wie vor da ist. Nach Wrights
Analyse wäre es folglich die Funktion des Gaslecks, Monteure außer Gefecht zu setzen.
Das ist natürlich kein erwünschtes Resultat einer Analyse unseres Gebrauchs des Begriffs
109
Wright 1976: 81.
49
der Funktion, den niemand würde dem Gasleck diese Funktion vernünftigerweise
zuschreiben wollen. Deshalb ist dieses Beispiel ein Gegenbeispiel und analoge Beispiele
lassen sich haufenweise bilden. Wie können die Gegenbeispiele ausgeschaltet werden?
Millikan zufolge durch den Bezug auf eine durch Reproduktion gebildete Kategorie:
B ist eine Reproduktion von A, wenn B bestimmte Eigenschaften E1, E2, E3 usw. mit A
gemeinsam hat, und zwar so, dass der Besitz dieser Eigenschaften durch B dadurch erklärt wird,
dass A diese Eigenschaften hat, und dadurch, dass B diese Eigenschaften auf bestimmte Weise
erhalten hat. Die Eigenschaften E1, E2, E3 usw. von B sind reproduktiv etablierte
Eigenschaften. A ist das reproduktive Modell für B.
Mitglieder einer reproduktiven Kategorie sind Token eines Typs. Die Einheit des Typs
wird dadurch gewährleistet, dass die Token Kopien oder Reproduktionen sind. Entweder
handelt es sich um direkte Kopien voneinander, Kopien eines gemeinsamen Musters oder
Kopien der Tätigkeiten eines Mitglieds einer reproduktiven Kategorie. Durch das Kopieren
werden Eigenschaften reproduziert, die bestimmte Wirkungen haben. Als reproduktiv
etablierte Eigenschaften kommen sie nicht in erster Linie einem einzelnen Token zu,
sondern dem Typ. Denn Token haben reproduktiv etablierte Eigenschaften nur als Kopien
oder Reproduktionen, und das ist es, was die Einheit des Typs gewährleistet. Die Token
eines durch Reproduktion etablierten Typs haben reproduktiv etablierte Eigenschaften also
aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu diesem Typ. Deshalb kommen nicht ihnen, sondern dem
Typ in erster Linie diese Eigenschaften zu. Millikan bezeichnet solche reproduktiven
Kategorien oder Typen als Reproduktiv Etablierte Familien (REF):
Entitäten, die reproduktive etablierte Eigenschaften teilen, und ein gemeinsames reproduktives
Modell haben, bilden eine Reproduktiv Etablierte Familie erster Ordnung (REF1).
Jedes Mitglied einer REF1, das zeitlich vor dem Mitglied M existiert hat, ist ein Vorfahr
von M.
Die Mitglieder einer REF1 sind in einem bestimmten Sinne direkte Reproduktionen
voneinander. Sie stammen alle von einem Modell ab oder gehören als Token zu einem Typ.
Reproduktionen sind also so etwas wie Kopien (oder Kopien von Kopien usw.). Kopien
stammen von einem Modell (dem Original) ab und haben die Eigenschaften des Modells,
weil sie nach einem bestimmten Verfahren vom Modell abgeleitet worden sind. So können
Originale von Hand oder durch eine Maschine kopiert werden. Auf diese Weise bilden die
Kopien eines Dokuments eine REF1. Das Original selbst gehört nicht zur Familie, da es
weder über reproduktiv etablierte Eigenschaften verfügt noch auf einem gemeinsamen
reproduktiven Modell beruht. Ebenso wenig gehört ein auf wundersame Weise
entstandenes Duplikat des Originals, das keinerlei Beziehung zum Original oder zu seinen
50
Kopien hat, zur Familie. Das Original, eine Kopie und ein Duplikat mögen äußerlich
ununterscheidbar sein und dennoch gehören lediglich die Kopie und das Original zur
Familie. Die Zugehörigkeit zu einer REF ist also nicht nur eine Sache der Eigenschaften,
sondern der historischen Abstammung. Keine Entität ohne Vorfahr kann nach der
gegebenen Definition Mitglied einer REF sein.110
Die Bestimmung von REF1 ist allgemein gehalten. Sie umfasst nicht nur genetische
Replikatoren oder mechanische Kopien, sondern weit mehr. So bilden beispielsweise die
Token des deutschen Wortes „Hallo“, die Küchenmesser eines Fabrikanten, ein
militärischer Gruß, Aufnahmen eines Musikstücks, Abschriften eines Gedichts, imitierte
Verhaltensweisen in einer Affenpopulation oder spezifische Gene eine REF1, sofern sie
Reproduktionen voneinander sind. Ob die Reproduktion des geschriebenen Wortes
„Hallo“ dabei durch einen Kopierer, eine Tastatur, eine Druckerpresse oder eine
schreibende Hand vollzogen wird, spielt keine Rolle. Ein zufällig von einer Welle
hervorgebrachtes Muster der Form „Hallo“ hingegen ist kein Mitglied dieser Familie. Ob
die Reproduktion des Lautes „Hallo“ durch einen Kindermund, durch einen
Papageienschnabel oder durch eine Sprechmaschine vollzogen wird, macht, solange es sich
um Kopien des deutschen Wortes handelt, ebenfalls keinen Unterschied. Doch ein zufällig
durch den Wind hervorgebrachtes Geräusch, das nach „Hallo“ klingt, ist kein Mitglied
dieser Familie.
Nicht alle alle REFs haben Echte Funktionen (biologische Arten sind ein Beispiel),
doch jene REFs, die Echte Funktionen haben, haben stets Direkte Echte Funktionen. Wir
können jetzt bestimmen, was eine Direkte Echte Funktion einer Entität M ist:
Die Direkte Echte Funktion von M ist F, wenn gilt:
(i)
M ist Mitglied einer REF1.
(ii)
Vorfahren von M haben F ausgeübt.
(iii)
M existiert, weil seine Vorfahren F ausgeübt haben.
Das Modell oder Original hat unabhängig von der Reproduktion keine Eigenschaften mit Echten
Funktionen. Die Eigenschaften des Modells spielen natürlich kausale Rollen, aber sie haben keine selektierten
Wirkungen (vgl. dazu 3.2.3). Originale und Modelle sind wie Gründer einer Familie oder Dynastie. Sie
gehören als Vorfahren dazu, haben aber nicht die entscheidende Eigenschaft der Nachfahren, nämlich
Nachfahren des Familiengründers zu sein. Die Gründung neuer biologischer Arten erfolgt durch Speziation.
Zunächst existiert eine (sexuelle) Art A. Eine genetische Variante A* von A reproduziert Exemplare von A*.
Aus A entstehen zwei reproduktiv isolierte Populationen. Nimmt A* weitere morphologische, behaviorale
oder ökologische Merkmale an, die A* von A unterscheiden, sind zwei neue Arten entstanden, nämlich B (aus
A*) und A (ohne A*). Im Extremfall kann es sich bei der Grundlegung von B um ein einziges befruchtetes
Weibchen handeln. Dieses Exemplar hat Merkmale, die der genetischen Variante A* entsprechen, doch diese
Merkmale haben noch nicht die Echte Funktion, die sie als Merkmale der Art B haben werden.
110
51
Hierbei handelt es sich im Grunde genommen um eine Verfeinerung der Analyse von
Wright, mit deren Hilfe das Gegenbeispiel ausgeschaltet werden kann. Die einzelnen
Zeitphasen der Existenz des Gaslecks sind keine Mitglieder einer REF, und eine Zeitphase
des Gaslecks ist kein Vorfahr einer späteren Zeitphase. Deshalb brauchen wir dem
Gasleck, das den Monteur außer Gefecht setzt, keine Echte Funktion zuzuschreiben.
Nicht alle Reproduktionen sind direkte Kopien voneinander. Wir haben gesagt,
dass es sich bei reproduktiven Kategorien entweder um direkte Kopien voneinander
handle, um Kopien eines gemeinsamen Musters oder um Kopien der Tätigkeiten eines
Mitglieds einer reproduktiven Kategorie. Bislang haben wir lediglich die erste Möglichkeit
berücksichtigt. Es gibt jedoch sozusagen vermittelte Reproduktionen. Darunter fallen
beispielsweise alle biologischen Merkmale von Organismen und viele Organismen selbst.
In einem untechnischen Sinne ist ein bestimmter Frosch zwar ebenso die Reproduktion
seiner Vorfahren, wie die Tatsache, dass er zwei Augen hat, Ergebnis der Reproduktion
von Fröschen ist. Doch die Vorfahren kopieren nicht sich selbst, ebenso wenig ihre Augen,
sondern sie kopieren durch den Fortpflanzungsprozess ihre Gene, die in einem Prozess der
normalen biologischen Entwicklung dazu führen, dass ein Frosch mit Augen entsteht.
Organismen und ihre Teile sind keine direkten Reproduktionen voneinander, sondern
(vereinfacht gesagt) Produkte eines genetischen Programms, das eine Reproduktion des
genetischen Programms der Eltern eines Organismus ist.
Lebewesen wie Frösche und Menschen oder biologische Merkmale wie Augen und
Gehirne sind Beispiele für Mitglieder einer Reproduktiv Etablierten Familie zweiter
Ordnung 1 (REF21):
REF21 Entitäten, die durch Mitglieder einer REF1 hervorgebracht werden, die die Direkte
Echte Funktion haben, solche Entitäten hervorzubringen, bilden, sofern sie in Übereinstimmung
mit einer Normalen Erklärung für die Hervorbringung hervorgebracht worden sind, eine REF21.
Jedes Mitglied einer REF21, das von einem Vorfahren eines Mitglieds einer REF1
hervorgebracht worden ist, die das Mitglied M hervorgebracht hat, ist ein Vorfahr von M.
Wie gesagt haben nicht alle REFs eine Echte Funktion. So sind Organismen Mitglieder
einer REF21. Organismen haben dennoch keine Echten Funktionen. Organismen als
Ganze sind nicht selektiert worden, um bestimmte Wirkungen zu zeitigen. Betrachtet man
Organismen jedoch als Teile oder Mitglieder einer REF21, dann kommt ihnen natürlich
auch eine Direkte Echte Funktion zu. So sind Organismen Teile oder Mitglieder einer
biologischen Art. Im Sinne der oben gegebenen Bestimmung der Echten Funktion besteht
die Funktion der Organismen dann etwa darin, zum Fortbestand der Art beizutragen.
Im Allgemeinen haben nicht die Mitglieder einer REF21 Direkte Echte Funktionen,
sondern deren reproduktiv etablierte Eigenschaften. Und wenn den Mitgliedern einer
52
REF21 selbst Funktionen zukommen, dann nur insofern sie Eigenschaften (Teile oder
Äußerungen) von etwas sind. Dies ist der Fall bei den Augen (oder bei Organismen als
Teilen einer biologischen Art). Es sind also eher die Eigenschaften oder biologischen
Merkmale von Organismen, die Echte Funktionen haben. Diese Eigenschaften können in
vier Gruppen eingeteilt werden: Organismen haben (a) Organe, (b) Formen, (c)
Verhaltensweisen und (d) Produkte mit Funktionen und diesen Organen, Formen,
Verhalten und Produkten entsprechende Fähigkeiten. Diese vier Gruppen werden am
besten durch Beispiele erläutert.
a) Honigbienen haben zahlreiche innere und äußere Organe, die Funktionen erfüllen: Der
Honigmagen filtert Nektar, der Herzschlauch pumpt Hämolymphe, mit dem Auge
sieht, mit den Beinen krabbelt, mit den Flügeln fliegt, mit dem Stachel sticht und mit
den Fühlern tastet die Biene.
b) Die Körper der Honigbienen haben auch Formen, die Funktionen erfüllen, die man
selbst im eben verwendeten sehr weiten Sinn des Ausdrucks nicht als „Organe“
bezeichnen möchte. So scheint die Färbung der Biene eine Art Warnsignal zu sein. Ihre
aerodynamische Körperform scheint das Fliegen zu unterstützten.
c) Honigbienen zeigen sehr spezifische Verhaltensweisen. Sie führen verschiedene Tänze
aus, die offenbar die Funktion haben, ihren Artgenossen Ort und Richtung von
Futterquellen anzuzeigen. Asiatische Honigbienen töten kundschaftende Wespen,
indem sie sie durch heftige Flügelbewegungen überhitzen, und entfernen anschließend
die von diesen Wespen am Stock angebrachten Markierungen.
d) Bienen stellen auch Produkte her. So konstruieren Wildbienen Nester in
Baumstämmen, formen Honigbienen Waben für die Aufzucht der Jungen und legen
einen Futtervorrat an.111
Organe und Formen werde ich von jetzt an „Teile“ von Organismen nennen,
Verhaltensweisen und Produkte hingegen „Äußerungen“ von Organismen. Es sind diese
Eigenschaften von Organismen, die als Mitglieder von REF21 Direkte Echte Funktionen
111 Die architektonischen Produkte von Tieren erfüllen im Allgemeinen drei Funktionen: Sie dienen der
Fortpflanzung, etwa der Aufzucht der Jungen oder der Anlockung von Paarungspartnern, sie bieten wie
Fuchshöhlen oder Biberdämme Schutz vor Umweltbedingungen oder sie helfen wie etwa Spinnennetze beim
Beutefang (vgl. Hansell 2005). Auch Funktionen von Organen, Formen und Verhalten dienen im
Allgemeinen der Fortpflanzung, der Ernährung, dem Schutz und dem sozialen Zusammenhalt. Dies bedeutet
jedoch nicht, dass spezifischen Eigenschaften nicht bestimmtere Funktionen zugeschrieben werden können.
Zwar dienen die meisten Messer zum schneiden, die unterschiedlichen Messer erfüllen aber durchaus sehr
viel spezifischere Funktionen.
53
haben. Entsprechend kann die Bestimmung der Direkten Echten Funktion für REF21
modifiziert und auf reproduktiv etablierte Eigenschaften konzentriert werden.
Die Direkte Echte Funktion von E ist F, wenn gilt:
(i)
M ist Mitglied einer REF21.
(ii)
Vorfahren von M haben F mittels einer reproduzierten Eigenschaft E ausgeübt.
(iii)
M existiert und M hat E, weil seine Vorfahren F mittels E ausgeübt haben.
Die Funktion F ist eine Wirkung der Eigenschaft E. Wir haben Echte Funktionen
grundsätzlich als selektierte Wirkungen bezeichnet. In welchem Sinne handelt es sich um
eine selektierte Eigenschaft? Wir können diese Frage durch eine Variation der eben
gegebenen Definition der Direkten Echten Funktion einer Eigenschaft beantworten:
Die Direkte Echte Funktion von E ist F, wenn gilt:
(i)
M ist Mitglied einer REF21.
(ii)
Vorfahren von M haben F mittels einer reproduzierten Eigenschaft E ausgeübt.
(iii)
Unter den Vorfahren von M existierte eine positive statistische Korrelation zw.
E(x) und F(x), so dass gilt: p(F/E) > p(F).
(iv)
Die Umstände (ii) und (iii) sind Bestandteil der Erklärung dafür, dass M
existiert und dass M E hat.
So viel zu REF1 und REF21. Es gibt jedoch eine weitere Form von REF2, denn auch
Modifikationen in den Teilen oder die Repetition in den Äußerungen eines einzelnen
Organismus können als Mitglieder einer REF betrachtet werden. Die verschiedenen
Modifikationen des Auges des Frosches Kermit beim Vorbeischwirren einer Fliege sind
ebenso Mitglieder einer REF wie die Wiederholungen des Schwänzeltanzes der Biene Maja
oder die wiederholte konditionierte Reaktion auf einen natürlichen Reiz. Hier haben wir es
mit Reproduktiv Etablierten Familien zweiter Ordnung 2 (REF22) zu tun:
REF22 Entitäten, die durch ein Einzelmitglied einer REF1 oder durch ein Einzelmitglied einer
REF21 hervorgebracht werden, das je die Echte Funktion hat, Entitäten hervorzubringen, die
sich in bestimmter Hinsicht ähnlich sind, bilden, sofern sie in Übereinstimmung mit einer
Normalen Erklärung für die Hervorbringung hervorgebracht worden sind, eine REF22. Jedes
Mitglied einer REF22, das von einem Einzelmitglied einer REF1 oder durch ein Einzelmitglied
einer REF21 hervorgebracht worden ist, die auch das Mitglied M hervorbringen, ist ein Vorfahr
von M.
Die Bestimmung der Direkten Echten Funktion für REF22 bleibt dieselbe wie im
vorherigen Falle. Wir können einfach die Formulierung „M ist Mitglied einer REF21“
54
ersetzen durch „M ist Mitglied einer REF2“ und es so offenlassen, ob es sich um eine
REF21 oder um eine REF22 handelt. Also:112
Die Direkte Echte Funktion von E ist F, wenn gilt:
(v)
M ist Mitglied einer REF2.
(vi)
Vorfahren von M haben F mittels einer reproduzierten Eigenschaft E ausgeübt.
(vii)
Unter den Vorfahren von M existierte eine positive statistische Korrelation zw.
E(x) und F(x), so dass gilt: p(F/E) > p(F).
(viii)
Die Umstände (vi) und (vii) sind Bestandteil der Erklärung dafür, dass M
existiert und dass M E hat.
Nun kommen jedoch nicht nur Mitgliedern einer REF Echte Funktionen zu, sondern
abgeleitet davon auch anderen Entitäten. Diese Abgeleiteten Funktionen sind für die
Biosemantik von beträchtlicher Bedeutung und ich werde deshalb einige Sorgfalt darauf
verwenden, sie einzuführen. Ich werde sie anhand zweier Beispiele einführen, nämlich des
Farbwechsels von Chamäleons und des Bienentanzes.
Wir können zunächst zwischen nichtrelationalen und relationalen Direkten Echten
Funktionen unterscheiden.113 So hat das Herz (von Wirbeltieren) die Direkte Echte
Funktion, Blut zu pumpen und nicht Geräusche zu machen, in der Brust zu hängen oder
Messungen im Labor zu ermöglichen, denn Echte Funktionen sind selektierte Wirkungen.
Es ist die Echte Funktion des Herzens Blut zu pumpen, weil Herzen eine REF21 bilden
und weil Mitglieder dieser Familie den Trägern von Herzen einen Vorteil verschafft haben,
der zur Reproduktion von Herzträgern und folglich von Herzen beigetragen hat. Nun
involviert die erfolgreiche Ausübung der Echten Funktion von Herzen keinerlei Relation
des Herzens zur unmittelbaren Umgebung oder zur weiteren Umwelt des Herzträgers.
Zwar hängt die Ausübung der Funktion vom Vorliegen bestimmter Bedingungen ab, sie
involviert jedoch keine Relation zu diesen Bedingungen als Teil der Funktionsausübung.114
Die Tarnung eines Chamäleons hingegen involviert eine Relation zur unmittelbaren
Umgebung des Tieres, nämlich zur farblichen Beschaffenheit seines Hinter- oder
Untergrunds. Ohne diese Relation wäre es unverständlich, warum die Hautverfärbung
überhaupt als Tarnung angesprochen werden kann. Der Mechanismus, der dafür sorgt,
Vgl. die Definition bei Detel 2007: 127.
LTOBC: 39.
114 Hier, im Folgenden und in zahllosen anderen Texten ist das Herz stets das Beispiel der Wahl, weil Hempel
1959 es in der Analyse funktionaler Erklärungen benutzt hat.
112
113
55
dass sich die Haut des Chamäleons der Umgebung anpasst, ist natürlich ein Mitglied einer
REF21 und hat als solches eine Direkte Echte Funktion. (Bei diesem Mechanismus handelt
es sich um Chromatophoren, d.h. pigmenthaltige Farbstoffzellen in der Cutis, der
Zwischen- oder Lederhaut des Chamäleons.) Doch die Ausübung der Funktion involviert
eine Relation zur Umgebung oder Umwelt. In Anlehnung an die in 1.1.3. eingeführte
Terminologie können wir sagen:
Ein P-Mechanismus mit einer Relationalen Direkten Echten Funktion hat die Aufgabe, ein
Vehikel hervorzubringen, das auf eine bestimmte Weise mit einer Bedingung X korrespondiert.
Der Mechanismus, der für den Farbwechsel von Chamäleons verantwortlich ist, hat also
eine Relationale Direkte Echte Funktion, die auf der evolutionären Geschichte der
Chamäleons beruht. Nehmen wir vereinfachend an, diese Funktion bestehe nur in der
Tarnung zum Schutz vor Raubfeinden.
Das Farbmuster eines Chamäleons vor einem bestimmten Hintergrund
(beispielsweise auf einem grün-braunen Zweig oder vor einem Bücherregal mit
ausschließlich anthroposophischer Literatur) ist kein direktes Produkt der Evolution. Wir
wollen annehmen, kein Chamäleon habe sich bislang jemals vor einem Bücherregal mit
ausschließlich anthroposophischer Literatur befunden. Das Farbmuster ist völlig neuartig
und bei keinem Chamäleon jemals zuvor aufgetreten. Doch Direkte Echte Funktionen
können nicht völlig neuartig sein, denn sie kommen nur Mitgliedern einer REF zu und sind
im Falle von Lebewesen das Resultat der Evolution.
Das besondere Farbmuster des Chamäleons ist ein Zustand, der von dem zugrunde
liegenden P-Mechanismus hervorgebracht wird und sich einer bestimmten und völlig
neuartigen Umweltbedingung anpasst. Die Tarn-Funktion eines spezifischen Farbmusters
leitet sich so von der Direkten Echten Funktion des P-Mechanismus ab. Und solche
Abgeleiteten Echten Funktionen können neuartig sein.
Abgeleitete Echte Funktion: Das Vehikel V ist das Produkt eines P-Mechanismus, der die
Direkte Echte Funktion F hat, und unter bestimmten Bedingungen V hervorbringt, das F
ausführt. Die Echte Funktion von V ist abgeleitet von der Direkten Echten Funktion F des PMechanismus, der V hervorbringt. V hat also eine Abgeleitete Echte Funktion.
Sowohl Nichtrelationale als auch Relationale Direkte Echte Funktionen können Vehikel
mit Abgeleiteten Echten Funktionen hervorbringen. Wir müssen deshalb spezifischer
fassen, was den Abgeleiteten Funktionen der Relationalen Direkten Echten Funktionen
eigentümlich ist.
56
Das Farbmuster vor dem Bücherregal passt das Chamäleon an diesen bestimmten
Hintergrund an. Es handelt sich deshalb um eine Adaptierte Echte Funktion (adapted proper
function).115
Ein Vehikel mit einer Abgeleiteten Relationalen Echten Funktion sollte auf eine bestimmte
Weise mit einer Umweltbedingung X korrespondieren. Ein solches Vehikel ist angepasst an X
und hat eine Adaptierte Echte Funktion. (Aber nicht alle Adaptierten Funktionen sind
Abgeleitete Funktionen.)
Vehikel mit einer Adaptierten Echten Funktion sind Adaptierte Vehikel. Die besondere
Bedingung (hier das Bücherregal), an die das Adaptierte Vehikel (hier das Farbmuster)
angepasst ist, kann man als „Adaptor“ bezeichnen.116 Der Adaptor ist jene
Umweltbedingung X, an die ein Adaptiertes Vehikel angepasst sein sollte, und zwar indem
es auf eine bestimmte Weise mit X korrespondiert.
Im Unterschied zum Wechsel des Sommerfells eines Hermelins, das zum Winter
stets weiß wird, passt sich die Farbe des Chamäleons den spezifischen Bedingungen der
Umgebung an. Diese Eigenschaft des Hermelins hat eine Invariante Abgeleitete Relationale
Echte Funktion, d.h. die Funktion des Adaptierten Vehikels (der Farbe des Winterfells)
leitet sich allein aus der Funktion des P-Mechanismus ab (der den Farbwechsel reguliert).
Die Farbmuster des Chamäleons hingegen haben eine Adaptierte Abgeleitete Relationale
Echte Funktion und die Funktion eines Adaptierten Vehikels leitet sich nicht nur von der
Funktion des P-Mechanismus ab, sondern auch vom Adaptor des Vehikels. Es ist also die
Echte Funktion des Farbmusters (des adaptierten Vehikels), das Chamäleon vor dem lila
und bordeauxfarbenen Bücherregal (dem Adaptor) gegenüber Fressfeinden unsichtbar zu
machen.
Es kann dem Chamäleon natürlich misslingen, sich farblich zu tarnen. Vielleicht
sind die Chromatophoren defekt, vielleicht ist der Hintergrund zu farbig, vielleicht
verhindert Eiseskälte den Farbwechsel, vielleicht wechselt die Echse die Farbe vor einem
weißen Hintergrund. Das Adaptierte Vehikel ist nicht an den Adaptor angepasst, wie es an
ihn angepasst sein sollte. Es ist fehladaptiert. Ein Vehikel ist fehladaptiert, wenn es nicht
jene Relation zu einem Adaptor unterhält, die es unterhalten sollte, oder auch wenn kein
Adaptor vorhanden ist.
Wir hatten über die Mitglieder von REF2 gesagt, dass sie eine REF bilden, sofern
sie von Mitgliedern einer REF1 bzw. von Mitgliedern einer REF21 in Übereinstimmung mit
einer Normalen Erklärung für die Hervorbringung hervorgebracht worden sind. Was ist
mit einer „Normalen Erklärung“ gemeint? Natürlich kann die Art und Weise, wie Echte
115
116
LTOBC: 40.
LTOBC: 40.
57
Funktionen ausgeübt werden, erklärt werden. So kann man sich fragen, wie es der
entsprechende Mechanismus beim Chamäleon zustande bringt, die Haut bestimmten
Hintergrundfarben anzupassen. Eine solche Erklärung erläutert die kausale Funktionsweise
der Chromatophoren.
Eine Normale Erklärung erklärt, wie eine bestimmte Reproduktiv Etablierte Familie ihre
Direkte Echte Funktion historisch erfolgreich ausgeübt hat.117
Normale Erklärungen beziehen sich auf einen Typ mit Echten Funktionen. Sie beginnen
mit strukturellen Merkmalen von Mitgliedern des Typs und nennen die Normalen
Eigenschaften mittels derer die Mitglieder des Typs historisch ihre Funktion tatsächlich
erfolgreich ausgeübt haben, und sie nennen die Normalen Bedingungen, unter denen sie
dies getan haben. Normale Eigenschaften sind also ein Bestandteil einer Normalen
Erklärung. Defekte Chromatophoren beispielsweise können die Haut des Chamäleons
nicht verfärben. Auch Normale Bedingungen sind ein Bestandteil einer Normalen
Erklärung. Es handelt sich um jene Bedingungen, unter denen eine bestimmte REF ihre
Direkte Echte Funktion historisch erfolgreich ausgeübt hat. Chamäleons sind vor einem
überbunten oder einem weißen Hintergrund oder in Eiseskälte nicht fähig sich zu tarnen.
Diese Bedingungen gehören nicht zu den Normalen Bedingungen unter denen die
Vorfahren des Chamäleons sich getarnt haben.
„For example, a Normal explanation of how a chameleon’s color arrangers [die
Chromatophoren] produce brown and green splotches is a general explanation of
how these mechanisms produce skin patterns that match what the chameleon sits
on, hence derivatively an explanation of the occurrence of these splotches.“118
Eine allgemeine Normale Erklärung beruht implizit auf einer detaillierten Erklärung, kann
jedoch auch vorgenommen werden, wenn die detaillierte Erklärung unbekannt,
ungenügend, unvollständig oder falsch ist. So braucht man im Falle des Chamäleons nicht
über die proximalen Mechanismen Bescheid zu wissen, um die Veränderung der Hautfarbe
eines Chamäleons dadurch zu erklären, dass es sich farblich dem Hintergrund anpasst
(irgendwie, mittels okkulter Qualitäten, durch eine vegetative Seele, durch chemische
Reaktionen usw.).
Freilich ist nicht jedes Adaptierte Vehikel ein R-Vehikel. So würden wir kaum
sagen, dass das Farbmuster des Chamäleons die Farbe des Hintergrunds repräsentiert.
(Zwar könnte man die Farbmuster als Repräsentationen der Hintergrundfarbe verwenden,
etwa indem man nur die Echse beobachtet und von ihren Veränderungen auf die Farbe des
117
118
LTOCB: 33ff., 43ff.
LTOBC: 43f.
58
Hintergrundes schließt. Der Beobachter wäre dann gleichsam der Konsument der
Farbmuster.) Warum haben die Farbmuster als solche nicht die Funktion, die Farbe des
Hintergrunds zu repräsentieren? Es gibt keinen K-Mechanismus für die Farbmuster des
Chamäleons, der mit dem P-Mechanismus, der die Farbmuster hervorbringt, kooperiert.119
Allerdings können die Farbmuster als R-Vehikel betrachtet werden, denn
vermutlich dient der Farbwechsel des Chamäleons nicht allein zur Tarnung, sondern auch
der sexuellen Selektion. Der Farbwechsel spielt eine Rolle im Wettbewerb um Weibchen
und in der Auseinandersetzung unter Männchen.120 Beachten wir die Signalfunktion der
Farbmuster, nämlich die Abschreckung von Konkurrenten und die Anlockung von
Partnerinnen. Hier können die Farbmuster als Repräsentation aufgefasst werden,
selbstverständlich nicht als Repräsentation der Beschaffenheit des Hintergrunds (dafür
interessieren sich die Männchen und Weibchen nicht), sondern als Repräsentation der
Aggressivität oder Attraktivität einer Echse. Chamäleonweibchen und –männchen sind in
der Lage die Farbmuster zu interpretieren. Das Farbmuster muss mit den Eigenschaften
Aggressivität oder Attraktivität auf eine bestimmte Art und Weise korrespondieren, damit
die Weibchen und Männchen zu einem angemessenen Verhalten veranlasst werden
können. Ein spezifisches Farbmuster als Adaptiertes Vehikel mit einer Adaptierten
Abgeleiteten Relationalen Echten Funktion korrespondiert also nicht in erster Linie mit der
Umgebung des Chamäleons, sondern mit einem internen Zustand, der durch die
Farbmuster repräsentiert wird, und zwar auf eine Weise für weibliche Artgenossen, auf eine
andere Weise für männliche Artgenossen. Die Artgenossen können die Farbmuster also
interpretieren, und werden infolge dieser Interpretation zu bestimmten Verhaltensweisen
bewegt. Der interpretierende Mechanismus ist ein K-Mechanismus. Auch ein solcher KMechanismus gehört zu einer REF. Das durch ihn ausgelöste Verhalten ist die Echte
Funktion des K-Mechanismus. Die P-Mechanismen haben die Funktion, R-Vehikel
hervorzubringen, die von K-Mechanismen interpretiert werden können. Produzenten und
Konsumenten kooperieren, weil sie das Produkt der Evolution durch Natürliche Selektion
sind.
Wie auch immer Artgenossen die Farbmuster interpretieren, wie auch immer sie
infolge dieser Interpretation zu einem bestimmten Verhalten bewegt werden, kann
119 Wäre beispielsweise ein Raubvogel gleichsam Konsument oder Adressat der Farbveränderung, so würde
dies nur bedeuten, dass das Farbmuster die Funktion der Tarnung nicht nur nicht erfüllt, sondern niemals
erfüllt hat. So entstehen natürlich keine Echten Funktionen als Fitnessvorteile.
120 Die Anpassung an den Hintergrund scheint eher ein Seiteneffekt der sexuellen Selektion zu sein, denn
diese Anpassung an den Hintergrund korrespondiert mit dem farblichen Diskriminierungsvermögen von
Raubfeinden – vor allem von Raubvögeln – in der Umwelt des Chamäleons. Vereinfacht gesagt: Wer farblich
vor seinen Artgenossen zu sehr auftrumpft, wird Opfer von Räubern, wer farblich zu wenig auftrumpft,
kommt bei seinen Artgenossen nicht an. Vgl. Stuart-Fox et al. 2007.
59
Gegenstand einer Normalen Erklärung sein, die sowohl Normale Eigenschaften als auch
Normale Bedingungen zitiert. Zu den Normalen Bedingungen der erfolgreichen Ausübung
der Funktion des K-Mechanismus gehört insbesondere, dass der P-Mechanismus RVehikel hervorbringt, die mit bestimmten Bedingungen korrespondieren. Jetzt haben wir es
mit einer Repräsentation zu tun. Trotz der Konsumentenorientierung der Biosemantik ist
das Zusammenspiel der drei Elemente Produzent, Repräsentation und Konsument
entscheidend:
„As a corrective to the emphasis that others in the teleosemantic business have
placed on the function of the representation producers, Millikan […] has recently
been emphasizing the devices that use or ‘consume’ representations. The official
statement of Millikan’s position, LTOBC, however, emphazises producer and
consumer equally. It also distinguishes the functions of these two from a third and
quite different thing, the representation itself. The roles that these three items play
are distinct but equally important for an analysis of mental semantics.“121
Der springende Punkt liegt also nicht nur im Umstand, dass ein K-Mechanismus ein
Vehikel benutzt, sondern darin, dass sich der K-Mechanismus das Vorliegen einer
Korrespondenz zwischen dem R-Vehikel und einer Eigenschaft oder einem Sachverhalt zu
Nutze macht. Damit der K-Mechanismus eines durch einen kooperierenden PMechanismus hervorgebrachten R-Vehikels seine Echte Funktion gemäß einer Normalen
Erklärung ausüben kann, muss zwischen dem R-Vehikel und einem bestimmten R-Ziel
eine Korrespondenz vorliegen. Das R-Vehikel übt seine (Adaptierte Abgeleitete
Relationale) Echte Funktion gemäß einer Normalen Erklärung aus, wenn es den
kooperierenden K-Mechanismus an jene Bedingungen anpasst, die dieser für die Ausübung
seiner Echten Funktion braucht. Von einem P-Mechanismus hervorgebrachte R-Vehikel
müssen also erstens auf bestimmte Art und Weise mit einem bestimmten R-Ziel
korrespondieren, um ihre Echte Funktion gemäß einer Normalen Erklärung erfüllen zu
können; und sie müssen zweitens von einem K-Mechanismus gemäß einer Normalen
Erklärung benutzt werden können.
Der IR-Inhalt eines R-Vehikels besteht in jener Korrespondenz mit einem R-Ziel, die vorliegen
muss, damit der K-Mechanismus seine Echte Funktion in Übereinstimmung mit einer Normalen
Erklärung erfolgreich ausüben kann.
Nehmen wir an, der P-Mechanismus des Chamäleons sei defekt, und er bringe nur
fehladaptierte R-Vehikel hervor. Oder nehmen wir an, der P-Mechanismus werde durch
einen Wissenschaftler so manipuliert, dass stets nur fehladaptierte Vehikel produziert
werden. Das Vehikel signalisiert beide Male, dass das Chamäleon im Zustand Z1 ist,
121
WQP: 125f.
60
obschon es im Zustand Z2 ist. Nun liegt eine wesentliche Bedingung in der Normalen
Erklärung der Funktion des kooperierenden K-Mechanismus nicht vor, nämlich die
Korrespondenz zwischen dem R-Vehikel und dem Vorliegen von Z1, das der Konsument
zur Ausübung seiner Funktion benötigt. Der Konsument kann seine Funktion nicht
ausüben, obschon der Konsument selbst nicht defekt oder manipuliert ist. Er funktioniert,
erfüllt aber seine Echte Funktion nicht, ebenso wie eine Kaffeemaschine mit Nüssen im
Mahlwerk funktioniert, aber ihre Funktion nicht erfüllt.
Nehmen wir an, der Wissenschaftler manipuliere zwei Chamäleons auf folgende
Weise: Das erste Tier wird so manipuliert, dass es fehladaptierte Vehikel hervorbringt, die
Z2 signalisieren, obwohl Z1 vorliegt. Das K-System des zweiten Tieres hingegen wird so
manipuliert, als ob das erste Tier Z1 signalisieren würde, wenn es Z2 signalisiert. Nun sind
die kooperierenden Mechanismen auf eine Weise manipuliert, dass für den K-Mechanismus
jene Korrespondenz zwischen dem R-Vehikel und Z1 vorliegt, die er zur Ausübung seiner
Funktion benötigt. Dieselbe Koinzidenz könnte sich auch durch einen Zufall einstellen.
Repräsentiert das R-Vehikel Z1? Nein, denn die kooperierenden Mechanismen üben ihre
Funktionen nicht in Übereinstimmung mit einer Normalen Erklärung aus. Eine solche
Erklärung nimmt Bezug auf die erfolgreiche Ausübung der Funktionen unter jenen
historischen Bedingungen, die zur Selektion der kooperierenden Mechanismen geführt
haben. Zu diesen historischen Bedingungen gehören weder die wiederholte Manipulation
durch Wissenschaftler noch das wiederholte Eintreten zufälliger Koinzidenzen. Der
Konsument muss seine Funktion also in Übereinstimmung mit einer Normalen Erklärung
ausüben können. Und dazu gehört als Normale Bedingungen eine bestimmte
Korrespondenz zwischen R-Vehikel und R-Ziel.
Wie ist diese Korrespondenz zwischen R-Vehikel und R-Ziel genauer zu fassen? Zu
einer solchen Korrespondenz gehört es zunächst, dass sowohl das R-Vehikel als auch das
R-Ziel eine artikulierte Struktur aufweisen. Selbst atomare Repräsentationen weisen als
strukturelle Komponente einen räumlichen und einen zeitlichen Index auf. Das
Glühwürmchen leuchtet nicht nur, sondern es leuchtet hic et nunc. Es signalisiert
Paarungsbereitschaft hier und jetzt.122 Die kontextuellen, indexikalischen Komponenten
122 Vgl. „Natural signs are structured world affairs and the things of which they are signs are also structured
world affairs, analogous to the correlates of complete sentences rather than open sentences or sentence parts.
Strictly speaking it is not the black cloud that is a sign of rain. Rather, the structure that is a black cloud in the
sky at a certain time, t, moving toward a certain place, p, may be a sign of the structure that is rain occurring
shortly after t at p.“ (VM: 47f.) „Similarly, if I say ‘It’s raining’, the place at which I say this conventionally
determines the place of the intentionally signified rain. For example, the following dialogue is not possible
within the conventions of English (which is why it could be a joke): ‘It’s raining!’ – ‘Where?’ – ‘In Tahiti’. ‘It’s
raining’, standing alone, simply is not a way you can conventionally say, in English, that it is raining
somewhere or other.[…If] someone says ‘It is raining here’, reference to place is lexicalized.“ (VM: 151f.)
61
von Zeit und Ort gehören zum Leuchtsignal. Dies trifft nicht nur auf atomare, sondern
auch auf molekulare Repräsentationen zu. Beispielsweise gehören die Platzierung einer
Duftmarke (an einem Baum), einer Giftetikette (auf einer Flasche) oder eines
Wirtshausschildes (an einem Haus) zu diesen Zeichen; zu Äußerungen wie „Es regnet“
oder „Ist es kalt?“ gehören ebenfalls als kontextuelle, indexikalische Komponenten sowohl
der Zeitpunkt als auch der Ort der Äußerung.
Molekulare Repräsentationen hingegen sind nicht nur kontextuell, sondern auch
intern strukturiert. Die relevante Form der Korrespondenz zwischen einer strukturierten
Repräsentation und dem repräsentierten Sachverhalt besteht nicht nur darin, dass die
einzelnen Komponenten eines molekularen Vehikels mit den einzelnen Komponenten
eines Sachverhalts korrespondieren, sondern viel mehr darin, dass Transformationen von
Komponenten einer internen molekularen Struktur eines Systems von R-Vehikeln mit
Transformationen von Komponenten im R-Ziel korrespondieren. Diese dynamische
Korrespondenz nennt Millikan „Abbilden“ (mapping).123 Im Folgenden werde ich das
Abbilden anhand des Beispiels des Bienentanzes erläutern.
1.1.5. Der Bienentanz als Paradigma der Biosemantik
Seit Karl von Frischs Studien ist anerkannt, dass Bienentänze die Lage einer Futterquelle
relativ zum Sonnenstand und zur Lage des Bienenstocks anzeigen.124 Ein solcher Tanz wird
von einer Biene, die eine Futterquelle lokalisiert hat, ausgeführt. Geht alles gut, dann löst
der Tanz in den Artgenossinnen bestimmte neuronale Reaktionen aus und sie fliegen in
eine bestimmte Richtung, finden reichlich Futter, kehren zurück und füttern die Larven
usw. Der Tanz hat so gesehen zahlreiche Echte Funktionen. Wenn der Tanz eine
Repräsentation der Lage der Futterquelle ist, was ist es, das ihn zu einer Repräsentation
macht? Ist es eine der vielen Wirkungen auf die Artgenossinnen? Doch Echte Funktionen
alleine machen keine Repräsentation. Auch Maulwurfspfoten und Herzen haben Echte
Funktionen, doch sie repräsentieren nichts. Der Tanz ist nicht deswegen eine
Repräsentation, weil er eine bestimmte Wirkung auf die Bienen hat, sondern aufgrund der
Art und Weise, wie er zu dieser Wirkung beiträgt.
Etwas in der einen Tanzbiene fungiert als P-Mechanismus des Tanzes und befähigt
die Biene, diesen Tanz gemäß einer Abbildungsregel auszuführen. Desgleichen fungiert
LTOBC: 99f., 246, VM: VIII, LBM: 102.
Vgl. von Frisch 1923; Seeley 1997. Freilich haben sich in letzter Zeit auch Vorbehalte gegenüber dieser
Deutung des Bienentanzes erhoben, sie scheinen aber nicht stark genug, um ihre Richtigkeit grundsätzlich in
Zweifel zu ziehen.
123
124
62
etwas in den Artgenossinnen als K-Mechanismus und befähigt sie, den Tanz gemäß
derselben Abbildungsregel zu interpretieren. P- und K-Mechanismus sind kooperative
Mechanismen, die sich in einem Prozess der Ko-Evolution entwickelt haben. Die Tänze
werden von P-Mechanismen hervorgebracht, um nach einer Abbildungsregel mit
bestimmten Sachverhalten zu korrespondieren, so dass der K-Mechanismus seine Echte
Funktion erfüllen kann, nämlich die Artgenossen in der richtigen Richtung und Entfernung
Futter finden zu lassen. Der Inhalt des Tanzes wird durch den Beitrag, den der Tanz zur
Ausübung einer Echten Funktion leistet, bestimmt: Er soll die Artgenossinnen zu einer
Futterquelle führen. Dieser Inhalt ist ein intentionaler Inhalt, weil der Tanz die Lage einer
Futterquelle auch dann angeben kann, wenn sich dort keine befindet. Er kann die Lage
einer Futterquelle falsch repräsentieren. Bienentänze haben Wahrheitsbedingungen.
Worin besteht also der Beitrag des Tanzes? Offensichtlich darin, dass er eine
Korrespondenz zu bestimmten Sachverhalten gemäß einer Abbildungsregel unterhält.
Tatsächlich korrespondiert die spezifische Form oder Struktur des Tanzes mit dem
Vorliegen von Futter in einer bestimmten Entfernung vom Bienenstock relativ zum
Sonnenstand. Erst das tatsächliche Vorliegen dieser Korrespondenz führt dazu, dass
Artgenossinnen Nektar finden, die Larven füttern können usw. Folgen die Artgenossinnen
der durch den Tanz exemplifizierten Abbildungsregel, dann sollten sie Futter finden. Sie
sollten dies nicht nur in einem epistemischen Sinne, insofern es wahrscheinlich ist, dass in
der angezeigten Richtung Futter zu holen ist, sondern in dem normativen Sinne, dass dies
die Aufgabe des Tanzes ist. Bestimmte Bienentänze wie etwa der Schwänzeltanz enthalten
neben Ort und Zeit weitere Komponenten, nämlich Ausrichtung, Bewegung und Duft der
Tanzbiene, die mit zwei Arten von Komponenten in der Welt systematisch
korrespondieren, nämlich mit variablen und mit invariablen Komponenten. Zu den
invariablen Komponenten gehören Bienenstock, Sonne, Futterquelle, zu den variablen
Komponenten die Richtung, die Entfernung und die Qualität des Futters. Mit der Richtung
relativ zum Sonnenstand korrespondiert die Ausrichtung, mit Entfernung relativ zum
Stock die Bewegung und mit der Qualität der Duft der Tanzbiene. Dies sind die
Korrespondenzregeln für den Schwänzeltanz. Die variablen Komponenten können
entsprechend der Veränderung der Richtung, der Entfernung und der Qualität einer
Futterquelle transformiert werden. Dies sind die Transformationsregeln für den
Schwänzeltanz.125 Die Schwänzeltänze der Honigbienen bzw. die Schwänzeltänze einer
125 Der Tanz kann jedoch auch ganz transformiert werden, etwa wenn der Schwänzeltanz zu einem Rundtanz
wird, sobald die Entfernung der Nahrungsquelle vom Stock weniger als 90 Meter beträgt. Oder es werden
sogar (relativ zu einem bestimmten Repräsentationstyp) invariable Elemente transformiert. Unter bestimmten
Bedingungen können die Tänze der Biene nämlich nicht nur die Entfernung und Richtung und Qualität von
63
einzelnen Biene bilden zusammen ein System von Repräsentationen. Korrespondenz- und
Transformationsregel zusammen legen die Abbildungsregeln (mapping rule) für ein solches
System fest. Die Abbildung zwischen Repräsentation und Vehikel ist keine wesentlich
piktoriale oder diagrammatische Abbildung, sondern eine Abbildung im Sinne einer
abstrakten Isomorphie. Darüber hinaus enthält eine Abbildungsrelation keine verdeckten
intentionalen Zutaten.126 Die relevante Abbildungsrelation (die Abbildungsregel) ist ein
Produkt der natürlichen Selektion. Es ist jene Relation, um derentwillen ein bestimmter
Mechanismus selektiert worden ist. Die Abbildungsrelation selbst ist abstrakte Isomorphie,
die als solche keine intentionalen Voraussetzungen hat.
Systeme von Repräsentationen sind also stets strukturiert und korrespondieren mit
Sachverhalten aufgrund bestimmter Abbildungsregeln. In Millikans Terminologie müssen
Repräsentationen „be mapped onto a state of affairs according to a mapping rule”, und sie
müssen „part of a representational system“ mit bestimmten Abbildungsregeln sein.127 Unter
den zahlreichen Abbildungs- oder Isomorphie-Relationen, die ein R-Vehikel zu Dingen in
der Welt unterhält, ist nun jene Relation relevant, die den Überlebenswert (den
evolutionären
Erfolg)
eines
Repräsentationssystems
erklärt.
Die
relevante
Abbildungsrelation ist mithin jene, die vorliegen muss, damit ein K-System seine Funktion
ausüben kann. Und diese Abbildungsrelation ist die Abbildungsregel:
„Which mapping rule (which transformation correlation) is the relevant one to
mention – which rule determines what the dance represents – is quite obvious.
This rule is determined by the evolutionary history of the bee. It is that in
accordance with which the dance must map onto the world in order to function
properly in accordance with a Normal explanation, or, what is the same, in order
that the mechanisms within watching bees that translate (physicist’s sense) the
dance pattern into a direction of flight should perform all of their proper functions
(including getting the bees to nectar) in accordance with a Normal explanation.“128
Nehmen wir an, eine Biene führe einen Schwänzeltanz S auf, der angibt, dass sich gutes
Futter 680 Meter entfernt in östlicher Richtung befindet. S ist ein Adaptiertes Vehikel,
dessen Funktion sich sowohl von der Funktion des P-Mechanismus als auch vom Adaptor
ableitet. Die Echte Funktion des P-Mechanismus ist es, Vehikel hervorzubringen, die
Futterquellen relativ zu Sonnenstand und Bienenstock lokalisieren. Der Adaptor ist jene
Futterquellen angeben, sondern auch Entfernung und Richtung von Wasserstellen (bei Wasserknappheit)
oder Brutplätzen (bei der Trennung eines Bienenvolkes).
126 Pace Godfrey-Smith 1988.
127 Millikan lehnt sich auch hier an Morris an. Im Bereich der Syntax gibt es Morris zufolge zwei allgemeine
Arten von Regeln. Diese beiden Regelarten „determine the sign relations between sign vehicles“ (Morris
1934: 35). Es gibt einerseits Bildungsregeln „which determine permissible independent combinations of parts
of sentences“ und es gibt andererseits Transformationsregeln „which determine the sentences which can be
obtained from other sentences“.
128 WQP: 78f.
64
Bedingung B, an die ein Adaptiertes Vehikel angepasst sein sollte, und zwar indem es gemäß
einer Abbildungsregel mit B korrespondiert. (Das normative Vokabular in dieser
Beschreibung ist gerechtfertigt durch die Echte Funktion des K-Mechanismus.)
S hat jedoch zwei Echte Funktionen. Als Adaptiertes Vehikel besitzt S, wie bereits
beschrieben, eine Adaptierte Abgeleitete Relationale Echte Funktion. Doch S ist auch
Mitglied einer REF22, weil es sich bei S um ein reproduziertes Token einer Reihe von
Schwänzeltänzen einer bestimmten Biene handelt, und als solches hat S eine Direkte Echte
Funktion. Die Direkte Echte Funktion des Produzenten legt die invarianten Komponenten
von S fest, der Adaptor bestimmt die varianten Komponenten, die nach einer Regel den
Adaptor abbilden. Läuft alles gut (nämlich in Übereinstimmung mit einer Normalen
Erklärung), finden die Artgenossinnen gutes Futter in 680 Meter Entfernung Richtung
Osten. Das Flugverhalten F der Artgenossinnen, die S interpretieren, ist an diesen Tanz
angepasst. S ist ihr unmittelbarer Adaptor. Doch ebenso ist das Flugverhalten angepasst an
den Adaptor von S selbst, nämlich an die Futterquelle in 680 Meter Entfernung Richtung
Osten. Dies ist der ursprüngliche Adaptor des Flugverhaltens. Ein Adaptiertes Vehikel kann
also auch ein anderes Adaptiertes Vehikel als Adaptor haben. Der unmittelbare Adaptor
von F ist S, der ursprüngliche Adaptor von F hingegen ist der Adaptor von S, nämlich B. F
und S teilen den ursprünglichen Adaptor, nur ist F’s Relation zum Adaptor vermittelt über
ein Adaptiertes Vehikel, S’s Relation hingegen nicht.
Wir können jetzt bestimmen, inwiefern S eine Repräsentation mit einem IR-Inhalt
ist:
(1) S ist Mitglied einer REF mit einer Direkten Echten Funktion.
(2) S übt seine Funktion in Übereinstimmung mit einer Normalen Erklärung nur aus
als Bestandteil eines kooperativen Systems von einem P-Mechanismus und einem
K-Mechanismus, die gegenseitig eine Normale Bedingung für die Ausübung ihrer
Echten Funktionen sind.
(3) S übt seine Funktion in Übereinstimmung mit einer Normalen Erklärung aus,
indem es den K-Mechanismus an eine Bedingung B anpasst, die zur Ausübung der
Echten Funktion des Konsumenten vorliegen muss.
(4) Die Normale Erklärung dafür, dass S den K-Mechanismus an B anpasst, die zur
Ausübung der Echten Funktion des Konsumenten vorliegen muss, zitiert das
Vorliegen einer Korrespondenz zwischen S und B gemäß einer Abbildungsregel.
65
Millikan bezeichnet Repräsentationen, die dieser Bestimmung entsprechen in Anlehnung
an Peirce als „intentionales Icon“ (intentional icon).129
Ein intentionales Icon ist das Paradigma anhand dessen R-Vehikel als intentionale
Repräsentationen betrachtet werden können. Von ihm ausgehend kann der gesamte Bereich der
Repräsentationen und Zeichen unter ein vereinheitlichendes Muster gebracht werden.
Ich werde das entsprechende Vorgehen der Biosemantik am Ende dieses Abschnitts als
„Theoriekonstruktion“ charakterisieren und diese in Abschnitt 2.3. als Ausprägung des
Erklärens
durch
Vereinheitlichung
rechtfertigen.
Der
pragmatistisch-semiotische
Hintergrund der Biosemantik wird in den Abschnitten 1.2.1.-1.2.5. dargestellt.
Wie steht es mit Fehlrepräsentationen? Ein Vehikel, so haben wir gesagt, sei
fehladaptiert, wenn es nicht jene Relation zu einem Adaptor unterhält, die es unterhalten
sollte. Nehmen wir an, S sei auf die folgende Weise fehladaptiert: Die Futterquelle befindet
sich nicht in 680 Meter Entfernung Richtung Osten, wie S anzeigt, sondern 680 Meter in
nördlicher Richtung. Obwohl S eine Futterquelle in 680 Meter Entfernung Richtung Osten
anzeigt, besteht seine Adaptierte Abgeleitete Relationale Echte Funktion darin, eine
Futterquelle 680 Meter in nördlicher Richtung anzuzeigen, denn die Abgeleitete Funktion
von S setzt sich aus der Funktion des Produzenten und der Lage des Adaptors zusammen.
Als Mitglied einer REF von Schwänzeltänzen jedoch hat S die Direkte Relationale Echte
Funktion, eine Futterquelle in 680 Meter Entfernung Richtung Osten anzuzeigen. So
gesehen ist S nicht fehladaptiert, denn der Adaptor für S sind die Vorfahren seiner REF. S
weicht nicht von der korrekten Abbildungsregel ab, nach der diese Tänze gebildet werden.
S hat also in diesem Fall zwei konfligierende Echte Funktionen. Die Artgenossinnen folgen
ihrem unmittelbaren Adaptor und fliegen in Richtung Osten. Es gibt eine Normale
Erklärung für F, die Bezug nimmt auf die Direkte Echte Funktion von S. Aus der
Abbildungsregel des Schwänzeltanzes lässt sich erklären, warum sie Richtung Osten fliegen.
Soweit scheint alles in Ordnung. Die Artgenossinnen interpretieren den Tanz als Mitglied
einer REF korrekt gemäß einer Abbildungsregel.
Was nicht erfüllt ist, sind die Klauseln (3) und (4). Weil S fehladaptiert ist, passt es
den K-Mechanismus nicht an die Bedingung B an, die zur Ausübung der Echten Funktion
des Konsumenten vorliegen muss. Und die Normale Erklärung dafür, dass S den KMechanismus an B anpasst, kann sich nicht auf das Vorliegen einer Korrespondenz
zwischen S und B gemäß einer Abbildungsregel berufen. Was also fehlt, ist eine Anpassung
der Reaktion der Artgenossinnen an den ursprünglichen Adaptor von S (nämlich die
Futterquelle 680 Meter in nördlicher Richtung). Fliegen die Artgenossinnen in Richtung
129
Vgl. LTOBC: VI.
66
Osten, so fliegen sie in die falsche Richtung. Der unmittelbare Adaptor S hat dem Flug
diese Richtung gemäß einer Abbildungsregel vorgegeben, nur entspricht sie nicht der
Richtung des ursprünglichen Adaptors, die S gemäß derselben Abbildungsregel ihnen
vorgeben sollte, damit der Flug seine Echte Funktion erfüllen kann, nämlich die
Artgenossinnen zu Futter zu führen. (Erinnern wir uns daran, dass die Direkte Echte
Funktion der P-Mechanismen darin besteht, R-Vehikel hervorzubringen, die Futterquellen
anzeigen, weil dies es ist, was der K-Mechanismus braucht, um seine Echte Funktion zu
erfüllen, nämlich die Artgenossinnen zu Futter zu führen. Ein Flug in eine bestimmte
Richtung hätte als solcher keinen Überlebenswert für die Bienen. Aus diesem Grund
gehört es zur Echten Funktion von S Futterquellen anzuzeigen, unabhängig davon, ob man
S als Abgeleitete Funktion oder als Direkte Funktion betrachtet.) Sollten die
Artgenossinnen trotz der Fehladaptation von S nach 680 Meter in östlicher Richtung
zufällig Futter finden, dann erfüllt S zwar die Funktion, die K-Mechanismen an eine
bestimmte Bedingung B anzupassen, aber nicht gemäß einer Normalen Erklärung, sondern
durch einen glücklichen Zufall. Man könnte sagen, dass S zwar wahr ist, aber kein Wissen
darstellt.
Die Abbildrelation, die vorliegen muss, damit eine Biene den Nektar an der
repräsentierten Stelle findet, trägt, wenn sie tatsächlich vorliegt, dazu bei, dass die Biene
den Nektar an der betreffenden Stelle findet; wenn sie nicht vorliegt, trägt sie nicht dazu
bei, und die Biene findet dort keinen Nektar. Sie kann natürlich Nektar an anderer Stelle
finden, nur erfüllt ihre Fähigkeit, den Tanz zu interpretieren, dann nicht die Echte
Funktion, nämlich an der angegeben Stelle Nektar holen zu können. Sie kann auch an der
repräsentierten Stelle Nektar finden, falls Gott dort mittlerweile hat Blümchen sprießen
lassen oder ein Biologe dort Nektar deponiert hat. Doch dann findet sie den Nektar nicht
dadurch, dass ihre Fähigkeit, den Tanz zu interpretieren, seine Echte Funktion in
Übereinstimmung mit einer Normalen Erklärung ausübt.
Treten wir einen Schritt zurück, vergegenwärtigen wir uns den Grundgedanken.
Repräsentationen haben einen Inhalt, wenn sie als Repräsentationen verwendet
(interpretiert, konsumiert) werden. Anders formuliert: Der Inhalt eines R-Vehikels wird
durch die Funktion seines Interpreten festgelegt. Präziser formuliert: Der intentionale
Inhalt eines R-Vehikels (das ein solches ist in Abhängigkeit von einem Produzenten mit
einer Direkten Echten Funktion) wird festgelegt durch jene Korrespondenz zu
Sachverhalten, die vorliegen muss, damit ein Konsument seine Funktion ausüben kann.
Die Teleosemantik ist eine Theorie der Intentionalität (des IR-Inhalts), nicht der
67
Repräsentation (des R-Inhalts). Eine solche Theorie muss zuerst einen Vorschlag dazu
machen, worin eine Repräsentation besteht. Millikans Vorschlag ist eine abstrakte
Abbildtheorie, wobei der Produzent der Abbildung die Echte Funktion hat, Abbildungen
nach einer bestimmten Abbildungsregel hervorzubringen. Der teleosemantische Aspekt ist
der Folgende: Die Möglichkeit der Fehlrepräsentation wird durch die Echte Funktion eines
Konsumenten (oder Interpretanten) beigesteuert. Liegen die Abbildrelationen, die ein
Konsument braucht, um seine Funktion auszuüben, nicht vor, dann ist die Repräsentation
falsch. Eine gemäß einer Normalen Erklärung operierende Repräsentation ist also Teil
eines Systems der (i) einen P-Mechanismus, (ii) einen K-Mechanismus und (iii)
Bedingungen der Umwelt eines Lebewesens einschließen muss. Der Einschluss der
Umweltbedingungen erfolgt über Vehikel, die gemäß einer Abbildungsregel mit
Umweltbedingungen korrespondieren. Wichtig sind also die Kooperation von Produzent
und Konsument und das Vorliegen einer repräsentationalen Struktur, die mit etwas in der
Welt korrespondieren muss, damit der Konsument tun kann, was er zu tun die Aufgabe
hat.
Innere Repräsentationen von Lebewesen bilden auf dieselbe Art und Weise ein
repräsentationales System, nur dass Produzenten und Konsumenten nicht auf zwei
unterschiedliche Lebewesen verteilt sind, sondern sich in einem Lebewesen finden. Ich
werde
auf
innere
Repräsentationen
im
Verlauf
der
Diskussion
tierlicher
Repräsentationssysteme bei Sellars (1.2.7.) und ausführlich im Zuge der Diskussion von
Wahrnehmungsinhalten in Kapitel 5 zurückkommen. Es liegt auf der Hand, dass das
Spektrum der inneren Repräsentationen sehr weit ist. Nicht nur finden sich
Repräsentationen sowohl in Bakterien als auch in Personen, sondern im Körper von
Personen finden sich unzählige repräsentationale Vehikel.130 Wie passen jedoch
Repräsentationen wie Überzeugungen in dieses Bild? Obschon es zwischen Sätzen und
Überzeugungen Unterschiede gibt und Sätze ein möglicherweise irreführendes Modell für
Überzeugungen und andere innere Repräsentationen sind, ist es heuristisch angemessen mit
Sätzen als einem Modell für Überzeugungen zu beginnen. Dies möchte ich im folgenden
Abschnitt tun.
130
Zu inneren Repräsentationen bei Millikan vgl. LTOBC: VI, WQP: III-VO, VM: VI, XIII-XVII.
68
1.1.6. Theoriekonstruktion: Aussagen und Überzeugungen
Zunächst kann die Intentionalität sprachlicher Repräsentationen analog zur Intentionalität
des Bienentanzes betrachtet werden. Und tatsächlich entwickelt Millikan das Paradigma des
intentionalen Icon nicht nur für Bienentänze, sondern in erster Linie für indikative (und
imperative) Aussageformen. Wie Bienentänze haben sprachliche Formen Echte
Funktionen, die sich in einem Prozess der Ko-Evolution zwischen kooperativen Partnern,
nämlich Sprechern und Hörern, entwickelt haben. Sprachliche Formen sollen in einem
Hörer bestimmte Verhaltensweisen (oder andere Wirkungen) hervorrufen. Worin besteht
der Beitrag einer sprachlichen Form? Nehmen wir an, die Echte Funktion eines
Aussagesatzes bestehe darin, Überzeugungen über Sachverhalte in der Welt im Hörer
hervorzurufen. Eine derart hervorgerufene Überzeugung kann vom Hörer nur dann
erfolgreich weiter verwendet werden, wenn der Aussagesatz mit dem Vorliegen bestimmter
Sachverhalte in der Welt gemäß einer Regel korrespondiert. Ein Aussagesatz, der keine
solchen Überzeugungen hervorruft, erfüllt seine Echte Funktion nicht. Lügen und
Falschaussagen sind demzufolge defekte Aussagesätze. Sie haben die Form von
Aussagesätzen, erfüllen aber nicht die Funktion, die Aussagen erfüllen sollten.
Der Beitrag einer sprachlichen Form wie der Aussageform kann also in der
Korrespondenz gemäß einer Abbildungsregel bestehen, die beispielsweise die Ausführung
bestimmter Weisen des Verhaltens für den Hörer ermöglicht. Karl sagt zu Clara: „In
diesem Schrank steht Honig.“ Clara bildet die Überzeugung aus, dass in diesem Schrank
Honig steht. Wenn sie eine falsche Überzeugung erworben hat, so hat die Aussage ihre
Funktion nicht erfüllt. Warum? Wenn Clara beispielsweise Lust auf Honig hat, in besagtem
Schrank nach Honig sucht, aber keinen Honig finden kann, weil dort keiner ist, so hat die
Überzeugung, dass in diesem Schrank Honig ist, eine Echte Funktion nicht erfüllt, nämlich
die Funktion zu jenen Bedingungen zu führen, die Claras Wunsch nach Honig befriedigen.
Ob sich Karl getäuscht hat oder ob er gelogen hat, macht für die Funktion der Aussage
keinen Unterschied. Weiter kann die erfolgreiche Verwendung der durch den Aussagesatz
bewirkten Überzeugung auch Schlüsse betreffen, denn ebenso wenig würde die falsche
Überzeugung eine ihrer Echten Funktionen erfüllen, wenn Clara sie beispielsweise in einem
Schluss verwenden würde: „Karl hat nie Honig zuhause, aber er hat von der Mutter Honig
geschenkt bekommen. In diesem Schrank steht Honig. Also steht in diesem Schrank das
Geschenk von Karls Mutter.“ Wiederum macht es keinen Unterschied, ob Karl sich
getäuscht oder ob er gelogen hat. Clara kann aus Karls Aussage auch schließen, dass Karl
die Überzeugung hat, dass in diesem Schrank Honig ist. Doch nun erfüllt die Aussage eine
69
andere Funktion. Sie gibt nicht Aufschluss über einen Sachverhalt in der Welt, sondern
über einen Zustand des Sprechers. Man kann dies daran erkennen, dass es nun für das
Verhalten von Clara einen Unterschied macht, ob Karl gelogen oder ob er sich nur
getäuscht hat. Erzählt sie jemandem, Karl glaubt, dass in diesem Schrank Honig sei, dann
sagt sie im Irrtumsfall etwas Wahres, im Lügenfall jedoch etwas Falsches. Wir haben ja
nicht gesagt, dass die Funktion des Aussagesatzes darin besteht, im Hörer eine
Überzeugung hinsichtlich der Überzeugungen eines Sprechers hervorzurufen. Von „Es
steht Honig im Schrank“ zu „Karl denkt, dass Honig im Schrank steht“ ist es ein weiter
Weg.
Wie steht es mit internen Repräsentationen (inneren intentionalen Zeichen) wie
Überzeugungen und Wünschen? Beginnen wir mit einer anderen, etwas einfacheren
Version der Teleosemantik. Dieser Version zufolge besteht der IR-Inhalt eines Wunsches
W („Ich will Milch“) in jenem Sachverhalt (das R-Ziel), den mit herbei zu führen W (das RVehikel) die Funktion hat. W ist ein bestimmter Wunsch, weil er erstens im Subjekt des
Wunsches (und nicht in einem anderen Subjekt) auftritt, und weil W zweitens nicht
irgendeinen Sachverhalt mit verursachen soll, sondern genau den Sachverhalt, der das RZiel von W ist. Wie verhalten sich Überzeugungen dazu? Zunächst könnte man den
intentionalen Inhalt einer Überzeugung als jenen Sachverhalt betrachten, mit dem sie
(kausal oder informational) ko-variieren muss.131 Die Überzeugung Ü (ein R-Vehikel), dass
in jenem Glas Milch ist, ko-variiert mit dem Sachverhalt, dass jetzt dort Milch ist, und Ü
hat (als Überzeugung) die Funktion, mit Sachverhalten bestimmter Art zu ko-variieren.
Nun ist zwar die Rede, dass mentale Zustände die Funktion haben, mit Sachverhalten zu
ko-variieren, in der teleosemantischen Literatur beinahe allgegenwärtig, ist aber unhaltbar.
So sagt Dretske, dass Repräsentationen die Funktion haben, etwas anzuzeigen, d.h.
Information über etwas zu tragen.132 Doch Echte Funktionen sind selektierte Wirkungen.133
Es ist die Funktion von etwas, etwas Bestimmtes zu bewirken oder hervorzubringen. Wenn
es die Funktion von Ü sein soll, mit X kausal zu ko-variieren, dann ist es die Funktion
dieses Zustandes, zu bewirken, dass er mit X ko-variiert. Nur kann Ü natürlich nicht
bewirken, dass Ü von X bewirkt worden ist, und Ü kann ebenso wenig bewirken, dass Ü über
X Information trägt.
David Papineaus Version der Teleosemantik zufolge ist der Inhalt einer
Überzeugung jener Sachverhalt, der notwendig vorliegen muss, um zu der Erfüllung eines
Vgl. Dretske 1988: III, 1995: I.
Dretske 1995: xiii.
133 Vgl. WQP: 129; Godfrey-Smith 1989: 542.
131
132
70
Wunsches beizutragen.134 Die Anforderung kann modifiziert werden: Das Vorliegen eines
Sachverhalts ist keine notwendige, sondern eine hinreichende Bedingung dafür, dass die
Überzeugung die Funktion ausüben kann, zur Erfüllung eines Wunsches beizutragen.135 Es
ist also die Funktion von Überzeugungen zur Erfüllung von Wünschen beizutragen. Will
Karl Milch trinken, so repräsentiert die Überzeugung den Sachverhalt, dass in jenem Glas
Milch ist, weil dieser Sachverhalt zur Erfüllung solcher Wünsche in der Vergangenheit
beigetragen hat. Die Funktion einer Überzeugung besteht also in ihrem Beitrag zu
Verhalten oder zu Überlegungen, die zur Erfüllung eines Wunsches führen, dessen Inhalt
bereits fixiert ist. Das Problem, dass eine Überzeugung die Funktion haben soll, den
repräsentierenden Sachverhalt hervorzubringen, findet sich in dieser Version nicht. Nun ist
in der ersten Version dieser Version das tatsächliche Vorliegen des Sachverhalts eine
notwendige Bedingung dafür, dass die Überzeugung diese Funktion ausüben kann,
während das Vorliegen des Sachverhalts in der zweiten Variante sogar eine Garantie dafür
abgibt, dass die Überzeugung diese Funktion ausübt. Doch das tatsächliche Vorliegen eines
Sachverhalts und die wahre Überzeugung, dass der Sachverhalt vorliegt, sind keine
Garantie für die Erfüllung eines Wunsches. Die Milch könnte verdorben sein, verschüttet
oder geklaut werden, es könnte sich um Norwegische Sauermilch, um Mongolische
Gärmilch oder um Zmilch handeln usw. Und schließlich können falsche Überzeugungen
Wünsche auch zufällig erfüllen. Will Karl Milch trinken und kommt zur (falschen)
Überzeugung, dass sich in jenem Glas nur Apfelsaft befindet, obschon es sich in Tat und
Wahrheit um Milch handelt (seltsame Lichtverhältnisse trüben seinen Blick), greift er
dennoch nach dem Glas und leert es, um überrascht festzustellen, dass es sich um Milch
handelt, so hat eine falsche Überzeugung den Wunsch zufällig erfüllt. Es ist also nicht
notwendig, dass wahre Überzeugungen vorliegen. Ganz unabhängig von diesen Problemen
erscheint es nicht plausibel, von einer solch engen begrifflichen Abhängigkeit von
Wünschen und Überzeugungen auszugehen, denn es scheint keineswegs unplausibel, dass
eine Antwort auf die Frage nach dem Inhalt von Überzeugungen unabhängig von ihrem
Beitrag zu Wunscherfüllungen gegeben werden kann. Diese zweite Version der
Teleosemantik muss ja auch die Inhalte von Wünschen überzeugungsunabhängig
spezifizieren können. Es leuchtet deshalb prima facie gar nicht ein, warum dies für
Überzeugungen nicht der Fall sein soll.
Anders als Dretske oder Papineau fordert Millikan für Repräsentationen (und
mithin auch für Überzeugungen) weder Kovarianz noch das Vorliegen von Bedingungen
134
135
Vgl. Papineau 1987.
Vgl. Papineau 1993.
71
zur Erfüllung von Wünschen. Wünsche haben auch Millikan zufolge die Funktion, zu ihrer
Erfüllung beizutragen. Und ihre Auffassung von Überzeugungen lässt sich mit der
Papineauschen Version vergleichen. Denn die Echten Funktionen einer Überzeugung
besteht auch darin „to participate in inferences in such a manner as to help produce
fulfilment of desires”. Und sie besteht auch darin „to participate in inferences to yield other
beliefs“.136
Die Direkte Echte Funktion des für die Ausbildung von Überzeugungen bei einem
Menschen (Karl) verantwortlichen Mechanismus ist (so wollen wir vereinfachend
annehmen) Wahrheit, d.h. die Produktion von Hirnzuständen, die mit Sachverhalten in der
Welt auf bestimmte Weise korrespondieren. Auch hier sollten wir nicht ausschließen, dass
der verantwortliche P-Mechanismus (ein Neuronenensemble) einer neurobiologischen
Normalen Erklärung zugänglich ist. Die Adaptierte Echte Funktion des Hirnzustands
(eines
Adaptierten
Vehikels)
von
Karl
besteht
in
der
Hervorbringung
der
Übereinstimmung dieses Hirnzustands mit einem bestimmten Sachverhalt. Die Funktion
des Adaptierten Vehikels ist es, Karl in Übereinstimmung mit Sachverhalten in der Welt zu
bringen. Der Hirnzustand (R-Vehikel) mit einem strukturierten Inhalt (R-Inhalt) dient nicht
nur der Übereinstimmung mit einem Sachverhalt (R-Ziel), sondern spielt auch in der
Erfüllung von Wünschen oder in der (inferenziellen) Ausbildung weiterer Überzeugungen
oder in der (inferenziellen) Ausbildung weiterer Überzeugung zur Erfüllung von Wünschen
usw. eine Rolle. Der Inhalt von Karls Überzeugung, dass ein Glas Milch vor ihm steht,
besteht in der Biosemantik weder in der Kovariation mit einem Sachverhalt noch in der
Beihilfe zur Wunscherfüllung. Vielmehr besteht der Inhalt einer Überzeugung in der
Normalen Bedingung, die vorliegen muss, damit ein K-Mechanismus seine Funktion
ausüben kann. Wenn Karls Überzeugung Ü, dass dort ein Glas Milch steht, auf Normalem
Wege entstanden ist (wenn sein visuelles System und sein Gehirn als Reaktion auf den
Sachverhalt bestimmte Strukturen ausbilden) und dieses R-Vehikel von einem KMechanismus (einem System das seinerseits Handlungen oder Aussagen oder Schlüsse oder
eine Kombination davon produziert) interpretiert wird, dann besteht der IR-Inhalt von Ü
weder in der Funktion des sie produzierenden noch des sie konsumierenden Systems,
sondern in dem Sachverhalt, mit dem Ü korrespondieren muss, damit ein konsumierendes
System seine Funktion ausüben kann. Der P-Mechanismus (das Zentralnervensystem oder
Teile des Zentralnervensystems) hat die Direkte Echte Funktion wahre Überzeugungen
hervorzubringen (d.h. R-Vehikel, die mit bestimmten Sachverhalten korrespondieren), und
es bringt Zustände mit der Abgeleiteten Adaptierten Echten Funktion hervor, mit
136
WQP: 71.
72
bestimmten Sachverhalten zu korrespondieren, und zwar gemäß einer Normalen Erklärung
(beispielsweise in Form einer neurobiologischen oder in Form einer alltagspsychologischen
Erklärung). Der K-Mechanismus kann seine Funktion nur unter der Bedingung des
Vorliegens der Korrespondenz zwischen dem R-Vehikel und einem Sachverhalt ausführen.
Im Falle einer Wahrnehmungsüberzeugung wie Ü es ist, führt Ü beispielsweise zu der
indikativen Aussage „Das ist ein Glas mit Milch“, zum Griff nach dem Milchglas oder zur
Speicherung im Gedächtnis. Damit die Aussage wahr sein kann, damit der Griff nach dem
Glas erfolgreich sein kann oder damit der Gedächtnisinhalt späterhin erfolgreich verwendet
werden kann, muss eine Korrespondenz zwischen Ü und dem Sachverhalt vorliegen. Der
IR-Inhalt besteht nicht in der Korrespondenz alleine, sondern in der Korrespondenz, die vorliegen
muss, damit ein Konsument (Sprachvermögen, Greifvermögen, Gedächtnis) seine Funktion
erfüllen kann (und zwar erfüllen in Übereinstimmung mit einer Normalen Erklärung).137
Betrachten wir folgenden Fall: Karl hegt den Wunsch, den Durst von Klärchen zu
stillen (Klärchen schreit und stört Karls Konzentration), er bildet die Überzeugung aus,
dass dort ein Glas Milch steht, zieht den Schluss, dass Milch den Durst von Klärchen
löscht, und dass seine Handlung, das Glas Klärchen zu trinken zu geben, seinen Wunsch
befriedigt. Die Funktion dieser Überzeugung besteht jetzt nicht allein darin, mit einem
Sachverhalt zu korrespondieren, sondern auch darin, Teil eines Schlusses zu sein und zu
der Befriedigung eines Wunsches beizutragen. Welches sind die Normalen Bedingungen,
die vorliegen müssen? Zur Korrespondenz mit Sachverhalten in der Welt treten die
Wünsche von Karl, seine Überzeugungen, seine Fähigkeit Mitmenschen als Wesen mit
intentionalen Zuständen zu verstehen, seine Vermögen Schlüsse zu ziehen. Alle diese
Bedingungen sind relevant für die (genauere) Festlegung des Inhalts der Überzeugung. Die
relevante Bedingung ist jedoch das Vorliegen einer Korrespondenz.
Wie im Fall der Bienen hat unsere evolutionäre Vorgeschichte dafür gesorgt, dass
wir über Mechanismen zur Ausbildung von Überzeugungen verfügen. Und ebenso wie
Bienentänze sind Überzeugungen auf systematische Weise miteinander verbunden. So
können Elemente der Struktur (Begriffe, Verbformen, Satzarten, implizite oder explizite
Indexe usw.) ausgetauscht und Überzeugungen so transformiert werden. Erfüllt das
Überzeugungssystem ihre Direkte Echte Funktion (gemäß einer Normalen Erklärung), so
bildet die Transformation Veränderungen in der Welt ab, und zwar jene Veränderungen,
die vorliegen müssen, damit ein Konsument seine Funktion (gemäß einer Normalen
Erklärung) ausüben kann. Beispielsweise kann Karls Überzeugung, dass diese Milch vor
137 Der kursiv gesetzte Zusatz entspricht, wie wir noch sehen werden, den Lehren, die Millikan Morris und
Sellars verdankt: Zeichen (Repräsentationen) haben eine fünfstellige Struktur und Inhalte sind nicht als solche
gegeben, sondern Inhalte liegen nur als interpretierte vor (vgl. 1.2.4.-1.2.7.).
73
zwei Stunden gut war, zur Überzeugung, dass diese Milch jetzt schlecht geworden ist,
transformiert werden.
Überzeugungen können also gewissermaßen als mentale Sätze betrachtet werden,
die (wie andere Vehikel auch) eine interne Struktur aufweisen und Abbildungsregeln
unterliegen. Bestandteile von Überzeugungen korrespondieren mit Sachverhalten in der
Umwelt, diese Bestandteile können entsprechend den Veränderungen in der Umwelt
ersetzt und transformiert werden. (Korrespondenz- und Transformationsregel legen
zusammen, so haben wir gesehen, die Abbildungsregeln für ein Repräsentationssystem
fest.) Überzeugungen haben wie Aussagen eine Echte Funktion. Die Funktion von
Überzeugungen ist abgeleitet von dem Mechanismus, der Überzeugungen hervorbringt.
Die Funktion dieses Mechanismus besteht in der Generierung wahrer Überzeugungen. Nur
das Überzeugungssystem einer Person, die lauter wahre Überzeugungen hätte, wäre ein
System, dessen kognitives Vermögen Normal (im Sinne einer Normalen Erklärung) tätig
ist. Solche Überzeugungen spielen eine Rolle für die Erinnerung, für das Verhalten, für
Wunscherfüllungen, für die Generierung neuer Überzeugungen, neuer Wünsche oder
Äußerungen.
Wodurch werden die Abbildungsregeln für die Überzeugungen einer Person P
festgelegt? Durch die individuelle Lerngeschichte von P. Damit P beispielsweise empirische
Überzeugungen ausbilden kann, die auf systematische Weise mit Sachverhalten in der Welt
korrespondieren, muss P zunächst lernen, Dinge (Objekte, Eigenschaften, Sachverhalte
usw.) mittels seiner Sinne zu identifizieren, mit denen Überzeugungen korrespondieren
sollen. P erwirbt Begriffe für diese Dinge. Durch den Erwerb von Begriffen vermag P
Dinge (Objekte, Eigenschaften, Sachverhalte usw.) über seine unterschiedlichen
Sinneskanäle, unter variablen Bedingungen und anhand zahlreicher Merkmale, die diese
Dinge aufweisen, zu identifizieren. Die Begriffe müssen P in die Lage versetzen, Dinge als
dieselbe Art von Objekt, dieselbe Art von Eigenschaft, dieselbe Art von Ereignis usw. zu
identifizieren, und zwar unter zahllosen und wechselnden Bedingungen. P erwirbt Begriffe
auf die für Mitglieder seiner Art Normale Weise, wenn solcherlei Identifikationen gelingen
und zur Ausbildung von Überzeugungen beitragen. Die Identifikationen gelingen, wenn die
erworbenen Begriffe nicht äquivok, nicht redundant und nicht leer sind.138
Wir haben alle wichtigen theoretischen Elemente für Überzeugungen à la Millikan
beisammen. Der Mechanismus zur Hervorbringung von Überzeugungen hat die Funktion
Strukturen hervorzubringen, die mit Sachverhalten korrespondieren. Vereinfacht (und
mittels semantischer Terme) ausgedrückt: Die Direkte Echte Funktion des Überzeugungs138
Vgl. dazu LTOBC: XV, OCCI: I-V, Millikan 1998a.
74
Mechanismus ist die Hervorbringung von Zuständen, die wahr sind. Einzelne
Überzeugungen haben diese Funktion jedoch abgeleitet. Eine Überzeugung ist ein
Adaptiertes Vehikel mit einer Adaptierten Echten Funktion. Als solche stehen
Überzeugungen wesentlich in einer bestimmten Relation zu Sachverhalten in der Umwelt
eines Lebewesens. Überzeugungen haben einen IR-Inhalt nicht allein aufgrund einer
Echten Funktion, sondern primär aufgrund des Vorliegens einer bestimmten
Korrespondenz, die vorliegen muss, damit ein Konsument seine Echte Funktion erfüllen
kann. Die Korrespondenz wird durch Abbildungsregeln bestimmt:
„In the case of [beliefs], the Normal explanation of how the [belief] adapts the
interpreter [or: consumer] device such that it can perform its proper functions
makes reference to the fact that the [belief] maps conditions in the world in
accordance with a specific mapping function of a kind ….“ 139
Die allgemeinen Bedingungen für indikative intentionale Repräsentationen können
gedrängt wie folgt zusammengefasst werden: Ein internes Vehikel R repräsentiert einen
Sachverhalt X (das R-Ziel), wenn
(1) R, das Produkt eines P-Mechanismus mit einer Direkten Echten Funktion ist (und
folglich eine Abgeleitete Echte Funktion hat),
(2) die Korrespondenz R : X eine Normale Bedingung für die Ausübung der Echten
Funktion eines (kooperativen) K-Mechanismus ist,
(3) die variablen und invariablen Komponenten von R mit variablen und invariablen
Komponenten von X gemäß einer Normalen Erklärungen korrespondieren,
(4) die Produkte des P-Mechanismus Abbildungsregeln unterstehen.140
Fassen wir zusammen! Die Zusammenfassung wird uns dazu dienen, eine wichtige
Beobachtung hinsichtlich der Methode von Millikan zu machen. Ich werde diese Methode
als
„Methode
der
Theoriekonstruktion“
141
Repräsentationen sind Bienentänze.
bezeichnen.
Millikans
Paradigma
für
Sie analysiert Bienentänze und Aussagesätze, und
gelangt dabei zum Begriff des intentionalen Icon.142 Anschließend wendet sie das Resultat
LTOBC: 97. Wünsche (reine innere direktive intentionale Zeichen) haben die Funktion Verhaltensweisen
zu verursachen, die bestimmte Sachverhalte bewirken. Der Inhalt eines Wunsches besteht in der
Korrespondenz zwischen Wunsch (R-Vehikel) und Sachverhalt, den hervorzubringen der Konsument des
Wunsches die Funktion hat. Der Konsument eines Wunsches benutzt den Wunsch, um den erwünschten
Weltzustand hervorzubringen: „In the case of [desires], it is a proper function of the interpreter [or:
consumer] device, as adapted by the [desire], to produce conditions onto which the [desire] will map in
accordance with a specific mapping function of a kind….“ (WQP: 97).
140 WQP: 89-90. Vgl. dazu die Definition von imperativen und indikativen Satzformen in LTOBC: 96f.
141 LTOBC: 85.
142 Vgl. LTOBC: V-VII.
139
75
der Analyse sowohl auf mentale Repräsentationen143 als auch auf sprachliche
Repräsentationen
an.144
Natürlich
gibt
es
Unterschiede
zwischen
dem
Repräsentationssystem der Bienentänze und jenem der Überzeugungen einer Person.
Bienentänze sind, anders als Überzeugungen, keine rein indikativen Repräsentationen,
sondern „Pushmi-pullyu-Repräsentationen“, in denen indikative und direktive Elemente
zusammenfallen.145 Darüber hinaus sind Bienentänze im Unterschied zu Überzeugungen
äußere Repräsentationen (äußere intentionale Zeichen), Überzeugungen hingegen innere
Repräsentationen. Überzeugungen sind jedoch einfach ein besonderer Fall indikativer
intentionaler Repräsentationen (oder innerer, indikativer intentionaler Zeichen). Natürlich
sind die Abbildungsregeln für Überzeugungen weitaus komplexer als jene der Bienentänze.
Die Funktionen der Konsumenten, die Überzeugungen benutzen, sind weitaus vielfältiger
und deshalb im Einzelnen auch bestimmbarer als die Funktionen der Konsumenten von
Bienentänzen. Sowohl die Mechanismen zur Ausbildung von Überzeugungen überhaupt
als auch die Mechanismen zur Produktion von Bienentänzen gehören zur artspezifischen
Ausstattung von Bienen und Menschen, doch Überzeugungssysteme und die ihnen
zugrunde liegenden Begriffe werden im Laufe einer individuellen Lerngeschichte erworben.
Für Überzeugungen müssen noch weitere Bedingungen vorliegen, die sie von Bienentänzen
unterscheiden. Doch wir wollen sie an dieser Stelle jedoch ausblenden, weil es nicht um die
Unterscheidung zwischen tierlichen inneren indikativen intentionalen Repräsentationen
und menschlichen inneren indikativen intentionalen Repräsentationen geht, sondern um
die Brauchbarkeit des Paradigmas des Bienentanzes zur Analyse von Repräsentationen
bestimmter Art, nämlich indikativen, intentionalen Zeichen.
Warum Zeichen? Millikan versteht ihre Theorie der Repräsentation sehr weit,
nämlich als eine Allgemeine Theorie der Zeichen: LTOBC entwickelt „a ‘general theory of
signs’ roughly in the sense C. S. Peirce envisioned – a theory that covers conventional signs
and thoughts (as well as some other things)“.146 Ich werde im folgenden Kapitel auf den
offensichtlich pragmatistischen Hintergrund der Biosemantik zu sprechen kommen. Zum
Schluss dieses Abschnitts möchte ich die Methode der Biosemantik charakterisieren. Wie
wir bereits gesehen haben, unterscheidet sich die Biosemantik dadurch von anderen
teleosemantischen Theorien, dass sie beansprucht eine Theorie sowohl sprachlicher
Repräsentationen (als äußeren intentionalen Zeichen) als auch mentaler Repräsentationen
(als innerer intentionaler Zeichen) zu sein. Das Ziel ist also eine umfassende Theorie, die so
Vor allem in WQP.
Vor allem in LBM.
145 Vgl. VM: 78, XIII; LBM: IX.
146 LTOBC: 6.
143
144
76
heterogene Phänomene wie natürliche, tierliche, menschliche, konventionelle, improvisierte
Zeichen, Indexe, Signale, Indikatoren, Symbole, Repräsentationen, Sätze, Karten,
Diagramme, Gemälde, Fotos usw. umfasst. Die treibende Intuition besagt, dass diese
Phänomene miteinander verwandt sind und dass der Begriff des Zeichens dieser Intuition
am ehesten gerecht wird.147
Millikan behauptet weder, dass der Ausdruck „Zeichen“, wie er auf die erwähnten
heterogenen, aber verwandten Phänomene angewendet wird, äquivok sei, noch behauptet
sie,
dass
die
Biosemantik
eine
Analyse
des
Zeichenbegriffs
leiste,
der
die
Anwendungsbedingungen dieses Begriffs auflisten soll. Die Biosemantik geht vielmehr so
vor, dass sie eine bestimmte Gruppe von Zeichen als paradigmatischen Fall nimmt, und
andere intuitiv als Gruppen von Zeichen designierten Phänomene durch die Ähnlichkeit
mit diesem Paradigma gerechtfertigter Weise als Zeichenphänomene betrachtet.148 Die
Intuition gibt der Annahme, dass alle diese Phänomene als Zeichenphänomene betrachtet
werden können, eine anfängliche Vertretbarkeit, doch erst die Ausarbeitung eines
Paradigmas und dessen Anwendung auf diese Phänomene verleiht der Idee einer
allgemeinen Zeichentheorie volle Vertretbarkeit.149 Das Vorgehen der Biosemantik ist nicht
Begriffsanalyse, sondern Theoriekonstruktion.150 Das hier gemeinte Verfahren der
Theoriekonstruktion geht (i) von einem anfänglichen Vorgriff auf den Gesamtbereich aus,
kehrt (ii) zurück zu einer genaueren Analyse eines paradigmatischen Falls, und wendet (iii)
die Resultat der Analyse auf den Gesamtbereich aus.151
Die Theorie und die Methode der Biosemantik lässt es offenbar zu, dass sehr viele
und sowohl ausgesprochen primitive als auch ausgesprochen elaborierte Zeichen und
Repräsentationen einen intentionalen Inhalt haben. Die Methode der Theoriekonstruktion
kennt
keine
prinzipiellen
Grenzen
des
Bereichs
der
Intentionalität.
Solange
Zeichenphänomene etwas falsch anzeigen können und solange sie mit dem Paradigma des
intentionalen Icons übereinstimmen, können diese Phänomene als intentionale betrachtet
werden. Theoriekonstruktionen messen sich an der vereinheitlichenden explanatorischen
Kraft ihrer Konstruktionen. Wie diese explanatorische Vereinheitlichung aussieht, werde
ich in Abschnitt 2.3. genauer darlegen. Im folgenden Abschnitt möchte ich zwei Grenzfälle
LTOBC: 85.
LTOBC: 85, 115.
149 Zum Verhältnis zwischen anfänglicher Vertretbarkeit (initial tenability) und voller Vertretbarkeit (full
tenability) vgl. Elgin 1996.
150 Wie wir noch sehen werden, weist dieses Verfahren der Theoriekonstruktion Parallelen zu Morris’
Vorgehen auf (vgl. 1.2.4.).
151 Vgl. Sellars 2007: 282: „It is a familiar point that if we want to understand a certain kind of phenomenon, a
wise strategy is to look for paradigm cases and get straight about them.“
147
148
77
der Anwendung der Biosemantik analysieren, die die Reichweite der semiotischen
Theoriekonstruktion der Biosemantik aufweisen sollen.
1.1.7. Die Reichweite der Biosemantik: Bakterien und Lyrik
Wie wir bereits in Abschnitt 1.1.1. gesehen haben, verfügen die Magnetosome maritimer
Bakterien über einen IR-Inhalt:
„Of what, Dretske asks, is the magnetosome’s orientation an intentional sign?
Does it signify magnetic north, geomagnetic north, deeper water, or lesser oxygen?
It is an intentional sign only of lesser oxygen. This is because it needs, and needs
only, to coincide with lesser oxygen to serve its purpose.“152
Das Magnetosom bezeichnet alle diese Dinge als R-Inhalte, denn die Orientierung der
Magnetosome unterhält Abbildungsrelationen zu jedem der vier genannten Sachverhalte.
Was braucht der K-Mechanismus, um seine Echte Funktion zu erfüllen? Was braucht das
Bakterium? Der K-Mechanismus der Magnetosom-Strukturen (das Antriebssystem des
Tiers) braucht die Angabe der Richtung eines Lebensraums, in dem das Bakterium
gedeihen kann. Aus der Behauptung, dass selbst Magnetosome über Repräsentationen mit
IR-Inhalt verfügen folgt, dass Intentionalität nicht das Merkmal des Mentalen sein kann,
sofern wir Bakterien nicht einen Geist unterstellen wollen. Doch die Umverteilung der
Intentionalität ist nicht so permissiv und egalitaristisch wie Kritiker und Sympathisanten
der Biosemantik meinen. So geht es beispielsweise nicht an, genetische Information
schlechterdings mit Intentionalität zu versehen.
Nehmen wir ein für die Biologie wichtiges Beispiel: die genetische Regulation bei
Bakterien.153 Ein Operon ist ein Bestandteil der DNA von Einzellern. Das Laktose-Operon
(lac-Operon) beispielsweise spielt für den Transport von Laktose ins und im Bakterium
eine wichtige Rolle. Die relevanten Proteine des lac-Operons werden erst dann exprimiert,
wenn im Umgebungsmedium zwar Laktose, aber keine günstigere Nahrung (etwa Glukose)
vorkommt. Laktose ist als Nahrung ungünstig, weil ihr Abbau kostspielig ist. Das lacOperon wird negativ durch einen Repressor, positiv durch einen Aktivator reguliert. Der
lac-Repressor verhindert die Genexpression, die zur Aufnahme von Lactose führt, der lacAktivator hingegen beeinflusst die Genexpression positiv, sodass das Bakterium Laktose
aufnehmen kann, und zwar nur solange entweder Laktose oder günstigere Nahrung
vorhanden ist. „Z“ sei jener Zustand des lac-Operons, in dem der Aktivator tätig ist. Z
152
153
VM: 82.
Jacob und Monod 1961.
78
repräsentiert der Biosemantik zufolge, dass im Umgebungsmedium des Bakteriums Laktose
vorhanden ist, und zwar weil es eine Echte Funktion des lac-Operons ist Z
hervorzubringen, wenn im Umgebungsmedium des Bakteriums Laktose (aber keine andere
Nahrung) vorhanden ist. Der lac-Aktivator kontrolliert die Genexpression, die dazu führt,
dass Laktose transportiert werden kann. Die Genexpression ist der Konsument des lacAktivators. Der Konsument kann seine Echte Funktion (Genexpression) nur erfüllen,
wenn im Umgebungsmedium des Bakteriums Laktose (aber keine andere Nahrung)
vorhanden ist. Liegt Z vor, ohne dass Laktose (oder solange andere Nahrung) vorhanden
ist, erfüllt das lac-Operon seine (eine seiner) Echten Funktionen nicht. Und der
Konsument (Genexpression) kann seine Echte Funktion (Laktosetransport) nicht ausüben,
da die Bedingung zur Ausübung der echten Funktion (Laktose im Medium) nicht erfüllt ist.
Inwiefern ist Z (Aktivatortätigkeit) in diesem Beispiel so strukturiert, dass Z mit B (Laktose
im Medium) korrespondiert? Nun, Z führt zumindest einen impliziten Zeitindex mit sich,
denn die Tatsache, dass Z vorliegt, soll nicht (normatives Sollen im Sinne der echten
Funktion des PM, der Z hervorbringt) auf Laktosevorkommnisse vorher oder nachher
verweisen, sondern auf Laktosevorkommnisse hic et nunc. Marcel Weber, der dieses Beispiel
benutzt, kommentiert es wie folgt:
„First, [das Laktose-Beispiel] ascribes semantic content to an extremely simple life
form. Teleosemanticists always choose much more complex organisms, namely
metazoans [Mehrzeller], to illustrate their theory. What this suggests is that they
implicitly use some additional constraints on intentional content. It seems to me
that they really want to ascribe semantic content only to organisms with a central
nervous system. But what is it about brains or ganglions that generates
intentionality? An answer to the effect that the central nervous system is a system
for information processing will not do, as the concept of information is what we
are trying to explicate here. A vicious circle looms here, especially if the
information processed by the CNS is of the intentional variety. In other words, the
implicit constraint that makes teleosemanticists chose brainy metazoans instead of
brainless bacteria as examples threatens to collapse the whole account on being
made explicit.“154
Es ist unklar, von wem hier die Rede ist. Dretske und Millikan etwa diskutieren ja einen
analogen Fall, nämlich das Beispiel des einzelligen magnetotaktischen Bakteriums.155 Es
trifft deshalb keineswegs zu, dass „teleosemanticists always choose much more complex
organisms“. Hingegen trifft zu, dass viele Teleosemantiker „really want to ascribe semantic
content only to organisms with a central nervous system”. Dretske etwa behauptet, dass
man solchen einfachen Lebewesen keine intentionalen Zustände zuschreiben sollte, und
154
155
Weber 2005: 406.
Dretske 1986, 1988: 63ff.; Matthen 1988 benutzt die Ribosom-Synthese im Bakterium E. coli.
79
zwar weil man die Echte Funktion der involvierten Mechanismen nicht festlegen könne.156
Er fordert eine bestimmte Art der Lernfähigkeit, die für die Funktionsfestlegung sorgen
soll.157 Falls die geforderte Lernfähigkeit nur Lebewesen mit einem Zentralnervensystem
zukommt, dann enthält die Zuschreibung intentionaler Zustände gegenüber ausschließlich
solchen Wesen natürlich keine zirkuläre, implizite Forderung.158 Und sollte das
Zentralnervensystem das kognitive Organ von Lebewesen sein, so beinhaltet die
Zuschreibung intentionaler Zustände gegenüber ausschließlich solchen Wesen ebenso
wenig eine zirkuläre, implizite Forderung.159
Wie steht es mit Millikans Biosemantik? Sie beschreibt, wie wir eben gesehen
haben, die Magnetosome als „an intentional sign […] of lesser oxygen.“160 Anders als
Dretske oder Fodor161 ist Millikan also durchaus bereit simplen Lebewesen Zustände mit
intentionalen Eigenschaften zuzuschreiben, da es sich bei diesen Zuständen um (innere)
intentionale Zeichen handelt. Sie charakterisiert solche (inneren intentionalen) Zeichen als
intentionale Signale,162 unterscheidet sie von intentionalen Icons wie Bienentänze163 und
von höheren intentionalen Repräsentationen wie Überzeugungen.164 Sie spezifiziert
Bedingungen für ein mentales Repräsentationssystem, wie es für Menschen kennzeichnend
ist,165 und erläutert den Beitrag natürlicher Sprachen (Systeme äußerer intentionaler
Zeichen) zur Leistungsfähigkeit unseres Repräsentationssystems.166 Freilich ist ein
intentionales Signal (wobei wir die Bedeutung dieses Begriffs anhand der Bakterienbeispiele
fixieren können) ein Grenzfall eines intentionalen Zeichens. Es ist deshalb ein Grenzfall,
weil die geforderte Strukturierung des Zeichens (der zeitliche Index) der kleinstdenkbare
Fall einer Strukturierung ist, nämlich die Kombination eines Zeitindexes mit einem
atomaren Ereignis. Es ist auch deshalb ein Grenzfall, weil ein solches Signal nur „in the
broadest possible sense of ‘intentionality’“ ein intentionales Zeichen ist, nämlich insofern
„that what is intentional apparently stands in relation to something else [….] yet which
something may or may not be.“167 Wer über intentionale Eigenschaften spricht, möchte ein
Dretske 1986.
Vgl. Dretske 1988: 95-107, 2000: 235-240 und Dretskes Antworten in McLaughlin 1991: 200-210.
158 Godfrey-Smith 1996 beispielsweise vertritt die These, die Funktion der kognitiven Vermögen bestehe
darin, es Lebewesen zu ermöglichen, mit komplexen Umwelten umzugehen. Nur Lebewesen in komplexen
Umwelten verfügen wirklich über Repräsentationen. Auch hier ist das Kriterium der Abgrenzung nicht
zirkulär. Für eine Ausarbeitung vgl. Sterelny 2003: II.
159 Vgl. Neander 2006.
160 VM: 82; vgl. WQP: 92ff., 125f.
161 Vgl. Fodor 1986.
162 LTOBC: 116f.
163 LTOBC: 96f.
164 LTOBC: 96, 240ff.
165 WQP: 97-101; VM: XVIII-XIX.
166 OCCI: VI, VM: IX, LBM: V.
167 LTOBC: 95.
156
157
80
bestimmtes Phänomen in den Griff bekommen, nämlich den Grund der „Beziehung
desienigen, was man in uns Vorstellung nennt, auf den Gegenstand“. Kant setzt bei dem
an, was man in uns Vorstellungen nennt, um das Phänomen in den Griff zu bekommen.
Die Biosemantik setzt bei einem tierlichen Fall von Intentionalität an, nicht um in diesem
Fall das Wesen der Intentionalität in den Griff zu bekommen, sondern um den
Gesamtbereich der Phänomene, die intuitiv Fälle von Intentionalität sind, zu verstehen und
zu erklären – und zwar zu verstehen durch konstruktive Übertragung und zu erklären
durch Vereinheitlichung (2.3.). Es gibt aber kein Merkmal des Intentionalen, außer jenes
allgemeine Merkmal, das Intentionalität im weitesten Sinn charakterisiert, nämlich „that
what is intentional apparently stands in relation to something else [….] yet which
something may or may not be.“168 Das analysierte Paradigma des intentionalen Icon ergibt
eine komplexe Menge an Merkmalen für Intentionalität, die auf den Gesamtbereich der
intentionalen Phänomene teilweise übertragen werden kann. Nur:
„There is no single feature or set of feature that characterizes everything we are
sometimes tempted to say exhibits ‘intentionality’. Rather there are various features
that things can share with sentences that may inspire us, in different moods, to see
these things as ‘intentional’ too.“169
Aus diesem Grund gibt es Grenzfälle, wie das intentionale Signal, sodass die Anwendung
und Fruchtbarkeit des analysierten Paradigmas fragwürdig erscheint und die Auszeichnung
als „intentional“ irreführend sein kann. Im Unterschied zur regen genetischen Aktivität der
Einzeller im Laktose-Beispiel haben die meisten Gene nicht die Aufgabe ihre Tätigkeit so
mit Umweltbedingungen zu koordinieren, dass Konsumenten ihre Echte Funktion ausüben
können. Aus diesem Grund bietet sich die Biosemantik kaum als geeignete Theorie der
genetischen Information an.170 Doch mit Sicherheit ist die Auszeichnung nicht fragwürdig
und fruchtbar im Falle tierlicher Repräsentationssysteme. Sie ist nicht fragwürdig, weil sie
sich auf überwältigende Weise nicht nur mit unserer alltäglichen Zuschreibungspraxis
deckt, sondern auch mit der Zuschreibungspraxis unserer historischen Vorgänger und
unserer Zeitgenossen. Sie ist fruchtbar, weil sie in der Ethologie, Psychologie, Biologie,
Neurologie, Informatik oder Paläoanthropologie zu Forschungsprojekten führt. Dies ist,
wie ich meine, der tiefere und zutreffende Grund für Webers Einschätzung, dass Vertreter
der Teleosemantik „always choose much more complex organisms, namely metazoans, to
illustrate their theory“.
LTOBC: 95.
LTOBC: 95.
170 Vgl. aber Maynard Smith 2000 und Shea 2007 für Versuche, den Begriff der genetischen Information
biosemantisch zu bestimmen.
168
169
81
Ich komme zur zweiten Anwendung der Biosemantik und damit zu einem Grenzfall, der
gleichsam auf der entgegengesetzten Seite des Spektrums liegt. Nicht nur die primitiven,
inneren Magnetosom-Strukturen, die Bakterien hervorbringen, sondern auch kultivierte,
äußere sprachliche Strukturen, wie sie Lyriker der Moderne hervorbringen, können als
Repräsentationen in Sinne der Biosemantik aufgefasst werden.171 Erinnern wir uns, dass die
Grundzüge der Biosemantik die Kooperation von Produzent und Konsument und das
Vorliegen einer repräsentationalen Struktur fordert, die mit etwas in der Welt
korrespondieren muss, damit der Konsument tun kann, was er zu tun die Aufgabe hat. Der
Einschluss der Umweltbedingungen erfolgt über Vehikel, die gemäß einer Abbildungsregel
mit Umweltbedingungen korrespondieren. Der Gedanke, die Tätigkeit des modernen
Lyrikers mit dem Verhalten primitiver Organismen in Verbindung zu bringen, stammt vom
Lyriker Gottfried Benn:
„Es gibt im Meer lebende Organismen des unteren zoologischen Systems, bedeckt
mit Flimmerhaaren. Flimmerhaar ist das animalische Sinnesorgan vor der
Differenzierung in gesonderte sensuelle Energien, das allgemeine Tastorgan, die
Beziehung an sich zur Umwelt des Meers. Von solchen Flimmerhaaren bedeckt
stelle man sich einen Menschen vor, nicht nur am Gehirn, sondern über den
Organismus total. Ihre Funktion ist eine spezifische, ihre Reizbemerkung scharf
isoliert: sie gilt dem Wort…“172
Wir können die Aufgabe angehen, indem wir versuchen, einer Aussage von Paul Valéry
einen Sinn zu verleihen: „Mes vers ont le sens qu’on leur prête.“ Der Leser erst verleiht den
Versen eines Gedichts ihren Sinn.173
Der Produktionsprozess moderner Lyrik wurde von ihren Protagonisten oft als
eine Mischung von unbewussten, rauschhaften, intuitiven und irrationalen Elementen
einerseits mit bewussten, kontrollierten, hochartifiziellen und intellektualistischen
Elementen andererseits aufgefasst.174 Doch dies sind nur unterschiedliche Gewichtungen.
Häufig genug findet sich eine Mischung beider Seiten. So sagt Benn in einem Vortrag:
Benn 1968, Bd. 8: 1878; vgl. Bd. 4: 1075.
Diese Strukturen müssen dazu in der „kulturellen Welt“ verortet sein, vgl. dazu Abschnitt 3.2.6.
173 Valéry 1957: 1509: „Mes vers ont le sens qu’on leur prête. Celui que je leur donne ne s’ajuste qu’à moi, et
n’est opposable à personne. C’est une erreur contraire à la nature de la poésie, et qui lui serait même mortelle,
que de prétendre qu’à tout poème correspond un sens véritable, unique et conforme ou identique à quelques
pensées de l’auteur.“ Valérys Position ist von Gadamer als „unhaltbarer hermeneutischer Nihilismus“
gedeutet worden (Gadamer 1999, Bd. 1: 100). Ich werde den Aphorismus jedoch als Hinweis darauf
verstehen, dass das moderne Gedicht eine repräsentationale Struktur ist, die die Echte Funktion hat, die
Vorstellungskraft des Lesers auf bestimmte Weise in Gang zu setzen. Diese Ansicht findet sich auch bei
Valéry formuliert. „Un poète […] n’a pas pour fonction de ressentir l’état poétique: ceci est une affaire privée.
Il a pour fonction de le créer chez les autres.“ (Valéry 1957: 1321) Auf den Unterschied zwischen der privaten
Schöpfung eines künstlerischen Artefakts und seiner kulturellen Rezeption komme ich in Abschnitt 3.2.6.
zurück.
174 Bisweilen wurden die beiden Seiten zwecks Schulbildungen aufgespalten. So propagierten die
französischen Surrealisten die „écriture automatique“ und feierten das Gedicht als einen Untergang des
171
172
82
„Irgend etwas in Ihnen schleudert ein paar Verse heraus oder tastet sich mit ein
paar Versen hervor, irgend etwas anderes in Ihnen nimmt diese Verse sofort in die
Hand, legt sie in eine Art Beobachtungsapparat, ein Mikroskop, prüft sie, färbt sie,
sucht nach pathologischen Stellen. Ist das erste vielleicht naiv, ist das zweite ganz
etwas anderes: raffiniert und skeptisch.“175
Verse und Gedichte entstehen, wenn Erlebnisse und Worte gleichsam zusammenschlagen.
Wir haben also einerseits etwas, das Verse eruptiv hervorbringt, andererseits etwas, das
Verse sorgsam überprüft und bearbeitet, um sie zu Gedichten zusammenzufügen. Ein
(vielleicht unbewusster) P-Mechanismus erzeugt repräsentationale Strukturen, ein KMechanismus nutzt sie, um komplexere repräsentationale Strukturen herzustellen, nämlich
Gedichte. Als Produzenten braucht man sich keineswegs einen spezifischen inneren
Mechanismus vorzustellen. Es handelt sich eher um eine komplexe Disposition, die unter
bestimmten Bedingungen aktiv wird.176 Ebenso wenig braucht man sich den Konsumenten
als spezifischen Mechanismus auszumalen. Es sind in erster Linie Überzeugungen und
Wünsche zur geistigen Lage der Zeit, über die literarische Tradition, und über die eigene
lyrische Produktion, die die Prüfung und Bearbeitung der Verse lenken. Im
Produktionsprozess der modernen Lyrik finden wir also Beschreibungen, die auf
repräsentationale Strukturen, Produzenten und Konsumenten hinweisen.
Welche Form der Korrespondenz muss vorliegen, damit der Produktionsprozess an
sein Ziel gelangt, der Konsument seine Funktion erfüllen kann, nämlich die Herstellung
eines Gedichts? Der Produktionsprozess moderner Lyrik zielt auf die Herstellung
überdeterminierter, selbstbezüglicher, komplexer und hermetischer repräsentationaler
Strukturen aus sprachlichem Material. Sie sind in hohem Maße interpretationsbedürftig.
Eine Möglichkeit, Strukturen dieser Art zu erzeugen, besteht darin, ein Gedicht als ein
reiches Netz von Korrespondenzen zur Kulturgeschichte, zur lyrischen Tradition, zu
unterschiedlichen Sprachen und zum eigenen Schaffen herzustellen. Dieses Netz kann
bisweilen nur aufgrund von Stichworten ausgebildet werden oder aufgrund gelehrter
Selbstkommentare. Der Bezug zum eigenen Schaffen wird etwa durch ein eigenes System
an
Schlüsselworten
oder
durch
eine
private
Mythologie
ermöglicht.
Diese
Verstandes. Demgegenüber bezeichnete Valéry das Gedicht als das Fest des Verstandes. Vgl. Friedrich 1956:
108ff.
175 Benn 1968, Bd. 4: 1071, vgl. 1108f. Vgl. auch Friedrich 1957: 111.
176 Benn etwa verweist auf „Sonntage in der Bellealliancestrasse, an denen ich mit Hilfe einiger Tassen den
ganzen Tag verbrachte u. die Sätze und Träume des Garten von Arles, u. des Modernen Ich u. des Letzen Ich
mir aus den coffeinerweichten Gefässen des Hirns u. der Haut spielend hervorzauberte.“ (Brief an Oelze,
5.7.1942)
83
Korrespondenzen folgen offensichtlich weniger Korrespondenzregeln, als vielmehr
Korrespondenzassoziationen.177
Solche Korrespondenzen mit Bezugssystemen verleihen dem modernen Gedicht
das Gesicht von Überdetermination, Selbstreferentialität und Hermetik. Sie werden deshalb
von den Protagonisten der modernen Lyrik als monologisch oder bedeutungslos
betrachtet. So meint Wallace Stevens: „A poem need not have a meaning and, like most
things in nature, often does not have.“178 Und Benn schreibt m.E. im gleichen Sinne: „Das
moderne Gedicht, das absolute Gedicht ist das Gedicht ohne Glauben, das Gedicht ohne
Hoffnung, das Gedicht an niemanden gerichtet, ein Gedicht aus Worten, die Sie
faszinierend montieren.“179 Benn scheint hier der Ansicht Ausdruck geben zu wollen, dass
das Gedicht nicht nur monologisch sei, sondern auch keine kommunikative Funktion habe.
Doch dieser Eindruck täuscht. Der Dichter montiert nicht fasziniert, sondern auf
faszinierende Weise und die Leser faszinierend. Deshalb kann auch der modernen
hermetischen oder monologischen Lyrik eine kommunikative Funktion zukommen. Worin
besteht diese Funktion? 1941 versucht Stevens in einem Vortrag eine Antwort auf die
Frage zu geben, worin die Funktion des Dichters bestehe:
„What is the function of the poet? Certainly it is not to lead people out of the
confusion in which they find themselves. Nor is it, I think, to comfort them while
they follow their leaders to and fro. I think that his function is to make his
imagination theirs and that he fulfils himself only as he sees his imagination
become the light in the minds of others. His role, in short, is to help people to live
their lives.“180
Für Stevens ist ein Gedicht Ausdruck der Person eines Dichters,181 was wir durchaus im
Sinne des oben skizzierten Zusammenspiels von Produzent und Konsument auf der Seite
des Produktionsprozesses verstehen dürfen. Die Funktion von Gedichten stimmt deshalb
mit der Funktion des Dichters überein. Stevens spricht hier darüber, was ihm zufolge die
wirkliche Funktion des Dichters und des Gedichtes ist. Er spricht über das, wozu Gedichte
da sind, und über das, warum Gedichte sich entwickelt und erhalten haben. Er spricht, mit
anderen Worten, über die Echte Funktion von Gedichten.
Die Eingangsstrophe zu Benns „Der Sänger“ (1925) zur Veranschaulichung des Gemeinten: „Keime,
Begriffsgenesen, / Broadways, Azimut, / Turf- und Nebelwesen, / mischt der Sänger im Blut, / immer in
Gestaltung, / immer dem Worte zu / nach vergessen der Spaltung / zwischen ich und du.“ (Benn 1968, Bd.1:
59)
178 Stevens 1997: 914. In „The Motive for Metaphor“ (1947) variiert Stevens dasselbe Thema: „You like it
under the trees in autumn, / Because everything is half dead. / The wind moves like a cripple among the
leaves / And repeats words without meaning.“ (Stevens 1997: 257)
179 Benn 1968, Bd. 4: 1089, 1111.
180 Stevens 1997: 660f.
181 So auch Benn 1968, Bd. 4: 1073f.
177
84
Stevens Gedanke, dass die Erfüllung des Dichters darin bestehe, dass seine
Vorstellungskraft zum Licht im Geist der Leser werde, kann man so verstehen, dass der
Leser den scheinbar bedeutungslosen, überdeterminierten, selbstreferenziellen und
hermetischen repräsentationalen Strukturen, die der Dichter ihm vorlegt, eine Bedeutung
verleiht. Dem Leser geht förmlich ein Licht auf, und es handelt sich deshalb um dasselbe
Licht, das die Vorstellungskraft des Dichters erleuchtet haben muss, weil es die von ihm
geschaffenen Strukturen und deren Korrespondenzen mit Bezugssystemen sind, die der
Leser aufdeckt und in einen Zusammenhang bringt, der dem Gedicht eine Bedeutung
verleiht. Der Dichter verhilft den Leuten dadurch ihr Leben zu leben, dass er ihre
Vorstellungskraft mit Bildern und Bezügen belebt.182 Das Gedicht löst so die
Vorstellungskraft vom „Realitätsdruck“ (pressure of reality). Stevens bemüht sich, diesen
Begriff klar zu fassen:
„By the pressure of reality, I mean the pressure of an external event or events on
the consciousness to the exclusion of any power of contemplation. […] We are
confronting, therefore, a set of events, not only beyond our power to tranquilize
them in the mind, beyond our power to reduce them and metamorphose them, but
events that stir the emotions to violence, that engage us in what is direct and
immediate and real.“183
Das Gedicht als Reaktion auf den aktuellen Realitätsdruck (the pressure of the contemporaneous)
führt jedoch nicht zum Eskapismus, sondern im Gegenteil zum Gegendruck, zum
Widerstand gegen den Druck: „Resistance is the opposite of escape.“184 Die Echte
Funktion des modernen Gedichts besteht also darin, dass es die Vorstellungskraft der
Leser und damit den Leser mit Bildern und Bezügen belebt, gegen den aktuellen
Realitätsdruck. Die moderne Lyrik erhält ihre Funktion unter den verschärften
Bedingungen der modernen Welt, die mehr Information, mehr Veränderung, mehr
Katastrophe, mehr Ausdifferenzierung und mehr Risiken in kürzerer Zeit mit sich bringt.
Sie erzeugt deshalb scheinbar bedeutungslose, überdeterminierte, selbstreferenzielle,
hermetischen Strukturen, deren Interpretationsbedürftigkeit die Vorstellungskraft so
aktivieren, wie sie diejenige des Dichters aktiviert haben, nur dass der Dichter von den
Bezugssystemen zur Struktur schreitet. Der Leser geht den umgekehrten Weg.185 Im
Idealfall erreicht der Dichter beim Leser eine der seinen verwandte Verwandlung:
182 Der Lyriker erleuchtet sowohl Bilder und Bezüge, die unser Leben strukturieren können, als auch den
Zusammenbruch dieser Bilder und Bezüge (vgl. Longenbach 1991: 97).
183 Sevens 1997: 654ff. Ähnlich auch Benn 1968, Bd. 4: 1069, 1087f.
184 Stevens 1997: 788.
185 Das Lesen gleicht darin dem „reverse engeneering“: Man hat eine komplexe, aber völlig fremde Maschine
vor sich, weiß jedoch nicht, wozu sie gut ist. Oder man hat eine Maschine vor sich, die etwas Bestimmtes tut,
und nun möchte man wissen, wie der Mechanismus dies fertig bringt. Ähnlich verhält es sich beim Lesen
moderner Lyrik.
85
„Suppose the poet discovered and had the power thereafter at will and by intelligence to
reconstruct us by his transformations.“186
Der Dichter ist der Produzent des Gedichts (etwas schleudert Verse hervor, etwas
prüft und bearbeitet sie) und die Vorstellungskraft des Lesers dessen Konsument. Die
Bedingungen, mit denen ein modernes Gedicht assoziativ korrespondieren muss, damit es
seine Funktion erfüllen kann (nämlich die Vorstellungskraft des Lesers mit Bildern und
Bezügen gegen den verschärften aktuellen Realitätsdruck zu beleben) sind die kulturellen
und privaten Bezugssysteme der lyrischen und kulturellen Tradition oder der lyrischen und
kulturellen Person des Dichters. Die Bedingungen müssen vorliegen, um die
Vorstellungskraft der Leser (und damit den Leser selbst) mit Bildern und Bezügen gegen
den aktuellen Realitätsdruck zu beleben.
Wie andere Repräsentationssysteme auch weist die Lyrik der Moderne eine (a)
normative Dimension auf, ist (b) auf einen Konsumenten verwiesen und ist (c) wesentlich
auf die eigene Geschichte bezogen. (a) Die Belebung der Vorstellungskraft der Leser mit
Bildern und Bezügen gegen den aktuellen Realitätsdruck muss dem modernen Gedicht
nicht immer gelingen. Oft versagt es darin, weil das Gedicht zu hermetisch oder zu
schlecht ist, weil der Leser unaufmerksam, nachlässig oder uninteressiert ist, weil seine
Kräfte nicht ausreichen oder versagen, weil die Umstände es nicht zulassen. Aber es
handelt sich um die Echte Funktion des Gedichts, nämlich um dasjenige, was es tun soll,
und nicht um das, was es tut. Das schlechte Gedicht imitiert die überdeterminierte,
selbstreferenzielle, hermetische Erscheinung des modernen Gedichts, ist jedoch arm an
Korrespondenzen und Assoziationen oder verfährt willkürlich mit ihnen. Oder es ist
überreich an Korrespondenzen und Assoziationen und erstickt die Vorstellungskraft des
Lesers. Oder es bietet keinen Anhaltspunkt an, der dem Leser Kontemplation erlaubt. (b)
Die Äußerung von Valéry können wir so verstehen, dass das moderne Gedicht in erster
Linie eine hoch komplexe repräsentationale Struktur ist, die die Funktion hat, die
Vorstellungskraft des Leser auf bestimmte Weise in Gang zu setzen. Zwar hat das Gedicht
als komplexe repräsentationale Struktur einen repräsentationalen Inhalt, aber als Gedicht
hat es keinen intentionalen Inhalt. Erst der Konsument, die Vorstellungskraft des Lesers,
verleiht diesen Strukturen einen intentionalen Inhalt. (c) In seiner Funktion, die
Vorstellungskraft der Leser mit Bildern und Bezügen gegen den Realitätsdruck zu beleben,
versucht das moderne Gedicht, der Vorstellungskraft des Lesers sozusagen nichts
hinzuzusetzen, außer sich selbst, ebenso wie das Licht, außer sich selbst, den Dingen nichts
186 Stevens 1997: 670. Vgl. auch Benn 1968, Bd. 4: 1157: „Die Dichtung bessert nicht, aber sie tut etwas viel
Entscheidenderes: sie verändert.“
86
hinzufügt.187 Doch dazu muss die Lyrik autonom sein und sich beispielsweise aus
Gebrauchssituationen lösen. (Deshalb spricht Benn vom modernen Gedicht als absolutem
Gedicht.) Dieser Prozess der Ausdifferenzierung ist ein historischer Prozess, in dem die
Echte Funktion moderner Lyrik entstehen konnte. Die kulturelle Ko-Evolution von
Produzent und Konsument besteht einerseits darin, dass jene Leser, die ihre
Vorstellungskraft mithilfe von Lyrik tatsächlich aufleuchten lassen, selektiv auf die lyrische
Gesamtproduktion reagieren, andererseits darin, dass bestimmte „starke Dichter“188 den
Geschmack der Vorstellungskraft des Lesers erst ausbilden, nach dem die weiteren Werke
dieser starken Dichter sowie die Versuche ihrer Nachfolger beurteilt werden.
Es mag durchaus sinnvoll sein, die hier skizzierte biosemantische Interpretation
durch Spekulationen über die evolutionäre Funktion von Dichtern und Dichtungen zu
unterlegen.189 Aber dass ist nicht meine Aufgabe. Es ging vielmehr um die Anwendbarkeit
des am Paradigma der Bienentänze entwickelten biosemantischen Modells auf solch
hochkomplexe, äußere repräsentationale Strukturen wie es die Werke der modernen Lyrik
sind auf der einen und auf solch primitive, innere repräsentationale Strukturen, wie sie
Bakterien aufweisen, auf der anderen Seite.
Vgl. Benn 1968, Bd. 4: 1064 über „Artistik“.
Vgl. Bloom 1995.
189 Solche Versuche finden sich bei Carroll 1995; Eibl 2004; Gottschall und Wilson 2005. Ich komme auf
dieses Thema im Zusammenhang mit dem Problem der Echten Funktion von singulären und neu
erschaffenen Artefakten in Kapitel 3 zurück.
187
188
87
88
1.2. Rekontextualisierung der Biosemantik
1.2.1. Pragmatistische Semiotik und Sellars
Das erklärte Ziel von LTOBC ist die Entwicklung einer allgemeinen Zeichentheorie.
Warum möchte Millikan eine Zeichentheorie entwickeln? Warum findet sie das Paradigma
für ihre semiotische Theorie in einem tierlichen Verhalten, nämlich dem Bienentanz? Und
warum behauptet Millikan das Folgende?
„Our language is in deep respects just like any other animal’s communication
system, its forms embodying analogues to evolutionary stable solutions to
coordination problems. Its functions derive from what its forms – words, syntactic
structures, and so forth – do for speakers and hearers so that they continue to be
reproduced by speakers and consistently understood by hearers.“190
Um diese Fragen zu beantworten zu können, muss man die Biosemantik in einem ihr
angemessenen philosophischen Kontext lokalisieren. Als Zeichentheoretikerin führt
Millikan bestimmte Ansätze des amerikanischen Pragmatismus weiter. Erstens sei die
Biosemantik eine allgemeine Zeichentheorie „roughly in the sense C. S. Peirce envisioned –
a theory that covers conventional signs and thoughts (as well as some other things)“.191
Zweitens ist LTOBC dem Semiotiker Charles W. Morris gewidmet. Die Widmung verweist
auf Morris’ „groundbreaking Signs, Language, and Behavior“. Millikans Biosemantik setzt, wie
ich
zeigen
werde,
bei
Morris’
Vorhaben
an,
Peirce
Semiotik
mit
Meads
Kommunikationstheorie zu verbinden.192 Millikan ist jedoch auch eine kritische Schülerin
von Sellars. Die Biosemantik versucht Sellars’ systematisches Projekt eines normativen
Naturalismus auf eine Basis natürlicher Normen zu stellen.193 Um den angemessenen
Kontext herstellen und den systematischen Anspruch der Biosemantik würdigen zu
können, muss Millikans Ansatz vor diesen beiden Hintergründen betrachtet werden. Der
Kontext ist angemessen, weil er Millikans Arbeiten entnommen ist. Wichtig ist auch der
Umstand, dass die vorgeschlagene Rekontextualisierung die irreführende Assoziation mit
dem Physikalismus oder Fodors Psychosemantik auflöst.194
WQP: 10.
LTOBC: 6. Vor dem Hintergrund der ausdrücklichen Absicht, eine allgemeine Theorie der Zeichen zu
konstruieren, ist die Aussage nicht verwunderlich, wenn auch sicher übertrieben, dass „Ruth Millikan has
been engaged in reinventing Peirce’s wheel“. (Short 2007: 303). Short möchte jedoch nicht sagen, dass
Millikan ihre Ideen Peirce verdanke, dazu sei sie eine zu offensichtlich originelle Denkerin (Short 2007:
303n5). Für systematische Bezüge zwischen Millikanscher Biosemantik und Peircescher Zeichentheorie vgl.
auch Kappner 2004: VII.
192 Vgl. Morris 1938.
193 Vgl. O’Shea 2007.
194 Auch Godfrey-Smith 1994a, 1996 stellt eine enge Verbindung zwischen Teleosemantik und Pragmatismus
her, er bezieht sich dabei jedoch weniger auf die Semiotiker wie Peirce und Morris als auf James und
190
191
89
Die pragmatistische Tradition, in der die Biosemantik steht, wird zu eng gefasst,
wenn man mit Pragmatismus die instrumentalistische Auffassung assoziiert, dass
Überzeugungen sowohl semantisch als auch epistemisch im Hinblick auf ihre Rolle zur
Wunscherfüllung oder Problemlösung bewertet werden müssen. Sie wird hingegen zu weit
gefasst, wenn man unter Pragmatismus einfach eine heterogene Bewegung versteht, „der es
in erster Linie um den Vorrang des Praktischen geht“.195 Kennzeichen des Pragmatismus ist
es Morris’ zufolge vielmehr, „dass eine wesentliche Verbindung besteht zwischen
Bedeutung und Handlung, so dass das Wesen der Bedeutung nur mit Bezug auf die
Handlung geklärt werden kann.“196 Morris lässt jedoch den einengenden Begriff
„Handlung“ fallen und spricht zunächst allgemeiner von „Verhalten“. Die mit dem
Verhalten verbundene Bedeutung wird als Bedeutung von Zeichen verstanden, denn die
Annahme ist plausibel, dass die Existenz von Bedeutungen an die Existenz von Zeichen
gebunden ist. Der Begriff des Zeichens wird traditionell dem Bereich der sprachlichen
Kommunikation entnommen. Morris stellt diesen Begriff jedoch auf die Basis des
kommunikativen Verhaltens, ausgehend von biologischen Gemeinsamkeiten der
Zeichenverwendung bei Tier und Mensch.197 Dabei geht er, wie es bereits Peirce tut, nicht
vom Zeichen als solchem aus, sondern vom Prozess der Zeichenverwendung, von der
„Semiose“.198 Die Semiose ist ein Prozess, in dem etwas für ein Lebewesen ein Zeichen
sein kann oder zu einem Zeichen wird.199 Es geht also nicht nur um eine Strukturanalyse
des Zeichens, sondern um die Bedingungen für die Zeichenverwendung durch Lebewesen.
Da im Rahmen von Peirce Semiotik das Sein von Zeichen konstitutiv an die
Zeichenverwendung gebunden ist, geht es mithin um die biologischen Bedingungen der
Möglichkeit von Zeichen.
insbesondere auf Dewey. Für ein weiter gehendes Vorhaben ist diese Kontextualisierung auch deshalb von
Bedeutung, weil sie es stattdessen nahelegt, Millikans Biosemantik und Brandoms Sozialpragmatismus als
Kinder derselben Geister zu betrachten.
195 Brandom 2000a: 29. Die instrumentalistische Charakterisierung trifft auf die Teleosemantik Papineaus zu.
Sie engt aber die pragmatistische Tradition auf den Blickwinkel Rortys ein. Die weite praktizistische
Charakterisierung umfasst nicht nur Denker von Kant bis Brandom, sondern umfasst auch Marxisten und
Existenzialisten.
196 Morris 1977: 202.
197 Morris 1946: I-II, vgl. Fiordo 1977: III.
198 Grundsätzlich meint „Semiose“ die Interpretation von Zeichen, doch der Ausdruck „Interpretation“ ist zu
stark an die Vorstellung eines impliziten oder expliziten Verstehens von nicht-natürlichen Zeichen geknüpft.
Demgegenüber will der Ausdruck „Semiose“ den Prozess der Zeichenverwendung nicht auf intentionale
Akteure und artifizielle Zeichen beschränken, sondern beispielsweise auch biologische Prozesse einbeziehen.
Peirce scheint den Ausdruck „semiosis“ aus eben diesem Grund eingeführt zu haben. Er war wohl „the first
clearly to perceive that the proper subject matter for such inquiry is not so much the being of signs as it is the
action such being gives rise to and depends upon for its sustenance throughout […], to which he gave the
name ‘semiosis’.” (Deely, zitiert in Kappner 2004: 156 n164).
199 Morris 1946: 366: „…the process in which something is a sign to some organism.“
90
Da es keine Bedeutung ohne Zeichen geben kann, ist der Pragmatismus wesentlich
„eine auf der Grundlage einer verhaltensorientierten Semiotik errichtete Philosophie“.200
Der Pragmatismus baut somit auf einem semiotischen Behaviorismus auf. „Semiotischer
Behaviorismus“ ist der Name für Morris’ Vorhaben, das mir im Hinblick auf die
Biosemantik wichtig scheint.201 Der Name ist nicht gewählt um eine Nähe zum Klassischen
Behaviorismus zu suggerieren, sondern aufgrund der besonderen Betonung des Verhaltens
für die Semiose. Ein zweiter Grund für diese Bezeichnung besteht darin, dass sie es im
Rahmen
der
angestrebten
Rekontextualisierung
der
Biosemantik
erlaubt,
eine
Verwandtschaft zu Sellars’ „Verbalem Behaviorismus“ herzustellen. Die Grundlage der
Meadschen Sozialpsychologie wird als „Sozialer Behaviorismus“ bezeichnet. So trägt
Meads posthum erschienenes Werk Mind, Self and Society den Untertitel: „From the
standpoint of social behaviorism“. Dieser Ausdruck scheint nicht von Mead zu stammen,
sondern vom Herausgeber dieses Werks, nämlich von Morris. Man hat diesem „act of
creative editing“ vorgeworfen, dass er eine unglückliche Nähe zum Klassischen
Behaviorismus suggeriere.202 Es ist deshalb angebracht, auf die drei Momente hinzuweisen,
die diese drei Spielarten des Behaviorismus vom klassischen Behaviorismus eines Watson
oder eines Skinner unterscheidet.203
Erstens ist für den Pragmatismus nicht der isolierte Organismus, der auf eine
festgelegte physische Umwelt reagiert, das Paradigma des Verhaltens, sondern
interagierende Organismen, die auf eine soziale Umwelt reagieren,204 bzw. Organismen, die
nicht nur auf ihre physische Umwelt reagieren, sondern sowohl ihre soziale als auch
200 Morris 1977: 203. Morris’ Charakterisierung trifft in dieser allgemeinen Form sicher auch auf Millikans
Biosemantik zu, aber nicht auf die Psychosemantik. Fodor (2004) zufolge behauptet der Pragmatist, dass das
Haben von Begriffen eine Angelegenheit epistemologischer Fähigkeiten sei: S hat den Begriff B für X, wenn
S (praktisch oder theoretisch) weiß, wie man Xe von Nicht-Xen unterscheidet oder die für B relevanten
Inferenzen ziehen kann. Demgegenüber behaupte der Cartesianer, das Haben von Begriffen sei eine
intentionale Angelegenheit: S hat den Begriff B, wenn S über Xe nachdenken kann, und wenn S über Xe
nachdenken kann, hat S B. Nun ist Millikan sicher der Ansicht, dass Begriffe Fähigkeiten (abilities) sind
(OCCI: III-V), sie ist aber auch der Ansicht, dass das Nachdenken über X eine Tätigkeit ist (OCCI: VII).
Brandom (2000: 4) unterscheidet einen begrifflichen Pragmatismus, der den Inhalt von Begriffen durch ihren
Gebrauch erklärt, von einem begrifflichen Platonismus, der umgekehrt den Gebrauch von Begriffen durch
deren Inhalte erklärt. Millikan ist sicher der Ansicht, dass der Inhalt intentionaler Zeichen durch deren
Gebrauch bestimmt wird, sie ist aber auch der Ansicht, dass die repräsentationalistische Dimension
intentionaler Zeichen auf Wahrheitsbedingungen angewiesen ist. Obwohl die Biosemantik also im Hinblick
auf Fodors und Brandoms Unterscheidung eher auf der pragmatistischen Seite zu liegen kommt, streckt sie
sich doch über die Trennung hin aus.
201 So auch nach Apel 1976: 193.
202 Cook: 72. Mead bezeichnet seine Theorie jedoch selbst als behavioristisch, etwa im Aufsatz „A
behavioristic account of the significant symbol“ (1922) und Morris ist sich der Unterschiede zwischen Mead
und dem klassischen Behaviorismus durchaus bewusst (Morris 1977: 326f.). Morris beschreibt sein Projekt
bisweilen als „Behavioristik“ und deren Vertreter als „behavioristicians“ (Morris 1946: 18) Diesen hässlichen
Ausdruck übernimmt er von Otto Neurath, um sich vom klassischen Behaviorismus abzugrenzen.
203 Ich werde im Anschluss an die Diskussion von Morris’ Zeichenbegriff auf einen wichtigen vierten
Unterschied zu sprechen kommen (vgl. 1.2.5.).
204 Habermas 1981, Bd. 2: 13.
91
physische Umwelt im Verhalten mitgestalten.205 Zweitens wird ein Organismus nicht
methodisch als „tabula rasa“ betrachtet, sondern als Mitglied einer Art, das als solches mit
einer Reihe angeborener, gattungsspezifischer Verhaltensweisen ausgerüstet ist.206 Drittens
wird von inneren mentalen Zuständen nicht rundweg abgesehen, sondern diese Zustände
werden als Internalisierung der kommunikativen Interaktion rekonstruiert. Für Mead und
Peirce ist Denken ein Mit-sich-reden, das Mit-sich-reden aber ein internalisiertes Miteinander-reden.207
Sowohl der Pragmatismus als auch das Werk von Sellars werden (auf
unterschiedliche Art) vor dem Hintergrund der Kantischen Transzendentalphilosophie
gelesen.208 Wie ich versucht habe plausibel zu machen, ist die Biosemantik eine nicht
transzendentalphilosophische, sondern naturalistische Antwort auf Kants Frage nach dem
Grund der „Beziehung desienigen [sic], was man in uns Vorstellung nennt, auf den
Gegenstand“. Morris’ semiotischer Behaviorismus suggeriert jedoch eine biologische
Antwort auf Kants Frage. In dieser Hinsicht versucht also die Biosemantik zu erfüllen, was
Habermas vom Naturalismus gefordert hat, nämlich Kant und Darwin zu vereinbaren.209
1.2.2. Peirce: Anticartesianismus und Semiotik
In seinen frühen Aufsätzen aus dem Jahr 1868 attackiert Peirce grundlegende
Überzeugungen seiner philosophischen Vorgänger.210 Als Inbegriff dieser Überzeugungen
betrachtet Peirce Descartes. Descartes habe die Philosophie durch die Fokussierung auf
eine fundamentalistische und am Streben nach Gewissheit orientierte Epistemologie auf die
falsche Fährte gesetzt.211 Peirce charakterisiert den Cartesianismus durch eine Reihe von
Thesen, die er auf das Schärfste attackiert. Zu diesen Thesen gehört, dass die Philosophie
bei einem globalen Zweifel ansetzen müsse, dass das Fundament der Gewissheit im
Selbstbewusstsein gefunden werden könne, dass der Rückgriff auf ein Absolutes
Dieser letzte Punkt wird insbesondere von Dewey hervorgehoben. Vgl. dazu Godfrey-Smith 1996: V mit
dem Ttiel „On construction“, das im Rahmen der Evolutionstheorie der Auffassung entgegen tritt,
Organismen seien das Produkt einer passiven Anpassung an eine vorgegebene Umwelt (vgl. im Abschnitt
3.2.5. die Ausführungen über Nischenkonstruktion).
206 Vgl. dazu die Abschnitte 3.3.1.-3.3.3.
207 Tugendhat 1979: 248f.
208 Vgl. zu Peirce Apel 1976; Habermas 1981; Schönrich 1990; zu Sellars Haag 2007; McDowell 2009b.
209 Habermas 1988: 28, 53.
210 Es handelt sich v.a. um „Questions Concerning Certain Faculties Claimed for Man“ und „Some
Consequences of Four Incapacities“ (vgl. Peirce 1967: I-II).
211 Auch Dewey, Rorty, Williams, McDowell oder Brandom werden Descartes behaften. Es spielt in diesem
Zusammenhang eine untergeordnete Rolle, ob diesen Auffassungen ein adäquates Verständnis dieser
Philosophen zugrunde liegt, was oftmals nicht der Fall ist. Denn es geht weniger um historische Wahrheit
oder um adäquate Exegese, sondern um die Konstruktion eines philosophiehistorischen Narrativs, das uns
sehen lassen soll, wie und warum die Philosophie auf eine falsche Fährte gelangt ist.
205
92
Wissensansprüche garantieren solle und dass das Denken entweder durch Intuition oder
Deduktion zu charakterisieren sei. Diese vier Thesen definieren den „Geist des
Cartesianismus“.212 Dagegen stellt Peirce vier für den Pragmatismus äußerst einflussreiche
negative Thesen auf, die den Kerngedanken seiner Semiotik umreißen. Die Semiotik ist
Peirces konstruktive Austreibung des „Geistes des Cartesianismus“:213
„1. We have no power of introspection, but all knowledge of the internal world is
derived by hypothetical reasoning from our knowledge of external facts. 2. We
have no power of intuition, but every cognition is determined logically by previous
cognitions. 3. We have no power of thinking without signs. 4. We have no
conception of the absolutely incognizable.“214
Es ist leicht zu sehen, dass mit diesen Thesen eine philosophische Auffassung präfiguriert
wird, die der Perspektive der dritten Person gegenüber derjenigen der ersten Person den
Vorzug gibt (1. These), ein Gegebenes außerhalb des Raums der Gründe verwirft (2.
These), und die Denkbarkeit eines Bezugs auf ein Ding-an-sich bestreitet (4. These). Das
von diesen Thesen geteilte Grundmotiv ist die Vermitteltheit subjektiven (1. These),
intersubjektiven (2. These) und objektiven Wissens (4. These). Das vermittelnde Element
ist stets das Zeichen, ohne das wir nicht denken können (3. These). Die dritte These („We
have no power of thinking without signs“) bildet in den Augen von Morris das Fundament
des Pragmatismus. Diese These ist keine These über Gedanken schlechthin, sondern über
Gedanken für uns. Warum? Nun, dies ist eine direkte Folge der Ablehnung des „Geistes des
Cartesianismus“. Wir haben keinen unmittelbaren introspektiven Zugang zu unserem
Denken. Gedanken müssen aus der Perspektive der dritten Person betrachtet werden. Sie
können nur als äußere oder veräußerte überhaupt von uns erkannt werden. Somit ist die
einzige für uns erkennbare Art des Denkens ein Denken in Zeichen. Doch ein Denken, das
nicht erkannt werden könnte, existiert nicht für uns. Daher muss alles Denken (für uns) ein
Denken in Zeichen sein.
„1. [The spirit of cartesianism] teaches that philosophy must begin with universal doubt; whereas
scholasticism had never questioned fundamentals. 2. It teaches that the ultimate test of certainty is to be
found in the individual consciousness; whereas scholasticism had rested on the testimony of sages and of the
Catholic Church. 3. The multiform argumentation of the middle ages is replaced by a single thread of
inference depending often upon inconspicuous premisses. 4. Scholasticism had its mysteries of faith, but
undertook to explain all created things. But there are many facts which Cartesianism not only does not
explain but renders absolutely inexplicable, unless to say that ‘God makes them so’ is to be regarded as an
explanation.“ (CP 5.264; Peirce 1967: 40)
213 Hans Joas weist auf zwei Motive der Renaissance des Pragmatismus hin: „Zum einen wird erkannt, in
welch radikaler Weise der Pragmatismus den cartesianischen Denkrahmen der neuzeitlichen Philosophie in
Frage stellt, ohne dabei irrational zu werden. […] Zum anderen wird deutlich, dass der Pragmatismus als
konstruktiven Ausweg aus der Destruktion des cartesischen Rahmens eine allgemeine Zeichentheorie
entwickelt, die gleichwohl mit der Zeichentheorie des französischen Strukturalismus kaum Ähnlichkeit hat.“
(Joas 1992: 68)
214 CP 5.265; Peirce 1967: 42f.
212
93
Trotz aller Veränderungen und Verästelungen ist Peirces Begriff des Zeichens stabil
geblieben.215 Ein Zeichen ist ein Relatum in einer triadischen Relation, die zusätzlich das
bezeichnete Objekt und den Interpretanten umfasst. Bedeutung ist keine direkte Relation
zwischen Zeichen und Objekt, sondern eine über den Interpretanten vermittelte Relation.
„A sign, or representamen, is something which stands to somebody for something
in some respect or capacity. It addresses somebody, that is, creates in the mind of
that person an equivalent sign, or perhaps a more developed sign. That sign which
it creates I call the interpretant of the first sign. The sign stands for something, its
object.“216
Ein Zeichen ist also etwas, das von einer Person als Zeichen (als für etwas stehend)
verstanden wird. Verstehen meint hier, dass die Person auf etwas aufmerksam wird, einen
Schluss zieht, mit einem Ausruf reagiert, in Furcht gerät, wegrennt usw. Dieses Verstehen
wiederum ist selbst ein Zeichen, und kein ominöser immaterieller Akt im Geist der Person.
Ein Zeichen steht also in bestimmter Hinsicht für etwas, indem es im Geist einer Person
eine Interpretation hervorruft.
Peirce ist der Auffassung, dass das Zeichen den Interpretanten determiniere. Diese
Determination ist weniger kausal zu verstehen, sondern so, dass ein Interpretant die Art
und Weise, wie ein Zeichen ein Objekt repräsentiert, für irgendeine nützliche Tätigkeit
benutzen kann. In späteren Schriften wird Peirce zusehends betonen, dass ein Zeichen
stets eine Verhaltenstendenz eines Wesens involviere, für den es Zeichen ist.217 Die
nützliche Tätigkeit, die das Wesen aufgrund eines Zeichens verrichten kann, ist deshalb
primär ein Verhalten. Eine Verhaltenstendenz nennt Peirce „Gewohnheit“.218 Peirce hat
früh behauptet, „that the whole function of thought is to produce habits of action“. Die
Bedeutung (meaning) eines Gedankens bestimmten heiße mithin „to determine what habits
it produces, for what a thing means is simply what habits it involves“.219 Doch erst in den
späteren Schriften wird der Interpretant konstant und ausdrücklich als Gewohnheit und
Verhaltenstendenz gefasst. Da es ein Denken ohne Zeichen (für uns) nicht geben kann und
die Bedeutung eines Gedankens in einer Verhaltenstendenz besteht, muss die Bedeutung
eines Zeichens durch die Verhaltenstendenzen bestimmt werden. Aus diesem Grund meint
Morris,
der
Pragmatismus
sei
wesentlich
eine
verhaltensorientierten Semiotik errichtete Philosophie.
Short 2007: 30.
CP 2.228; vgl. auch CP 5.283; Peirce 1967: 54.
217 Vgl. Morris 1977: 209.
218 Vgl. CP 5.486; Peirce 1967: 522.
219 CP 5.400; Peirce 1967: 192f.
215
216
94
auf
der
Grundlage
einer
Peirces oben zitierte Definition beschränkt Zeichen offenkundig nicht auf
sprachliche Zeichen. Doch sie nimmt Bezug auf den Geist einer Person, was die
Anwendbarkeit des Zeichenbegriffs nicht nur beschränkt (tierliche Signale würden nicht
darunter fallen), sondern auch den so vehement zurückgewiesenen „Geist des
Cartesianismus“ heraufbeschwört. Die Definition ist darüber hinaus defekt, weil sie den
Begriff des Zeichens zur Charakterisierung des Interpretanten wieder verwendet.
Schließlich fehlt der Definition sowohl jeder Bezug auf die Möglichkeit der
Fehlrepräsentation (und mithin des intentionalen Inhalts) und auf die Rolle des Verhaltens.
In dieser Form reicht die Definition nicht aus um das zentrale Element in einer
verhaltensorientierten Semiotik zu sein. Die hier skizzierten Desiderata werden von Morris
gegen Peirces Definition des Zeichens erhoben und bilden den Ausgangspunkt seiner
Fortführung der Semiotik.220 Millikans Biosemantik schließt nicht nur an Peirces
Zeichenbegriff an, sondern formuliert auch einige der von Morris monierten Desiderata:
„Many naturalistic accounts [of intentionality] describe the relation of a
representation to what it represents as a simple diadic relation. This is true, for
example, of classical causal or covariational theories, of classical informational
theories and of classical picture theories. C.S.S. Peirce, on the other hand, claimed
that the representing relation is essentially triadic, involving first the representation
(a ‘sign’), second something represented, and third an ‘interpretant’. If producing
inner representations benefits an organism, presumably this will be because the
organism uses them in some way. There must be a part of the organism, or some
activity of the organism, that understands or interprets these representations.
Peirce spoke of the interpretant of a sign as being another sign, but taking this at
face value would produce a regress. The interpreter of an inner sign cannot be
supposed merely to translate the sign into another inner sign which is again
translated, and so forth. ‘Interpreting’ a sign must ultimately consist in some
independently useful activity.“221
Trotz dieser Vorbehalte dürfte deutlich geworden sein, dass die Konsumentenorientierung
der Biosemantik, die sie von anderen Formen der Naturalisierung der Intentionalität
unterscheidet, im Wesentlichen die Grundstruktur des Peirceschen Zeichenbegriffs
aufnimmt. Der Konsument ist nichts anderes als der Interpretant, und die Echte Funktion,
die ein Konsument nur erfolgreich ausüben kann, wenn ein Zeichen bestimmter Art
vorliegt, ist nichts anderes als die Verhaltenstendenz.222
Vgl. Morris 1946: 287ff.; Morris 1977: 204f.
Millikan 2009a: 396.
222 Vgl. dazu auch die Definition des Peirceschen Interpretanten, wie sie Short 2007: 158 rekonstruiert.
220
221
95
1.2.3. Mead: Kommunikation und Bedeutung
Ein zweiter wichtiger Schritt zum Semiotischen Behaviorismus ist Meads Analyse des
gebärdensprachlichen
Gestenzeichens,
die
„die
verhaltensorientierte
Natur
des
Interpretanten zur Basis machte, auf die sich Peirces Semiotik zubewegte“.223 Wie Peirce
setzt sich auch Mead vom „Geist des Cartesianismus“ ab. Sein inhaltliches Ziel ist die
Rekonstruktion einer sozialen Genese des Selbstbewusstseins.224 Sein methodisches Ziel ist
die Grundlegung eines überprüfbaren Gegenstandsbereichs für die Psychologie und die
Soziologie, der zwar beim Verhalten ansetzt, dabei aber nicht stehen bleibt, sondern das
mentalistische Innere als Produkt kommunikativen Sozialverhaltens zu fassen versucht.
Mead geht dabei vom Modell interagierender und kommunizierender Organismen aus, weil
das Sozialverhalten, im Unterschied zur Reaktion auf physische Ereignisse, auf ein Gebiet
führe, „in dem das Bewusstsein eigener Haltungen zur Kontrolle des Verhaltens anderer
verhilft“.225 Ein Wesen A, das die Reaktionen eines Wesens B auf sein Verhalten antizipiert,
vermag B besser zu kontrollieren. Die Antizipation der Reaktion von B auf das Verhalten
von A verlangt jedoch die Fähigkeit, dass A gegenüber seinem eigenen Verhalten eine
ähnliche Einstellung einnimmt wie B. A hat gegenüber B in einer solchen Situation
Anpassungsvorteile. Es ist deshalb nicht plausibel, dass es einen selektiven Druck für die
Selektion nach dieser Fähigkeit gibt. A erfährt sich also nicht direkt, sondern indirekt. A
wird ein Objekt für sich, indem A die Reaktion bzw. die Einstellung von B auf sich
übernimmt bzw. einnimmt. Dies ist der erste Schritt zu einem kommunikativ generierten
Selbstbewusstsein.226
Mead unterscheidet eine vorsprachliche Gestensprache (conversation of gestures), eine
symbolisch vermittelte Signalsprache (conversation of significant gestures) und eine normativ
verbindliche artikulierte Rede.227 Beeindruckt von Darwins Evolutionstheorie,228 vertritt
Mead die Ansicht, dass sich die Rede aus der Signalsprache und diese wiederum aus der
Gestensprache (phylogenetisch) entwickelt habe bzw. (ontogenetisch) immer wieder
entwickle. Diese Entwicklung kann auch als begriffliches Voraussetzungsverhältnis
rekonstruiert werden, sodass die normativ verbindliche Rede die vorsprachliche
Morris 1977: 217.
Mead 1934: 138: „How can an individual get outside himself (experientially) in such a way as to become an
object to himself? This is the essential problem of selfhood or of self-consciousness; and its solution is to be
found by referring to the process of social conduct or activity in which the given person or individual is
implicated. [...] The individual experiences himself as such, not directly, but only indirectly, from the particular
standpoints of other individual members of the same social group.“
225 Mead 1980: 219.
226 Ein Schimpanse wird Futter nur dann als erster nehmen, wenn er sieht, dass das Alphatier das Futter nicht
sieht. Ein Kind kann auf sein Verhalten mit den inkriminierenden Worten seiner Eltern reagieren.
227 Vgl. Habermas 1981, Bd. 2: 15-19.
228 Vgl. Morris 1977: 197f.
223
224
96
Gestensprache begrifflich voraussetzt. Der Grund für dieses Voraussetzungsverhältnis
besteht im Folgenden: Die normativ verbindliche Rede und das Denken, verstanden als
Fähigkeit, sich mit anderen zu unterhalten und mit sich selbst zu reden,229 setzt eine basale
Form des Selbstbewusstseins voraus. Da jedoch das Selbstbewusstsein (gegen den „Geist
des Cartesianismus“) als Produkt der sozialen Interaktion verstanden werden soll, muss
Mead auf eine vorsprachliche Ebene der Kommunikation zurückgreifen.230
Gesten sind jetzt nicht mehr nur Bewegungen, sondern es sind Zeichen. Wie
werden Bewegungen zu Zeichen? Zentral ist wiederum das Verhältnis eines Produzenten
und eines Konsumenten. Sobald ein Verhalten V eines Organismus A als Reiz für eine
Reaktion R des Organismus B dient, so dient V als Zeichen Z dafür, dass ein für B
wichtiger Sachverhalt vorliegt, der entweder die soziale oder die physische Umwelt von B
betrifft. Betrifft V nun A (d.h. die soziale Umwelt von B), so wird V zum Anlass einer
Reaktion von B, die ihrerseits wieder eine Reaktion von A auslöst. So erst entsteht ein
Austausch von Gesten. Betrachten wir nur die tierliche Gestensprache, die Mead am
Beispiel eines Hundekampfes illustriert:
„Dogs approaching each other in hostile attitude carry on such a language of
gestures. They walk around each other, growling and snapping, and waiting for the
opportunity to attack […]. The act of each dog becomes the stimulus to the other
dog for his response. There is then a relationship between these two; and as the act
is responded to by the other dog, it, in turn, undergoes change. The very fact that
the dog [A] is ready to attack another [V] becomes a stimulus to the other dog [B]
to change his own position or his own attitude [R]. He has no sooner done this
than the change of attitude in the second dog in turn causes the first dog to change
his attitude. We have here a conversation of gestures [Z]. They are not, however,
gestures in the sense that they are significant. We do not assume that the dog says
to himself, ‘If the animal comes from this direction he is going to spring at my
throat and I will turn in such a way.’ What does take place is an actual change in his
own position due to the direction of the approach of the other dog.“231
In diesem Austausch von Gesten findet eine Kommunikation mit Zeichen statt ohne ein
Bewusstsein, dass Kommunikation statt findet. Es findet auf dieser Stufe noch keine
Kommunikation von Zeichen statt. Wie Mead betont, kann es sich bei diesem Austausch
von Gesten noch nicht um den Austausch von bedeutsamen Zeichen handeln („They are
not […] significant“). Der Grund dafür lautet nicht, dass B einfach nur auf Z reagiert, diesen
Reiz nicht als Zeichen auffasst, sondern er lautet, dass A nicht ebenso wie B auf Z reagiert.
Mead zufolge wird ein Austausch von Gestenzeichen erst dann zu einem Austausch von
bedeutungstragenden Zeichen (conversation of significant gestures), wenn sie dieselbe Wirkung,
Diese Auffassung bezeichnet Peirce als „Tuismus“. Der Tuismus ist die Ansicht, dass Gedanken stets an
eine andere Person (an die Zweite Person) gerichtet sind bzw. an sich selbst als zukünftige Zweite Person.
230 Ich werde eine Argumentation dieser Art in 4.4. anhand des „Schimpansenarguments“ systematisch
entwickeln.
231 Mead 1934: 14, 42f.
229
97
die sie auf B hat, auch auf A hat. Gesten werden also erst zu bedeutungstragenden Zeichen,
wenn sie bei A implizit die gleiche Reaktion auslösen wie bei B. Gefordert wird also, dass so
etwas wie eine identische Bedeutung von Z für A und B entsteht.232 Wie kann dies
geschehen? Mead versteht den Begriff der Geste sehr weit. Er umfasst v. a. auch
stimmliche Gesten, also Lautgesten, Verlautbarungen, Wortäußerungen. Stimmliche
Gesten sind, wie andere körperliche Gesten auch, nichts anderes als Verhaltensweisen eines
Organismus. Der Lautgeste kommt bei Mead eine besondere theoretische Rolle zu. Im
Unterschied zu Körperhaltungen oder Gesichtsausdrücken wird ein Laut nämlich nicht nur
von A hervorgebracht und von B gehört, sondern von A ebenso gehört, wie von B. Die
Lautgeste ermöglicht also den Schritt von der bloßen Geste zur bedeutungstragenden
Geste. Den Begriff des Austauschs von Gesten und der Lautgeste übernimmt Mead von
Wilhelm Wundt. Im Unterschied zu Wundt werden Gesten nicht als „System von
Ausdrucksbewegungen“
(von
Gedanken
oder
Gefühlen)
(behavioristisch) als Handlungsankündigungen aufgefasst.
233
verstanden,
sondern
Der Schritt erfolgt über die
Gleichheit des Zeichen-Vehikels für die Interaktionspartner.
Der Schritt von der Geste zum bedeutungstragenden Zeichen ist Mead zufolge
notwendig für die Entstehung von Selbstbewusstsein, weil A infolge der Gleichheit seiner
Reaktion auf Z mit der Reaktion von B auf Z, die Einstellung des Anderen übernimmt und
sich so als Objekt erfährt. Beide Schritte sind wiederum notwenig für das Entstehen des
Denkens. Nur in bedeutungstragenden Zeichen kann Denken vor sich gehen, Denken
verstanden als ein nach innen verlegtes oder implizites Gespräch des Einzelnen mit sich
selbst mit Hilfe von bedeutungstragenden Gesten und Zeichen.234 Die anticartesianische
Stoßrichtung des sozialen Behaviorismus besteht natürlich darin, dass der Geist als ein
Produkt eines Prozesses der kommunikativen Interaktion zwischen Organismen in einem
sozialen Kontext verstanden wird. Er entsteht durch die Internalisierung des Austausches
von Zeichen.
Meads Ansatz enthält zahlreiche Schwierigkeiten, und er ist in der Philosophie
unterschiedlich rekonstruiert worden.235 Ich werde später auf ein für mich relevantes
Problem dieser Mead-Deutungen zurückkommen. Der springende Punkt in dieser
Bloße Gesten „become significant symbols when they implicitly arouse in an individual making them the
same responses which they explicitly arouse, or are supposed [intended] to arouse, in other individuals, the
individuals to whom they are addressed.“ (Mead 1934: 47)
233 Mead hat in Leipzig bei Wundt studiert. Für einen Überblick zu Wundts Gestenklassifikation vgl. Fricke
2007: 156-160.
234 Mead 1934: 47: „Only in terms of gestures as significant symbols is the existence of mind or intelligence
possible; for only in terms of gestures which are significant symbols can thinking – which is simply an
internalized or implicit conversation of the individual with himself by means of such gestures – take place.“
235 Vgl. Tugendhat 1979: XI-XII; Joas 1980; Habermas 1981, Bd. 2: 11-68; Habermas 1988: VIII; Honneth
1992: IV.
232
98
Rekonstruktion des pragmatistischen Kontextes der Biosemantik ist der Folgende: Morris
zufolge macht „Meads Analyse des Gestenzeichens (ob sprachlich oder nicht-sprachlich)
die verhaltensorientierte Natur des Interpretanten zur Basis […], auf die sich Peirces
Semiotik zubewegte“.236 Die Gesten von A werden ja zu Zeichen für B und für A, wenn B
aufgrund einer Geste von A eine bestimmte Verhaltenstendenz einnimmt und A dieselbe
Verhaltenstendenz wie B einnimmt. Die Bedeutung eines Zeichens ist somit kein
psychischer Zusatz, sondern kann als etwas aufgefasst werden, das sich aus
unterschiedlichen Phasen eines Prozesses der kommunikativen Interaktion ergibt. Wie
schließt Morris selbst an Peirces Semiotik und Meads Sozialen Behaviorismus an?
1.2.4. Morris: Semiotischer Behaviorismus
Morris unterscheidet fünf Momente eines Zeichens, nämlich das Zeichen (sign-vehicle), den
Interpreten (interpreter), den Interpretanten (interpretant), die Signifikation (signification) und
die Bedingung (context). Die Semiose verläuft schematisch wie folgt: Ein Zeichenvehikel
aktiviert in einem Interpreten einen Interpretanten für eine Signifikation innerhalb eines
Kontexts. Die Semiose ist somit ein durch ein Zeichen vermitteltes Gewahrwerden einer
Signifikation. Ein Interpret ist ein ganzer Organismus, der etwas als Zeichen verwendet
und sich auf bestimmte Weise verhält. Der Interpretant hingegen ist eine Disposition oder
eine Aktivität des Organismus. Die Signifikation betrifft im Wesentlichen
„the kind of object which the sign applies to, i.e., the objects with the properties
which the interpreter takes account of through the presence of sign vehicle. And
the taking-account-of may occur without there actually being objects or situations
with the characteristics taken account of“.237
Organismen interpretieren dadurch Zeichen, dass sie durch ihre Dispositionen dazu
gebracht werden, auf bestimmte Weise auf distale Objekte durch Verhalten zu reagieren.
Das, worauf ein solches Verhalten abzielt, ist nicht der proximale Stimulus, sondern ein
distales Objekt auf das der Organismus reagiert. Ein Organismus, der lediglich auf
Außenreizungen reagiert, reagiert nicht auf Zeichen, denn er interpretiert die Reizungen
nicht als Zeichen für distale Objekte.238 Ein Organismus, der nicht nur auf
Morris 1977: 217.
Morris 1971: 20.
238 Ein einfacher Test für die Frage, ob ein Organismus Zeichen verwendet oder nicht, besteht in der
Substitution einer artifiziellen Reizklasse (Glockenton) für eine natürliche Reizklasse (Futter) durch weitere
artifizielle Reizklassen (Klarinettenklang, Luftstoß, Bildchen usw.) für dieselbe Reizklasse. Die Substitution
wird durch die Selbigkeit der Reaktion (Speichelfluss) festgestellt. Nun können selbst einfache Organismen
konditioniert werden. Aber können sie auf diese Weise konditioniert werden? Der Seehase (aplysia californica)
ist eine Meeresnacktschnecke mit Kiemen, die sich in einem Mantel befinden, der durch eine Schutzmembran
236
237
99
Oberflächenreizungen reagiert, sondern auf distale Objekte, lebt erst in einer Umwelt, weil
sein Verhalten eine Reaktion auf Dinge in der Umwelt ist. Er ist sozusagen nicht
beschränkt auf seine Außenmembran, er endet nicht an seiner Haut. Erst jetzt sprechen wir
beispielsweise davon, dass ein Organismus etwas wahrnimmt. Er reagiert auf einen Reiz als
Zeichen für räumlich entfernte Objekte. Oder er reagiert auf räumlich entfernte Objekte als
Zeichen für räumlich noch weiter entfernte Objekte oder gar auf zeitlich entfernte
Ereignisse. Der Interpretant ist eine Fähigkeit eines Organismus, nämlich seine Disposition
oder Gewohnheit so auf ein Zeichen zu reagieren, dass er (als Interpret) instand gesetzt
wird auf distale Objekte zu reagieren. Interpretanten werden von Morris als Dispositionen
beschrieben.239 Er spricht beispielsweise auch von „dispositions to believe“, „dispositions
to prefer“ oder „dispositions for action“. Interpretanten werden so entweder als
Verhaltensregularitäten oder als Reiz-Reaktions-Paare unter spezifizierbaren Bedingungen
aufgefasst. Der Interpretant wird dispositional gefasst, weil dies es erlaubt, dass eine Entität
oder ein Ereignis ein Zeichen sein kann, auch wenn der Interpret nicht (oder noch nicht)
auf eine bestimmte Art und Weise reagiert. In Morris’ Semiotik bleibt die Grundstruktur
des Peirceschen Zeichenbegriffs also erhalten: Ein Zeichen hat einen Inhalt, wenn es
sowohl einen Interpretanten als auch eine Signifikation hat.240
Was fehlt (und Morris ist sich dessen bewusst) ist eine Beschreibung „of what the
organism is disposed to act towards“.241 Ohne eine solche Beschreibung bleibt der
semiotische Behaviorismus unvollständig. Was fehlt ist nämlich nichts weniger als die
Festlegung der Bedeutung eines Zeichens. Der Interpretant ist es, der für die Festlegung
der Bedeutung eines Zeichens wesentlich ist. Dies ist der Kerngedanke der Peirceschen
bedeckt ist, und das Ende dieser Membran bildet einen Siphon. Wird der Siphon durch Berührung stimuliert,
ziehen sich die Atemorgane reflexartig zurück. Nun lernt der Seehase diesen Reiz zu ignorieren, wenn er nur
oft genug wiederholt wird. Er kann auch dazu konditioniert werden, den Siphon zurückzuziehen, wenn
(elektrische) Reize auf seinen Fuß verabreicht werden. Er ist also imstande seine neuronale Dynamik mit
Reizen zu korrelieren. Aber er scheint nicht dazu imstande, alte durch neue Reizklassen bei gleichbleibender
Reaktion zu substituieren (vgl. Hawkins und Kandel 1985).
239 „Given the sign vehicle as an object of response [für den Interpretanten], the organism expects a situation
of such and such a kind, on the basis of this expectation, can partially prepare itself in advance for what may
develop. The response [nun für den Interpreten] to things through the intermediacy of signs is thus
biologically a continuation of the same process in which the distance senses have taken precedence over the
contact senses in the control of conduct in higher animal forms […]. This process of taking account of a
constantly more remote environment is simply continued in the complex processes of semiosis made possible
by language, the object taken of no longer needing to be perceptually present.“ (zitiert nach Fiordo 1977: 52)
240 Zeichen können bei Morris entweder Signale oder Symbole sein. Ein Symbol ist ein Zeichen für ein
anderes Zeichen (mit dem es gleichbedeutend) ist. Ein Symbol entsteht also durch die Übersetzung eines
Zeichens in ein anderes Zeichen. Zeichen, die keine Symbole sind, sind Signale. Symbolverwendende
Organismen sind unabhängig von einer auch räumlich und zeitlich erweiterten Umwelt. Mithilfe von
Symbolen können alternative Verhaltensweisen entworfen und Entscheidungen zugunsten von
Verhaltensweisen getroffen werden. So werden Organismen auf gewisse Weise frei von der unmittelbaren
und mittelbaren Umwelt und entwerfen mögliche Umwelten. Erst der Entwurf möglicher Umwelten gibt
diesen Organismen eine Welt (vgl. etwa Morris 1946: 26).
241 Morris 1946: 18.
100
Semiotik. Bedeutung entsteht innerhalb eines Prozesses der kommunikativen Interaktion
aufgefasst. Dies ist der Kerngedanke von Meads sozialem Behaviorismus. Morris verbindet
die beiden Gedanken: Der Interpretant kann als Verhaltensdisposition eines Interpreten
aufgefasst werden. Der Interpretant muss also eine Wirkung für den Interpreten (den
Organismus) haben „such that the interpreter tends to act in a certain way under given
circumstances when actuated by a given need“.242 Die Antwort, die Morris auf die Frage
gibt, „what the organism is disposed to act towards“ ist also jene des instrumentellen
Pragmatismus, dem zufolge Zeichen sowohl semantisch als auch epistemisch im Hinblick
auf ihre Rolle zur Wunscherfüllung bewertet werden sollen. Morris bleibt uns die Antwort
auf die Frage schuldig, was Wünschen ihre Bedeutung verleiht. Darüber hinaus scheint sein
semiotischer Behaviorismus nicht imstande zu sein, uns Auskunft über die semantische
Normativität von Zeichen zu geben, solange er den für die Festlegung des Gehalts
ausschlaggebenden Interpretanten lediglich als Verhaltensdisposition in einer bestimmten
Bedingung (context) auffasst. Morris’ Semiotik kann also keine Antwort auf das Problem der
Fehlrepräsentation geben, weil sie den Interpretanten, der die Bedeutung des Zeichens
festlegen sollte, als bloße Verhaltensdisposition in einem bestimmten Kontext deutet.
Darüber hinaus wurde Morris’ konkrete Ausgestaltung des semiotischen
Pragmatismus in Signs, Language, and Behavior von John Dewey und Arthur Bentley in
Knowing and the Known (1949) eingehend und sarkastisch als „confused semiotics“ kritisiert,
da Morris sein Versprechen, ein eindeutiges und präzises Vokabular als Grundlage einer
allgemeinen Zeichentheorie zu entwickeln, nicht einlöse.243 Dewey spricht sarkastisch von
„the verbal chaos of his semiotic“.244 Die Kritik ist nicht unberechtigt. Doch in unserem
Zusammenhang entscheidend ist Morris’ Vorhaben, das Dewey und Bentley begrüßen,
nämlich die Absicht der Grundlegung der Semiotik als einer umfassenden und fruchtbaren
Wissenschaft des Zeichens, und zwar durch ein Vokabular, dessen Bestandteile „are
statable in terms drawn form the biological and physical sciences“.245 Dies ist so zu
verstehen, dass Morris’ Vorhaben auf der Überzeugung beruht,
„that a science of signs can be most profitably developed on a biological basis and
specifically within the framework of the science of behavior (a field which,
following a suggestion of Otto Neurath, may be called behavioristics). Hence I
shall constantly suggest connections between signs and the behavior of animals
and men in which they occur“.246
Zitiert nach Fiordo 1977: 52.
Dewey 1989b: 33ff., IX.
244 Dewey 1989b: 33.
245 Morris 1946: 19.
246 Morris 1946: 2. Bereits Morris’ erst posthum veröffentlichte Dissertation Symbolism and Reality (1925)
enthält einen Abschnitt mit „biological considerations“ zum Symbolbegriff (vgl. Morris 1981: III).
242
243
101
Es ist offensichtlich, dass Millikans Biosemantik diese Überzeugung aufnimmt. Nicht nur
sachlich, sondern auch methodisch nimmt Millikan die von Morris gelegte Spur auf. Das
Verfahren der Theoriekonstruktion (1.1.6.) weist offensichtliche Parallelen zu Morris’
Vorgehen in Signs, Language and Behavior auf. Wie Millikan geht Morris von einem „wide
disagreement as to when something is a sign“ aus, das zeige, „that the term ‘sign’ is both
vague and ambiguous.“247 Ist etwa Erröten ein Zeichen? Ist das Pfeifen, durch das man
einen Hausschlüssel wieder findet, ein Zeichen? Sind Kleider Zeichen der Persönlichkeit
ihrer Träger? Musik? Träume? Interpunktionen? Sind der Ausruf „Autsch!“, das Rotlicht
oder Blitz und Donner alles Zeichen in selbem Sinne? Morris schlägt vor bei biologischem
Verhalten anzufangen „which agrees fairly well with frequent usages of the term ‘sign’“.248
Der Ansatz beim Verhalten ergibt sich aus Morris’ pragmatistischem Hintergrund. Der
Ansatz bei biologischem Verhalten ergibt sich aus dem Ziel, die Semiotik auf eine
naturwissenschaftliche Grundlage zu stellen. Doch da die Verwendung des Begriffs
„Zeichen“ vage und vieldeutig ist, kann es nicht darum gehen, dass das ausgesuchte
Verhalten mit allen Formen dieser Verwendung übereinstimmt. Der Semiotiker muss
vielmehr sagen:
„Henceforth we will recognize that anything which fulfills certain conditions is a
sign. These conditions are selected in the light of current usages of the term ‘sign’,
but they may not fit in with all such usages. They do not therefore claim to be a
statement of the way the term ‘sign’ is always used, but a statement of the
conditions under which we will henceforth admit within semiotic that something is
a sign.“249
Das Ziel besteht also darin im Ausgang von einem paradigmatischen biologischen Fall der
Zeichenverwendung Schritt für Schritt ein Vokabular für eine allgemeine Theorie des
Zeichens auszuarbeiten und zwar „on the basis of the general principles of behavior which
underlie all behavior, and hence sign-behavior“.250 Wie auch immer man Morris’
Ausarbeitung beurteilen mag, die seinem Vorhaben zugrunde liegende Idee – die
Verbindung von Peircescher Semiotik und Meadschem Sozialbehaviorismus einerseits und
der Ansatz bei einem biologischen Verhalten andererseits – und das Verfahren der
Theoriekonstruktion sind es, die in der Biosemantik aufgenommen werden. Die
Biosemantik behebt den oben diagnostizierten grundlegenden Mangel von Morris’
Semiotik dadurch, dass sie eine Lösung für das Normativitätsproblem anbietet.
Morris 1946: 3.
Morris 1946: 4.
249 Morris 1946: 3.
250 Morris 1946: 4.
247
248
102
1.2.5. Normative Transformation des semiotischen Behaviorismus
Karl-Otto Apel hat die Ansicht vertreten, dass Morris’ Semiotischer Behaviorismus instabil
ist und deshalb in eine naturalistische und eine normativistische Seite zerbricht. Im
Hinblick auf den Gebrauch sprachlicher Zeichen (Morris’ Symbole) schreibt Apel:
„Ch. W. Morris, der – als Behaviorist – ebenso wie die Neopositivisten daran
festhält, dass die Verwender der Sprache und ihre zeichenvermittelten
Verhaltensweisen ein natürliches Untersuchungsobjekt der empirischen
Wissenschaften sind, genauso wie die in der semantischen Bedeutungsdimension
bezeichneten Objekte, betont dennoch – als Semiotiker –, dass der „interpretant“,
als die Regel, aufgrund derer von einem Zeichenvehikel gesagt werden kann, es bezeichne
bestimmte Arten von Objekten oder Situationen, nicht selbst ein Objekt dieser Menge
ist.“251
Wie wir gesehen haben, finden Behaviorismus und Semiotik bei Morris tatsächlich
nicht zueinander. Ich habe auch darauf hingewiesen, dass Morris die Möglichkeit der
Fehlrepräsentation Schwierigkeiten bereitet. Doch anders als Apel meint, kann eine
naturalistische Theorie – die Biosemantik als normative Transformation des semiotischen
Behaviorismus – hier Abhilfe schaffen. Apel scheint nämlich mit Morris der (von Apel
verpönten neopositivistischen) Ansicht zu sein, Verhalten lasse sich rein empirisch
beobachten und in der Form deskriptiver „Behaviogramme“ festhalten. Doch damit
übernehmen beide den Verhaltensbegriff des klassischen Behaviorismus. Denn was heißt
es, Verhalten zum Objekt der empirischen Wissenschaften zu machen? Ich habe am
Anfang dieses Kapitels auf drei Punkte hingewiesen, die die pragmatistischen
Behaviorismen vom klassischen Behaviorismus unterscheiden, nämlich die Interaktion mit
der Umwelt, angeborenes gattungsspezifisches Verhalten und die Internalisierung der
Kommunikation. Hier ist der Ort auf den dort angekündigten vierten Unterschied zu
verweisen. Er betrifft das Verhalten selbst. Verhalten ist nämlich eine funktionale
Kategorie und (zugespitzt formuliert) als solche nicht beobachtbar. Ich will diesen
heterodox anmutenden Punkt erläutern.
Der Begriff des Verhaltens wird auf Lebewesen angewendet (wir können Pflanzen
und Pilze durchaus einschließen), nicht auf Teile von Lebewesen. Nicht die Mäusepfote
zeigt ein Verhalten, sondern die Maus. Verhalten ist nicht identisch mit der Bewegung eines
Lebewesens, denn auch das Innehalten oder Aushalten ist Verhalten. Ein Verhalten ist
weniger ein Ereignis, als ein Prozess, denn ein Verhalten ist das Verursachen einer
Bewegung oder eines Bewegungsabbruchs auf eine bestimmte Art. Auf welche Art?
251 Apel 1976: 183. Apel beschließt das Argument mit dem Problem der Selbstanwendung der Analyse des
Zeichengebrauchs, nämlich mit der Unerreichbarkeit des „letzten Interpretanten“ (die
Interpretationsgemeinschaft) für diese Analyse. Auf dieses Problem kann ich an dieser Stelle nicht eingehen.
103
Bewege ich die Füße der betäubten Ratte Ratatouille, so ist dies kein Verhalten; stellen sich
die Haare von Ratatouille auf, weil ich sie mithilfe elektrostatischer Anziehung hebe, so ist
dies auch kein Verhalten. Berühre ich aber die wache Ratte und sie rennt weg (indem sie
ihre Füße bewegt) oder sie erschrickt und sträubt ihre Haare, so ist das ein Verhalten. Im
ersten Fall kommt die Ursache der Fuß- und Fellbewegungen von außen, im zweiten Fall
von innen, auch wenn sie vielleicht von mir veranlasst werden. Nicht ich bin die
unmittelbare Ursache der Bewegung der Füße und der Haare, sondern Ratatouille ist deren
unmittelbare Ursache. Verhalten ist also ein Prozess, in dem etwas in einem Lebewesen die
unmittelbare Ursache eines Bewegungsablaufs oder -abbruchs ist, den wir dem ganzen
Lebewesen zuschreiben.252
Verhalten ist, und dies ist der entscheidende Punkt, ein Prozess mit einem
bestimmten Ziel, es ist ein teleologischer Prozess. Wir wissen, was jemand tut, wenn wir
wissen, was er beabsichtigt. Oder wir schließen umgekehrt von dem, was einer tut, auf
seine Absichten. Das entspricht unserer Alltagspsychologie. Nicht alles Verhalten wird
durch bewusste Absichten gesteuert, auch bei uns Menschen nicht. Weder die
Verhaltensweisen einer Pflanze, noch die Reflexe einer Ratte, die Geländeorientierung von
Ameisen oder das Brutverhalten eines Vogels folgen bewussten individuellen Absichten.
Nehmen wir beispielsweise den Blinzelreflex. Ratatouille blinzelt. Wenn man nur auf die
Bewegung achtet, ergeben sich unzählige Beschreibungsmöglichkeiten. Man kann sagen,
dass Ratatouille seine Lider zeigt, dass er mit den Wimpern auf seine Pfoten oder auf den
Boden weist, dass sie die Unterlider berühren, dass die Wimpern sich von der
Schädeldecke, vom Schwanz oder von der Sonne entfernen, dass sich die Augenlider
strecken, 1,7 cm weit oder fünf Mal bewegen, dass sie die Augen bedecken, sie abdunkeln,
ein ganz leises schmatzendes Geräusch erzeugen usw. Was aber tut Ratatouille? Worin
besteht sein Reflexverhalten? Einige der Beschreibungen geben sicher absurde Auskünfte.
Eine Antwort erhalten wir nur dann, wenn wir angeben, wozu er blinzelt, welche Funktion
das Blinzeln erfüllt. Natürlich lassen sich an Verhalten weitere Fragen richten,
beispielsweise die Frage, wie es zustande kommt. Auch bei Fragen dieser Art richten wir
unsere Aufmerksamkeit auf etwas, das wir zuvor bereits teleologisch individualisiert haben.
Allgemein kann man sagen: Wir wissen, was ein Lebewesen tut, wenn wir wissen, wozu
sein Verhalten gut ist, wenn wir also wissen, welche Funktion es hat. Bewegungsabfolgen
oder Bewegungsabbrüche sind Verhalten, wenn sie eine Funktion haben.253
252
253
Vgl. Dretske 1988: I-II.
Vgl. WQP: VII, Millikan 2005a.
104
Gegen die These, dass Körperbewegungen und deren Bestandteile erst durch eine
Funktion zu einem Verhalten werden, kann man einwenden, dass es doch
Verhaltensstereotypien
gibt,
die
offenbar
keiner
bestimmten
Funktion
dienen.
Verhaltensstereotypien sind Räuspern, Blinzeln, Schaukeln oder Zappeln bei Menschen,
Schaukelbewegungen bei angeketteten Elefanten oder das ununterbrochene Hin und Her
des Tigers im Käfig. Dieses Verhalten erscheint pathologisch, und zwar gerade, weil es
schwierig ist, hinter dessen Funktion zu kommen. Doch nicht- oder dysfunktionales
Verhalten wird uns als solches erst vor dem Hintergrund von Verhalten im eigentlichen
Sinne erkennbar, weil Verhalten im eigentlichen Sinn eine Funktion hat. Stereotypien sind
Verhaltensstörungen, eben weil sie ohne Ziel und Zweck ausgeführt werden.
Der hier relevante Begriff der Funktion ist derjenige der Echten Funktion. Eine
Körperbewegung wie das Blinzeln hat viele Wirkungen, von denen nicht alle zu ihrer
Funktion gehören. Da Echte Funktionen selektierte Wirkungen sind, können akzidentielle
Wirkungen ausgeschieden werden. Da biologische Funktionen ein Produkt der natürlichen
Selektion sind, werden sie nur dem Tun von Lebewesen zugeschrieben, nicht dem Tun von
Planeten oder Gasen. Etwas im Lebewesen, ein P-Mechanismus, hat die Funktion
bestimmte Bewegungen in Gang zu setzen oder zu unterbinden. Dieser Mechanismus ist
die unmittelbare innere Ursache eines Bewegungsablaufs oder Bewegungsabbruchs, ihm
kommt eine Direkte Echte Funktion zu. So besteht die Funktion des Mechanismus, der
zum Blinzelreflex führt, vermutlich darin zu verhindern, dass Feinkörper das Auge
beschädigen. Mein reflexartiges Blinzeln hic et nunc hat dieselbe Funktion als Abgeleitete
Echte Funktion. Natürlich ist nicht die Abwärtsbewegung meines Augenlides das
Verhalten (jemand könnte es zuziehen), sondern der Prozess des Verursachens dieser
Bewegung durch den Mechanismus (gemäß einer Normalen Erklärung), der die Funktion
hat, Feinkörper von meinem Auge fern zu halten. Mein Blinzelverhalten hic et nunc ist ein
teleologischer
Prozess
als
Aktualisierung
der
Direkten
Echten
Funktion
des
Mechanismus.254
Natürlich beschreiben wir Verhalten oft dadurch, dass wir einen für uns auffälligen
Bestandteil benennen, beispielsweise akustische Bestandteile. Wir sagen, dass die Elster
keckert, der Specht klopft, die Kuh schmatzt. Natürlich ist dies etwas, das diese Tiere tun,
doch in diesem Sinne „tun“ auch der Kamin, der Wind oder der Teekessel etwas: sie
pfeifen. Pfeifen ist in diesen Fällen kein Bestandteil irgendeines Verhaltens, das Klopfen
des Spechts hingegen ist Bestandteil seiner Nahrungssuche. Indem er die Rinde des Baums
abklopft, fängt er Insekten. Das Schmatzen der Kuh ist ein beiläufiger Bestandteil ihrer
254
Das hier verwendete biosemantische Vokabular ist in Abschnitt 1.1.4. eingeführt worden.
105
Nahrungsaufnahme ohne Echte Funktion. Indem sie das Futter zerkaut, produziert sie
Schmatzgeräusche. Wozu dient das Keckern der Elster? Auch wenn wir das vielleicht nicht
wissen, nehmen wir, anders als im Falle der Bewegungen von Winden, Planeten und
Gasmolekülen, an, dass es Bestandteil eines Verhaltens ist. Diese teleologische Struktur hat
der klassische Behaviorismus außer Acht gelassen. Er hat nicht erkannt, dass Verhalten
wesentlich ein funktionaler Begriff ist. Und da Verhalten das Verursachen eines
Bewegungsablaufs oder -abbruchs durch einen funktionalen Mechanismus ist, ist Verhalten
nicht beobachtbar. Genauer: Es reduziert sich nicht auf die beobachtbaren
Bewegungsabläufe und Bewegungsabbrüche.
Verhalten kann misslingen. Das Nahrungssuchverhalten des Spechts führt nicht
immer zum Erfolg, das Fluchtverhalten der Ratte kann misslingen, das Blinzelverhalten
kann durch einen Lichtreflex auf meiner Brille ausgelöst werden. Das Verhalten erfüllt
nicht den Zweck, den es erfüllen sollte. Darüber hinaus können die Mechanismen, die zu
einem
Verhalten
führen,
oder
die
Körperteile,
die
für
die
entsprechenden
Bewegungsabläufe verantwortlich sind, defekt sein. Die Mechanismen, die das Verhalten
hervorbringen, funktionieren nicht, wie sie funktionieren sollten. Weil Verhalten durch
Funktionen bestimmt ist, kommt ihm eine normative Dimension zu. Doch wenn
Funktionen und Verhaltensweisen eine normative Dimension haben und falls semantische
Normen, die Apel als „Regeln“ (logische Interpretanten) anspricht, ebenfalls mithilfe der
normativen Dimension von Funktionen rekonstruiert werden können, dann gibt es keinen
Bruch zwischen der behavioristischen und der semiotischen Seite von Morris’
semiotischem Behaviorismus. Genau diese normative Dimension von Verhaltensweisen
und anderen funktionalen Entitäten und Prozessen wird durch die Biosemantik sichtbar
gemacht. Sie ist sowohl für einen Pragmatisten wie Morris als auch für einen
Transzendentalpragmatisten wie Apel unsichtbar.
Die Biosemantik kann so als normative Transformation des semiotischen
Pragmatismus betrachtet werden. Alle Elemente des Morrisschen Zeichenbegriffs finden
sich in ihr, unterfüttert durch eine normative Theorie der Echten Funktion: Der
Interpretant (interpretant) erscheint als K-Mechanismus, das Zeichen (sign-vehicle) als RVehikel, das durch einen P-Mechanismus hervorgebracht wird. Entscheidend für den IRInhalt eines Zeichens (signification) ist die Echte Funktion des Interpretanten. Da Echte
Funktionen selektierte Wirkungen sind, ist die Echte Funktion des Interpretanten relevant
für das Verhalten des Lebewesens (interpreter), dessen Teil er ist. Insofern Echte Funktionen
selektierte Wirkungen sind, hat der Interpretant eine normative Dimension, die die bloße
Verhaltensdisposition transzendiert. Das Zeichen muss mit einer Normalen Bedingung
106
(context) korrespondieren, damit der Konsument seine selektierte Aufgabe ausführen kann.
Die Normale Bedingung ist jene historische Bedingung, die vorliegen musste, damit die
Wirkung des Konsumenten (Interpretanten) zur Fitness des Lebewesens (des Interpreten)
beitragen konnte (und zwar im Unterschied zu anderen Konsumenten). Das im vorletzten
Satz kursivierte „Müssen“ ist ein normatives Müssen, insofern dem Produzenten die Echte
Funktion zukommt, Strukturen hervorzubringen, die auf eine bestimmte Weise mit
Normalen Bedingungen korrespondieren, nämlich so, dass das Vorliegen dieser
Korrespondenz es dem Konsumenten erlaubt seine Echte Funktion auszuüben.
Das normative Defizit, das die Biosemantik bei Morris entdeckt und behebt, findet
sich auf ganz ähnliche Weise auch bei Mead. Mead spricht nämlich davon, dass bloße
Gesten eine Bedeutung (meaning) hätten. Es scheint sich noch nicht um wirkliche
Bedeutung (signification) handeln zu können, da der Schritt zum bedeutungstragenden
Zeichen noch nicht gemacht worden ist. Eine bloße Geste scheint nur unter der Bedingung
zu einem bedeutungstragenden Zeichen werden zu können, wenn sie bei A implizit die
gleiche Reaktion auslöst wie bei B. Doch um der bloßen Geste Bedeutung zuschreiben zu
können, verweist Mead wiederum auf denselben Schritt.255 Wenn die Reaktion auf eine
Geste als Konsument dieser Geste aufgefasst werden kann, dann ist nicht einzusehen,
warum die bloße Geste nicht auch Bedeutung haben sollte.
Jürgen Habermas etwa spricht in diesem Zusammenhang „von Begriff der objektiven
oder natürlichen Bedeutung“ bloßer Gesten. In der ethologischen Praxis wird bestimmten
Verhaltensmustern eine Bedeutung zugeschrieben „ohne zu unterstellen, dass das
beobachtete Verhalten für den reagierenden Organismus selbst diese (oder überhaupt eine)
Bedeutung hat.“ Die Bedeutung werde aus dem Stellenwert eines Verhaltens innerhalb
tierlicher Funktionskreise (Nahrungssuche, Paarung, Brutpflege, Jagd usw.) von Ethologen
zugeschrieben.256 Unabhängig von solchen Zuschreibungen fasse, wie Ernst Tugendhat im
Zuge seiner Mead-Interpretation bemerkt, ein Tier das Signal eines anderen Tiers im
„Normalfall einer tierischen Kommunikation“ auch nicht als Signal auf, „sondern reagiert
einfach darauf“.257 Woher hat der Philosoph sein Wissen über den Normalfall der tierlichen
Kommunikation? Jedenfalls entspricht diese generelle Einschätzung weder dem derzeitigen
255 Mead 1934: 47: „When, in any given social act or situation, one individual indicates by a gesture to another
individual what this other individual is to do, the first individual is conscious of the meaning of his own
gesture – or the meaning of his gesture appears in his own experience – in so far as he takes the attitude of the
second individual toward that gesture, and tends to respond to it implicitly in the same way that the second
individual responds to it explicitly. Gestures become significant symbols when they implicitly arouse in an
individual making them the same responses which they explicitly arouse, or are supposed to arouse, in other
individuals, the individuals to whom they are addressed.“
256 Habermas 1981, Bd. 2: 18.
257 Tugendhat 1979: 250.
107
Stand der Ethologie noch der sie begleitenden wissenschaftstheoretischen Reflexion.258
Wichtiger an diesen Einschätzungen ist Folgendes: Wenn sich die natürliche Bedeutung
tierlicher Kommunikation der Interpretation durch die Praxis von Ethologen verdankt,
dann kann Meads Projekt einer naturalistischen Rekonstruktion der Bedeutung von Gesten
und Zeichen nicht gelingen, weil deren vermeintliche Grundlage das Resultat bereits
voraussetzen würde. Das mag für den Transzendentalpragmatisten ganz Recht sein. Nicht
für die Biosemantikerin. Habermas verweist darauf, dass auf der Ebene der verbindlichen,
artikulierten Rede die von Mead geforderte Gleichheit der Bedeutung normativer Natur sei:
„Eine identische Bedeutung liegt dann vor, wenn Ego weiß, wie Alter auf eine signifikante
Geste reagieren müsste; es genügt nicht zu erwarten, dass Alter in einer bestimmten Weise
reagieren wird.“259 Habermas verweist auf den Umstand, dass das Ausbleiben eines
erwarteten Verhaltens im Anschluss an eine signifikante Geste zu einer Enttäuschung über
eine misslungene Kommunikation führe, und nicht lediglich zu einer Enttäuschung über
ausbleibendes Verhalten.
Wie auch immer man das verstehen möchte, Habermas verweist jedenfalls auf die
Möglichkeit des Fehlgehens: Eine signifikante Geste hat ihre Echte Funktion nicht erfüllt.
Dass eine Geste (ein Zeichen oder eine Aussage) eine Echte Funktion hat, verleiht ihr eine
normative Dimension, und das heißt (Habermas zufolge) eine gleiche Bedeutung. Von den
Produzenten und den Konsumenten solcher Gesten werden bestimmte Reaktionen
aufgrund ihrer Funktion erwartet. Das Wissen von Ego um die erwartete Reaktion und die
Enttäuschung von Ego über die ausbleibende Reaktion fügen dem nichts hinzu, außer dass
Ego eben weiß, worin die Funktion der Geste besteht, und dass Ego erkennt, dass Alter
nicht will. Sehen wir von der Forderung ab, dass A wissen muss, wie B reagieren müsste,
dann können wir vor dem Hintergrund der Biosemantik sagen, dass die normative Kraft
der Geste und ihre Bedeutung sich der Zugehörigkeit zu einer REF mit einer Echten
Funktion verdanken. Die für unseren Erwerb einer zweiten Natur so wichtigen
Zeigegesten beispielsweise haben die Funktion, Alter auf etwas in einer bestimmten
Richtung und Entfernung hic et nunc aufmerksam zu machen. Alter reagiert damit, dass er in
die bezeichnete Richtung blickt. Die Zeigegeste hat deshalb eine Bedeutung, weil sie von
einem Konsumenten auf bestimmte Art und Weise verwendet wird. Die korrekte
Verwendung besteht nicht in der bloßen Disposition des Konsumenten, sondern in seiner
Echten Funktion. Unsere Zeigegesten werden von Kleinkindern als Hinweise auf Dinge in
einer bestimmten Richtung und in einer bestimmten Entfernung hic et nunc aufgefasst, lange
258
259
Vgl. Allen und Bekoff 1997; Perler und Wild 2005; Hurely und Nudds 2006.
Habermas 1981, Bd. 2: 28.
108
bevor sie als Adressaten solcher Gesten überhaupt in der Lage sind, Artgenossen als Wesen
mit Absichten zu verstehen. Damit eine Zeigegeste als intentionale Geste verstanden
werden kann, muss sie also als Bestandteil eines ko-evolvierten Systems von Produzent und
Konsument betrachtet werden. Ego weiß, wie Alter auf eine Zeigegeste reagieren müsste, er
erwartet nicht einfach, dass Alter auf sie reagiert, wie er aufgrund dunkler Wolken Regen
erwartet. Es ist dann leicht zu sehen, wie auf der Grundlage solcher vorsprachlicher
bedeutungstragender Gesten wie der Zeigegeste bedeutungstragende Sprachzeichen erlernt
werden können. Reagiert ein Kleinkind nicht auf Zeigegesten, dann scheint etwas nicht zu
stimmen mit ihm, es kann diese Gesten nicht verstehen. Oder im Vokabular der
Biosemantik: Der K-Mechanismus erfüllt seine Echte Funktion nicht (und zwar nicht, weil
die Normalen Bedingungen nicht vorhanden wären, sondern weil er defekt ist).
Man kann Meads Projekt einer naturalistischen Rekonstruktion der Bedeutung von
Gesten und Zeichen durch selektierte Funktionen stützen. Dazu müsste Mead sein Beispiel
des Hundekampfes lediglich als Vignette eines Prozesses der Evolution durch natürliche
Selektion betrachten, wie es seine Begeisterung für Darwins Evolutionstheorie ja nahe
legen könnte: Wenn A1 die Reaktion R von B auf eine Geste G von A1 (aufgrund des
reproduzierbaren Merkmals M von A1) antizipiert, A2 aber R von B auf G nicht
antizipiert, und dieser Unterschied einen Unterschied für den reproduktiven Erfolg von A1
gegenüber A2 macht, dann ist die Echte Funktion von M die Antizipation von B’s R auf G.
Alle aufgrund von M hervorgebrachten Antizipationen von R durch die Nachkommen von
A1 haben dieselbe Echte Funktion. G wird so zu einem Zeichen für R (von B). Reagiert B
auf andere Weise als R, dann ist G ein Zeichen, das fehlindiziert.
Allerdings fehlt in diesem Beispiel der Aspekt, dass B auf eine bestimmte Art
reagieren müsste. Dieser Punkt kommt zum tragen, wenn man G nicht als Teil einer
kompetitiven Interaktion, sondern als Teil einer kooperativen Interaktion unter
Artgenossen betrachtet. Hier ein Beispiel: Viele Hundeartige zeigen, bevor sie spielen, ein
bestimmtes Verhalten. Sie machen eine bestimmte Ganzkörpergeste, einen „Spielbogen“
(play bow), der als Spielaufforderung verstanden werden kann.260 Die Verhaltensweisen von
A und B nach dieser Spielaufforderung sind äußerlich nicht von aggressiven oder sexuellen
Interaktionen zu unterscheiden, sie sind aber nicht mehr als solche gemeint, sondern als
Bestandteile einer spielerischen Interaktion. Wenn A den Spielbogen macht, dann wird ein
bestimmter Reaktionstyp von B erwartet, der von A aufgrund seiner Geste antizipiert wird,
und der auch von A erwartet wird. Die Geste des Spielbogens ist ein Zeichen, dass A
260 Vgl. Bekoff 1977. Für eine Verteidigung der These, dass es sich beim Verhalten der Hunde um ein Spielen
handelt vgl. die Antwort von Allen und Bekoff 1994 auf Rosenberg 1990. Zu tierlichem Spiel vgl. Burghard
2005.
109
produziert und das B konsumiert. Damit der Konsument seine Echte Funktion ausüben
kann (Auslösung von Spielverhalten), muss das Zeichen mit jenem Typus von
Verhaltensweisen korrespondieren, die A und B ausführen werden. Und dieses Müssen ist
wiederum normativer Natur. Unterstellt man (was einige Ethologen zu tun bereit sind),
dass Hunde bei der Ausführung des Spielbogens wissen, dass ihre Partner auf den
Spielbogen auf bestimmte Art und Weise reagieren müssen (und nicht einfach reagieren
werden), so kann man mit Habermas sagen, dass eine identische Bedeutung vorliegt, denn
eine „identische Bedeutung liegt dann vor, wenn Ego weiß, wie Alter auf eine signifikante
Geste reagieren müsste; es genügt nicht zu erwarten, dass Alter in einer bestimmten Weise
reagieren wird.“261 Spielende und kämpfende Hunde könnten im Prinzip exakt dieselben
Initialgesten ausführen und exakt dieselben Verhaltensdispositionen aufweisen, aber es
würde sich nicht um dieselben Verhaltensweisen handeln. Auch darin zeigt sich der oben
genannte Unterschied zum klassischen Behaviorismus. Verhalten ist nicht auf die bloße
Beschreibung von Körperbewegungen reduzierbar, ja nicht einmal auf die Dispositionen zu
beschreibbaren Körperbewegungen, vielmehr ist Verhalten eine wesentlich funktionale
Kategorie.
Ich habe darauf hingewiesen, dass Mead Ausdruck und Rolle des Austausches von
Gesten und der Lautgeste von Wundt übernommen habe. Der Hinweis auf Wundt ist in
unserem Zusammenhang keine bloße historische Reverenz, sondern hat systematisches
Gewicht. Wundts populäre Vorlesungen zur Menschen- und Tierseele sind Ausdruck einer von
zwei großen Bewegungen gegen den „Geist des Cartesianismus“. Die eine Bewegung
entnimmt das Paradigma der Analyse der Sprache. Die analytische Philosophie ist geradezu
durch die Überzeugung charakterisiert worden, dass eine philosophische Erklärung des
Denkens durch (und nur durch) eine philosophische Analyse der Sprache erreicht werden
könne.262 Demgegenüber nimmt die andere Bewegung nicht am Sprachverhalten ihr
Modell, sondern am Tierverhalten. Mead verweist selbst auf den Umstand, dass der
Behaviorismus (gleich welcher Ausprägung) über die Tierpsychologie Eingang in die
Psychologie gefunden habe. Habermas betrachtet beide Bewegungen als Ausdruck der
Kritik am „Geist des Cartesianismus“.263 Er stellt fest, dass sich die analytische Philosophie
durch einen Prozess der Selbstkritik „aus der Verengung ihrer dogmatischen Anfänge
gelöst“ habe. Demgegenüber sei es der Verhaltenspsychologie „trotz gelegentlicher
Liberalisierungsschübe“ nicht gelungen, sich von den Vorgaben „einer objektivistischen
Für eine Verteidigung des hier relevanten Begriffs des Wissens vgl. Kornblith 2002.
Dummett 1988: 11.
263 Im Frankfurter Idiom: als Ausdruck der Kritik am „Subjekt-Objekt-Modell der Bewusstseinsphilosophie“.
261
262
110
Methodologie“ zu lösen.264 Habermas teilt dasselbe Vorurteil wie Apel. Mir scheint
demgegenüber, dass die hier skizzierte Genealogie der Biosemantik zeigt, dass es sich bei
dieser zweiten Bewegung nicht allein um eine bloß empirische Disziplin mit allzu
restringierter Methodologie handelt. Vielmehr findet sich in ihr ein philosophischer
Naturalismus vorgezeichnet, der in der Biosemantik seinen philosophischen Ausdruck
findet.265 Die Biosemantik hat ihre Wurzeln im semiotischen Behaviorismus von Peirce,
Mead und Morris. Als allgemeine Theorie der Zeichen, die ihr Paradigma im tierlichen
Kommunikationsverhalten findet, vermag die Biosemantik die beiden von Habermas
unterschiedenen großen Bewegungen gegen den „Geist des Cartesianismus“ zu vereinen,
indem sie eine philosophische Erklärung unseres Denkens und Sprechens durch eine
philosophische Theoriekonstruktion im Ausgang von tierlichen Kommunikationssystemen
unternimmt: „Our language is in deep respects just like any other animal’s communication
system...“266
Die Idee eines normativen Naturalismus jedoch verdankt Millikan weniger dem
Pragmatismus als dem Werk von Sellars. Dieses Werk ist der zweite Kontext, der in der
Biosemantik deutlicher Spuren hinterlassen hat. Dabei handelt es sich nicht zuletzt um
Spuren von Elementen in Sellars’ Philosophie, die sich dem Pragmatismus verdanken.
1.2.6. Sellars: Normativer Naturalismus
Millikan bezeichnet sich als „loyal student of Wilfrid Sellars”, weil sie der philosophischen
Überzeugung ist, dass nichts den Status eines unmittelbaren intentionalen Inhalts für ein
Subjekt haben kann.267 Intentionaler Inhalt ist immer vermittelter Inhalt. Diese These ist
Ausdruck von Millikans Akzeptanz der Ablehnung des „Mythos des Gegebenen“.268
Millikan interpretiert den Mythos des Gegebenen primär als eine starke Form des
Fallibilismus. Wenn man grundsätzlich im Wissen fehlgehen (sich irren) kann, warum nicht
auch darin, was die eigenen Repräsentationen bedeuten? Wenn es kein Gegebensein des
Wissens um Sinneseindrücke geben soll, warum sollte es ein Gegebensein des Wissens um
Bedeutungen geben? Die These, dass Bedeutungen oder Inhalte einem Subjekt unmittelbar
gegeben sind, dass ein Subjekt unmittelbar weiß, was seine Ausdrücke und Gedanken
Habermas 1981, Bd. 2: 11f.
Für diese zweite Bewegung habe ich den Titel „Tierphilosophie“ vorgeschlagen (vgl. Wild 2008b).
266 WQP: 10.
267 WQP: 310.
268 Millikan habe, wie Brandom 2005: 230 sich etwas gönnerhaft ausdrückt, „fully absorbed Sellar’s lessons“.
Ihrem Naturalismus kann deshalb nicht vorschnell der Vorwurf gemacht werden dem Mythos des
Gegebenen zu verfallen.
264
265
111
bedeuten, ist die zentrale Behauptung dessen, was Millikan „Bedeutungsrationalismus“
(meaning rationalism) nennt.269 Und Bedeutungsrationalismus ist die Form des Mythos des
Gegebenen, die Millikan bekämpft: „My desire is to kill meaning rationalism dead, and then
beat on it. Perhaps I will succeed in raising one or two more doubts about it. Reasoning, I
insist, is done in the world, not in one’s head.“270 Ich glaube, dass dieser Mordwunsch nicht
zur Biosemantik gehört, sondern sich einer überzogenen Feindschaft gegenüber dem
„Geist des Cartesianismus“ verdankt. Eine bedauernswerte Folge dieser Haltung besteht
darin, dass Millikan eine extreme Form des Externalismus vertritt und damit die
Opposition zwischen Externalismus und Internalismus aufrecht erhält. Aus demselben
Grund schenkt sie auch weder dem philosophischen Problem des Selbstbewusstseins noch
jenem des Bewusstseins die ihnen gebührende Aufmerksamkeit.271
Im Rahmen meiner Rekontextualisierung reicht es aus, die Ablehnung des
Gegebenheitsmythos einfach als Konsequenz der pragmatistischen Semiotik zu betrachten,
der zufolge der Bezug eines Zeichens auf sein Objekt stets durch einen Interpretanten
vermittelt wird.272 Peirce Zurückweisung des erkenntnistheoretischen Fundamentalismus,
der Privilegierung des Standpunkts der ersten Person und der Möglichkeit eines globalen
Zweifels präfigurieren eine breite Strömung der Philosophie des 20. Jhs. und stellen eine
Kritik am Mythos des Gegebenen dar.273 Sellars’ Anknüpfungen an Peirce sind denn auch
unübersehbar.274 Die vom Pragmatismus unabhängige und für die Biosemantik wichtige
Idee der Philosophie von Sellars ist treffend als ein normativer Naturalismus – „naturalism
with a normative turn“275 – beschrieben worden. Diese Idee ist, wie ich zeigen will, neben
dem Pragmatismus ein weiterer Ausgangspunkt von Millikans Biosemantik. Worin besteht
diese Idee?
Vgl. WQP: 286ff.; LBM: VII.
WQP: 12.
271 Ich komme auf diese Themen in den Kapiteln 4 und 5 zurück.
272 Darüber hinaus kann die Ablehnung des Gegebenheitsmythos, wie gesagt, als Effekt des pragmatistischen
Feldzugs gegen den „Geist des Cartesianismus“ betrachtet werden. Peirce ist eine Schlüsselfigur innerhalb des
Versuchs, das Paradigma der neuzeitlichen „Bewusstseinsphilosophie“ zugunsten des Vorrangs der Sprachoder Kommunikationsgemeinschaft aufzugeben.
273 Es ist deshalb sicher nicht zu Unrecht eine Kontinuität zwischen Peirce und Sellars behauptet worden, vgl.
Bernstein 1998: 142: „[I]t is in the 1868 articles [vgl. 1.2.2.] that Peirce sharply criticized Cartesianism,
foundationalism, and what Wilfrid Sellars later duped ‘the myth of the given’. There is a direct continuity
from the notion of the community of inquirers that Peirce adumbrates […] and Wilfrid Sellars’ claim made
almost a century later that ‘empirical knowledge, like its sophisticated extension, science, is rational, not
because it has a foundation, but because it is a self-correcting enterprise which can put any claim in jeopardy,
thought not all at once’.“ (Das Zitat stammt Sellars 1963: 170 bzw. 1997: 79).
274 Sellars greift beispielsweise Peirce Wahrheitsbegriff auf: „If, however, as I propose in chapter V, we
replace the concept of Divine Truth with a Peirceian conception of truth as the ‘ideal outcome of scientific
enquiry’ the gulf between appearances and things-in-themselves, though a genuine one, can in principle be
bridged.“ (Sellars 1968: 50)
275 Vgl. O’Shea 2007.
269
270
112
Sellars vertritt eine Auffassung von Philosophie, die einen Blick aufs Ganze fordert,
und zwar mit dem Ziel das manifeste und das naturwissenschaftliche Weltbild zu
vereinen.276 Dem naturwissenschaftlichen Weltbild kommt dabei ein Vorrang zu, denn die
Naturwissenschaften geben uns das beste Modell der Erkenntnis (der natürlichen Welt),
das wir bislang haben. Die Naturwissenschaften bieten eine methodisch reflektierte und
somit verbesserte Fassung der Problemlösungskapazitäten intelligenter Bewohner des
manifesten Weltbilds, und sie leisten dadurch Kritik am durchschnittlichen ontologischen
Inventar des manifesten Weltbilds.277 Somit kommt ihnen auch ein Vorrang im Hinblick
auf ontologische Auskünfte zu. Sellars vertritt also „the thesis of the primacy of the
scientific image“.278
Unterscheiden wir nun zwei Ebenen, die sich in erster Linie innerhalb des
manifesten Bildes finden, jedoch auch im wissenschaftlichen Bild eine Rolle spielen. Die
deskriptive, kausale, natürliche Ebene der beobacht- und beschreibbaren Uniformitäten des
Verhaltens von Lebewesen oder der nomologischen Regularitäten anderer Naturdinge
bezeichnen wir als „A-Ebene“. Es handelt sich hier um den „logischen Raum der Natur“,
der von den Naturwissenschaften besetzt wird. Die beobacht- und beschreibbaren
Verhaltensregularitäten von Sprachbenutzern beispielsweise oder die dabei aktivierten
Hirnzustände finden sich auf der A-Ebene. Die Ebene der normativen, semantischen,
rationalen, moralischen usw. Prinzipien wollen wir als „B-Ebene“ ansprechen. Hier handelt
es sich um einen „logischen Raum der Gründe“, den wir vernünftige Wesen bewohnen.
Wir unterscheiden also eine normative B-Ebene von einer natürlichen A-Ebene, die jedoch
nicht der Unterscheidung zwischen den beiden Weltbildern entspricht.
Elemente der B-Ebene können Sellars zufolge nicht ausschließlich mithilfe von
Elementen der A-Ebene beschrieben und analysiert werden. Das würde auf einen dem
naturalistischen Fehlschluss in der Ethik analogen Irrtum hinauslaufen.279 Das Erkennen,
das Handeln oder das Denken von Personen sind wesentlich normative Tätigkeiten und
Zustände. Doch zugleich findet sich bei Sellars, wie gesagt, die These des Vorranges des
naturwissenschaftlichen Bildes. In diesem Bild erscheinen Personen als Bündel von mikrophysikalischen Prozessen.280 So finden wir bei Sellars die Überzeugung, dass Elemente der
Ich komme auf das Thema der Vereinheitlichung als Kernanliegen philosophischer und
naturwissenschaftlicher Theoriebildung ausführlich in Abschnitt 2.3. zurück.
277 Grundsätzlich läuft diese Kritik darauf hinaus, dass das manifeste Bild intern inkohärent ist.
278 Sellars 1963: 32. Sellars drückt diesen Vorrang des naturwissenschaftlichen Bilds der Welt in einer
Variation des Homo-mensura-Satzes aus, dem zufolge gilt „that in the dimension of describing and explaining
the world, science is the measure of all things, of what is that it is, and of what is not that it is not“. (Sellars
1963: 173, 1997: 83)
279 Vgl. Sellars 1963: 131, 1997: 19.
280 Sellars 1963: 25: „I shall, therefore, provisionally assume that although behaviouristics and
neurophysiology remain distinctive sciences, the correlational content of behaviouristics points to a structure
276
113
B-Ebene (die für unser mentales und moralisches Leben konstitutiven semantischen und
ethischen Normen) zwar auf Elemente der A-Ebene (letztlich auf pure physische Prozesse)
kausal reduzierbar sind, nicht aber begrifflich.
Sellars’ normativer Naturalismus ist ein Vereinheitlichungsprojekt, das nach einer
Integration der beiden Ebenen strebt. Sein Augenmerk richtete sich dabei auf die
komplexen Relationen zwischen dem Normativen und dem Natürlichen, zwischen
Gründen und kausalen Regelmäßigkeiten. Diese Beziehungen sind komplex, weil sie von
einer gleichzeitigen Reduzierbarkeit und Nichtreduzierbarkeit der Elemente der B-Ebene
auf jene der A-Ebene ausgehen müssen. Es scheint, als würde sich ein Riss durch Sellars’
Projekt ziehen, ein Riss zwischen der normativen B-Ebene und der natürlichen A-Ebene,
gerade weil er versucht, zugleich die Irreduzibilität der B-Ebene und deren Integrierbarkeit
in ein vollständiges naturwissenschaftliches Bild der A-Ebene zu behaupten.
Nachfolger von Sellars haben eher die normativistische oder eher die naturalistische
Seite seiner Philosophie betont.281 Einige der normativistischen Nachfolger beharren auf
einer strikten Separation beider Ebenen, einige der naturalistischen Nachfolger hingegen
verlangen eine Eliminierung von Elementen der B-Ebene. Dem Separatismus zufolge
trennt Sellars strikt den Raum der Natur vom Raum der Gründe. Diese Interpretation gibt
sich zufrieden mit einer Trennung zwischen einer naturalistisch-kausalen und einer
normativ-rationalen Ebene. Dem Eliminativismus zufolge würde sich im vollständigen
naturwissenschaftlichen Bild unser Selbstbild als Wesen mit mentalen Zuständen letztlich
als falsch herausstellen. Im Gegensatz dazu zeichnet sich Sellars’ Projekt gerade durch
Vereinheitlichung aus. So hält er beispielsweise trotz seines Szientismus daran fest, dass
selbst in einem vollständigen naturwissenschaftlichen Bild der Realität und der Person den
Spezialwissenschaften (wie Biologie, Psychologie oder Soziologie) nach wie vor eine
wichtige
pragmatische
Funktion
zukäme,
da
die
Generalisierungen
der
Spezialwissenschaften erstens approximativ wahr sein dürften und zweitens in ihrer
of postulated processes and principles which telescope together with those of neurophysiological theory, with
all the consequences which this entails. On this assumption, if we trace out these consequences, the scientific
image of man turns out to be that of a complex physical system“. (Man beachte die Bezeichnung
„behaviouristics“, die Sellars ebenso wie Morris von Neurath übernimmt und als Sammelbegriff für sämtliche
Verhaltenswissenschaften von der Biologie über die Psychologie bis zur Soziologie verwendet.) Allerdings
kann es laut Sellars letztlich nicht gelingen, Personen vollständig als Bündel von mikro-physikalischen
Prozessen zu rekonstruieren (vgl. Sellars 1968: 38ff.). Der Grund liegt darin, dass Personen als Wesen, die
sich ethischen, logischen usw. Maßstäben ausgesetzt sehen dies nicht als physikalische Materiebündel sein
können. Das Problem liegt m.E. darin, dass Sellars hier nur an physikalistische Optionen denkt, dass er
Normen nicht als natürliche Normen denkt und dass er Menschen essenziell als Personen betrachtet.
Hingegen will ich zeigen, dass die Biosemantik keine physikalistische Form des Naturalismus ist (vgl. 2.2.),
dass sie sowohl auf semantische als auch auf ethische natürliche Normen bauen kann (Kapitel 3) und dass
Menschen essenziell nicht Personen, sondern vielmehr Lebewesen (Tiere) sind (Kapitel 4).
281 Man unterscheidet bisweilen normativistische Links-Sellarsianer und naturalistische Rechts-Sellarsianer.
Die Analogie zur Hegelschule ist gewollt, aber natürlich irreführend.
114
beschreibenden und vorhersagenden Funktion für uns nicht zu ersetzen wären.282 Kurzum,
„the manifest image is not overwhelmed in the synthesis“ der beiden Ebenen.283 Sellars’
Ziel ist also weder die Separation der beiden Ebenen noch die Elimination der B-Ebene,
sondern die Integration beider Ebenen unter Berücksichtigung des oben erläuterten
Vorrangs des wissenschaftlichen Weltbilds.
Welche weitreichenden Folgen der Verzicht auf die Integration beider Ebenen hat,
kann man sich anhand der separatistischen Aneignung der Kritik am Gegebenheitsmythos
vor Augen führen. Sellars’ Argumentation gegen den Mythos wird von Separatisten
bisweilen in generalisierter Form durch Slogans charakterisiert wie „Unsere Relation zur
Welt ist kausal, nicht semantisch“ oder „Nur eine Überzeugung kann eine Überzeugung
rechtfertigen“. Eine Implikation dieser Slogans besteht darin kausale (natürliche) und
semantische (normative) Eigenschaften strikt auseinanderzuhalten. Daraus folgern NeoPragmatisten wie Richard Rorty, dass weder so etwas wie eine referentielle Relation
semantischer Inhalte zu Objekten, Eigenschaften und Sachverhalten in der Welt noch so
etwas wie eine repräsentationale Relation von R-Vehikeln zu diesen Dingen bestehe, denn
solche Relationen sind ganz und gar kausal. Sellars allerdings insistiert darauf, dass eine
repräsentationale Relation des „Abbildens“ (picturing) zwischen R-Vehikeln und Dingen in
der Welt existiert. Das Sellarsche „picturing“ ist natürlich das Vorbild des biosemantischen
„mapping“ (1.1.5.).
Abbilder (pictures) sind keine Bilder (images), sondern es handelt sich generell gesagt
um natürliche Isomorphie-Relationen und deshalb gehören sie auch auf die A-Ebene. Der
hier relevante (durch Wittgensteins Tractatus inspirierte) Begriff des Abbildens ist der einer
abstrakten Isomorphie zwischen (Vorkommnissen von) repräsentierenden Vehikeln und
(Vorkommnissen von) repräsentierten Objekten, wobei sowohl die Vehikel als auch die
Objekte eine Struktur aufweisen und Bestandteil der natürlichen Welt sein müssen. Die
Vehikel, für die Sellars sich primär interessiert, sind (Vorkommnisse) natürlicher
sprachlicher Objekte. Sätze finden sich als natürlichsprachliche Objekte stets als
Abbildungen auch auf der (natürlichen) A-Ebene.284 Das Abbilden wird strikt verstanden
als eine Relation auf der A-Ebene, nicht aber auf der B-Ebene.285 Als Elemente der AEbene können sie als Abbildungen der Welt betrachtet werden. Das Abbilden übernimmt
282 Ich setze hier voraus, dass die Spezialwissenschaften auch im manifesten Weltbild eine Rolle spielen. Die
Entgegensetzung der beiden Bilder kann über weite Strecken nur heuristisch sein. Aber natürlich gibt es
Interaktionen. Ich komme auf diesen Punkt in Abschnitt 3.3.3. zurück.
283 Sellars 1963: 9.
284 Da Sellars mentale Zustände in Analogie zu Sätzen auffasst, gilt dies auch für interne Repräsentationen.
Da Sellars Theorien als Satz- und Begriffssysteme auffasst, können auch Theorien als enorm komplexe
Abbildungen betrachtet werden.
285 Sellars 1963: 50ff. bzw. 2007: 218ff.
115
also die Rolle der Korrespondenz zwischen Repräsentation und Welt. Auf der A-Ebene
sind mentale Zustände oder Aussagen Teil der natürlichen Welt. Zugleich sind sie auch
Elemente der B-Ebene, und zwar aufgrund ihrer Janusköpfigkeit „as belonging to both the
causal order and the order of reasons.“286 Deshalb ist die Abbildungsrelation selbst keine
semantische Relation. Es handelt sich um „a complex matter-of-factual relation and, as
such, belongs in quite a different box from the concept of denotation and truth“.287
Dennoch ist die Abbildungsrelation nicht notwendigerweise eine Kausalrelation, denn
zwischen Abbildern und Abgebildetem bestehen Relationen der Isomorphie, nicht der
Kausalität. Dieser Gedanke ist für die Biosemantik wichtig, weil sie nicht darauf festgelegt
ist, eine kausale Theorie der Repräsentation zu vertreten. Auch der folgende Aspekt dieses
Gedankens ist wichtig: Eine Abbildung kann mehr oder weniger adäquat sein. Worin
besteht die Relation zwischen einem Begriffssystem auf der B-Ebene (einem System von
Ausdrücken, die durch Regeln beschrieben werden) und dem Begriffssystem auf der AEbene (einem enorm komplexen Abbild)? Begriffssysteme unterstehen Regeln und diese
unterstehen laut Sellars dem folgenden Prinzip: „the espousal of a principle or standard,
whatever else it involves, is characterized by a uniformity of performance.“288 Diesem
Prinzip zufolge äußern sich Regeln der B-Ebene in Regelmäßigkeiten auf der A-Ebene. Ich
werde gleich auf dieses Prinzip zurückkommen. An dieser Stelle wollen wir nur vermerken,
dass die Biosemantik die so konzipierte Auffassung des Zusammenspiels von Regeln nicht
unterschreiben wird.
Im Unterschied zu Separatisten wie Rorty verzichtet Sellars keineswegs auf eine
repräsentationale Relation des Geistes zur Welt. Gerade darin besteht ja ein wichtiger
Aspekt der Integration, die der normative Naturalismus anstrebt. Sellars legt jedoch großen
Wert darauf, dass es sich dabei nicht um eine semantische Relation handelt.289 Autoren wie
Sellars 1979: 130.
Sellars 1968: 136.
288 Sellars 1963: 216.
289 Neo-Pragmatisten wie Putnam hingegen sind der Auffassung, dass sowohl Rorty als auch Sellars zu schnell
von der Einsicht, dass es einen himmelweiten Unterschied macht, ob man nach der Bedeutung eines
Ausdrucks (allgemeiner: einer Repräsentation) fragt oder nach dem kausalen Anlass eines bestimmten
Vorkommnisses dieses Ausdrucks (allgemeiner: dieser Repräsentation), zu der Zurückweisung der Existenz
einer semantischen Relation zwischen Repräsentationen und Dingen in der Welt übergehen (Putnam 1998:
43). Dieser Übergang, so scheint es, widerspricht nicht nur dem manifesten Bild unserer selbst als
intentionalen Akteuren in einer Welt der Dinge, sondern auch jenem wichtigen Bestandteil des
naturwissenschaftlichen Bildes, der diese Akteure als Resultat einer Evolution betrachtet, die sie als Tiere mit
adaptiven Vermögen zur Anpassung und Umgestaltung dieser Welt der Dinge sehen. Wir sollten, wie Putnam
zu Recht meint, diesen Schritt deshalb nicht zu schnell nehmen und ihm gegenüber Argwohn hegen. Putnam
fährt (sich auf sprachliche Repräsentationen konzentrierend) fort: „In this suspicion I am, naturally, joined by
metaphysical realists. Metaphysical realists, of course, deplore Rorty’s and Sellars’ rejection of the very idea of
semantical words-world relations. But if (as most of the contemporaries do) they also wish to endorse a ‘bald’
version of naturalism, they cannot simply posit a semantical words-world relation. They must also show that
it can be reduced to nonsemantical relations and facts, for to posit irreducible semantic relations is no better
from their point of view than to posit immaterial sense data. But all attempts to reduce semantic relations to
286
287
116
Millikan und Robert Brandom gehören weder zu den Separatisten (wie Rorty oder
McDowell) noch zu den Eliminativisten (wie die Churchlands), sondern sie nehmen das
integrative Projekt des normativistischen Naturalismus auf.290 Das Abbilden ist ein für
Millikan überaus wichtiges Motiv im Hinblick auf die repräsentationale Relation
intentionaler Zustände. Bezogen auf natürliche Zeichen (d.h. auf Zeichen, die weder wahr
noch falsch sein können), aber anwendbar auf jedes Zeichen, meint Millikan:
„Natural signs are structured world affairs and the things of which they are signs
are also structured world affairs, analogous to the correlates of complete sentences
rather than open sentences or sentence parts. Strictly speaking it is not the black
cloud that is a sign of rain. Rather, the structure that is a black cloud in the sky at a
certain time, t, moving toward a certain place, p, may be a sign of the structure that
is rain occurring shortly after t at p.“291
Wie wir gesehen haben sind R-Vehikel für Millikan immer, sogar im einfachsten Fall,
strukturierte Abbilder von anderen strukturierten Sachverhalten in der Welt (1.1.4.-1.1.6.).
Doch ein IR-Inhalt kommt diesen Vehikeln nicht aufgrund der Abbildrelation zu, sondern
aufgrund ihrer Relation zu einer Echten Funktion. R-Vehikel sind Abbilder und
Bestandteile der nicht-normativen A-Ebene. Echte Funktionen verleihen den Abbildern
intentionalen Inhalt, sind aber Bestandteile der B-Ebene, verstanden als Ebene, die
Elemente mit einer genuin normativen Dimension umfasst. Weil also auch biologische
Echte Funktionen eine normative Dimension haben, kann die Biosemantik das Projekt der
Integration zwischen der natürlichen A-Ebene und der normativen B-Ebene auf einer
biologischen Ebene ansetzen. Das ist die biologische Transformation von Sellars’
normativen Naturalismus.
Bei Brandom hingegen spielt das Abbilden keine Rolle. Millikan hat die Differenzen
zwischen ihrer und Brandoms Weiterführung von Sellars’ normativem Naturalismus
treffend dadurch auf den Punkt gebracht, dass sie und Brandom zwei unterschiedliche
Analogien als Ausgangspunkt ihrer Arbeiten bevorzugen.292 Diese beiden Analogien finden
sich in einem zentralen Aufsatz von Sellars, nämlich in „Some Reflections on Language
Games“.293 Brandom nimmt die (bei Sellars am Schach orientierte) Analogie unseres
Sprechens zum Spiel ernst und baut sie zu einer inferenzialistischen Theorie der
Intentionalität aus, in deren Zentrum bestimmte soziale Praktiken stehen. Millikan
nonsemantic ones have been utter failures; to the point hat we have presently no idea what such a reduction
could possibly look like.” (Putnam 1998: 44) Millikan ist eine metaphysische Realistin und die Biosemantik ist
anders als Putnam meint ein verheißungsvolles naturalistisches Projekt, allerdings nicht im Sinne einer
Reduktion semantischer – und das heißt: normativer – Relationen auf nicht-normative Relationen, sondern
einer Erklärung der Intentionalität durch natürliche Normen.
290 Brandom 2005: 211: „I think Millikan is slightly to my naturalistic right.“
291 VM: 47.
292 LBM: 82f.
293 Sellars 1963: XI, bzw. 2007: II.
117
hingegen nimmt die Analogie unseres Sprechens zur Tierkommunikation ernst (die Sellars
anhand von Bienentänzen illustriert) und baut sie zu einer teleosemantischen Theorie der
Intentionalität aus, in deren Zentrum die natürliche Selektion steht. Meines Erachtens kann
man die Biosemantik besser verstehen, wenn man sie als Reaktion auf Sellars’ Semantik
betrachtet. Dabei geht es mir nicht allein um einen „Kontext der Entdeckung“, sondern
auch um einen „Kontext der Rechtfertigung“ für das Projekt der Biosemantik. Denn es
wird nicht nur angeregt durch Sellars’ Ausführungen, sondern motiviert durch Lücken in
diesen Ausführungen.
Beginnen wir mit Sellars’ Funktionalismus. Einen Ausgangsgedanken des
Sellarsschen Funktionalismus kann man in einem Problem der Übersetzung sehen. Was
sagen wir, wenn wir sagen: „Das französische Wort ‚triangle’ bedeutet Dreieck“? Beziehen
sich die beiden Ausdrücke „triangle“ und „Dreieck“ in diesem Übersetzungsschema auf ein
abstraktes (mentales oder ideales) Objekt? Sellars’ Nominalismus erlaubt keine solche
Objekte. Seine Antwort lautet grob gesagt, dass „triangle“ im Französischen dieselbe Rolle
spielt wie „Dreieck“ im Deutschen. Man kann auch sagen, dass das Wort „triangle“ von
Französischsprechenden so verwendet wird, wie „Dreieck“ von Deutschsprechenden. Das
Übersetzungsschema gibt an, worin die Bedeutung eines Ausdrucks besteht, weil es einem
Ausdruck („triangle“) in einer Fremdsprache eine Rolle zu weist, die jener eines Ausdrucks
(„Dreieck“) in der Erstsprache entspricht. Dies mag für die Interpretation eines
Übersetzungsschemas hinreichen. Doch was heißt es für einen Sprecher, Ausdrücke seiner
Erstsprache zu verwenden? Man kann an dieser Stelle nicht auf eine weitere natürliche
Sprache verweisen, und die Ausdrücke der Erstsprache können nicht deshalb eine
Bedeutung haben, weil sie durch ein Übersetzungsschema expliziert werden können. Die
funktionalistische Antwort lautet, dass natürliche Sprachen als Systeme von Ausdrücken
verstanden werden sollen, die nach bestimmten Regeln verwendet werden, und es sind
diese Regeln, die den Ausdrücken Bedeutung verleihen. Eine Sprache ist ein durch
semantische Regeln beschriebenes System von Begriffen und Sätzen. Ein Sprachschüler
lernt eine Erstsprache, indem er die Regeln für die Verwendung von Ausdrücken lernt.
Doch diese Auskunft ist offensichtlich unbefriedigend, denn um die Regeln einer
bestimmten Sprache lernen zu können, muss der Schüler jene Sprache, in der diese Regeln
formuliert werden, bereits beherrschen. Da auch diese Sprache wiederum Regeln der
Verwendung hat, droht ein Regress. Wie weiter?
Ich wende mich dem Problem des Regelregresses zu, nachdem ich etwas über
Funktionen im Funktionalismus gesagt habe. Es liegt auf der Hand, dass dieser Punkt für
die Biosemantik wichtig ist. Dem Funktionalismus zufolge haben sprachliche oder mentale
118
Repräsentationen einen Inhalt, weil diese Repräsentationen eine bestimmte funktionale
Rolle in einem bestimmten System erfüllen. Sellars hat als einer der ersten Philosophen den
Funktionalismus als semantische Theorie ausgearbeitet.294 Der Begriff der Funktion, der
sich hinter dem semantischen Funktionalismus (nicht aber hinter dem reinen
Maschinenfunktionalismus) verbirgt, entspricht im Prinzip dem Verständnis von
Funktionen als kausale Rollen. Diesem Verständnis zufolge sind Funktionen intrasystemische kausale Rollen. Die ausgereifteste Analyse dieses Begriffs verdanken wir
Robert Cummins, und man spricht deshalb von Cummins-Funktionen.295 Die Funktion
von x in S wird wie folgt analysiert:
x hat die Funktion zu -en in S nur relativ zu einer Beschreibung B über S’s Fähigkeit zu en, wenn x tatsächlich die Fähigkeit hat in S zu -en und A eine angemessene Auffassung über
die Fähigkeit zu -en ist durch den Rückgriff auf x Fähigkeit in S zu -en.
Nehmen wir als Beispiel ein Herz (x). Unsere Beschreibung B lautet: Das Herz ist
Bestandteil eines Zirkulationssystems (S), das Nährstoffe, Sauerstoff, Abfall usw.
transportiert ( ). Aber welche kausale Rolle spielt das Herz in diesem System mit dieser
Fähigkeit? Das Herz pumpt Blut ( ), und trägt dadurch zum Transport von Nährstoffen
usw. bei. Das ist die Funktion (die intra-systemische kausale Rolle) des Herzens. Nun kann
beispielsweise die analysierte Funktion des Herzens als Fähigkeit zu
-en betrachtet
werden (d.h. die Funktion als Beschreibung B interpretieren), und man kann fragen, was
ein beliebiger Teil (x) des Herzens (S) für eine kausale Rolle ( ) für die Fähigkeit zu
-en
usw. Umgekehrt kann man die Fähigkeit des Stoffwechselsystems als kausalen Beitrag zur
Fähigkeit eines übergeordneten Systems beschreiben und so etwa die kausale Rolle ( ) des
Stoffwechselsystems (x) innerhalb einer Fähigkeit zu
-en des Organismus (S) analysieren
usw.
Für den semantischen Funktionalismus ist nicht die kausale Rolle eines Elements
von Bedeutung, sondern die normative (nicht die Rolle auf der A-Ebene, sondern jene auf
der B-Ebene). Die Elemente des Systems liefern keinen kausalen Beitrag, sondern, wenn
man so will, einen normativen Beitrag. Spracheingänge (language entry transitions) betreffen
Wahrnehmungssituationen: „The speaker responds to objects in perceptual situations, and
in certain states of himself, with appropriate linguistic activity.“296 Sprachübergänge (intralinguistic moves) betreffen Inferenzen zwischen Sprachstücken: „The speaker’s linguistic
conceptual episodes tend to occur in patterns of valid inference (theoretical and practical),
Dennett 1987: 341: „Thus was contemporary functionalism in the philosophy of mind born, and the
varieties of functionalism we have subsequently seen are in one way or another enabled, and directly or
indirectly inspired, by what was left open in Sellars’ initial proposal.“
295 Vgl. Cummins 1975.
296 Sellars 2007: 87.
294
119
and tend not to occur in patterns which violate logical principles.“297 Sprachausgänge
(language departure transitions) betreffen Handlungen aufgrund vom Äußerungen: „The
speaker responds to such linguistic conceptual episodes as ‘I will now raise my hand’ with
an upward motion of the hand, etc.“298 Sellars’ Funktionalismus ist ein Inferenzialismus,
weil er Sprachübergänge als entscheidende semantische Instanz bewertet, die sowohl
Spracheingängen als auch Sprachausgängen Gehalt verleiht. Für Sellars’ Funktionalismus ist
entscheidend, dass die Übergänge normativ verstanden werden. Kurz: Die funktionalen
Rollen sind normative Regeln.299 Das System, das analysiert werden soll, ist die gesamte
Sprache. Sellars ist der Auffassung, dass die Sprache die kleinste Einheit für die Analyse der
funktionalen (normativen) Rolle der relevanten Elemente (Begriffe) ist, genauer: die
Sprachgemeinschaft.
Bei den Cummins-Funktionen stellt sich das folgende Problem: Je nach
Beschreibung der Fähigkeit eines Systems ändert sich die Funktion eines Elements. Wenn
wir das Herz als Element eines akustischen Systems S auffassen, das wir als Fähigkeit
beschreiben, die Gehörgänge von Artgenossen positiv zu stimulieren (Arzt, Embryo,
Geliebte), dann ist es die Funktion des Herzens Geräusche einer bestimmten Frequenz zu
machen. Die Funktionen lassen sich auf diese Weise beliebig vervielfältigen. Welches ist
denn die tatsächliche biologische Funktion des Herzens? Die Antwort, dass es keine
Antwort darauf geben kann, weil Funktionszuschreibungen anhängig sind von
Beschreibungen des Gesamtsystems durch externe Beobachter, ist keine Antwort, weil sie
bereits voraussetzt, dass es keine tatsächliche Funktion des Herzens gibt (oder diese
notwendig unterbestimmt sein muss). Die ätiologische Theorie gibt eine Antwort darauf.
Die Echte Funktion des Herzens besteht in jener Wirkung, den Vorgänger dieses Typs im
Unterschied zu anderen Typen geleistet haben, und diese Wirkung erklärt, warum Herzen
dieses Typs vorhanden sind. Kurzum, Echte Funktionen sind selektierte Wirkungen. Der
Kern dieser Auffassung geht auf eine Analyse von Wright zurück, und man spricht deshalb
von „Wright-Funtionen“.300 Im Unterschied zu Cummins gibt Wright keine intrasystemische kausale Rollenanalyse von „Funktion“, sondern eine teleologische Analyse. Sie
lautet:
Die Funktion von x ist es zu -en, wenn es x gibt, weil es
Resultat davon ist, dass es x gibt.
Sellars 2007: 87.
Sellars 2007: 88.
299 Vgl. Sellars 2007: II-IV.
300 Wright 1973, 1976.
297
298
120
-t, und wenn das zu
-en ein
In dieser Form ist die Analyse unbefriedigend. Sie ist, wie wir gesehen haben, erst als
historisch-teleologische Auffassung befriedigend: x muss zu einem historischen Typ (einer
REF) gehören (1.1.4.). Die wichtigen Punkte an dieser Stelle sind die Folgenden:
1. Es existieren (mindestens) zwei Auffassungen von Funktionen: Cummins- und WrightFunktionen.
2. Cummins-Funktionen sind relativ normativ: Herzen sollen Blut pumpen relativ zu
einer Beschreibung des Systems, zu dem sie gehören. Die Funktion ist eine
beobachterrelative Eigenschaft des Herzens. Wright-Funktionen sind objektiv
normativ: Herzen sollen Blut pumpen, weil sie zu einem historischen Typ gehören. Die
Funktion ist eine objektive relationale Eigenschaft des Herzens.301
3. Es ist unklar, welche Art von Normativität der semantische Funktionalismus braucht.
4. Ein weiteres (bislang nicht angesprochenes) Problem der Übertragung der CumminsFunktionen auf den Funktionalismus besteht im Folgenden: Cummins-Funktionen
werden relativ zu einem System analysiert zu dem die Beschreibung einer bestimmten
Fähigkeit gehört. Dabei sind die Identitätskriterien für ein solches System beliebig. Man
kann beispielsweise eine Flussmündung als System betrachten und dabei die Funktion
von Steinen im Flussbett bei der Fähigkeit der Mündung analysieren, das Ufer
abzutragen und sich zu verbreitern. Man kann sich natürlich auch viel fantastischere
Systeme ausdenken. Was ist die Fähigkeit des Sprachsystems? Und warum sollten wir
eine natürliche Sprache als ein System betrachten?
Wir sind jetzt an den Punkt gelangt, an dem gesagt werden, was die Biosemantik mit dem
Funktionalismus macht: Sie gibt dem Funktionalismus die Funktionen zurück,302 und zwar
Echte Funktionen mit objektiver Normativität. Millikan gibt an, welche Funktion einzelnen
Sprachformen zukommt. Sie hypostasiert die Sprache zu keinem System, sondern fasst eine
natürliche Sprache als ein Gemenge unterschiedlicher historischer Linien von
Sprachformen (wie spezifischen Nomen, Indikativen, Imperativen, Ausrufen usw.) auf.
Solchen Sprachformen kann eine Funktion unabhängig von einem System zukommen,
sobald man die intra-systemische kausale Rollen-Analyse verwirft und stattdessen die
historisch-teleologische Analyse akzeptiert:
„The selection of language forms takes place on the social level. Language survives
when it serves cooperative functions often enough, functions that reward at once
301 Das Vokabular, das hier eingeführt wird, stammt teilweise von Searle. Ich werde Searles Ansicht über
Funktionen (Cummins-Style) in Kapitel 3 erläutern und einer Kritik unterziehen.
302 Vgl. Sober 1990.
121
both speakers and hearers (though they may often be rewarded at the end in
different ways). Language forms proliferate when aiding speaker and hearer
cooperation on common projects, typically, the sharing of information speaker and
hearer have a mutual interest in sharing or the coordinating of projects and
activities they have a mutual interest in advancing. Languaging is something that it
takes a pair of people to do; both must be purposefully involved. Completed
speech acts of a kind that have survival value are not the work of a speaker alone,
but of a hearer purposefully cooperating with a speaker. Purposeful doings need
not be confused with doings guided by intentions, however. There is purpose in
what the kidneys do and purpose in the exhibition of behaviors resulting from
conditioning. That producing beliefs or desires in a hearer is often part of the
natural purpose of language use, both a purpose of the speaker’s speaking and a
purpose of the hearer’s reaction in understanding, does not require that either
speaker or hearer have intentions concerning beliefs or desires or, indeed, so much
as concepts of beliefs and desires.“303
Kommen wir zurück zum Problem des Regelregresses. Wir sagten, dass dem
Funktionalismus zufolge natürliche Sprachen als Systeme von Begriffen und Ausdrücken
verstanden werden können, die nach bestimmten Regeln verwendet werden. Eine Sprache
ist ein durch semantische Regeln beschriebenes Begriffssystem. Diese Auskunft ist
unbefriedigend. Erstens sind Begriffe und Ausdrücke etwas, das von Sprechern verwendet
wird, und nicht unabhängig von dieser Verwendung besteht. Und zweitens scheint es, wie
wir bereits gesagt haben, dass Sprecher, um die Regeln einer bestimmten Sprache lernen zu
können, jene Sprache, in der diese Regeln formuliert werden, doch bereits beherrschen
müssten. Da auch diese Sprache wiederum Regeln der Verwendung hat, droht ein Regress.
Weil wir Erstsprachen lernen, kann eine Theorie nicht richtig sein, die einem Regress zu
verfallen droht, denn sie verunmöglicht ein Verständnis, wie wir überhaupt eine Sprache
lernen können. Wir wollten deshalb wissen: Wie kommen die Ausdrücke einer natürlichen
Sprache zu ihren Bedeutungen? Wie ist es möglich, dass ein Sprachschüler eine natürliche
Sprache lernt? Die erste Frage zielt auf Bedeutungen, die zweite auf ein Verhalten. Sellars’
Pointe besteht darin, beide Fragen gleichzeitig zu beantworten, und damit den Regress
abzuwenden.
Sellars ist selbst der Ansicht, dass seine Antwort im Geist des Pragmatismus erfolgt.
Wir sagten, die Grundeinsicht des Pragmatismus sei es, „dass eine wesentliche Verbindung
besteht zwischen Bedeutung und Handlung, so dass das Wesen der Bedeutung nur mit
Bezug auf die Handlung geklärt werden kann.“304 Ganz richtig weist Sellars eine
instrumentalistische Interpretation dieser Einsicht zurück. Es sei ein Kategorienfehler (eine
Verwechslung zwischen A-Ebene und B-Ebene) Definitionen von „S bedeutet p“ durch
die Rolle geben zu wollen, die S als Instrument im problemlösenden oder Wunsch
erfüllenden Verhalten spiele. Der Pragmatismus sei dann ein revolutionärer Schritt in der
303
304
LBM: 85f.; vgl. LTOBC: III; VM: IX.
Morris 1977: 202.
122
westlichen Philosophiegeschichte, wenn seine Grundeinsicht im Hinblick auf die
sprachliche Bedeutung
„is reformulated as the thesis that the language we use has a much more intimate
connection with conduct than we have yet suggested, and that this connection is
intrinsic to its structure as language, rather than a ‘use’ to which it ‘happens’ to be
put“.305
Das Verhalten sollte also nicht als etwas der Sprache Äußerliches aufgefasst werden,
sondern als etwas, das die semantische Dimension einer Sprache gleichsam von Innen her
auszubilden vermag. Um die pragmatische Grundeinsicht auf diese Weise zu entwickeln
und um den Regelregress zu beheben unterschiedet Sellars zwei Arten von Regeln, nämlich
Regeln der Kritik (rules of criticism, ought-to-be’s) und Regeln des Handelns (rules of action, oughtto-do’s). Letztere geben an, wie man in bestimmten Umständen handeln soll, erstere
hingegen, wie die Dinge unter diesen Umständen sein sollen.306 Handlungsregeln schreiben
im Allgemeinen vor, dass man etwas Bestimmtes tun sollte, wenn man in einer bestimmten
Situation ist. Regeln der Kritik hingegen geben an, dass man sich in einem bestimmten
Zustand befinden sollte, wenn man in einer bestimmten Situation ist. Handlungsregeln
müssen angewendet werden können, wenn ihnen gefolgt werden soll, nicht jedoch Regeln
der Kritik, denn diese werden gerade nicht angewendet. Ihr normativer Charakter besteht
darin, dass sie (wie im Falle des Erstspracherwerbs) Auskunft darüber geben, welche
sprachlichen Reaktionen in bestimmten Situationen gezeigt werden sollen. Regeln der
Kritik erlauben es uns zu verstehen, inwiefern die Befolgung einer Regel nichts weiter als
ein uniformes Verhalten in Übereinstimmung mit der Regel sein kann, ohne dass man
dabei eine Regel anzuwenden braucht. Wir hatten gesehen, dass funktionale Rollen
normative Regeln sind. Die Antwort auf das Regressproblem lautet in nuce: Funktionale
Rollen sind keine Handlungsregeln, sondern Regeln der Kritik.307 Mit der Einführung von
Regeln der Kritik akzeptiert Sellars ein Prinzip, das er wie folgt expliziert: „the espousal of
a principle or standard, whatever else it involves, is characterized by a uniformity of
performance.“308 Ein uniformes Verhaltensmuster selbst kann rein deskriptiv beschrieben
werden (es gehört der A-Ebene an), nicht aber die Regel selbst (sie gehört der B-Ebene an).
Die pragmatistische Grundeinsicht wird durch die Idee vertieft, wonach Sprachverhalten
nicht als regelgeleitetes Verhalten betrachtet wird, sondern als „mustergeleitetes Verhalten“
Sellars 1963: 340, bzw. 2007: 40.
Dies entspricht der älteren Unterscheidung von „Seinsollen“ und „Tunsollen“, vgl. Abschnitt 3.1.2.
307 Sellars 2007: 88.
308 Sellars 1963: 216.
305
306
123
(pattern-gouverened behaviour) oder als „regel-gehorchendes Verhalten“ (rule obeying behaviour)
„in dem Regeln nicht angewendet werden, das aber dennoch Regeln unterworfen ist.“309
Betrachten wir, wie Sellars diese Unterscheidung einsetzt. Wir trainieren Kinder,
Papageien oder Hunde gemäß Regeln der Kritik, d.h. wir bringen es dahin, dass Kinder
und Papageien z.B. auf rote Dinge mit dem Ausdruck „rot“ reagieren, und dass Hunde auf
das Geräusch „Sitz“ mit Sitzverhalten reagieren. Dass diese Lebewesen dergestalt Regeln
der Kritik unterstellt werden, setzt nicht voraus, dass die Subjekte die Begriffe „rot“ oder
„Sitz“ beherrschen, es setzt aber voraus, dass der Trainer dies tut.310 Durch Regeln der
Kritik werden sprachliche Reaktionen mit außersprachlichen Objekten verbunden
(Spracheingänge), aber auch mit innersprachlichen Objekten (Sprachübergänge) und mit
Verhaltensweisen (Sprachausgänge). Wir können sagen, dass das Kind (oder der Papagei)
mit dem Wort „rot“ auf eine Frage antwortet oder sagt „Das ist rot“,
„but in the earlier stage [des Sprachtrainings] we are classifying his utterances as
sounds and only by courtesy [im Falle des Papageien] and anticipation [im Falle des
Kinds] as words. Only when the child has got the hang of how his utterances
function in the language can he be properly characterized as saying ‘This is a book’
or ‚It is not raining’ or ‘Lightning, so shortly thunder’.“311
Anders als Hunde und Papageien werden Kinder im Normalfall kompetente
Sprachbenutzer, die nicht nur Regeln der Kritik unterstehen, sondern auch
Handlungsregeln beherrschen. Das bedeutet nicht, dass Menschen erst zu kompetenten
Sprechern werden, wenn sie gleichsam zu Handlungsregeln übergehen. Sprachverhalten
bleibt stets den Regeln der Kritik unterworfenes mustergeleitetes Verhalten, und zwar ein
Verhalten in einem komplexen Muster korrekter und inkorrekter Spracheingänge,
Sprachübergänge und Sprachausgänge, wie dies Sellars’ Funktionalismus fordert.312
Menschen erwerben so, indem sie in dieses komplexe Muster hineinwachsen und fähig
sind, sich selbst Handlungsregeln zu unterstellen, die für sie spezifische zweite Natur (2.4.).
Anders als im Falle des Papageien unterstellen wir dem Kind im Sinne eines „Vorgriffs der
Vollkommenheit“313, dass es gleichsam ein vollwertiges Mitglied einer Sprachgemeinschaft
in diesem Sinne ist. Denn solche Mitglieder sind „first language learners and only potentially
Haag 2007: 55.
Der Trainer bringt das Kind oder den Papageien dazu der folgenden Regel (der Kritik) zu entsprechen:
„Auf die Präsenz roter Objekte (unter bestimmten Bedingungen) soll man reagieren, indem man das
Geräusch ‚Das ist rot’ produziert oder dazu disponiert ist es zu produzieren“. Eine entsprechende
Handlungsregel lautet: „Man soll in der Gegenwart roter Objekte sagen: ‚Das ist rot’“. Die entsprechende
Handlungsregel für den Trainer lautet: „Man muss Kinder oder Papageien dazu bringen, dass sie auf die
Präsenz roter Objekte (unter bestimmten Bedingungen) reagieren, indem sie das Geräusch ‚Das ist rot’
produzieren oder dazu disponiert sind, es zu produzieren“.
311 Sellars 2007: 85.
312 Vgl. Sellars 1973. Dank an Johannes Haag, der mich (nicht nur) hier zu Präzisierungen angeregt hat.
313 Gadamer 1999, Bd. 1: 299ff.
309
310
124
‘people’, but subsequentley language teachers, possessed of the rich concpetual framework this
implies.“314
Ein designiertes Mitglied einer Sprachgemeinschaft (ein Sprachlerner) ist zunächst
einfach ein Gegenstand von sprachlichen Regeln der Kritik, das so bestimmte Dispositionen
erwirbt und mit der Zeit ein einheitliches sprachliches Verhaltensmuster (gemäß den
Regeln der Kritik) zeigt. Ein kompetentes Mitglied einer Sprachgemeinschaft (ein Sprecher)
ist nicht nur Gegenstand dieser Regeln, sondern es beherrscht, erfasst, kennt diese Regeln
als Sprecher. Mit anderen Worten, er fällt nicht nur unter Regeln der Kritik, sondern er
erfasst auch Handlungsregeln: „It is the same items (people) who are agent-subjects for
ought-to-do and the subject-matter-subjects of the ought-to-be.“315 Als Gegenstand (subjectmatter-subjects) von Regeln der Kritik legt ein Mensch bestimmte behaviorale, empirisch
beschreibbare Uniformitäten an den Tag, die diesen Regeln entsprechen, als Sprecher einer
Sprache (agent-subjects) untersteht er zwar nach wie vor diesen Uniformitäten, beherrschen
aber ein komplexes Netz von Sprachübergangsregeln und können diese Regeln als
Handlungsregeln auf sich selbst und andere anwenden.
Die uniforme Reaktion auf rote Objekte mit der Äußerung von „rot“ z.B. folgt
einer Regel der Kritik. Diese könnte in etwa lauten:
Ex Regel der Kritik: Auf die Präsenz roter Objekte unter bestimmten
Bedingungen soll man reagieren, indem man das Geräusch ‚Das ist rot’ produziert
oder dazu disponiert ist es zu produzieren.
Diese Kritikregel erklärt das Auftreten der uniformen Reaktion. Diese Regel erklärt das
Muster deshalb, weil der Sprachtrainer den Sprachlerner ausbildet. Der Sprachtrainer
orientiert sich dabei seinerseits an einer Regel des Handelns, die lauten könnte:
Ex Regel des Handelns: Man muss Kinder dazu bringen, dass sie auf die
Präsenz roter Objekte unter bestimmten Bedingungen reagieren, indem sie das
Geräusch ‚Das ist rot’ produzieren oder dazu disponiert sind, es zu produzieren.
Semantische Regeln besitzen also ought-to-be-Normativität. Doch dieser Status kommt ihnen
wiederum nur zu, weil die Ursache für die den Regeln der Kritik (ought-to-be’s)
entsprechenden
Verhaltensuniformitäten
die
durch
Handlungsregeln
gelenkten
Sprachtrainer sind. Es ist eine (indirekte) Auswirkung des Verhaltens des Sprachtrainers,
der dabei Handlungsregeln folgt, dass das Verhalten des Sprachlerners mehr und mehr mit
den Regeln der Kritik übereinstimmt und in dieser Weise zu einem uniformen
Verhaltensmuster wird, ohne dass der Sprachlerner diese Regeln erfassen müsste. „Trainees
314
315
Sellars 2007: 63f.
Sellars 2007: 61.
125
conform to ought-to-be’s because trainers obey corresponding ought-to-do’s.“316 Sprachliche
Regeln der Kritik und sprachliche Regeln des Handelns finden sich sozusagen in einem
hermeneutischen Zirkel. Aus diesem Grund sagt Sellars, dass der Gebrauch von
sprachlichen Zeichen (für den semantische Normen, mithin Regeln, konstitutiv sind) nicht
nur durch einen Verweis auf Objekte verstanden werden kann, sondern allein unter der
Einbeziehung eines Systems, das von Begriffen wie „Person“ , „ought-to-be’s“, „ought-todo’s“ und „much, much more“ Gebrauch machen muss.317 Mit anderen Worten: Die sich
selbst reproduzierende Sprachgemeinschaft ist die kleinste für das Verständnis sprachlicher
(begrifflicher) Aktivität erforderliche Einheit.318
Weder der (normative) Status des Sprachtrainers, der Kritikregeln untersteht und
Handlungsregeln erfasst, noch der (normative) Status des Sprachlerners, der im Vorgriff
der Vollkommenheit Kritikregeln untersteht, lassen sich auf die A-Ebene empirischer
Uniformitäten reduzieren. Obwohl Sprachtrainer und -lerner ihrem Status gemäß zur BEbene gehören, befinden sich beide, insofern sie behaviorale Uniformitäten an den Tag
legen, auf der A-Ebene. Hierin zeigt sich exemplarisch die begriffliche Nichtreduzierbarkeit
und gleichzeitige kausale Reduzierbarkeit von Elementen der B-Ebene auf Elemente der AEbene. Es ist es interessant, dass Sellars diese Unterscheidung zwischen zwei Arten von
Normen nicht nur auf Sprachverhalten anwendet, sondern auch auf Artefakte. Hier Sellars’
Beispiel für eine solche Regel der Kritik:
(1) Uhrenschlagwerke sollten alle Viertelstunde schlagen.319
Diese Regel trifft auf Uhrenschlagwerke zu und besagt, wie Uhrenschlagwerke sein sollten,
mehr noch: was Uhrenschlagwerke sind. Nun sind solche Schlagwerke (erstens) zu diesem
Zweck hergestellt worden und sie sollen (zweitens) so gewartet werden, dass sie jede
Viertelstunde schlagen. Daraus ergibt sich eine Handlungsregel, die nicht auf Uhren,
sondern auf Personen (den Hersteller oder den Wärter) zutrifft:
(2) Man soll dafür sorgen, dass Uhrenschlagwerke alle Viertelstunde schlagen
(durch ihre Herstellung, durch ihre Wartung).
Sellars meint, dass Regeln der Kritik Handlungsregeln implizieren,320 d.h. (1) impliziert, dass
Uhrenschlagwerke auf bestimmte Weise hergestellt oder gewartet werden, aber (2)
impliziert nicht, sondern setzt voraus, dass Uhrenschlagwerke alle Viertelstunde schlagen
Sellars 2007: 87.
Sellars 2007: 65.
318 Sellars 2007: 64.
319 Sellars 2007: 59.
320 Sellars 2007: 60.
316
317
126
sollen. Regeln der Kritik sind in diesem Sinne grundlegender als Regeln des Handelns.
Trotzdem können letztere nicht auf erstere reduziert werden, weil die Kritikregeln für diese
Artefakte (ebenso wie die Disposition abgerichteter Hunde und Papageien) natürlich
wiederum von Personen abhängen, denn Personen stellen Artefakte her und richten Tiere
ab. Der Begriff der Person involviert bei Sellars jedoch, wie wir gesehen haben, das Ganze
einer sich selbst reproduzierenden Sprachgemeinschaft.321
Allerdings kann man die Regeln der Kritik aber auch auf Lebewesen anwenden. Die
Herausbildung uniformer sprachlicher Verhaltensmuster bei einem Sprachlerner erfolgt
nicht ursächlich aufgrund der direkten Einflussnahme des Sprachtrainers, sondern durch
die selektive Verstärkung von Verhaltensweisen (gegenüber anderen) und die gleichzeitige
selektive Löschung von Verhaltensweisen (gegenüber anderen). Der ontogenetische
Lernprozess, der zu einem uniformen Verhaltensmuster gemäß einer Regel führt, folgt dem
Muster der Selektion, wie Sellars bemerkt:
„[T]he phenomena of learning present interesting analogies to the evolution of
species […] with new behavioral tendencies playing the role of mutations, and the
‘law of effect’ the role of natural selection.“322
Sellars bezieht sich hier auf einen ontogenetischen Lernprozess. Doch Wesen, die eine
Sprache lernen sollen, müssen natürlich die Fähigkeit haben, eine Sprache zu lernen. In
Sellars’ Bild müssen sie die Fähigkeit haben, natürliche sprachliche Strukturen nach
uniformen Mustern als Reaktionen auf bestimmte Reize als Resultat eines gesteuerten
Prozesses der Abrichtung hervorzubringen. Ohne diese spezifische Lernfähigkeit könnten
Wesen weder als Sprachlerner noch als Sprachtrainer auftreten. Für diese Fähigkeit gilt, wie
für alle Fähigkeiten, dass sie gut oder schlecht ausgeübt werden kann oder vielleicht gar
nicht zur Ausübung kommt. Auch wenn ein Wesen diese Fähigkeit im Allgemeinen nicht
gut oder überhaupt nicht ausübt, so hat dieses Wesen qua Wesen, das durch einen Vorgriff
der Vollkommenheit als Sprachlerner in Frage kommt, diese Fähigkeit ebenso sehr, wie ein
Uhrschlagwerk die Fähigkeit hat, alle Viertelstunde zu schlagen, auch wenn es dies nur
ungenau tut (schlechte Anfertigung) oder gar nicht tut (wurde niemals aufgezogen, hat
einen irreparablen Defekt, leidet unter Materialmängeln usw.). Man kann also für
designierte Mitglieder einer Sprachgemeinschaft in Analogie zum Fall des Artefakts eine
Regel der Kritik aufstellen. Nun gehören designierte Mitglieder der Sprachgemeinschaft,
d.h. Wesen, die durch einen Vorgriff der Vollkommenheit als Sprachlerner in Frage
kommen, vorwiegend der menschlichen Gattung an: „Der Mensch kann eine Sprache
321
322
Sellars 2007: 65.
Sellars 1963: 327, bzw. 2007: 34.
127
lernen.“ Menschen, die dies aus irgendwelchen Gründen nicht können, hören damit nicht
auf Menschen zu sein, aber sie haben einen schwerwiegenden Defekt oder Mangel.
Deshalb kann man sagen: „Der Mensch sollte eine Sprache lernen können.“323
Es scheint, dass es zu dieser Regel der Kritik (diesem „Wie-Menschen-sein-sollten“)
keine entsprechende Handlungsregel gibt. Denn keine Person bringt den Menschen dazu
eine Sprache zu lernen. Sprachtrainer bringen bestimmte Menschen dazu eine Sprache zu
lernen. Es sei denn, man unterstelle ein transzendentes Subjekt, das diese Aufgabe
übernimmt. Doch sieht man von dieser Option ab, so scheint es, dass an dieser Stelle der
hermeneutische Zirkel, der Regeln der Kritik und Handlungsregeln gegenseitig aufeinander
bezieht, aufgebrochen wird, und man sich die Frage stellen muss, woher eine solche
Fähigkeit stammt, die nicht durch Handlungsregeln instituiert wird, aber offenbar Regeln
der Kritik untersteht, mithin eine normative Dimension aufweist. Denn mit der
Einführung von Regeln der Kritik akzeptiert Sellars ja das Prinzip, dass „the espousal of a
principle or standard, whatever else it involves, is characterized by a uniformity of
performance.“324 Ein uniformes Verhaltensmuster wie das Sprachenlernen bei Menschen
kann rein deskriptiv beschrieben werden (es gehört der A-Ebene an), nicht aber die Norm
selbst (sie gehört der B-Ebene an). Woher stammt die dazugehörige Norm?
1.2.7. Sellars: Tierliche Repräsentations-Systeme (TRS)
Sellars verweist auf die natürliche Selektion als einer Vorrichtung zur Herstellung
uniformer Verhaltensmuster. Er wählt dabei das Beispiel des Bienentanzes. Bienentänze als
uniforme Verhaltensmuster, die einer bestimmten Regel folgen, sind das Resultat eines
Prozesses der natürlichen Selektion. Bienen, die einen Futterplatz in weniger als 90 Meter
Entfernung vom Stock gefunden haben, unterstehen folgender Regel der Kritik: „Bienen,
die einen Futterplatz in weniger als 90 Meter Entfernung gefunden haben, sollten einen
Tanz bestimmter Art ausführen“. Bienen folgen (wenn man so will) „ought-to-bee’s“. Dies
ist Sellars’ Beschreibung:
„(a) The pattern (dance) is first exemplified by particular bees in a way which is not
appropriately described by saying that the successive acts by which the pattern is
realized occur because of the pattern. (b) Having a ‘wiring diagram’ which expresses
323 Mit anderen Worten: Menschen bilden eine spezifische normative Kategorie. Ich werde den Begriff einer
normativen Kategorie in Kapitel 3 einführen. Der Ausdruck „spezifisch“ wird hier im Sinne von „artgemäß“
verwendet.
324 Sellars 1963: 216.
128
itself in this pattern has survival value. (c) Through the mechanisms of heredity
and natural selection it comes about that all bees have this ‘wiring diagram’.“325
Dieses Beispiel ist, wie wir gesehen haben (1.1.5.), für die Biosemantik zentral, suggeriert es
doch nicht nur eine Antwort auf die Frage, warum bestimmte Wesen bestimmte
Fähigkeiten (etwa die Fähigkeit eine Sprache zu lernen) haben, sondern es suggeriert
zugleich, dass diesen Fähigkeiten eine Norm zugrunde liegen muss. Diesen Fähigkeiten
kommt eine objektive normative Dimension dann zu, wenn man das, wozu sie befähigen,
als ihre Funktionen im Sinne einer Wright-Funktion versteht, und d.h. als selektierte
Wirkungen. Das Seinsollen einer solchen biologischen Fähigkeit (ihre normative
Dimension, ihre Regel der Kritik) ist objektiv, insofern sie unabhängig von einem
Tunsollen (einer Handlungsregel) besteht. Die Regel der Kritik für den Bienentanz wird als
Norm nicht schlechterdings durch den Überlebenswert des Verhaltensmusters gegeben,
sondern
durch
Verhaltensweisen,
die
aufgrund
des
Verhaltensmusters
einen
Überlebenswert haben, etwa durch das Auffinden von Futterplätzen. Jene (nicht andere)
Bienen haben überlebt, deren Tänze dazu geführt haben, dass sie Futter finden. Natürlich
zeichnen sich Sprecher einer Sprache dadurch aus, dass sie sowohl Regeln der Kritik als
auch Handlungsregeln unterstehen und diese beiden Klassen von Regeln aufeinander
verwiesen bleiben. Doch das entscheidende Moment in Sellars’ Ansatz (verstanden als
Antwort auf den Regelregress und Vertiefung der pragmatistischen Grundeinsicht) ist die
Einführung uniformer Verhaltensmuster, die der A-Ebene angehören, die Kritikregeln
unterstehen, welche der B-Ebene angehören. Die Bienensprache ist in diesem Sinne
Sprache genug, um ein Paradigma für eine sowohl normative als auch naturalistische
allgemeine Zeichentheorie abgeben zu können. Es gilt für die biosemantische
Theoriekonstruktion wie für Sellars, dass im Bereich des Geistigen die Sprache in der
Ordnung des Erkennens einen gewissen Vorrang hat. Millikan hebt genau diese Aspekte
hervor, und verbindet sie mit dem Sellarsschen Thema des Abbildens:
„The analogy with bee dances retains the theme that conforming to the rules of a
language is an intrinsically social activity. A bee dance is of use only if sister bees
watch it and follow its direction. But the implication is clear that coming to follow
the patterns prescribed by the rules of one’s language community is not just a game
but has some broader utility for the child or for its community. It has a value
beyond that of displaying certain social graces (say, as in playing a decent game of
chess or bridge in some social circles). Moreover, it is hard to believe that Sellars
has overlooked that a bee dance is a tiny map of the location of some nectar. The
bee dance not only has utility for the bees, but the fact that it maps the location of
325
Sellars 1963: 326, bzw. 2007: 33f; zitiert in LBM: 83.
129
nectar by a certain rule of projection helps to explain why or how it can have this
utility. It helps to explain the mechanism involved.“326
Was Millikan hier meint ist, dass Sellars natürlich nicht übersehen hat, dass Bienentänze
Abbilder sind, sondern dass er mit den wenigen Bemerkungen über die Bienentänze in die
Richtung weist, in der Morris’ Projekt eines semiotischen Behaviorismus weitergeführt und
normativ
transformiert
werden
kann.327
Die
Hinweise
betreffen
tierliche
Repräsentationssysteme und die natürliche Selektion als unermüdliche Produzentin
mustergeleiteten Verhaltens. Wir haben zu Beginn dieses Abschnitts die Frage, warum
Millikan auf Bienentänze gelangt und behauptet, dass natürliche Sprachen „in deep respects
just like any other animal’s communication system“ seien.328 Die Antwort lautet, dass sich
in tierlichen Kommunikationssystemen jene Form der Normativität findet, die Sellars
einführt, um zu erklären, wie eine Sprache ein durch semantische Regeln beschriebenes
Begriffssystem sein kann. Hier treffen sich also die normative Transformation des
semiotischen Behaviorismus von Morris und die biosemantische Transformation des
normativen Naturalismus von Sellars.
Wir müssen uns aber einem prinzipiellen Einwand gegen Millikans biosemantische
Transformation von Sellars’ normativem Naturalismus stellen. Obschon Sellars seinen
Begriff des Abbildens hauptsächlich für sprachliche Vorkommnisse entwickelt, muss das
Abbilden doch sowohl sprachliche als auch mentale Repräsentationen betreffen.329 Darüber
hinaus betrifft es auch das, was Sellars als „tierliche Repräsentationssysteme“ (TRS) (animal
representation systems) bezeichnet. Ein TRS kann dann als repräsentationales System
betrachtet werden, wenn es in Analogie zu unseren Regeln des Spracheingans,
Sprachausgangs und Sprachübergangs betrachtet werden kann. Doch dies kann nicht mehr
zutreffen, sobald man umgekehrt tierliche Signalisation als Paradigma für äußere
intentionale Zeichen betrachtet und die Sprache in Analogie dazu versteht. Und dies ist es,
was die Biosemantik vorschlägt.
LBM: 83.
Vgl. dazu auch Sellars 1980: „Such representational systems or ‘cognitive cartography’ can be brought
about by natural selection and transmitted genetically, as in the case of the ‘language’ of bees. Undoubtedly a
primitive form of representational system is also an innate endowment of human beings. The concept of
innate abilities to be aware of something as something, and, hence, of pre-linguistic awarenesses, is perfectly
intelligible. [Vgl. ebenso Sellars 2007: 292] […] Primitive representational abilities show analogies to the more
sophisticated forms which became available with language acquisition (otherwise they wouldn’t be
representational).“ Die erste Hälfte beschreibt die Richtung, in die Millikan gehen wird, die zweite Hälfte
hingegen die umgekehrte Richtung. Millikans Theoriekonstruktion zufolge werden nicht tierliche
Repräsentationssysteme in Analogie zu sprachlichen Repräsentationen verstanden, sondern umgekehrt
sprachliche in Analogie zu tierlichen. Die evolutionäre Entwicklungsrichtung ist auch die richtige
explanatorische Richtung.
328 WQP: 10.
329 Vgl. Sellars 2007: 282: „What I have held is that the members of a certain class of linguistic events are
thoughts.“
326
327
130
Sellars hat diese Spur jedoch in seinen späten Überlegungen selbst gelegt. Ratten
beispielsweise verhalten sich ausgesprochen intelligent. Es scheint, dass sie so etwas wie
mentale Landkarten ihrer Umgebung ausbilden, mit deren Hilfe sie sich orientieren und für
sie wichtige Dinge finden oder ihnen gefährliche Dinge umgehen. Wie können wir uns dies
vorstellen? Nun, primitive kausale Inferenzen können wir in Analogie zu innersprachlichen
Übergängen (nämlich zu materialen Inferenzen) auch Tieren zugestehen. Folgt man Humes
Idee eines assoziativen Übergangs zwischen (der Repräsentation) einer Ursache und (der
Repräsentation) einer Wirkung, können bestimmte tierliche Verhaltensweisen als
mustergeleitet (pattern-gouverned) betrachtet werden. Denn inferenzielle Muster sind
„uniformities in the occurrence of representational states. Certain kinds of representational
states tend to be followed (or to be followed in the absence of) certain other kinds of
representational states“.330 Solch mustergeleitetes Verhalten wird nicht (und dies ist ein
wichtiger Punkt) durch eine Absicht, sich gemäß einem Muster zu verhalten,
hervorgebracht,
„but because the propensity to emit behavior of the pattern has been selectively
reinforced, and the propensity to emit behavior which does not conform to this
pattern selectively extinguished.“331
Eine solche inferenzielle Einbettung unterscheide nämlich erst Repräsentationen von etwas
(o) als etwas (F) von bloßen Reaktionen auf etwas (o), das etwas (F) ist. Die Analogie zu
Spracheingängen besteht in der Ausbildung einer Repräsentation als Reaktion auf
Sinnesreize. Die Analogie zu Sprachausgängen sind Repräsentationen der eigenen
Verhaltensweisen eines Tieres. So meint Sellars eine Ratte könne sich als springend
repräsentieren und dies wiederum könne als einfache Form der Absicht zu springen
verstanden werden.332
Ein Lebewesen kann also als TRS betrachtet werden, wenn seine Zustände
Manifestationen eines Systems von Dispositionen und Neigungen sind mit deren Hilfe das
Lebewesen eine Art mentale Karte seiner Umgebung und seiner selbst konstruiert und sich
und sein Verhalten innerhalb dieser Karte lokalisiert. Ein Lebewesen verwendet keine
Karte, wie Kartenleser es tun, sondern es instantiiert vielmehr eine Karte. Wir übersetzen
das, was wir auf einer Landkarte sehen, in Aussagen oder Absichten.333 In gewisser Weise
fungieren die Repräsentationen der Landkarte für den Kartenleser als Prämissen für dessen
Sellars 2007: 293.
Sellars 2007: 86f.
332 Dagegen wendet Jay Rosenberg ein, dass er sich selbst als springend durch den Gedanken oder die
Aussagen „Ich springe“ repräsentieren kann, dass es ihm aber schwer falle, eine Analogie zur scheinbar
unabdingbaren Verwendung von „ich“ bei sprachlosen Wesen zu finden. (Rosenberg 2007: 109). So schwer
ist das nicht. Ich komme darauf in Kapitel 4 zurück („Schimpansenargument“).
333 Wir übersetzten, wie Morris sagen würden, Zeichen in Symbole.
330
331
131
Aussagen und Absichten. Die Zustände eines TRS hingegen bilden selbst eine Karte, die
das Verhalten eines Lebewesens in einer Umgebung lenkt. Mithilfe dieser Karte orientiert
sich eine Ratte in ihrer Umgebung, findet das Nest, meidet Fallen, findet Paarungspartner
und meidet die Hauskatze, findet Futterverstecke, meidet Gift usw.. Diese Karte (der Kern
des TRS) bildet eine Struktur, die der räumlichen Umgebung des Lebewesens (auf die eine
oder andere Weise) ähnlich ist, indem sie sie (auf abstrakte Weise) abbildet. Ohne eine
solche Abbildungsrelation würde die Karte ihre Aufgabe (Funktion) nicht erfüllen können,
das Verhalten eines Wesens mit TRS in einer Umgebung lenken zu können. TRS sind also
Karten mit deren Hilfe Lebewesen navigieren.
Ein repräsentationaler Zustand wird durch zwei Eigenschaften charakterisiert. Ein
TRS kann Einzeldinge in seiner Umwelt repräsentieren und es kann diese Einzeldinge als
von bestimmter Beschaffenheit seiend repräsentieren. Ein solcher Zustand (ein R-Vehikel)
erfüllt somit zwei Aufgaben: Er repräsentiert etwas (a) als etwas (F), und zwar indem er
eine Rolle spielt sowohl im Auffinden oder Vermeiden bestimmter Einzelobjekte (z.B. den
Partner oder die Katze) und indem er eine Rolle spielt im Auffinden (oder Vermeiden)
bestimmter Dinge (z.B. Artgenossen oder Feinde). Repräsentationale Zustände (als Teil
eines Systems) haben also eine propositionale Struktur, die ein referentielles Element
(Bezug auf a) und ein charakterisierendes Element (Charakterisierung als F) umfasst, und
zwar in Analogie zu einfachen Aussagesätzen einer natürlichen Sprache.334
Diese Beschreibung von TRS sagt jedoch nichts darüber aus, wie ein Zustand eines
solchen Systems korrekt oder inkorrekt sein kann. Die bloße mechanische und behaviorale
Produktion von strukturierten Abbildern reicht dazu offenbar nicht aus, es fehlt die
normative Dimension. Sellars zufolge gilt: „in thinking of pictures as correct or incorrect
we are thinking of the uniformities invovled as directly or indirectly subject to rules of
criticism“.335 Das Problem scheint also darin zu bestehen, dass TRS in keiner Weise (weder
direkt noch indirekt) Gegenstand von Regeln der Kritik sein können.336 Aber warum?
Regeln der Kritik müssen von Gegenständen (subject-matter subjects), die unter sie fallen, nicht
334 Vielleicht ist die Analogie eher jene zu „Jumblese“, da in jener Sprache Relationen zwischen Namen (a, b)
ohne Hilfe logischer Symbole ausgedrückt werden. So kann etwa das komplexe Zeichen ‚a b’ einfach
bedeuten, dass a (zeitlich) nach b kommt. TRS haben so die Möglichkeit nicht-logische Komplexe aus
repräsentationalen Elementen zu bilden. Diese Repräsentationen sind piktorial komplex, nicht aber logisch
komplex. Doch im Unterschied zu unseren repräsentationalen Systemen sind TRS zwar piktorial, aber nicht
logisch komplex. So kann man die visuelle Wahrnehmung der Umgebung eines TRS als piktorial komplexe
Repräsentation der visuellen Umgebung hic et nunc verstehen. Wie wir gesehen haben: Nur sofern ein solcher
komplexer Zustand Bestandteil eines repräsentationalen Systems ist (d.h. Analogien zu Sprachübergängen
und Sprachaustritten zulässt), kann er als Repräsentation der Umgebung des Lebewesens gelten (und nicht als
bloße Reaktion darauf). Diese Art der Repräsentation kann von ihrer propositionalen Struktur her, ihrer
Einbettung in ein System und aufgrund ihrer Orientierungsfunktion als Abbild verstanden werden.
335 Sellars zitiert nach Rosenberg 2007: 116.
336 Rosenberg 2007: 116.
132
erfasst und als Verhaltensregeln verwendet werden können Für Sellars erscheint die
Annahme, Regeln der Kritik könnten ein Verhaltensmuster eines TRS charakterisieren,
unabhängig davon, dass Personen (agent subjects) sie als Regeln des Handelns erfassen und
verwenden, unsinnig, und zwar aufgrund des hermeneutischen Zirkels zwischen Regeln der
Kritik und Regeln des Handelns. Damit etwas einen normativen Status haben kann, muss
es im logischen Raum der Gründe verortet werden können. Trainieren wir einen Hund,
dann sind wir es, die die für das Hundeverhalten relevanten Regeln der Kritik in Regeln des
Handelns übersetzen. TRS können an sich selbst nichts dergleichen, sie können dies nur
gleichsam für uns, und deshalb unterstehen sie per analogiam Regeln der Kritik und nicht,
wie designierte und akkreditierte Mitglieder einer Sprachgemeinschaft, buchstäblich.
Wir haben aber bereits gesehen, dass der Begriff der Funktion es erlaubt, Regeln
der Kritik unabhängig von Regeln des Handelns zu konzipieren. Im Falle der TRS kann
man weiter sagen, dass die Karten, die durch TRS instantiiert werden, eine Rolle beim
Auffinden und Vermeiden von Orten, Individuen und Dingen spielen, dass also diesen
Karten (und damit auch den R-Zuständen) eine Funktion bei diesen Verhaltensweisen
zukommt. Die Karten und die Verhaltensweisen der TRS sind biologische Anpassungen,
die den Effekt hatten, die Fitness der TRS zu erhöhen. Doch alles in allem scheint der
Erfolg dieser Verhaltensweisen eine rein statistische Angelegenheit zu sein. Dies
kommentiert Rosenberg wie folgt:
„When the chips are down, the concepts of a strategy’s ‘effectiveness’ is purely
statistical – a matter of the frequency with which its behavioural implementations
prove successful – and, by Sellars’ own lights, there is nothing normative about
that. For primitive animal RSs [TRS], the teleology of representational states is
evidently as close as we can come to their normativity.“337
Die biosemantische Entgegnung liegt auf der Hand. Erstens müssen das Abbilden der
Karten und die Verhaltensweisen des Findens und Meidens im Zusammenhang gesehen
werden: Das Vorliegen einer Abbildungsregel zwischen den Karten (R-Vehikeln) und
Merkmalen der Umwelt (Adaptoren) der diese Karten instantiierenden TRS ist eine
Bedingung für die erfolgreiche Ausübung der Echten Funktionen der Verhaltensweisen des
Findens und Meidens (gemäß einer Normalen Erklärung). Will die Ratte den Futtervorrat
finden, dann ist die Hervorbringung eines R-Vehikels, die den entsprechenden Ort in der
Umgebung der Ratte abbildet, eine Normale Bedingung für die erfolgreiche Ausübung der
Echten Funktion des K-Mechanismus, der die Ratte in Richtung Futtervorrat bringen soll.
Zweitens ist die statistische Theorie biologischer Echter Funktionen falsch. Ein
biologisches Merkmal, das in den häufigsten Fällen seine biologische Funktion nicht erfüllt,
337
Rosenberg 2007: 117 (meine Hervorhebung).
133
verliert dadurch nicht seine Funktion.338 Echte Funktionen sind keine statistischen Werte,
sondern selektierte Wirkungen. Echte Funktionen verfügen sowohl über eine teleologische
als auch über eine normative Dimension, und es ist diese normative Dimension, die erklärt,
wie R-Inhalte von R-Vehikeln (Abbilder) zu IR-Inhalten werden. Es besteht deshalb kein
Grund zur Annahme, dass der eigentliche Anwendungsbereich semantischer Begriffe die
Sprache ist und semantische Beschreibungen von TRS notwendig analogisch sind. Somit
steht der biosemantischen Theoriekonstruktion, die ihren Ausgang bei einem tierlichen
Verhalten wie dem Bienentanz nimmt, nichts mehr im Wege.
Millikan zeigt sich darin als Schülerin von Sellars, dass sie das Projekt eines
normativen Naturalismus verfolgt. Aber Sellars sieht nicht, dass der hermeneutische Zirkel
zwischen Regeln der Kritik und Handlungsregeln aufgebrochen werden kann; er sieht
nicht, dass biologischen Funktionen genuine Normativität zukommen kann; und er sieht
nicht, dass seine Auffassung, wie Sprache zu Bedeutung kommt, auf diese Form der
Normativität angewiesen ist. Sobald man den Blick frei hat, um diese Dinge sehen zu
können, kann man in inneren und äußeren TRS mehr als Analogiebildungen zu genuin
sprachlichem Verhalten sehen, das als alleiniger Lokus der Intentionalität in Frage käme.339
Es ist vielmehr, wie wir mithilfe von Darwin einsehen können umgekehrt, man kann in
tierlichen Repräsentationssystemen Fälle genuiner Intentionalität sehen, sodass wir die
intentionale Dimension unseres Sprechens und Denkens nach diesem Paradigma
theoretisch rekonstruieren können. Deshalb sind natürliche Sprachen „in deep respects just
like any other animal’s communication system“.340
Ich komme auf die irrige statistische Deutung in Kapitel 3 zurück.
Vgl. Brandom 1994: 61.
340 WQP: 10.
338
339
134
1.3. Vier Probleme der Biosemantik
Bislang wurde die Biosemantik dargestellt (1.1.1-1.1.7.) und rekontextualisiert (1.2.1.-1.2.7.)
und der ihr zugrunde liegende Naturalismus bestimmt (1.3.). Dabei hat sich Folgendes
gezeigt: Die Biosemantik ist eine allgemeine Theorie der Repräsentation (1.1.2.-1.1.3.)
und – weiter gefasst – der Zeichen (1.2.1.-5.). Sie beantwortet Kants Frage nach dem
Grund der Beziehung von Repräsentationen auf ihr intentionales Objekt (1.1.2.) unter
Rückgriff auf die Begriffe Echte Funktion, Normale Erklärung und Abbildungsregel
(1.1.4.-1.1.7). Die These lautet, dass der IR-Inhalt eines R-Vehikels bestimmt durch jene
Sachverhalte, mit denen das R-Vehikel in Übereinstimmung mit einer Abbildungsregel
korrespondieren muss, damit ein kooperierender K-Mechanismus seine Echte Funktion
gemäß einer Normalen Erklärung ausüben kann. Methodisch folgt die Biosemantik dem
Verfahren der Theoriekonstruktion (1.1.6.). Dieses Verfahren wird, wie wir im folgenden
Kapitel sehen werden, durch die Methode der explanatorischen Vereinheitlichung
gerechtfertigt, die der Philosophie und den Naturwissenschaften gemeinsam ist. Das
vereinheitlichende Argumentationsschema bietet Darwins Theorie der Evolution durch
natürliche Selektion.
Die Biosemantik wurde auf den vorhergehenden Seiten mehr dargestellt als
evaluiert. Aber natürlich wirft das Projekt zahlreiche Fragen auf. Das Ziel dieser Arbeit
besteht darin, die Biosemantik zu verteidigen, indem sie von fünf Problemen der
Teleosemantik ausgeht, die Varianten grundlegender philosophischer Problemstellungen
sind (1.1.1.):
(1) Betreibt die Teleosemantik die Wiederbelebung eines veralteten Begriffs der
natürlichen Teleologie?
(2) Braucht die Teleosemantik einen normativen Begriff der Funktion?
(3) Kann die Teleosemantik das Sumpfmannproblem lösen?
(4) Soll die Teleosemantik produzenten- oder konsumentenorientiert sein?
Problem (1): Natürliche Teleologie. Die Biosemantik ist eine naturalistische teleologische
Theorie, die auf Darwin Bezug nimmt. Aber hat nicht Darwin die Teleologie endgültig aus
den Naturwissenschaften verbannt? Und hat nicht Kant ein für allemal gezeigt, dass allen
teleologischen Urteilen ein Als-ob anhaftet? Es wird häufig angenommen, die modernen
Naturwissenschaften hätten die Teleologie aus der Natur verbannt und auf Finalursachen
rekurrierende teleologische Erklärungen vollständig durch auf Wirkursachen rekurrierende
135
mechanisch-nomologische Erklärungen ersetzt. Im Gegensatz zu mechanischen oder
nomologischen Erklärungen werden teleologische Erklärungen als suspekt beurteilt. Solche
Erklärungen scheinen nämlich unerwünschte Zutaten wie vitalistische Lebenskräfte,
Rückwärtskausalität und die Unterstellung eines Zweck setzenden Wesens zu enthalten. Sie
erscheinen unvereinbar mit mechanisch-nomologischen Erklärungen und widersetzen sich
empirischer Überprüfung. Bereits in der frühneuzeitlichen Philosophie werden
teleologische Beschreibungen und Erklärungen als anthropomorphe Projektionen
interpretiert und kritisiert. Zunächst scheinen entscheidende Etappen in der Entwicklung
der Wissenschaft in der Neuzeit diese These zu bestätigen. Insbesondere wird behauptet,
dass Darwins Origins of Species die Teleologie endgültig aus dem Bereich der
Naturwissenschaft und der Naturphilosophie verbannt habe.341 Wie kann sich die
Biosemantik auf die Teleologie berufen? Und wie kann sie in einem darwinistischen
Rahmen operieren, wenn Darwin doch gerade die natürliche Teleologie verbannt haben
soll? Ich werde zeigen, dass Darwin die Teleologie keineswegs verbannt hat, und dass ein
normativer Naturalismus auf das Erklärungsschema der Evolutionstheorie zurückgreifen
kann. Dies ist das Thema von Kapitel 2.
Problem (2): Natürliche Normen. Das Problem der Fehlrepräsentation betrachtet Millikan als
„Normativitätsproblem“.
Das
Problem
der
Fehlrepräsentation
ist
ein
Normativitätsproblem, weil Repräsentationen nur falsch sein können, wenn sie bestimmte
Objekte repräsentieren sollten. Ohne eine normative Dimension kann eine Repräsentation
keinen intentionalen Inhalt haben, und Kants Frage bleibt unbeantwortet. Der Kern aller
teleosemantischen Ansätze besteht in einer Gründung der Intentionalität in Funktion, die
Funktion gibt einer Repräsentation das Maß, von dem sie abweichen kann, sie verleiht ihr
eine normative Dimension. Die These lautet allgemeiner gesagt: Es gibt natürliche
Normen. Gibt es sie? Nicht alle stimmen damit überein. Nicht einmal alle Teleosemantiker.
Ich habe bereits wiederholt Neanders Formulierung zitiert, es sei allen teleosemantischen
Ansätzen gemein, „that a certain normative notion of function underwrites a certain
normative notion of content“.342 Nun werden teleosemantische Theorien nicht nur von
Millikan oder Neander vertreten, sondern auch von Papineau und Dretske. Dretske und
Papineau glauben zwar, dass es natürliche Funktionen gibt, aber sie bestreiten die
Normativität. So unterscheidet etwa Papineau strikt zwischen Fakten und Normen.
Normativität wird präskriptiv aufgefasst. „Wherever the normativity of content comes
341
342
Searle 1997: 26.
Neander 2006: 550.
136
from, it can’t be from biology, since biology deals in facts, not prescriptions.“343 Die
Reaktion von Neander und Millikan auf diese Vorbehalte ist defensiv. Beide weisen darauf
hin, dass der Ausdruck „normativ“ in der Teleosemantik deskriptiv verwendet werde, im
Unterschied zu seiner präskriptiven Verwendung. Meines Erachtens muss ihre Strategie
nicht defensiv, sondern offensiv sein. Sie muss sich der Frage annehmen, was deskriptive
und präskriptive Normativität gleichermaßen als Normativität auszeichnet. Und sie muss
sich die Frage stellen, ob sie die angedeutete Unterscheidung zwischen Tatsachen und
Normen akzeptieren soll. Die Teleosemantik braucht nicht nur natürliche Normativität,
sondern sie benötigt ein umfassendes Verständnis natürlicher Normativität. Ich werde
zeigen, dass die Theorie funktionaler und spezifischer normativer Kategorien dies leisten
kann. Zu diesem Zweck werde ich die Teleosemantik mit der Tugendethik in Beziehung
setzen. Dies ist das Thema von Kapitel 3.
Problem (3): Der Sumpfmann. Die Biosemantik ist eine externalistische Theorie des Geistes,
die besagt, dass es für den Geist essenziell ist, eine biologische Vorgeschichte zu haben.
Kritiker
weisen
hier
auf
eine
kontraintuitive
Konsequenz
hin,
die
als
„Sumpfmannproblem“ bekannt ist. Von einer Person P wird durch irgendein Wunder ein
qualitativ identisches Duplikat D angefertigt (der Sumpfmann). Doch P gehört zu einer
biologischen Art, hat eine Selektions- und Lerngeschichte, D hingegen nicht. Folglich hat P
gehaltvolle Wahrnehmungen, Erinnerungen und andere geistige Zustände, der
ununterscheidbare D jedoch nicht. Doch dies erscheint vielen Kritikern als höchst
unplausibel. Ich möchte die Intuition, die zum Sumpfmannproblem führt, ausräumen,
indem ich die Biosemantik als elegante Lösung einer Schwierigkeit anbiete, die den
sogenannten Animalismus betrifft. Der Animalismus ist die These, dass Menschen
essenziell Tiere sind. Diese These liefert die Rechtfertigung dafür, den Menschen (und alle
anderen
denkbaren
rationalen
Lebewesen)
als
wesentlich
zugehörig
zum
Gegenstandsbereich der Theorie der Evolution durch natürliche Selektion zu betrachten
und seine zweite Natur in dieser eigenständigen Seinsschicht zu lokalisieren. Die
Biosemantik löst eine Schwierigkeit im Hauptargument für den Animalismus. Gegen den
Animalismus wird häufig vorgebracht, dass die wesentliche Eigenschaft des Menschen
nicht in seinem Tiersein bestehe, sondern in seinem Personsein. Zum Personsein gehört
konstitutiv Selbstbewusstsein. Ich werde ein begriffliches Argument dafür liefern, dass
Tiere über die relevante Art von Selbstbewusstsein verfügen. Da ich es an Schimpansen
entwickle, nenne ich es „Schimpansenargument“.
343
Papineau 2001: 280.
137
Problem
(4):
Konsumentenorientierung.
Es
scheint,
als
müssten
produzenten-
und
konsumentenorientierte Versionen der Teleosemantik nicht inkompatibel sein. Das trifft in
einem Sinn sicher zu, nämlich in dem Sinn, dass konsumentenorientierte Versionen einen
P-Mechanismus annehmen, der die Aufgabe hat, R-Vehikel hervorzubringen, sowie einen
K-Mechanismus, der die R-Vehikel benutzt. Als Produziertes kommt einem R-Vehikel ein
repräsentationaler Inhalt zu, als Konsumiertes ein intentionaler Inhalt. Es gibt zwei Arten
von Inhalt. In einem anderen Sinn trifft es natürlich nicht zu, da produzentenorientierte
Versionen die Ansicht vertreten, dass bereits die Echte Funktion des P-Mechanismus für
den intentionalen Inhalt sorgt. Es gibt auch hier zwei Arten von Inhalt, aber die
Zuständigkeit für die zweite Art des Inhalts (den intentionalen Inhalt) wird unterschiedlich
gesehen. Und das ist es, worauf in der Teleosemantik alles ankommt. In diesem Sinne sind
die beiden Versionen in der Tat inkompatibel. Doch die Konsumentenorientierung scheint
Probleme mit sich zu bringen: Sie führt zu unplausiblen Inhaltszuschreibungen, sie führt zu
unplausiblen Verhaltenserklärungen und sie kann nicht verständlich machen, dass es
Inhalte gibt, die keinen unmittelbaren biologischen Nutzen haben. Diese vorgebrachten
Einwände
werden
vorwiegend
Wahrnehmungsüberzeugungen
im
Hinblick
vorgebracht.
auf
Die
Wahrnehmungen
Biosemantik
ist
und
eine
konsumentenorientierte Version. Wird der Inhalt von Wahrnehmungen durch die
Bedingung festgelegt, die vorliegen muss, damit ein Konsument seine Funktion ausüben
kann, dann scheinen Wahrnehmungsinhalte nicht durch die aktuellen kausalen Objekte der
Wahrnehmung restringiert zu sein. Und das ist der Ausgangspunkt der Einwände. Doch sie
alle
setzten
die
Gültigkeit
Korrelationsprinzips,
das
eines
Prinzips
voraus,
zum
Wesen
von
nämlich
des
Nomischen
Wahrnehmungen
und
Wahrnehmungsüberzeugungen gehören soll:
(NKP) Wahrnehmungen können eine Eigenschaft E nur repräsentieren, wenn die
R-Vehikel mit Instantiierungen von E nomisch korreliert sind.
Ich werde dieses Prinzip zurückweisen. Die Zurückweisung entzieht den drei genannten
Einwänden den Boden. Allerdings werde ich die in NKP ausgedrückte Intuition nicht
fallen
lassen,
sondern
durch
eine
kontingente
leibliche
Relation
zu
Wahrnehmungsgegenständen ersetzen. Dabei werden nicht allein Merleau-Pontys Begriff
der „intentionnalité motrice“ und Gibsons Begriff der „affordance“ hilfreich sein, die ich
als „Aneignung“ bzw. „Eignung“ übersetzen und im Kapitel 5 erläutern werde, sondern
138
auch Reids Wahrnehmungstheorie, die zu Recht als „semiotischer Realismus“ bezeichnet
worden ist.344
Im Folgenden sollen also diese Probleme umfassend diskutiert und einer Lösung zugeführt
werden. Ich habe diese Lösungsstrategien bereits in 1.1.1. vorgestellt und daraus die
Struktur der vorliegenden Arbeit entwickelt.
344
Staudacher 2008.
139
2. NATURALISMUS
2.1. Natürliche Teleologie
Der Naturalismus hat in der deutschsprachigen Philosophie einen gemischten Ruf.345 Im
Hinblick auf Sellars’ Projekt habe ich die Biosemantik als eine Form des normativen
Naturalismus charakterisiert, weil sie zeigen kann, inwiefern die normative B-Ebene und
die natürliche A-Ebene integriert werden können. Der Schlüssel dazu liegt in dem
Gedanken, dass Echte Funktionen über natürliche Normativität verfügen, und dass es sich
bereits bei biologischen Funktionen um Echte Funktion in diesem Sinn handelt. Doch
inwiefern soll hier von einer „naturalistischen Theorie“ und von einem „Naturalismus“ die
Rede sein? Es gibt viele Formen des Naturalismus, und es ist wenig hilfreich, sich in diesem
Gestrüpp von Forderungen, Positionen und Kritiken zu verorten. Hier kann es nur darum
gehen zu sagen, worin der Naturalismus der Biosemantik besteht. Es ist dennoch zuerst
wichtig, zu wissen, was damit nicht gemeint sein soll: Die Biosemantik ist weder ein
Szientismus noch ein Physikalismus. Dies werde ich im Abschnitt 2.2. darlegen. Die
allgemeinste Forderung des Naturalismus lautet, dass die Philosophie in Kontinuität mit
den Naturwissenschaften zu sein hat. Ich werde diese Kontinuität und mithin den
Naturalismus der Biosemantik durch den Begriff der Vereinheitlichung als eine Form des
Verstehens und der Erklärung erläutern. Diese Form des Verstehens und der Erklärung
findet sich vorwiegend in der Evolutionstheorie. Ich werde die Biosemantik deshalb am
Schluss des Abschnitts 2.3. als „Biologischen Naturalismus“ beschreiben. Unlängst hat
John McDowell auf interessante Weise an den Begriff der zweiten Natur erinnert. Er ist der
Ansicht, dass es zwei Arten des Naturalismus gibt, und dass nichts uns dazu zwingt, einen
Naturalismus zu akzeptieren, der nur den logischen Raum der Naturgesetze kennt. Ich
glaube, dass McDowell mit dem letzten Punkt richtig liegt. Ich glaube aber nicht, dass sich
daraus zwei Arten des Naturalismus ergeben. Dies ist das Thema des Abschnitts 2.4. Die
Biosemantik ist jedoch nicht nur eine naturalistische, sondern auch eine teleologische
Theorie, die auf Darwin Bezug nimmt. Aber hat nicht Darwin die Teleologie endgültig aus
den Naturwissenschaften verbannt? Und hat nicht Kant ein für allemal gezeigt, dass allen
teleologischen Urteilen ein Als-ob anhaftet? Ich glaube, dass weder das eine noch das
andere zutrifft. Das werde ich zuerst in diesem Abschnitt über natürliche Teleologie
darlegen. Dazu werde ich sowohl in diesem als auch in den folgenden Abschnitten
345 Vgl. Keil 1993; Keil und Schnädelbach 2000; Nannini et al. 2000; Goebel et al. 2004; Birnbacher 2006;
Sukopp 2007; Honnefelder 2007; Janich 2008; Becker und Detel 2009.
140
ausführlich von der Philosophiegeschichte Gebrauch machen, und zwar in jenem
methodischen Sinne, den ich in Abschnitt 1.1.1. dargelegt habe.
Die Ausdrücke „Teleologie“ und „teleologisch“ sind notorisch vieldeutig, denn die
Implikation und die Extension ihrer Anwendung sind unklar. Dennoch wird häufig
angenommen, die modernen Naturwissenschaften hätten die Teleologie aus der Natur
verbannt und auf Finalursachen rekurrierende teleologische Erklärungen vollständig durch
auf Wirkursachen rekurrierende mechanisch-nomologische Erklärungen ersetzt. Im
Gegensatz zu mechanischen oder nomologischen Erklärungen werden teleologische
Erklärungen als suspekt beurteilt. Solche Erklärungen scheinen nämlich verdorbene
Zutaten wie vitalistische Lebenskräfte, Rückwärtskausalität und die Unterstellung eines
Zweck setzenden Wesens zu enthalten. Sie erscheinen unvereinbar mit mechanischnomologischen Erklärungen und widersetzen sich empirischer Überprüfbarkeit. Bereits in
der frühneuzeitlichen Philosophie werden teleologische Beschreibungen und Erklärungen
als anthropomorphe Projektionen interpretiert und kritisiert. (Ein locus classicus ist der
Anhang zum ersten Teil von Spinozas Ethik.) Doch wenn der Ausdruck „Teleologie“
vieldeutig ist, was ist dann mit der These gemeint, die modernen Naturwissenschaften
hätten die Teleologie aus der Natur verbannt?
Zunächst scheinen entscheidende Etappen in der Entwicklung der Wissenschaft in
der Neuzeit diese These zu bestätigen. Insbesondere wird behauptet, dass Darwins Origins
of Species die Teleologie endgültig aus dem Bereich der Naturwissenschaft und
Naturphilosophie verbannt habe. So spricht Searle für viele Philosophen, wenn er sagt:
„Eine der größten Errungenschaften Darwins bestand darin, die Teleologie aus der
Erklärung des Ursprungs der Arten verbannt zu haben. Nach Auffassung Darwins
vollzieht sich die Evolution mittels blinder, roher, natürlicher Kräfte. Ursprung
und Überleben der biologischen Spezies haben keinen immanenten Zweck.“346
Offenbar meinen Searle und andere, Darwin habe gezeigt, dass kein eigener Zweck mit der
Entstehung und dem Überleben einer Art verbunden sei. Mit anderen Worten, Darwin soll
uns gelehrt haben, dass biologische Arten kein Gegenstand teleologischer Zuschreibungen
sind. Arten entstehen weder zu einem bestimmten Zweck, noch erhalten sie sich zu einem
bestimmten Zweck. Das ist wenig überraschend. Wozu sind Eichhörnchen da? Wozu
überleben Eichhörnchen? Der junge Leibniz meinte, Eichhörnchen seien da, um zu
tanzen.347 Er wollte für jede Art einen eigenen Zweck finden. Dieses Vorhaben hat er
Searle 1997: 26.
Dank an Justin Smith für diesen Hinweis! Der junge Leibniz schrieb in dem Manuskript „Corpus hominis
et uniuscujusque animalis Machina est quædam“ von 1680/82: „Wenn es auch schwierig ist, die Zwecke der
346
347
141
schnell wieder aufgegeben. Dazu hatte Leibniz keinen Darwin nötig, der ihm erklärt, dass
Arten keinen ihnen eigenen Zweck haben.
Worauf wenden wir Ausdrücke wie „Zweck“ überhaupt an? Betrachten wir die
folgende Liste, die Spinoza an der bereits erwähnten Stelle anführt:
„Weil [die Menschen] ferner in sich und außer sich eine Menge Mittel [media]
entdecken, die zur Erreichung ihres Vorteils [utile] nicht wenig beitragen, wie
Augen zum Sehen, Zähne zum Kauen, Kräuter und Tiere zur Nahrung, die Sonne
zum Leuchten, das Meer zum Fischbestand usw., ist es gekommen, dass sie alle
natürlichen Dinge als Mittel zum eignen Nutzen [suum utile media] ansehen.“348
Spinoza geht in dieser Liste von biologischen Merkmalen (Augen, Zähne) über zu Arten
(Pflanzen und Tieren), zu Teilen der Erde (das Meer) und schließlich zu Teilen des
Universums (die Sonne). Es fehlt nur das Universum selbst. Spinoza scheint an dieser Stelle
keinen Unterschied zwischen diesen Dingen machen zu wollen. Es stellt sich aber die
Frage, ob einigen dieser Dinge nicht auch nach Darwin Zwecke zukommen. Ich möchte
allerdings behaupten, dass Darwin durchaus den ersten Elementen in dieser Liste
immanente Zwecke zugesteht. Spinoza trifft eine weitere Annahme, die für die Neuzeit
wichtig und bezeichnend ist. Er vertritt die Auffassung, dass die Rede von Mitteln (media)
zu einem Zweck (utile) stets ein Subjekt impliziere, das diese Zwecke setze (suum utile media).
Zusammengenommen legen die auf Spinozas Liste aufgeführten Gegenstände einer
teleologischen Zuschreibung die Annahme eines in diesen Zuschreibungen impliziten
Subjekts (eines transzendenten Zwecksetzers) nahe. Doch Darwin hat uns, wie ich meine,
gelehrt, dass wir im Hinblick auf Körperteile teleologische Zuschreibungen ohne impliziten
oder expliziten Rekurs auf einen solchen Zwecksetzer vornehmen können. Ich werde also
in diesem Abschnitt zunächst darlegen, dass Darwin die Teleologie keineswegs verbannt
hat, sondern eine bestimmte Auffassung der Teleologie vielmehr rehabilitiert. Damit soll
eines der Vorurteile gegen die Teleosemantik aus dem Weg geräumt werden.
Betrachten wir zuerst zwei unterschiedliche zeitgenössische Einschätzungen dessen,
was Darwin geleistet hat.349 So hat Thomas Henry Huxley gesagt, was ihn an Origins am
stärksten getroffen habe, „was the conviction that teleology, as commonly understood, had
Dinge und die Absichten der Natur vorweg zu bestimmen […] so können wir doch sagen: die Körper der
Lebewesen sind Maschinen zur andauernden Bewegung. […] Also wird es, solange es Spinnen gibt,
Webemaschinen geben, solange es Bienen gibt, wird es Honig erzeugende Maschinen geben, und so lange es
Eichhörnchen gibt, wird es Tanzmaschinen geben.“ (Quanquam autem de finibus rerum consilioque naturae ante
eventum judicare difficile sit […] dicemus: Corpora Animalium esse Machinas perpetui motus. […] Ita quamdiu erunt araneae
erunt machinae textrices quamdiu apes mellificatrices, quamdiu sciuri, saltatrices.) Zitiert nach:
www.jehsmith.com/philosophy/2008/07/corpus-hominis.html (15.09.2009).
348 Spinoza 1999: 81f.
349 Vgl. Ruse 2003: 89ff.
142
received its death-blow at Mr. Darwin’s hands.“350 Demgegenüber hat Asa Gray Darwins
großen Verdienst um die Naturwissenschaften darin gesehen, ihnen die Teleologie zurück
gegeben zu haben: „[L]et us recognise Darwin’s great service to Natural Science in bringing
back to it Teleology: so that, instead of Morphology versus Teleology, we shall have
Morphology wedded to Teleology.“351 Darwin hat in seiner Antwort dieser Einschätzung
freudig seine Zustimmung erteilt: „What you say about Teleology pleases me especially, and
I do not think any one else has ever noticed the point. I have always said you were the man
to hit the nail on the head.“352 Später schreibt Darwin an Lord Farrer: „[I]f we consider the
whole universe, the mind refuses to look at it as the outcome of chance – that is, without
design or purpose. The whole question seems to me insoluble.“353 Während Huxley glaubt,
Darwin habe die Teleologie entsorgt, hebt Gray, von Darwin unterstützt, die
Wiederbelebung der Teleologie hervor, während Darwin selbst die teleologische Neigung
als etwas betrachtet, das zu Aporien führt. Wie geht dies alles zusammen? Es handelt sich
um verschiedene Bedeutungen von „Teleologie“. Erstens weist Darwin, wie Huxley sieht,
die natürliche Theologie zurück. Zweitens setzt er die natürliche Teleologie wieder in ihr Recht,
wie Gray erkennt, denn er entwickelt ein Verständnis evolutionärer Prozesse von
Lebewesen, die „ergebnisoffen sind und gleichwohl eine Tendenz haben“.354 Allerdings
lässt sich Darwin doch dazu hinreißen im Ganzen des Universums eine kosmische
Teleologie – einen Plan (design) oder Zweck (purpose) – zu sehen.
Das gewöhnliche Verständnis der Teleologie, auf das Huxley verweist, speist sich
aus dem sogenannten „Argument from Design“: „[A]n organ or organism (A) is precisely
fitted to perform a function or purpose; (B) therefore it was specially constructed to
perform that function.“355 Huxley bezieht sich hierbei direkt auf William Paleys Verständnis
der Teleologie, dem zufolge von einem organisierten Ganzen (einer Uhr oder einem Auge)
und seinen tätigen Teilen zunächst auf einen Zweck (die Zeitanzeige oder das Sehen) und
schließlich auf einen Zwecksetzer (den Uhrmacher oder Gott) geschlossen werden muss.
Man kann die diesem Argument zugrunde liegende mächtige Tendenz, aufgrund der
Huxley 1864, zitiert nach Ruse 2004: 138.
Gray 1874: 81. Gray spielt hier auf die Debatte zwischen Geoffrey St. Hiliare und George Cuvier an, in der
es darum ging, ob Erklärungen, die sich auf den Bauplan von Lebewesen (Morphologie), oder Erklärungen,
die sich auf Bedürfnisse von Lebewesen (Teleologie) berufen, explanatorische Priorität zukommen soll.
Darwin betrachtete seine Arbeit in der Tat als eine Vereinigung beider Seiten: „It is generally acknowledged
that all organic beings have been formed on two great laws – Unity of Type, and the Conditions of Existence.
[…] On my theory, unity of type is explained by unity of descent. The expression of conditions of existence,
so often insisted on by the illustrious Cuvier, is fully embraced by the principle of natural selection.“ (Darwin
1968: 233). Zur Anerkennung der Evolutionstheorie als „Integrationstheorie“ vgl. Lefèvre 2009: 101ff.
352 Darwin 1959: 367.
353 Darwin 1959 II: 395.
354 Lefèvre 2009: 7.
355 Huxley 1864, zitiert nach Ruse 2004: 138.
350
351
143
organisierten Anordnung tätiger Teile (oder aufgrund von Analogien zu solchen
Anordnungen) zunächst auf einen Zweck und schließlich auf einen Zwecksetzer zu
schließen, als „Paley-Syndrom“ bezeichnen.356
Nun hatte die sowohl Darwin als auch Huxley wohlbekannte Kritik in Humes
Dialoge über die natürliche Religion (1779) die Grundlagen dieses Arguments bereits zerstört
und Beiträge zu einer Therapie des Paley-Syndroms geleistet. Hume hat den durch das
„Argument from Design“ nahegelegten Schluss auf einen transzendenten Zwecksetzer
(einen zugleich allwissenden, allmächtigen und allgütigen Schöpfer) sowohl hinsichtlich der
begrifflichen Grundlagen für zuverlässiges Schließen als auch hinsichtlich der beiden
möglichen Deutungen des Arguments als Analogieargument oder als Schluss auf die beste
Erklärung demoliert. Dennoch liegt es selbst für Hume auf der Hand, dass zumindest
bestimmte Teile des Universums offenkundig zweckmäßig sind. Dies ist ein nicht zu
leugnendes Faktum. Hume wollte, mit anderen Worten, keineswegs das erste Symptom des
Paley-Syndroms, nämlich den Schritt von der organisierten Anordnung tätiger Teile auf
einen Zweck, kurieren, sondern lediglich das zweite, den Schluss auf einen transzendenten
Zwecksetzer.357 Allein eine wirkliche Alternative zur Erklärung des Faktums zweckmäßig
organisierter Teile vermochte Hume nicht zu entwickeln, auch wenn einige seiner
Vorschläge als veritable Antizipationen von Darwin gelten dürfen.358 Erst eine empirisch
reichhaltige und erklärungskräftige (vereinheitlichende) Theorie, die eine wirkliche
Alternative zum „Argument from Design“ bietet, ohne zugleich die reale Zweckmäßigkeit
von Naturprodukten zu leugnen, kann die durch Humes Kritik hinterlassene Lücke
schließen und das zweite Symptom des Paley-Syndroms kurieren. Diese Alternative bietet
Darwin.
Es ist nicht unwichtig, im Paley-Syndrom zwei Schritte zu unterscheiden, nämlich
einerseits den Schluss vom Arrangement der Teile auf einen Zweck und andererseits den
Schluss von einem Zweck auf einen Zwecksetzer. Es ist dieser zweite Schritt, den Huxley
vor Augen hat, wenn er davon spricht, dass Darwin der Teleologie den Todesstoß versetzt
habe. Demgegenüber denkt Gray an den ersten Schritt, und zwar (wie Hume) unter
Verzicht auf den zweiten Schritt. Darwins Theorie der Evolution erlaubt es, von Zwecken
in der Natur zu sprechen, ohne dass man sich damit (explizit oder implizit, kontingenteroder notwendigerweise) auf einen transzendenten Zwecksetzer beziehen muss. Gray
zufolge besteht Darwins Verdienst also darin, dass wir auf naturwissenschaftlich akzeptable
Dretske 1995: 146f.
Diese Unterscheidung gibt, nebenbei gesagt, einen wichtigen Hinweis, warum Philo, Humes Sprachrohr,
im letzten Dialog scheinbar unvermittelt die Zweckmäßigkeit von Naturprodukten zugibt, die er zuvor
bekämpft hat. Er bekämpft sie als Prämisse im Design-Argument, nicht aber als augenfälliges Faktum.
358 Dennett 1995: 28ff.
356
357
144
Weise „can think of design without a designer“.359 Diese Formulierung ist zwar effektvoll,
aber letztlich eher irreführend.360 Man kann Darwins Verdienst stattdessen wie folgt
reformulieren: Darwin fragt danach, wozu bestimmte Merkmale eines Lebewesens da sind
(existieren). Antworten auf solche Fragen werden durch ihren spezifischen Beitrag zum
Überleben (ihren Überlebenswert) angegeben. Dieser spezifische Beitrag ist der Zweck
oder die Funktion dieser Merkmale. Fragen und Antworten dieser Art sind teleologisch,
insofern sie das Vorhandensein (die Existenz) eines Merkmals M durch den Zweck oder
die Funktion von M erklären. Das Vorhandensein von M wird (genauer gesagt) erklärt
durch jene Wirkungen der historischen Vorläufer von M, die zur Anpassung oder Fitness
des Lebewesens mit M positiv beigetragen haben.361
Es ist wichtig zu sehen, dass nach Darwin teleologische Erklärungen nicht primär
nach der kausalen Rolle der Tätigkeit eines Merkmals M in einem Organismus O fragen,
sondern nach dem Grund des Vorhandenseins von M. James Lennox hat anhand eines
Beispiels analysiert, inwiefern Darwin auf Finalursachen zurückgreift und teleologische
Erklärungen einsetzt. Bei diesem Beispiel handelt es sich um einen auffälligen sexuellen
Dimorphismus bei bestimmten Blumen (Primula veris). Darwins Analyse kann wie folgt
schematisiert werden:362
(1) Primula veris weist einen Dimorphismus auf (O weist M auf).
(2) Der Dimorphismus wirkt sich positiv auf heteromorphe, aber negativ auf
homomorphe Kreuzungen aus (M hat die Wirkung W).
(3) Heteromorphe Kreuzungen sind fruchtbarer und haben zahlreicheren und kräftigeren
Nachwuchs als homomorphe (W ist von Vorteil für O).
(4) Die Evolution würde somit nach Dimorphismus in Primula veris selektieren (also gibt es
in O eine Selektion nach [selection of] M).
(5) Primula veris weist folglich einen Dimorphismus auf, weil dieser sich positiv auf
heteromorphe Kreuzungen ausgewirkt hat (also ist W die Ursache für M in O).
Darwin bezeichnet die positive Auswirkung als „Final Cause“ des Dimorphismus.363 Die
Finalursache erklärt, warum ein Merkmal vorhanden ist. Die Erklärung nennt den
spezifischen Beitrag des Merkmals zum Überleben seines Trägers. Die Erklärung gibt den
Kitcher 2003: 160.
Es handelt sich um eine Variation auf ein Thema von Paley, dem zufolge kein Design ohne Designer
gedacht werden kann.
361 Vgl. Brandon 1990: 188.
362 Vgl. Lennox 1993: 414.
363 Vgl. Lennox 1993: 410.
359
360
145
Zweck oder die Funktion des Merkmals an. Dies ist der Sinn von Teleologie, den Gray
meint und Darwin akzeptiert. Und in diesem Sinn kann man sagen, dass Darwin die
Teleologie keineswegs endgültig aus der Biologie vertrieben, sondern ihr im Gegenteil
wieder zu naturwissenschaftlichen Ehren verholfen habe.364 Dies ist ein kaum zu
unterschätzender und philosophisch relevanter Verdienst Darwins. Und es ist für die
Biosemantik von zentraler Bedeutung.
Dennoch sind viele Philosophen der Überzeugung, dass der Begriff der Teleologie
(und die damit verbundenen Begriffe von natürlichem Zweck und natürlicher Funktion)
mit mentalistischen Vorstellungen unauslöschlich oder gar notwendig verbunden ist und
dass Darwins Theorie nolens volens intentionalistisches Vokabular in Anspruch nimmt. Sollte
dies zutreffen, ist das teleosemantische Projekt als naturalistisches bedroht. Denn der
allgemeinen Charakterisierung der Teleosemantik zufolge gilt, dass „a certain normative
notion of function underwrites a certain normative notion of content“.365 Ein Begriff der
Funktion, der mentalistische oder intentionalistische Momente involviert, kann das Projekt
nicht tragen.
Hier ein Beispiel für die Überzeugung einer untilgbaren Verbindung von Teleologie
und Zwecksetzer. In ihm wird der Begriff der Teleologie in keinem anderen Sinne
verwendet, als ich ihn eben Darwin zugestanden habe, doch er scheint notwendigerweise
ein Zweck setzendes Subjekt zu involvieren, und dies bestreite ich:
„Darwin’s theory of natural selection is an alternative to both the materialist and
the Christian theories for the existence of complex adaptations. As we saw, the
materialist is forced to explain complexity and well-adaptedness as a chance sideeffect of natural processes. Darwin’s theory does not resort to chance. He specifies
the general biological conditions that determine the existence of adaptations.
Darwin’s theory is radically distinct from the teleological explanation, adaptations are not created
on Darwin’s theory [meine Hervorhebung] but they emerge out of the confluence of
many distinct biological processes, the production of individual differences, the
mechanisms of heritability, the basic rules of demography, and the consequence of
differential adaptation to local environmental conditions.“366
Mit einer teleologischen Erklärung meint Andrew Ariew dasselbe wie ich, nämlich eine
Antwort auf die Frage, wozu M da ist, warum O M hat. Doch Ariew zufolge ist Darwins
Erklärung nicht teleologisch, weil eine teleologische Erklärung offenbar auf ein intelligentes
Wesen (hier den Schöpfer) zurückgreifen muss. Teleologische Erklärungen unterstellen
Zwecke und Funktionen, und wo Zwecke und Funktionen unterstellt werden, wird implizit
364
Ich stimme hier also Lennox 1993, 1994 zu, nicht Ghiselin 1994. Darwin war in der Tat ein teleologischer
Denker.
365
366
Neander 2006: 550.
Ariew 2007: 169f.
146
ein Zweck setzendes und funktionsbestimmendes Subjekt gesetzt. Die Differenz ist also
nicht nur verbal, sie ist substanziell.
Hinzu kommt, dass wiederum andere Philosophen den Darwin zugestandenen
Begriff der Teleologie nicht als genuine Teleologie akzeptieren wollen. Und zwar aus
folgendem Grund: Ich habe gesagt, dass Darwins Theorie Warum-Fragen mit Um-zuAntworten beantwortet, sodass das Vorhandensein eines biologischen Merkmals M durch
jene Wirkungen der historischen Vorläufer von M erklärt wird, die zur Anpassung (und
mithin zu Fitness) eines O mit M positiv beigetragen haben. Doch die Bezugnahme auf
Wirkungen, so scheint es, verwandelt (teleologische) Finalursachen unter der Hand in
(mechanistische) Wirkursachen. Wirkursachen müssten, so heißt es, ihren Effekten
(zeitlich) vorangehen und (ontologisch) Partikulare sein; sie müssen mittels Naturgesetzen
das Auftreten eines Effekts erklären können. Finalursachen hingegen sind Typen von
Resultaten, die erklären, warum ein bestimmter Typ instantiiert ist. Wenn nun
Vorhandensein eines partikularen Merkmals M dadurch angegeben wird, was seine
partikularen historischen Vorläufer bewirkt haben, was wiederum erklärt, warum ein O
dieses M hat, dann wird der Zweck (die Funktion) von M auf die (erfolgreichen)
wirkkausalen Effekte seiner Vorläufer reduziert und das Vorhandensein von M auf die
wirkkausalen Effekte (von erfolgreicher) Reproduktion. Somit handelt es sich nicht um
genuine Teleologie im Sinne von Finalursächlichkeit, da die ontologische Ebene jene
bloßer Partikulare (und nicht jene von Typen) ist, und die Erklärungen nicht von
Resultaten, sondern von Vorläufern ausgehen.
Nun hängen diese beiden Vorbehalte gegenüber der für die Biosemantik
grundlegenden Überzeugung von Gray und Darwin, dass die Theorie der Evolution durch
natürliche Selektion den Naturwissenschaften die Teleologie zurückgegeben habe,
miteinander zusammen. Es scheint nämlich, dass die für uns verständlichste Form der
Teleologie auf der Ebene von Handlungen intelligenter Wesen zu finden ist. Wenn wir
etwas um eines Zweckes oder Zieles willen tun, wenn unsere Produkte Zwecke oder
Funktionen haben, dann deshalb, weil wir (erstens) mental auf ein bestimmtes Ziel
abzwecken (oder auf einen bestimmten Zweck abzielen) und weil (zweitens) unsere
Vorstellungen des Ziels oder Zwecks einer Handlung oder eines Artefakts Handlungen und
Artefakte ja erst hervorbringen und ihnen also zeitlich vorhergehen. Diese Form der
teleologischen Erklärung („S tut oder produziert x, damit y, und y ist von S intendiert,
insofern ist y die Wirkursache von x“) verbindet das mentalistische mit dem wirkkausalen
Element, die in den beiden Vorbehalten gegenüber der Darwinschen Teleologie am Werk
sind. Es scheint fast, dass wir uns teleologische Erklärungen nur als mentalistische vorstellen
147
können, weil wir uns Teleologie allein nach dem Modell intentionaler Handlungen oder
Herstellungen auf wirkkausale Art und Weise vorstellen müssen. Und es scheint, dass wir
uns teleologische Erklärungen nur als wirkkausale vorstellen können, weil wir uns die
Teleologie allein nach dem Modell wirkkausaler Reihung und Relation auf intentionale Art
und Weise vorstellen müssen. Doch dass uns die intentionale Form teleologischer
Erklärungen zwingend und alternativlos erscheint, und dass wir sie derart mit
Wirkkausalität verquicken, hat historische Ursachen. Indem wir uns diese historischen
Hintergründe vor Augen führen, können wir etwas über die Ätiologie des Paley-Syndroms
lernen. Und indem wir etwas über die Ätiologie dieses Syndroms lernen, kann die
Zwangsvorstellung, dass ein Zweck stets ein Zweck setzendes Subjekt impliziere, abgebaut
und dadurch Platz für Darwins Zurückgewinnung der natürlichen Teleologie geschaffen
werden. Diese Zurückgewinnung ist für den normativen Naturalismus, der hier vertreten
werden soll, von größter Bedeutung (Kapitel 3).
Es lohnt sich bei Thomas von Aquin zu beginnen, denn dessen „Synthese von
aristotelischer Naturphilosophie und christlichem Schöpfungsgedanken“ ist als Höhepunkt
und Peripetie des teleologischen Denkens interpretiert worden.367 Robert Spaemann und
Reinhard Löw sind jedoch der Ansicht, dass erst die Preisgabe des Schöpfungsgedankens in
der frühen Neuzeit zunächst zu einer Reduktion der Finalursachen auf Wirkursachen und
schließlich zu einer „Krise und Entmachtung des teleologischen Denkens“ geführt habe.
Diese Interpretation kann mit Fug bezweifelt werden. In der nachfolgenden Darstellung
orientiere ich mich vielmehr an der Interpretation des teleologischen Denkens in der
Neuzeit durch Stephan Schmid.368 Schmid betrachtet nicht den Verlust des
Schöpfungsgedankens, sondern gerade Thomas’ Versuch einer Zusammenführung von
aristotelischer Naturphilosophie und christlichem Schöpfungsgedanken als problematisch
für das teleologische Denken. Es ist diese Verbindung, die das teleologische Denken
dadurch problematisch macht, dass teleologische Erklärungen nicht mehr unabhängig von
einem Subjekt überhaupt verstanden werden können.
Thomas zufolge hat jede Veränderung eine Wirkursache. Darauf aufbauend und
mithilfe des Prinzips, dass alles, was wirkt, nur dadurch wirkt, dass es auf etwas
(Bestimmtes) abzielt (omne quod agit, non agit nisi intendendo aliquid) schließt Thomas, dass jede
Veränderung auch eine Finalursache haben müsse.369 Dieses Prinzip der Ubiquität der
Finalursache gilt unabhängig davon, ob das Tätige (agens) bewusst (willentlich) oder
Spaemann und Löw 1981: 97.
Vgl. Schmid 2009.
369 Vgl. Thomas, Summa contra gentiles 3.2.6.: „Omne agens agit propter finem.“
367
368
148
bewusstlos (natürlich) tätig ist. Dem bewusstlos Tätigen ist das Ziel vorgegeben, das
bewusst Tätige wählt sein Ziel aus. Schließlich verbindet Thomas das Prinzip „omne agens
agit propter finem“ mit dem Gedanken der göttlichen Schöpfung und Lenkung, dem
zufolge alle Veränderung der Lenkung Gottes untersteht. Der Grund für diese Verbindung
liegt darin, dass Thomas ein weiteres Prinzip akzeptiert, das Schmid treffend als „cognitioBedingung“ bezeichnet, nämlich das Prinzip, dass Wissen um ein Ziel notwendig ist, damit
etwas um eines Zieles willen geschieht.370
Der Rekurs auf den göttlichen Schöpfer und Lenker ermöglicht es Thomas, die
cognitio-Bedingung zugleich mit dem Prinzip der Ubiquität von Finalursachen vertreten zu
können. Anders als Aristoteles scheint Thomas die Finalursächlichkeit bewusstloser
(natürlicher) Veränderungen nur indirekt (vermittelt über Gott) der internen Natur der sich
verändernden Dinge überlassen zu wollen, da er sie einem sowohl mentalen als auch
externen Ursprung, nämlich Gott, überantwortet. Anders als bei Aristoteles haben
natürliche Prozesse und Entitäten also keine nicht durch Gott vermittelte intrinsische
Teleologie.371 Die Externalisierung der Ausrichtung eines Prozesses oder einer Entität auf
einen Zweck kann allein durch den Rekurs auf ein Wesen geschehen, das einem Prozess
oder einer Entität diesen Zweck vorgibt. Natürliche Prozesse und Entitäten werden von
Gott auf Ziele festgelegt. Thomas’ Vereinigung von cognitio-Bedingung und Ubiquität
entspringt seinem Bemühen, die Philosophie und die Theologie unter ein Dach zu bringen.
Schließlich führt die cognitio-Bedingung dazu, dass das Verhalten natürlicher Prozesse und
Entitäten nicht durch ihr (ihnen eigenes) Ziel erklärt wird, sondern durch das (ihnen
äußerliche) Wissen um ein Ziel. Natürlich sind diese Ziele letztlich die Ziele der natürlichen
Prozesse oder Entitäten, doch nur insofern sie durch das göttliche Wissen in ihrem Sein so
festgesetzt worden sind. Dieses Wissen um das Ziel geht der Realisierung des Ziels voran.
Dadurch wird der Weg zu der Auffassung geebnet, der zufolge Finalursachen keine
Ursachen sui generis mehr sind, sondern eine bestimmte Form der Wirkkausalität, nämlich
der mentalen Verursachung.
Im Wesentlichen findet sich im Anschluss an Thomas die Überzeugung, dass die
cognitio-Bedingung für jedes Wirken von Finalursachen notwendig sei.372 Mit einem Willen
ausgestattete Vernunftwesen können ihre Ziele und Zwecke prinzipiell selbst festlegen. Im
Bereich der bewusstlosen Natur sind Ziele nicht selbst kausal wirksam und damit auch
370 Vgl. Thomas, Summa theologiae, I-II, q. 6, art. 1 co.: „Autem quod fiat aliquid propter finem, requiritur
cognitio finis aliqualis.“
371 Und nur über diese Vermittlung kann Thomas sagen, dass natürlichen Dingen eine ihnen eigene
Teleologie zukommt (vgl. Summa theologiae I q. 103 art.1 ad 3, dazu Schmid 2009: I).
372 So tritt etwa Francisco Suárez dezidiert für eine mentalistische Auffassung ein. Damit ein Ziel etwas
verursachen kann, ist es notwendig, dass es vorher erkannt worden ist: „[U]t finis causet, necessarium omnino
est ut praecognitus sit.“ (Disputationes metaphysicae 23.7.2, dazu Schmid 2009: II).
149
keine Finalursachen. Zweckmäßigkeit in der Natur ist das Ergebnis göttlicher Schöpfung
und Lenkung. Wenn beispielsweise ein Organismus O ein Merkmal M hat, und dieses M
tätig ist und diese Tätigkeit ein bestimmtes Resultat R zeitigt, dann gilt, dass Gott
beabsichtigt hat, dass O M hat, dass M tätig ist und dass aus M’s Tätigsein R folgt. Die
Versuche der frühen Neuzeit, mit Finalursachen und teleologischen Erklärungen in der
Natur umzugehen, sind Reaktionen auf die durch die Scholastik geschaffene Situation:
Zwecke und Ziele sind natürlichen Prozessen und Entitäten erstens äußerlich und können
zweitens allein unter Rückgriff auf ein intelligentes Wesen verstanden werden und wirksam
sein.373
Einen entscheidenden Schritt nimmt, wie bereits gesagt, Hume. Er unterbindet den Schluss
(sei es als Analogieschluss oder als Schluss auf die beste Erklärung) von der augenfälligen
Zweckmäßigkeit natürlicher Prozesse und Entitäten auf einen Zwecksetzer. Er zeigt, dass
man aus der zweckmäßigen Einrichtung von Teilen der Welt (insbesondere von
Organismen) nicht auf die Absichten eines Gottes schließen kann. Somit wird der
Rückgriff auf einen Zwecksetzer obsolet. Ein solches Wesen kann nicht als intelligente
Wirkursache für die Zweckhaftigkeit von Organismen verstanden werden. Zugleich beharrt
Hume darauf, dass die augenfällige Zweckhaftigkeit von Organismen nicht nur
augenscheinlich sein kann. Hume löst somit die natürliche Zweckhaftigkeit von der
cognitio-Bedingung.
Kant geht in seiner Auffassung der Naturteleologie wie Hume von dem Faktum der
Zweckhaftigkeit von Organismen aus. Doch anders als Hume führt er die cognitioBedingung wiederum ein, und zwar in transzendentalphilosophisch transformierter Gestalt.
Vereinfacht gesagt: Wir können uns Organismen und die Zweckhaftigkeit ihrer
Organisation überhaupt nicht anders denken, als dass diese von einem intelligenten Wesen
gemäß einer Zweckvorstellung hervorgebracht wurden. Doch diese Notwendigkeit ist der
Beschaffenheit unseres diskursiven Erkenntnisvermögens geschuldet, sie lässt keinen Schluss
im Sinne des „Argument from Design“ zu.
Ein Organismus ist Bestandteil der Natur. Natur ist die Einheit dessen, was unter
mechanischen Gesetzen steht. Organismen sind für Kant Naturzwecke in dem Sinn, dass
die Teile das Ganze hervorbringen und zugleich das Ganze die Teile. Allerdings können
mechanistische Naturgesetze allein die Entstehung von Entitäten und Prozessen, in denen
Teile und Ganzes wechselseitig Ursache und Wirkung voneinander sind, nicht erklären.
Doch als Bestandteil einer so verstandenen Natur muss ein Organismus (als organisiertes
373
Vgl. die Untersuchungen über Descartes, Spinoza und Leibniz in Schmid 2009: III-V.
150
Ganzes mit tätigen Teilen) als reiner Zufall erscheinen, denn kein Naturgesetz führt zu
solchen Phänomenen. Das ist der Sinn des Diktums, es werde keinen Newton des
Grashalms geben können. Aufgrund der Nötigung, die Natur als Einheit zu denken,
müssen wir uns Naturzwecke deshalb so vorstellen, als ob sie von einem Zweck setzenden
Subjekt
erschaffen
worden
wären.
Aufgrund
der
Beschaffenheit
unseres
Erkenntnisvermögens, das diskursiv ist, können wir uns einen Vorrang des Ganzen vor
den Teilen nur in Analogie zum diskursiven Erkennen vorstellen, das Besonderes unter
allgemeine Begriffe fasst. Deshalb müssen wir uns Naturzwecke (Organismen) als von
einer Idee (eines Zweck setzenden Subjekts) verursacht vorstellen.
Vor dem Hintergrund dieser Rekonstruktion der Geschichte der Teleologie
erscheint Kants Restauration einer transzendenten cognitio-Bedingung als Ursache für die
Zweckhaftigkeit von Organismen auch noch in ihrer transzendentalphilosophischen
Transformation als Rückschritt hinter Humes Schritt in Richtung auf Darwins
Wiedergewinnung der Teleologie für die Naturwissenschaften. Mithin dürfte es dieser
philosophiehistorische Zusammenhang sein, aufgrund dessen es vielen Philosophen als
nicht verständlich erscheint, wie man „die Barrikade nehmen könnte, mit der uns Kant den
Weg zu jeder Art von objektiver Zweckmäßigkeit versperrt hat“.374 Mir erscheint es
hingegen als vordringlich, uns von der Barrikade zu befreien, die es verunmöglicht zu
sehen, dass Darwin die natürliche Teleologie in der beschriebenen Art und Weise und ohne
jede Form der cognitio-Bedingung wiederbelebt hat. Diese Barrikade ist natürlich das
Paley-Syndrom.
Kants Auffassung der Naturteleologie scheint mir darüber hinaus nicht frei von
internen Spannungen zu sein. Zum einen erklärt Kant, dass es für unser diskursives
Erkenntnisvermögen unmöglich sein soll, sich Naturzwecke anders vorzustellen, als von
einem Zwecksetzer hervorgebracht, zum anderen verweist Kant aber darauf, dass dies auf
ein anderes als unser Erkenntnisvermögen nicht zutrifft. Einem intuitiven Verstand oder
einer intellektuellen Anschauung ist es nämlich möglich, mit dem Faktum der Naturzwecke
zu Recht zu kommen, ohne sich zur Annahme eines Zweck setzenden Subjekts genötigt zu
sehen.375 Auch geht Kant vom Faktum des Naturzwecks (des Organismus) aus, erklärt die
Möglichkeit dieses Faktums aber erstaunlicherweise durch die Beschaffenheit unseres
Erkenntnisvermögens. Doch daraus, dass dieses Vermögen Mechanismus und Teleologie
nicht zusammen denken können soll, folgt nicht, dass sie nicht zusammen an einem Objekt
(nämlich
374
375
dem
Organismus)
vorkommen
können.
Gerade
die
Habermas 1988: 271.
Diese Optionen werden Goethe bzw. Schelling ergreifen, vgl. Förster 2002a, 2002b.
151
transzendentale
Betrachtungsweise erlaubt es nicht, diese Unvereinbarkeit auf den Gegenstand selbst zu
übertragen. Zu diesem Gegenstand selbst (dem Organismus) gelangen wir nicht, aber wir
können die Analogie, die unser Nachdenken über diesen Organismus prägt, etwas
verändern. Ich habe oben gesagt, dass die für uns verständlichste Form der Teleologie auf
der Ebene von Handlungen intelligenter Wesen zu finden sei und die allgemeine Form „S
tut oder produziert x, damit y, und y ist von S intendiert, insofern ist y die Wirkursache von
x“ habe. Diese Form der teleologischen Erklärung verbindet das mentalistische mit dem
wirkkausalen Element, die in den beiden Vorbehalten gegenüber der Darwinschen
Teleologie am Werk sind. Unter anderem infolge dieses Paradigmas müssen wir die
Zweckhaftigkeit von Organismen als Produkt eines Zweck setzenden Subjekts denken.
Doch die Produktanalogie betont nur das Element des Produzierens in der
vorgeschlagenen Formulierung: „S tut oder produziert x, damit y, und y ist von S intendiert,
insofern ist y die Wirkursache von x“. Doch warum sollten wir nicht das Tun hervorheben?
Genauer: Warum sollten wir nicht die Rolle des eigenen Körpers hervorheben, der tätig ist
und produziert, ist dieser Körper doch selbst ein Organismus. Eben dies hebt Kant im
Opus postumum auch hervor:
„Wir erfahren die organische Kräfte an unserem eigenen Korper und gelangen
vermittelst der Analogie derselben mit einem Theil dieses ihren Princips zu einem
Begriff von der Vegetation desselben indem wir jenes nämlich die Animalität
weglassen. [sic!]“376
Eckart Förster kommentiert diese Passage in aufschlussreicher Weise:
„It is through experience, indeed, that we have the concept of a natural purpose,
but it is not the human artifact and the realization of practical purposes that
originally permits the formation of this concept. […] Our own bodily experience
functions as the paradigm for the estimation of other objects as organic; it is the
primary example by which we judge all others. But as a paradigm for natural
purposiveness, it cannot be subject to the ‘as if’ principle of the third Critique: this
principle fails to hold in the case of our own bodily organization. [...T]he contrast
with the ‘distant analogy’ (5: 375) between natural purposes and human artifacts
that lies at the foundation of the Critique of Teleological Judgment could hardly be
greater.“377
Wenn wir das Zusammenspiel von Mechanismus und Teleologie an unserem eigenen Leib
erfahren und diese Erfahrung nicht dem Prinzip unterworfen ist, dass wir uns unseren Leib
vorstellen müssen, als ob ihn ein Zweck setzendes Wesen erschaffen hätte, stellen sich
sogleich zwei Fragen: Warum sollte es dann nicht allen Organismen gleichermaßen möglich
sein, Organismen in diesem Sinne zu sein? Warum sollten wir bei ihnen, aber nicht bei uns,
376
377
AA XXII: 373.
Förster 2000: 27f.
152
genötigt sein, sie uns so zu denken, als ob sie von einem Zweck setzenden Subjekt
erschaffen worden wären?
Schopenhauers Metaphysik entwickelt genau diese Gedanken. Einerseits können wir die
Welt als unsere Vorstellung betrachten, doch dann finden wir auch unseren Leib nur als
Objekt unter Objekten.378 Im Unterschied zu anderen Objekten ist unser Leib uns
allerdings auch von innen gegeben, insofern wir unsere Handlungen und Bewegungen als
von uns ausgeführt und so i.w.S. als willentlich erkennen. Der Wille reagiert auf Motive und
äußert diese Reaktionen in zweckmäßigen körperlichen Verhaltensweisen. Die Erkenntnis
unseres eigenen Willens sei dabei von ganz anderer Art als jene der externen Objekte, sie
sei nämlich nicht über Vorstellungen vermittelt, sondern eine unmittelbare Erkenntnis.
Schopenhauer argumentiert weiter, dass mithilfe dieser unmittelbaren Erkenntnis des
Willens einsichtig ist, wie der Leib zugleich als Mechanismus und als Naturzweck
betrachtet werden kann. Er ist überdies allerdings der Ansicht, dass die Erkenntnis des
Willens zugleich auch Erkenntnis des Dinges an sich sei. Den Leib nennt Schopenhauer
eine „Objektivation“ des Willens.379 In seiner Metaphysik überträgt Schopenhauer die
doppelte Gegebenheitsweise des eigenen Leibes auf die Welt als Vorstellung als Ganze. Er
sieht deshalb jede Art von Objekt als Objektivation des Willens. Dies ist die Welt als
Wille.380 Schopenhauer glaubt, dass er so durch die Einsicht in die Zweckhaftigkeit des
eigenen Leibes „einen Schlüssel zum Wesen jeder Erscheinung in der Natur“ in die Hand
gebe, denn wir können jede Erscheinung
„eben nach Analogie des Leibes beurtheilen und daher annehmen, daß wie sie
einerseits, ganz so wie er, Vorstellung und darin mit ihm gleichartig sind, auch
andererseits, wenn man ihr Daseyn als Vorstellung des Subjekts bei Seite setzt, das
dann noch übrig Bleibende, seinem inneren Wesen nach, das selbe seyn muß, als
was wir an uns Wille nennen.“381
Doch worin sieht Schopenhauer die Rechtfertigung für diesen gewagten Analogieschluss?
Die Rechtfertigung besteht im Faktum des Naturzwecks, in der offensichtlichen
teleologischen Verfasstheit von Organismen.382 Sowohl die motorischen als auch die
physiologischen Funktionen des Leibes sind einerseits als Objekte der Vorstellung kausalmechanisch zu betrachten, sie sind jedoch andererseits auch teleologisch zu betrachten,
nämlich als Objektivationen des Willens.383 Und weil nicht nur unser Organismus, sondern
Schopenhauer 1988, Bd. 1: 145-150.
Schopenhauer 1988, Bd. 1: 150-155.
380 Schopenhauer 1988, Bd. 1: 164-166.
381 Schopenhauer 1988, Bd. 1: 157.
382 Vgl. Young 1987: 66ff.; Janaway 1989: 250ff.
383 Schopenhauer 1988, Bd. 1: 160-162.
378
379
153
alle Organismen offenkundig teleologisch verfasst sind, können wir auch sie als
Objektivation eines Willens begreifen. Schopenhauer versteht diesen Willen als ein
bewusstloses Streben nach einem Zweck. Als Streben nach einem Zweck ist der Wille
bewusstseinsaffin, als bewusstloses Streben hingegen naturaffin. Auf diese Weise kann
Schopenhauer Naturzwecke im Gegensatz zu Kant als genuin teleologisch verstehen,
handelt es sich doch um Objektivationen des Willens als Ding an sich. Die teleologische
Betrachtungsweise von Organismen gehört also zu ihrem Wesen, insofern „man ihr
Daseyn als Vorstellung des Subjekts bei Seite setzt“ und nicht zur Beschaffenheit des
Erkenntnisvermögens.
Wie erklärt Schopenhauer die teleologische Verfasstheit von Naturzwecken?
Aufschlussreich sind dazu seine Ausführungen im Kapitel „Über Teleologie“ im zweiten
Band von Die Welt als Wille und Vorstellung. In Analogie zu unserem bewussten Erkennen
von Motiven für unsere willentlichen Handlungen kann Schopenhauer über das
bewusstlose Streben nach einem Zweck in Lebewesen sagen:
„[D]ie Endursache ist ein Motiv, welches auf ein Wesen wirkt, von welchem es
nicht erkannt wird. Denn allerdings sind die Termitennester das Motiv, welches
den zahnlosen Kiefer des Ameisenbären, nebst der langen fadenförmigen und
klebrigen Zunge hervorgerufen hat: die harte Eierschaale, welche das Vögelein
gefangen hält, ist allerdings das Motiv zu der hornartigen Spitze, mit welcher sein
Schnabel versehen ist, um jene damit zu durchbrechen, wonach er sie als ferne
nutzlos abwirft. Und ebenso sind die Gesetze der Reflexion und Refraktion des
Lichts das Motiv zu dem so überkünstlich komplicirten optischen Werkzeug, dem
menschlichen Auge […]. Daher müssen wir einsehen, dass der selbe Wille, welcher
den Elephantenrüssel nach einem Gegenstande ausstreckt, es auch ist, der ihn
hervorgetrieben und gestaltet hat, die Gegenstände anticipirend.“384
Schopenhauer versucht hier offenkundig, Adaptationen zu erklären. Er betrachtet als das
hervorbringende Motiv der Entwicklung einzelner Teile eines Organismus (wie etwa
Kiefer, Zunge, Spitze, Auge, Rüssel) die Funktion dieser Teile. Die Endursache einer
solchen offensichtlichen Adaptation besteht in dem „Weshalb es ist“.385 Dabei hat
Schopenhauer im Unterschied zu Darwin einzig die Genese einzelner Organismen im Sinn,
nicht die evolutionäre Genese von biologischen Merkmalen oder Arten. Doch ähnlich wie
Darwin, aber anders als Kant, konzentriert sich Schopenhauer auf die natürlichen
Funktionen der Teile von Organismen, nicht auf den Organismus als Naturzweck, in dem
Sinn, dass die Teile das Ganze hervorbringen und zugleich das Ganze die Teile.386
Schopenhauer gelangt aber, und dies ist der entscheidende Punkt, im Ausgang von
Kants Philosophie zu einem Verständnis der natürlichen Teleologie als objektive
Schopenhauer 1988, Bd. 2: 389.
Schopenhauer 1988, Bd. 2: 388.
386 Um Organismen als Ganze verstehen zu können, greift Schopenhauer auf platonische Ideen zurück.
384
385
154
Eigenschaft von Organismen. Er entwickelt eine Auffassung der natürlichen Teleologie als
unabhängig von einem vorstellenden und Zweck setzenden transzendentalen Subjekt.
Darwin gelangt im Anschluss an Humes Kritik des Design-Arguments ebenfalls zu einem
Verständnis der natürlichen Teleologie als objektive Eigenschaft von Organismen. Er
entwickelt eine Auffassung der natürlichen Teleologie als unabhängig von einem
transzendenten, göttlichen Verstand. Sowohl Schopenhauer als auch Darwin gelangen so
zu einem Verständnis natürlicher Teleologie ohne cognitio-Bedingung.
Freilich schießt Schopenhauers Metaphysik weit über das Ziel hinaus, da ja nicht
nur organische, sondern alle natürlichen Entitäten und Prozesse Objektivationen eines
bewusstlosen Strebens nach einem Zweck sein sollen.387 So führt Schopenhauer mit der
natürlichen Teleologie wiederum eine kosmologische Teleologie ein: Alle Erscheinungen
seien Objektivation eines bewusstlos strebenden Willens. Der menschliche Intellekt
erkenne dies, sehe aber zugleich ein, dass dieses Streben nicht gestillt werden könne, was
unentwegte Entbehrung und Leid bedeute. Also sei es die Aufgabe des menschlichen
Intellekts, den Willen in sich auszulöschen. „Kein Wille: keine Vorstellung, keine Welt.“388
Für Schopenhauer war es eine Perversion des Denkens, der Welt keine „moralische
Bedeutung“ zuzugestehen.
Demgegenüber findet sich bei Darwin zwar die Tendenz, das Ganze als Ausdruck
einer Absicht zu betrachten: „[I]f we consider the whole universe, the mind refuses to look
at it as the outcome of chance“. 389 Anders als Schopenhauer bleibt er jedoch agnostisch,
wie wir schon gesehen haben: „The whole question seems to me insoluble.“390 Das hier
von Darwin angesprochene Problem einer kosmischen Teleologie ist einer der
Hauptgründe, warum Pioniere der Philosophie der Biologie auf den Teleologiebegriff
verzichteten und ihn beispielsweise durch den Begriff der „Teleonomie“ ersetzen zu
müssen glaubten.391 Ernst Mayr betrachtet teleonomische Prozesse und teleonomisches
Verhalten als Vorgänge, deren Zielgerichtetheit sich dem Einfluss eines evolvierten
Programms verdankt, wobei ein solches Programm eine Anordnung codierter oder
vorgeordneter Information ist, die einen Prozess oder ein Verhalten regelt, der bzw. das auf
ein Ziel hinsteuert. Doch wie wir gesehen haben, gibt es keinen Grund für dieses Manöver.
Gray hatte also Recht: Darwin hat der Naturwissenschaft die natürliche Teleologie
zurückgegeben, und zwar ohne cognitio-Bedingung. Es handelt sich also um ein Vorurteil,
Daher auch Schopenhauers tendenziöses Durchforsten der zeitgenössischen naturwissenschaftlichen
Literatur nach Bestätigungen seiner Lehre, vgl. Schopenhauer 1988, Bd. 3: 263ff.
388 Schopenhauer 1988, Bd. 1: 527.
389 Darwin 1959 II: 395.
390 Darwin 1959 II: 395.
391 Vgl. Ghiselin 1994; Mayr 1974, 1992: 125f.
387
155
wenn man gegen die Biosemantik und die Teleosemantik zeigen zu können meint, dass die
Evolutionsbiologie wissenschaftstheoretisch damit überfordert sei, das Kantische Als-ob
teleologischer Erklärungen hinfällig zu machen. Insofern stellen sich aus meiner Sicht
einem naturalistischen Gebrauch der Teleologie keine Hindernisse in den Weg. Aber was
genau heißt hier Naturalismus? Und inwiefern ist die Biosemantik eine naturalistische
Theorie?
156
2.2. Was der Naturalismus der Biosemantik nicht ist
Häufig wird der Naturalismus von Freund und Feind gleichermaßen unzureichend
charakterisiert, nämlich als Szientismus. Dabei wird normalerweise zwischen einem
ontologischen und einem methodologischen Naturalismus unterschieden. Der ontologische
Naturalismus ist eine These darüber, was es gibt. Nichts existiert als die Natur, nämlich die
eine, kausal geschlossene, raumzeitliche Welt.392 Diese Welt ist alles, was es gibt. Der
methodologische Naturalismus ist die These, dass jegliches zuverlässige Wissen über die
Welt sich einzig und allein durch die naturwissenschaftliche Methode finden lässt. Doch
diese Unterscheidung ist wenig befriedigend. Ein methodologischer Naturalist scheint
einfach
alles
von
der
Untersuchung
auszuschließen,
was
nicht
durch
die
naturwissenschaftliche Methode erforscht werden kann und bezeichnet das resultierende
Untersuchungsfeld als das Ganze der Natur. Was Natur ist, wird durch die Methode
definiert, und das, worauf sich die Methode legitimer Weise beziehen kann, ist Natur. Die
Unterscheidung ist also als Unterscheidung nicht viel Wert.
Doch auch die Charakterisierung des vermeintlich Unterschiedenen erscheint
merkwürdig. Ein Naturalist scheint ein Monist zu sein, für den es nur die eine Natur und
die eine Methode gibt. Es scheint mir aber keineswegs ausgemacht, dass Physik und
Biologie nicht unterschiedliche Ebenen der Realität untersuchen, die nicht aufeinander
reduzierbar sind. So wird es für das Folgende wichtig sein, dass es im Bereich der Biologie
teleologisch zu verstehende Funktionen gibt, nicht aber im Bereich der Physik. Ebenso
wenig scheint es mir ausgemacht, dass die Erklärungsarten der Physik und der Biologie von
derselben Art sind. So wird etwa die Newtonsche Mechanik von nomischen Erklärungen
strukturiert, die Darwinsche Evolutionstheorie hingegen nicht.
Darüber hinaus wird bisweilen unterstellt, dass der methodische Naturalismus die
naturwissenschaftliche Methode, was immer das sein soll, ohne Wenn und Aber akzeptiere,
und dass der ontologische Naturalismus ein bestimmtes monistisches Bild der Natur
dogmatisch akzeptiere.393 Doch warum sollte ein Naturalist sich auf die Position einlassen,
dass die Naturwissenschaften das letzte Wort haben? Naturwissenschaftliche Methoden
sind keineswegs die einzigen Wege zu zuverlässigem Wissen über die Welt. Das
naturwissenschaftliche Bild der Natur wird nicht dogmatisch vorausgesetzt, sondern
beispielsweise im Falle biologischer Adaptationen als die bessere Erklärung gegenüber
vitalistischen oder theistischen Erklärungen betrachtet.
392
393
Vgl. Armstrong 1983: 82.
Vgl. Keil und Schnädelbach 2000.
157
Dieser Umstand ist für die Frage nach dem Naturalismus und für den
darwinistischen
Rahmen
der
Biosemantik
relevant.
Manche
Textbücher
zur
Evolutionstheorie definieren eine Adaptation historisch als Merkmal „that evolved because
it improved relative reproductive performance“.394 Andere definieren Adaptationen
ahistorisch, als Merkmale „that enhance the organism’s reproductive success in its natural
environment“.395 Nun ist, sozusagen von innerhalb der Evolutionstheorie gesehen, die erste
Definition sicher die zutreffende, und sie wird auch von zahlreichen Autoren angegeben.
Doch auf der uns im Moment interessierenden Abstraktionsebene wäre es falsch, diese
Definition zu akzeptieren. Der Grund für die Bevorzugung der ahistorischen Definition
liegt darin, dass es nicht zur Definition der Adaptation gehören soll, dass sie ein natürlich
evolviertes und selektiertes Merkmal ist, sondern zur ihrer Erklärung. So werden
verständliche alternative Erklärungen zugelassen. Es geht darum, ob die Evolutionstheorie
(und mit ihr die Theorie der Echten Funktionen) in der Lage ist, offensichtliche
Anpassungen besser zu erklären als explanatorische Alternativen. Die historisch wichtigste
Alternative ist natürlich der Theismus. Betrachten wir eine offensichtliche Adaptation A
wie Maulwurfshände, Gebisse oder Flügel. Es handelt sich um offensichtliche
Adaptationen, weil unmittelbar deutlich ist, welche Funktion diese Merkmale für ihre
Träger inne haben: Mit diesen Pfoten gräbt der Maulwurf, mit diesem Gebiss zerteilt die
Hyäne Tiere, mit diesen Flügeln fliegt der Adler. Der Schluss auf die natürliche Selektion
lautet wie folgt:
(i)
F ist die Funktion der Adaptation A.
(ii)
A ist das Merkmal eines natürlichen Lebewesens.
(iii)
A ist ein komplexes Merkmal, das aus vielen Teilen besteht, wobei die Teile
zur Ausübung von F zusammenarbeiten.
(iv)
Die beste Erklärung für die Existenz von A ist die natürliche Selektion.396
Stearns und Hoekstra 2005: 519.
Ridley 2005: 468 „Adaptation is the condition of organisms being well designed for life in their
environments. Adaptation refers to all the structural, functional and behavioral characteristics that enhance
the organism’s reproductive success in its natural environment. The exact definition of an adaptation is a very
contentious issue in evolutionary biology.“
396 Vgl. Darwin 1968: 217: „To suppose that the eye with all its inimitable contrivances for adjusting the focus
to different distances, for admitting different amounts of light, and for the correction of spherical and
chromatic aberration, could have been formed by natural selection, seems, I freely confess, absurd in the
highest degree. When it was first said that the sun stood still and the world turned round, the common sense
of mankind declared the doctrine false; but the old saying of Vox populi, vox Dei, as every philosopher
knows, cannot be trusted in science. Reason tells me, that if numerous gradations from a simple and
imperfect eye to one complex and perfect can be shown to exist, each grade being useful to its possessor, as
is certainly the case; if further, the eye ever varies and the variations be inherited, as is likewise certainly the
case; and if such variations should be useful to any animal under changing conditions of life, then the
difficulty of believing that a perfect and complex eye could be formed by natural selection, though
insuperable by our imagination, can hardly be considered real.“
394
395
158
Anders formuliert: Gewisse Merkmale sind trägerreproduzierbare Systeme mit
koadaptierter organisierter Komplexität (SKOK). Diese Systeme sind trägerreproduzierbar,
weil deren Träger Nachkommen mit SKOK erzeugen können, sie sind koadaptiert, weil sie
mit anderen Merkmalen zusammen an einem Träger vorkommen, die gleichfalls
Anpassungsleistungen sind, die Komplexität ist eine organisierte, weil heterogene Teile auf
eine Weise interagieren, die in einer Gesamtaktivität des SKOK resultiert. Die beste
Erklärung für die Existenz von SKOK ist adaptationistisch, d.h. sie sind das Ergebnis der
natürlichen Selektion. Die natürliche Selektion ist der methodisch wichtigste Faktor für die
Erklärung der Existenz komplexer und organisierter Merkmale wie A. In diesem Sinne ist
die Evolutionstheorie adaptationistisch.397
Der Naturalismus wird als metaphysische Position oft genug als dogmatischer
Monismus verstanden, der besagt, dass allein die durch die Naturwissenschaften
erforschbare materielle Welt (aktual) existiere. Doch eine solche metaphysische These lässt
sich durch eine bloße Kontinuität mit Methoden und Ergebnissen natürlich nicht
begründen. Im Hinblick auf die ahistorisch definierte Adaptation wird jedoch deutlich, dass
es keineswegs ausgemacht ist, dass als Erklärungsgrundlage für den Naturalisten von
vornherein nur Bestandteile der materiellen Welt in Frage kommen. Die theistische
Alternative ist eine genuine Alternative, die auf nicht-materielle Ursachen Bezug nimmt
und die argumentativ zurückgewiesen werden muss und kann. Vorausgesetzt wird allein
der gemeinsame Bezug auf bestimmte Schlussformen, wie etwa den Schluss auf die beste
Erklärung, oder rationale Prinzipien der Überzeugungsbildung, wie etwa Humes
Evidenzprinzip, demzufolge der Weise „proportions his belief to the evidence“.398
Das bislang Gesagte kann man in dem Slogan zusammenfassen, dass der Naturalismus kein
Szientismus zu sein braucht. Doch ebenso häufig wird der Naturalismus von Freund und
397 Dies bedeutet nicht, dass jedes Merkmal eines Lebewesens eine eigenständige adaptationistische Erklärung
haben muss, oder dass die Gestalt eines Merkmals perfekt auf ihre Funktion hin zugeschnitten ist, oder dass
in der Modellierung, Vorhersage und Erklärung und der Entstehung dieser Merkmale die natürliche Auslese
der einzige explanatorisch relevante Faktor ist. Godfrey-Smith 2001: 336 nennt dies „explanatorischen
Adaptationismus“: „The apparent design of organisms, and the relations of adaptedness between organisms
and their environments, are the big questions, the amazing facts in biology. Explaining these phenomena is
the core intellectual mission of evolutionary theory. Natural selection is the key to solving these problems selection is the big answer. Because it answers the biggest questions, selection has unique explanatory
importance among evolutionary factors.“
398 Hume, Enquiry concerning Human Understanding 10.1.4. Wir haben bereits in der Diskussion von Sellars
gesehen, dass die Naturwissenschaften als eine methodisch reflektierte und verbesserte Fassung der
Problemlösungskapazitäten intelligenter Bewohner des manifesten Weltbilds betrachtet werden können (vgl.
1.2.6.). Somit kommt naturwissenschaftlichen Methoden ein Vorrang im Hinblick auf ontologische
Auskünfte zu, nicht aber den Naturwissenschaften als solchen. Sellars drückt diesen Vorrang in seiner
Variation des Homo-mensura-Satzes aus, dem zufolge gilt „that in the dimension of describing and explaining
the world, science is the measure of all things, of what is that it is, and of what is not that it is not“. (Sellars
1963: 173, bzw. 1997: 83)
159
Feind unzureichend als Reduktionismus oder Physikalismus charakterisiert. In der
Philosophie des Geistes etwa tragen viele Bücher Titel oder Untertitel der folgenden Art:
„The Mind and its Place in Nature“, „Reasons in a World of Causes“, „Mentales Leben
und materielle Welt“, „Intentionality in a Non-Intentional World“ oder „Mind in a Physical
World“.399 Die Form dieses Musters lautet: „X in der natürlichen Welt“, wobei die
natürliche die von den Naturwissenschaften beschriebene Welt meint. Die Stelle von „X“
können Objekte wie Rationalität, Intentionalität, Bewusstsein, Modalität, Wert usw.
einnehmen.400
Solche
naturalistischen
Projekte
versuchen,
bestimmte
Lokalisierungsprobleme zu lösen, sie versuchen, bestimmte Entitäten (wie Werte),
Eigenschaften (wie Intentionalität) oder Prozesse (wie Handlungen) in einer Welt der
Ursachen und Naturgesetze zu lokalisieren.
Man
kann
diese
Lokalisierung
reduktionistisch
verstehen.
Wie
können
beispielsweise intentionale Phänomene auf materielle, physische, kausale oder nomische
Phänomene reduziert werden? Unter der Naturalisierung der Intentionalität kann man sich
dann etwa ein reduktionistisches Programm vorstellen, das intentionale Ausdrücke (wie
„meinen“, „bedeuten“, „bezeichnen“) mithilfe von Ausdrücken analysiert, die selbst nichtintentional, nicht-semantisch, nicht-teleologisch, sondern Bestandteil der Sprache der
Physik sind. Doch die Sprache welcher Physik? Zunächst scheinen solche Theorien einfach
Die Titel und Untertitel stammen von Broad 1923; Dretske 1988; Heckmann 1994; Jacob 1997; Kim 1998.
Es wurde auch gesagt, dass diese philosophischen Projekte einen „Objekt-Naturalismus“ vertreten, von
dem ein Subjekt-Naturalismus unterschieden werden kann. (Die Terminologie stammt von Price 2004.) Der
O-Naturalisms ist eine ontologische These, der zufolge alles, was existiert, einzig durch die
Naturwissenschaften entdeckt wird. Der S-Naturalismus ist eher eine Anleitung zum Philosophieren. Er
beruht auf der Ansicht, dass das Denken und Sprechen von Menschen, wie es die Naturwissenschaften
beschreiben, Teil der natürlichen Welt sind. Price zufolge ist der O-Naturalist ein Repräsentationalist, Realist,
Kognitivist, der S-Naturalist hingegen ein Projektionist, Anti-Realist, Anti-Kognitivist. Price argumentiert,
dass der S-Naturalismus Vorrang habe, weil der O-Naturalismus aus der Perspektive des S-Naturalismus
akkreditiert werden müsse. Er bezweifelt aber, dass eine solche Akkreditierung erfolgreich sein könne, weil
die Einsicht in das Denken und Sprechen von Menschen als natürlichen Wesen den philosophischen AntiRepräsentationalismus fordere und damit den O-Naturalismus obsolet mache. Ich halte die Unterscheidung
für verworren und das Argument nicht für schlüssig. Die Unterscheidung ist lediglich eine Auflage der
unklaren Unterscheidung zwischen methodologischem und ontologischem Naturalismus. Dem SNaturalismus zufolge sollte die Philosophie sich nicht daran orientieren, was die Naturwissenschaften über
die natürliche Welt sagen, sondern daran, was die Naturwissenschaften (und die Sozialwissenschaften) über
die Natur des Menschen sagen. Die Projekte des S-Naturalismus gehen also vom Menschen als natürlichem
Lebewesen aus und fragen, welcher Ort bestimmten Objekten in Abhängigkeit von der menschlichen Natur
zukommt. Aber man kann hinsichtlich der menschlichen Natur ebenso gut Repräsentationalist wie
Projektionist sein. Humes Treatise on Human Nature oder Nietzsches Genealogie der Moral sind Versuche eines SNaturalismus. Hume und Nietzsche sind S-Naturalisten der nicht-kognitivistischen oder projektionistischen
Sorte. Ihnen zufolge sind Menschen projizierende Wesen. Sie projizieren aus subjektiver Gewohnheit kausale
Notwendigkeit in externe Ereignisse, oder sie projizieren auf Naturvorgänge aus Ressentiment moralische
Werte. Es gibt allerdings auch Projekte des S-Naturalismus, die kognitivistisch und realistisch sind. Anders als
etwa Hume und Nietzsche vertritt die darwinistische Biosemantik Millikans einen intentionalen Realismus
und die aristotelische Tugendethik Foots, die in Kapitel 3 mit der Biosemantik zusammengeführt werden soll,
einen moralischen Realismus. Im zweiten Fall gibt es keinen schlüssigen Weg vom S-Naturalismus zu einer
Ablehnung des O-Naturalismus. Darüber hinaus muss in beiden Versionen eines S-Naturalismus die Frage
offen bleiben, ob und wie die Natur des Menschen in der natürlichen Welt zu lokalisieren ist und ob und wie
diese Lokalisierung in reduktionistischer Manier vorzunehmen ist.
399
400
160
Formulierungsprobleme zu haben. Dies gilt insbesondere für die These, dass eine
vollständige physikalische Beschreibung der Welt ipso facto eine vollständige Beschreibung
der Welt sei. Welche Beschreibung ist gemeint? Sollte es sich um die Physik von 1890 oder
von 2009 handeln, so dürfen wir zuversichtlich sagen, dass die These falsch ist. Sollte es
sich um eine zukünftige oder ideale vollständige Physik handeln? Was wäre eine solche
vollständige Physik? Antwort: eine vollständige Beschreibung der Welt. Dann ist die These
nichtssagend: Denn wenn die vollständige Beschreibung der Welt zugleich die ideale
vollständige Physik ist, dann handelt es sich bei der These um keine These, sondern um
eine Wahrheit per definitionem. Und selbst wenn man die These umformuliert und sagt, dass
eine vollständige Beschreibung der Welt allein mithilfe physikalischer Eigenschaften,
Einzeldingen oder Relationen erreicht werden kann, stellt sich nach wie vor dasselbe
Problem.
Doch vielleicht gibt es eine andere Möglichkeit, den Physikalismus zu bestimmen.
Umgehen wir doch einfach das Problem, wie wir die Physik als gegenwärtige oder ideale
bestimmen könnten, indem wir physikalische Einzeldinge, Eigenschaften und Relationen
ostentativ definieren. Wir können auf eine besonders paradigmatische Eigenschaft (x ist
Wasser), seine Reduktion (x ist H2O) und ein damit verbundenes Naturgesetz hinweisen,
und sagen, dass wir dergleichen mit physikalischer Basis meinen. Der Physikalismus besagt,
dass unsere Welt ausschließlich eine physische Welt mit Eigenschaften, Gesetzen usw. in
diesem eben ausgewiesenen Sinne ist. Eine mögliche Welt, die ein minimaler (d.h.
bestehend nur aus Eigenschaften, Gesetzen usw. in diesem Sinne) physischer
Doppelgänger unserer Welt ist, ist ein Doppelgänger unserer Welt tout court. Oder wie
Frank Jackson es formuliert: „Any world, which is a minimal physical duplicate of our world
is a duplicate simpliciter of our world.“401 Die Doppelgängerwelt ist also ein Duplikat unserer
Welt, Eigenschaft um Eigenschaft, Relation um Relation, Einzelding um Einzelding, und
sie enthält nichts darüber hinaus. Dann ist sie ein vollständiges Duplikat unserer Welt,
nichts fehlt (weder Farben, noch Gefühle, Gedanken, Gesetze oder Gedichte). Es fehlen in
ihr keine mentalen Zustände der in ihr lebenden Wesen.
Nehmen wir Jacksons Version, und nennen wir sie „Minimalistischen
Physikalismus“ (MINPH). Aus der Wahrheit von MINPH folgte, dass ein instantan
entstandener minimaler physischer Doppelgänger unserer Welt ein vollständiges Duplikat
unserer aktuellen Welt wäre.402 Doch dann könnte die Teleosemantik keine Version von
Jackson 1998: 12.
Diese von Jackson vorgeschlagene Version des Physikalismus ist relativ schwach. Sie bezieht sich nur auf
Welten, die hinsichtlich ihrer physischen Beschaffenheit exakte Duplikate unserer Welt sind. Eine stärkere
Version würde besagen, dass in einer möglichen Welt mit denselben Naturgesetzen und denselben physischen
401
402
161
MINPH sein, denn ein instantanes Duplikat unserer Welt wäre der Teleosemantik zufolge
eine Welt ohne Echte Funktionen und folglich ohne mentale Zustände. Denn eine
Instantwelt ist eine Welt ohne Vergangenheit und eine Welt ohne Vergangenheit ist der
Teleosemantik zufolge eine Welt ohne Echte Funktionen. Echte Funktionen haben
essenziell eine Vorgeschichte. Jackson qualifiziert die Doppelgängerwelt genauer wie folgt:
„Thus a minimal physical duplicate of our world is a world that (a) is exactly like
our world in every physical respect (instantiated property for instantiated property,
law for law, relation for relation), and (b) contains nothing else in the sense of
nothing more than kinds or particulars that it must to satisfy (a).“403
Wie steht es angesichts der Klausel (b) mit Echten Funktionen? Echte Funktionen sind
Eigenschaften, die beispielsweise durch biologische Strukturen instantiiert werden, aber als
Produkte der Natürlichen Selektion wesentlich historisch sind. Das bedeutet, eine
biologische Struktur kann eine Echte Funktion nicht instantiieren, ohne Mitglied einer
historischen REF zu sein. Wenn Token mit Echten Funktionen physische Instanzen
physischer Eigenschaften sind, dann müssen (der Teleosemantik zufolge) diese Instanzen
eine Geschichte haben. Nach wie vor könnte eine Instantwelt keine essenziell historischen
Entitäten enthalten. Daraus folgt für MINPH entweder, dass Echte Funktionen keine
physischen Entitäten sind oder dass eine instantane Doppelgängerwelt nicht möglich ist.
Im ersten Falle wäre die Teleosemantik keine Version von MINPH. Daraus würde
allerdings nicht folgen, dass der Teleosemantik keine Naturalisierung des Mentalen gelingen
könnte, sondern lediglich, dass diese Naturalisierung keine physikalistische im Sinne von
MINPH wäre. Den zweiten Fall können wir kaum zulassen. Es ist nicht einzusehen, warum
eine instantane Doppelgängerwelt nicht möglich sein soll. Nur würden in ihr keine Wesen
mit Echten Funktionen existieren. Folglich handelte es sich um eine Welt aus sogenannten
Sumpfmenschen, Sumpfkühen, Sumpffröschen404 usw.405
Zutaten wie in unserer aktuellen Welt, aber mit einer vollkommen anderen Verteilung der physischen
Zutaten, für alles gesorgt wäre. Eine solche Welt wäre hinsichtlich der Natur mentaler Zustände nicht von
unserer verschieden und in diesem Sinne ihr Duplikat.
403 Jackson 1998: 13.
404 Ich werde auf diese seltsamen Wesen in Kapitel 4 ausführlich zu sprechen kommen.
405 Wie wäre es, eine historische Komponente in MINPH einzuschließen? „Any world, which is a minimal
physical and natural historical duplicate of our world is a duplicate simpliciter of our world.“ Das bedeutet aber,
dass die Teleosemantik im Sinne von MIMPH eine physikalistische Theorie nur dann ist, wenn MIMPH
mithilfe naturgeschichtlicher Doppelgängerwelten formuliert wird, und die Produkte der Evolution, und zwar
als Lebewesen, vollständig unter physikalische Naturgesetze fallen. Darüber hinaus kann man die
Menschheitsgeschichte zwar kaum ohne Weiteres mit der Naturgeschichte identifizieren, aber dennoch darf
man wohl sagen, dass es keine nicht-willkürliche Möglichkeit gibt, die Natur- und die Menschheitsgeschichte
auseinanderzuhalten. Wenn diese Möglichkeit nicht zur Verfügung steht, muss eine minimale physikalische
Doppelgängerwelt ein weitaus reichhaltigeres Duplikat unserer Welt sein als MINPH fordert, denn sie muss
ein natur- und (teilweise) menschheitsgeschichtliches Duplikat sein. Ein solches Duplikat weist jedoch weit
über MINPH hinaus, denn es ist nicht klar, ob in einer solchen Welt alle relevanten Eigenschaften der
Lebewesen, die sich in ihr entwickelt haben, durch physikalische Eigenschaften, Relationen und Gesetze
162
Doch abgesehen von dem Problem, formulieren zu können, was man unter der
Physik des Physikalismus verstehen soll, sehen sich reduktionistische Lösungen von
Lokalisierungsproblemen in der Philosophie des Geistes einer Reihe mittlerweile gut
bekannter Einwände ausgesetzt: Erstens sei das Mentale multipel realisierbar, zweitens sei
es anomal, drittens sei es normativ. Die Teleosemantik ist eine Form des philosophischen
Naturalismus, die auf biologische Funktionen zurückgreift, um das Mentale in der
natürlichen Welt zu lokalisieren. Biologische Funktionen werden hier als Adaptationen
aufgefasst und mit der Evolution durch Natürliche Selektion erklärt. Der Begriff der
biologischen Funktion ist wie geschaffen, um auf die drei genannten Einwände zu
reagieren. Erstens sind biologische Funktionen multipel realisierbar. Die vielfältigen
Fortpflanzungsorgane im Tierreich haben alle die Funktion, die Art zu reproduzieren, doch
die physikalische Struktur dieser Organe unterscheidet sich in hohem Maße. Zweitens sind
biologische Funktionen anomisch oder anomal, sie sind keinen Naturgesetzen unterworfen.
Ja, es kann argumentiert werden, dass es in der Evolutionstheorie keine Naturgesetze gibt.
Drittens haben Funktionen eine normative Natur. Es ist die Funktion eines Küchenmessers
zu schneiden, auch wenn es stumpf ist; es ist die Funktion der Niere, Blut zu reinigen, auch
wenn sie defekt ist; es ist die Funktion der Gorillahand Objekte zu greifen und zu
manipulieren, auch wenn sie verkrüppelt ist. Dies sind Dinge, die Küchenmesser, Nieren
und Gorillahände für ihre Inhaber tun sollten.
Auch wenn dies alles zutrifft, sollten wir die Biosemantik deshalb als einen nichtreduktionistischen Physikalismus auffassen? Ich glaube nicht. Denn der nichtreduktionistische Physikalismus ist ein Physikalismus, der nicht mehr weiß, was er will.
Dies will ich im Folgenden zeigen.406 Ursprünglich war Physikalismus reduktionistischer
Physikalismus. Die Motivation für den reduktionistischen Physikalismus besteht im
Problem der mentalen Verursachung. Unsere Gedanken verursachen bestimmte
Handlungen. Karl möchte nach dem Milchglas greifen und glaubt, dass vor ihm eines steht,
also greift er nach ihm. Der Griff nach dem Glas ist ein physisches Ereignis, das durch
Karls geistige Zustände verursacht wird. Die Motivation besteht genauer darin, erklären zu
wollen, wie mentale Verursachung in einer ganz und gar materiellen Welt möglich sein soll.
Die Physik erklärt, was zur materiellen Welt gehört, daher der Name „Physikalismus“.
Ein mögliches Argument in diese Richtung – wobei es im Moment keine Rolle
spielt, ob wir uns auf Token oder auf Typen geistiger Ursachen beziehen – lautet wie folgt:
Man geht davon aus, dass eine bestimmte physische Wirkung W (Karls Griff zum
erfasst werden können (vgl. 1.3.3). Es bleibt unklar, warum wir dann im Hinblick auf die Teleosemantik
überhaupt noch von einem „Physikalismus“ sprechen sollten.
406 Hierbei stütze ich mich auf die Überlegungen von Crane 2007: IV.
163
Milchglas) eine bestimmte geistige Ursache GU hat (Karls Wunsch nach Milch plus seine
Überzeugung, dass vor ihm ein Milchglas steht). Weiter nimmt man an, dass alle
physischen Wirkungen nur physische Ursachen haben. Daraus folgt, dass W eine
ausschließlich physische Ursache (Einzelursache oder Ursachentyp) haben muss. Nennen
wir sie PU. Nun verursachen entweder GU und PU unabhängig voneinander W oder GU
ist mit PU identisch. Träfe ersteres zu, dann wäre W überdeterminiert, d.h. W hätte mehr
als eine vollständige Ursache. Da es aber keine Überdeterminierung gibt, sind GU und PU
identisch. Das bedeutet, dass geistige und physische Ursachen Ursachen gleicher Art sind.
Es gibt nicht mehrere Arten von Ursachen, sondern nur Wirkursachen. Der
reduktionistische Physikalismus (sowohl der Typ- als auch der Token-Identität) trifft also
mindestens die folgenden Annahmen:
(1) Es gibt eine geistige Verursachung.
(2) Die Abgeschlossenheit der Physik trifft zu.
(3) Es gibt keine Überdeterminierung.
(4) Geistige und physische Verursachung sind homogen.
Die reduktionistische Variante ist, wie gesagt, unter schweren Beschuss geraten. Ebenso die
häufig, aber nicht immer, damit verbundene Typenidentität. Heute vertreten Physikalisten
deshalb eine Art des nicht-reduktiven Physikalismus, der Token-Identität mit
Funktionalismus verbindet. Dieser Position zufolge ist ein mentaler Zustand ein
funktionaler Zustand, der nicht als Typ mit einem physischen Zustand identisch ist,
sondern auf einer physischen Grundlage superveniert. Welche der oben genannten
Annahmen möchte der Nicht-Reduktionist aber fallen lassen? Er kann (1) nicht fallen
lassen, weil sonst die Motivation für den Physikalismus, die darin bestand, das Problem der
mentalen Verursachung zu lösen, verschwinden würde. Und wir hätten dann keinen Grund
mehr dafür, das Mentale in der physischen Welt lokalisieren zu wollen. Die Annahmen (2)
und (3) wird der Physikalist ebenfalls nicht fallen lassen wollen, denn sie charakterisieren ja
den Physikalismus als Position, die mit der Existenz der mentalen Verursachung in
Übereinstimmung gebracht werden soll. Lässt man diese Annahmen fallen, fällt auch die
andere Seite der Motivation dafür, das Mentale in der physischen Welt lokalisieren zu
wollen. Bleibt somit nur (4). Doch wenn der Nicht-Reduktionist (4) zurückweist, dann
164
akzeptiert er ipso facto Folgendes: Es gibt einerseits physische Ursachen und es gibt
andererseits eine andere Art von Ursachen.407
Werden (2) und (3) aber beibehalten, dann sind diese zur gewöhnlichen physischen
Verursachung hinzukommenden und die geistigen Ursachen charakterisierenden
Ursachentypen von anderer Art. Wirkt ein geistiger Zustand im Sinne dieses zusätzlichen
kausalen Ursachentyps kausal auf Handlungen ein? Falls nein, dann lässt man die mentale
Verursachung fallen und die Motivation für den Physikalismus verschwindet.408 Falls ja,
dann lässt man Annahme (2) fallen, die kausale Abgeschlossenheit des Physischen. Falls der
mentale Ursachentyp im Verbund mit dem physischen Ursachentyp wirkt, fällt mit der
Verneinung der kausalen Überdeterminierung die Annahme (3). In beiden Fällen
verschwinden also Merkmale, die den Physikalismus definieren. Wiederum stellt sich die
Frage: Warum sollte man den Nicht-Reduktionismus also überhaupt noch einen
„Physikalismus“ nennen? Ich sehe kein Motiv dafür. Aus den genannten Gründen sollten
wir den Naturalismus der Biosemantik also nicht als einen Fall von Szientismus oder
Physikalismus auffassen.
So unterscheidet etwa Dretske 1988 zwischen „strukturierenden“ Ursachen und „auslösenden“ Ursachen,
Jackson und Pettit 1988 unterscheiden zwischen „Programmerklärungen“ und „Prozesserklärungen“, bei
Kim 1998 finden wir eine ausgefeilte „superveniente Verursachung“, die er von physikalischer Verursachung
unterscheidet.
408 Tatsächlich scheint etwa den Theorien von Dretske und Kim eine Tendenz zum Epiphänomenalismus
inne zu wohnen.
407
165
2.3. Vereinheitlichung und Biologischer Naturalismus
Auf einer sehr allgemeinen Ebene kann man den Naturalismus weniger als philosophisches
System, denn als den Versuch der philosophischen Anerkennung der beeindruckenden
Leistungen und Auswirkungen von Wissenschaften wie Physik oder Biologie betrachten.
Ein Naturalist hat ganz einfach Respekt vor den Folgerungen der Naturwissenschaften.
Dieser Respekt kulminiert (zusammen mit der Kritik nicht-naturalistischer Methoden in
der Philosophie) in der Forderung, dass die Philosophie und die Naturwissenschaften ein
Kontinuum bilden sollten. Doch wenn diese vage Charakterisierung das Merkmal des
Naturalismus sein soll, „dann ist es schwer zu sehen, wie man heute kein Naturalist sein
sollte. Haben wir diesen Respekt nicht alle? Glaubt nicht jeder von uns, die wir in einer
wissenschaftsgetränkten Kultur leben, dass alles in der Welt mit rechten Dingen zugeht?“409
Nun, das hängt davon ab, wen man in dieses Wir einschließt oder mit wem man gerade
spricht. Obschon die Charakterisierung vage und beinahe nichtssagend bleibt, ist die
angedeutete Position weder selbstverständlich noch trivial. Barry Stroud hat 1996 in seiner
„Presidential Address“ gesagt, mit dem Begriff des Naturalismus stehe es wie mit dem
Begriff des Weltfriedens: Alle seien irgendwie dafür, aber niemand wisse so richtig, um was
es sich dabei handle. Strouds Text wurde acht Jahre später in eine Sammlung von Texten
aufgenommen, die sich kritisch mit dem Naturalismus auseinandersetzt.410 In dieser relativ
kurzen Zeitspanne zwischen 1996 und 2004 hat sich nicht nur der Optimismus hinsichtlich
des Weltfriedens verringert, es ist auch keineswegs so, dass alle irgendwie dafür sind, ganz
im Gegenteil. Vor allem sollte derjenige, der für den Weltfrieden ist, etwas darüber sagen
können, wie er zu erreichen wäre. Ebenso muss derjenige, der für den Naturalismus
eintritt, etwas dazu sagen können, in welchem Sinne Philosophie und Naturwissenschaft
kontinuierlich sein können.
Genau
das
möchte
ich
in
diesem
Abschnitt
tun.
Philosophie
und
Naturwissenschaften streben beide, so möchte ich darlegen, nach einer bestimmten Art der
Vereinheitlichung. In ihrer Kraft zur Vereinheitlichung liegt ja, wie eingangs gesagt, die
Attraktivität der Biosemantik als philosophische Theorie. Ich werde also im Folgenden
zuerst eine Vorstellung davon ausarbeiten, in welchem Sinne die Philosophie nach
Vereinheitlichung strebt. Diese Vorstellung möchte ich eher dogmatisch entwickeln als
argumentativ untermauern. Ich hoffe, dass sie dennoch eine gewisse Plausibilität
beanspruchen kann. Anschließend werde ich an die Vereinheitlichung als Modus
409
410
Keil und Schnädelbach 2000: 9.
Stroud 2004.
166
naturwissenschaftlichen Erklärens erinnern und dabei einen besonderen und besonders
attraktiven Fall einer Vereinheitlichung hervorheben, der für die Biosemantik unmittelbar
relevant ist, nämlich Darwins Theorie der natürlichen Selektion.
Philosophische Arbeit ist nicht nur deshalb anspruchsvoll, weil es um „tiefe“ und „hohe“
Dinge geht, sondern v.a. auch deshalb, weil jeder philosophische Gedankengang
gleichzeitig dreierlei zu berücksichtigen hat: Er muss in hohem Maße reflexiv, analytisch
und systematisch sein, er muss Selbstbesinnung, Trennschärfe und Vereinheitlichung
verbinden. Philosophische Arbeiten verbinden im Idealfall die drei genannten Momente
und vermögen sie im Gleichgewicht zu halten. Üblicherweise erhält jedoch ein Moment das
Übergewicht. Exzessives Übergewicht eines dieser Momente kann zu den bekannten
Lastern der philosophischen Arbeit führen.411 Eine Haupttugend philosophischer Arbeit
besteht im Vermeiden dieser Exzesse, und die Exzesse werden durch das Bemühen um ein
Gleichgewicht zwischen den drei Momenten vermieden. Analyse, Vereinheitlichung und
Reflexion haben nicht nur eine synchrone Seite, sondern auch eine diachrone oder
historische Seite. Philosophische Projekte stehen in einer Beziehung zur Geschichte der
Philosophie,
weil
philosophische
Probleme
und
Vokabulare
durch
die
Philosophiegeschichte strukturiert sind. Auch der abwehrende Gestus kommt noch von
diesem Hintergrund her. Er besagt, dass in der Philosophie bislang alles falsch, auf dem
Holzweg, methodisch unzureichend war. Auch der Bezug auf die jüngste philosophische
Vergangenheit kommt ohne eine weiter entfernte Vergangenheit nicht aus, weil jede
jüngste Vergangenheit sich ja wieder auf ihre jüngste Vergangenheit bezieht.
Auch hier gibt es die bekannten Exzesse. Wer nur auf der synchronen Seite lebt,
erfindet Räder neu, wer nur auf der diachronen Seite arbeitet, löst keine philosophischen
Probleme. Der Bezug auf die Geschichte der Philosophie ermöglicht ein adäquates
Verständnis der Entstehung bestimmter Problemstellungen und der Entwicklung
bestimmter Denk- und Redeweisen. Wichtiger noch, er leistet einen positiven Beitrag zum
Bemühen um ein angemessenes Bild unserer selbst. Schließlich erlaubt eine ernsthafte und
auf oberflächliche Aktualisierungen verzichtende Beschäftigung mit historischen
(insbesondere klassischen) Autoren die Wahrnehmung übersehener oder vergessener
Denkmöglichkeiten. Philosophie ohne Geschichte ist blind, Geschichte ohne Philosophie
ist leer.
411 Der Exzess der Analyse produziert Technokraten, der Exzess der Vereinheitlichung Schwadroneure, und
der Exzess an Reflexion erzeugt Zweifler.
167
Der Bezug auf die Philosophiegeschichte kann überwiegend analytisch sein, etwa
indem man sich auf ein bestimmtes historisches Lehrstück als Vorbild oder Schreckbild
bezieht; er kann reflexiv sein, indem man sich in eine bestimme Tradition stellt; und er
kann vereinheitlichend sein, und zwar durch ein Verständnis der Philosophiegeschichte
insgesamt oder bestimmter Epochen derselben und eine entsprechende vereinheitlichende
Erzählung dazu. Auch auf der diachronen Seite drohen dieselben Exzesse im Übergewicht
eines Moments wie auf der synchronen Seite. Deshalb müssen sowohl die synchrone als
auch die diachrone Seite der drei Momente idealiter ebenso in einem Gleichgewicht gehalten
werden wie diese Momente selbst.
An dieser Stelle kann man daran erinnern, dass gerade die Aufgabe, alle diese
Elemente im Gleichgewicht zu halten (wenn man denn diese Forderung akzeptiert) dazu
führt, dass einem Moment eine besondere Bedeutung zukommt, nämlich dem Moment der
Vereinheitlichung. Vereinheitlichung ist nicht nur eine Forderung in der philosophischen
Arbeit, sondern auch die Forderung der philosophischen Arbeit insgesamt. Sie schließt die
Vereinheitlichung in der Arbeit mit ein, sodass es sich um eine Vereinheitlichung auf
höherer Stufe handelt.412 Der Gedanke, dass Vereinheitlichung das wichtigste Moment der
philosophischen Arbeit ist, wurde häufig durch die Forderung ausgedrückt, dass die
Philosophie systematisch zu sein habe. Es ist keineswegs so, dass der systematische
Anspruch der Philosophie im 20. Jahrhundert einfach ad acta gelegt worden wäre.413
Auch die Tradition, in die ich die Biosemantik gestellt habe, erhebt diesen
Anspruch in einem bestimmten Sinne. Sellars zufolge ist es „the ‘eye on the whole’ which
distinguishes the philosophical enterprise“.414 Dieser Forderung nach einem Blick aufs
Ganze (statt einem Blick von Nirgendwo) fügt Sellars hinzu: „Otherwise, there is little to
distinguish the philosopher from the persistently reflective specialist.“415 Dennoch ist der
Philosoph letztlich kein Spezialist, sondern ein reflektierter Generalist. In diesem Sinne ist
Sellars’ oft zitierte Charakterisierung zu verstehen: „The aim of philosophy, abstractly
formulated, is to understand how things in the broadest possible sense of the term hang
412 Dem könnte man entgegenhalten, dass die Forderung nach einem Gleichgewicht auch in Analogie zur
Forderung nach einem reflektierten Gleichgewicht zu verstehen sei, und somit die Reflexion im Vordergrund
stehe. In einem engen Sinne bemüht sich die Methode des reflektierten Gleichgewichts auf die Untersuchung
aller Seiten eines bestimmten Falles, im weiten Sinne hingegen wird die Ansicht über einen bestimmten Fall
gegenüber kontrastierenden Ansichten verteidigt. Das Ziel ist beide Male die Herstellung eines kohärenten
Systems von Überzeugungen, die sich gegenseitig stützen. Im weiten Sinn soll sich die Kohärenz des eigenen
Systems als größer erweisen als jene konkurrierender Systeme. Abgesehen davon, dass die Vereinheitlichung
(im Sinne der Bildung von Kohärenz) hierbei die ganze Last trägt und nicht die Reflexion, bin ich nicht der
Ansicht, dass Kohärenz allein für Wahrheit ausreichend ist.
413 Ein Beispiel für diesen Anspruch ist das Werk von Nicolai Hartmann.
414 Sellars 1963: 3, Sellars 2007: 371.
415 Sellars 1963: 3, Sellars 2007: 371.
168
together in the broadest possible sense of the term.“416 Was aber ist das Ziel dieses Blicks
aufs Ganze? Es besteht darin, die Spannung zwischen unserem existenziellen
Selbstverständnis (dem manifesten Weltbild) und einem explanatorischen Weltverständnis
(dem naturwissenschaftlichen Weltbild) aufzulösen und ein „stereoskopisches“ oder
„synoptisches“ Bild davon zu entwerfen, auf welche Weise wir Teil einer solchen Welt
sind. Sellars Integration beider Bilder ist Ausdruck eines systematischen Strebens, das
Philosophie als Vereinheitlichung versteht. Wenn man die hier suggerierte Idee, dass die
philosophische Arbeit ganz wesentlich Vereinheitlichung sei, akzeptiert, eröffnet sich ein
Weg, die methodische und thematische Kontinuität zwischen Philosophie und
Naturwissenschaft, die für alle Spielarten des Naturalismus so zentral ist, auf eine neue
Weise zu fassen. Als Vereinheitlichung ist nämlich auch jene Form der Erklärung gesehen
worden, die die wissenschaftliche Erklärung auszeichnen soll.
Im Folgenden will ich daran erinnern, dass Vereinheitlichungen eine erklärende
Kraft haben können. Ich will diesen Vorschlag jedoch auf die Biologie (genauer: auf die
Evolutionsbiologie) beschränken. Anschließend will ich zeigen, dass das Verfahren der
Theoriekonstruktion, wie Millikans Biosemantik es einsetzt (1.1.6.), eine Methode zur
Vereinheitlichung ist. Beides ist für die Gesamtstrategie dieser Studie wichtig, denn in ihrer
Kraft zur Vereinheitlichung liegt die Attraktivität der Biosemantik als philosophische
Theorie. Der Bezug der Vereinheitlichung auf die Evolutionsbiologie wird es mir zudem
erlauben, den Sinn der Bezeichnung „Biologischer Naturalismus“ zu erläutern und diesen
als Ausprägung des normativen Naturalismus zu verstehen.
In
der
zeitgenössischen
philosophischen
Erkenntnistheorie
werden
zwei
unterschiedliche Projekte verfolgt, die einander bisweilen gegenübergestellt werden, aber
zusammengehören. Das erste Projekt bemüht sich um ein Verständnis unseres Begriffs von
Wissen und versucht diesen kognitiven Zustand von anderen kognitiven Zuständen zu
unterscheiden. Dieses Projekt befasst sich mit der Struktur des Wissens, wobei der
Zurückweisung des Skeptikers eine wichtige Rolle zukommt. Das zweite Projekt ist
umfassender. Es beschreibt und prüft epistemische Praktiken des Untersuchens und
Forschens, der Überzeugungsbildung und des Überlegens. Das Wissen ist nicht das
zentrale Thema. Während das erste Projekt sich auf kognitive Zustände konzentriert, befasst
sich das zweite Projekt mit epistemischen Tätigkeiten. Es ist umfassender, weil es epistemische
Akteure und Praktiken einbezieht. Dabei kommen nicht nur Überzeugungen, sondern auch
andere geistige Zustände (wie Gefühle), nicht nur die Berechtigung, sondern auch andere
epistemische Normen (wie die Durchführung einer Untersuchung), nicht nur geistige
416
Sellars 1963: 1, Sellars 2007: 369.
169
Zustände, sondern auch vortreffliche Charakterzüge (wie etwa Neugierde oder
Aufgeschlossenheit) in den Blick. Sogar das primäre epistemische Ziel des ersten Projekts,
die Wahrheit, erhält Konkurrenz. Epistemische Akteure und Praktiken zielen auf
kognitiven Erfolg. Darin besteht ihre Funktion. Über Wahrheit hinaus existieren weitere
mehr oder weniger würdige Erfolgsziele, wie Weisheit, Nutzen, Macht, Rechtfertigung,
reflexives Gleichgewicht oder anhaltende Vertretbarkeit. Grundsätzlich kann man sagen,
dass es im ersten Projekt um Wissen, im zweiten um Verstehen geht. Wir können wissen,
dass X eingetreten ist, ohne zu verstehen, warum X eingetreten ist. Man kann nicht mehr
oder weniger, ganz fest oder nur ein bisschen wissen, man weiß oder nicht. Wissen ist nicht
graduell, sondern absolut.417 Wissen ist ein absoluter Begriff aufgrund seiner direkten
Beziehung zum Begriff der Wahrheit. Wenn wir tatsächlich Wissen von X haben, so haben
wir auch eine wahre Überzeugung über X. Überzeugungen sind nicht mehr oder weniger
wahr. Das Wahrheitsprädikat erlaubt kein Mehr und kein Weniger. Ebensowenig das
Wissen.
Anders steht es mit dem Verstehen. Zwei Personen A und B wissen, dass
Hemingway
der
Verfasser
von
For
Whom
the
Bell
Tolls
ist.
A
ist
eine
Literaturwissenschaftlerin und Historikerin, die sich intensiv mit dem Spanischen
Bürgerkrieg befasst hat, und versteht besser als B, was diese Tatsache bedeutet. Ihr Wissen
über die Verfasserschaft des Romans steht in einer engen Beziehung zu anderen
Überzeugungen, Thesen, Vermutungen über Krieg und Literatur oder über die Rolle der
Intellektuellen im Spanischen Bürgerkrieg. Das Verstehen richtet sich nicht primär auf eine
Überzeugung und deren Wahrheit, vielmehr versteht man eine Überzeugung als Teil eines
Ganzen. Wissen hingegen findet sich in einzelnen Überzeugungen. Wissen ist absolut und
partikular, Verstehen ist graduell und integrierend.418 Wissen resultiert aus den zuverlässigen
Vermögen zur Bildung wahrer Überzeugungen, etwa auf der Grundlage von
Wahrnehmungen, Erinnerungen oder Überlegungen. Die epistemischen Eigenschaften von
Überzeugungen können durch die zuverlässigen Vermögen eines Akteurs bestimmt
werden. Verstehen hingegen ist eine Sache des Gebrauchs, den ein Akteur von diesen
Vermögen macht. Wir können also wissen, dass X eingetreten ist, ohne zu verstehen,
warum X eingetreten ist. Die unterschiedlichen Auffassungen darüber, was Verstehen ist,
Dretske 1981: 363: „When talking about people, places and topics (things rather than facts), it makes sense
to say that one person knows something better than another [...]. But factual knowledge, the knowledge that
something is so, does not admit of such comparisons [...]. In this respect knowledge is absolute. It is like
being pregnant: an all or nothing affair.“
418 Es gibt keine guten Gründe dafür, Wissen durch Verstehen, das erste durch das zweite epistemologische
Projekt zu ersetzen, wie beispielsweise Goodman und Elgin (1988: 4f., 161) fordern. Vgl. Wild 2008a.
417
170
können in fünf Optionen unterteilt werden.419 Zunächst kann eine grundsätzliche
Unterscheidung gemacht werden: Entweder ist das Verstehen gegenüber seinem Objekt
(dem Verstandenen) verantwortlich oder gegenüber seinem Subjekt (dem Verstehenden).
Die erste Konzeption ist ontologisch und betont entweder die Rolle von Ursachen oder die
Rolle der Notwendigkeit. Das Eintreten von X wird entweder verstanden, wenn die Ursache
für das Eintreten von X angegeben werden kann, oder wenn eingesehen wird, warum X
eintreten musste, wenn also eine nomische Notwendigkeit für das Eintreten von X
vorhanden ist. Die zweite Konzeption ist epistemologisch und hebt entweder die Rolle des
Vertrauten oder die Rolle von Gründen hervor. Das Verstehen von X kann darin bestehen,
eine Verbindung zu etwas bereits Vertrautem und Bekanntem herzustellen. Man erblickt im
Eintreten von X eine Verwandtschaft mit dem Eintreten von Y oder Z. Das Verstehen von
X kann aber auch darin bestehen, einen guten Grund für die Überzeugung zu haben, dass
X eintritt (eingetreten ist, eintreten wird).
Neben dem Verstehen aus Ursachen, aus Notwendigkeit, aus Vertrautem oder aus
Gründen gibt es eine fünfte Option, nämlich die Vereinheitlichung. Der Grundgedanke ist
folgender: Verstehen und Erklären bestehen in der Darlegung einer vereinheitlichenden
Darstellung vieler unterschiedlicher Phänomene. Wir verstehen X, wenn wir einsehen, wie
es sich mit anderen Phänomenen zu einem Ganzen fügt. Verstehen heißt also in der
Vielheit das gemeinsame Muster sehen. Wir verstehen also das Eintreten von X, wenn wir
es in ein Ganzes G einfügen können. Das setzt nicht voraus, dass wir G bereits verstehen
müssen. Werden wir des Eintretens von X gewahr, ohne G, wissen wir zwar, dass X
eingetreten ist, doch wir verstehen es nicht. Erklärungen sollten in der Tat
Zusammenhänge
und
Beziehungen
zwischen
Phänomenen
aufzeigen,
deren
Zusammenhang zuvor als problematisch, unverständlich oder sogar zweifelhaft erschien.
In der Geschichte der Naturwissenschaften sind Keplers Erklärung der von Brahe
gesammelten Daten mittels der Theorie der ellipsenförmigen Umlaufbahn, Newtons
Theorie der Bewegung sowohl irdischer als auch himmlischer Körper, Darwins
Vereinheitlichung biogeografischer Daten durch seine Theorie der gemeinsamen
Abstammung durch natürliche Selektion oder die Vereinheitlichung von Elektrizität und
Magnetismus
durch
die
Maxwellschen
Gleichungen
Beispiele
für
solche
Vereinheitlichungen. Eine gute Erklärung bringt unterschiedliche Phänomene unter ein
419 Vgl. Lipton 2004. Diese Darlegung ist natürlich sehr schematisch. Es soll nicht suggeriert werden, dass
sich die fünf Optionen gegenseitig ausschließen.
171
Dach. Genau das erwarten wir von einer Wissenschaft. Tatsächlich kann das Versprechen
der Vereinheitlichung ein epistemisches Höchstprädikat sein.420
Die Vereinheitlichung ist in Theorien wissenschaftlicher Erklärungen als
eigenständiger Ansatz prominent von Philip Kitcher vertreten worden.421 Allerdings scheint
dieser Ansatz für sich genommen nicht stabil zu sein. Er kann stärker zur ontologischen
oder stärker zu epistemologischen Seite hinstreben. Er scheint als Ansatz für
naturwissenschaftliches Verstehen die Unterstützung durch Ursachen nötig zu haben. Als
Ansatz für hermeneutisches Verstehen könnte er beispielsweise am Verstehen durch
Rückgriff auf Vertrautes anschließen.422
Einige Autoren vertreten die Auffassung, dass die Theorie der Vereinheitlichung
nur dann genuin explanatorisch sein kann, wenn sie mit einer kausalen Theorie der
Erklärung verbunden wird.423 Kitcher selbst scheint der Kausalität als Erklärungsprinzip
nicht mehr so viel Misstrauen entgegen zu bringen wie zuvor.424 Ich möchte diese Option
nicht verfolgen. Sie wird m.E. durch eine Idee motiviert, die man nicht zu unterschreiben
braucht, nämlich durch die Idee der Einheit der Wissenschaften und durch die damit
zusammenhängende Idee, dass Wissenschaften von Nicht-Wissenschaften durch eine
420 Hier ein Beispiel aus der Physik: „The two great ‘pillars’ of twentieth-century science are quantum
mechanics, crucial in the microworld, and Einstein’s theory of gravity, which does not incorporate quantum
concepts. But we have no single framework that reconciles and unifies them. […] One compellingly attractive
feature of superstrings, suggesting that they indeed offer a valid route to unification of all physical forces, is that
gravity seems an inbuilt consequence. Some hope that either features of the physical world that we do
observe may ‘pop out’ of the theory. If it yielded insight into why the mircoworld is governed (as it is) by
three forces, and why it is populated by particular classes of particles, we would be disposed to take its other
predictions seriously even if they couldn’t all be directly tested.“ Rees 2004: 48 und 50 (meine
Hervorhebung).
421 Kitcher 1981, 1989.
422 Etwa in James’ Pragmatismus oder Gadamers Hermeneutik.
423 Vgl. Woodward 2003: VIII.
424 Godfrey-Smith 2003: 197. Nun kann man einwenden, dass wir ein natürliches Phänomen doch dadurch
erklären, dass wir seine Ursache angeben. Kitcher betrachtet das kausale Warum als derivativ gegenüber dem
explanatorischen Warum (Kitcher 1989: 477). Kausalerklärungen reflektieren explanatorische Relationen in
vereinheitlichenden Theorien. Unabhängig davon existiert für uns keine kausale Ordnung, die durch unsere
Erklärungen erfasst werden müsste. Dies ist eine Reaktion auf Humes Analyse der Kausalität, die es als
problematisch erscheinen lässt, kausale Begriffe als primitiv für Erklärungen anzunehmen. Die von uns
akzeptierten kausalen Urteile entspringen unseren Bemühungen zur Vereinheitlichung von Phänomenen und
Phänomenbereichen, nicht umgekehrt. Kitcher meint, unser Alltagswissen über Kausalzusammenhänge
basiere auf der Aufnahme des Bildes der Welt, das uns die Naturwissenschaften zur Verfügung stellen
(Kicher 1989: 469). Kitcher strebt an diesem Punkt also eher eine Verbindung mit dem Verstehen durch
Rückbezug auf Vertrautes an. Ein zweiter Einwand gegen Kitchers Ansatz lautet, dass Vereinheitlichung viele
Gesichter hat. So kann die Erstellung eines Klassifikationsschemas oder einer Nomenklatur eine
Vereinheitlichung darstellen (wie Linnés Klassifikation der Arten oder die „Dewey Decimal Classification“
für Bibliotheken). Auch ein mathematischer Formalismus, der in unterschiedlichen Bereichen angewendet
wird, stellt eine Form der Vereinheitlichung dar. Und schließlich stellt auch der Rückgriff auf einen
einheitlichen kausalen Mechanismus zur Voraussage scheinbar heterogener Phänomenbereiche eine
Vereinheitlichung dar. Nicht die klassifikatorische, nicht die formalistische, nur die kausale Vereinheitlichung
scheint genuin explanatorisch zu sein. Offenbar kann die Theorie der Vereinheitlichung genuin
explanatorische Vereinheitlichungen nicht von anderen Formen unterscheiden, ohne auf kausale Erklärungen
zurückzugreifen. Aber ich habe bereits gesagt, dass sich die oben skizzierten fünf Verstehenstheorien nicht
auszuschließen brauchen. Außerdem muss die Biosemantik kausale Erklärungen zulassen, weil sie Normale
Erklärungen braucht (vgl. 1.1.4.).
172
bestimmte Form der Erklärung sauber getrennt sind. Doch Erklärungen funktionieren in
unterschiedlichen Bereichen der Wissenschaft auf unterschiedliche Art und Weise, und eine
(nicht nur deskriptive, sondern auch normative) Abgrenzung der Wissenschaft von der
Nicht-Wissenschaft vermag durch andere Kriterien zu gelingen. Insbesondere sehe ich
keinen Grund dazu, sich dazu genötigt zu fühlen, das Modell der Erklärung durch
Vereinheitlichung, das in erster Linie anhand des Darwinschen Paradigmas entwickelt
worden ist, auf Erklärungen zu übertragen, wie sie in der Physik oder in der Chemie
vorherrschend sind. Denn zum einen beruhen Erklärungen in der Evolutionsbiologie nicht
auf Naturgesetzen, und zum anderen hat es die Evolutionsbiologie mit einem anderen
Gegenstandsbereich zu tun. Bevor ich auf Kitchers Ansatz zu sprechen komme, will ich
zeigen, was damit gemeint ist.
Ein Kennzeichen physikalischer Theorien besteht sicher in der Suche nach und in
der Formulierung von Naturgesetzen. Vor dem Hintergrund des oben eingeführten
Schemas kann man sagen: Solche Theorien erklären Phänomene aufgrund von
Notwendigkeiten, und allein solche Erklärungen sind genuin explanatorisch. Die
Notwendigkeit ist ein Kennzeichen naturgesetzlicher Verallgemeinerungen. Gemäß der
empiristischen Auffassung handelt es sich bei Naturgesetzen um wahre, allgemeingültige
(ohne Zeiten, Orte und Individuen), kontrafaktisch stabile, empirische (aposteriorische)
Verallgemeinerungen. Zwar gehorchen Organismen ebenso wie Steine und Autos den
Bewegungsgesetzen oder unterliegen der Gravitation, doch gibt es eigenständige
evolutionsbiologische Naturgesetze in diesem Sinne?
Freilich finden sich innerhalb der Evolutionsbiologie natürlich allgemeine Modelle,
doch handelt es sich dabei um nicht-empirische, apriorische Verallgemeinerungen. So kann
beispielsweise
Fishers
fundamentales
Theorem
der
natürlichen
Selektion
als
mathematisches Theorem interpretiert werden. Bei Fishers Theorem handelt es sich jedoch
nicht um eine empirische Verallgemeinerung. Naturgesetze (in der Tradition des
Empirismus) sind allgemeingültige Verallgemeinerungen, die nicht logisch oder
mathematisch wahr sind, sondern aufgrund der Beschaffenheit der Welt. Es gibt also grob
gesagt zwei Verallgemeinerungen in der Evolutionsbiologie: Apriorische (mathematische)
Verallgemeinerungen wie Fishers Theorem oder das Hardy-Weinberg-Law einerseits und
aposteriorische (empirische) Verallgemeinerungen andererseits. Letztere sind zwar
explanatorisch relevant, aber durchgehend kontingent.
Der kontingente Charakter der Verallgemeinerungen in der Evolutionstheorie folgt
aus der Tatsache, dass die Evolution selbst kontingent verläuft und nur kontingente
Regelmäßigkeiten hervorbringt. Die biologische Evolution schafft fortlaufend neue,
173
einzigartige Phänomene, sei es durch die Entstehung neuer, einzigartiger Arten, sei es
durch die Schaffung neuer ökologischer Nischen. Laborversuche und artifizielle Modelle
scheinen sich in der Biologie gerade deshalb schlecht zu eignen, weil zu einfach
Phänomene geschaffen werden können, die nicht dem kontingenten Verlauf der Natur
entsprechen. Feldversuche sind aufwendig, und es werden nicht zwangsläufig projizierbare
Merkmale an wenigen Instanzen gefunden. Doch gerade die Projizierbarkeit durch (auch
nur wenige) positive Instanzen gehört zu den nomologischen Wissenschaften. Zudem gibt
es in der Evolutionsbiologie keine fundamentalen Konstanten. Parameter wie
Selektionsdruck, Mutationsrate, Migrationsrate sind keine Konstanten. Sie müssen an
verschiedenen Orten und Zeiten stets neu gemessen werden. Ihnen geht die
Projizierbarkeit physikalischer Konstanten ab.425
Solche Überlegungen sind der Anlass zur Verteidigung von Evolutionären
Kontingenzthesen (EKT). Eine Formulierung für EKT lautet:
„All generalizations about the living world are just mathematical, physical, or
chemical generalizations (or deductive consequences of mathematical, physical, or
chemical generalizations plus initial conditions), or are distinctively biological, in
which case they describe contingent outcomes of evolution.“426
Diese Formulierung macht den Anschein, als solle EKT für die gesamte Biologie gelten,
doch daran kann man zu Recht Zweifel hegen.427 Ich will EKT auf die Evolutionsbiologie
beschränken. Verallgemeinerungen in der Evolutionsbiologie sind kontingent, und zwar im
folgenden Sinne:
„To say that biological generalizations are evolutionarily contingent is to say that
they are not laws of nature – they do not express any natural necessity; they may be
true, but nothing in nature necessitates their truth.“428
EKT zufolge steht die Biologie quer zur „Newtonschen Tradition“, d.h. zu den Regeln der
Forschung, die man in Newtons Maximen findet. So solle man Newton zufolge für gleiche
Wirkungen stets gleiche Ursachen annehmen. Doch dies trifft nicht auf die
Evolutionsbiologie zu, denn dort müssen verschiedene Ursachen für gleiche Wirkungen
veranschlagt werden.429
Vgl. Brandon 1997.
Beattie 1995: 46f.
427 Die Philosophie der Biologie hat sich primär in Auseinandersetzung mit der Evolutionstheorie entwickelt.
Dabei kann leicht übersehen werden, dass die Philosophie der Biologie auch andere Bereiche berücksichtigen
sollte und dass diese Berücksichtigung Thesen über die Biologie als Wissenschaft, die auf die
Evolutionstheorie gemünzt sind, zu relativieren vermag.
428 Beatty 1995: 52; vgl. auch Beattie 1997.
429 Über Sinn und Unsinn des Vergleichs zwischen Darwin und Newton vgl. Brandon 2006. Brandon zieht
nützliche Parallelen zwischen Newtons erstem Gesetz – dem Trägheitsprinzip – und der evolutionären Drift
als erstem Gesetz der Evolutionsbiologie.
425
426
174
Trifft EKT zu, stehen wir vor dem folgenden Problem: Einem qualifizierten
Konsens zufolge wurde bislang kaum eine erklärungskräftigere naturwissenschaftliche
Theorie entwickelt als Darwins Theorie der Evolution durch die natürliche Selektion. Doch
gemäß
der
empiristischen
Auffassung
von
Naturgesetzen
scheint
es
in
der
Evolutionsbiologie keine solchen Gesetze zu geben. Offenbar kann die Evolutionsbiologie
dann auch nicht genuin explanatorisch sein. Wie soll man auf diese Problemlage reagieren?
Es gibt drei Optionen: Man spricht der Evolutionstheorie einen naturwissenschaftlichen
oder explanatorischen Status ab. Man liberalisiert die Auffassung darüber, was ein
Naturgesetz sein soll. Oder man greift auf einen anderen Begriff der Erklärung zurück. Die
erste Option finden wir etwa bei Karl Popper oder Jerry Fodor,430 bei Theisten oder
Kreationisten.
Ein Beispiel für die zweite Option stellt Sandra Mitchells Arbeit dar.431 Ihr zufolge
sind sämtliche Diskussionen über Naturgesetze in der Evolutionsbiologie (und in der
Biologie) eingeschränkt durch ein Verständnis von Naturgesetzen, das auf den Logischen
Positivismus zurück geht. Sie schlägt einen pragmatischen Zugang vor, der erstens die
Variabilität von Verallgemeinerungen in verschiedenen empirischen Wissenschaften
berücksichtigt und zweitens die Eigenheit und den Grad an Kontingenz in der Biologie.
Der pragmatische Ansatz fragt nach der Rolle von Naturgesetzen in den
Naturwissenschaften.432 Verallgemeinerungen können in der Evolutionsbiologie als
Naturgesetze funktionieren. Sie müssen beispielsweise akkurat, einfach und kognitiv
handhabbar sein und die „Seinsschicht“ (level of ontology) berücksichtigen, um die es geht.
Ihre Funktion besteht darin, zuverlässige Erwartungen zu begründen und zu stabilisieren.
Doch dies trifft auch auf die sogenannte „Fast and Frugal Hermeneutics“ zu. Somit hätten
Verallgemeinerungen wie „Never change a winnig team“ oder „Take first“
Gesetzescharakter. Dies erscheint mir eine unliebsame Konsequenz der Liberalisierung des
Gesetzesbegriffs zu sein.
Doch wir müssen den Begriff nicht liberalisieren. Sowohl die Evolutionsbiologie als
auch
die
Physik
sind
wissenschaftliche
Theorien,
die
Vereinheitlichung
als
Erklärungsprinzip anerkennen. Aber anders als die Evolutionstheorie bezieht sich die
Fodor 2008. Zu Popper vgl. Beattie 2001.
Vgl. Mitchell 1997, 2000.
432 Insofern logische Notwendigkeit im Logischen Empirismus auf die natürliche Notwendigkeit abgebildet
wird, werden die empirischen Bezüge, die die Naturwissenschaften erforschen, nicht adäquat erfasst.
Argument: Im Sinne logischer Notwendigkeit sind alle natürlichen Notwendigkeiten kontingent, weil die
Wahrheit von Naturgesetzen nicht nur von der logischen Form und der Wahrheit der Prämissen abhängt,
sondern auch von anderen Dingen. Also sind sie logisch kontingent. Daraus folgt: Nicht die Tatsache der
Kontingenz, sondern die Natur und der Grad an Kontingenz scheidet das Nomologische vom Akzidentiellen
(Mitchell 1997: 470).
430
431
175
Physik dazu auf Naturgesetze. Wichtig für die Evolutionstheorie sind die Kontingenz
evolutionärer Prozesse, und der Umstand, dass es sich um historische Prozesse handelt. Wir
sollten deshalb eher Verallgemeinerungen einer Art erwarten, wie sie in den historischen
Wissenschaften möglich sind. Dabei ist der Hinweis von Mitchell auf eine andere
Seinsschicht (level of ontology) wichtig. Warum aber sollten wir in Bezug auf die Biologie von
einer eigenen Seinsschicht sprechen? Ich habe bereits darauf hingewiesen (2.2.), dass der
Physikalismus (reduktiv oder nicht-reduktiv) in der Philosophie des Geistes entweder
unplausibel oder schlecht motiviert ist. Etwas Ähnliches, so scheint mir, kann vom
Physikalismus im Hinblick auf Lebewesen gesagt werden.
Der wichtigste Grund dafür ist, dass die Evolutionsbiologie Phänomene wie die
Existenz adaptiver Merkmale von Lebewesen, die Entwicklung des Lebens oder die
Entstehung neuer Arten zu erklären versucht. Andere Zweige der Biologie (etwa die
Physiologie, die Anatomie oder die Neurologie) bemühen sich um die Etablierung
funktionaler Kategorien von Lebewesen, die Genetik wiederum fragt nach der Funktion
bestimmter Gene. Funktionen, Adaptationen, Organismen und Arten sind Eigenschaften
und Entitäten einer Seinsschicht, die auf einer komplexen physischen und chemischen
Supervenienzbasis beruht. Das Interesse der Evolutionstheorie (und anderer Zweige der
Biologie) gilt aber nicht der Supervenienzbasis, sondern der Seinsschicht der Lebewesen
und Lebensprozesse. Wie es scheint kann das Ziel der Evolutionsbiologie, selbst wenn es
Naturgesetze in der Evolutionsbiologie geben sollte, nicht in der Suche nach
Naturgesetzen, die der Physik vergleichbar wären, bestehen.433 Der für die natürliche
Selektion wichtige Begriff der Fitness beispielsweise benennt eine superveniente
Eigenschaft par excellence. Doch was haben fittere Löwen, fittere Rosen, fittere Pilze, fittere
Viren oder fittere Außerirdische physisch-chemisch gemeinsam, das sie jeweils fitter
macht? Diese Überlegung gilt auch für Adaptationen. Man kann bezüglich biologischer
Adaptationen wie folgt argumentieren: (i) Zahlreiche unterschiedliche physische und
chemische Strukturen erfüllen dieselbe adaptive Funktion. (ii) Die natürliche Selektion
selektiert nach adaptiven Funktionen, nicht nach physisch-chemischen Strukturen. (iii)
Gegeben die weite Realisierbarkeit von adaptiven Funktionen, erweitert sich die
Supervenienzbasis für Funktionen enorm. Daraus kann man zweierlei schließen. Entweder
kann man schließen, dass die Evolutionsbiologie (insofern sie mit Adaptationen befasst ist)
keine nomische Wissenschaft ist, weil sie dies aus epistemologischen Gründen für uns nicht
sein kann, oder man kann folgern, dass sie dies aus ontologischen Gründen für sich nicht
sein kann.
433
Brandon 1997: 445.
176
Alex Rosenberg argumentiert für die epistemologische Variante.434 Sein
Grundgedanke lautet, dass unser Erkenntnisvermögen schlechterdings nicht ausreicht, die
physische Supervenienzbasis epistemologisch in den Griff zu bekommen. Für kognitiv
ungleich kompetentere Forscher als wir wären biologische Adaptationen reduzierbar auf
mechanisch-naturgesetzliche Prozesse. Die Fitness von Lebewesen, die wir als relative
Wahrscheinlichkeit der Produktion einer größeren Anzahl von Nachkommen betrachten,
würde in den Augen solcher Forscher jeglichen Wahrscheinlichkeitscharakter verlieren.
Doch der Grund für Rosenbergs Überzeugung besteht in erster Linie in der Idee eines für
alle Naturwissenschaften verbindlichen nomologischen Erklärungstyps, zusammen mit der
Überzeugung, dass eine Reduktion supervenienter biologischer Eigenschaften und
Entitäten möglich sein muss, und dass auf der angestrebten Reduktionsebene ein strenger
nomologischer Determinismus herrscht.
Doch weder die Idee, dass alle Naturwissenschaften einem Erklärungstyp
unterstellt sind, noch die physikalistisch-deterministischen Hintergrundüberzeugungen
brauchen wir zu akzeptieren. Wir haben in der Vereinheitlichung ein Modell für
Erklärungen in der Evolutionstheorie, das sich von Erklärungen in Physik und Chemie
zwar unterscheidet, aber nicht dazu im Gegensatz steht. Sie ist eher den Erklärungen in den
historischen Wissenschaften ähnlich. Darüber hinaus hängt für das Projekt des
Naturalismus nichts am Physikalismus, sodass die Biosemantik von einer eigenständigen
Seinsschicht der Lebewesen ausgehen kann. Der Naturalismus der Biosemantik ist ein
biologischer Naturalismus. Kitchers Ansatz ist für die Biosemantik deshalb interessant, weil
er nicht physikalische oder chemische Theorien als Vorbild nimmt, sondern Darwins
Evolutionstheorie. Wir haben darin ein Paradigma für die Verstehens- und
Erklärungsleistungen der Vereinheitlichung. Dieses Paradigma ist, wie ich zeigen werde,
das Vorbild für die Biosemantik, die deshalb einen unifikatorischen biologischen
Naturalismus vertritt.
Tatsächlich
ist
die
Geschichte
des
Darwinismus
eine
Geschichte
der
Vereinheitlichung bestimmter Phänomene durch ein Argumentationsmuster. So schreibt
Darwin selbst:
„It can hardly be supposed that a false theory would explain, in so satisfactory a
manner as does the theory of natural selection, the several large classes of facts
above specified. It has recently been objected that this is an unsafe method of
arguing; but it is a method used in judging of the common events of life, and has
often been used by the greatest natural philosophers.“435
434
435
Vgl. Rosenberg 2006.
Darwin 1968: 476.
177
Darwin weist darauf hin, dass seine Theorie eine große Menge von Tatsachen erklärt und
dadurch vereinheitlicht. Doch Darwin betrachtet dies nicht nur als ein Charakteristikum
seiner Theorie, sondern verweist darauf, dass Erklärung durch Vereinheitlichung eine
Methode ist, die sich sowohl im Alltag wie auch bei anderen Naturwissenschaften findet.
Laut Kitcher wird die Einheitlichkeit (und dadurch das wissenschaftliche
Verständnis) von Phänomenen dadurch gewährleistet, dass die Anzahl der Tatsachen
(besser: Tatsachentypen), die die Wissenschaften akzeptieren müssen, reduziert wird:
„Science advances our understanding of nature by showing us how to derive
descriptions of many phenomena, using the same pattern of derivation again and
again, and in demonstrating this, it teaches us how to reduce the number of facts
we have to accept as ultimate.“436
Diese Reduktion wird dadurch erreicht, dass man eine maximale Anzahl von Aussagen
über Phänomene von einer minimalen Anzahl von Argumentationsschemata (schematic
arguments) ableiten kann. Solche Argumentationsschemata vereinen unter einem oder nur
wenigen Schemata Aussagen über unterschiedliche Phänomene.437 Erklären heißt, so viele
Phänomene wie möglich durch so wenige (und so stringente) Argumentationsmuster wie
nötig beschreiben zu können, und zwar in der Form von Konklusionen in
Argumentationsmustern. Das basale Argumentationsmuster Darwins nennt Kitcher
„einfache Selektion“.438 Die Ausgangsfrage der einfachen Selektion lautet: Warum haben
alle Mitglieder der Population P die Eigenschaft E? Die schematischen Sätze der Antwort
sind die Folgenden:
(1) Die
zu
P
gehörenden
Organismen
sind
Nachfahren
einer
historischen
Vorläuferpopulation P*, die in Umwelt U wohnte.
(2) Unter den Mitgliedern von P* existierte eine Variation hinsichtlich Merkmal T: Einige
Mitglieder verfügten aufgrund von T über die Eigenschaft E, andere hingegen über E’,
andere über E’’ usw.
(3) E verschafft einem Organismus von P* in U zusammen mit anderen Merkmalen eine
Menge M von Vorteilen und Nachteilen, die einen (erwartbaren) Beitrag zum
Reproduktionserfolg r(M) leisten; E’ verschafft einem Organismus von P* in U eine
Menge M’ von Vorteilen und Nachteilen, die einen (erwartbaren) Beitrag zum
Reproduktionserfolg r(M’) leisten usw. Es gilt r(M) > r(M’) usw.
Kitcher 1989: 423.
Kitcher 1981: 512, 1989: 432.
438 Kitcher 1989: 444; vgl. 1993: II.
436
437
178
(4) Für zwei beliebige erbliche Eigenschaften E und F gilt: Wenn r(E) > r(F), dann ist die
durchschnittliche Anzahl von Nachkommen mit E, die überleben und sich
reproduzieren, größer als die durchschnittliche Anzahl von Nachkommen mit F, die
überleben und sich reproduzieren.
(5) Die Eigenschaften E, E’, E’’ usw. sind erblich.
(6) Keine neuen Varianten von T (außer jene mit E, E’, E’’ usw.) tauchen innerhalb der
Reproduktionslinie P-P* in U auf.
(7) In jeder Generation der Reproduktionslinie P-P* in U erhöht sich die relative
Häufigkeit von Organismen mit E.
(8) Die Anzahl der Generationen der Reproduktionslinie P-P* ist ausreichend hoch um
die relative Häufigkeit von E zu einer totalen relativen Häufigkeit von 1 zu
akkumulieren.
(9) Alle Mitglieder von P haben E.439
Zu einem solchen Argumentationsmuster gehört eine Klassifikation der verwendeten Sätze
als Argumentationsschema und Anweisungen zur Ersetzung der Variablen. Für die
einfache Selektion gestaltet sich dies wie folgt:
Klassifikation:
Die Sätze (1) bis (6) und (8) sind Prämissen.
Satz (7) ergibt sich aus den Prämissen (1) bis (6).
Satz (9) ergibt sich aus (7) und (8).
Anweisungen:
(i) Ersetze T durch einen Namen für ein bestimmbares biologisches
Merkmal.
(ii) Ersetze E, E’ usw. durch Beschreibungen der Form dieses
Merkmals.
(iii) Ersetze P* durch den Namen einer Vorläuferart.
(iv) Ersetze U durch die Spezifikation der Umwelt von P* und P.
(v) Ersetze M, M’ usw. durch Spezifikationen der Wirkungen der
Formen des Merkmals.
(vi) Ersetze r(M), r(M’) durch (nicht-negative) Werte.
439 Diese Aussage ist als „naturhistorisches Urteil“ (natural-historical judgments) zu verstehen. Was dies heißt
wird in 3.3.1. ausführlich erläutert.
179
Die einfache Selektion erklärt, warum Organismen einer Population ein Merkmal T mit der
Eigenschaft E haben. Der Grund für das Vorhandensein von T ist die Menge M der (für
die Vorfahren dieser Organismen) positiven Wirkungen. Es handelt sich dabei um
selektierte Wirkungen. Echte Funktionen sind nichts Anderes als selektierte Wirkungen.
Auch wenn nicht alle Organismen in einer Population T haben, auch wenn nicht alle
Organismen, die das T haben, E auch ausprägen, und auch wenn nicht alle Organismen,
die M und E haben, M haben, so sollten diese Organismen als Teile der
Reproduktionslinie, die zwischen ihnen und ihren Vorfahren besteht, über T, E und M
verfügen. Darin besteht die normative Dimension der biologischen Merkmale einer Art
einerseits und der biologischen Funktionen dieser Merkmale andererseits.440
Wenden wir uns wieder dem Argumentationsschema der einfachen Selektion zu.
Nicht nur in der Evolution der Arten gibt es Selektionsphänomene, sondern auch im
Immunsystem,441 im Zentralnervensystem442 und in Lernprozessen.443 Es gibt aber keine
Wissenschaft (eine „Selektionswissenschaft“ oder dergleichen), die diese drei Bereiche
vereinheitlichen würde. Kitchers Schema für einfache Selektion lässt sich nicht in dieser
Form auf solche Bereiche übertragen. Betrachten wir zur Illustration die Selektion
bestimmter Lymphozyten im Blut wie sie die Immunologie dank der Theorie von Frank M.
Burnet kennt.444 Lymphozyten sind unterschiedlich beschaffene Blutzellen, die
entsprechend
ihrer
Oberflächengestalt
variieren.
Diese
Zellen
interagieren
mit
Eindringlingen (Antigenen) und diese Interaktion beeinflusst die Aktivierung von weiteren
Lymphozyten, denen eine bestimmte Oberflächengestalt eigen ist. Die Aktivierung löst ein
Klonen von solchen weiteren Lymphozyten aus, die die Eindringlinge attackieren. Sind die
Eindringlinge unschädlich gemacht, so finden sich im Blut Lymphozyten einer bestimmten
Art (d.h. mit einer bestimmten Oberflächengestalt) häufiger als andere Lymphozyten.
Durch diesen Prozess passt sich das Immunsystem an bestimmte Antigene an.
Diese klonale Selektion von Antikörpern scheint noch nicht in das Schema der
einfachen Selektion zu passen, denn die klonalen Selektionsprozesse involvieren keine
Organismen (Sätze 1, 3, 5, 7) und Klonen scheint keine Reproduktion zu sein (Sätze 3, 4, 7,
8). Offenbar sind die Sätze des Schemas zu restriktiv. Das Problem sind die nicht-variablen
Ausdrücke in den schematischen Sätzen des Argumentationsmusters. Aber wir können den
Ausdruck
„Organismus“
oder
„Reproduktion“
ersetzen.
In
Richard
Dawkins’
Ich werde in Kapitel 3 ausführlich begründen und erläutern, dass Merkmale von Organismen und
Funktionen von Merkmalen normativ sind.
441 Vgl. Matthen 1984; Darden und Cain 1989; Hull et al. 2001.
442 Vgl. Edelmann 1987.
443 Vgl. Hull et al. 2001.
444 Vgl. Burnet 1957.
440
180
Interpretation der Evolutionstheorie beispielsweise kopieren sich Replikatoren mithilfe von
Interaktoren. Das biologische Paradigma für Replikatoren sind Gene, jenes für
Interaktoren Organismen. Aber weder muss die Kopie von Replikatoren genetisch
erfolgen, noch muss der Interaktor ein Organismus sein. Man könnte also die einfache
Selektion durch ein Argumentationsmuster für eine allgemeine Selektion ersetzen. Die
Ausgangsfrage der allgemeinen Selektion lautet: Warum haben die Elemente G in Umwelt
U die Eigenschaft E? Die schematischen Sätze der Antwort sind dann die folgenden:
(1) Es gibt eine Menge von Gs in U.
(2) Gs haben das Merkmal T und variieren deshalb im Hinblick auf E, E’, E’’ usw.
(3) Das Haben von E befähigt Gs in U (evtl. zusammen mit anderen Merkmalen) zu einer
Menge M von Wirkungen, die zu ihrer Produktivität beitragen. Das Maß an
Produktivität von Gs mit E ist größer als jenes von Gs mit E’ usw.
(4) Für zwei Eigenschaften E und F gilt: Wenn E die Produktivität stärker erhöht als F,
dann wird die durchschnittliche Produktivität von Gs mit E größer sein als jene von Gs
mit F.
(5) Keine neuen Varianten von T (außer jene mit E, E’, E’’ usw.) tauchen innerhalb der
Menge der Gs auf. Alle Gs sind in U.
(6) Über die Zeit entwickelt sich die Produktivität von Gs mit E zu einem Maximum, jene
der Gs mit E’ zu einem Minimum.
(7) Gs in U haben E.
Erklärung:
Produktivität ist die Beschreibung der Effekte eines G mit E.
Das Maß der Produktivität ist ein nicht-negativer Wert.
Klassifikation:
Die Sätze (1) bis (5) sind Prämissen.
Satz (6) ergibt sich aus den Prämissen (1) bis (5).
Satz (7) ergibt sich aus (6).
Anweisungen: (i) Ersetze G durch den Namen für ein Individuum.
(ii) Ersetze T durch einen Namen für ein bestimmbares Merkmal.
(iii) Ersetze E, E’ usw. durch Beschreibungen bestimmter Formen
dieses Merkmals.
(iv) Ersetze U durch die Spezifikation der Umwelt von G.
181
(v) Ersetze M durch Spezifikationen der Wirkungen der Formen des
Merkmals.
Das Problem dieser Ausweitung des Argumentationsmusters der einfachen Selektion
besteht darin, dass es die Forderung nach Stringenz zu verletzen scheint. Die Stringenz
eines Argumentationsmusters ergibt sich einerseits aus der Anzahl der Phänomene, die es
zu vereinheitlichen in der Lage ist, ohne dass die Klassifikation der Sätze oder die Form der
Anweisungen verändert wird, andererseits dadurch, dass die nicht-variablen Ausdrücke des
Argumentationsmusters unverändert bleiben.445 Das immunologische Beispiel verletzt die
Forderung nach Beibehaltung der nicht-variablen Ausdrücke. Doch dabei handelt es sich
um eine sehr flexible Forderung. Dies kann man daran erkennen, wie die Sätze eines
Argumentationsmusters gebildet werden. Ein solcher „schematischer Satz“ (als Bestandteil
eines Argumentationsmusters) wird durch die Ersetzung nicht-logischer Ausdrücke durch
Variablen gebildet. Eines von Kitchers Beispielen für einen Satz lautet: „Organisms
homozygous for the sickling allele develop sickle cell anemia.“ Dieser Satz kann wie folgt in
einen schematischen Satz umgeformt werden: „Organisms homozygous for A develop P“.
Doch für diesen schematischen Satz ist wiederum eine Umformung denkbar: „For all X if
X is O and A then X is P“. Hier werden nicht-variable Ausdrücke durch Variablen ersetzt,
doch das tut der Funktion des Satzes im Argumentationsschema keinen Abbruch. Ein
Argumentationsschema besteht aus drei Elementen: Einer Folge schematischer Sätze, einer
Anleitung zum Ausfüllen der Variablen und einer Klassifikation der schematischen Sätze.
Je stärker das Schema reguliert ist, desto stringenter ist es.
Wichtiger ist an dieser Stelle, dass die Ausweitung der einfachen Selektion auf die
Immunologie zwei Elemente der einfachen Selektion fallen lässt, nämlich die Forderung
nach einer Reproduktionslinie und die Forderung eines relativen Reproduktionserfolgs. Wir
können es als Restriktion für die Applikation der Argumentationsmuster der einfachen
Selektion betrachten, dass es diese beiden Forderungen nicht aufgeben darf.446 Der Grund
für diese Restriktion besteht darin, dass der Grundgedanke von Darwins Theorie der
Evolution durch Natürliche Selektion mit der Applikation nicht verloren gehen darf. Der
Grundgedanke ist auf den ersten Blick einfach. Einige Wesen sterben, andere pflanzen sich
fort. Die Mitglieder einer bestimmten Art bringen in jeder Generation einen Überreichtum an
Nachkommen hervor, die untereinander variieren und von denen nur wenige überleben und
Kitcher 1989: 433.
Damit fallen auch die berühmten Kristalle aus dem Applikationsbereich der natürlichen Selektion, vgl.
Dawkins 1987: 176f. Bedau 1991 behauptet, dass die Entstehung bestimmter Kristalle gegen die ätiologische
Funktionstheorie spreche.
445
446
182
sich vermehren. Die Überlebenden bringen die kommende Generation hervor und vererben
wiederum ihre Merkmale. Einige dieser Merkmale passen ihre Träger besser an eine bestimmte
Umwelt an. Damit die natürliche Selektion nach bestimmten Merkmalen greifen kann, braucht
es also vier Faktoren: Variation, Vererbbarkeit, relative Fitness und Akkumulation von
Merkmalen.447 Lassen wir die Vererbbarkeit und Fitness bzw. die Forderung nach einer
Reproduktionslinie und die Forderung eines relativen Reproduktionserfolgs fallen, haben
wir damit Kernelemente aus Darwins Idee fallen gelassen. Wenn wir aber Darwins Schema
der einfachen Selektion ausweiten wollen, um damit zu einer Vereinheitlichung
unterschiedlicher Phänomenbereiche zu kommen, sollten wir keine Kernelemente fallen
lassen. Es ist aber zugleich wichtig zu sehen, dass die für die Reproduktion (und mithin für
die Reproduktionslinien und –erfolge) zuständigen Vererbungssysteme keineswegs auf die
genetische Vererbung (geschweige denn auf die genetische Vererbung mittels sexueller
Reproduktion) beschränkt zu werden brauchen.
Betrachten wir nun jetzt Erweiterung des Schemas der einfachen Selektion auf das
für die Biosemantik zentrale Thema der Teleologie, d.h. der Funktionen, Adaptationen,
Ziele, Zwecke und Absichten. Weder geht es darum, biologische Funktionen begrifflich auf
intentionale Ziele zu reduzieren, noch darum, intentionale Ziele kausal auf kulturelle
Funktionen zu reduzieren. Es geht vielmehr darum, ein für diese unterschiedlichen Ebenen
gemeinsames Muster zu finden, das wir auf der Basis eines Paradigmas analysieren und
dann auf andere Phänomene auf dieser Ebene anwenden. Hierbei handelt es sich wiederum
um das Verfahren der Theoriekonstruktion, das wir bereits kennen gelernt haben (1.1.6.).
Andere Sprachen als das Deutsche haben für die unterschiedlichen Ausdrücke „Funktion“,
„Ziel“, „Zweck“ oder „Absicht“ einen Ausdruck. So versammelt beispielsweise das
Englische alle Bedeutungsnuancen, die sich in diesen deutschen Wörtern ausdrücken, im
Wort „purpose“. Wir können dafür den Ausdruck „Telos“ verwenden.
Dabei interessiert uns ein bestimmter Bereich, nämlich der Bereich der belebten
Natur, nicht der unbelebten. Wie wir gesehen haben, kann man die Seinsschicht, für die
sich die Biologie interessiert und der Darwins einfache Selektion als vereinheitlichende
Theorie zugeordnet werden kann, ganz unabhängig von der unbelebten Natur, die Physik
und Chemie behandeln. Die Unterscheidung verschiedener Bereiche, die hier interessiert,
betrifft also in erster Linie Lebewesen und die Produkte von Lebewesen. Ein plausibler
und nützlicher Vorschlag zur Unterscheidung solcher Bereiche stammt von Daniel
Dennett.448 Dennett unterscheidet vier „Stufen“ und spricht dabei von verschiedenen
447
448
Sterelny und Griffiths 1999: 31ff.
Dennett 1995: 374ff.
183
Wesen, die diese Ebenen bevölkern, nämlich von „Darwinschen“, „Skinnerschen“,
„Popperschen“ und „Gregorischen“ Wesen.
(1) Darwinsche Wesen haben unterschiedliche Genotypen, prägen Phänotypen aus, und
können den Genotyp vererben. Wenn ein bestimmter Phänotyp A dieses Genotyps (im
Unterschied zu den Phänotypen B und C) ein Merkmal M ausprägt, dessen Wirkung W
zu seinem Überleben beiträgt, dann besteht die Funktion von M in W.
A wird
gegenüber B und C durch natürliche Selektion selektiert.
(2) Skinnersche Wesen sind Wesen, die im Unterschied zu Darwinschen Wesen individuell
lernen können. Sie sind in der Lage, mit unterschiedlichen Verhaltensweisen A, B, C
auf eine bestimmte Umweltbedingung U reagieren zu können. Sie können zwischen
negativem und positivem Feedback F dieser Reaktionen unterscheiden und tendieren
dazu, eine Reaktion A mit positivem F beizubehalten und Reaktionen B, C mit
negativem F zu löschen. So lernen sie auf U mit A zu reagieren. Die Funktion von A
besteht im positiven F, das A in U bewirkt. A wird gegenüber B und C durch das
Gesetz der Verstärkung selektiert. Hier sterben Reaktionen anstelle von Individuen.
(3) Poppersche Wesen sind in der Lage, ein Ziel Z zu repräsentieren und Mittel A, B, C zur
Erreichung von Z in einer internalisierten Umwelt (im Geist) durchzuspielen. Ergibt es
sich, dass B und C eher nicht zu Z führen, A aber schon, dann wird A eingesetzt. Die
Funktion von A ist es, zu Z zu führen. A wird gegenüber B und C aufgrund
instrumenteller Überlegungen selektiert. Hier sterben (wie Popper einst formulierte)
Hypothesen anstelle von Individuen.
(4) Gregorische Wesen hingegen schaffen sich eine externe Umwelt und platzieren darin
Artefakte, die Aufgaben für sie übernehmen. Artefakte A, B, C unterstehen einem
Prozess der Herstellung, Verwendung, Tradierung, Verbesserung, in dem einige
Artefakte (wie A) weiterhin produziert, konsumiert, tradiert, optimiert werden, andere
hingegen nicht (B, C). Die Funktion von A ist es dasjenige zu tun, wofür es produziert,
konsumiert usw. worden ist. A wird gegenüber B und C aufgrund natürlicher Selektion,
aufgrund von Feedback oder aufgrund von instrumentellen Überlegungen selektiert.449
Anders als Dennett geht es mir nicht um Wesen, es geht mir auch nicht darum eine Art
Stufenleiter der Lebewesen aufzustellen, anhand derer wir etwa fragen könnten, ob es auch
unter sprachlosen Tieren Poppersche Wesen gibt oder nicht, und schließlich ist es mir auch
nicht um Vollständigkeit zu tun. Es geht vielmehr um die Unterscheidung unterschiedlicher
449 Woher die Namen für die ersten drei Wesen stammen, dürfte klar sein. Dennett gibt dem vierten Wesen
den Namen des britischen Psychologen Richard Gregory (vgl. Dennett 1995: 377).
184
Ebenen von Entitäten oder Prozessen, die ein Telos haben, sowie um die Suche nach
einem Muster, das es uns erlaubt, auf allen Stufen gleichermaßen von Funktionen usw. zu
sprechen.
Auf allen vier Stufen finden sich Entitäten und Prozesse mit einem Telos. So finden
sich auf Stufe (1) Vorgänge, Organe, Körperteile, Körperformen und Verhaltensweisen, die
gewisse Wirkungen haben, und da sind, um diese Wirkungen zu haben. Einige (nicht alle)
Entitäten und Prozesse sind Produkte der Evolution durch natürliche Selektion. Ein
anderes, gleichsam abstrakteres Produkt der Evolution ist die Evolvierbarkeit. Die
Evolution der Evolvierbarkeit findet sich etwa in Form der sexuellen Reproduktion bereits
auf Stufe (1), wird aber auf den folgenden Stufen nicht nur immer wichtiger, sondern
zusehends zu einem beschleunigenden Faktor im Vergleich zu den großen Zeitspannen, die
evolutionäre Prozesse auf der Stufe (1) benötigen. Auf der Stufe (2) finden wir die
unterschiedlichsten Formen des Lernens. Darunter fallen nicht nur Formen der
Konditionierung, sondern auch das Lernen durch Einsicht, das transitive, kausale oder
induktive Lernen, wie es Hume beschrieben hat, oder das Lernen neuer Ziele. Auf der
Stufe (3) finden sich explizite Repräsentationen von Zielen und Mitteln. Das
Repräsentationssystem muss auf dieser Stufe in der Lage sein, zu identifizieren, zu
schließen und zu negieren. Sowohl diesen Repräsentationen als auch den genannten
Operationen können wir eine Funktion zuschreiben. Auf der Stufe (4) schließlich findet
sich eine unübersehbare Menge von „Zeug“, von kulturellen Artefakten sowie
Verhaltensweisen, Praktiken, Traditionen, Institutionen, sozialen Rollen, Sprachen,
Theorien oder Kunstwerke. Sie kommen nur innerhalb einer kulturellen Welt vor.450
In dieser nach wie vor simplen Unterscheidung unterschiedlicher Stufen haben wir
ein Muster eingeführt, das es uns erlaubt, auf allen Stufen gleichermaßen von einem Telos
zu sprechen:
„In sum, if we look at the whole human person in the light of our history of
evolution by natural selection, minding the continuities between humans and other
animals, it appears that all levels of purpose have their origin in adaptation by some
form of selection. In this sense, all purposes are ‘natural purposes’. Even though
there are, of course, many important differences among these kinds of purposes,
there is an univocal sense of ‘purposes’ in which they are all exactly the same.“451
Das Muster des Telos (purpose) auf den verschiedenen Stufen bietet die Evolution durch
natürliche Selektion. Darwins Theorie führte nicht nur zur Rehabilitierung einer von einem
Zweck
450
451
setzenden
Subjekt
unabhängigen
Zum Begriff der „kulturellen Welt“ vgl. 3.2.6.
VM: 13.
185
Teleologie,
sondern
auch
zu
einer
vereinheitlichenden Perspektive auf die Evolution des Lebens. Sie ermöglicht darüber
hinaus eine vereinheitlichende Perspektive auf die Entitäten und Prozesse der eingeführten
Stufen. Der zentrale Begriff dieser vereinheitlichenden Perspektive auf das Leben ist
derjenige der Echten Funktion. Dabei geht es, wie gesagt, weder um die Reduktion von
Lebewesen und Lebensprozessen auf physikalische oder chemische Gesetze, Entitäten
oder Prozesse noch um die Reduktion der Stufen (2) bis (4) auf die Stufe (1). Eine solche
Reduktion wäre nur dann unumgänglich, wenn wir die für die Reproduktion (und mithin
für die Reproduktionslinien und -erfolge) zuständigen Vererbungssysteme auf die
genetische Vererbung (oder gar auf die genetische Vererbung mittels sexueller
Reproduktion) beschränken würden. Meines Erachtens haben jedoch Philosophinnen und
Wissenschaftlerinnen wie Eva Jablonka und Marion Lamb deutlich gemacht, dass die
Darwinsche Evolution mehrere Dimensionen hat. Wir können deshalb mit guten Gründen
genetische, epigenetische, behaviorale, ökologische und kulturelle oder symbolische
Vererbungssysteme
unterschiedlichen
unterscheiden.452
Genen,
in
Vererbbare
unterschiedlichen
Variationen
453
Zellen,
in
finden
sich
in
unterschiedlichen
Verhaltensweisen der Sozialgruppe, in unterschiedlichen ökologischen Nischen von
Vorgängergenerationen und in unterschiedlichen symbolischen und institutionellen
Kommunikationssystemen. Die Weitergabe von genetischen Varianten hängt von
Systemen zur DNA-Replikation ab, jene von epigenetischen Varianten von Zellsystemen,
Verhaltensvarianten von Mechanismen des sozialen Lernens, und Variationen der
symbolischen
Kommunikation
von
kognitiven
Mechanismen
und
komplexen
Zeichensystemen. Ist ein System oder ein Mechanismus vorhanden, können vererbbare
Varianten
weitergegeben
Reproduktionslinien
werden
werden
durch
und
Reproduktionslinien
Systeme
und
entstehen.
Mechanismen
Solche
gebildet,
die
intergenerationell wirken. Es lassen sich aber auch Reproduktionslinien innerhalb der
Lebensspanne eines Individuums unterscheiden. Individuen etwa, die als Folge des Trialand-Error-Lernens
bestimmte
Verhaltensdispositionen
entwickeln,
reproduzieren
Vorkommnisse eines bestimmten Verhaltens auf der Grundlage ihrer Fähigkeit zur
Konditionierung oder zum Zweck-Mittel-Denken. Aufgrund dieser Fähigkeiten werden
bestimmte Verhaltensweisen gegenüber anderen selektiert. Auch hier werden, wie im Falle
des sozialen Lernens, Verhaltensvarianten zuerst weitergegeben und dann selektiert, der
Mechanismus der Weitergabe ist jedoch nicht das soziale Lernen, sondern das individuelle
Vgl. Jablonka und Lamb 2005.
Zelluläre epigenetische Vererbung besteht in der Weitergabe von Variationen von Mutter- auf
Tochterzellen, die nicht das Resultat von Unterschieden in der DNA sind. Sie tritt in erster Linie während der
Mitose auf (der „Zellteilung“).
452
453
186
On-line-Lernen in der Welt (bei Skinnerschen Wesen) oder das individuelle Off-line-Lernen
im Kopf (bei Popperschen Wesen).
Das verallgemeinerte Argumentationsschema der einfachen Selektion kann also auf die
unterschiedlichen Arten der Teleologie (Funktionen, Adaptationen, Zwecke, Ziele, und
Absichten) der vier Stufen übertragen werden, ohne dass (wie im Falle seiner Übertragung
auf die Immunologie) Kernelemente von Darwin fallen gelassen werden müssen. Durch
das Verfahren der Theoriekonstruktion wird ein paradigmatischer Fall analysiert und
übertragen. Die Rechtfertigung für diese Übertragung ergibt sich durch das Modell des
Erklärens durch Vereinheitlichung.
Ich habe darauf hingewiesen, dass die Vereinheitlichung für sich genommen nicht
stabil zu sein scheint. Diese Instabilität ergab sich jedoch aus der Idee, für alle
Wissenschaften einen Erklärungstyp zu finden. Dennoch kann die Vereinheitlichung in
einem anderen Sinn stärker zu einer ontologischen oder stärker zu einer epistemologischen
Seite hinstreben. Es stellt sich nämlich die Frage, welches Paradigma man für das
Verfahren der Theoriekonstruktion wählt. Warum sollte man eher das Paradigma der
biologischen Funktionen auf Stufe (1) als jenes der expliziten Absichten rationaler Subjekte
auf Stufe (3) oder (4) wählen? Warum sollte man für eine allgemeine Theorie der Zeichen
eher die tierliche Kommunikation (etwa der Bienen als einer Lebensform mit dieser
Kommunikation) als die sprachliche Kommunikation (etwa der Menschen als einer
Lebensform dieser Kommunikation) wählen? Ich habe für die Wahl dieses Paradigmas
bislang folgende Gründe gegeben:
1. Erstens habe ich im Abschnitt 2.1. über Teleologie gezeigt, dass wir uns keineswegs
genötigt sehen müssen, die Teleologie und teleologische Erklärungen so aufzufassen,
als würden sie jeder Zeit ein Zweck setzendes Subjekt implizieren. Es gibt deshalb
keinen Vorrang des Kantischen Paradigmas rationaler Subjekte gegenüber dem
Darwinschen Paradigma der Teleologie biologischer Funktionen.
2. Zweitens bietet uns Darwins einfache Selektion ein ausgezeichnetes Schema zur
Vereinheitlichung von Phänomenen des Lebens. Dieses Schema wurde u.a. zur
Erklärung von Adaptationen entwickelt und erfolgreich für solche Erklärungen
herbeigezogen. Dieses Schema ist in stringenter Weise auch auf andere teleologische
Phänomene anwendbar. Dies ist der Grund dafür, das Darwinsche Paradigma
gegenüber dem Kantischen Paradigma zu bevorzugen.
3. Drittens zeigt die Auseinandersetzung der Biosemantik mit Sellars, dass die normative
Dimension, wie wir sie auf den Stufen (3) und (4) finden, auch auf den Stufen (1) und
187
(2) zu finden ist. Die ersten beiden Stufen entsprechen der A-Ebene, die letzten beiden
der B-Ebene bei Sellars. Die Auseinandersetzung zeigt darüber hinaus, dass eine
normative Grundlegung der Stufen (3) und (4) (der A-Ebene) nach dem Muster der
biologischen Normativität der Stufen (1) und (2) (der B-Ebene) denkbar ist.
Es besteht also Grund zur Annahme, dass die Fortführung des integrativen Projekts eines
normativen Naturalismus durch die Biosemantik auf der in diesem Abschnitt dargelegten
biologischen Grundlage begonnen und durchgeführt werden kann. Der normative
Naturalismus der Biosemantik ist deshalb ein unifikatorischer biologischer Naturalismus,
wenn man dabei nur mithört, dass die Biologie genuin normfähig ist. Ich werde deshalb
auch diesen Ausdruck kapitalisieren und kurz vom „Biologischen Naturalismus“ der
Biosemantik sprechen.
Blicken wir kurz zurück! Es war ein wichtiger Bestandteil der Argumentation in
Abschnitt 2.2., dass die Biosemantik deshalb nicht als nicht-reduktiver Physikalismus
betrachtet werden sollte, weil diese Position die ursprüngliche Motivation des
Physikalismus verloren hat. Die Motivation für den Physikalismus stellte das Problem der
mentalen
Verursachung
in
einer
materiellen
Welt
dar.
Dieses
Problem
hat
philosophiehistorisch seine Wurzeln in Descartes’ Substanzendualismus: Wie kann die
nicht-ausgedehnte, nicht-räumliche denkende Substanz auf die ausgedehnte, räumliche
Substanz einwirken?454 Wie können wir stattdessen die grundsätzliche Motivation für den
Biologischen Naturalismus bestimmen? Es wurde auch gesagt, dass der Naturalismus
Lokalisierungsprobleme zu lösen versuche, d.h. er versucht bestimmte Entitäten,
Eigenschaften oder Prozesse in der natürlichen Welt zu lokalisieren. Es war ein wichtiger
Bestandteil der Argumentation in den Abschnitten 2.2. und 2.3., dass die
Lokalisierungsgrundlage nicht als jene der Physik oder Chemie aufgefasst werden muss,
sondern als jene der Evolutionsbiologie aufgefasst werden sollte. Welches grundsätzliche
Lokalisierungsproblem versucht der Biologische Naturalismus zu lösen?
454 Es war Prinzessin Elisabeth von der Pfalz, die Descartes mit Scharfsinn und Beharrlichkeit auf die mit
dieser Frage verbundenen Schwierigkeiten hingewiesen hat.
188
2.4. Zwei Naturen, ein Naturalismus
Auf die beiden Fragen nach der Motivation und nach der Lokalisierung werde ich mit
einem Rückgriff auf die Philosophiegeschichte antworten. Zunächst werde ich den
heutigen philosophischen Gebrauch der Ausdrücke „Naturalismus“, „Naturalist“ und
„naturalisieren“ durch diesen Rückgriff in ein anderes Licht rücken. Im Anschluss daran
schlage ich vor, die Motivation für den Biologischen Naturalismus darin zu sehen, den
Menschen in der Natur heimisch werden zu lassen. Das ist die Antwort auf die erste Frage.
Im Anschluss daran werde ich auf dem Wege einer Auseinandersetzung mit McDowell die
zweite Frage dahin gehend beantworten, dass der Biologische Naturalismus die zweite
Natur des Menschen in seiner ersten Natur zu lokalisieren versucht. Das präzisiert die
Metapher des Heimischwerdens.
Vom 16. bis zum 18. Jh. ist ein Naturalist jemand, der sich in der Naturgeschichte
auskennt. Er ist also jemand, der über Mineralien, Pflanzen, Tiere und Menschen Bescheid
weiß und diese Tatsachen ohne Bezug auf theologische und religiöse Fragestellungen
sammelt, ordnet und für weitere Diskussionen zur Verfügung stellt. Die Modelle dieses
Naturalisten sind etwa Aristoteles’ zoologische Schriften oder Plinius’ Naturgeschichte. Als
Kenner der Naturgeschichte weiß er über natürliche, lebendige Dinge einfach gut Bescheid.
Er hat von diesen Dingen „Wissenschaft“455. Das allerletzte, was ihn interessiert, ist die
Physik. Darüber hinaus achtet der Naturalist in erster Linie auf sekundäre Ursachen, und
zwar ohne Rücksicht auf primäre Ursachen. Das bedeutet, dass den Naturalisten nicht
Gottes Wirken (die causa prima) interessiert, sondern die Wirkungen natürlicher Ereignisse
(die causae secundae). Die frühen Naturalisten hatten neben der Naturgeschichte zwei weitere
bevorzugte „Wissenschaften“, nämlich die Medizin und die Historie.456 Diese beiden
„Wissenschaften“ waren normativ relevant. Während die Medizin lehrte, was ein gesunder
und was ein kranker Leib ist, lehrte die Historie, was tugendhafte oder kluge und was
lasterhafte oder unkluge Taten und Vorhaben sind. Beide „Wissenschaften“ lehren den
Menschen, verstanden als ein Lebewesen innerhalb der Naturgeschichte, in doppelter
Hinsicht, wie er zu leben habe.
Als „Naturalismus“ wird im 18. Jh. der Nachweis der natürlichen Existenz von
Phänomenen bezeichnet. So kann (destruktiv) der Naturalismus eines angeblichen
Wobei der Ausdruck „Wissenschaft“ hier als Sammelbegriff für das insgesamt und geordnet Gewusste in
einem Bereich anzusehen ist, analog etwa zum Ausdruck „Gerätschaft“. Ich halte den Ausdruck deshalb in
Anführungszeichen.
456 Vgl. Hoffmann 2005. Die Historie kann freilich nicht als „Wissenschaft“ im aristotelischen Sinne gelten.
Aber gerade dieses Wissenschaftsverständnis stand am Beginn der Neuzeit zur Disposition.
455
189
Wunders nachgewiesen werden457 oder (konstruktiv) der Naturalismus des Magnetismus
bewiesen werden (etwa im Gegensatz zu seiner Verurteilung als Betrug).458 „Naturalismus“
bedeutet hier soviel wie „Natürlichkeit“ im Gegensatz zu „Übernatürlichkeit“ oder
„Unnatürlichkeit“. Den Naturalismus eines Phänomens nachweisen, heißt nachzuweisen,
dass es als natürliches Phänomen existiert und somit einen Platz in der Naturgeschichte
verdient. Das Verb „naturalisieren“ schließlich ist ein Rechtsbegriff. Er bezeichnet in der
Neuzeit die Einbürgerung von Personen in ein Land, im übertragenen Sinn auch die
Einbürgerung von Fremdworten in einer Sprache.459 Noch in Zedlers Universallexikon ist
eine Naturalisierung entsprechend der Vorgang „da einem Fremdlinge oder Ausländer von
der hohen Landesobrigkeit alle diejenigen Rechte und Freyheiten ertheilet werden, welche
sonst nur denen gebohrenen Landeskinder und Einheimischen zustehen.“460 Naturalisieren
ist also ein Heimischwerden oder Heimischmachen.
In der frühen Neuzeit ist ein Naturalist also jemand, der sich vor dem Hintergrund
seiner „Wissenschaft“ darum bemüht, die Natürlichkeit von Lebewesen nachzuweisen,
indem er sie nicht in einem bestimmten Land, sondern in der Natur, aus der er seine
Kenntnisse bezieht, heimisch macht. Das eminente Objekt für einen solchen altmodischen
Naturalisten ist der Mensch, dessen Natürlichkeit er nachzuweisen sucht, mit dem Ziel, ihn
in der Natur heimisch werden zu lassen. Die Natürlichkeit des Menschen im Rahmen der
Naturgeschichte wird am besten dadurch aufgezeigt, dass er als Tier unter Tieren betrachtet
wird, und zwar als Tier mit einer ersten als auch mit einer zweiten Natur. Dadurch bemüht
sich der Naturalist den Menschen in der Natur heimisch werden zu lassen, wie es die
„Landeskinder und Einheimischen“ der Natur, die Tiere nämlich, bereits sind.
Der Begriff der zweiten Natur ist in der frühen Neuzeit durchaus geläufig. In
juristischen Kontexten etwa wird der Ausdruck in einem sehr weiten Sinne verwendet und
„covers customary law, local mores, folk memory, popular consensus, even culture in
general“.461 Der Erznaturalist Michel de Montaigne etwa fasst die kulturelle Gewohnheit als
zweite Natur des Menschen: „Die Gewohnheit ist eine zweite Natur [une seconde nature], und
„Le naturalisme d’un prétendu prodige.“ (Dictionnaire de L'Académie française, 1762: 198)
„…se dit du caractère de ce qui est naturel. ‚Plusieurs défendent le naturalisme du magnétisme: d’aûtres, en
plus grand nombre, n’y voient que du charlatanisme’.“(Jean-François Féraud: Dictionaire critique de la langue
française, Marseille: Mossy 1787f.: B714)
459 „Naturaliser. v. act. Rendre joüissant des mesmes droits & privileges que les naturels du pays. Il est
estranger, il faut des lettres du Prince pour le naturaliser. Quand il sera mort ses biens iront au Roy s’il n’est
pas naturalisé. Il s’est fait naturaliser François. Il se dit fig. des mots & des phrases que l’on transporte d’une
Langue en une autre. Inpromptu est un mot Latin, mais nous l’avons naturalisé. L’usage seul peut naturaliser
des mots estrangers. C’est une phrase Italienne, une phrase Espagnole, qui n’est pas encore naturalisée en
France.“ (Dictionnaire de L’Académie française 1694, 110)
460 Zedlers Universallexikon: 1235.
461 Maclean 1992: 173.
457
458
190
sie ist nicht weniger mächtig. Was der Gewohnheit fehlt, das fehlt auch mir.“462 Montaignes
Gedanke ist einfach und geht auf Aristoteles’ Ethik zurück.463 Um einen tugendhaften
Charakter zu erwerben, müssen Menschen zuerst durch Gewohnheiten Charakterzüge
erwerben, denn weder die Tugenden noch die Laster sind angeboren und vorgegeben. Sie
beruhen auf natürlichen Anlagen, die sich durch Gewohnheiten ausbilden:
„Also entstehen die Tugenden in uns weder von Natur aus noch gegen die Natur.
Vielmehr sind wir von Natur aus fähig, sie aufzunehmen, und durch Gewöhnung
werden sie vollständig ausgebildet.“464
Der Erwerb von Charakterzügen durch Gewöhnung, Erziehung und Lernen gehört
demnach zur Natur des Menschen. Unsere Disposition zum Erwerb von Charakterzügen
überhaupt wie auch unsere Disposition zu denken, zu handeln, zu imaginieren gehören zu
unserer natürlichen Ausstattung (zu unserer ersten Natur), und ebenso die Tatsache, dass
wir diese Dinge zu lernen imstande sind.465 Doch die spezifischen Ausprägungen dieser
Dispositionen sind von bestimmten kulturellen Traditionen abhängig. In ihnen bilden wir
unsere zweite Natur aus. Aber es gehört zu unserer Natur, dass wir eine zweite Natur
ausbilden.466
Die Bevorzugung der sekundären gegenüber den primären Ursachen und das
Interesse für Menschen als Naturwesen hat den Naturalisten bereits im 16. Jh. den
Verdacht eingebracht, sie würden den Menschen auf eine Stufe mit dem Tier stellen und
nach einer anderen Ursache für die Existenz der Welt und der Lebewesen suchen als
Gott.467 Deshalb findet sich in Zedlers Universallexikon nicht nur die Bestimmung der
Naturalisten als „diejenigen so die Natur wohl erforscht und eine solche Wissenschaft darin
erlanget haben, dass sie von natürlichen Dingen genugsamen Grund zu geben vermögen“,
sondern auch die Bestimmung für jene „welche dafür halten, dass die Vernunft den
Menschen alles lehre, was ihm zu seiner Seligkeit nöthig, dass er also der Offenbahrung der
„L’accoustumance est une seconde nature, et non moins puissante. Ce qui manque à ma coustume je tiens
qu’il me manque.“ (Montaigne 1965: 1010)
463 Die Idee lässt sich auch aus Ciceros De finibus 5.25 entnehmen.
464 EN II 1, 1103a23-26.
465 Vgl. dazu das Argument der Biosemantik gegen Sellars hermeneutischen Zirkel (vgl. 1.2.6.).
466 Diese positive Auffassung der zweiten Natur ist von der Idee zu unterscheiden, dass die zweite Natur (die
sozialen Konventionen) unsere erste Natur (die Gotteskindschaft oder Unschuldigkeit) verdeckt und
korrumpiert. Dieser Gedanke geht auf Augustinus zurück und findet sich, im Anschluss an Rousseau, bei den
Romantikern wieder.
467 „Naturaliste. s. m. Qui s’applique particulierement à estudier la Nature, qui fait profession de connoistre
les choses de la Nature. Aristote estoit un grand naturaliste. Pline le naturaliste. les naturalistes disent que
&c.“ (Dictionnaire de L’Académie française 1694, 110) „NATURALISTE. s.m. Celui qui s’applique
particulièrement à l’Histoire naturelle, qui s’attache à la connoissance des plantes, des minéraux, des animaux,
&c. Aristote étoit un grand Naturaliste. Pline le Naturaliste. Les Naturalistes disent que etc.“ (Dictionnaire de
L’Académie française 1762, 198)
462
191
heiligen Schrift nicht nöthig habe.“468 Diese Auffassung verwirft das strenge Lexikon als
„Naturalisterey“. Dieser Vorwurf gehört zum frühneuzeitlichen Naturalisten, denn er
versucht den Menschen in der Natur heimisch werden zu lassen, indem er ihn wie die Tiere
als Naturwesen betrachtet, und nicht als Ebenbild Gottes. Darüber hinaus sucht der
Naturalist nach normativen Richtlinien nicht in Gottes Geboten, sondern in der
„Wissenschaft“, die er von der Medizin und von der Historie hat. Man kann den
frühneuzeitlichen Naturalismus mit Novalis’ Charakterisierung der Philosophie in
Beziehung setzen: „Philosophie ist eigentlich Heimweh – Trieb überall zu Hause zu seyn.“469
Der Philosophierende ist Novalis zufolge nicht überall zuhause, er hat das Bedürfnis,
überall zuhause zu sein. „Überall“ meint hier, in der natürlichen Welt zuhause zu sein.470
Ein nach wie vor vertretbarer altmodischer Naturalismus wendet sich, anders als
der Szientismus, den Naturwissenschaften mithin nicht deshalb zu, damit diese das letzte
Wort haben, er sucht vielmehr nach ersten Worten. Der Biologische Naturalismus verlangt,
dass
wir
philosophische
Untersuchungen
mit
jenem
Bild
beginnen,
das
naturwissenschaftliche Theorien über die menschliche Natur und deren Platz in der Natur
vorzeichnet. Der Biologische Naturalist beginnt innerhalb dieses Bildes und versucht nicht
zuerst, eine externe Rechtfertigung für dieses Bild zu geben. Die Fragen, denen er in seinen
philosophischen Untersuchungen nachgeht, sind keine Fragen, die ihm durch die
Naturwissenschaften vorgegeben werden, es handelt sich vielmehr um traditionelle
philosophische Fragen. Die Naturwissenschaften sind eine Ressource zur Beantwortung
dieser Fragen, kein Ersatz für die Philosophie und kein exklusiver Quell sinnvoller Fragen.
Der Naturalist überlässt das Feld also nicht den Naturwissenschaften, vielmehr möchte er
sie zu Rate ziehen und seine begriffliche Arbeit mit ihrem Gang kompatibel halten. Neben
dem gemeinsamen Ziel der explanatorischen Vereinheitlichung ist auch dies mit der
Kontinuität zwischen Philosophie und Naturwissenschaft gemeint. Im Unterschied zu
Novalis verlangt der Biologische Naturalist nicht nach einem Heimischwerden in einem
„Naturganzen“. (Wir haben bereits in 2.1. gesehen, dass dieses metaphysische Bedürfnis die
Zedlers Universallexikon: 1237.
Novalis 1978, Bd. II: 675 („Das allgemeine Brouillon“, Nr. 857).
470 Er ist aber als Naturalist nicht überall nicht zuhause, er hat die „Wissenschaft“ von der Naturgeschichte, in
der er sich auskennt und von der er ausgeht (pace Heidegger 1983: 7ff.). Novalis’ Charakterisierung verleiht
dem Naturalismus etwas Sentimentales. Normalerweise wird der philosophische Naturalismus als eine harte,
nüchterne, sachliche und optimistische Sichtweise verstanden. Demgegenüber ist das hier skizzierte
altmodische Bild des Naturalismus tatsächlich sentimental und pessimistisch. Ein Naturalist zu sein bedeutet,
Menschen als zerbrechliche Gebilde aus vergänglichem Stoff zu sehen, und so als Teil der natürlichen
Ordnung. Wie Pflanzen und Tiere sind Menschen verletzlich und vergänglich, sie sind körperliche
Lebewesen, sie sind Staub und werden zu Staub. Darin sind sie Teil der natürlichen Ordnung. Und die
natürliche Ordnung wird von den „Wissenschaften“ und von den Naturwissenschaften beschrieben. Diese
Art des Heimischwerdens steht im Gegensatz zur Vorstellung des Heimischwerdens in einem theologischen
Kosmos.
468
469
192
teleologische Einsicht Schopenhauers verdorben hat.) Vielmehr verlangt er nach einem
Heimischwerden unserer Natur in jenem für uns als Lebewesen relevanten Bereich der
Natur, nämlich der Naturgeschichte verstanden als Evolutionsgeschichte.471 Wir können
die nach wie vor gültige Ansicht des altmodischen Naturalisten wie folgt formulieren: Er
will sowohl die erste als auch die zweite Natur des Menschen in einem Verständnis der
Natur, wie es ihm durch die biologischen Wissenschaften als Ausgangspunkt vorgegeben
wird, heimisch werden lassen oder lokalisieren.
Es scheint, als hätte ich mir bislang eine Äquivokation im Begriff der „Natur“ zu
nutze gemacht. Ist es nicht etwas Anderes, von der Natur des Menschen zu reden, als sich
zu fragen, wie der Mensch in die Natur passt? Einige Kritiker des harten und
unsentimentalen philosophischen Naturalismus der Gegenwart sind der Ansicht, dass hier
tatsächlich eine Äquivokation vorliegt, die in der Frage, was Naturalismus sei, keine Rolle
spielen darf:
„Dass die Kultur, wie viele Philosophen sagen, als ‚zweite Natur’ des Menschen
gelten kann, kann nicht ernsthaft zur Stützung des biologischen Naturalismus
angeführt werden. Jennifer Hornsby hat jüngst einen ‚naiven Naturalismus’
verteidigt, demzufolge es zur Natur des Menschen gehöre, intentionale Zustände
zu haben. Ähnlich hat schon Peter F. Strawson von ‚zwei Naturalismen’
gesprochen: Neben dem reduktiven Naturalismus gebe es einen Naturalismus der
menschlichen Natur, der natürliche Eigenheiten des Menschen gegen
Reduktionsansprüche des ersteren verteidigt. Hornsby und Strawson erliegen hier
einer bekannten Äquivokation im Naturbegriff: Wo die Rede davon ist, was in der
Natur des Menschen liegt, wird ‚Natur’ im Sinne von ‚Wesen’ oder ‚eigentlicher
Beschaffenheit’ verstanden. Verweise darauf, was in diesem Sinne in der Natur der
Sache – hier: des Menschen – liegt, begründen noch keinen Naturalismus. Werden
sie mit der Auffassung kombiniert, dass die Kultur die (zweite) Natur des Menschen
ausmache, können sie sogar einen dezidiert antinaturalistischen Charakter
annehmen.“472
Ich stimme darin überein, dass es nicht zwei Naturalismen gibt, mit allem anderen hingegen
nicht. Es ist, wie ich im Folgenden zeigen werde, durchaus sinnvoll, sich über die Relation
zwischen der Bedeutung von Natur im naturwissenschaftlichen Bild der Welt und der
Bedeutung der Natur als Wesen eines Dinges Gedanken zu machen. Denn der altmodische
Naturalist ist bemüht, die Natur des Menschen in jener Natur, der er sein Wissen über die
Naturgeschichte verdankt, heimisch zu machen. Auch der moderne Biologische Naturalist
lokalisiert die Natur des Menschen in der naturwissenschaftlich verstandenen Natur.
Insofern bin ich nicht der Ansicht, dass die beiden Bedeutungsebenen des Begriffs „Natur“
die Gefahr einer Äquivokation in sich bergen. Ich werde diese These in einer dialektischen
471 Ich werde den Animalismus in Kapitel 4 verteidigen und die Ansicht vertreten, dass wir essenziell Tiere
sind. Deshalb ist der durch die Evolutionstheorie behandelte Bereich der für uns relevante Bereich.
472 Keil und Schnädelbach 2000: 18f.
193
Auseinandersetzung mit McDowells Unterscheidung zwischen zwei Arten des
Naturalismus entwickeln und begründen.
McDowell glaubt, dass die meisten zeitgenössischen Formen des Naturalismus
einer irreführenden und verengten Auffassung der Natur anhängen.473 Der zeitgenössische
Naturalismus vertrete die Auffassung, die Realität sei „exhausted by the natural world, in
the sense of the world as the natural sciences are capable of revealing it to us“.474 Man kann
diese
Auffassung
als
„naturwissenschaftlichen
Naturalismus“
bezeichnen.
Der
naturwissenschaftliche Naturalist vertritt ein Bild der Natur als einem von den
Naturwissenschaften verzeichneten und kartografierten Bereich, in dem wir einen Platz
finden müssen für Eigenschaften, die für unser Leben bestimmend sind, weil es sich bei
diesen Eigenschaften offenbar nicht um basale physikalische, chemische oder biologische
Eigenschaften handeln kann. Der Naturalist versucht, diese Eigenschaften in der Natur zu
lokalisieren, er löst Lokalisierungsprobleme. Zum Bild dieses Naturalismus gehöre es, dass
Intentionalität, Rationalität oder Moralität als etwas betrachtet werden, das einer
Lokalisierung in Naturtatsachen bedarf. Trotz der Tatsache, dass Mind and World diesen
Naturalismus unvorsichtigerweise mit einem „Naturalismus des Raums der Naturgesetze“
gleichzusetzen scheint, muss man im Auge behalten, dass der naturwissenschaftliche
Naturalismus weiter ist als etwa ein reduktiver, nomologischer Physikalismus. So gehören
gerade auch – wie McDowell an den ethischen Naturalismus gerichtet meint – die
Versuche, unser mentales und moralisches Leben in biologischen Gegebenheiten darüber
„what animals of a particular species need in order to do well in the sort of life they
naturally live“475 zu einem aus seiner Sicht unzulässig restriktiven naturwissenschaftlichen
Naturalismus.
Nun setzt McDowell diesen Formen eine liberalere Auffassung von Naturalismus
entgegen, einen „Naturalismus der zweiten Natur“. Den aristotelischen Grundgedanken
der zweiten Natur haben wir in der Diskussion des Naturalismus der frühen Neuzeit
bereits kennen gelernt. McDowells Ziel besteht darin, dass wir die zweite Natur des
Menschen als Teil der Natur anerkennen, und uns deshalb nicht weiter gedrängt fühlen
müssen, nur dem verengten Naturbegriff anzuhängen. Die zweite Natur des Menschen
besteht wesentlich darin, einen Raum der Gründe zu bewohnen, d.h. durch Bildung zu
einem für Gründe empfänglichen Wesen heranzuwachsen. Der Begriff der zweiten Natur
McDowell hat unterschiedliche Namen für den naturwissenschaftlichen Naturalismus, etwa „neo-Humean
naturalism“, (McDowell 1998b: 183, 194), „empiristic naturalism“ (McDowell 1998b: 186), „bald naturalism“,
„naturalism of the realm of law“ oder „naturalism of disenchanted nature“ (McDowell 1996). Wichtig ist,
dass die Natur „no longer construed as addressed to us“ sei (McDowell 1998b: 176).
474 McDowell 1998b: 173.
475 McDowell 1998b: 176.
473
194
ist jedoch nicht nur auf Menschen beschränkt. McDowell schreibt, dass „the idea of second
nature itself is not exclusively applicable to rational animals. It is no more than the idea of a
way of being [ …] that has been acquired by something on the lines of training. It can be
second nature to a dog to roll over, say, on the command ‘Roll over’.“476 Eine zweite Natur
wird von einem Tier erworben, das konditioniert und trainiert werden kann, das der
Gewöhnung, des Lernens, der Erziehung und Bildung fähig ist. Selbst wenn wir also von
spezifisch menschlichen Fähigkeiten absehen, enthält der Bereich des Natürlichen zweite
Naturen, die keineswegs durch strikte Naturgesetzte beherrscht werden. Doch im
Naturalismus der zweiten Natur geht es allein um die zweite Natur des Menschen (oder um
die zweite Natur rationaler Wesen). Was ist daran Besonderes? Warum müssen wir hier
eine zweite und eigene Art von Naturalismus einführen? Der Kontrast, um den es
McDowell geht, ist ein Gegensatz zwischen „what can be made intelligible by placement in
the space of reasons and everything else. The distinction cannot be equated with a division
between first and second nature.“477
Wir haben es also einerseits mit der zweiten Natur des Menschen zu tun, die ganz
und gar in den Raum der Gründe gehört, und allem anderen, was natürlich ist. Auf dieser
anderen Seite finden wir sowohl erste als auch zweite Naturen. Wie steht es aber mit der
ersten Natur des Menschen? So finden sich beispielsweise Überreste der ersten Natur in
basalen emotionalen Reaktionen oder in den durch die Psychoanalyse beschriebenen
Prozessen.478 Wir haben es mit einem Kontrast zwischen einem Raum der Gründe und
allem Anderen in der Natur zu tun, das Naturgesetze zwar einschließt, aber nicht mit dem
Raum der Naturgesetze gleichgesetzt werden kann. Diese beiden kontrastiven natürlichen
Räume stehen dem Nicht- oder Über-Natürlichen entgegen. Vor dem Hintergrund des
Kontrastes zwischen dem Natürlichen und dem Über-Natürlichen kann man trotz aller
Unterschiede sagen, dass es für Menschen ebenso natürlich ist, eine zweite Natur zu
erwerben, wie es für Gold natürlich ist, bei einer bestimmten Temperatur zu schmelzen.
Beides sind natürliche Prozesse, bei denen es mit rechten Dingen zugeht, die ohne
Übernatürliches auskommen. Die Einheit all der heterogenen Gegebenheiten, die natürlich
sind und die Natur ausmachen, wird also durch den Kontrast zum Nicht- oder
Übernatürlichen hergestellt. Wie McDowell sagt, dass „the only unity there needs to be in
the idea of the natural […] is captured by a contrast with the idea of the supernatural, the
spooky or the occult“.479
McDowell 2000: 98.
McDowell 2000: 99.
478 McDowell 1995: 183 n2.
479 McDowell 2000: 99.
476
477
195
McDowells Arbeiten erwecken bisweilen den Eindruck, als ob wir gleichsam von
selbst wüssten, was Natur ist, wenn wir uns nur von der irreführenden und engen
Auffassung losmachen könnten. Doch über das Wort „Natur“ ist zu Recht gesagt worden,
es sei ein Wort „which there is none more ambiguous and equivocal“.480 Auf den ersten
Blick könnte es scheinen, als würde der Naturalismus der zweiten Natur lediglich den
restringierten
Bereich,
den
der
naturwissenschaftliche
Naturalismus
als
sein
Lokalisierungsgebiet anerkennt, ausweiten. Doch dem ist nicht so, denn McDowell macht
sich zwei unterschiedliche Bedeutungen von „Natur“ zu Nutze. Für den Naturalismus der
zweiten Natur ist die Natur gar kein Bereich (die natürliche Welt), über dem man fragen
könnte, ob etwas in ihm lokalisiert werden kann oder nicht, ob es in die Natur
eingeschlossen werden kann oder nicht. Vielmehr wird „Natur“ in dem Sinne verstanden,
wie man von der Natur oder dem Wesen einer Sache spricht. Freilich ist Natur kein
Bereich, in dem Dinge lokalisiert oder heimisch gemacht werden könnten, sondern die
Natur ist etwas, das wesentlich zu einer Sache gehört. Diese Natur ist nicht etwas, in das
man Sachen stellen kann, sondern etwas, das in den Sachen ist. Innerhalb des
naturwissenschaftlichen
Naturalismus
gibt
es,
wie
wir
gesehen
haben,
Meinungsverschiedenheiten darüber, ob der Physikalismus angemessen ist oder nicht, ob er
reduktionistisch sein sollte oder nicht usw. Doch diese Meinungsverschiedenheiten finden
innerhalb eines geteilten Rahmens statt, nämlich innerhalb eines Verständnisses der Natur
als einem von den Naturwissenschaften definierten Bereich, in dem bestimmte
Eigenschaften lokalisiert werden können oder auch nicht. Demgegenüber bewegt sich der
Naturalismus der zweiten Natur nicht in diesem Rahmen, da er den Begriff der Natur in
einem anderen Sinne versteht, nämlich im Sinne der Natur einer Sache.
Dieser Wechsel der Bedeutungsebene hat Folgen. Ich möchte nur eine
herausheben. McDowell kann diesen Begriff der Natur nicht als Kontrastbegriff zum
Übernatürlichen verwenden. Ebenso wie man nach der Natur natürlicher Dinge fragen
kann, so kann man natürlich auch nach der Natur übernatürlicher Dinge fragen. Wir
können nach der Natur der Engel oder Gottes fragen ohne glauben zu müssen, dass es sich
dabei um natürliche und nicht um übernatürliche Wesen handelt. Offenbar kann der
Hinweis auf die Natürlichkeit der zweiten Natur als die Natur einer Sache die Einheit des
Kontrastes zum Übernatürlichen nicht fassen. Worin denn sonst besteht die Einheit der
Natur? Nun, die Einheit der Natur wird gegeben durch die Idee einer natürlichen Welt, wie
sie
die
Naturwissenschaften
beschreiben
können.
Dies
ist
die
Antwort
des
naturwissenschaftlichen Naturalisten. Darüber hinaus müssen wir auch noch dasjenige, was
480
Hume, Treatise 3.1.2.
196
wir als die Natur einer Sache auffassen (beispielsweise über die Natur der Normativität
oder über die Natur des Menschen), in der natürlichen Welt, wie sie die
Naturwissenschaften beschreiben können, lokalisieren. Die Natur einer Sache muss also in
der Natur, verstanden als dem Bereich der natürlichen Welt, wie sie die
Naturwissenschaften beschreiben können, lokalisiert werden. Dies entspricht den
frühneuzeitlichen Bedeutungen von „Naturalismus“ und „naturalisieren“: Wir erkennen die
Natürlichkeit eines Phänomens an, wenn wir es in der naturwissenschaftlich aufgefassten
Natur lokalisieren können. Und wir lokalisieren ein solches Phänomen, indem wir es in
vereinheitlichende
Argumentationsschemata
einbinden.
So
werden
die
beiden
unterschiedlichen Bedeutungen im Begriff der Natur zusammengeführt. Als Konsequenz
ergibt sich, dass wir keine zwei Arten von Naturalismus zu unterscheiden brauchen. Es
kann nur einen geben. Der naturwissenschaftliche Naturalismus schließt den Naturalismus
der zweiten Natur ein.
Diese Auffassung wird indirekt durch McDowell unterstützt. Ich habe bereits
darauf hingewiesen, dass sich zweite Naturen auf beiden Seiten des Kontrastes zwischen
dem Raum der Gründe und allem Anderen, was natürlich ist, finden lassen. Der
naturwissenschaftliche Naturalismus übersehe, dass die zweite Natur von Lebewesen, die
für Gründe empfänglich sind, eben auch zur Natur gehöre, denn er nimmt nur die durch
die Naturwissenschaften erklärbare Natur in den Blick. Warum aber sollten einige zweite
Naturen, nämlich jene der Tiere, durch die Naturwissenschaften erklärbar sein, andere, jene
der Menschen, hingegen nicht? Zweifellos gehört die zweite Natur von Tieren zum
Untersuchungsbereich bestimmter Naturwissenschaften. Wie es scheint, ist unsere zweite
Natur sui generis. Denken wir etwa daran, wie einem Hund Befehle beigebracht werden.
McDowell meint, dass
„the intelligibility of this behaviour [of the dog] is not in any interesting sense sui
generis, by comparison with the intelligibility of, say, pricking up the ears in
response to a noise or chasing a squirrel. Apart from how it originates, the second
nature of dogs is just like their first nature.“481
Doch aus der Tatsache, dass unsere zweite Natur sui generis ist, folgt natürlich nicht, dass sie
nicht durch die Naturwissenschaften erklärt werden kann. Was McDowell braucht, ist ein
Argument dafür, dass die Empfänglichkeit für Gründe (unsere begrifflichen oder rationalen
Vermögen) nicht naturwissenschaftlich erklärt werden kann, er hat jedoch kein solches
Argument:
481
McDowell 2000: 99.
197
„I do not pretend to have an argument that the bald naturalist programme cannot
be executed. The point is rather this: […] Given that the motivation [of integrating
the mind into nature] is better fulfilled by a different way of thinking, why
bother?“482
Doch nach allem, was wir gesehen haben, wird das Ziel, den Geist in der Natur heimisch
zu machen, keineswegs besser erreicht durch den Naturalismus der zweiten Natur, denn
die Frage bleibt offen, inwiefern die zweite Natur des Menschen in der natürlichen Welt
heimisch gemacht werden kann. Diese Frage wird umso drängender, wenn man die
explanatorische Vereinheitlichung als Ziel naturwissenschaftlicher und philosophischer
Theoriebildung betrachtet, wie ich es in Abschnitt 2.3. vorgeschlagen habe.
Wir finden jedoch nicht nur die zweiten Naturen auf beiden Seiten des Kontrastes
zwischen dem Raum der Gründe und allem Anderen, was natürlich ist, sondern auch das
Phänomen des Inhalts. Es ist durchaus natürlich, im Alltag weit verbreitet und durch die
Naturwissenschaften gestützt, dass wir den Zuständen von Tieren Inhalte zuschreiben,
indem wir ihnen beispielsweise Erinnerungen, Wahrnehmungen, Absichten oder Irrtümer
zuschreiben. Es besteht zunächst kein Grund zur Annahme, alles tierliche Verhalten sei
„nothing but a succession of biological needs [and] imperatives“.483 Mind and World vertritt
bekanntlich die These, dass Tiere keine Weltorientierung haben. In dieser These inbegriffen
ist, dass Tiere nicht im selben Sinne Wahrnehmungserfahrungen haben wie wir. Diese
These ist häufig kritisiert worden. Allerdings hat McDowell diese These in der Folge etwas
qualifiziert. In einer Antwort auf einen Kritiker schreibt er:
„There is an obvious sense in which content that never becomes the content of a
conceptual capacity is not conceptual. So I am acknowledging that at least some of
the content of a typical world-disclosing experience is not conceptual in that sense.
[…] What is important is this: if an experience is world-disclosing, which implies
that it is categorically unified, all its content is present in a form in which … it is
suitable to constitute contents of conceptual capacities. Materially identical content
can show up elsewhere in a different form. My experience might disclose to me
482 McDowell 1996: 238. Man könnte sich ein Argument der folgenden Art vorstellen, das vom
naturwissenschaftlichen Naturalismus zum Naturalismus der zweiten Natur führt: (i) Alle Arten von
Naturalismus fordern, dass wir natürliche Fähigkeiten als zur Natur gehörig betrachten. (ii) Für den
zeitgenössischen Naturalismus ist Natur naturwissenschaftliche Natur. (iii) Die Naturwissenschaft kann
unsere rationalen und begrifflichen Fähigkeiten nicht erklären. (iv) Also kann der zeitgenössische
Naturalismus unsere rationalen und begrifflichen Fähigkeiten nicht in die Natur integrieren. (v) Doch
rationale und begriffliche Fähigkeiten sind natürliche Fähigkeiten von Menschen. (vi) Also sollte der
zeitgenössische Naturalismus unsere rationalen und begrifflichen Fähigkeiten als zur Natur gehörig
betrachten. (vii) Unsere rationalen und begrifflichen Fähigkeiten gehören zur zweiten Natur des Menschen.
(viii) Die zweite Natur des Menschen kann wegen (iii) naturwissenschaftlich nicht erklärt werden. (ix) Also
sollte der zeitgenössische Naturalismus Prämisse (ii) aufgeben, er sollte stattdessen (vii) akzeptieren. Doch ein
solches Argument will McDowell gerade nicht liefern. Die Biosemantik ist der Versuch, dieses Argument zu
entkräften.
483 McDowell 1996: 117.
198
that an opening in a wall is big enough for me to go through. A cat might see that
an opening in a wall is big enough for it to go through.“484
Diese Passage enthält viele subtile Punkte, die ich nicht alle entfalten kann. Hier interessiert
Folgendes: Im Gegensatz zum Inhalt tierlicher Repräsentationssysteme ist der Inhalt von
mentalen Zuständen der Bewohner des Raums der Gründe offenbar kategorisch
einheitlich, deshalb der Form nach begrifflich und steht deswegen für die Ausübung
begrifflicher Vermögen zur Verfügung. In unserem Zusammenhang ist jedoch der
Umstand von Interesse, dass sich dasjenige, was McDowell „materiell identischer Inhalt“
nennt, auf beiden Seiten des Kontrasts zwischen dem Raum der Gründe und dem Rest der
Natur findet. Es bleibt darum die Frage offen, was dieser Inhalt sein soll. In welchem Sinne
verfügen sowohl Tiere als auch Menschen über Inhalte?
Der Biologische Naturalismus der Biosemantik bietet auf diese Frage eine Antwort
an. Anders als McDowell verzichtet die Biosemantik darauf, den Unterschied zwischen uns
und anderen Tieren ohne Notwendigkeit zu übertreiben. Anders als McDowell kennt die
Biosemantik nur eine Art von Naturalismus. Und schließlich kennt die Biosemantik jene
Sorge nicht, die McDowell zufolge die neuzeitliche Philosophie umtreibt, und die in seinen
Augen ausgetrieben werden muss, nämlich die Sorge, dass der Geist nicht im Kontakt zur
Welt stehen könnte. Der Sorgenaustreiber ist einfach: Betrachtet man Repräsentationen,
mentale Zustände oder den Geist als Anpassungen, die im Laufe der Evolution durch
natürliche Selektion entstanden sind, so kann es keine echte Sorge darum geben, ob der
Geist in Kontakt mit der Welt steht, denn ohne diesen Kontakt wäre niemand da, der sich
Sorgen machen könnte.
484
McDowell 2009a: 319.
199
3. NATÜRLICHE NORMEN
3.1. Normative Kategorien
3.1.1. Das Normativitätsproblem
Ziehen wir einige der bislang gesponnen Fäden zusammen, um uns der These zu nähern,
dass Normen objektive Eigenschaften und Teile der biologischen – und in Abhängigkeit
davon der kulturellen – Welt sind. Repräsentationstheorien sind Theorien über R-Inhalt,
nicht über IR-Inhalt, denn sie können für sich genommen das Problem der
Fehlrepräsentation nicht lösen (1.1.1.-1.1.3.). Die Unterscheidung wahr/falsch ist
wesentlich für Theorien des IR-Inhalts. In der semantischen Evaluierbarkeit des IR-Inhalts
besteht seine normative Dimension. Eine normative Dimension kommt ins Spiel, weil eine
Repräsentation die Aufgabe hat, ein bestimmtes R-Ziel zu repräsentieren. Sie kann diese
Aufgabe auch nicht erfüllen, und zwar indem sie auftritt, ohne dass dieses R-Ziel dafür
verantwortlich wäre. Sie erfüllt dann nicht die Aufgabe, die sie erfüllen sollte. Deshalb ist das
Problem der Fehlrepräsentation ein „Normativitätsproblem“. Das Problem der
Fehlrepräsentation ist ein Normativitätsproblem, weil Normen nicht nur Dinge betreffen,
die getan werden sollen oder müssen, sondern auch die Frage berühren, wie Dinge sein sollen
oder sein müssen.
Ohne eine normative Dimension kann eine Repräsentation also keinen IR-Inhalt,
kein ihr zugeeignetes R-Ziel, haben. Eine Theorie, die das Normativitätsproblem löst, muss
zeigen, inwiefern Repräsentationen über eine normative Dimension verfügen. Diese
normative Dimension ist, abstrakt gesprochen, ein Maß, von der die Repräsentation
abweichen kann. Woher haben Repräsentationen jedoch das Maß, von dem sie (als
Fehlrepräsentation) abweichen können? Die Biosemantik versucht, eine naturalistische
Antwort auf das Normativitätsproblem – und damit auch auf Kants Frage: Auf welchem
Grunde beruht die intentionale Beziehung einer mentalen Repräsentation zu ihrem
Gegenstand? – zu geben (1.1.2.). Dies tun alle Versionen der Teleosemantik: „There are a
number of different teleological theories of mental content […] it’s central to all of them
that a certain normative notion of function underwrites a certain normative notion of
content.“485
Die normative Dimension von Repräsentationen ergibt sich aus der Normativität
von Funktionen. Doch was ist mit der Normativität einer Funktion gemeint? „Funktion“
485
Neander 2006: 550 (meine Hervorhebungen).
200
ist ein normativer Begriff, weil eine Entität oder ein Prozess eine Funktion haben kann,
auch wenn sie nicht ausgeführt wird oder nicht ausgeführt werden kann. Die Funktion F
einer Entität oder eines Prozesses ist nicht dasjenige, was sie aktuell tun oder zu tun
disponiert sind, sondern was sie tun sollen. Doch teleosemantische Theorien brauchen nicht
nur normative, sondern auch objektive Funktionen. Die Normativität einer Funktion F
darf nicht aus der Absicht eines Zwecksetzers resultieren, der einer Entität eine Funktion
zuweist, denn so würde ja die Intentionalität des Zwecksetzers erklären, warum Funktionen
eine normative Dimension haben, und nicht die Funktion, warum Intentionalität eine
solche Dimension hat. Die Objektivität von Funktionen kann durch Darwins Theorie der
natürlichen Selektion etabliert werden, denn Darwins Theorie rehabilitiert die natürliche
Teleologie (2.1.). Darwins Theorie lässt sich als Argumentationsschema formulieren und ist
so auch auf nicht-biologische Funktionen anwendbar (2.3.). Daraus ergibt sich die Theorie
der Echten Funktion, die in Abschnitt 1.1.4. dargelegt wurden:
1. Normativität. Token von Entitäten oder Prozessen kommt eine Funktion F durch ihre
Zugehörigkeit zu einem Typ Z mit der Funktion F zu. Weil Token einer Entität oder
eines Prozesses zum Typ T mit der Funktion F gehören, kann ihnen F zukommen,
selbst wenn sie als Token aktuell oder überhaupt nicht in der Lage sind F auszuüben.
Doch weil sie zum Typ T mit der Funktion F gehören, haben sie die Funktion F und
sollten F tun können.
2. Teleologie. Funktionen sind bestimmte Wirkungen einer Entität oder eines Prozesse, die
diese Wirkungen aufgrund einer Eigenschaft E haben. Jene Wirkungen von E sind
relevant, die erklären, weshalb E bzw. weshalb Träger mit E existieren. E ist
vorhanden, weil es F tut, und F erklärt, warum E vorhanden ist. Relevant ist, mit
anderen Worten, die selektierte Wirkung von E.
3. Objektivität. Selektierte Wirkungen kommen Eigenschaften zu, insofern es sich bei
ihnen um Token einer reproduktiv etablierten Eigenschaft handelt, die ihre Träger als
Mitglieder einer REF haben, und insofern die Existenz von Mitgliedern einer REF mit
diesen Eigenschaften durch das Argumentationsschema der einfachen Selektion erklärt
werden kann. Eine REF bildet einen Typ, deren Mitglieder Token sind. In
Abhängigkeit von einer REF und in Abhängigkeit von einer reproduktiv etablierten
Eigenschaft also haben Mitglieder eine bestimmte Eigenschaft mit einer Funktion. REF
existieren ebenso objektiv wie die Evolutions- und Selektionsprozesse, die dazu führen,
dass sie bestimmte Eigenschaften mit selektierten Wirkungen haben.
201
4. Historizität. Sowohl die Etablierung einer REF als auch die Etablierung einer
reproduzierbaren Eigenschaft einer solchen Familie sind notwendigerweise historische
Vorgänge. Da eine Entität oder ein Prozess über eine Funktion nur als Token eines
Typs verfügt, der durch die Etablierung einer Reproduktiven Familie mit einer
Selektionsgeschichte gebildet wird, sind Funktionen notwendigerweise historisch.
Echte Funktionen müssen also normativ, teleologisch, objektiv und historisch verstanden
werden. Ich werde Funktionen, die sowohl objektiv als auch teleologisch und historisch
sind, als „natürliche Funktionen“ bezeichnen. Von „biologischen Funktionen“ werde ich
sprechen, wenn ich mich auf selektierte Wirkungen von Organen, Formen oder
Verhaltensweisen von Lebewesen beziehe, von „artifiziellen“ oder „kulturellen“
Funktionen hingegen, wenn sie sich auf die selektierten Wirkungen von Produkten von
Lebewesen beziehen. Sowohl biologische, als auch kulturelle Funktionen finden sich im
Tierreich und in der Menschenwelt. Doch die kulturelle Welt wird durch Artefakte ungleich
stärker strukturiert. Dieser Unterschied, so werden wir sehen, läuft auf einen Unterschied
sui generis hinaus (3.2.6.). Nun sind natürliche Funktionen nur dann Echte Funktionen,
wenn ihnen eine normative Dimension zukommt. Um das Normativitätsproblem zu lösen,
muss die Biosemantik also behaupten, dass es natürliche Normen gibt.
Millikan zeigt sich darin als Schülerin von Sellars, dass ihr Ziel darin besteht, die
natürliche Dimension von Repräsentationen (ihr R-Inhalt) und die normative Dimension
von Repräsentationen (der IR-Inhalt) zu integrieren (1.2.6.-1.2.7.). Echte Funktionen sollen
eine biologische Lösung des Normativitätsproblems leisten, denn biologische Funktionen
sind natürliche Normen:
„Picturing, indicating, and inference are equally involved in human representing,
but as biological norms rather than as mere dispositions. It is not facts about how
the system does operate that make it a representing system and determine what it
represents. Rather, it is the facts about what it would be doing if it were operating
according to biological norms. When functioning properly, a [for example
indicative] mental representation co-occurs with its represented, pictures what it
represents, and (if it is of the right rather sophisticated sort) participates in
appropriate inferences.”486
Gibt es biologische Normen? Gibt es natürliche Normen? Nicht alle würden diese Fragen
positiv beantworten, nicht einmal alle Teleosemantiker. Ich habe bereits wiederholt
Neanders Formulierung zitiert, es sei allen teleosemantischen Ansätzen gemein, „that a
certain normative notion of function underwrites a certain normative notion of content“.
Allerdings werden teleosemantische Theorien nicht nur von Millikan oder Neander
486
WQP: 10f.
202
vertreten, sondern auch von Papineau und Dretske. Letztere glauben zwar, dass es
natürliche Funktionen gibt, aber sie bestreiten deren Normativität. Dretskes Reaktion auf
Millikans Normativitätsproblem lautet:
„The problem to which Millikan’s biological solution is a solution no longer seems
like a problem to me. Beliefs and judgments must be either true or false, yes, but
there is nothing normative about truth and falsity. What makes a judgment false
(true) is the fact that it fails (or succeeds) in corresponding to the facts, and failing
(or succeeding) in corresponding to the facts is, as far as I can see, a
straightforward factual matter. Nothing normative about it.”487
Aus dieser Perspektive betrachtet, besteht das teleosemantische Projekt nicht darin, ein
Normativitätsproblem zu lösen, sondern darin, das Problem der Fehlrepräsentation zu
lösen. Was solche Theorien brauchen, ist eine Scheidung in korrekte und inkorrekte Fälle.
Man mag eine Scheidung in korrekte und inkorrekte Repräsentationen als Einführung einer
„deskriptiven Norm“ auffassen oder nicht, doch dabei kann es sich nur um QuasiNormativität und nicht um genuine Normativität handeln. Genuine Normen sind
präskriptiv, sie verlangen ein Sollen oder ein Müssen, das Forderungen an
Verhaltensweisen stellt. Dretske bestreitet also, dass das Problem der Fehlrepräsentation
ein Normativitätsproblem darstellt, weil er eine bestimmte Auffassung von Normativität
unterschreibt. Dies ist auch der Punkt von Papineau:
„I don’t think that the teleosemantics itself says anything about norms, nor
therefore anything about how to reconcile normativity with naturalism. Whatever
norms are, I take it that they must involve some kind of prescription, some kind of
implication about what ought to be done. This simply isn’t true of the biological
facts on which the teleosemantic theory rests.“488
Das eine sind Fakten, Normen das andere. Normativität wird präskriptiv aufgefasst. Alles
andere ist nicht Normativität, sondern wird irreführend nur so genannt: „Wherever the
normativity of content comes from, it can’t be from biology, since biology deals in facts,
not prescriptions.“489 Die Reaktion von Neander und Millikan auf diese Vorbehalte ist
defensiv. Sie weisen darauf hin, dass der Ausdruck „normativ“ in der Teleosemantik
deskriptiv verwendet werde. (Ein anderes Beispiel für deskriptive Normen wären
statistische Normen.) In der präskriptiven Verwendung handelt es sich um Vorschriften,
die etwas erfüllen sollten oder die man befolgen sollte. In der deskriptiven Verwendung
handelt es sich um Aufgaben, die erfüllt werden können oder auch nicht, sogar wenn der
Entität die Disposition dazu fehlt. Letztlich, so scheint es, kommt es nicht darauf an, ob
Dretske 2000: 247.
Papineau 2003a: 11 n5.
489 Papineau 2001: 280.
487
488
203
Funktionen wirklich als „normativ“ bezeichnet werden.490 Doch das hilft natürlich nicht
weiter und geht am Vorbehalt vorbei. Der Vorbehalt lautet ja: Nur präskriptive Normen
sind genuine Normen, alles andere kann man „normativ“ nennen, hat jedoch nichts mit
Normativität zu tun, so dass präskriptive und deskriptive Normen nichts miteinander
gemein haben als den Namen. Schließlich muss man sich auch fragen, ob nicht die
präskriptiven Normen ausschlaggebend für das Normativitätsproblem sind.491 Dies alles
wäre schlecht für die Biosemantik. Meines Erachtens muss ihre Strategie nicht defensiv,
sondern offensiv sein. Sie muss sich der Frage annehmen, was deskriptive und präskriptive
Normativität gleichermaßen als Normativität auszeichnet. Und sie muss sich die Frage
stellen, ob sie die angedeutete Unterscheidung zwischen Tatsachen und Normen
akzeptieren soll. Die Teleosemantik braucht nicht nur deskriptive Quasi-Normativität,
sondern ein umfassendes Verständnis natürlicher Normativität.
Das Hauptziel dieses Kapitels besteht deshalb darin, die Grundlagen für eine
Theorie natürlicher Normen zu liefern. Ohne eine solche Theorie kann die Biosemantik
nicht erfolgreich sein. Ich werde die Grundlagen einer solchen Theorie dadurch liefern,
dass ich die Normativität, die Millikans Biosemantik benötigt, und die Normativität, die
Philippa Foots naturalistische Tugendethik braucht, vereinheitliche. Die Vereinheitlichung
der beiden Ansätze zu einer Theorie natürlicher Normen soll nicht einfach die Grundlage
für eine spezielle Normativitätstheorie liefern, der gegenüber man auch noch Grundlagen
für eine weitere spezielle Normativitätstheorie (etwa für Handlungsnormen) setzen könnte.
Vielmehr geht es darum, die Grundlagen für eine Theorie natürlicher Normen als
Grundlage einer allgemeinen Normativitätstheorie zu liefern.
Um dieses Ziel zu erreichen, werde ich zuerst darlegen, wie das Wesen der
Normativität durch die Idee erfasst werden kann, dass die Quelle der Normativität in der
Zugehörigkeit zu einer normativen Kategorie besteht, deren definierendes Merkmal die
Möglichkeit defekter Mitglieder ist (3.1.4.). Diese Idee bereite ich vor mittels einer
Unterscheidung zwischen Seinsollen und Tunsollen (3.1.2.) und einer attributiven
Auffassung von „gut“ (3.1.3.). Im nächsten Teil dieses Kapitels soll der Grundgedanke
So meint auch Dretske: „I’m not sure the quality we are after is normative […]. That will depend, I
suppose, on what one means by ‘normative’. But whatever it is, it is something capable of grounding the
difference between the true and the false, right and wrong, correct and incorrect, valid and invalid. It is, in a
word, something capable of putting the mis- into representation and the mal- into function.“ (Dretske 2006:
72 n3)
491 Papineau meint: „My knuckles have arguably been biologically designed to hit people with, but it doesn’t
in any sense follow that I ought so to use them. Again, a number of human male traits have undoubtedly
been designed to foster sexually predatoriness, but it doesn’t follow that men ought to be sexually predatory.
Similarly with teleosemantics and judgement. As a teleosemanticist I hold that our beliefs have been
biologically designed to track their truth conditions. But I don’t think that this does anything to show they
ought to do this.” (Papineau 2003a: 21 n5)
490
204
zunächst anhand funktionaler normativer Kategorien durchgeführt werden. Zuerst wende
ich mich biologischen Funktionen zu und analysiere, nachdem ich dargelegt habe, dass
alternative Konzeptionen scheitern müssen (3.2.1.-3.2.2.), die Normativität von
biologischen Funktionen (3.2.3-3.2.4.). Darauf wende ich mich kulturellen Funktionen zu
und
deute
die
Funktionen
von
Artefakten – indem
ich
das
Verfahren
der
Theoriekonstruktion anwende (1.1.6.) und das Ziel der theoretischen Vereinheitlichung
verfolge (2.3.) – in Analogie zu biologischen Funktionen (3.2.5.-3.2.6.). Anschließend werde
ich die Idee der normativen Kategorie um spezifische normative Kategorien erweitern (3.3.1.3.3.3.). Denn nicht alle normativen Kategorien sind funktionale Kategorien. So können
beispielsweise biologische Arten defekte Mitglieder haben, auch wenn eine biologische Art
keine funktionale normative Kategorie ist. Inwiefern die Zugehörigkeit zu einer
biologischen Art eine Norm darstellt, haben Aristoteliker und Aristotlikerinnen wie Foot,
Michael Thompson und Rosalind Hursthouse dargelegt. Ich werde ihre Vorschläge
aufnehmen und gegen Einwände verteidigen (3.3.1.). Im zweiten Kapitel ihres Buches
Natural Goodness, das den Titel „Natural Norms“ trägt, lädt Foot selbst zu einem Vergleich
mit Millikan ein, indem sie sich strikt von ihr abzugrenzen versucht – eine Abgrenzung, die
in meinen Augen unmotiviert ist. Deshalb soll gegen Thompson und Foot gezeigt werden,
dass der darwinistische Ansatz der Biosemantik und der aristotelische Ansatz der
Tugendethik vereinbar sind (3.3.2.).
3.1.2. Hartmann über Tunsollen und Seinsollen
Um die Einführung des Begriffs einer normativen Kategorie (3.2.4.) vorzubereiten, will ich
zwei Überlegungen aufgreifen, die je einen zentralen normativen Begriff, nämlich „sollen“
und „gut“, auf eine Weise interpretieren, die es uns erlaubt, die Trennung zwischen
Normen und Fakten aufzuweichen. Es ist ja diese Trennung, die den Vorbehalten
Papineaus und Dretskes gegenüber der normativen Lesart von Funktionen zugrunde liegt.
Nicolai Hartmann unterscheidet in seiner Ethik (1925) zwischen „Tunsollen“ und
„Seinsollen“. Er unterscheidet damit zwei Arten von Normen, nämlich Verhaltensnormen
und Seinsnormen. Verhaltensnormen betreffen Personen, Seinsnormen nicht nur
Personen, sondern in erster Linie nicht-personale Entitäten.492 Man kann also zwischen
zwei Arten von Normen unterscheiden und es besteht deshalb prima facie kein Grund für
die Annahme, dass nur präskriptive Normen genuine Normen sind. Wir können einerseits
492 Hartmanns Unterscheidung entspricht in gewisser Weise der Sellarsschen zwischen „ought-to-be’s“ oder
Regeln der Kritik und „ought-to-do’s“ oder Regeln des Handelns (vgl. 1.2.6.).
205
sagen, dass eine bestimmte Person bestimmte Dinge tun sollte. Wir können andererseits
auch sagen, dass eine Person ein guter Mensch ist, dass eine Tat schlecht ist, dass ein
Toaster gut toastet oder dass ein Baum schlechte Wurzeln hat. Ob Menschen, Taten,
Toaster oder Bäume schlecht oder gut sind, hängt von der Art von Entität ab, die sie sind.
Diese Dinge sollen in Abhängigkeit von der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Art von
Dingen auf bestimmte Weise sein. Direktiva sagen, was Personen tun sollen oder tun
müssen. Evaluativa sagen, wie Personen und andere Dinge sein sollen oder inwiefern sie
gut oder schlecht sind.493
Hartmann denkt bei Seinsnormen jedoch nicht an Verhaltensmuster, sondern an
Werte. Diese sollen verwirklicht werden, weil sie nicht realisiert sind, wie sie realisiert sein
sollten, oder weil sie gar nicht realisiert sind, es aber sein sollten. Hartmann behauptet zwar
einen logischen Vorrang des Seinsollens vor dem Tunsollen, aber letztlich sind, wie in
Sellars Fall, beide Arten von Normen voneinander abhängig. Das Tunsollen entspricht der
ersten Grundfrage der Ethik danach, was ich tun soll, was wir tun sollen. Es ist die Frage
danach, was einen individuellen oder einen kollektiven Willen bestimmen und leiten soll.
Davon unterscheidet Hartmann eine zweite Grundfrage der Ethik:
Wofür gilt es die Augen offen zu haben, um daran teilzuhaben? Was ist wertvoll im
Leben, ja in der Welt überhaupt? Was gilt es sich zu eigen zu machen, zu begreifen,
zu würdigen um Mensch zu sein im vollen Sinne des Wortes? Wofür fehlt uns
noch das Organ, so dass wir es erst in uns bilden, schärfer erziehen müssen?“494
In der zweiten Frage geht es darum, was sein soll. Die zweite Frage (eher ein
Fragekomplex, als eine Frage) ist reicher und grundlegender. Sie ist grundlegender, weil sie
die erste Frage einschließt. Denn um die Frage, was ich tun soll, beantworten zu können,
muss ich zuerst „sehen“, was es ist, das getan werden soll. Tun heißt, etwas bewirken,
etwas (wie die scholastische Formel lautet) Sein zu verleihen, etwas ins Sein zu bringen, das
noch nicht ist. Was so das Tunsollen führt, nennt Hartmann „Seinsollen“.495
Gibt es nicht auch eine Abhängigkeit des Seinsollens vom Tunsollen? Ein Subjekt
kann zwar „sehen“, was wertvoll ist (was den Status des Seinsollens hat), aber dieses
„Sehen“ des Wertvollen führt nur zu einem Tun, wenn es selbst als eine Tätigkeit
aufgefasst wird, die getan werden soll (etwa: „…die Augen offen zu haben [für das, was]
wertvoll im Leben [ist]“). Doch gilt auch hier, dass eine Abhängigkeit des Tunsollens des
493 Für die Unterscheidung zwischen Seinsollen und Tunsollen in der analytischen Philosophie vgl. von
Wright 1963: 14; Schnädelbach 1990: 83ff. Zur geläufigen Unterscheidung zwischen Direktiva und Evalutiva
vgl. etwa Wiggins 1998: 95.
494 Hartmann 1949: 10.
495 Hartmann 1949: XVIII. Das, was sein soll, ist für Hartmann das Wertvolle. Das „Seinsollen ist die formale
Bedingung des Wertes, der Wert materielle Bedingung des Seinsollens.“ (Hartmann 1949: 172) Aber diese
Deutung des Seinsollens hängt nicht direkt von der Unterscheidung zwischen Tun- und Seinsollen ab.
206
„Sehens“ dessen, was wertvoll ist (was sein soll), vom Seinsollen eines solchen „Sehens“
abhängt. „Das Tunsollen ist folglich immer bedingt durch das Seinsollen, aber nicht an
jedem Seinsollen haftet ein Tunsollen.“496 Hartmann verweist auf zwei Bereiche, in denen
ein Seinsollen kein Tunsollen impliziert, nämlich auf natürliche Güterwerte und auf
Sittenwerte. Ein Subjekt kann einen Wert nur realisieren, wenn er nicht schon realisiert ist,
und wenn diese Realisierung in seiner Macht steht: „Ich würde das Seinsollende tun sollen,
sofern es nicht schon wäre, und sofern es in meiner Macht stünde. Diese doppelte ‚Sofern’
trennt die beiden Arten des Sollens.“497 Das Seinsollen eines Sittenwertes impliziert kein
Tunsollen, wenn es nicht in meiner Macht steht, den Wert zu realisieren. Dies ist
Hartmanns Formulierung des Satzes, dass Sollen Können impliziert. Im Falle des
Sittenwerts impliziert das Seinsollen das Tunsollen nur unter den Bedingungen des
Könnens. Hinzu kommt, dass das Seinsollen ein Tunsollen über den Willen eines Subjekts
impliziert.498 Das bedeutet aber nicht, dass ein Wert nicht realisiert werden soll, wenn er es
nicht kann oder wenn jemand dies nicht will. Hartmann nennt als Beispiel den Weltfrieden.
Gehen wir weiter zu den Güterwerten. Es „gilt von den realen, naturgegebenen Gütern,
dass sie sein sollen, so wie sie sind, aber für ein Tunsollen ist hier kein Raum“.499 Im Falle
von Güterwerten geht es nicht um Bedingungen, unter denen ein Seinsollen ein Tunsollen
impliziert, sondern es ist gar kein Raum für ein Tunsollen. Hartmann denkt hier in erster
Linie an materielle Güter (Eigentum) und an geistige Güter (Bildung).
Hartmann scheint leider nirgends an natürliche Güter und natürliche Gutheit zu
denken, obschon seine Formulierung, dass Güterwerte „sein sollen, so wie sie sind“ und
dass „für ein Tunsollen hier kein Raum“ sei, auf natürliche (neben materiellen und
geistigen) Gütern verweist. Trotzdem deutet Hartmann hier auf einen wichtigen Bereich
des Seinsollens, den es offenzuhalten gilt, nämlich auf die Möglichkeit des Seins natürlicher
Normen. Dabei geht es weniger um Naturgüter, die sein sollen, wie sie sind, und denen ihr
Güterstatus nur aufgrund dessen zukommt, dass wir sie Werten subsumieren. Vielmehr
geht es einerseits um Naturgüter, die für ein Naturwesen ein Gut darstellen, und
andererseits um Naturprodukte (Lebewesen und Merkmale von Lebewesen), die auf eine
bestimmte Art und Weise sein sollen und unter Umständen eben nicht so sind, wie sie sein
sollten. Beispiele für solche Naturgüter finden sich in Aussagen wie „Milde Temperaturen
sind gut für diesen Strauch“ oder „Starke Wurzeln sind gut für diese Baum“. Hier werden
Aussagen darüber getroffen, wie bestimmte Dinge für bestimmte Arten sein sollen.
Hartmann 1949: 171.
Hartmann 1949: 171.
498 Hartmann 1949: XIX.
499 Hartmann 1949: 171.
496
497
207
Beispiele für Naturprodukte finden sich in Aussagen über Lebewesen wie „Füchse fangen
Mäuse“ oder in Aussagen über Merkmale von Lebewesen wie „Der Fuchsschwanz
stabilisiert die Körpertemperatur seines Trägers, während dieser schläft“. Ein Fuchs, der
keine Mäuse fangen kann, ist nicht, wie ein Fuchs sein sollte. Ein Fuchsschwanz, der seinen
Träger im Schlaf nicht wärmt, erfüllt nicht die Aufgabe, die er erfüllen sollte. Ich möchte
zeigen, dass man sowohl Hartmanns Unterscheidung als auch den Vorrang des Seinsollens
vor dem Tunsollen akzeptieren kann. Anders als bei Hartmann soll aber das Seinsollen als
unabhängig von Tunsollen betrachtet werden, es ist dem Tunsollen ontologisch vorrangig,
aber nicht in dem Sinn, dass etwas sein soll, was nicht ist, sondern in dem schwächeren
Sinn, dass etwas, das ist, auf bestimmte Weise sein soll.
3.1.3. Geach über „gut“
Wenden wir uns jetzt einem zweiten normativen Begriff zu, nämlich „gut“. Peter Geach
hat folgende These vertreten: „good and bad are always attributive, not predicative,
adjectives.”500 Diese These ist äußerst folgenreich und für die normative Dimension, wie sie
die Biosemantik einzufangen bemüht ist, von großer Bedeutung. Sie wird von
Vertreterinnen einer objektivistischen, naturalistischen Tugendethik als wichtigste Prämisse
akzeptiert.501
Attributiv verwendete Adjektive sind einem Nomen in der Regel vorgestellt und
sind mit ihm in Kasus, Numerus und Genus kongruent. Prädikativ (oder adverbial)
verwendete Adjektive sind dem Nomen in der Regel nachgestellt und kongruieren nicht
mit ihm. Soviel zur Grammatik. Wie steht es mit der logischen Struktur? Die logische
Unterscheidung zwischen attributiven Adjektiven und prädikativen Adjektiven kann mittels
der Analyse von Beispielen eingeführt werden:
(1) Rex ist ein guter Wachhund.
(2) Rex ist gut.
(3) Das ist eine große Maus.
(4) Diese Maus ist groß.
(5) Der Mercedes ist rot.
(6) Dies ist ein roter Mercedes.
500
501
Geach 1956: 64.
Vgl. Foot 2001: I, 2002b: 63-68, 162f, Thomson 1996: 125-133, 2008: I.
208
Wenn wir einem Subjekt Prädikate zusprechen, so tun wir dies additiv. In (6) ist das
Subjekt (ein Auto) sowohl rot als auch ein Mercedes. Hier handelt es sich um eine genuin
prädikative Verwendung. Wie steht es mit (3)? Ist das Subjekt (ein Tier) sowohl groß als
auch eine Maus? Nehmen wir an, wir täuschen uns und das Auto ist kein Mercedes,
sondern ein Audi. Dieser Irrtum hat keinen Einfluss auf die Zuschreibung des Prädikats
rot. Anders im Falle von (3), wenn wir eine Ratte mit einer Maus verwechseln. Eine große
Maus macht immer nur eine kleine Ratte. Das Adjektiv „groß“ wird dem Subjekt nicht
zusätzlich zugeschrieben, sondern als Bestandteil der Beschreibung „…ist eine Maus“. Man
kann diesen Unterschied auch durch inferenzielle Differenzen ausdrücken. Aus „X ist ein
roter PKW“ und „X ist ein Mercedes“ folgt „X ist ein roter Mercedes“. Hingegen folgt aus
„X ist ein kleines Tier“ und „X ist eine Maus“ nicht: „X eine ist eine kleine Maus“.
Sprachlich hat es den Anschein, als seien (3) und (6) bzw. (4) und (5) parallele Fälle.
Doch entgegen der Oberflächengrammatik legt es die logische Grammatik nahe, einerseits
(3) und (4) und andererseits (5) und (6) als parallel zu betrachten. Denn Adjektive wie
„groß“ oder „klein“ werden relativ zu einer bestimmten Art gebraucht, mithin attributiv.
Größe und Kleinheit sind keine Eigenschaften, die alle großen oder kleinen Dinge
gemeinsam hätten, sie kommen Dingen nur zu, insofern sie zu einer bestimmten Art
gehören. Wir können den Gebrauch von „groß“ nicht so analysieren, dass wir sagen, wir
schreiben einem bestimmten großen Ding zwei Eigenschaften zu, nämlich dass es dieses
bestimmte Ding (eine Maus, ein Haus, ein Auto usw.) ist, und zusätzlich, dass es groß ist.502
Farbprädikate hingegen werden prädikativ verwendet. Ein Farbprädikat wird mit anderen
Prädikaten additiv prädiziert. Was immer Rotheit oder Gelbheit ist, es ist dasjenige, was alle
roten oder gelben Dinge gemeinsam haben.
Wie steht es mit „gut“ und „schlecht“? Ist das Subjekt in (1) (ein Tier) sowohl gut
als auch ein Wachhund? Nehmen wir an, wir täuschen uns und Rex ist kein Wachhund,
sondern ein Blindenhund. Dies hat einen Einfluss auf die Zuschreibung von „gut“. Es
entfällt (wahrscheinlich) mit dem Wachhund. Ebenso folgt aus „X ist ein guter Wachhund“
und „X ist ein Tier“ keineswegs: „X ist ein gutes Tier“. Es sind andere Erwartungen, die
wir gegenüber einem guten Wachhund hegen, als gegenüber einem guten Tier, und zwar
deshalb, weil wir gegenüber einem guten Tier kaum irgendeine präzise Erwartung hegen
502 Millikan zufolge handelt es sich bei den Begriffen für Arten wie Maus, Haus oder Auto nicht um
Prädikate, sondern um Substanzbegriffe. Mit Substanzbegriffen identifizieren wir Dinge ohne Bezug auf eine
besondere identifizierende Eigenschaften. Es handelt sich um Begriffe, die sich auf Dinge beziehen, die
Eigenschaften haben, ohne sich dabei auf Dinge als Träger von Eigenschaften zu beziehen. Während
klassifizierende Begriffe Prädikate in Urteilen sind (wie „rot“), sind Substanzbegriffe in erster Linie (aber
nicht nur) Subjektbegriffe sind. Substanzbegriffe „must figure as subjects over which a variety of predicates
are projectable“. (OCCI: 15) „They need not be predicate concepts applied to prior subject concepts.“
(Millikan 1998a: 59)
209
können, wenn wir nicht wissen, um welche Art Tier es sich handelt. Es scheint also, als
handle es sich bei „gut“ ebenfalls um ein attributives Prädikat. Es gibt nichts, was allen
guten Dingen gemeinsam wäre (die „Gutheit“) und sie zu guten Dingen machen würde.
Gutheit ist (wie Größe und Kleinheit) keine Eigenschaft, die alle guten Dingen gemeinsam
hätten, sie kommt Dingen nur zu, insofern sie zu einer bestimmten Art gehören. Manchmal
ist die Art, zu der ein Ding gehört, explizit genannt. So sagen wir etwa: „Das ist aber eine
gute Suppe!“ Es ist klar, dass wir diese Suppe im Gegensatz zu schlechten Suppen als gut
auszeichnen. Eine Suppe (ein Wachhund oder ein Sportler) ist nicht eine Suppe (ein
Wachhund oder ein Sportler) und zusätzlich auch noch gut oder schlecht. Demgegenüber
kann die Art bisweilen verborgen sein. Das ist der Fall, wenn wir „gut“ scheinbar als
prädikatives Adjektiv verwenden: „Diese Suppe ist gut!“ Jetzt ist es nicht klar, ob wir diese
Suppe qua Suppe als gut auszeichnen, als Heilmittel oder als Giftmordwaffe. Wie auch
immer, wir betrachten sie stets als gut oder schlecht in einer bestimmten Hinsicht. Das
Beispiel (2) ist ein Fall für eine lediglich implizite Hinsicht.
Warum sollte sich dieser Gebrauch von „gut“ und „schlecht“ im Bereich der Moral
verändern? Einigen Philosophen zufolge tut er dies. Für G. E. Moore ist „gut“ eine nichtnatürliche Eigenschaft, die wir Dingen oder Handlungen additiv zuschreiben können.
Moore meint, der Gegenstand der Ethik sei die Frage, was gutes Verhalten (good conduct) ist.
Dabei trennt er jedoch „gut“ von „Verhalten“ auf unstatthafte Weise:
„For ‚good conduct’ is a complex notion: all conduct is not good; for some is
certainly bad and some may be indifferent. And on the other hand, other things,
besides conduct, may be good; and if they are so, then, ‘good’ denotes some
property, that is common to them and conduct.”503
In Analogie könnte man sagen, dass „große Maus“ ein komplexer Begriff ist, denn nicht
alle Mäuse sind groß, einige sind klein, andere sind so mittel. Und natürlich gibt es andere
Dinge als Mäuse, die groß sind, wie etwa Kuchenstücke, Häuser, Planeten oder Seen.
Folglich bezeichnet „groß“ eine Eigenschaft, die diesen Dingen und Mäusen gemeinsam
ist. Aber dies folgt keineswegs. Wenn wir sagen, dass andere Dinge als Exemplare einer
bestimmten Art groß oder klein sind, so wie Mäuse als Exemplare dieser Art groß oder
klein sind, dann folgt nicht, dass Mäuse und andere Dinge etwas teilen, das wir mit „groß“
bezeichnen.504
Moore 1993: 54.
Natürlich könnte man sagen, dass alle großen Dinge viel Raum oder Fläche und alle kleinen Dinge wenig
Raum oder Fläche einnehmen. Doch das ergibt als Resultat, dass eine große Maus und ein großes Haus klein
sind. Die Tatsache, dass attributive Prädikate stets im Hinblick auf eine bestimmte Art gebraucht werden, hat
nichts mit dem Umstand zu tun, dass Dinge mehr oder weniger groß, schwer, gut oder lustig sein können. Es
ist kriterial vollkommen eindeutig, ob ein Geldschein gefälscht oder echt ist. Dennoch sind „echt“ oder
„falsch“ attributive Prädikate.
503
504
210
Der attributiven Analyse von „gut“ zufolge handelt es sich bei Gutheit nicht um
eine nicht-natürliche, einfache Eigenschaft, die zu den anderen Eigenschaften einer Entität
oder eines Prozesses hinzukäme. Vielmehr sind die Eigenschaften, die es uns erlauben,
etwas „gut“ oder „schlecht“ zu nennen, Eigenschaften, die eine Entität oder einen Prozess
als Exemplar einer Art auszeichnen. Ein Schachzug, ein Messer, ein Auge oder ein
Rennpferd sind gut aufgrund bestimmter Eigenschaften, die ihnen als Schachzug, Messer,
Auge oder Rennpferd eigen sind. Attributive Prädikate müssen nicht wie identifizierbare
Objekte betrachtet werden, und dennoch können sie eine bestimmte Bedeutung haben.
Wir sind also keinesfalls gezwungen, der Analyse von Moore zu folgen. Im Gegenteil hat
gerade diese einflussreiche Analyse in der analytischen Ethik unheilsame Folgen gehabt.505
Die These von Geach ist für Projekte, die einen normativen Naturalismus
anstreben, von größter Bedeutung.
1. Zunächst vermeidet es Geachs These, dass wir Gutheit als mysteriöse, nicht-natürliche
Eigenschaft betrachten müssen. Zwar soll Gutheit von der logischen Form her auf die
gleiche Weise ein Prädikat sein wie „rot“ oder „süß“, nur mit dem Unterschied, dass es
sich im Gegensatz zu Röte oder Süße bei Gutheit um eine nicht-natürliche Eigenschaft
handelt. Aber was soll das sein?506 Die Schwierigkeit, auf diese Frage eine Antwort zu
finden, führte zur folgenden Reaktion: Gutheit ist nicht wirklich eine Eigenschaft, die
gute Dinge haben oder nicht haben können. Die Gutheit eines Dinges ist vielmehr
Ausdruck einer Einstellung, die wir gegenüber bestimmten Dingen einnehmen. Etwas
als „gut“ zu bezeichnen, meint in erster Linie, dass man eine Pro-Einstellung gegenüber
dem so Bezeichneten einnimmt. Diese projektionistische Reaktion ist nicht zwingend.
Betrachten wir nämlich Eigenschaften, die es uns erlauben, etwas „gut“ oder „schlecht“
zu nennen, als Eigenschaften, die eine Entität oder einen Prozess als Exemplar einer
Art auszeichnen, dann sind wir weder gezwungen, diese projektionistische Reaktion zu
akzeptieren noch sind wir gezwungen, „gut“ als nicht-natürliche Eigenschaft zu
betrachten. Bewertungen als gut oder schlecht stehen mithin nicht im Gegensatz zu
Tatsachenbehauptungen, sondern bringen vielmehr eine besondere Art von Tatsachen
zum Ausdruck.
Vgl. Thomson 1996: 125-131, 2008: 37ff., Foot 2002b: XII.
Vgl. Geach 1957: 66: „In order to assimilate good to ordinary predicative adjectives like red and sweet they
call goodness an attribute; to escape undesired consequences drawn from the assimilation, they can always
protest, Oh no, not like that. Goodness isn’t a natural attribute like redness and sweetness, it’s a non-natural
attribute. It is just as though somebody thought to escape the force of Frege’s arguments that the number 7 is
not a figure, by saying that it is a figure, only a non-natural figure, and that this is a possibility Frege failed to
consider.“
505
506
211
2. Weiter sind wir auch nicht gezwungen Gutheit als eine bestimmte natürliche Eigenschaft
aufzufassen. Betrachten wir nämlich die Eigenschaften, die es uns erlauben, etwas
„gut“ zu nennen, als natürliche Eigenschaften, die eine Entität oder einen Prozess als
Exemplar einer Art auszeichnen, so folgt daraus nicht, dass alle Dinge, die wir als „gut“
bezeichnen, eine (oder mehrere) natürliche Eigenschaften teilen müssen, die dafür
sorgen, dass sie gut sind. Denn Messer sind auf eine andere Weise gut oder schlecht als
Augen, Ärzte oder Einfälle, doch verwenden wir „gut“ deshalb nicht auf eine andere
Weise, wenn wir über Messer, Augen, Ärzte oder Einfälle sprechen.
3. Schließlich ermöglicht uns Geachs These, die Grundzüge einer allgemeinen Theorie der
Normativität zu entwerfen, der vereinheitlichende Kraft zukommt. Wir müssen dabei
bedenken,
dass
Normativität
nicht
nur
im
Bereich
des
Tunsollens
(der
Handlungsregeln oder der Direktiva) beheimatet ist, sondern grundlegender noch im
Bereich des Seinssollens (der Regeln der Kritik oder der Evaluativa). Die besondere Art
von Tatsachen, die wir durch den attributiven Gebrauch von „gut“ zum Ausdruck
bringen, sind jene Tatsachen, die man mit Hartmanns Unterscheidung im Hinterkopf
als das „Seinsollen“ eines Dinges bezeichnen kann. Wenn wir tatsächlich auf dieselbe
Art und Weise von guten Taten reden, wie wir von guten Messern, guten Augen, guten
Mäusen oder guten Ärzten sprechen, dann eröffnet sich die Möglichkeit für ein
allgemeines Verständnis der Normativität. Bei der besonderen Art von Tatsachen, die
ein gutes von einem schlechten Messer oder ein gutes von einem schlechten Auge
unterscheiden, handelt es sich, wie gesagt, weder um nicht-natürliche Eigenschaften,
noch um projizierte Eigenschaften, noch um eine allgemeine natürliche Eigenschaft.
Vielmehr handelt es sich um natürliche Eigenschaften, die ein Exemplar haben muss,
um als gutes oder schlechtes Exemplar seiner Art gelten zu können. Was uns also auf
der Grundlage von Geachs These offensteht, ist die Aussicht auf eine
vereinheitlichende Theorie der natürlichen Normativität.
3.1.4. Was sind normative Kategorien?
Hartmanns Unterscheidung und Geachs Analyse erlauben es, nicht nur Verhaltensnormen
als normativ aufzufassen, sondern auch das Sein von Entitäten und Prozessen, und sie
erlauben es, Gutheit und Schlechtheit als etwas aufzufassen, was Entitäten oder Prozesse
einer bestimmten Art aufgrund von Tatsachen zukommt. Damit ist den Prämissen der
Vorbehalte von Dretske und Papineau gegen ein normatives Verständnis biologischer
Funktionen der Boden entzogen. Weder muss genuine Normativität präskriptiv sein, noch
212
muss sie strikt von Fakten unterschieden werden. Die Möglichkeit für eine Theorie
natürlicher Normen steht also offen.
Wir können mit Millikans treffender Beobachtung beginnen, die das Motto zu
diesem Kapitel liefert. Eine Norm ist ein Maß vom dem aktuelle Fakten abweichen
können.507 Eine Echte Funktion beispielsweise gibt einem Zustand oder Produkt ein Maß
vor, von dem er oder es abweichen oder dem er oder es entsprechen kann, sie ist deshalb
im exakten etymologischen Sinne des Wortes eine Norm. Der Ausdruck „Norm“ stammt
aus der antiken Baukunst. So meinen Vitruv und Plinius, dass jeder Bau nach Winkelmaß
und Setzwaage auszuführen sei und dem Senkblei zu entsprechen habe. Was ich hier
„Winkelmaß“ genannt habe, heißt im Lateinischen „norma“. Es handelt sich um ein
Instrument, das der Herstellung und Überprüfung rechter Winkel dient. Eine „norma“ ist
also (ganz unmetaphorisch) ein Maß. Bereits die lateinische Antike kennt drei
Übertragungen dieses Maßes auf andere Bereiche. So kann eine Norm erstens ein
technisches Muster oder eine rechtliche Vorschrift sein (so wie es heute Normen für
Papierformate oder für Pkws gibt). Zweitens kann die Natur eine Norm sein, etwa wenn
Cicero schreibt, dass die Natur die Norm des Gesetzes sei.508 Schließlich kann die
Gewohnheit oder der Gebrauch eine Norm sein, etwa wenn Horaz meint, der
Sprachgebrauch sei Garant und Richtmaß des Sprechens.509 Da Gebrauch und Gewohnheit
auch zweite Natur (altera natura) genannt werden, kann auch die zweite Natur Normen
abgeben. Wir haben also von alters her verschiedene Normen: Instrumente, Vorschriften,
die erste Natur und die zweite Natur können als Normen fungieren. Eine Norm ist jedoch
stets ein Maß, von dem etwas abweichen oder dem etwas entsprechen kann.
Nennen wir Gruppen oder Arten, die Mitglieder enthalten, die von einem Maß
abweichen können, „normative Kategorien“. Eine Kategorie ist eine normative Kategorie,
wenn sie gute und schlechte, intakte und defekte, gesunde und kranke usw. Mitglieder
enthalten kann. Wir wollen Begriffe, die die Mitglieder normativer Kategorien in gute und
schlechte usw. scheiden, als „normative Begriffe“ bezeichnen. Wir können uns dies anhand
einiger
Beispiele
verdeutlichen.
„Arzt“,
„Staat“,
„Bienenstachel“,
„Zirbeldrüse“,
„Flugzeug“ oder „Straße“ sind normative Kategorien, „Gesundheit“, „Frieden“, „Stechen“,
„Regulierung von Melatonin“, „Fliegen“ „Befahrbarkeit“ sind normative Begriffe. Wir
sagen beispielsweise: Ein Arzt sollte die Gesundheit herstellen, ein Staat sollte für Frieden
sorgen, eine Straße sollte befahrbar sein, eine Zirbeldrüse sollte Melatonin ausschütten usw.
Damit meine ich nicht Wahrscheinlichkeiten, denn es geht nicht um Voraussagen, um kein
LBT: 83.
„...secundum naturam, quae norma legis est“ (Cicero, De leg. 2, 24, 61).
509 „…usus, […] et ius et norma loquendi“ (Horaz, Ars poet. 71-2).
507
508
213
epistemologisches Sollen. Ich meine eine Forderung durch das, was diese Dinge wesentlich
sind. Ein Arzt ist etwas, das die Funktion hat, die Gesundheit herzustellen. Ein Arzt tut
dies qua Arzt. Ärzte können auch gute Dichter sein, aber das sind sie nicht qua Arzt. Ein
Magen ist etwas, das verdaut. Das tun Mägen qua Mägen. Mägen können auch als Beutel
für das Gericht Saumagen herhalten, aber das tun sie nicht qua Magen. Auch wenn Ärzte in
einem Land Leute häufiger krank als gesund machen, auch wenn Staaten in der Geschichte
häufiger für Krieg als Frieden sorgen, auch wenn viele Bienenstachel niemals stechen, so
wird mit dem normativen Begriff doch benannt, was die Mitglieder dieser normativen
Kategorien tun sollen. Eine Zirbeldrüse, die kein Melatonin ausschüttet, ist defekt; ein
Staat, der nicht für Ruhe und Ordnung sorgen kann, ist ein „failed state“; ein Arzt, der
krank macht, ist ein schlechter Arzt, und ein Arzt, der Leute umbringt, ein Schlächter.
Nicht alle Klassen von Dingen und nicht alle natürlichen Arten sind normative
Kategorien. Gelbe Dinge, Wolken, Gold, Kieselsteine, Tage, Helium, Gewitter, Planeten
oder Jahreszahlen sind als solche weder gut noch schlecht, weder defekt noch intakt. Was
wäre ein defekter Tag? Einer, der dummerweise nur 22 Stunden gedauert hat? Was wäre
ein krankes Jahr? Eines, das immer wieder stehen bleibt? Was wäre ein schlechter Kiesel?
Einer, der versehentlich zerbrochen ist? Was wäre ein gutes Gewitter? Eines, das die
Blumen zum blühen bringt? Zwar sprechen wir von guten Tagen oder von schlechten
Jahren, dabei meinen wir aber nicht die Tage oder Jahre selbst, sondern die Ereignisse
innerhalb dieser Zeitspannen. Kieselsteine, Tage und gelbe Dinge sollen als solche
überhaupt nichts. Weder Sterne (selbstleuchtende Himmelskörper), noch Berge (stattliche,
felsige Erhebung im Gelände) oder Gerüche bilden Kategorien mit defekten Mitgliedern.
Erlischt ein Stern und wird zu einem schwarzen Zwerg, so ist das kein defekter Stern; wird
ein Berg durch einen gigantischen Meteoriten zertrümmert, ist das resultierende Steinmeer
kein abnormaler Berg; hört ein Geruch auf zu riechen, ist er deshalb kein dysfunktionaler
Geruch. Diese drei Dinge hören einfach auf zu sein, was sie waren. Natürlich können diese
Dinge gut oder schlecht in einer bestimmten Hinsicht sein. Ein Gewitter ist schlecht für
das Feld, dieser Berg ist gut für eine sportliche Leistung, jener Stern eignet sich für die
Beobachtung, ein Kiesel dient als Stöpsel, das Gold als Zahlungsmittel. Doch hierbei
handelt es sich entweder um rein kausale Rollen, die diese Dinge spielen können (1.2.6.)
oder um beobachterrelative Eigenschaften, die diesen Dingen nicht als Dingen einer
bestimmten Art zukommen.
Wie steht es mit Lebewesen? Es gibt (moralisch) gute und schlechte, (körperlich)
intakte und defekte, (psychisch) gesunde und kranke Menschen. Offensichtlich ist
„Mensch“ eine normative Kategorie. Aber was ist der normative Begriff dazu? Menschen
214
als solche (anders als Menschen qua Lehrer oder qua Ärztinnen) haben offenbar keine
Funktion (1.1.2.). Dasselbe gilt für Eichen oder Hunde. Es gibt gesunde und kranke,
intakte und defekte Eichen und Hunde, also handelt es sich um normative Kategorien.
Aber Eichen und Hunde haben als solche keinen Zweck, keine Funktion (aber vielleicht als
Blindenhunde oder Korkeichen). Was macht Menschen, Eichen und Hunde zu normativen
Kategorien? Wie wir sehen werden, lautet die Antwort: Die Zugehörigkeit zu einer
biologischen Spezies (3.3.).
Offenbar gibt es normative Kategorien, die durch Funktionen bestimmt werden,
und es gibt normative Kategorien, die nicht durch Funktionen bestimmt werden, sondern
durch Artzugehörigkeit. Normative Begriffe sind entweder Zwecke oder Funktionen, die
eine normative Kategorie allererst konstituieren, oder Begriffe, die als Subjekte in
besonderen Urteilsformen fungieren, die sich auf eine Art (eine Spezies) beziehen. Es gibt
also funktionale normative Kategorien und es gibt spezifische normative Kategorien.510 Beide
normativen Kategorien enthalten defekte Mitglieder qua jeweilige Kategorie.511 Wir nennen
Mitglieder einer funktionalen oder einer spezifischen normativen Kategorie gut oder
schlecht als Mitglieder dieser Kategorie. Diese Mitglieder sollen auf eine bestimmte Art und
Weise sein (das ist ihr Seinsollen) und ihr Gutsein oder Schlechtsein hängt von der
Kategorie ab, zu der sie gehören (darin liegt der Grund für die Attributivität von „gut“ und
„schlecht“). Im Folgenden werde ich diesen Grundgedanken zunächst anhand funktionaler
normativer Kategorien entwickeln. Ich unterscheide biologische funktionale normative
Kategorien (3.2.3.-3.2.4.) und kulturelle funktionale normative Kategorien (3.2.5.-3.2.6.).
Mitglieder dieser Kategorien haben Echte Funktionen. Diese Kategorien werden durch
REF gebildet.
Ich erörtere zuerst die funktionalen normativen Kategorien und weise daraufhin,
wie Mitglieder einer solchen Kategorie dazu kommen, eine Norm (ein Maß) zu haben
„from which actual facts can depart“. Mein Vorgehen besteht darin, zunächst alternative
Theorien aus dem Weg zu räumen, um durch dieses Verfahren der Elimination funktionale
normative Kategorien durch die Theorie der Echten Funktion erklären zu können. Die
510 Ich verwende „spezifisch“ etwas altmodisch, und zwar im Sinne der Zugehörigkeit zu einer Art, zu einer
Spezies. So braucht beispielsweise Hume den Ausdruck „specifically“ im Sinne von „gemäß seiner Art“.
511 Die hier skizzierte Grundidee von normativen Kategorien, die über defekte Mitglieder definiert werden,
findet sich auch bei anderen Autoren. So schreibt etwa Nicholas Wolterstorf: „Many […] kinds are such that
it is possible for them to have properly formed and also possible for them to have improperly formed
examples. Let us call such kinds, norm-kinds.” (Wolterstorff 1980: 56). Am prägnantesten und detailliertesten
hat diese Idee unlängst Judith Jarvis Thomson in ihren Carus Lectures ausgearbeitet, vgl. Thomson 2008.
Thomson spricht von „directive kinds“. Die grundlegende Intuition besteht darin, „that the concept of
‘defect’ lies at the heart of the concept ‘ought’.“ (Thomson 2007: 264)
215
Grundstruktur von biologischen und von kulturellen funktionalen normativen Kategorien
werde ich dann anhand der Analyse von Beispielen darlegen.
216
3.2. Funktionale normative Kategorien
3.2.1. Gegen Searles Funktionsthese
Man mag unterschiedlicher Ansicht darüber sein, wie man die Zuschreibung von
Funktionen in der Biologie analysieren soll. Doch dass viele biologische Merkmale
Funktionen haben, ist nicht nur vom Standpunkt des Alltagsverstands aus offensichtlich,
sondern auch aufgrund der Praktiken, des Vokabulars und der Erklärungen von Biologen
und Botanikern. Solche Funktionen können entdeckt werden, sie werden nicht (aus
welchen Gründen und in welchem Modus auch immer) unterstellt. Sie werden nicht
zugeschrieben, konstruiert oder erfunden. Auch kulturelle Artefakte512 haben Funktionen.
Nun mag es auf den ersten Blick scheinen, als würden weder der Alltagsverstand, noch die
wissenschaftliche Praxis davon ausgehen, dass es sich bei diesen Funktionen um
Eigenschaften handelt, die wir entdecken, vielmehr scheint es so, als würden diese den
Artefakten von ihren Herstellern oder Nutzern verliehen. Doch man kann auch
herausfinden, worin die Funktionen von Artefakten bestehen. Finden beispielsweise
Archäologen Reste von Artefakten, stellt sich u.a. die Frage, wozu diese Artefakte dienten,
und Antworten auf diese Fragen können im Lichte neuer Fakten revidiert oder verworfen
werden. Findet Klärchen in Karls Küche einen merkwürdigen Gegenstand, kann sie fragen,
wozu dieses Artefakt dient. In beiden Fällen zielt die Frage auf die Funktion der Artefakte.
Wir fragen dabei nicht, was der Hersteller oder Benutzer des Objekts damit beabsichtigen,
sondern wir fragen danach, wozu Hersteller ein Objekt produziert haben, warum Benutzer
sich ein Objekt beschafft haben, warum solche Objekte verbreitet sind und überhaupt
existieren. In gewissem Sinne interessieren sich diese Fragen also auch für die kulturellen
Funktionen als objektive Eigenschaften von Artefakten.
Natürlich können die Intuitionen des Alltagsverstands und die Praxis der
Wissenschaft im Hinblick auf die Frage, inwiefern Funktionen tatsächlich objektive
Eigenschaften sind, nichts entscheiden, denn die These bringt eine weitgehende
ontologische Annahme zum Ausdruck: Biologische Funktionen sind objektive
Eigenschaften von biologischen Merkmalen und artifizielle Funktionen sind objektive
Eigenschaften von kulturellen Artefakten. Dennoch sind biologische Beispiele und
Alltagszuschreibungen im Vorgehen der Theoriekonstruktion von großem Wert, denn
Beispiele aus der Biologie bieten nicht nur plausible und unvermeidliche Illustrationen für
512 Ich verwende diesen Ausdruck sehr allgemein, so dass Dinge wie Gebrauchsgegenstände, Institutionen,
Instrumente, Kunstwerke, Rituale, soziale Rollen usw. darunter fallen.
217
Funktionen, sondern sie sind das Paradigma Echter Funktionen. Aus der Perspektive der
Biosemantik werden in letzter Instanz alle Echten Funktionen und mithin auch die
Intentionalität aller Repräsentationen und Zeichen auf biologische Funktionen
zurückgeführt. Eine Möglichkeit, die These von der Objektivität der Funktionen zu
verteidigen, besteht darin, zu zeigen, dass eine gegenteilige Auffassung unweigerlich in
Schwierigkeiten gerät. Das möchte ich am Beispiel von John Searles biologischem
Naturalismus zeigen. Dies wird uns auch die Gelegenheit geben, zu sehen, worin sich sein
biologischer Naturalismus und der Biologische Naturalismus der Biosemantik (3.3.)
unterscheidet.
Zunächst führt Searle zwei Unterscheidungen ein, eine zwischen dem Objektiven
und dem Subjektiven und eine zwischen einem epistemischen und einem ontologischen
Sinn der ersten Unterscheidung. Epistemisch gesprochen sind Urteile subjektiv oder
objektiv, ontologisch gesprochen haben Dinge (Objekte, Ereignisse, Eigenschaften,
Prozesse, Tatsachen) eine subjektive oder objektive Existenz. Die Existenz subjektiver
Tatsachen ist abhängig von einem Subjekt mit Bewusstsein. Ein Paradebeispiel sind
Schmerzen. Das (aufrichtige) Urteil „Ich habe Kopfschmerzen“ ist ein epistemisch
objektives Urteil über eine ontologisch subjektive Tatsache. Die Existenz objektiver
Tatsachen ist abhängig von keinem Subjekt. Ein Paradebeispiel sind Dinosaurier. Das
(wahre) Urteil „Vor 150 Mio. Jahren lebte der Allosaurus“ ist ein epistemisch objektives
Urteil über eine ontologisch objektive Tatsache. Natürlich gibt es auch epistemisch
subjektive Urteile über ontologisch objektive Dinge, beispielsweise Geschmacksurteile oder
falsche Urteile. So ist etwa das Urteil „Der Allosaurus ist schöner als der Tyrannosaurus“
ein Geschmacksurteil. Das Urteil „Der Allosaurus lebte vor 300 Jahren“ hingegen ist ein
falsches Urteil (in diesem Falle nicht über eine ontologisch objektive Tatsache, sondern
über ein ontologisch objektives Objekt). Gibt es auch epistemisch subjektive Urteile über
ontologisch objektive Dinge? Sicher kann ich sagen, dass Kopfschmerzen nicht nach
meinem Geschmack sind. Kann ich meinem Schmerz aber auch eine Eigenschaft
zuschreiben, die er nicht hat? Kann ich urteilen, dass ich Kopfschmerzen habe, obwohl ich
in Wirklichkeit keine habe? Ich meine ja, doch das müssen wir hier offen lassen.513
Searle führt eine weitere Unterscheidung ein, nämlich die Unterscheidung zwischen
immanenten (oder intrinsischen) und beobachterrelativen Eigenschaften (eine Untergruppe
extrinsischer oder relationaler Eigenschaften). Aber das ist nur eine weitere Fassung der
Unterscheidung zwischen ontologisch subjektiven und ontologisch objektiven Dingen,
513
Zu Qualia vgl. 5.3.2.3.
218
fokussiert auf Eigenschaften. Searle möchte sagen können, dass Artefakte ihre Funktion
nicht als intrinsische Eigenschaften, sondern als beobachterrelative Eigenschaften haben:
„Aus der Perspektive Gottes, von außerhalb der Welt, wären alle Eigenschaften
der Welt immanent, einschließlich immanenter relationaler Eigenschaften wie der
Eigenschaft, dass Menschen in unserer Kultur die und die Objekte als
Schraubendreher ansehen. Gott könnte keine Schraubendreher, Autos,
Badewannen usf. sehen, weil es, immanent gesprochen, keine solchen Dinge gibt.
Gott würde vielmehr sehen, dass wir bestimmte Objekte als Schraubendreher,
Autos, Badewannen usf. behandeln. Aber von unserem Standpunkt, dem
Standpunkt von Wesen aus, die keine Götter sind, sondern in der Welt sind, die
uns als aktive Handelnde einschließt, müssen wir diejenigen unter unseren
Aussagen, welche der Welt Eigenschaften zuschreiben, die völlig unabhängig von
jeder beliebigen von uns eingenommenen Einstellung oder Haltung bestehen, von
denjenigen Feststellungen unterscheiden, die ihr Eigenschaften zusprechen, die nur
relativ auf unsere Interessen, Einstellungen, Haltungen, Zwecke usf. bestehen.“514
Alle mentalen Phänomene haben Searle zufolge eine ontologisch subjektive Existenz und
besitzen intrinsische mentale Eigenschaften. Beobachterrelative Eigenschaften erben diese
ontologische Subjektivität. Der Schraubendreher existiert als Materiehaufen ontologisch
objektiv (als physisch-chemischer Gegenstand mit intrinsischen Eigenschaften), doch die
Eigenschaft, ein Schraubendreher zu sein, kommt dem Materiehaufen nur in Abhängigkeit
von der ontologisch subjektiven Existenz mentaler Phänomene (Interessen, Einstellungen,
Haltungen, Zwecke usf.) zu. Doch das bedeutet nicht, dass wir keine epistemisch
objektiven Urteile über jene beobachterrelativen Eigenschaften fällen können. Es kann
wahr oder falsch sein, dass ein bestimmtes Objekt ein Schraubendreher ist, und es kann
wahr oder falsch sein, dass Karl diesen Schraubendreher falsch verwendet. Anschließend
verallgemeinert Searle aber diesen Standpunkt, indem er sagt: „Funktionen sind, kurzum,
niemals immanent, sondern immer beobachterrelativ.“515 Dies bedeutet, dass es sich
sowohl bei kulturellen Funktionen als auch biologischen Funktionen um beobachterrelative
Eigenschaften handelt. Nennen wir dies „Searles Funktionsthese“.516
Ein erster Einwand gegen Searles Funktionsthese könnte sich auf die bereits
gemachte Beobachtung stützen, dass Funktionen entdeckt werden können. Searle muss
aber keineswegs leugnen, dass wir Entdeckungen über biologische Funktionen machen
können, denn epistemisch objektive Urteile lassen sich ja auch über beobachterrelative
Eigenschaften fällen. Es war schließlich eine Entdeckung von William Harvey, dass das
Herz die Funktion hat, Blut zu pumpen.517 Doch die Tatsache, dass das Herz Blut pumpt,
ist Searle zufolge ein kausales Geschehen mit intrinsischen (physisch-chemischen)
Searle 1997: 22.
Searle 1997: 24.
516 Vgl. für die Funktionsthese auch Searle 1992: 238.
517 Vgl. zu Harveys Entdeckung und ihrer Bedeutung Wild 2006: 157-163.
514
515
219
Eigenschaften. Dieser ontologisch objektiven Tatsache stellt Harveys Entdeckung keine
weitere ontologisch objektive Tatsache an die Seite, sondern lediglich eine ontologisch
subjektive Tatsache. Inwiefern aber entdeckte Harvey den Blutkreislauf und damit die
Funktion des Herzens im Organismus? Searle zufolge muss eine solche Entdeckung „im
Rahmen eines Systems früherer Wertzuweisungen (einschließlich Zwecken, Teleologie, und
anderer Funktionen) stattfinden.“518 Als Beispiel solcher Wertzuschreibungen nennt Searle,
dass wir bereits akzeptieren, dass für Organismen Überleben und Reproduktion einen Wert
haben: „Weil wir es in der Biologie als selbstverständlich voraussetzen, dass Leben und
Überleben Werte sind, können wir entdecken, dass die Funktion des Herzens darin besteht,
Blut zu pumpen.“519 Obwohl die Funktion des Herzens in der beschriebenen Weise von
uns abhängig ist, handelt es sich dabei jedoch nicht um manifeste oder
„Verwendungsfunktionen“, sondern um latente oder „Nicht-Verwendungsfunktionen“.520
Badewannen, Autos oder Schraubendreher werden von Akteuren verwendet. Die Funktion
des Herzens ist nicht davon abhängig, dass Akteure Herzen auf eine bestimmte Art und
Weise verwenden. Unsere Herzen tun dies, was auch immer sie tun, und wir isolieren
(gegeben eine bestimmte Wertzuschreibung) bestimmte Aktivitäten dieses Organs als seine
biologische Funktion.
Natürlich kann jemand die Theorie aufstellen, dass z.B. die Entstehung von Autos
Ausdruck eines komplexen kausalen und subjektlosen Prozesses ist, mit der Funktion, uns
zu Bewohnern einer auf Tempoerhöhung fixierten „Dromokratie“ zu machen.521 Dies wäre
laut Searle eine Theorie über die Nicht-Verwendungsfunktion von Autos, doch dazu
verwenden wir Autos nicht, dazu werden sie nicht hergestellt, sondern wir verwenden sie,
um uns und unsere Güter zuverlässig und zeitsparend über weite Strecken zu
transportieren. Dies wäre laut Searle die Verwendungsfunktion des Autos. Wir verwenden
Autos aber auch, um uns am Rausch der Geschwindigkeit zu erfreuen oder um mit
Statussymbolen aufzuschneiden. Und damit wären wir wieder bei der Dromokratie, unter
deren Herrschaft allen Dingen nur Wert im Rahmen einer bestimmten Zeitökonomie
zukommt. Doch auch wenn die Unterscheidung zwischen Verwendungsfunktionen und
Nicht-Verwendungsfunktionen eher undeutlich ausfällt, so handelt es sich doch um eine
Unterscheidung innerhalb der als ontologisch gemeinten Auskunft, dass Funktionen niemals
immanent, sondern immer beobachterrelativ sind. Und dies ist die Gegenthese zu der für
die Biosemantik fundamentalen These, die (in Searles Vokabular) lautet, dass biologische
Searle 1997: 25.
Searle 1997: 25.
520 Searle 1997: 30ff. Searles Ausdrücke sind „agentive functions“ und „nonagentive functions“.
521 Virilio 1989: 246ff.
518
519
220
Funktionen nicht beobachterrelativ sind, sondern ontologisch objektive Eigenschaften,
über die wir epistemisch objektive Urteile fällen können.
Betrachten wir zwei Einwände gegen Searles Funktionsthese. Der erste ist kurz und
formal, der zweite ist komplex und verurteilt Searles biologischen Naturalismus zum
Scheitern. Ich habe eben mit Bedacht von „nicht beobachterrelativ“ gesprochen, weil
biologische Funktionen in der biosemantischen Deutung natürlich keine immanenten
Eigenschaften sind. Wie ich bereits angedeutet habe, ist die Disjunktion zwischen
„immanent“
und
„beobachterrelativ“
nicht
vollständig,
da
beobachterrelative
Eigenschaften lediglich eine Unterklasse der relationalen (oder extrinsischen) Eigenschaften
bilden. Nun spricht prima facie nichts dagegen, dass es aus der Perspektive Gottes relationale
Eigenschaften gibt, die nicht beobachterrelativ sind. Deshalb folgt aus „nicht immanent“
natürlich
nicht
„beobachterrelativ“.
Searles
Schluss,
dass
Funktionen
stets
beobachterrelativ sind, ist deshalb formal ungültig. Dies der erste Einwand. Für den
zweiten Einwand müssen wir uns nochmals Searles Funktionsthese im Hinblick auf
Lebewesen vergegenwärtigen. Der Einwand wird darauf hinauslaufen, dass für Searle
Lebewesen soziale Tatsachen sein müssen und dass deshalb sein biologischer Naturalismus
zirkulär ist.
Blickt man in ein Biologielehrbuch, so findet man häufig eine gewisse Reihe von
Merkmalen, die Leben oder Lebewesen charakterisieren sollen. Zu diesen Merkmalen
gehören neben Reproduktion und Überleben auch Anpassung, Stoffwechsel, Homeostase,
Wachstum und Entwicklung, Organisation usw. Von vielen höher entwickelten
Organismen kann man sagen, dass sie aus Struktursystemen (Haut, Skelett, Muskulatur),
aus
Stoffwechselsystemen
(Verdauung,
Atmung,
Kreislauf,
Exkretion),
Integrationssystemen (Nervensystem, endokrines System, Immunsystem) und dem
Reproduktionssystem bestehen. Innerhalb dieser Systeme weisen wir bestimmten
Prozessen Funktionen zu. Doch dass wir diese Systeme als relevant für die Zuweisung von
Funktionen
erachten
(oder
als
selbstverständlich
voraussetzen
oder
als
Konstitutionsbedingungen des Gegenstandsbereichs der Biologie betrachten), ist wiederum
eine Zuweisung, die wir vornehmen. Sie setzen einen Rahmen beobachterrelativer
Eigenschaften (ein System von Werten, wie Searle sagt), in dem wir dann epistemisch
objektive Urteile über Funktionen fällen können und Entdeckungen wie diejenige von
Harvey gemacht werden. Demgegenüber handelt es bei den physischen und chemischen
Eigenschaften von Lebewesen um intrinsische Eigenschaften, die beobachterunabhängig
als Eigenschaften materieller Objekte existieren. Doch worin besteht der Grund dafür, dass
wir solche beobachterunabhängig existierenden materiellen Objekte eher mit diesem
221
System biologischer Wertzuweisungen als mit einem beliebigen anderen System
biologischer Wertzuweisungen ausstatten?522 Gibt es die Möglichkeit epistemisch objektiver
Urteile hinsichtlich dieser Systeme? Falls es solche Urteile nicht gibt, fällen wir epistemisch
subjektive Urteile über diese Systeme, und dann ist nicht zu sehen, wie in Abhängigkeit
davon Funktionszuschreibungen als Entdeckungen Ausdruck epistemisch objektiver
Urteile sein können. Falls es solche Urteile gibt, und es scheint sie ja laut Searle zu geben,
dann entweder in Abhängigkeit von ontologisch subjektiven oder von ontologisch
objektiven Tatsachen. Wenn in Abhängigkeit von ontologisch objektiven Tatsachen, dann
ist der Realgrund der Urteile klar, er besteht nämlich in der Existenz eben dieser
ontologisch objektiven Tatsachen, die auch Gott selbst sehen könnte. Wenn aber in
Abhängigkeit von ontologisch subjektiven Tatsachen, dann bedeutet dies wiederum in
Abhängigkeit von beobachterrelativen Systemen höherer Ordnung. Doch auch hier
können wir wiederum fragen, wie zwischen alternativen beobachterrelativen Systemen
höherer Ordnung zu entscheiden wäre. Die Zuschreibung von Funktionen gegenüber
biologischen Organismen, die sich in epistemisch objektiven Urteilen ausdrückt, ist auf die
Platzierung dieser Organismen in einem System früherer Wertzuweisung angewiesen. Doch
im Hinblick auf diese Wertzuweisungen kann immer und überall gefragt werden, ob sie
epistemisch objektiven Urteilen zugänglich sind, und wenn ja, ob diese Urteile auf
ontologisch objektiven oder auf ontologisch subjektiven Tatsachen beruhen. Im zweiten
Fall stellt sich wiederum die Frage, welche Zuschreibungen diesem Urteil zugrunde liegen.
Es liegt auf der Hand, dass wir dieses Spiel ad infinitum weiterspielen können. Offenbar
geraten wir in einen Regress, wenn wir die Zuschreibung von Funktionen nicht an einer
Stelle auf ontologisch objektive Tatsachen stützen können.
Doch offensichtlich sollten wir nicht weiterfragen, denn für Searle gibt es letztlich
keine ontologisch objektiven Tatsachen, auf denen Funktionszuschreibungen beruhen.523
Das bedeutet, dass für Searle biologische Funktionen letztlich Bestandteil einer Ontologie
sozialer Tatsachen sind. Ebenso wie die Funktion des Schraubendrehers hängt die
Funktion des Herzens von uns ab. Und ebenso wie der (mit Heidegger gesprochen)
„Bewandtniszusammenhang“, in den das „Zeug“ Schraubendreher gehört und in welchem
er seinen Zeugcharakter hat, vom „Dasein“ abhängt, ist ein System von biologischen
Wertzuweisungen wie Überleben oder Reproduktion von uns abhängig. Dasselbe trifft, wie
Vgl. Searle 1992: 238: „If the only thing that interested us about the heart was that it made a thumping
noise or that it exerted gravitational attraction on the moon, we would have a completely different conception
of its ‘functioning’ and correspondingly of, for example, heart disease.“
523 Man kann nicht einfach auf kausale Tatsachen verweisen. Natürlich sind Funktionen letztlich bestimmte
kausale Wirkungen, aber es sind Wirkungen, die relativ zu einem Wertestem ausgezeichnet werden, und dieses
Wertesystem ist keine kausale Tatsache über eine in Rede stehende funktionale Entität.
522
222
wir eben gesehen haben, auch auf Merkmale zu, die wir als für Leben und Lebewesen
konstitutiv erachten. Damit sind die konstitutiven Eigenschaften für Lebewesen – trotz der
Unterscheidung zwischen Verwendungs- und Nicht-Verwendungsfunktion – ebenso
beobachterrelativ wie die konstitutiven Eigenschaften von Schraubendrehern oder
Marmorstatuen. Die intrinsischen Eigenschaften dieser Dinge sind ausschließlich physischchemischer Natur. Aus der Perspektive Gottes sind Lebewesen, Statuen und Werkzeuge
nur Materiehaufen. Als solche existieren sie und haben Eigenschaften die völlig unabhängig
von jeder beliebigen von uns eingenommenen Einstellung oder Haltung bestehen. Doch
die Tatsache, dass es sich bei diesen Materiehaufen um Lebewesen, Statuen und Werkzeuge
handelt, mit den für Lebewesen und Artefakte charakteristischen Eigenschaften, besteht
nur relativ zu unseren Interessen, Einstellungen, Haltungen oder Zwecken. Es handelt sich
eben um soziale Tatsachen. Die merkwürdige Konsequenz besteht also darin, dass
Lebewesen, ontologisch gesehen, soziale Tatsachen sind.
Searle scheint sich dieser Konsequenz seiner Position nicht bewusst zu sein. Er
schreibt über die seiner Position zugrunde liegende „Fundamentalontologie“:
„Wir leben in einer Welt, die vollständig aus physischen Teilchen und Kraftfeldern
besteht. Einige von ihnen sind in Systemen organisiert. Einige dieser Systeme sind
lebende Systeme, und einige dieser lebenden Systeme haben Bewusstsein entwickelt. Mit
Bewusstsein einher geht Intentionalität, die Fähigkeit des Organismus, sich
Gegenstände und Sachverhalte in der Welt zu repräsentieren. Die Frage ist jetzt:
Wie können wir im Rahmen dieser Ontologie die Existenz sozialer Tatsachen
erklären?“524
Die Antwort auf die von Searle gestellte Frage lautet, dass wir im Rahmen dieser Ontologie
die Existenz sozialer Tatsachen gar nicht erklären können, weil diese Ontologie bereits
voraussetzt, was sie erklären will, nämlich die Existenz sozialer Tatsachen, und zwar an der
von mir mit einer Kursivierung markierten Stelle, den Lebewesen. Warum? Nun, wir
schreiben Lebewesen Funktionen zu aufgrund eines Systems von Wertzuschreibungen, die
für Lebewesen konstitutiv sind. Doch diese Wertzuschreibungen sind wiederum
beobachterrelativ.
Searle vertritt seit langem eine Position, die er als „biologischen Naturalismus“
bezeichnet. Er hat diese Position an verschiedenen Orten formuliert und verteidigt. Hier ist
eine seiner Formulierungen:
„Bewusstsein und andere Formen geistiger Phänomene sind biologische Vorgänge,
die in menschlichen und bestimmten tierischen Gehirnen vorkommen. Sie sind
genauso ein Teil der biologischen Naturgeschichte der Tiere wie die Laktation, die
Absonderung von Galle, die Mitose, Meiose, Wachstum und Verdauung. Wenn wir
524
Searle 1997: 17 (meine Hervorhebungen).
223
uns einmal daran erinnern, was wir über das Gehirn wissen, und unsere
dualistische Kinderstube vergessen, ist der allgemeine Umriss für die Lösung des
sogenannten Leib-Seele-Problems, ob für Mensch oder Tier, ziemlich einfach.
Geistige Phänomene werden durch niederstufige neuronale Prozesse in
menschlichen und tierischen Gehirnen verursacht und sind selbst höherstufige
oder Makromerkmale dieser Gehirne. Wir wissen natürlich noch nicht genau, wie
dies funktioniert, wie die besondere Neurobiologie menschlicher und tierischer
Nervensysteme die ganze enorme Vielfalt unseres geistigen Lebens verursacht.
Aber daraus, dass wir noch nicht wissen, wie dies funktioniert, folgt nicht, dass wir
nicht wissen, dass es funktioniert.“525
Searle ist also der Auffassung, dass es sich bei bewussten Eigenschaften um Eigenschaften
des Gehirns handelt. Lebewesen mit einem Geist526 haben mentale Zustände nur aufgrund
der ihnen intrinsischen Fähigkeit, mentale Zustände hervorzubringen: „In one way or
another all other mental notions – such as intentionality, subjectivity, mental causation,
intelligence etc. – can only be fully understood as mental by way of their relations to
consciousness.“527 Bewusstsein ist eine höherstufige biologische Eigenschaft des Gehirns,
wie Verdauung eine höherstufige biologische Eigenschaft des Verdauungssystems ist.
Searle zufolge verfügen allein Lebewesen mit nicht-intentionalem Bewusstsein über
ursprüngliche oder intrinsische Intentionalität.528 Die abgeleitete oder derivative
Intentionalität z.B. von Maschinen oder Sätzen wird durch die ursprüngliche Intentionalität
von menschlichen Personen erklärt, für ursprüngliche Intentionalität ist Bewusstsein
konstitutiv, Bewusstsein wiederum wird durch neuronale Prozesse des Gehirns
hervorgebracht. Sätze oder Maschinen haben die Funktion etwas zu repräsentieren nur als
beobachterrelative Eigenschaft. Denn einige Verwendungsfunktionen betreffen Artefakte,
die
repräsentieren
(Sätze),
andere
betreffen
nicht-repräsentationale
Artefakte
(Schraubendreher).
Da biologische Funktionen beobachterrelativ sind und ein System früherer
Wertzuschreibungen voraussetzen, kann Searle natürlich nicht sagen, dass es die objektive
Funktion des Hirns ist bewusste Zustände zu erzeugen. Das Hirn tut dies einfach, und
zwar als Teil eines Lebewesens, das wiederum nur als soziale Tatsache existiert. Wir
können Searles biologischen Naturalismus in einem Schema darstellen:
[SchemaS] Hirn ! Bewusstsein ! Intentionalität !biologische Funktionen
Im Gegensatz zu diesem Schema sieht das Schema für den Biologischen Naturalismus der
Biosemantik wie folgt aus:
Searle 2005, 144.
Darunter fallen auch viele nicht-menschliche Tiere, vgl. Searle 2005.
527 Searle 1992: 84.
528 Searle 1992: 156. Fodor und Lepore 1994 haben die Rückführung der Intentionalität auf nichtintentionales Bewusstsein kritisiert, vgl. die Antwort von Searle 1994.
525
526
224
[SchemaB] Lebewesen ! biologische Funktion ! Intentionalität ! Bewusstsein
Nicht nur setzt das SchemaB beim Begriff der Funktion (von Teilen und Äußerungen von
Lebewesen) an, sondern es setzt bei einem normativen Begriff der Funktion an.
Demgegenüber setzt das SchemaS bei einer nicht-normativ verstandenen biologischen
Entität (dem Hirn) und einer nicht-normativ verstandenen Eigenschaft dieser Entität (dem
Bewusstsein) an, und erklärt daraus die Intentionalität und biologische Funktionen. Wir
haben jedoch gesehen, dass in Searles Fundamentalontologie lebende Systeme soziale
Tatsachen sein müssen und insofern voraussetzen, was sie hervorbringen sollen, nämlich
bewusste Lebewesen mit intrinsisch intentionalen Zuständen.
Der biologische Naturalismus wird von einem weiteren Problem geplagt. Searle
zufolge haben intentionale Zustände Satisfaktionsbedingungen und diese sind intentionalen
Zuständen intrinsisch.529 Die Satisfaktionsbedingung einer Überzeugung ist ein Umstand,
der vorliegen muss, damit die Überzeugung wahr ist (Wahrheitsbedingung), die
Satisfaktionsbedingung eines Wunsches ist der Umstand, der hervorgebracht werden muss,
damit der Wunsch erfüllt wird (Erfüllungsbedingung). Überzeugungen sind Zustände, die
wahr oder falsch sein können, Wünsche sind Zustände, die erfüllt oder unerfüllt sein
können. Solche Satisfaktionsbedingungen formulieren aber normative Anforderungen an
Überzeugungen oder Wünsche. Was ist die Quelle dieser Art der Normativität? Wie das
Gehirn solche Zustände hervorbringen kann, wird von Searle im Gegensatz zur
Biosemantik völlig im Dunklen gelassen. Dasselbe gilt für das Bewusstsein. Hirne bringen
einfach Bewusstsein hervor, die Neurologie sagt wie. Das ist kein Naturalismus, sondern
dogmatischer Szientismus. Um Szientismus handelt es sich, weil die explanatorische
Aufgabe ganz an eine Naturwissenschaft abgegeben wird. Um Dogmatismus handelt es
sich deshalb, weil eine These dadurch begründet wird, dass ein bestimmtes Ergebnis
prinzipiell einfach auffindbar sein muss, auch wenn unklar ist, wie man es finden könnte.
Aus
diesem
Ansatz
heraus
kann
aber
die
normative
Dimension
der
Satisfaktionsbedingungen nicht verständlich gemacht werden, weil an keiner Stelle
erkennbar ist, woher sie stammen sollte.
Ich habe den biologischen Naturalismus Aggrippas Trilemma unterworfen, denn
ich habe Searle vorgeworfen, dass die Frage nach dem Grund objektiver Urteile über
biologische Funktionszuschreibungen (die Tatsache, dass wir Funktionen entdecken
können) entweder in einen Regress führt oder zur Annahme, dass biologische Funktionen
letztlich soziale Fakten sind. Diese Annahme jedoch führt einen Erklärungszirkel in Searles
Ontologie ein. Letztlich muss er dogmatisch darauf beharren, ohne eine Erklärung dafür
529
Searle 1992: 51, 238.
225
geben zu können, dass das Hirn irgendwie Bewusstsein hervorbringt und dass gewisse
bewusste Zustände aus irgendeinem Grund über Satisfaktionsbedingungen mit einer
normativen Dimension verfügen. Keines dieser Probleme trifft den Biologischen
Naturalismus der Biosemantik.
Was könnte Searle in dieser Situation tun? Könnte er auf einen Kantischen Ansatz
zurückgreifen und behaupten, dass wir uns, gegeben die Beschaffenheit unseres
Erkenntnisvermögens, Lebewesen notwendigerweise als Naturzwecke denken müssen?
Doch sein biologischer Naturalismus lässt eine solche transzendentalphilosophische
Wendung nicht zu. Darüber hinaus haben wir bereits gesehen, dass Kants Auffassung der
Teleologie weder (von außen betrachtet) alternativlos noch (von innen betrachtet)
spannungsfrei ist (2.1.).
Könnte Searle auf Gott als Funktionszuschreiber zurückgreifen? Biologische
Entitäten haben beobachterrelative Funktionen, insofern sie von Gott erschaffen worden
sind. Wiederum lässt Searles biologischer Naturalismus dies nicht zu. Anders als die
Biosemantik erkennt er die theistische Option nicht einmal als Alternative (2.2.). Denn
Gott würde ja lediglich eine Welt mit lauter intrinsischen chemischen oder physischen
Eigenschaften vorfinden.
Searle könnte bezüglich biologischer Funktionen einfach ein Reduktionist sein und
beispielsweise die Funktion des Herzens, Blut zu pumpen, mit einer bestimmten Wirkung
des Herzens identifizieren. Doch Searle ist kein Reduktionist dieser Sorte. Dass das Herz
Blut pumpt, ist ihm zufolge zwar eine kausale Tatsache, aber eine Tatsache, die wir
aufgrund eines Systems früherer Wertzuschreibungen besonders schätzen. Funktionen sind
einfach von uns besonders geschätzte kausale Wirkungen eines Systems. Dies erklärt die
Normativität von Funktionen: Ein Herz, das kein Blut pumpt, mangelt einer kausalen
Wirkung, die wir als wertvoll erachten. Doch dies führt letztlich wiederum zu der
Annahme, dass biologische Funktionen letztlich soziale Fakten sind, was einen
Erklärungszirkel in Searles Ontologie einführt. Zudem habe ich dafür argumentiert, dass
biologische Funktionen nicht auf physikalische Prozesse reduziert werden müssen, um
einer naturalistischen Theoriekonstruktion zu dienen (2.2.).
3.2.2. Gegen die Organismustheorie
Wir sollten Searles Funktionsthese und seinen biologischen Naturalismus also verwerfen.
Was bleibt, ist die Objektivitätsthese, der zufolge biologische Funktionen objektive
Eigenschaften von bestimmten Entitäten und Prozessen sind, nämlich von Teilen von
226
Lebewesen und von Äußerungen von Lebewesen. Dies erklärt, warum wir Funktionen
entdecken können. Und wenn wir den biosemantischen Funktionsbegriff akzeptieren, kann
auch erklärt werden, warum Funktionen eine normative Dimension zukommt, nämlich
dadurch, dass Funktionen abhängig von REFs bestehen und selektierte Wirkungen sind.
Biologische Funktionen sind also Echte Funktionen. Doch der Schritt von der
Objektivitätsthese zur Echten Funktion ist nicht ohne Alternative. Denn man kann die
Objektivitätsthese vertreten, ohne die Objektivität von Funktionen und korrekte
Funktionszuschreibung von einem historischen Prozess der Selektion abhängig zu machen.
Wir haben bereits in Abschnitt 1.2.6. Cummins-Funktionen diskutiert. Dieser
Auffassung zufolge sind Funktionen intra-systemische kausale Rollen. Das Herz hat als
Bestandteil eines Zirkulationssystems, das Nährstoffe, Sauerstoff, Abfall usw. transportiert
die kausale Rolle Blut zu pumpen.530 Demgegenüber gibt Wright keine intra-systemische
kausale Rollenanalyse von „Funktion“, sondern eine teleologische Analyse, der zufolge das
Herz die Funktion hat Blut zu pumpen, weil es Blut pumpt, und das Blutpumpen erklärt,
warum das Herz vorhanden ist.531 Wir haben gesehen, dass diese Analyse durch die
Zugehörigkeit zu einem Typ ergänzt werden muss (1.1.4.). Dies leistet die Zugehörigkeit zu
einer REF. Die Echte Funktion des Herzens besteht in jenem kausalen Beitrag, den
Vorfahren der heute existierenden Herzen geleistet haben, und diese Wirkung erklärt,
warum Herzen vorhanden sind. Die Echte Funktion des Herzens ist deshalb seine
selektierte Wirkung.532
Bei den Cummins-Funktionen stellten sich folgende Probleme (1.2.6.): Erstens
ändert sich die Funktion eines Elements je nach Beschreibung der Fähigkeit eines Systems.
Zweitens sind die Identitätskriterien für ein solches System beliebig. Man kann
beispielsweise eine Flussmündung als System betrachten und dabei die Funktion von
Steinen im Flussbett in ihrem Beitrag zur Verbreiterung der Mündung oder zur Stauung
von Treibgut analysieren. Drittens sind Cummins-Funktionen relativ: Herzen sollen Blut
pumpen relativ zu einer Beschreibung des Systems, zu dem sie gehören. Sind jedoch die
Leistungen des Systems ebenfalls beobachterrelativ (etwa im Sinne von Searles „System
früherer Wertzuweisung“), dann ist die Funktion des Herzens, Blut zu pumpen, eine
Zur Erinnerung (aus 1.2.6.): Die Funktion von x in S wird wie folgt analysiert: x hat die Funktion zu -en
in S nur relativ zu einer Beschreibung B über S’s Fähigkeit zu -en, wenn x tatsächlich die Fähigkeit hat in S
zu -en und A eine angemessene Auffassung über die Fähigkeit zu -en ist durch den Rückgriff auf x
Fähigkeit in S zu -en.
531 Zur Erinnerung (aus 1.2.6.): Die Funktion von x ist es zu
-en, wenn es x gibt, weil es -t, und wenn das
zu -en ein Resultat davon ist, dass es x gibt.
532 Zur Erinnerung (aus 1.1.4.): Die Direkte Echte Funktion von E ist F, wenn gilt: (i) M ist Mitglied einer
REF. (ii) Vorfahren von M haben F mittels einer reproduzierten Eigenschaft E ausgeübt. (iii) Unter den
Vorfahren von M existierte eine positive statistische Korrelation zw. E(x) und F(x), so dass gilt: p(F/E) >
p(F). (iv) Die Umstände (ii) und (iii) sind Bestandteil der Erklärung dafür, dass M existiert und dass M E hat.
530
227
beobachterrelative
Eigenschaft
des
Herzens.
Auch
ihre
Normativität
wäre
beobachterrelativ: Ein Herz, das kein oder kaum Blut pumpt, ist ein defektes oder krankes
Herz nur relativ zum System früherer Wertzuweisungen. Denn das Zirkulationssystem hat
die Aufgabe, Nährstoffe, Sauerstoff, Abfall usw. zu transportieren nur relativ zu einem
System früherer Wertzuweisungen, weil „wir es in der Biologie als selbstverständlich
voraussetzen, dass Leben und Überleben Werte sind“.533
Um den Problemen der Searleschen Aufnahme der Cummins-Funktionen zu
entgehen, könnte man das System, relativ zu dem ein Element eine Funktion hat, nicht als
ein System früherer Wertzuweisungen betrachten, sondern als objektive Entität mit einer
bestimmten systematischen Verfasstheit. Der Organismus wäre ein solches objektives
Bezugssystem und den Teilen des Organismus kämen Funktionen zu (im Sinne von intrasystemischen kausalen Rollen), weil sie eine kausale Rolle im Organismus spielen. Die
Funktion eines Merkmals stellt einfach dessen Beitrag zur Gesamtaktivität des Organismus
dar. Funktionen sind so zwar objektive Eigenschaften von Teilen von Organismen, jedoch
ohne Rückgriff auf die Selektionsgeschichte. Man kann dies als „Organismustheorie der
Funktion“ bezeichnen.534
Doch erneut stellen sich die Fragen der Typenzugehörigkeit und der Normativität
von Funktionszuschreibungen. Inwiefern gehört ein Teil eines Einzelorganismus zu einem
Typ? Inwiefern gehört ein Organismus zu einem Typ? Und inwiefern können Defekte
eines biologischen Merkmals eingefangen werden? Natürlich kann man die kausale Rolle
eines Organs wie der Niere relativ zu einem einzelnen Organismus ausfindig machen.
Nehmen wir an, man könnte Nieren allein aufgrund morphologischer Merkmale
identifizieren. Was ist die Funktion der Niere? Entweder fordern die Beiträge defekter
Nieren zur Gesamtaktivität eines Einzelorganismus eine andere Funktionszuweisung als die
Beiträge intakter Nieren zu einem anderen Einzelorganismus, oder wir schreiben der
defekten Niere keine Funktion zu, der intakten Niere hingegen schon. Eine defekte Niere
hätte also entweder eine andere Funktion oder sie hätte keine Funktion. Im ersten Fall wäre
eine Vervielfältigung von Funktionen der Niere die Folge. Im zweiten Fall wäre die Folge
eine Zuordnung der Nieren zu unterschiedlichen Kategorien, nämlich sowohl zu einer
funktionalen als auch zu einer nichtfunktionalen Kategorie. Beide Konsequenzen
erscheinen mir unerwünscht. Sie zerreißen die Leistung, die Gray als Darwins großes
Verdienst gelobt hat, „that, instead of Morphology versus Teleology, we shall have
Morphology wedded to Teleology“ (2.1.). Und wie eben gesagt, vervielfältigen diese
533
534
Searle 1997: 25.
Vgl. Davies 2000; McLaughlin 2001; Toepfer 2004.
228
Konsequenzen entweder die Funktionen eines Typs oder die Kreuzklassifikationen eines
Typs. Beides steht aber dem Ziel der Vereinheitlichung entgegen, für das ich in Abschnitt
2.3. argumentiert habe. Darüber hinaus wären defekte oder kranke Teile lediglich an einer
abweichenden Morphologie erkennbar, nicht aber an einer Fehlfunktion. Normalerweise
betrachten wir aber Teile als defekt oder krank, insofern sie dysfunktional sind. Ein
plastisches Zentralnervensystem, das einen Gewebeschaden kompensiert, wäre dann, trotz
intakter Funktion, krank oder defekt, obwohl es seiner normalen Fähigkeit nachkommt,
Ausfälle zu kompensieren.
Es sieht also so aus, als müssten wir von typischen Beiträgen von biologischen
Merkmalen sprechen, wenn wir diese Probleme vermeiden möchten. Welche Optionen
bieten sich an, will man nicht auf den Begriff der Echten Funktion zurückgreifen? Man
könnte sagen: Der typische Beitrag und mithin die Funktion eines Merkmals ist der
statistisch häufigste Beitrag eines Merkmals zur Gesamtaktivität des Organismus. Doch
diese Antwort reicht nicht aus. Ein Merkmal, das in den allermeisten Fällen einen
bestimmten Beitrag nicht leistet, braucht allein deswegen nicht defekt zu sein. So haben
Spermien nicht nur die Funktion mehr oder weniger ziellos herumzuschwimmen, sondern
eine Eizelle zu befruchten, auch wenn sie dies in den überwiegenden Fällen nicht tun.
Weiter könnte die gezielte Verbreitung einer Augenkrankheit die Statistik der kausalen
Beiträge dieses Organs zur Gesamtaktivität von Organismen gehörig beeinträchtigen, doch
wir würden trotzdem nicht davon sprechen, dass die Augen ihre Funktion geändert haben.
Schließlich würde die gewählte Zeittiefe für die statistische Auswertung eines Beitrags zur
Gesamtaktivität von Organismen die Statistik ebenfalls beeinflussen. Diese drei Einwände
laufen einerseits darauf hinaus, dass unter einem statistischen Gesichtspunkt die
Objektivität der Funktionszuschreibungen (um die es hier ja geht) nicht aufrecht erhalten
werden kann. Andererseits steuern sie aber auf eine bestimmte Lösung zu: Die
Einbeziehung der Evolution räumt nämlich alle drei Einwande aus: Spermien können die
Funktion haben, Eizellen zu befruchten, wenn dies die Wirkung ist, aufgrund derer
Spermien (bzw. die sie produzierenden Organe bzw. die diese Organe produzierenden
Gene) selektioniert worden sind. Augen behalten auch nach einer gezielten maliziösen
Einflussnahme ihre Funktion, wenn diese Funktion die Wirkung ist, aufgrund derer Augen
(bzw. die sie produzierenden Gene) selektioniert worden sind. Die relevante Zeittiefe für
die Bestimmung der Funktion eines Teils ist (vereinfacht gesagt) die historische Epoche der
229
Selektion. Funktionale Normen sind keine statistischen Normen, es sind Normen, die aus
der Zugehörigkeit zu einem Typ mit einer bestimmten Geschichte entstammen.535
Die Organismustheorie hat gegenüber der Theorie der Echten Funktionen weitere
Nachteile. (a) Sie könnte allein eine Theorie von biologischen Funktionen sein, nicht aber
von kulturellen Funktionen. Denn die Zuschreibung von Funktionen ist auf Teile
beschränkt, die zu einem Organismus gehören. Demgegenüber vermag die Theorie der
Echten Funktionen kulturelle und biologische Funktionen zu vereinen, indem sie das
erweiterte Argumentationsschema der einfachen Selektion anwendet (2.3.). (b) Stirbt ein
Lebewesen, so leisten seine Teile keinen Beitrag zu seiner Gesamtaktivität mehr und sie
verlieren dadurch ihre Funktion. Stirbt der Vogel, so werden aus den funktionalen
Kategorien „Niere“ oder „Flügel“ nichtfunktionale Kategorien. Es wäre also streng
genommen falsch oder metaphorisch, auf den Vogel zu zeigen und zu sagen: „Dies ist ein
Flügel, damit können Vögel fliegen.“ Denn dieser Flügel hat diese Funktion nicht mehr.
Der Theorie der Echten Funktionen zufolge bleibt dieser Flügel aber ein Flügel, insofern er
zu einer REF gehört. Zwar kann er seine Funktion nicht mehr ausüben, doch diese
Unfähigkeit ist kein Grund, ihm die Funktion nicht zuzuschreiben. Auch der verkümmerte
Flügel eines lebenden Vogels hat diese Funktion, selbst wenn der Vogel damit niemals wird
fliegen können. (c) Wir haben gesehen, dass sich die biologischen Merkmale von
Organismen, die Funktionen haben, in Teile und in Äußerungen einteilen lassen, wobei
Teile
entweder
Organe
oder
Formen
sind,
Äußerungen
hingegen
entweder
Verhaltensweisen oder Produkte (1.1.4.). Wir dürfen uns also nicht nur um den Beitrag von
Teilen kümmern, sondern müssen die Beiträge von Teilen, Formen, Verhaltensweisen und
Produkten
eines
Organismus
zu
dessen
Gesamtaktivität
berücksichtigen.
Die
architektonischen Produkte von Tieren erfüllen im Allgemeinen drei Funktionen: Sie
dienen der Reproduktion, sie bieten Schutz vor Umwelteinflüssen und sie helfen beim
Beutefang in je spezifischer Weise.536 Auch die funktionalen Artefakte von Menschen
können auf diese Weise grob klassifiziert werden. Auch wenn solche architektonischen
Produkte aktuell keinen Beitrag zur Gesamtaktivität eines Organismus leisten, so können
ihnen doch Funktionen zugeschrieben werden. Das Nest dient der Aufzucht der Jungen
und dem Schutz vor Umwelteinflüssen. Deshalb gibt es das Nest, und zwar im folgenden
Sinne: deshalb hat es der Vogel gebaut und deshalb hat dieser Vogel die Fähigkeit solche
Nester zu bauen, unabhängig davon, ob das Nest aktuell oder jemals einen Beitrag zur
Schließlich wird man nicht nur die Funktion eines bestimmten Typs von Teil in einem Einzelorganismus
bestimmen wollen, sondern die Funktion in einer bestimmten Art von Organismus. Doch auch die
Zugehörigkeit eines Einzelorganismus zu einer Art scheint mir nicht ohne Geschichte auskommen zu
können. Vgl. dazu 3.3.
536 Vgl. Hansell 2005: 1-32.
535
230
Gesamtaktivität dieses Vogels leistet. Erklären wir das Vorhandensein des Nestes durch
seine Zugehörigkeit zu einer REF22 und durch seinen historischen Beitrag zum Überleben
der Art, zu der unser Vogel gehört, so haben wir damit nicht nur seine Funktion
beschrieben, sondern auch erklärt, warum das Nest vorhanden ist und eine Funktion haben
kann, unabhängig von seinem aktuellen Beitrag zur Gesamtaktivität eines Organismus.
Alles in allem ist die Theorie der Echten Funktionen also die bessere Option für
objektive Funktionszuschreibungen als die Organismustheorie. Und zwar besser aufgrund
ihrer Fähigkeit die Typenzugehörigkeit und die Normativität von funktionalen Entitäten
und Prozessen zu erklären, besser aufgrund ihrer Fähigkeit unsere alltäglichen Redeweisen
über Funktionen einzufangen und vor allem besser aufgrund ihrer Fähigkeit zur
Vereinheitlichung. Die Organismusthese ist als alternative Objektivitätsthese weniger
attraktiv als die Theorie der Echten Funktionen.
3.2.3. Biologische funktionale normative Kategorien: die Standardsicht
In der Biologie ist die Rede von „Funktionen“ ubiquitär. So findet man Fachartikel und
Buchkapitel über die Evolution der Gestalt und Funktion von Primatenzähnen, über die
visuellen Funktionen von retinorezipienten Nuklei, über die Funktion von Tierarchitektur
oder über die Form und Funktion der Pupille. Allerdings taucht der Begriff der Funktion in
den Indizes biologischer Lehrbücher und Fachmonografien eher selten auf. Dies ist wenig
verwunderlich, handelt es sich doch um einen impliziten Grundbegriff, der in vielfältiger
verbaler Gestalt zu Tage tritt.537 Tritt der Begriff der Funktion jedoch selbst in
Erscheinung, so scheint er bisweilen der These zuwiderzulaufen, dass biologische
Funktionen Echte Funktionen sind. Dies hat damit zu tun, dass in der Biologie
routinemäßig eine funktionale von einer evolutionären Erklärungsebene unterschieden
wird.538 Betrachten wir ein Beispiel. In einer Monografie aus dem Bereich der
Sozioökologie erläutern die Autoren, was Sozioökologie ist. Diese Disziplin untersuche,
warum eine soziale Art eine bestimmte Form von Gemeinschaft bildet, und sie stelle die
Frage, wie sich die jeweilige Gemeinschaftsbildung auf Überleben, Reproduktion,
Kooperation und Konkurrenz der Individuen (des jeweiligen Geschlechts einer Art)
auswirkt. Fragen nach dem Warum und dem Wie können in der Biologie auf
Vgl. Butler 2000 („The evolution of tooth shape and tooth function in primates“); Ibbotson und Dreher
2005 („Visual Functions of the Retinorecipient Nuclei in the Midbrain, Pretectum, and Ventral Thalamus of
Primates“); Hansell 2005: 1-32; Land und Nilsson 2001: 87-90. Für die Verwendung analoger funktionaler
Begriffe (wie „Zweck“, „Aufgabe“, „Job“, „regulieren“, „kontrollieren“, „auslösen“, „versorgen“, „stützen“,
„schützen“, „signalisieren“, „ablesen“, „entgiften“ usw.) in der Biologie vgl. Krohs 2004.
538 Diese Unterscheidung geht auf Tinbergen 1963 zurück.
537
231
unterschiedlichen Ebenen gestellt werden, etwa auf der Ebene der Physiologie oder der
Entwicklung. Die Sozioökologie zielt auf eine andere explanatorische Ebene:
„Socioecology frames the questions and answers in terms of how individuals’ evolved
survival, mating, and rearing strategies interact with the physical and social environments to
produce the sort of society that we see.“539 Es klingt ganz so, als würde die Sozioökologie
Fragen und Antworten auf einer evolutionären Erklärungsebene stellen und sich auf Echte
Funktionen beziehen. Doch die Autoren bestreiten dies, denn „the evolutionary history of
a species is itself another valid level of explanation for the species’ behavior and society“.540
Hier ist ein weiterer Versuch: „The ‘functional’ level gets closer to what is meant, because
in biology a trait’s function is often understood by the difference the trait makes to survival
or mating or rearing“.541 Dies muss man so verstehen, dass die Funktion eines Merkmals in
dem Beitrag besteht, den es zur Fitness eines Individuums leistet, d.h. zur
Wahrscheinlichkeit, dass das betreffende Lebewesen mehr Nachkommen zeugt als
Artgenossen. Dies entspricht aber nicht unserem wesentlich auf die Vergangenheit
bezogenen Begriff der Echten Funktion. Wie um die Verwirrung um die Verwendung des
Begriffs zu vergrößern, weisen die Autoren auf eine dritte Bedeutung hin: „However,
‘function’ also has mechanistic connotations or meanings. So, we will usually talk in terms
of ‘payoffs’ in this book: the payoff is the consequence that the trait has for an individual’s
ability to survive, or to mate, or to rear healthy offspring.”542 Offenbar wird der Begriff der
Funktion mechanisch verstanden. Wie hängen diese unterschiedlichen Auffassungen
zusammen?
Bei den Funktionen von Merkmalen auf der evolutionären Ebene („evolved
survival, mating, and rearing strategies“) wird auf die Herkunft des Merkmalträgers
geachtet, da nach Entstehung und Weitergabe eines Merkmals aufgrund seines Beitrags zur
Fitness der Vorfahren eines Individuums gefragt wird. Auf der funktionalen Ebene
hingegen wird auf die Zukunft des Merkmalträgers geachtet, weil nach dem Beitrag des
Merkmals zur Fitness eines aktuellen Individuums (oder einer aktuellen Gruppe) gefragt
wird. Der Funktionsbegriff ist also temporal janusköpfig, er ist herkünftig und zukünftig.
Merkmale, die zum Überleben von Lebewesen beitragen, weil sie das Lebewesen an seine
(physische, biologische und soziale) Umwelt anpassen, werden als „Adaptationen“
bezeichnet. Ist eine Adaptation ein herkünftiges oder ein zukünftiges Merkmal? Manche
Textbücher zur Evolutionstheorie definieren eine Adaptation historisch als Merkmal „that
Harcourt und Stewart 2007: 4 (meine Hervorhebung).
Harcourt und Stewart 2007: 5.
541 Harcourt und Stewart 2007: 5.
542 Harcourt und Stewart 2007: 5.
539
540
232
evolved because it improved relative reproductive performance“.543 Andere Autoren
definieren Adaptationen ahistorisch, als Merkmale „that enhance the organism’s
reproductive success in its natural environment“.544 Wir haben bereits gesehen, dass
Adaptationen nicht von vornherein durch die Evolution definiert werden sollten, weil die
Evolutionstheorie Adaptationen erklären soll, und zwar besser als beispielsweise theistische
Erklärungen (2.2.). Doch wir operieren jetzt innerhalb der Biologie und damit schon unter
Ausschluss der theistischen Alternative. So können wir folgende Unterscheidung einführen:
Biologische Merkmale mit einer herkünftigen oder evolvierten Funktion können als
„Adaptationen“ bezeichnet werden, und zwar im Sinn der historischen Definition. Freilich
können wir auch fragen, wie die biologischen Merkmale eines aktuellen Individuums (oder
einer aktuellen Gruppe) zur Fitness des Individuums (oder der Gruppe) beitragen. Hier
geht es um die Bewertung von zukünftigen Payoffs. Solche Merkmale können als „adaptive
Merkmale“ bezeichnet werden. Möchte man mit Bezug auf Adaptationen und adaptierte
Merkmale die Wahrscheinlichkeit erklären, dass ein aktueller Organismus insgesamt in
seiner Umwelt überlebt und sich reproduziert, so spricht man auch von „Adaptiertheit“.545
Adaptationen und adaptive Merkmale hängen zweifellos zusammen, denn
Merkmale, die einen Beitrag zur Fitness der historischen Vorfahren eines Individuums
geleistet haben, können natürlich auch einen Beitrag zur Fitness eines aktuellen
Individuums leisten. Und ein Merkmal, über das ein aktuelles Individuum verfügt, weil es
einen Beitrag zur Fitness der Vorfahren geleistet hat, muss tatsächlich einen Beitrag zur
Fitness der Vorfahren geleistet haben. Allerdings müssen Merkmale, die tatsächlich einen
Beitrag zur Fitness der Vorfahren geleistet haben, keinen Beitrag zur Fitness eines aktuellen
Individuums leisten, denn das Merkmal des aktuellen Individuums kann ja seine Funktion
auch nicht erfüllen, etwa weil es selbst funktionsuntüchtig ist oder weil sich
Umweltbedingungen verändert haben. Ein Individuum mit artspezifischen Adaptationen
kann deshalb insgesamt schlecht adaptiert sein. Intakte Adaptationen leisteten nicht nur
einen Beitrag zur Fitness der Vorfahren aktueller Individuen, sondern können natürlich
auch einen Beitrag zur Fitness aktueller Individuen leisten. Insofern besteht zwischen
Adaptationen einer Art („evolved survival, mating, and rearing strategies“) und adaptierten
Merkmalen eines Individuums („the consequence that the trait has for an individual’s
ability to survive, or to mate, or to rear healthy offspring“) kein Gegensatz. Andererseits
kann ein aktuelles Individuum jedoch auch ein biologisches Merkmal aufweisen, das einen
Beitrag zur Fitness leisten könnte, ohne dass es jemals einen solchen Beitrag für die
Stearns und Hoekstra 2005: 519.
Ridley 2005: 468.
545 Vgl. Brandon 1996: 48-50.
543
544
233
Vorfahren des Individuums geleistet hätte, etwa wenn das Merkmal neu ist oder die
Umweltbedingungen sich verändert haben. Ein Individuum kann also über adaptive
Merkmale verfügen, die keine Adaptationen sind. Ich komme auf diesen Fall, der in den
Augen einiger Kommentatoren ein Problem für die Theorie der Echten Funktion
darstellen soll, am Schluss dieses Abschnitts zurück.
Im Moment interessieren biologische Merkmale, die Adaptationen sind und somit
eine Echte Funktion haben. Peter Godfrey-Smith definiert eine biologische Funktion wie
folgt:
„A current token of a trait T in an organism O has the function of producing an
effect of type E just in case past tokens of T contributed to the fitness of O’s
ancestors by producing E and were selected for (over alternative items) because of
this contribution to the fitness of O’s ancestors.“546
Analog die Definition von Neander:
„Die (oder eine) [Echte] Funktion eines Bestandteils (X) eines Organismus (O) ist
es, das zu tun, was Bestandteile von Xs (homologem) Typ als Beitrag zur
Gesamtfitness von Os Ahnen getan haben und was bewirkt hat, dass der Genotyp,
dessen phänotypischer Ausdruck X ist, durch natürliche Selektion (proximal)
selektiert wurde.“547
Diese beiden Definitionen sind prägnante Formulierungen dessen, was als „Standardsicht”
biologischer Funktionen bezeichnet worden ist.548 Die Standardsicht ist historisch und
teleologisch: Das Vorhandensein von biologischen Merkmalen mit Funktionen wird durch
ihre evolutionäre Selektionsgeschichte erklärt. Sie beruht auf der Idee, dass biologische
Merkmale mit Funktionen zu einem Merkmaltyp gehören müssen. Dieser Typ wird
entweder als reproduktiv etablierte Eigenschaft der Mitglieder einer REF verstanden oder
selbst als REF aufgefasst (1.1.4.). In der Standardsicht sind also biologische Funktionen
Echte Funktionen.
In beiden Definitionen finden sich Begriffe, die bereits an anderer Stelle diskutiert
worden sind. Unter den Begriffen „Merkmal“ (Godfrey-Smith) oder „Bestandteil“
(Neander) haben wir sowohl Teile als auch Äußerungen eines Lebewesens verstanden, d.h.
Organe, Formen, Verhaltensweisen und Produkte von Lebewesen (1.1.4.). Den Begriff des
Vorfahren oder Ahnen haben wir im Zusammenhang mit der Diskussion der REF erläutert
Godfrey-Smith 1994b: 359.
Neander 2002a: 94.
548 Allen und Bekoff 1995. Es handelt sich um jene Sicht, die sich bei vielen Philosophinnen und Philosophen
der Biologie in der ersten Hälfte der 1990er Jahre herausgebildet hat. Vgl. Allen und Bekoff 1995; Buller
1998a; Godfrey-Smith 1993, 1994b; Griffiths 1992, 1993; Kitcher 1993; Matthen 1997; Mitchell 1995;
Neander 1991a, 1991b, 1995; Price 1995. Für umfassendere und kritische Diskussionen der Standardsicht vgl.
die Sammelbände Allen et. al. 1998; Ariew et al. 2002; Buller 1998b; Perlmann 2004; Schlosser und Weingart
2002.
546
547
234
(1.1.4.). Wir müssen jedoch etwas zu den Begriffen „Fitness“, „Homologie“, und
„Proximalität“ sagen.
Fitness: Die eingangs gegebenen Formulierungen der Standardsicht bestimmen die
Echte Funktion eines biologischen Merkmals eines Lebewesens als dasjenige, das zur
Fitness der Vorfahren des Lebewesens beigetragen hat. Verstehen wir Fitness als den
relativen, lebenszeitlichen Reproduktionserfolg, inklusive der Wahrscheinlichkeit zu
überleben,549 so fallen Funktion und Fitnesserhöhung nicht zusammen. Denn die Funktion
eines Merkmals wird als dessen Beitrag zur Fitness der Vorfahren bestimmt. Echte
Funktionen sind Fitness-Komponenten eines Merkmals, die Komponenten der Fitness von
Vorfahren waren.550 Die Echten Funktionen von Merkmalen eines lebenden Organismus
sind also jene Wirkungen, die zur Fitness der Vorfahren beigetragen haben und aufgrund
dieses Beitrags selektiert worden sind.
Analogie / Homologie: Neander nimmt in ihre Definition der biologischen
Funktion den Ausdruck „homolog“ auf. Es wäre zu wenig, wenn nur analoge Merkmale
Echte Funktionen hätten. Denn so würde ein großer Teil der Merkmale von Lebewesen
aus dem Bereich der Echten Funktionen fallen. Analogien sind per definitionem funktional.
Die strömungsgünstigen Körper von Schwertfischen, Pinguinen und Delfinen sind
Analogien, weil ihre Strukturähnlichkeit sich durch ihre Funktion erklären lässt. Der
Ausdruck „Analogie“ kann also nicht in die Definition aufgenommen werden, weil diese
sonst den Begriff der Funktion enthalten würde. Homologien sind Strukturähnlichkeiten
aufgrund gemeinsamer evolutionärer Herkunft. So weisen die Wirbeltierextremitäten von
Maus, Adler und Blauwal denselben Grundbauplan auf. Die Flügel von Vögeln und
Fledermäusen sind als Wirbeltierextremitäten homolog, als Flügel analog. Die Verwendung
des Begriffs „Homologie“ in Neanders Definition ist etwas erweitert, weil sie nicht darauf
festgelegt ist, nur von homologen Merkmalen zwischen Arten zu sprechen, wie dies in der
Biologie häufig der Fall ist. Neanders Gebrauch von „homolog“ lässt z.B. auch iterative
Homologien zu, wie es meine beiden Nieren oder die Daumen an meinen Händen sind.
Funktionale biologische Kategorien sind homologe Kategorien, denn Echte Funktionen
kommen biologischen Merkmalen nur als Mitgliedern einer REF zu, mithin nur Mitgliedern
einer biologischen Abstammungslinie mit gemeinsamer evolutionärer Herkunft. Analoge
Gruppen können aus homologen Gruppen gebildet werden, es sind Gruppen zweiter
Ordnung.551
Stearns und Hoekstra 2005: 522.
Vgl. Griffiths 1993.
551 Vgl. Neander 2002b; Matthen 1998, 2000.
549
550
235
Proximalität: Merkmale mit Echten Funktionen werden nicht nur selektiert,
sondern können auch im weiteren Verlauf der Geschichte ihrer Träger eine positive Rolle
spielen. Die natürliche Selektion stützt bildlich gesprochen ihre einmal getroffene Wahl,
weil sich diese durch fortwährende Nützlichkeit auszeichnet. Selektierte Wirkungen waren
nicht nur nützlich, sie bleiben nützlich. Biologische Merkmale können ihre Echte Funktion
im Verlaufe der Evolution jedoch auch verändern, anreichern oder verlieren. Das heißt, sie
bleiben nicht auf eine bestimmte Art und Weise nützlich. Die Standardsicht sollte
Funktionswandel und Funktionsdegeneration nicht ausschließen. Dies kann (a) entweder
dadurch geschehen, dass ein Merkmal eine alte Funktion verliert und eine neue annimmt,
oder (b) dadurch, dass es seine alte Funktion behält und zusätzlich eine neue Funktion
bekommt, oder (c) dadurch, dass ein Merkmal einer Art seine Funktion verliert. Deshalb
führt Neander die proximale Selektion an. Die proximale Selektion beachtet nicht nur die
historische Epoche der Entstehung einer Echten Funktion, sondern ebenso das Wirken der
natürlichen Selektion in der letzten evolutionär signifikanten Epoche einer Art. In erster
Linie brechen durch Speziation (Entstehung einer neuen Art) evolutionär signifikante
Epochen an. Deshalb ist für die Theorie der Echten Funktion die biologische Art die
relevante Bezugsgröße.552
Betrachten wir kurz drei Beispiele. (a) Funktionswandel. Bei Menschen wird in der
Epiphyse (Zirbeldrüse) das Hormon Melatonin produziert. Die Melatoninausschüttung
reguliert in erster Linie den Schlaf-wach-Rhythmus (und deshalb eignet sich Melatonin als
Basis für Medikamente gegen Jetlag). Bei Fehlfunktion bewirkt die Epiphyse – außer einem
gestörten Tagesrhythmus – beispielsweise eine beschleunigte Geschlechtsentwicklung. Die
Epiphyse war ursprünglich ein lichtempfindliches Organ im Zwischenhirn, das seine
Funktion
im
Laufe
seiner
Evolution
verändert
zu
haben
scheint.
Die
evolutionsgeschichtlich alte Art der neuseeländischen Brückenechse (Sphenodon punctatus)
beispielsweise hat in der Mitte ihres Schädels eine mit einer durchsichtigen Membran
überzogene Spalte, durch die Licht auf ihre Epiphyse fallen kann. Auf diesem Weg wird
nicht der Wachrhythmus des Reptils reguliert, sondern der Farbwechsel seiner Haut. Die
Funktion dieses Organs hat sich also gewandelt, denn die Funktion bei dem
evolutionsgeschichtlich älteren Reptil ist eine andere als bei den jüngeren Säugetieren.553
Die Standardsicht kann den Funktionswandel einfangen, weil sie bestimmt, was sich
wandelt, nämlich die Funktion relativ zu einer evolutionär signifikanten Epoche. (b)
Exaptation. Die Vorderextremitäten von Meeresschildkröten haben die Funktion, diesen
552
553
Auf diesen wichtigen Punkt werde ich in den Abschnitten 3.3.1.-3.3.3. ausführlich eingehen.
Vgl. Heldmaier und Neuweiler 2004: 424-428.
236
Tieren die schwimmende Fortbewegung zu ermöglichen. Zur Eiablage begeben sich
Meeresschildkröten an Land und graben mithilfe ihrer Vorderextremitäten Löcher, in die
sie ihre Eier ablegen. Offenbar haben die Vorderbeine eine zusätzliche Funktion erworben.
Zur Normalen Erklärung der Ausübung der Echten Funktion eines Merkmals gehört die
Nennung Normaler Bedingungen für die erfolgreiche Ausübung. Die Normale Bedingung
für die Ausübung der älteren Funktion (Schwimmen) ist eine andere als jene für die
Ausübung der neueren Funktion (Graben), und zwar in erster Linie deshalb, weil zu der
Normalen Bedingung der älteren Funktion das Leben im Wasser gehört, zu jener der neuen
Funktion hingegen das Leben auf dem Festland.554 (c) Verkümmerten Merkmalen sollten
keine Echten Funktionen zugeschrieben werden, bloß weil es sich um Nachfahren von
Merkmalen mit Echten Funktionen handelt. So können beispielsweise Grottenolme nicht
sehen. Es erscheint daher müßig, ihren Augen die Funktion zuzuschreiben, zu sehen, auch
wenn die Augen ihrer noch nicht in Höhlen lebenden Vorfahren durchaus in der Lage
waren zu sehen.555 In der letzten evolutionär signifikanten Epoche der Grottenolme haben
die Augen keinen Beitrag zur Fitness geleistet.556
Inwiefern bilden Merkmale mit biologischen Funktionen eine normative Kategorie? Einem
biologischen Merkmal gelingt es nicht immer, seine Echte Funktion zu erfüllen. Dafür gibt
es drei Möglichkeiten: Entweder misslingt die Ausübung aufgrund äußerer Umstände oder
weil das Merkmal schlecht oder nur teilweise funktioniert oder weil es ganz und gar defekt
ist.557 Trotzdem hat das Merkmal eine Funktion, und zwar aufgrund seiner Zugehörigkeit
zu einem Typ mit einer Funktion. Solche Typen werden, wie wir gesehen haben, durch
REFs gebildet (1.1.4.). Die Rechtfertigung, einem Merkmal eine Funktion zuzuschreiben,
obwohl es sie nicht ausführt, liegt in der Zugehörigkeit zu einem Typ. Aufgrund dieser
Zugehörigkeit hat ein Merkmal-Token auch dann eine Funktion, wenn es sie nicht erfüllt.
Ein solches Token sollte etwas Bestimmtes tun, weil es zu einem Typ mit einer Funktion
gehört.
Dadurch
werden
auch
nicht-normale
oder
abnorme
Merkmal-Token
554 Zum Begriff der Exaptation vgl. Gould und Vrba 1982. Eine Diskussion der Exaptation im Rahmen der
Standardsicht findet sich bei Millikan in WQP: II.
555 Zum Problem verkümmerter Merkmale vgl. Griffiths 1992.
556 Ganz im Gegenteil sind Exemplare mit funktionstüchtigen Augen zur Versorgung eines kostenintensiven
Organs gezwungen, für das sie keine Verwendung haben. Einigen Auffassungen der regressiven Evolution
zufolge existiert deshalb ein selektiver Druck nach Exemplaren ohne das versorgungsintensive Organ. Das
schließt nicht aus, dass passive Faktoren zur Fixierung und Akkumulation von Verkümmerungen des Auges
geführt haben.
557 Es kann viertens auch der Fall sein, dass ein biologisches Merkmal fehlt. Doch dann ist die Nichterfüllung
seiner Funktion natürlich kein Fall einer vollständigen oder partiellen Fehlfunktion oder der Abwesenheit von
Normalen Bedingungen. Die Abwesenheit eines Merkmals mit einer biologischen Funktion ist ein Defekt des
Lebewesens, nicht des Merkmals. Ich komme im Zusammenhang der Diskussion spezifischer normativer
Klassen darauf zurück.
237
eingeschlossen.558 Denn auch Merkmal-Token, die nicht oder teilweise oder falsch
funktionieren, gehören zu einem Merkmaltyp mit einer Funktion. Ein solcher Typ bildet
eine normative Kategorie. Funktionale normative Kategorien sind normativ, insofern sie
Elemente enthalten können, die defekt sind. Biologische Merkmale mit Echten
Funktionen, wie sie die Standardsicht definiert, bilden biologische funktionale normative
Kategorien. Auch ein blindes, ein kurzsichtiges oder ein in Stockdunkelheit gehülltes Auge
ist ein Auge, weil es zu einer normativen Kategorie gehört, deren Elemente eine Echte
Funktion haben. Das Verständnis biologischer Funktionen als normativer Kategorien ist
nicht müßig, es leistet sozusagen begriffliche Arbeit, und zwar in vier Hinsichten:
(1) Funktionale normative Kategorien sind für die Biologie unverzichtbar, weil biologische
Kategorien durch ihre Funktion definiert werden. Die Physiologie z.B. befasst sich mit
den Funktionen von Teilen (Organen und Formen) von Lebewesen, die Neurologie
mit der Funktion von Teilen des Gehirns usw. Solche Wissenschaften stellen ein
Fundament für die Medizin dar und zwar genauer für deren Verständnis von Krankheit
und Gesundheit, von defekten und intakten Teilen. Bei den Gegensatzpaaren „krank
versus gesund“ oder „defekt versus intakt“ handelt es sich um normative Begriffspaare.
Die Normativität dieser Begriffspaare, bezogen auf die Organe und auf die Formen
von Lebewesen, leitet sich von den Echten Funktionen dieser Teile ab.
(2) Die Bildung funktionaler normativer Kategorien hat darüber hinaus den Vorteil, dass
sie eine Abstraktion von konkreten Strukturen erlaubt. Diese Abstraktionsleistung
ermöglicht die Bildung umfassender Kategorien und erlaubt es, Zusammenhänge zu
erkennen. Die Ethologie etwa befasst sich mit den Funktionen von Äußerungen von
Lebewesen,
insbesondere
von
Verhaltensweisen.
Sie
klassifiziert
solche
Verhaltensweisen aufgrund von Funktionen.559 Wie wir gesehen haben, sind
Erklärungen in der Biologie stets auch Vereinheitlichungen. Funktionale normative
Kategorien sind Kategorien, die in einem Gegenstandsbereich zur Vereinheitlichung
beitragen. Die Grundlage dieser Vereinheitlichungen ist wiederum das verallgemeinerte
Argumentationsschema der einfachen Selektion (2.3.).560
(3) Funktionale normative Kategorien geben der Biologie eine objektive Grundlage. Ob
biologische Merkmale eine Funktion haben, kann entdeckt und intersubjektiv überprüft
Es handelt sich, wie Neander 2002b: 393 sagt, um „abnormality inclusive categories“.
Vgl. die Diskussion über den Begriff des Verhaltens in Abschnitt 1.2.5. und WQP: VII.
560 Insofern gilt Dobzhanskys berühmtes Diktum „Nothing in Biology Makes Sense Except in the Light of
Evolution“ (vgl. Dobzhansky 1973). Das Diktum war ursprünglich nicht in erster Linie auf die Theorie der
natürlichen Selektion, sondern auf die Theorie der gemeinsamen Abstammung bezogen, doch es hat
mittlerweile aus guten Gründen eine andere Funktion erhalten als die von ihrem Erfinder intendierte.
558
559
238
werden, spezifische Funktionszuschreibungen können empirisch widerlegt werden.561
Biologische Funktionen sind objektiv, insofern sie nicht beobachterrelativ und nicht
eliminierbar sind.562 Im Zuge der Kritik an Searles Funktionsthese (3.2.1.) habe ich
gesagt, dass Funktionen ontologische Objektivität zukommt. Sie existieren nicht als
beobachterrelative Eigenschaften. Was spricht für die ontologische Objektivität
biologischer Funktionen? Wenn wir biologische Funktionen als Echte Funktionen
verstehen, können wir ein einfaches Argument für den Funktionsrealismus aufstellen.
Man kann das Argument intuitiv zunächst so formulieren: Lebewesen haben Merkmale
mit Funktionen entwickelt, lange bevor wir sie als Merkmale mit Funktionen
konzeptualisiert haben, und daher unabhängig von uns. Ebenso haben wir Menschen
Merkmale mit Funktionen entwickelt, lange bevor wir sie konzeptualisiert haben. Das
Argument für den Realismus für biologische Funktionen lautet entsprechend: (i)
Biologische Funktionen sind selektierte Effekte und damit das Ergebnis der natürlichen
Selektion.
(ii)
Evolution
durch
natürliche
Selektion
ist
ein
realer
und
beobachterunabhängiger Prozess. (iii) Die direkten Ergebnisse solcher Prozesse sind
gleichfalls real und beobachterunabhängig. (iv) Also sind biologische Funktionen real
und beobachterunabhängig.
(4) Die Standardsicht kann verschiedene Schwierigkeiten beheben, die die teleologische
Natur von Funktionen, die auch von Gegnern der Standardsicht nicht bestritten wird,
jeder Funktionstheorie bereitet. Wir haben bereits gesehen, wie die Behebung einer
Schwierigkeit aussieht, nämlich der Normativität von Funktionszuschreibungen. Ich
nenne zwei weitere Schwierigkeiten, die die Standardsicht behebt, bevor ich auf
grundlegende Einwände gegen die Standardsicht zu sprechen komme. (a)
Rückwärtskausalität. Wenn die Existenz eines Merkmals durch die Wirkung dieses
Merkmals erklärt wird, dann haben wir es scheinbar mit einer Art von
Rückwärtskausalität zu tun. Dies erweckt den Anschein, es handle sich um eine bloß
analoge Zuschreibung, die auf dem Modell der Handlung beruht. Bei einer Handlung
gehen die Wirkungen einer Handlung ihrem Auftreten als Handlungsintention voraus.
Bei biologischen Funktionen gehen einem aktuellen Merkmal-Token Token voraus, die
Wirkungen haben, welche erklären, warum das aktuelle Token existiert und eine
bestimmte Wirkung als Funktion hat. Seit Darwins Rehabilitierung der natürlichen
561 Vgl. das Beispiel der unscheinbaren Schnecke Cepaea nemoralis. Ernst Mayr hatte über das Gehäuse dieser
Schnecke behauptet: „There is no reason to believe that the presence or absence of a band on a snail shell
would be a noticeable selective advantage or disadvantage.“ (Mayr 1942: 75) Demgegenüber haben Cain und
Sheppard 1954 Hinweise darauf gegeben, dass die Farbe der spiralförmigen Bänder auf den
Schneckengehäusen Funktionen der Tarnung zu erfüllen scheint (vgl. dazu auch Cook 2008). Zur Bedeutung
dieser Schnecken im Kontext evolutionstheoretischer Debatten vgl. Millstein 2009.
562 Zur Nicht-Eliminierbarkeit vgl. die Abschnitte 2.2.-2.3.
239
Teleologie brauchen wir weder Rückwärtskausalität noch Handlungsanalogien, um dies
zu verstehen. Darwin therapiert das Paley-Syndrom (2.1.). (b) Abgrenzungen. Die
Funktion eines biologischen Merkmals muss von (i) bloßen Dispositionen, (ii)
Nebeneffekten und (iii) dem Funktionieren-als unterschieden werden. (i) Viele
biologische Merkmale können verbrennen oder gegessen werden; Arterien können
verstopfen, Füße riechen usw. Doch diese Dispositionen sind keine biologischen
Funktionen. Denn es handelt sich dabei nicht um selektierte Wirkungen, nicht einmal
um selektiere Dispositionen dieser Merkmale. (ii) Viele biologische Merkmale haben
zahlreiche Wirkungen und Eigenschaften. So macht das Herz Klopfgeräusche, der
Magen gurgelt, Füße hinterlassen Abdrücke, Handbewegungen wirbeln Luft auf usw.
Doch diese Wirkungen sind Nebeneffekte, weil es sich nicht um selektierte Wirkungen
dieser Merkmale handelt. (iii) Fällt ein Igel von einer Mauer, federt sein Stachelkleid
den Sturz ab, der Flug der Gänse zeigt den nahenden Winter an usw. Diese Merkmale
funktionieren als Abfederung, als Wettervorhersage usw. Doch keine dieser
Funktionen-als ist eine selektierte Funktion.
Trotz dieser Vorzüge ist die Standardsicht natürlich nicht ohne Widerspruch geblieben.563
Fassen wir nochmals die wesentlichen Punkte zusammen: Entscheidend dafür, dass
biologische Funktionen eine normative Dimension haben, ist ihre Zugehörigkeit zu einer
normativen Kategorie. Normative Kategorien sind dadurch definiert, dass sie defekte
Mitglieder enthalten können. Merkmal-Token, so haben wir gesagt, gehören zu einem
Merkmal-Typ, der durch eine REF gebildet wird. Dies scheint zwei merkwürdige
Konsequenzen zu haben: Erstens hat ein neu entstandenes Merkmal, das durchaus adaptiv
ist, per definitionem keine Echte Funktion, weil es nicht zu einer REF gehört. Es scheint aber
seltsam, dass ein adaptives Merkmal keine Funktion haben soll.564 Zweitens kommt die
Echte Funktion dem Typ eines Merkmals zu und nur abgeleitet dem Token. Aber wie
können Typen Wirkungen haben? Überfordert dies nicht die ontologische Kategorie des
Typs?565
Ich diskutiere diese beiden Einwände, indem ich mit dem zweiten Einwand
beginne. Friedemann Buddensiek beispielsweise kritisiert Neanders Formulierung der
Standardsicht in dieser Richtung. Er tut dies aber aufgrund einer falschen Annahme, die er
ausgehend von der folgenden Passage bei Neander trifft:
Vgl. Cummins 1975; Ehring 1985; Davies 2000; McLaughlin 2001; Cummins 2002; Töpfer 2004.
Vgl. McLaughlin 2001.
565 Buddensiek 2006: 188ff.
563
564
240
„Biological proper functions belong primarily to types and only secondarily to their
biological parts and processes. A particular piece of genetic material, or a particular
instance of a trait (your thumb, Reagans’s nose) cannot be selected by natural
selection which operates over whole populations.“566
Da die Kritik auf einer falschen Annahme beruht, können wir die Kritik selbst zunächst
außer Acht lassen, und uns auf die Annahme konzentrieren. Dies wird zusätzlich zu einer
Klärung dessen beitragen, was es heißt, dass biologische Merkmale eine funktionale
normative Kategorie bilden. Buddensiek versteht Neander im Hinblick auf die zitierte
Stelle so, als würde sie sagen, Populationen seien Typen.567 Doch Neander weist im
Kontext dieser Stelle nur darauf hin, dass biologische Merkmale im Gegensatz zu
Merkmalen von Artefakten nicht direkt Gegenstand eines Selektionsprozesses sein können.
Die Evolution wählt keine Nase aus und pflanzt sie Reagan ins Gesicht, doch der
Baumeister wählt ein Element aus und setzt es ein. Gemäß der Standardsicht kann die
Echte Funktion unseres beweglichen Daumens, die darin besteht, den gezielten Griff nach
und das Festhalten von Objekten zu ermöglichen, wie folgt erklärt werden: Durch diese
Wirkung hatten Daumen zur Fitness unserer Vorfahren beigetragen, was dazu geführt
hatte, dass der zugrunde liegende Genotyp, dessen phänotypischer Ausdruck das
Vorhandensein von Daumen ist, im Genpool unserer Vorfahren proportional häufiger
repräsentiert war als Alternativen ohne dieses Merkmal. Dieses Merkmal findet sich bei uns
nach wie vor, und es hat seine Funktion weder verändert noch ist es verkümmert, d.h. es ist
durch die natürliche Selektion proximal selektiert worden. Verkürzt kann man sagen: Die
selektierte Wirkung des Daumens von Wesen meiner Art ist der gezielte Griff nach und das
Festhalten von Objekten, und deshalb ist dies die Funktion meiner Daumen. Aber ich habe
meine Daumen nicht, weil sie die natürliche Selektion dort hingesetzt hat, sondern weil ich
zu einer Art gehöre, die diesen Merkmaltyp hat. Auch Menschen ohne Daumen gehören zu
einer Art mit diesem Merkmaltyp. Auch verformte oder gebrochene Daumen haben die
angegebene Funktion. Die Typenzugehörigkeit, um die es geht, ist also nicht die
Zugehörigkeit zu einer biologischen Art oder Population, sondern die Zugehörigkeit
(meines Daumens) zu einem biologischen Merkmal (dem Daumen). Dieses Merkmal
besitzen Lebewesen (Menschen) zwar, insofern sie zu einer Art (der Mensch) gehören, aber
dabei handelt es sich nicht um den funktionalen Typ, nach dem wir hier suchen.
Lebewesen, Populationen, Arten haben keine Funktionen, sondern deren Teile und
Äußerungen. Teile und Äußerungen von Lebewesen sind natürlich keine Populationen.
566
567
Neander 1991a: 174.
Buddensiek 2006: 189f.
241
Aufgrund dieses Missverständnisses finden sich bei Buddensiek eine Reihe von
Fragen, auf die er keine Antwort gibt, weil er der Ansicht zu sein scheint, dass allein die
Fragen das Verständnis biologischer Funktionen als Echten Funktionen ad absurdum
führen:
„Es ist ferner eine etwas lockere Redeweise, von biologischen ‚proper functions’ zu
sagen, sie ‚gehörten’ primär zu Typen, nur sekundär zu Tokens. Was heißt hier
‚gehören’? Was heißt ‚primär gehören zu’ im Unterschied zu ‚sekundär gehören
zu’? Und inwiefern sollten Funktionen primär zu Typen, sekundär zu Tokens
gehören können?“568
Die Redeweise ist nicht locker. Nehmen wir wiederum den Daumen und seine Echte
Funktion F (der gezielte Griff nach und das Festhalten von Objekten). Daumen bilden eine
REF21, die wir als „D-REF21“ bezeichnen können. Daumen werden durch Mitglieder einer
REF1 (die für die Hervorbringung von Daumen verantwortlichen genetischen Merkmale
unseres Genotyps) hervorgebracht, die die Direkte Echte Funktion haben, Daumen
hervorzubringen. Daumen sind ja keine direkten, sondern indirekte Reproduktionen
voneinander. Der Typ wird also durch D-REF21 gebildet. Meine Daumen haben Vorfahren
als Mitglieder von D-REF21. Die Bildung des Typs ist also ein kontinuierlicher,
raumzeitlicher Prozess, wobei die Mitglieder des Typs durch die Reproduktion auf eine
spezifische kausale Weise miteinander verbunden sind. Die Mitglieder von D-REF21 sind
raumzeitlich und kausal miteinander verbunden. Weil meine Daumen Vorfahren in DREF21 haben, verfügen sie über eine Echte Funktion. Aus diesem Grund gehören sie zu
einer biologischen funktionalen normativen Kategorie. Allerdings scheinen die Fragen, die
Buddensiek aufwirft, keine besonderen Probleme mehr zu bereiten. Echte Funktionen
gehören primär zu Typen, weil sie Token nur als Mitgliedern einer REF, die den Typ bildet,
zukommen. Aus demselben Grunde gehören Echte Funktionen nur sekundär zu einem
Token. Die Echte Funktion gehört zum Typ, weil Vorfahren eines aktuellen Tokens
bestimmte Wirkungen ausübten, was dazu führte, dass aktuelle Token dieses Typs
existieren.
Buddensieks Fragen liegt folgende Annahme zugrunde: Nur Token können
Wirkungen und mithin Funktionen haben, Typen können keine Wirkungen haben, denn
Typen sind abstrakte Kategorien, abstrahiert aus den Wirkungen, die bestimmte Token
haben.569 Aber eine REF ist keine abstrakte Kategorie, sondern eine raumzeitlich
Buddensiek 2006: 189.
Buddensiek 2006: 189: „Es ist nicht die Funktion des Typs Herz, Blut zu pumpen. Es ist ein Merkmal
jedes Tokens des Typs (der Herzen), eine bestimmte Funktion (Blut zu pumpen) zu besitzen und auszuüben,
und dieses Merkmal bestimmt gegebenenfalls die Typenzugehörigkeit. […] Typen pumpen kein Blut, und sie
können auch nicht die Funktion haben, Blut zu pumpen.“
568
569
242
ausgedehnte, kausal verbundene Familie.570 Zu einem Typ zu gehören wird hier also auf
eine ähnliche Weise verstanden, wie zu einer Familie zu gehören. Natürlich kann man
darauf beharren, dass nicht die Habsburger auf dem Thron Österreichs saßen, sondern
bestimmte Familienmitglieder. Aber warum sollte man? Es trifft sicher zu und ist keine
metaphorische Redeweise, dass die Habsburger Hunderte von Jahren auf Österreichs
Thron saßen. Ebenso kann man darauf beharren, dass nur bestimmte Herzen Blut
pumpen. Aber diese Herzen sind Mitglieder einer Familie, die Blut pumpt. Ohne die
Existenz dieser Familie würde kein Herz Blut pumpen können. Es sei, so Buddensiek, ein
Merkmal jedes Herz-Tokens eine bestimmte Funktion zu besitzen und auszuüben. Doch
das ist falsch. Manche aktuellen Herzen pumpen kein Blut und üben die Funktion mithin
auch nicht aus. Doch wenn sie sie nicht ausüben, warum haben sie dann die Funktion Blut
zu pumpen? Nun, aufgrund der Zugehörigkeit zu einem Typ, der die Funktion hat, Blut zu
pumpen, und nicht umgekehrt: Aktuelle Herzen gehören nicht zum Herztyp, weil sie Blut
pumpen. Es ist die Zugehörigkeit zu einem Typ, der auch nicht funktionierenden Herzen
die Funktion zukommen lässt, Blut zu pumpen. Dieser Typ umfasst also defekte
Mitglieder. Und deshalb ist er eine normative Kategorie.
Wenden wir uns nun dem ersten Einwand zu, nämlich dem Problem der
Adaptiertheit eines Merkmals ohne Echte Funktion, auf das wir bereits am Anfang dieses
Abschnitts gestoßen sind. Bevor ein Merkmal selektiert worden ist, hat es keine Echte
Funktion, aber es hat natürlich bestimmte Wirkungen, die für seinen Besitzer nützlich sein
können. Ist es nun nicht seltsam, dass ein solches Merkmal per definitionem keine Funktion
haben soll? Ist es nicht seltsam, dass ein solches Merkmal nach ein paar Generationen
plötzlich eine Funktion erhalten soll? Nein, ist es nicht. Ein adaptives Merkmal kann eine
kausale Rolle spielen ohne eine Echte Funktion zu haben. Die Funktionen eines durch eine
Mutation entstandenen biologischen Merkmals bestehen einfach in seinen mehr oder
weniger zahlreichen kausalen Rollen, die es spielt, und im günstigen Fall leistet eine dieser
Rollen einen Beitrag zur Erhöhung der Fitness seines Trägers. Die Funktion kann in
beiden Fällen auf kausale Rollen reduziert werden. Für den günstigen Fall gilt: Würde das
neue Merkmal keine kausale Rolle spielen, so wäre es kein adaptives Merkmal. Eine
Adaptation hingegen hat eine Echte Funktion, ohne irgendeine kausale Rolle zu spielen
und ohne seine selektierte kausale Rolle zu spielen. Diese normative Dimension
unterscheidet die Echte Funktion der Adaptation von der die Fitness erhöhenden Wirkung
des adaptiven Merkmals. Sie kommt einem Merkmal-Token als Mitglieder eines Typs zu,
den wir für Echte Funktionen als eine REF bestimmt haben. Es ist deswegen nicht seltsam,
570
Vgl. den individualistischen Artbegriff, der in Abschnitt 3.2.3. eingeführt wird.
243
dass ein adaptives Merkmal erst nach ein paar Generationen plötzlich eine Echte Funktion
erhält, vielmehr erklärt dies erst, wie ein Merkmal-Token überhaupt eine Echte Funktion
haben kann. Es wäre eher seltsam, wenn ein Merkmal-Token eine Echte Funktion hätte,
ohne Vorfahren zu haben. Folglich ist es keineswegs seltsam, dass ein adaptives Merkmal
per definitionem keine Echte Funktion hat. Es hat eine Cummins-Funktion, insofern es einen
kausalen Beitrag zur Fitness seiner Träger leistet. Worin besteht die Verbindung zwischen
dem kausalen Beitrag eines adaptiven Merkmals und der Echten Funktion seiner
Nachfahren? Merkmale mit einer Echten Funktion üben diese erfolgreich aus gemäß einer
Normalen Erklärung. Eine Normale Erklärung erklärt, wie Mitglieder einer REF ihre
Direkte Echte Funktion historisch erfolgreich ausgeübt haben (1.1.4.). Die Art und Weise
wie ein neues adaptives Merkmal seine kausale Rolle gespielt hat, folgt derselben Erklärung.
Nur kann es sich um keine Normale Erklärung handeln, da zum Zeitpunkt der
erfolgreichen Ausführung noch nicht klar ist, ob das Merkmal gleichsam Gründer einer
Familie werden wird oder nicht. Familiengründungen können misslingen, und dann ist ein
vermeintlicher Gründer natürlich kein Gründer einer Familie.
3.2.4. Das Auge als Beispiel
Wir sollten nun die Darstellung und Verteidigung der Standardsicht auf die Diskussion um
die natürliche Normativität zurückführen. Inwiefern ist es sinnvoll, von einem Mitglied
einer biologischen funktionalen normativen Kategorie zu sagen, es sei „gut“ bzw. es sei
„schlecht“? Und inwiefern wird mit einem normativen Begriff benannt, was die Mitglieder
dieser normativen Kategorien tun sollen? Welche Arten von Tatsachen sorgen dafür, dass
Mitglieder einer biologischen funktionalen normativen Kategorie gute Mitglieder sind? Ich
möchte diese Fragen anhand eines Beispiels beantworten, nämlich anhand des Auges. Die
Antwort auf solche Fragen findet sich in Biologiebüchern, die von tierlichen Augen
handeln, etwa in Animal Eyes von Michael Land und Dan-Eric Nilsson.571 Die Biologie
liefert eben nicht nur Fakten, wie Dretske und Papineau meinen, sondern aufgrund ihres
Gegenstands, den biologischen Merkmalen, liefert sie auch natürliche Normen.
Das Tierreich kennt zahlreiche Formen, die wir als „Augen“ bezeichnen. Quallen
und Seesterne verfügen über Flachaugen, bei Plattwürmern und Muscheln finden sich
Grubenaugen, der Nautilus und Meeresschnecken haben Lochaugen, Insekten
Facettenaugen, Tintenfische und Mäuse verfügen über Linsenaugen, wobei sich die
Linsenaugen der Wirbeltiere und der Tintenfische unabhängig voneinander entwickelt
571
Land und Nilsson 2001, vgl. auch Land und Nilsson 2006.
244
haben dürften.572 Trotz der Vielheit kann man die Frage stellen, was diese unterschiedlichen
Sinnesorgane zu Augen macht. Diese Frage ist nicht müßig. Will man beispielsweise die
Evolution des Auges untersuchen, muss man wissen, die Evolution von was man
untersucht.
Was also ist ein Auge? In erster Annäherung kann man Augen als lichtempfindliche
Organe der räumlichen Wahrnehmung betrachten. Einige primitive Organismen bewegen
sich aufgrund von Lichtverhältnissen entweder zum Licht hin oder vom Licht fort. Nun
würde man die Organe für diese positive oder negative Fototaxis nicht als Augen
bezeichnen
wollen.
Wenn
wir
jedoch
sagen,
Augen
seien
multidirektionale,
lichtempfindliche Organe zur räumlichen Wahrnehmung, dann scheiden Fotorezeptoren
von Bakterien oder die Lichtsinneszellen von Würmern aus, die lediglich Hell-dunkelDifferenzierung ausmachen können. Hier nun die Definition von Land und Nilsson:
„We define an eye as an organ of spatial vision, in which different receptors view
slightly different directions in space. Such an eye may achieve this simply by
shadow (planarian eye) or by more sophisticated optical arrangements. This
definition would exclude structures, such as the photoreceptors of fly larvae, where
the shadowing is unidirectional. Spatial vision requires simultaneous comparison of
light levels in different directions.“573
Die Definition für das Auge, die sich im ersten Satz dieses Zitats findet, weist das Auge als
eine funktionale Kategorie aus. Augen haben die Funktion, ihren Trägern räumliche
Wahrnehmung zu ermöglichen, und sie tun dies, indem sie multidirektional
Lichtintensitäten absorbieren. Anders formuliert: „Eyes are devices for extracting useful
information from the light reflected or emitted from objects in the world around us.“574
Die Räumlichkeit dieser Wahrnehmung bedeutet also nicht, dass ein Lebewesen mit Augen
allein schon deshalb, weil es über Augen verfügt, einen (egozentrischen oder allozentrisch
strukturierten) Raum mit Objekten wahrnimmt, sondern lediglich, dass es Lichtintensitäten
von unterschiedlichen Raumstellen unterschiedlich stark absorbiert. Augen haben als PMechanismen lediglich die Funktion, Strukturen auszubilden, die die Extraktion nützlicher
Informationen erlauben. Deshalb gilt: „In terms of function there is only gradual difference
between the eyes of flatworms and humans.“575 Tieraugen bilden eine REF, deren
Mitgliedern die Echte Funktion zukommt, ihren Träger lichtbasierte multidirektionale
Das Linsenauge der Wirbeltiere bildet also für sich eine homologe Kategorie, zusammen mit dem Auge
der Tintenfische jedoch eine analoge Kategorie.
573 Land und Nilsson 2001: 14.
574 Land und Nilsson 2001: 16.
575 Land und Nilsson 2001: 4.
572
245
räumliche Wahrnehmung zu ermöglichen. Anders als für Darwin576 stellt es heute keine
besondere Schwierigkeit mehr dar, sich die Entstehung des Auges und der
unterschiedlichen Augentypen als einen Prozess der Evolution durch natürliche Selektion
vorzustellen. Augen „entstehen in der Evolution leicht, schnell und beim geringsten
Anlasse“.577 Der entscheidende externe Faktor kann dabei als „an ongoing selection
favouring better spatial resolution“ betrachtet werden.578
Wenn Augen nun eine normative Kategorie bilden, müssen wir zwischen guten und
schlechten, besseren und schlechteren Augen unterscheiden können, und die hierfür
relevanten normativen Begriffe müssen sich bereits in der Funktionsbestimmung finden
lassen. Ein Auge muss einerseits lichtempfindlich sein, und es muss andererseits die
Richtungen, aus denen Licht kommt, unterscheiden können. Jedes Auge muss also sowohl
zur Auflösung als auch zur Lichtempfindlichkeit fähig sein. Auflösung ist die Genauigkeit
der
Richtungsbestimmung
von
Licht,
Empfindlichkeit
ist
die
Fähigkeit
der
Lichtabsorption. Ein gutes Auge kann somit als ein Auge bestimmt werden, das unter
variierenden Lichtintensitäten über eine gute Auflösung verfügt:
„Eyes can be characterizied by their resolution and sensitivity. Resolution is the
fineness, in angular terms, with which the optical environment is sampled.
Sensitivity is quantifiable as the number of photons a receptor receives when the
eye is viewing a scene of standard luminance.“579
Die normativen Begriffe für die Kategorie des Auges sind Auflösung und Empfindlichkeit.
Je besser ein Auge unter variierenden Lichtintensitäten auflöst, desto besser ist es qua Auge.
Aus dieser Perspektive haben Adler bessere Augen als Schnecken, was jedoch nicht
bedeutet, dass Schnecken defekte oder abnormale Augen hätten. Augen, die nicht
lichtempfindlich sind, Augen die nicht auflösen, sind defekte Augen. Somit ist das Tierauge
eine biologische, funktionale normative Kategorie. Die Echte Funktion bestimmt, was
Augen sind, wie Augen sein sollen und was gute Augen sind.
576 Darwin 1968: 217 „To suppose that the eye with all its inimitable contrivances for adjusting the focus to
different distances, for admitting different amounts of light, and for the correction of spherical and chromatic
aberration, could have been formed by natural selection, seems, I freely confess, absurd in the highest degree.
When it was first said that the sun stood still and the world turned round, the common sense of mankind
declared the doctrine false; but the old saying of Vox populi, vox Dei, as every philosopher knows, cannot be
trusted in science. Reason tells me, that if numerous gradations from a simple and imperfect eye to one
complex and perfect can be shown to exist, each grade being useful to its possessor, as is certainly the case; if
further, the eye ever varies and the variations be inherited, as is likewise certainly the case; and if such
variations should be useful to any animal under changing conditions of life, then the difficulty of believing
that a perfect and complex eye could be formed by natural selection, though insuperable by our imagination,
can hardly be considered real.“
577 Dawkins 2001: 214.
578 Land und Nilsson 2001: 8 (meine Hervorhebung).
579 Land und Nilsson 2001: 55.
246
Natürlich können auch die Leistungen eines Adlerauges genauer spezifiziert
werden, entsprechend ändert sich auch der Rahmen dessen, was als ein gutes und was als
schlechtes oder defektes Adlerauge zu gelten hat. Die REF, die nun den normativen
Rahmen für die Beurteilung von Augen abgibt, ist nun die Familie der Habichtartigen
(Accipitridae) – zu der die meisten, aber nicht alle Greifvögel, die wie als „Adler“
bezeichnen, gehören – oder eine spezifische Art, wie etwa der Steinadler (Aquila
chrysaetos).580 Hierbei müssen wir nicht nur die Fähigkeiten eines Auges – nicht nur den PMechanismus – einbeziehen, sondern auch die Fähigkeiten der K-Mechanismen, die die
Extraktion nützlicher Informationen ermöglichen. Hier erst kann es darum gehen, zu
bestimmen, was (welche Objekte, Eigenschaften, Sachverhalte) Lebewesen sehen. Augen
stellen den Lebewesen lediglich R-Vehikel mit einem R-Inhalt zur Verfügung. Visuelle RVehikel korrespondieren mehr oder weniger gut mit der Verteilung von Lichtenergie in der
optischen Umgebung eines Lebewesens, und zwar je nach Auflösung und Empfindlichkeit.
Die Echte Funktion der visuellen Vehikel ist von der Echten Funktion der Augen – der PMechanismen – abgeleitet, die Gutheit eines visuellen Vehikels von der Gutheit von
Augen. Welche Art von Informationen aus den visuellen Vehikeln extrahiert wird, darüber
entscheidet der K-Mechanismus. Erst durch einen Konsumenten wird diesen Vehikeln ein
IR-Inhalt verliehen (1.1.4.). Land und Nilsson unterscheiden an anderer Stelle eine Reihe
von Funktionen von VS. Sie unterscheiden (a) Interaktionen mit unbelebten Objekten, (b)
Interaktionen mit belebten Objekten und (c) komplexe Aktionstypen höherer Wirbeltiere.
Zu (a) zählen die Beibehaltung der Fortbewegungsrichtung, die Umgehung von
Hindernissen,
Orientierung
mittels
Orientierungspunkten,
Entfernungen
oder
Himmelskörpern, das Wiederfinden von Wohn- und Futterplätzen etc. Unter (b) fallen
Finden und Verfolgen von Beute, Entdeckung und Vermeidung von Feinden, Entdeckung
und Verfolgung von Paarungspartnern, Erkennung von Gruppenmitgliedern etc. Bei (c)
schließlich finden sich eine ganze Reihe sehr unterschiedlicher tierlicher, aber vorwiegend
menschlicher Tätigkeiten, wie die Herstellung und Handhabung von Werkzeugen, das
Herstellen von Bildern oder der Genuss eines Films. Zwar sprechen Land und Nilsson hier
von einer „list of functions of eyes in animals“,581 doch nun ist mit „Funktion“ nicht mehr
die Funktion des Auges als P-Mechanismus gemeint, sondern die Funktion des visuellen
Systems für ein Lebewesen. Darin eingeschlossen finden sich nun natürlich die K-
Wie wir bereits im Zusammenhang mit der proximalen Selektion und den evolutionär signifikanten
Epochen gesagt haben ist die biologische Art der angemessene Rahmen der Beurteilung der Gutheit eines
Merkmals. Ich werde für diese Behauptung ausführlich in 3.3. argumentieren.
581 Land und Nilsson 2006: 173. Der Verweis auf die „standard luminance“ kann im Sinne einer Normalen
Bedingung aufgefasst werden.
580
247
Mechanismen.582 Das Adlerauge ist auch in dieser Hinsicht besser als das Auge einer
Schnecke, weil es seinem Träger mehr Information zur Verfügung stellen kann.
Wie finden wir nun heraus, was es ist, das bestimmte Lebewesen sehen? Wiederum
ist die biologische funktionale normative Kategorie des Auges hierbei nicht müßig, sondern
leistet Arbeit. Als Faustregel kann man sagen: „We might infer what an animal is adapted to
see by discovering what is sees best.“583 Das, was ein Lebewesen am besten sieht, ist
dasjenige, worauf es aufgrund der Echten Funktion seiner Augen auf eine bestimmte Art
und Weise reagiert. Da die Frage auf das VS als eine Adaptation zielt, ist der Rahmen für
diese Frage natürlich nicht ein individueller Organismus, sondern mindestens eine
biologische Art. Springspinnen (Salticidae) sind in der Forschung aufgrund ihrer guten
Augen und ihres ausgeklügelten visuellen Systems bekannt. Die Augen der Angehörigen
der Springspinnen-Familie sind zu einer hohen räumlichen Auflösung fähig.584 Weiterhin
zeigen diese Spinnen gegenüber Artgenossen ein besonderes, inter- und intrasexuelles
differenziertes Signalverhalten, das sich auf visuelle Reize stützt.585 Diese Spinnen weben
keine Netze, sie schleichen und springen ihre Beutetiere an. Dazu müssen sie Beutetiere
erkennen und von Artgenossen unterscheiden können. Beutetiere werden attackiert,
Artgenossen lösen das artspezifische Signalverhalten aus.586 Einige Springspinnenarten
weisen raffinierte Formen von Mimikry auf. So ist z.B. die Springspinne Myrmarachne
assimilis eine Ameisen-Mimin. Ihr Modell ist die aggressive Asiatische Weberameise.587 M.
assimilis profitiert davon, dass ihre Raubfeinde sie nicht von Weberameisen unterscheiden
können und aus diesem Grund hält sich M. assimilis unter diesen Ameisen auf. Doch gerade
weil Weberameisen aggressiv sind, muss M. assimilis zugleich vermeiden, selbst Opfer der
Ameisen zu werden; sie muss es vermeiden, Weberameisen zu attackieren oder von ihnen
attackiert zu werden. Da nun M. assimilis Beute fangen muss, unter Weberameisen lebt,
Attacken des Modells aber vermeiden muss, scheint sie Beutetiere, Artgenossen und
Modelle unterscheiden zu können.588 Tests ergeben, dass M. assimilis die drei
Obzwar Land und Nilsson im Allgemeinen konsistent zwischen dem Organ Auge und dem visuellen
System und den jeweiligen Funktionen unterscheiden, ist dies lediglich ein weiteres Beispiel dafür, dass der
Begriff der Funktion für die Biologie zwar grundlegend, aber ungeklärt ist.
583 Osorio et al. 2005: 99.
584 Vgl. Land 1969a, 1969b; Harland und Jackson 2004.
585 Vgl. Jackson und Pollard 1997.
586 Die Springspinne Salticus scenicus beispielsweise scheint Artgenossen und Beutetiere anhand der Beine der
Artgenossen zu unterscheiden, und zwar anhand von Reizen wie Dicke, Dichte und dem Vertikalwinkel 25°30° relativ zum Körper, vgl. Drees 1952.
587 Vgl. Nelson 2005; Nelson und Jackson 2007.
588 Die Art von Mimikry, die die Spinne vor potenziellen Fressfeinden, die Weberameisen meiden, schützt,
wird als „Batesian Mimikry“ bezeichnet. Bates-Mimikry ist eine Form der Mimikry, die als „täuschendes
Signal“ bezeichnet werden kann. Signale sind (nach der Theorie von Maynard-Smith und Harper 2003)
Strukturen oder Verhaltensweisen eines Senders, die die Funktion haben, das Verhalten eines Empfängers zu
beeinflussen. Bei täuschenden Signalen profitiert allein der Sender von der Verhaltensänderung des
582
248
Stimulusklassen Artgenosse, Beute, Modell unterscheiden kann. Dazu testet man diese
Spinne mit Artgenossen, Beutetieren, Modellen sowie Ameisen, die dem Mimen und dem
Modell optisch weniger ähnlich ist als der Mime dem Modell. Diese Tests erfolgen allein
aufgrund optischer Reize, unbeeinflusst von chemischen Reizen, die von den vier
Stimulusklassen eventuell ausgehen könnten. Der Schlüssel für den Test ist folgende Frage:
Exemplaren
welcher
Stimulusklasse
gegenüber
zeigt
M.
assimilis
das
typische
Signalverhalten S? M. assimilis reagiert auf Artgenossen stets mit S, auf Beutetiere hingegen
nie mit S. Sie reagiert auf beide Ameisenarten selten und kurz mit S. Offenbar kann M.
assimilis Modelle (Weberameisen) und Mimen (Artgenossen) unterscheiden, und zwar allein
aufgrund optischer Reize. Was also sieht M. assimilis? Sie sieht Artgenossen, Beutetiere und
Modelle.589 Der Mechanismus, der es dieser Spinne beispielsweise erlaubt, die Information
aus ihren visuellen Vehikeln zu extrahieren, dass es sich bei einem Objekt um ein Modell
handelt, legt den IR-Inhalts des Vehikels fest. Natürlich repräsentiert M. assimilis keine
Weberameisen, denn sie differenziert nicht zwischen diesen und anderen Ameisen. Sie
repräsentiert lediglich ihr Modell. M. assimilis wird mit Attrappen getestet, um chemische
Einflüsse auf ihr Diskriminierungsvermögen zu vermeiden. Reagiert jener K-Mechanismus
des visuellen Systems von M. assimilis, der Artgenossen identifiziert und das Signalverhalten
S auslöst, auf eine Artgenossenattrappe, so handelt es sich um eine Fehlrepräsentation.
Denn der K-Mechanismus benötigt für die Ausübung seiner Funktion das Vorliegen einer
Korrespondenz des visuellen Vehikels mit der Präsenz eines Artgenossen.590
Fassen wir zusammen! Biologische Funktionen sind Echte Funktionen. Ein x hat
die biologische Funktion F, insofern x existiert, weil Vorfahren von x selektioniert worden
Empfängers, bei zuverlässigen Signalen profitieren beide davon. Im Falle der Bates-Mimikry ist der
Empfänger des Signals (die signalisierende Struktur ist hier die Morphologie des Mimen) ein Raubfeind der
vom Modell (hier die Weberameise) ablässt, und deshalb (aufgrund der Mimikry) ebenso vom Mimen (hier M.
assimilis). Täuschende Signale gelten für die Biosemantik nicht als Repräsentationen, weil der Produzent und
der Konsument nicht kooperieren und keinem Prozess der Ko-Evolution unterworfen sind. Zuverlässige
Signale hingegen involvieren die Kooperation von Produzenten und Konsumenten. Es spielt dabei keine
besondere Rolle, dass diese Signale die Funktion haben, das Verhalten eines Empfängers zu beeinflussen oder
zu manipulieren. In gewisser Weise manipulieren auch Chamäleons oder Honigbienen das Verhalten ihrer
Artgenossen durch ihre Farbwechsel bzw. durch ihre Tänze. Entscheidend ist, dass bei zuverlässigen Signalen
beide Parteien profitieren. Dies gegen die Einwände von Sterelny 2001: 201ff. gegen Millikan.
589 Andere Springspinnen sehen anderes: Portia (eine spinnenfressende Springspinne) unterscheidet visuell
drei verschiedene Spinnenklassen, und zwar indem sie auf eine Klasse mit dem Signalverhalten für
Artgenossen reagiert und auf zwei Klassen von Beutespinnen mit zwei unterschiedlichen Jagdtechniken
reagiert. (Harland und Jackson 2004) P. fimbriata (eine springspinnenfressende Springspinne) hat eine
spezifische Jagdtechnik („cryptiv stalking“) für andere Springspinnenarten, attackiert aber keine Artgenossen.
(Jackson und Blest 1988). Sie identifiziert andere Springspinnenarten offenbar mittels der frontalen
Hauptaugen, nicht anhand der Beine. Allerdings meidet P. fimbriata myrmecomorphe Springspinnen ebenso
wie Ameisen und scheint diese nicht unterscheiden zu können.
590 Die Reaktion S, die einige Exemplare von M. assimilis aufgrund der Wahrnehmung von Ameisen kurz an
den Tag legen, muss hingegen nicht zwingend als Ausdruck einer Fehlrepräsentation interpretiert werden. Es
könnte sich auch um einen Bestandteil des Wahrnehmungsprozesses handeln. Die Spinne will gleichsam
sicher gehen, dass es sich nicht um einen Artgenossen handelt.
249
sind, weil sie F getan oder hervorgebracht haben. Biologische Funktionen bilden natürliche
normative Kategorien. Augen sind ein Beispiel einer biologischen funktionalen normativen
Kategorie. Augen sollen eine bestimmte Funktion erfüllen, und das macht sie zu guten
Augen, defekte Augen erfüllen diese Funktion nicht. Die Normativität kommt Augen qua
Augen als beobachterunabhängige, objektive, historische Eigenschaft zu. Augen
produzieren R-Vehikel, die die Besitzer der Augen auf eine bestimmte Art und Weise
verwenden können. Die Verwendung der visuellen Vehikel durch einen Konsumenten legt
den IR-Inhalt fest.
3.2.5. Kulturelle funktionale normative Kategorien
Funktionen finden sich nicht allein bei biologischen Merkmalen, sondern auch bei
Maschinen, sozialen Rollen, kulturellen Verhaltensweisen, Sprachformen, Institutionen
usw. Ich werde diese Dinge zusammenfassend als „Artefakte“ bezeichnen und deren
Funktionen als „kulturelle Funktionen“.
Häufig wird nun behauptet, kulturelle Funktionen könnten auf dieselbe Art und
Weise verstanden werden wie biologische Funktionen, ohne dass der Vorschlag jedoch
ausgearbeitet würde.591 Demgegenüber gehen zahlreiche Autoren davon aus, dass kulturelle
Funktionen auf Intentionalität von Subjekten angewiesen sind. Grob gesagt hat ein
Artefakt X nur dann die Funktion F, wenn X von einem Subjekt mit der Absicht
erschaffen oder verwendet wird, dass X F tut.592 Kulturelle Funktionen wären somit primär
von einem Subjekt intendierte Wirkungen. Nennen wir dies die „subjektiv-intentionale
Theorie“.
Doch
offenbar
läuft
die
593
unglaubwürdigen Subjektivismus hinaus.
subjektiv-intentionale
Theorie
auf
einen
Es kann nämlich nicht zutreffen, dass eine
subjektive Intention ausreicht, damit ein Artefakt eine Funktion hat. Hier sind vier
Vorbehalte gegen die subjektiv-intentionale Theorie:
1. Wer brennende Radios an Affenbrotbäume in der Savanne hängt mit der Absicht,
Elefanten zu fangen, hat damit noch keine Elefantenfalle gebaut. Ein Artefakt muss
offenbar zumindest prinzipiell in der Lage sein, die ihm zugedachte Funktion
auszuführen. Nicht jede verrückte Absicht, mit der ein Artefakt verwendet oder
hergestellt wird, verleiht ihm eine Funktion. Offenbar muss es sich um eine
Vgl. Bigelow und Pargetter 1987: 184ff.; Neander 1991b: 462.
Vgl. die Diskussion bei McLaughlin 2001: III.
593 Vgl. Mitchel 1995.
591
592
250
realisierbare Absicht handeln. Das Material und die Anordnung des Materials müssen
in der Lage sein, eine Funktion überhaupt zu erfüllen.
2. Zweitens wird die Funktion eines Artefakts auch nicht allein über eine realisierbare
subjektive Absicht bestimmt, die den dispositionalen Eigenschaften des Artefakts
gerecht wird. Wer seinen PKW vor einer Einfahrt abstellt, um den Nachbarn zu ärgern,
der platziert den PKW zeitweilig so, dass er eine bestimmte kausale Rolle spielen kann.
Aber weder verleiht er dem PKW seine Funktion als PKW noch ändert er damit die
Funktion des PKW. Die Funktion von Automobilen hat offensichtlich etwas mit den
Gründen für ihre Produktion, ihre Distribution und ihre Nutzung zu tun.
3. Drittens sind bei artifiziellen Funktionen keineswegs nur einzelne Subjekte beteiligt,
sondern häufig mehrere. Dies gilt umso mehr für Artefakte (wie Automobile) unter den
Bedingungen einer massiv ausdifferenzierten und arbeitsteiligen Gesellschaft wie
moderne westliche Gesellschaften es sind: Erfinder, Hersteller, Verteiler, Käufer,
Verbraucher, Instandhalter sind alle an der Funktionalität eines Artefakts beteiligt.
Hinzu kommt, dass die vorherrschende Verwendungsfunktion, die die Herstellung
eines Artefakts bestimmt, durch eine andere Funktionen überlagert werden kann.
Offenbar ist es die Funktion von Automobilen, uns und unsere Güter rasch über weite
Strecken zu transportieren. Aber möglicherweise haben Autos auch die Funktion, uns
zu Bewohnern einer „Dromokratie“ zu machen, unter deren Herrschaft allen Dingen
Wert nur im Rahmen einer bestimmten Zeitökonomie zukommt. Wir verwenden
Autos auch, um uns am Rausch der Geschwindigkeit zu erfreuen oder um mit
Statussymbolen zu beeindrucken.594
4. Viertens spricht die Tatsache, dass Artefakte ihre Funktion ändern können, gegen die
subjektiv-intentionale Theorie. Die Absicht eines Erfinders kann durch die Geschichte
des Gebrauchs eines Artefakts irrelevant werden. So sind beispielsweise Pfeifenreiniger
ursprünglich für die Reinigung von Tabakspfeifen hergestellt, verteilt, erworben und
benutzt worden, doch später wurden dieselben Objekte als Kinderspielzeug hergestellt,
verteilt, erworben und benutzt.595 Solche Funktionswechsel können nicht durch die
Absichten von Erfindern oder Herstellern erklärt werden.
Meine These lautet, dass die Funktion F eines Artefakts eine kollektiv und historisch
selektierte Wirkung ist. Wie wir in Abschnitt 3.2.6. noch sehen werden, muss die These
lauten, dass die Funktion eines Artefakts eine kollektiv und historisch selektierte Wirkung
594
595
Virilio 1989: 246ff.
Preston 1998: 241.
251
innerhalb einer kulturellen Welt ist. Ein Artefakt X hat also, genauer gesagt, eine Echte
Funktion F, wenn Token von X aktuell existieren, weil Vorfahren von X mit Erfolg einen
Beitrag innerhalb eines Bereichs der kulturellen Welt durch die Ausübung von F geleistet
haben, was (proximal) zur Herstellung und Nutzung von X durch kollektive Selektion
führte. Vorfahren des Artefakts sind öffentlich auf bestimmte Weise hergestellt und
benutzt worden und erhalten dadurch ihre Funktion. Es ist dieser historische Prozess, der
die Existenz und die Funktion des Artefakts erklärt. Sowohl die Absichten von Erfindern
und Herstellern als auch die Bedürfnisse und Wünsche von Nutzern sind lediglich
Faktoren in dem Prozess, der dazu führt, dass Artefakte Funktionen haben. Es wird sich
zeigen, dass die Prozesse der kulturellen Selektion mit der natürlichen Selektion
vergleichbar sind.
Betrachten wir die Funktion eines Artefakten als kollektiv selektierte Wirkung, die
erklärt, warum dieser Artefakt existiert und warum er auf eine bestimme Art und Weise
(einem Design gemäß) hergestellt wird, entfallen die genannten vier Schwierigkeiten.
Vorfahren von Artefakten sind öffentlich auf bestimmte Weise hergestellt und erfolgreich
verwendet worden und haben dadurch ihre Funktion erhalten. Es ist dieser historische
Prozess, der erklärt, warum bestimmte Artefakte wie Pkws nach einem Design hergestellt
werden. Erfindungen, die den intendierten Effekt nicht haben können, werden nicht
selektiert. Temporale Umwidmungen von Artefakten zu unterschiedlichen Zwecken stellen
kein Problem dar, denn wir können Artefakte zeitweilig für beliebige subjektive Zwecke
verwenden, ohne dass sie dadurch ihre selektierte Funktion verlieren. Artefakte werden
über viele Generationen hinweg ihrem Zweck entsprechend verwendet und verbessert. Die
Hersteller von Artefakten folgen dabei weniger ihren Absichten, als den Vorgaben der
Überlieferung, d.h. sie folgen dem Design für ein Artefakt. Wie Hume sagt:
„If we survey a ship, what an exalted idea must we form of the ingenuity of the
carpenter who framed so complicated, useful, and beautiful a machine? And what
surprise must we feel, when we find him a stupid mechanic, who imitated others,
and copied an art, which, through a long succession of ages, after multiplied trials,
mistakes, corrections, deliberations, and controversies, had been gradually
improving?”596
596 Hume 1993: 69. Der Dialogpartner Philo benutzt diese Fragen, um gegen die Hypothese eines
Schöpfergottes und eines einzigen Schöpfungsaktes für diese Welt wie folgt zu argumentieren: „Many worlds
might have been botched and bungled, throughout an eternity, ere this system was struck out; much labour
lost, many fruitless trials made; and a slow, but continued improvement carried on during infinite ages in the
art of world-making. In such subjects, who can determine, where the truth; nay, who can conjecture where
the probability lies, amidst a great number of hypotheses which may be proposed, and a still greater which
may be imagined?“ (Hume 1993: 69)
252
Und natürlich können Artefakte im Verlauf dieses Prozesses neue Funktionen annehmen,
ihre Funktion verändern oder ihre Funktion verlieren.597 Auch bei kulturellen Funktionen
handelt es sich um Echte Funktionen. Artefakte sind Mitglieder von REFs, die reproduktiv
etablierte Eigenschaften haben, aufgrund derer sie bestimmte Wirkungen ausüben sollten.
Aufgrund dieser Wirkungen wurden die Artefakte mit diesen Eigenschaften selektiert, sie
existieren und haben diese Eigenschaften, weil sie bestimmte Wirkungen ausgeübt haben.
Ich werde meine These anhand der Analyse zweier Beispiele darlegen. Das
Küchenmesser-Beispiel dient dazu, den Gedanken des Designs einzuführen, sodass wir uns
die Echte Funktion von Artefakten als etwas vorstellen können, das gemäß einem Design
ohne spezifischen Designer entsteht. Das Ärzte-Beispiel dient dazu, die historische und
normative Dimension kultureller Funktionen hervorzuheben.
Ein Küchenmesser hat die Funktion Lebensmittel zu zerschneiden. Dazu sind
Küchenmesser da, dafür hat man sie gekauft, deswegen unterhält man sie. (Natürlich kann
man sie für andere Zwecke brauchen, aber ebenso kann man einen Igel brauchen, um
einen Angreifer abzuwehren.) Gute Küchenmesser schneiden sauber, schnell und
regelmäßig, schlechte nicht. Ob das Messer aus Plastik, Stein, Stahl oder Porzellan besteht,
ob es lang oder kurz, breit oder schmal ist, spielt an sich keine große Rolle. Genauer gesagt
sind Material und Form des Küchenmessers in erster Linie im Hinblick auf seine Funktion
relevant. Was ein Küchenmesser ist, wird also durch seine Funktion festgelegt. Ein
Küchenmesser hat ein entscheidendes Merkmal: die Klinge. Eine Klinge hat bestimmte
Eigenschaften, wie Härte, Länge, Breite, Schliff. Mithilfe dieser Eigenschaften soll ein
Benutzer eine bestimmte Wirkung auf Lebensmittel ausüben können. Für diese Art
Wirkung werden Klingen hergestellt und unterhalten. Der Designer, der Hersteller, der
Käufer und der Instandhalter wählen bestimmte Eigenschaften aus, um Wirkungen zu
erzielen. Die Funktion des Küchenmessers besteht nun in der Wirkung von Eigenschaften
eines seiner Merkmale auf Lebensmittel, die von den genannten Instanzen ausgewählt
werden, um diese Wirkung zu erzielen. Die Funktion des Küchenmessers ist deshalb nichts
anderes als das Resultat eines kollektiven und historischen Prozesses der Auswahl
bestimmter Eigenschaften zur Erzielung einer Wirkung.
Artefakte wie Küchenmesser werden durch ihre Funktion definiert. Die
Unterscheidung zwischen guten und schlechten Küchenmessern wird gleichfalls anhand
dieser Funktion vorgenommen. Die Funktion ist die Norm, die eine Kategorie von
597 Natürlich handelt es sich hier um Phänomene, die vergleichbar sind mit Funktionswandel, Exaptationen
und Verkümmerung (vgl. 3.2.3.).
253
Artefakten definiert, und zugleich die Norm, die diese Kategorie in gute und in schlechte,
in intakte und in defekte Exemplare scheidet. Ein Küchenmesser kann von seiner Norm
abweichen: Es kann nicht schneiden oder es kann schlecht schneiden. Aber warum ist
etwas, das nicht schneidet, dennoch ein Küchenmesser? Wir sagten doch, Küchenmesser
würden durch ihre Funktion definiert. Damit etwas eine Funktion F haben kann, muss es F
nicht aktuell oder potenziell ausüben können, es muss ganz einfach zur Kategorie der
Dinge gehören, die die Funktion F haben. Aber warum gehört ein Artefakt zu einer
Kategorie, die die Funktion F hat? Bislang lautet unsere Antwort: Insofern es zu einer REF
gehört, deren Mitglieder einem Prozess der Selektion unterliegen. Analysieren wir nun aber
das Beispiel selbst genauer, bevor wir es unter diese bereits eingeführten Begriffe bringen.
Eine erste Antwort auf die Frage, warum ein Küchenmesser zu einer Kategorie mit
der Funktion F gehört, könnte lauten: Wer etwas mit dem richtigen Material, mit dem
richtigen Verfahren und in der richtigen Form als Küchenmesser herstellen möchte, der
stellt ein Küchenmesser her. Sein Produkt ist ein Küchenmesser. Diese Antwort weist in
die richtige Richtung. Aber die Erwähnung der Absicht eines Subjekts führt auf einen
Holzweg. Wer die Absicht hat, etwas herzustellen, das aus einem Material besteht, aus dem
Küchenmesser bestehen, sich des Verfahrens bedient, mit dem Küchenmesser hergestellt
werden, und die Form hat, die Küchenmesser haben, kann in dieser Absicht scheitern.
Stellt er (aus welchen Gründen auch immer) beispielsweise ein Ding mit einer Klinge her,
deren Schneide rund wie eine Ahle ist, so hat er kein Küchenmesser hergestellt. Er wollte
zwar ein Küchenmesser herstellen, aber es ist kein Küchenmesser geworden. Er kann
sagen: „Ich hatte zwar die Absicht ein Küchenmesser zu fabrizieren, aber es ist keines
geworden.“ Wir haben streng genommen kein misslungenes Küchenmesser, sondern die
misslungene Absicht, etwas herzustellen. Ein misslungenes Küchenmesser ist kein
schlechtes Küchenmesser, sondern etwas, dem es nicht gelungen ist, ein Küchenmesser zu
sein. (Ebenso wenig ist ein missratener Gugelhupf kein Gugelhupf.) Was fehlt? Natürlich
das Gelingen. Erst ein Küchenmesser, das als Küchenmesser gelungen ist, kann ein gutes
oder ein schlechtes Küchenmesser sein. Wer etwas mit dem richtigen Material, mit dem
richtigen Verfahren und in der richtigen Form für ein Küchenmesser mit Erfolg herstellt, der
stellt ein Küchenmesser her. Ob der Hersteller ein Küchenmesser fabrizieren möchte und
ob es jemals als Küchenmesser gebraucht wird, ist zweitrangig.
Was entscheidet über das Gelingen der Herstellung eines Küchenmessers (oder
eines Gugelhupfs)? Was gemäß einem Küchenmesser-Design (oder einem GugelhupfRezept) gelingt, ist ein Küchenmesser (oder Gugelhupf). Nun, was gemäß einem X-Design
(X-Rezept usw.) gelingt, ist ein X. Das X-Design ist das Maß, das bestimmt, ob etwas ein X
254
ist. Warum also ist etwas, das nicht schneidet, dennoch ein Küchenmesser? Weil es einem
Küchenmesser-Design entspricht. Die Entsprechung eines Dinges mit einem X-Design,
weist dieses Ding der Kategorie X zu. Diese Entsprechung muss nun so sein, dass ein Weg
vom Design zum Ding führt. Das Design muss Bestandteil der Hervorbringung des Dinges
sein. Ein wundersam aus einem kosmischen Blitz entstandenes Ding, das wie ein
Küchenmesser beschaffen und wie ein Küchenmesser verwendbar ist (ein SumpfKüchenmesser), ist deshalb noch kein Küchenmesser. Es ist etwas, das (auf wundersame
Weise) wie ein Küchenmesser beschaffen und als Küchenmesser verwendbar ist. Von einem
nach einem Design hergestellten Küchenmesser würden wir nicht sagen, dass es wie ein
Küchenmesser beschaffen und als solches verwendbar ist, sondern einfach, dass es ein
Küchenmesser ist.
Aber wir sagten: Was ein Küchenmesser ist, wird durch seine Funktion definiert.
Warum führen wir nun das Design ein? Was ist mit der Funktion passiert? Ist sie durch das
Design ersetzt worden? Nein, denn Design wird selbst durch Funktion bestimmt. Das
Design für ein Küchenmesser ist ein Design für ein Ding mit einer bestimmten Funktion.
Ebenso wie es gute oder schlechte Küchenmesser gibt, gibt es gute oder schlechte Designs
für Küchenmesser. Das X-Design bestimmt also nicht die Funktion von X, sondern
umgekehrt: Die Funktion bestimmt das Design. Und das Design legt fest, ob etwas
überhaupt zur Kategorie X gehört oder nicht. Wir sagten: Funktionen sind ausgewählte
Wirkungen oder Dispositionen. Ein X-Design hat nun die Funktion F* zur
Hervorbringung von Xen zu führen, die eine Funktion F haben. Diese Funktion F* wird
durch die Funktion F bestimmt, die Xe haben sollen. Das X-Design hat nicht die Funktion
F, sondern die Funktion F* zur Herstellung von Xen zu führen, die die Funktion F haben.
X-Designs werden ausgewählt, um Xe mit F hervorzubringen. Die Funktion F eines X ist
es, bestimmte Wirkungen hervorzubringen. Diese Wirkungen werden durch ein X-Design
bestimmt, indem dieses Design bestimmte Eigenschaften für das X vorgibt, die diese
Wirkungen hervorbringen sollen. Die Funktion F bestimmt also sowohl die Xe als auch die
X-Designs. Sowohl Xe als auch X-Designs können gut oder schlecht sein. Ein gutes X
erfüllt die Funktion F, ein gutes Design erfüllt die Funktion F* (Dinge mit F
hervorzubringen) gut.
Mein
Modell
für
die
Analyse
des
Messerbeispiels
ist
natürlich
die
Evolutionsbiologie. Genauer gesagt: Das verallgemeinerte Argumentationsschema für die
einfache Selektion aus Abschnitt 2.3. An die Stelle des Küchenmesser-Designs und der
Herstellung treten z.B. beim Herzen das genetische Programm und die ontogenetische
Entwicklung. Das genetische Programm hat die Funktion F* (im Laufe der
255
ontogenetischen Entwicklung) Organe hervorzubringen, die die Funktion F haben, Blut zu
pumpen. Was diese Organe sind, wird durch ihre Funktion F festgelegt. Entsprechend der
Funktion F können sie gute oder schlechte Exemplare sein. Entsprechend der Funktion F*
kann etwas ein genetisches Programm für Blutpumporgane sein, und dieses Programm ist
entweder gut oder schlecht. Die Merkmale des genetischen Programms und entsprechend
die Merkmale des Herzens, die die Blut pumpende Wirkung hervorbringen, sind das
Produkt einer natürlichen Selektion. Der Verlauf der Evolution selektiert gewisse
Merkmale im Gegensatz zu anderen. Insofern diese Merkmale bestimmte Wirkungen
haben, handelt es sich um selektionierte Wirkungen, also um Funktionen. Diese
Funktionen kommen der Kategorie der Herzen oder der genetischen Programme zu, und
derivativ davon dem Mitglied der Kategorie, dem Exemplar. Insofern kann eine Funktion
ein Maß liefern, von dem ein faktisches Exemplar abweichen kann. Wie so etwas in concreto
verläuft entnehmen wir, wie im Fall der Augen, biologischen Abhandlungen.
Die Analyse der Beispiele ist weit genug fortgeschritten. Wir können nun die bereits
eingeführten Begriffe zur Anwendung bringen. Wie kommt es zur Privilegierung
bestimmter Wirkungen? Die Antwort erhalten wir von der natürlichen Selektion und der
kulturellen Selektion. Zu den Faktoren der kulturellen Selektion gehören individuelle und
kollektive Intentionen sowie objektive Prozesse, die nicht direkt von den Intentionen von
Subjekten abhängen. Eine zweite wichtige Frage lautet: Wie kommen Funktionsträger dazu
zu einer Funktionskategorie zu gehören? Die Antwort lautet, dass Entitäten mit
Funktionen zu einer REF gehören. Küchenmesser werden durch Firmen reproduziert,
Dokumente durch Schreiber oder Kopiergeräte, Herzen durch Vererbung, Ärzte durch
Universitäten. Küchenmesser, Ärzte, Dokumente oder Herzen sind REFs, die defekte
Mitglieder enthalten können, und zwar Mitglieder, die ihre Funktion nicht ausüben können.
Es gibt defekte Messer, lausige Ärzte, kranke Herzen und missratene Kopien. Deshalb
handelt es sich bei diesen Familien um funktionale normative Kategorien.
Inwiefern eignet kulturellen Funktionen eine normative Dimension? Die
Hochstelltaste auf der Tastatur meines Laptops etwa hat die Funktion, die Funktionen der
anderen Tasten systematisch auf bestimmte Weise zu verändern, sodass beispielsweise
anstelle des „e“ ein „E“ auf dem Bildschirm erscheint. Erscheint jedoch statt des „E“ ein
„ “ oder explodiert der Laptop, dann besteht die angemessene Reaktion nicht darin, dass
ich mir sage, dass die Funktion der Hochstelltaste offenbar darin besteht, die Funktion der
E-Taste von einem „e“ auf ein „ “ umzustellen oder in einen Auslöser für eine Bombe zu
verwandeln, sondern darin, dass die Hochstelltaste offenbar nicht tut, wozu sie da ist. Das,
was x (meine Hochstelltaste) tatsächlich bewirkt, wenn ich sie betätige, ist nicht identisch
256
mit ihrer Funktion. Sie ist auch nicht identisch mit der Disposition von x (damit, was x
kann). Auch wenn ich die Hochstelltaste meines defekten oder manipulierten Laptops nicht
betätige, hat sie doch die Disposition unter bestimmten Bedingungen die genannten
unerwünschten Wirkungen („ “ oder Bumm!) hervorzubringen. Doch diese Disposition
beschreibt natürlich nicht ihre Funktion.
Um die bisherige Darlegung der kulturellen Funktionen zu vertiefen und um insbesondere
den historischen Aspekt der Prozesse hervorzuheben, die zur Ausbildung von Artefakten
führen, werde ich ein weiteres Beispiel analysieren, nämlich dasjenige des Arztes. Die
antiken Philosophen wurden nicht müde zu wiederholen, dass der Zweck der Heilkunst die
Gesundheit sei. Obwohl selbst vertrauenswürdige Ärzte bisweilen Mittel verschreiben, die
nicht unmittelbar der Gesundheit dienen (sondern z.B. der Kontrazeption oder der
Kosmetik), ist diese Bestimmung der Heilkunst sicher keine schlechte. Das Gut, das der
Medizin ihre Aufgabe gibt und ihr Wesen bestimmt, ist die Gesundheit.598 Nehmen wir
weiter an, die Heilkunst solle tatsächlich positiv tätig sein, und nicht nur für die
Abwesenheit von Krankheit und Gebrechen sorgen. Natürlich gibt es auch die Auffassung,
das Ziel des Arztes, die Aufgabe der Medizin sei, die Untersuchung der Ursachen und der
Behandlung von Krankheiten. Es ist nun freilich ein Unterschied, ob man die Aufgabe des
Arztes in der Herstellung der Gesundheit in einem umfassenden Sinne betrachtet oder in
der Behandlung von Krankheit. Es dürfte jedoch klar sein, dass das Ziel der Heilkunst
nicht in einer Behandlung von Krankheiten bestehen kann, die diese verstärkt oder
verlängert, sondern sie heilt oder zumindest ihre Auswirkungen eindämmt oder lindert.
Insofern ist das Ziel die Gesundheit, nicht die Krankheit. Ein guter Arzt zielt auf die
Gesundheit und erreicht sie (häufig genug), ein schlechter Arzt zielt auf die Gesundheit,
erreicht sie aber (häufig genug) nicht. Natürlich muss selbst der gute Arzt bisweilen für
Zustände des körperlichen Unwohlseins sorgen, doch nur um sein Ziel zu erreichen, nur
als Mittel. Ist die Erreichung von körperlichem Unwohlsein aber das Ziel des Arztes, ist er
kein Arzt, sondern ein Verbrecher oder Folterknecht. Der schlechte Arzt vermag den
Zustand des körperlichen Wohlergehens nicht zu erzeugen, der noch schlechtere Arzt
erzeugt im Gegenteil Zustände körperlichen Unwohlseins. Der Begriff der Gesundheit
scheidet also den guten vom schlechten Arzt. Ärzte bilden also eine kulturelle funktionale
Allerdings dürfte die bekannte Definition von Gesundheit der WHO die Heilkunst etwas überfordern,
denn sie fordert sowohl vollständiges als auch umfassendes Wohlergehen. Diese Definition lautet: „Die
Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht
nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen.“ (Verfassung der Weltgesundheitsorganisation vom 22. Juli
1946, Präambel, Abs. 2) Beschränken wir uns deshalb auf das körperliche Wohlergehen, und fordern wir von
der Heilkunst als Ziel die Erreichung eines Zustands des körperlichen Wohls.
598
257
normative Kategorie. Das Curriculum gibt das Design zur Herstellung von Ärzten ab, die
medizinische Fakultät ist der Reproduktionsmechanismus für Ärzte. Weil Ärzte aufgrund
bestimmter geregelter Verfahren (dem Curriculum) ausgebildet werden, denen die
Funktion zukommt, die Ausbildung von Ärzten zu gewährleisten, bilden Ärzte eine
REF2.599
Ein als Mediziner ausgebildeter Mann wie Josef Mengele, der seine Tätigkeit als
Verbrecher und Folterer ausübt, bleibt auch dann Arzt, wenn der Zweck seiner
Berufsausübung nicht die Gesundheit ist, sondern ganz im Gegenteil Qual, Krankheit und
Tod. Mengele ist Arzt, weil er gemäß einem universitären Curriculum zum Arzt ausgebildet
worden ist. Nun kann man Ärzten ihre Befähigung absprechen, wenn sie ausdrücklich das
Ziel der Heilkunst anhaltend schwerwiegend verletzen. Selbst die scheinbar deskriptive
Klasse „Arzt“, in die all jene fallen, die zum Mediziner ausgebildet worden sind, ist
Normen unterworfen. „Arzt“ bleibt also eine normative Kategorie. Man kann Ärzten ihre
Befähigung absprechen, wenn sie ausdrücklich das Ziel der Heilkunst nicht verfolgen oder
es schwerwiegend verletzen. Mengele wurde in den 1960er Jahren von den Universitäten
Frankfurt und München depromoviert.600 Die normative Kategorie „Arzt“ und der
normative Begriff „Gesundheit“ reichen aus, um jemanden wie Mengele nicht nur auf die
ganz und gar defekte Seite der Ärzte zu verfrachten, sondern ganz aus der normativen
Kategorie auszugliedern. Er ist kein Arzt mehr.601
In Abschnitt 3.2.4. habe ich mithilfe einer Monografie aus dem Bereich der Biologie
dargelegt, was ein Auge ist, und was ein gutes Auge ist. Evolutionäre Thesen über die
Entwicklung von Augen erklären, wie sich das Auge in einem historischen Prozess
entwickelt und funktionell ausdifferenziert hat. Ich habe auf die Antike und auf die jüngere
Geschichte zurückgegriffen um zu erläutern, was ein Arzt ist und was einen Arzt zu einem
guten bzw. schlechten Exemplar der normativen Kategorie macht, zu der er gehört. Nun
sind aber das Design für Ärzte und der Reproduktionsmechanismus für Ärzte ebenfalls
einem historischen Prozess unterworfen. Über die Design- und Reproduktionsgeschichte,
599 In einer Gesellschaft, in der sich Ärzte durch die direkte Weitergabe ihrer Fähigkeit reproduzieren, bilden
Ärzte eine REF1.
600 Vgl. Harrecker 2007: 226-241.
601 Natürlich würde man spontaner moralische Gründe gegen Mengeles Verteidigung vorbringen wollen, etwa
dass es moralisch vollkommen verwerflich sei, Menschen zu quälen, sie als Mittel zu benutzen, oder rassisch
zu diskriminieren. Stellen wir uns nun vor, Mengele würde sich verteidigen und sagen, sein Ziel sei tatsächlich
die Gesundheit gewesen, aber die Gesundheit einer Rasse, und zu diesem Ziel sei es nötig, Mitgliedern
anderer Rassen Leid zuzufügen. Das ist in vielerlei Hinsicht pervers, mir geht es um eine Hinsicht: Das Ziel
der Humanmedizin besteht primär in der Erreichung eines Zustands des körperlichen Wohlergehens von
einzelnen Menschen, und nur sekundär einer Menschengruppe. Natürlich kann sich ein Arzt die Verbesserung
der Gesundheit von Grubenarbeitern zur Lebensaufgabe machen. Aber dies ist ein sekundäres
gesundheitspolitisches Ziel, das er als Arzt über die Verbesserung der Gesundheit von einzelnen
Grubenarbeitern verfolgt.
258
über deren Entstehung, über Funktionserwerb und Funktionswandel von Artefakten geben
nicht Werke der Biologie, sondern beispielsweise Werke der Geschichtsschreibung
Auskunft. Das ist wenig verwunderlich, denn evolutionsbiologische Erklärungen gleichen
eher historischen als nomologischen Erklärungen.
Laurence Brockliss und Colin Jones untersuchen die Entwicklung der Ärzteschaft,
der medizinischen Ausbildung und der Hospitäler in Frankreich von der frühen Neuzeit bis
zum Vorabend der Französischen Revolution. Diese Entwicklung wird durch externe
Faktoren (wie das Verschwinden der großen Pestepidemien oder die Verbreitung neuer
Geschlechtskrankheiten), durch soziale und ökonomische Faktoren und durch interne
Faktoren (medizinische Entdeckungen und Techniken) bestimmt. Brockliss und Jones
analysieren die Herausbildung eines medizinischen Kerns (core) von Ärzten, Chirurgen und
Apothekern, der durch zentralisierte und regulierte medizinische Institutionen ausgebildet
und durch eine medizinische Körperschaft (medical corporative community) kontrolliert wird. So
dehnte beispielsweise die Pariser Medizinische Fakultät zusehends die Kontrolle über die
Ausbildung, Prüfung und Akkreditierung über Ärzte, Chirurgen und Pharmazeuten gegen
den Widerstand der letzten beiden Gruppierungen mithilfe des Pariser Parlaments aus.
Davon mehr und mehr geschieden, existiert eine unbestimmte und heterogene
medizinische Penumbra (penumbra), die aus einer „plethora of different types of popular
medical practitioniers, male and female, rich and poor, educated and uneducated and so
on“ bestehe.602 So stellte der Hof, im Gegenzug zu der eben erwähnten Entwicklung in
Paris, seine medizinische Versorgung durch Rückgriff auf die Penumbra (auf Barmherzige
Brüder und Schwestern, Hebammen, Empiriker usw.) sicher und verspottete die Produkte
der Medizinischen Fakultät, was sich z.B. in Molières medizinischen Komödien zeigt. Im
Übergang zum 18. Jahrhundert erweiterte der Kern seinen Aufgabenbereich, indem er z.B.
die Behandlung von Katarakten, von Frauen- und Kinderkrankheiten, die Geburt und die
Hygienevorsorge übernahm. Damit stieß der Kern in Zuständigkeitsbereiche vor, die
ehedem
der
Penumbra
vorbehalten
waren.
Aufgrund
der
Ausweitung
des
Zuständigkeitsbereichs und aufgrund der Vereinheitlichung der institutionellen Kontrolle
über Ausbildung, Prüfung und Akkreditierung wächst der Kern (die Zahl der Ärzte,
Chirurgen und Apotheker) zu Ungunsten der Penumbra. Innerhalb des nunmehr
universitär und curricular organisierten Kerns tritt ein Prozess der Ausdifferenzierung in
Gang.603 Kern und Penumbra bilden in der Neuzeit die medizinische Welt, innerhalb derer
zunächst schlechte von guten Medizinern unterschieden werden, dann wirkliche und
602 Brockliss und Jones 1997: 14. Der Gegensatz von Kern und Penumbra korrespondiert in gewisser Weise
mit dem heutigen Gegensatz zwischen „Schulmedizin“ und „Alternativmedizin“.
603 Brockliss und Jones 1997; vgl. auch Brockliss 2004.
259
angemaßte, schließlich innerhalb der wirklichen Mediziner wiederum gute und schlechte.
Brockliss und Jones beziehen sich in keiner Weise auf evolutionäre Modelle, und doch
stellt ihre Rekonstruktion der Entwicklung der Ausdifferenzierung der medizinischen Welt
ein Fallbeispiel dar für die oben skizzierte Theorie einer sozialen Rolle (Arzt) als
funktionaler normativer Kategorie, die durch Prozesse der Selektion, der Reproduktion
und der Akkumulation innerhalb einer bestimmten kulturellen Umwelt ausgebildet wird.
Diese Prozesse involvieren intentionale Zustände der beteiligten Akteure, doch sind die
Prozesse und ihr Resultat, die Ausbildung einer normativen Kategorie, nicht auf die
intentionalen Zustände dieser Akteure reduzierbar.604
Meine These lautete, dass die Funktionen von Artefakten historische und kollektiv
selektierte Wirkungen sind. Vorfahren von Artefakten sind kollektiv auf bestimmte Weise
hergestellt und verwendet worden und erhielten dadurch ihre Funktion. Es ist dieser
historische Prozess, der die Existenz und die Funktion von bestimmten aktuellen
Artefakten erklärt. Ich habe versucht diese These zu stützen, indem ich alternative
Auffassungen kritisiert habe, und indem ich zwei unterschiedliche Beispiele für Artefakte
analysiert habe, und zwar als Paradigmen, die es uns erlauben sollen, kulturelle Funktionen
im gleichen Sinne als Echte Funktionen zu verstehen, wie biologische Funktionen. Das
entspricht dem Vorgehen der Theoriekonstruktion der Biosemantik. Führen wir uns die
Struktur nochmals vor Augen, die diesem Stück Theoriekonstruktion zugrunde liegt. Ein
Herz hat die Funktion Blut zu pumpen. Das kann es gut oder schlecht machen. Jemand hat
ein gutes, starkes Herz oder ein schlechtes, schwaches Herz oder gar einen Herzfehler. Die
Eigenschaften des Herzens, die dazu führen, dass es seine Sache gut macht, sind normative
Eigenschaften des Herzens, d.h. Eigenschaften, die eine bestimmte Wirkung haben sollen.
Ein Küchenmesser hat die Funktion Lebensmittel zu zerschneiden. Mit Küchenmessern
muss man Nahrungsmittel zerschneiden können, dazu sind sie da, dafür hat man sie
gekauft, dafür unterhält man sie usw.. Ein gutes Küchenmesser schneidet gut, sauber,
schnell und regelmäßig. Die Eigenschaften eines Küchenmessers, die dazu führen, dass es
seine Sache gut macht, sind normative Eigenschaften des Küchenmessers, d.h.
Das Resultat der Studie (die Etablierung und Ausdifferenzierung des Kerns zu Ungunsten der Penumbra)
entspricht im Übrigen keineswegs der Intention der Verfasser, die sich um den Nachweis bemühen, dass die
Grenzen zwischen Kern und Penumbra nicht nur in der frühen Neuzeit durchaus fließend und permeabel
sind, sondern es auch im Verlaufe des 18. Jhs. bleiben. Die Autoren möchten sich damit gegen zwei Thesen
stellen, nämlich gegen die These einer kontinuierlichen und kumulativen Entwicklung und Etablierung einer
rationalen Medizin gegenüber purer Scharlatanerie und gegen die These eines diskontinuierlichen historischepistemischen „Bruchs“ infolge der Reorganisation des Klinikwesens im Gefolge der Französischen
Revolution (vgl. Foucault 1973). Unter der Hand entgleitet den beiden Historikern jedoch das Beweisziel. Die
Phänomene und ihre Beschreibungen verweisen im Gegenteil auf die Etablierung eines Kerns als normativer
Kategorie und die Abwertung der Penumbra (vgl. Rattner Gelbart 2000).
604
260
Eigenschaften, die eine bestimmte Wirkung haben sollen. Die Funktion eines Arztes ist es,
die Gesundheit wieder herzustellen. Ein guter Arzt tut dies, ein schlechter heilt seine
Patienten nicht, verschlechtert ihren Gesundheitszustand oder bringt sie um. Die
Tugenden eines Arztes sind jene Eigenschaften, die dazu führen, dass er seine Sache gut
macht. Es sind normative Eigenschaften von Ärzten d.h. Eigenschaften, die eine
bestimmte Wirkung haben sollen. Herzen entwickeln sich gemäß einem Genom. In großen
Teilen der modernen Welt werden Küchenmesser aufgrund eines Designs hergestellt und
Ärzte werden nach einem universitären Curriculum ausgebildet. Auf diese Weise bilden
Messer und Ärzte REFs. Echte Funktionen kommen der Kategorie des Messers oder des
Arztes zu, derivativ einem Mitglied der Kategorie. Insofern kann eine Funktion ein Maß
liefern, von dem ein faktisches Exemplar abweichen kann. Deshalb bilden Ärzte oder
Messer funktionale normative Kategorien.
Natürlich gibt es Unterschiede zwischen biologischen und kulturellen Funktionen.
Der wichtigste Unterschied zwischen biologischen und kulturellen funktionalen
normativen Kategorien besteht nun im Folgenden: Biologische Merkmale haben Echte
Funktionen nur als Teile oder Äußerungen von Lebewesen, Lebewesen selbst hingegen
haben als solche keine Echten Funktionen. Artefakten hingegen kommen als ganzen Echte
Funktionen zu. Die Teile von Artefakten haben eine Funktion im Hinblick auf die
übergeordnete Funktion des Artefakts. Dieser Gedanke findet sich auch in der Rolle des
Designs wieder: Die Herstellung von Artefakten wird durch ein Design vermittelt. Das
Design hat die Funktion, zur Herstellung von Artefakten beizutragen, und die Funktion
des Designs wird durch die Funktion jener Artefakte bestimmt, die es hervorzubringen die
Funktion hat. Im folgenden Abschnitt möchte ich ausführen, was es heißt, dass funktionale
normative Kategorien kulturell sind. Sie sind es, insofern sie zu einer kulturellen Welt
gehören. Die am Anfang dieses Abschnitts formulierte These muss also erweitert werden
und lauten, dass die Funktion F eines Artefakts X eine kollektiv und historisch selektierte
Wirkung innerhalb einer kulturellen Welt ist. Die Ausbildung einer kulturellen Welt ist, wie
ich zeigen möchte, selbst ein biologisches Merkmal unserer Art. Deshalb ist diese
Erweiterung der These nicht trivial oder zirkulär.
3.2.6. Kulturelle Welt und Kreativität
Sicher drängt sich an dieser Stelle die Frage auf, ob nicht auch Artefakten nur deshalb eine
kulturelle Funktion zukommt, weil sie Bestandteil einer von intentionalen Subjekten
geschaffenen kulturellen Welt sind und weil ihr Design letztlich Ausdruck der Absichten
261
von intentionalen Subjekten ist. So wäre die Normativität der kulturellen Funktionen
letztlich von der Intentionalität der Subjekte abhängig. Aus der Perspektive der
Biosemantik hat dies auch seine Ordnung. Allerdings müssen wir sowohl die kulturelle
Welt, in der wir Artefakte vorfinden, als auch die individuelle Intention, die Artefakte
hervorbringen hilft, als biologische Phänomene verstehen. Die Normativität, die den
Funktionen von Artefakten zukommt, kommt ihnen zwar als kulturelle zu, hängt aber
letztlich von biologischen Faktoren ab. Ich möchte zuerst einen Vorschlag machen,
inwiefern die kulturelle Welt als biologisches Phänomen betrachtet werden kann, und dann
zeigen, inwiefern es sich bei den Funktionen von vollkommen neu erschaffenen Artefakten
nicht um kulturelle, sondern um biologische Funktionen handelt. Der Begriff der
kulturellen Welt wird auch die im vorherigen Abschnitt vorgestellte Analyse der kulturellen
Funktionen von Artefakten abschließen.
Ich möchte den Begriff der kulturellen Welt, innerhalb derer Artefakten eine Echte
Funktion zukommt, anhand von Martin Heideggers These einführen, dass der Mensch im
Unterschied zum Tier „weltbildend“ sei. Es gehört zur Natur des Menschen, dass er
weltbildend ist. Menschen wachsen in die von ihnen gebildete Welt hinein, und erwerben
so eine zweite Natur. Auch der Erwerb einer zweiten Natur gehört zur Natur des
Menschen
(2.4.).
Allerdings
werde
ich
Heideggers
Welt
nicht
in
einem
transzendentalphilosophischen oder idealistischen Sinne deuten, sondern eher in einem
naturalistischen und pragmatistischen Sinne als ökologische Nische des Menschen.605
In Grundbegriffe der Metaphysik diskutiert Heidegger die folgende These: „Der Stein
ist weltlos, das Tier ist weltarm, der Mensch ist weltbildend.“606 Es ist dem Stein egal, ob er
auf der Erde, im Wasser oder in der Sonne liegt. Zwar wird er je nachdem kalt, nass oder
warm, doch das macht für den Stein keinen Unterschied. Anders die Eidechse, für die es
sehr wohl einen Unterschied macht, ob sie auf einer warmen oder auf einer kalten
Felsplatte liegt. Doch die Eidechse erfasst sie nicht als etwas, das man benutzen kann, um
darauf zu liegen, um sich aufzuwärmen, um einen besseren Überblick zu haben, um daraus
Faustkeile zu schlagen, um seine Mineralstruktur zu erforschen usw. Erst dem Menschen
sei der Stein als Stein oder die Platte als Platte und als Teil einer Welt gegeben. Anders als
der Stein ist das Tier zwar offen für eine Welt, aber nur dem Menschen ist die Welt offen.
Das Tier ist offen für seine Welt, nämlich seine arteigene ökologische Nische. Darin kann
Die folgende Darstellung stellt eine Zusammenfassung des in Wild 2008b: V ausgearbeiteten Ansatzes dar.
Der Unterschied zwischen idealistischen und pragmatistischen Interpretationen findet sich beispielsweise
auch in den Deutungen der Sprachphilosophie des frühen Heideggers. Eine kritische Diskussion dieser
beiden Ansätze findet sich bei Liptow 2009.
606 Heidegger 1983: 261.
605
262
es auf Geschlechtspartner, Gefahren und Gelegenheiten reagieren. Dem Menschen aber, so
will ich Heideggers Welt deuten, ist als ökologische Nische eine ganze Welt offen.
Heidegger unterscheidet verschiedene Bedeutungen von „Welt“. Es gibt erstens die
Welt als die Summe dessen, was es gibt, und darin Unterscheidungen in Regionen (die Welt
der Primzahlen, der Musik, der Azteken, des Atomphysikers usw.). Zweitens gibt es die
Welt als unsere alltägliche Umwelt. Schließlich die Welt als Inbegriff eines Ganzen.607 In der
Welt im ersten Sinne sind die Dinge. Heidegger spricht hier von „Innerweltlichkeit“. Für
das Dasein und sein In-der-Welt-Sein nun ist die zweite Bedeutung entscheidend. Der Satz
„Der Mensch ist weltbildend“ meint zunächst einfach, dass er in einer von ihm gebauten
Welt wohnt und wirkt. Dies zeigt sich in den alltäglichen Verrichtungen mit Dingen. Die
Dinge, so Heidegger, sind uns zuerst „zuhanden“, sie sind „Zeug“. Wir hantieren mit Zeug,
wir haben es zur Hand. Es gibt vielerlei Arten von Zeug, wie Werkzeug, Schuhzeug,
Schreibzeug, Flugzeug, Schleckzeug, Flickzeug, Fahrzeug, Schlagzeug, Häkelzeug,
Esswaren, Hausrat, Operationsbesteck, Schminkutensilien usw. Es sind Dinge, die
kulturelle Funktionen haben, die da sind, um etwas zu bewirken. Zeug ist strukturiert, d.h.
jedes Zeug verweist auf anderes. Diesen strukturierten Zusammenhang nennt Heidegger
„Zeugzusammenhang“. Zuhandenheit und Zusammenhang zeichnen Zeug aus, mit dem
wir praktisch umzugehen lernen und umgehen. Unsere Welt besteht aus praktischen
Zeugzusammenhängen. Heidegger meint, dass wir uns zunächst von diesen Praktiken her
verstehen. Wir verstehen uns, indem wir uns in einer Welt bewegen, die aus diesen
Bezügen besteht. Wir verstehen uns in dieser Welt, sobald wir etwas können, sobald wir
uns auf etwas verstehen. Darum ist das Verstehen ein Grundvollzug. Das Verstehen der
Welt ist zunächst vorsprachlich. Die Sprache ist nur – wenn auch ein ungeheuer
wichtiges – weiteres Zeug, mit dem wir praktisch umzugehen lernen.
Das Verstehen und das Lernen des Umgangs mit Zeug ist nicht etwas, das zu uns
gleichsam von außen hinzutritt, sondern das Verstehen und das Lernen dieses Umgangs
entspricht dem Erwerb einer zweiten Natur. Was Heidegger „In-der-Welt-Sein“ nennt, ist
diese zweite Natur. Wir erwerben eine zweite Natur im Umgang mit Zeug, d.h. durch das
Hineinwachsen in eine kulturelle Welt. Der Mensch kommt nicht nur nicht wie ein Ding
unter Dingen in der Welt vor, sondern er versteht sich vom Zeug und der durch
Zeugzusammenhänge gebildeten Welt her, indem er mit dem Zeug praktisch umgeht. Wir
verstehen uns also nicht als etwas, das der Welt gegenüber steht, sondern das mitten in der
Welt ist.
607
Zu Heideggers Begriff der Welt vgl. Heidegger 1975 und 1993: 63-88.
263
Die Welt und unsere sich in ihr entfaltende zweite Natur ist jedoch nicht identisch
mit der Natur oder mit der natürlichen Welt.608 Und wie steht es mit den Tieren? Sie haben,
so Heideggers These, keine Welt, sie sind weltarm. Das Tier ist lediglich für seine Umwelt,
für seine ökologische Nische offen. Es gehört zum Bereich der Natur, zur natürlichen
Welt. Dann muss es bereits im Bereich der Natur so etwas wie eine Welt geben, für die das
Tier offen ist, eine Art Vorstufe für das In-der-Welt-sein des Menschen. Warum sollten wir
die kulturelle Welt der praktischen Zeugzusammenhänge nicht auch als Bestandteil der
natürlichen Welt auffassen, und damit die zweite Natur des Menschen im Bereich der
Natur lokalisieren? Wie bei McDowell bleibt die Frage offen, wie sich unsere kulturelle
Welt und unsere zweite Natur zur natürlichen Welt und zu unserer ersten Natur verhalten
(2.4.).
Tiere können Verhaltensänderungen an nachfolgende Generationen weitergeben.
Dies bedeutet, dass sich bei Tieren nicht nur ein genetisches System der Vererbung findet,
sondern auch ein nicht-genetisches Vererbungssystem für Verhaltensmuster. Ein
entscheidender Vererbungsmechanismus ist das sozial vermittelte Lernen. Der Prozess des
sozialen Lernens und der Weitergabe von Verhaltensweisen ist also nicht notwendig an
symbolische oder sprachliche Kommunikation gebunden.609 Doch Verhaltensweisen sind
noch keine Artefakte und kein Zeug. Wir haben allerdings bereits gesehen, dass
Verhaltensweisen nur eine Gruppe jener biologischen Merkmale sind, die ich als
„Äußerungen“ bezeichnet habe, die andere Gruppe sind Produkte. Nun kann man
reichhaltigere, materielle Kulturen bei Menschenaffen finden.610 Werkzeuge werden in
mindestens zwei Populationen derselben Art auf verschiedene Weise hergestellt, verwendet
Heidegger betont: „Zur entdeckten Natur, d.h. zum Seienden, sofern wir uns zu ihm als enthülltem
verhalten, gehört es, dass es je schon in einer Welt ist, aber zum Sein der Natur gehört nicht Innerweltlichkeit.
[…] Es gibt noch ein Seiendes, zu dessen Sein in gewisser Weise Innerweltlichkeit gehört. Dieses Seiende ist
alles das, was wir das geschichtliche Seiende nennen, […] d.h. all der Dinge, die der Mensch, der im
eigentlichen Sinne geschichtlich ist und existiert, schafft, bildet, pflegt, die Kultur und die Werke. Dergleichen
Innerweltliches ist nur, genauer entsteht nur und kommt nur zum Sein als Innerweltliches. Kultur ist nicht so
wie Natur. […] Welt ist nur, wenn und solange ein Dasein existiert. Natur kann auch sein, wenn kein Dasein
existiert. […] Als Grundbestimmung der Existenz fixierten wir das In-der-Welt-sein. Diese Struktur ist gegen
die Innerweltlichkeit abzugrenzen, die eine mögliche Bestimmung der Natur ist. Es ist aber nicht notwendig,
dass Natur entdeckt ist, d.h. innerhalb der Welt eines Daseins vorkommt.“ (Heidegger 1975: 240f. und 248)
Die beispielsweise im Alltag, durch Entdeckungsreisen oder Wissenschaft entdeckten Naturdinge werden zu
etwas Innerweltlichem, sobald sie in den Gesamtzusammenhang unserer Welt treten. Würden wir Menschen
jedoch infolge einer Katastrophe verschwinden, hörten die Sonne, die „Behringstraße“ genannte Meerenge
oder Wasser natürlich nicht einfach auf zu bestehen, sondern blieben Naturdinge. Aber sie verlören ihre
Innerweltlichkeit, denn sie würden nicht mehr angebetet, befahren oder gesammelt. Kulturdinge hingegen wie
Werkzeuge, Institutionen oder Gemälde würden zu sein aufhören, was sie sind, denn sie wurden durch uns
geschaffen. Stiefel, Laptops und Stifte mögen als materielle Naturdinge noch vorhanden sein, nicht aber als
innerweltliches Schuh-, Schreib- und Fahrzeug.
609 Zu den „behavioural inheritance systems“ vgl. Avita und Jablonka 2000; Jablonka und Land 2004: 155ff.
Zum sozialen Lernen vgl. Heyes und Galeff 1996.
610 Zum Kulturbegriff bei Tieren vgl. van Schaik 2007. Für eine Zusammenstellung der SchimpansenWerkzeuge vgl. Whiten et al. 1999.
608
264
und weitergegeben. So stellen Schimpansen Werkzeuge her, indem sie einen Ast
bearbeiten, um mit ihm Termiten zu angeln. Schimpansen angeln aber auf unterschiedliche
Weise. Einige Populationen streifen die am Stöckchen krabbelnden Termiten mit der Hand
ab, andere hingegen ziehen das Stöckchen durch den Mund. Die Schimpansen stellen
Werkzeuge her, benutzen sie aber lokal auf unterschiedliche Weise, d.h. es gibt
Unterscheide zwischen Populationen. In der Werkstatt der Schimpansen finden sich nicht
nur zurecht gestutzte Grashalme und Stöckchen für das Angeln von Termiten, sondern
beispielsweise auch Bohrstöcke für Termitenhaufen, für Honig, Harz oder Knochenmark,
Astharken, um fruchttragende Zweige heran zu ziehen, Blatttupfer zur Wundbehandlung,
Zahnstocher und sogar eine Art Hammer und Amboss aus Stein um Nüsse zu knacken.
Geeignete Hämmer und Nüsse werden bisweilen über längere Strecken zu den
Nussbäumen bzw. zur Werkstatt getragen. Nicht nur stellen Schimpansen Werkzeuge her,
es
existieren
unterschiedliche
Schimpansenpopulationen
in
West-,
Werkzeugkulturen
Zentral-
und
innerhalb
Ostafrika.
isolierter
Techniken
von
Werkzeugherstellung und -gebrauch werden an die nächste Generation weiter gegeben.
Eine Heideggersche Welt ist natürlich ungleich dichter. Denken wir nur daran, was
man mit Werkzeugen alles machen kann. Man stellt sie nicht nur her und verwendet sie,
man bewahrt sie auf, nimmt sie mit, leiht sie aus, verbessert sie, und benutzt sie, um andere
Werkzeuge herzustellen. Zwar gibt es Anzeichen dafür, dass Menschenaffen unter
experimentellen Bedingungen Werkzeuge für den späteren Gebrauch aufbewahren, doch
die ganze Dichte des Umgangs mit Werkzeug, wie der Mensch sie kennt, scheint ihnen
nicht offen zu stehen. Insbesondere werden Werkzeuge nicht mitgenommen, geteilt,
ausgebessert oder verbessert. Erst durch diesen potenzierten Umgang entsteht eine Welt.
Aber eine solche Welt ist nicht nur ungleich dichter, sie ist wesentlich dicht. Sie ist die
Summe der Praktiken und als ganze strukturiert durch Zeugzusammenhänge, und nicht ein
natürliches Habitat, in dem auch noch tradierte Verhaltensweisen und Werkzeuge
vorkommen. Der Mensch lebt in einer Welt, in der Werkzeug und anderes Zeug nicht
unter anderen natürlichen Dingen auch vorkommen mögen, vielmehr besteht diese Welt
ganz und gar aus Zeug. Trotz dieser Unterschiede können wir die dichte kulturelle Welt des
Menschen und die völlig lose kulturelle Welt des Schimpansen unter einen gemeinsamen
biologischen Begriff bringen. Mein Vorschlag lautet nun, dass der Begriff der ökologischen
Nische dies leisten kann.
Was ist eine ökologische Nische? Eine solche Nische ist nicht identisch mit der
räumlichen Umwelt, in der ein Tier lebt. Vielmehr umfasst eine Nische die funktionalen
Zusammenhänge zwischen einer biologischen Art und bestimmten Faktoren der Umwelt.
265
Zu diesen Faktoren gehören etwa Nahrungsquellen oder Fressfeinde, Temperatur oder
Luftfeuchtigkeit. Sie ermöglichen das Überleben und den Fortbestand der Art. Reh und
Haselmaus im selben Wald fressen nicht dasselbe und werden nicht von denselben
gefressen; Birken oder Palmen können nicht in jedem Klima und in jedem Boden gedeihen.
Man kann eine Nische auch als Gesamtmenge des selektiven Drucks auf eine Art (oder
besser: Population) beschreiben. Nun wird die Evolution oft als ein Prozess der Anpassung
einer Art an eine Umwelt aufgefasst. Die Umwelt stellt das Problem, die Anpassung ist die
Lösung. Der Biologe Richard Lewontin hat dies als „Schloss-Schlüssel-Modell“ der
Evolution bezeichnet und kritisiert.611 In diesem Modell sind Nischen der stabile Faktor,
der von den Organismen einer Art unbeeinflusst bleibt. Es trifft freilich nicht zu, dass die
Nische stabil bleibt, vielmehr verändern Organismen ihre Nischen, nämlich durch ihren
Metabolismus, ihr Verhalten oder ihre Präferenzen. Erdwürmer beispielsweise müssen das
Erdreich, in dem sie wohnen, beträchtlich umgestalten, damit es zu ihrer physiologischen
Beschaffenheit passt. Sie bauen Gänge, sondern Schleim ab, eliminieren Kalzit, ziehen
abgestorbene Gräser unter den Boden usw. Dadurch wird die Erde durchlässiger und
nährstoffreicher. Biber bauen Dämme, wodurch sie einen Fluss in eine Art Teich
verwandeln. Als Folge davon bleibt der Wasserstand stabil, vergrößert sich das
Aufenthaltsgebiet der Biber, können Wasserpflanzen, die Bibern als Nahrung dienen,
wachsen und sicher durch das Wasser transportiert werden. Viehzüchter beginnen
Nahrungs- und andere Ressourcen zu halten. Sie gewinnen Milch von Kühen und stellen
neuartige Nahrungsmittel her. Auch sie verändern dadurch ihre Nische. Die Lebensweise
des Viehzüchters wird in der Generationenfolge Nachkommen mit Laktosetoleranz
bevorteilen. Der Erdwurm verändert seine Umgebung, der Biber baut sie um, der
Viehzüchter schafft sie neu. Prozesse dieser Art hat man als „Nischenkonstruktion“
bezeichnet.612 Eine durch Konstruktion modifizierte Nische hat, wie das Beispiel des
Viehzüchters zeigt, Rückwirkungen auf die sie besetzende Art (und auch auf andere Arten),
so dass Nischenkonstruktion ein Bestandteil der Evolution sein kann. Durch
Nischenkonstruktion ändern Lebewesen den Selektionsdruck ihrer Umwelt.
Wie ist dies gemeint? Ein wichtiges Moment der Nischenkonstruktion besteht
darin, dass umgebaute Nischen weitergegeben werden können, denn die von einer
Generation vorgenommenen Umweltveränderungen kommen auch der folgenden
Generation zugute. So können spätere Bibergenerationen von dem umgebauten Fluss
profitieren. Nischen bilden somit eine Art ökologisches Vererbungssystem. Ebenso wie
611
612
Zur Kritik am Schloss-Schlüssel-Modell vgl. Lewontin 1983.
Zur Nischenkonstruktion vgl. Odling-Smee, Laland und Feldman 2003.
266
Verhaltensweisen werden sie auf nicht-genetische Weise weitergegeben, und ebenso wie
vererbte Verhaltensweisen beeinflussen sie den Lebensstil und die Entwicklung einer Art.
Die Theorie der Nischenkonstruktion erlaubt es Organismen einen direkten Einfluss auf
die Umwelt und die Evolution zu nehmen. Dieses erweiterte Verständnis der Evolution
steht dem nur genzentrierten Ansatz entgegen. Sowohl die Idee eines ökologischen als auch
diejenige eines behavioralen Vererbungssystems erleichtert die Anwendung evolutionärer
Erklärungen auf den Menschen. Einerseits sind solche Erklärungen nicht nur auf die Gene
beschränkt, andererseits kann man über jene adaptionistischen Erklärungsansätze
menschlicher Verhaltensweisen und Institutionen hinwegsehen, die ihren Gegenstand
oftmals eher verzerren als erhellen.
Auch der Mensch konstruiert seine Nische und diese Nische nimmt Einfluss auf
seine Evolution und Entwicklung. Er ist an diese selbst gebaute Nische angepasst, er
bewohnt sie. Betrachten wir einige generelle Züge der menschlichen Nischenkonstruktion,
die erklären, warum diese Nische im Vergleich zu den Nischen anderer Tiere wesentlich
dicht ist.
1. Im Unterschied etwa zu tierlichen Verhaltenstradierungen und Werkzeugkulturen
zeichnet sich die Nische des Menschen durch ein hohe quantitative Dichte an
Artefakten aus, ja sie besteht nur aus Artefakten, d.h. zu bestimmten Zwecken
hergestellten Objekten und Institutionen.
2. Im Falle des Menschen sind sämtliche Umweltfaktoren seiner Nische entweder
Artefakte oder durch Artefakte modifiziert. Feuchtigkeit oder Temperatur werden
beispielsweise durch Häuser und Kleider modifiziert, Nahrung durch Zerlegung,
Zubereitung, Viehzucht, Ackerbau, Kontrolle und Transport, Feinde durch Waffen,
Fallen oder Forschung. Die Nischenkonstruktion ist total.
3. In den Werkzeugkulturen der Schimpansen werden in erster Linie bestimmte
Fertigkeiten zur Herstellung von Werkzeugen durch sozial vermitteltes Lernen
weitergegeben. Demgegenüber werden beim Menschen sowohl die Werkzeuge (und
andere Artefakte) als auch die Techniken ihrer Herstellung und Verwendung
weitergegeben. Die Weitergabe von Artefakten und von Techniken ihrer Herstellung
umfasst Veränderungen und Verbesserungen, die eine Generation gegenüber den
Vorgängern vorgenommen hat, sie erfolgt also selektiv und kumulativ.
4. Menschen sind nicht nur ökologische Nischenbauer, sondern spezifischer auch
„epistemische Nischenbauer“. Wir haben von der Weitergabe von Zeug und den
Techniken seiner Herstellung und Verwendung gesprochen. Die Artefakte einer Welt
267
sind gleichsam doppelt codiert. Sie dienen einem bestimmten Zweck, sie haben eine
Um-zu-Struktur – das ist ihre pragmatische Codierung – und sie können als Anleitungen
aufgefasst werden – dies ist ihre epistemische Codierung. Die epistemische Codierung
betrifft nicht nur Herstellung und Verwendung. Häufiger betrifft sie Unterhalt
(Instandhaltung und Reparatur) von Zeug. Schließlich betrifft die epistemische
Codierung auch die Verbesserung von Zeug, denn die Um-zu-Struktur gibt
Möglichkeiten der Modifikation vor. Schließlich verändern Menschen ihre Umwelt
auch, um die Lösung kognitiver Aufgaben entweder zu erleichtern oder überhaupt erst
zu ermöglichen.613
5. Menschen verwenden Produkte, um sie zur Herstellung oder Repräsentation anderer
einzusetzen. Das Zeug ist also nicht nur Bestandteil der Nische und Instrument der
Nischenkonstruktion, sondern auch Instrument zur Herstellung von Bestandteilen zur
Nischenkonstruktion. Menschliche Nischenbildung ist reflexiv.
Wir
haben
es
also
mit
Nischenkonstruktion zu tun.
614
kumulativer,
epistemischer,
reflexiver
und
totaler
Diese vier Elemente sind bei anderen Tieren, wenn
überhaupt, nur isoliert und lose, zusammen jedoch gar nicht vorzufinden. Die so
charakterisierte Nische des Menschen nun ist, so die These, die Heideggersche Welt.
Unsere ökologische Nische besteht, wie die Heideggersche Welt, aus strukturiertem Zeug,
aus Werkzeug, Schuhzeug, Schreibzeug, Nähzeug, Esswaren, Hausrat usw. Die
Strukturiertheit des Zeugs ist Bestandteil der kumulativen, reflexiven Weitergabe, denn es
werden nicht nur Artefakte, sondern mit den Artefakten Techniken ihrer Herstellung und
Verwendung – mit anderen Worten: des Designs – und Artefakte zur Herstellung und
Einige Beispiele sollen diesen Aspekt veranschaulichen: Wir verändern unsere Umwelt um das Gedächtnis
zu entlasten, etwa indem wir Informationen in der Umwelt speichern. Nur schon das häufige Begehen eines
Weges ist eine Art Externalisierung einer Gedächtnisleistung. Auch Markierung und Positionierung entlasten
das Gedächtnis. Schrift und Bild, Erzählung und Gesang sind externe Speichermedien, die das Gedächtnis
entlasten oder die Memorisierung erleichtern. Die moderne Welt ist voller Notizbücher, Tagebücher,
Kalender, Laptops und anderer Informationsmedien. Weiter richten wir unsere Umgebung bei vielen
Verrichtungen so ein, dass sie uns Nachdenken und Suchen erspart. Die Einrichtung einer Küche erspart
dem Koch das Nachdenken über Geräte, ebenso die Einrichtung einer Schreinerei. Der Koch arrangiert die
Zutaten in der Reihenfolge ihrer Verwendung. Die epistemische Zurichtung des Arbeitsplatzes trägt
entscheidend dazu bei, dass Tätigkeiten leicht, schnell und fehlerfrei ausgeübt werden können. Weiterhin
können wir komplizierte Aufgaben in einfache Wahrnehmungsprobleme umwandeln, etwa indem wir Figuren
vor uns aufstellen, Figuren in den Sand oder auf eine Tafel zeichnen. Wir können komplizierte
Wahrnehmungsprobleme in einfachere verwandeln: Wer ein Feld überblicken muss, löst diese Aufgabe besser
von erhöhter Stellung; wer an einer bestimmten Stelle einen Nagel einschlagen will, markiert die Stelle.
Anspruchsvolle Lernaufgaben schließlich können in einfachere verwandelt werden. Katzen bringen ihren
Jungen lebende Beutetiere, damit sie das Jagen und Töten erlernen. Wir arrangieren die Umgebung von
Kindern auf eine Weise, die Lernprozesse ermöglicht, anregt und erleichtert. Nicht nur Erwachsene
instruieren dabei Kinder, sondern die arrangierte Umwelt tut desgleichen.
614 Die These der kumulativen und epistemischen Nischenkonstruktion findet sich bei Sterelny 2003.
Alternative Theorien zur Evolution menschlicher Kognition sind die Soziobiologie, Evolutionäre Psychologie
oder die Kognitive Paläoanthropologie.
613
268
Verwendung von anderen Artefakten (mitsamt den Techniken ihrer Herstellung und
Verwendung) weitergegeben. Zeug kommt nicht nur unter anderen Dingen auch in der
menschlichen Welt vor. Aufgrund der Totalität des Nischenbaus besteht unsere Welt aus
praktischen Zeugzusammenhängen. Die diese Welt strukturierenden Artefakte werden
gemeinsam hergestellt und benutzt. Sie sind nicht das Produkt eines Einzelnen, sondern
das
Ergebnis
fortlaufender
Anstrengungen.615
Artefakte
öffentlicher
(das
Zeug)
und
historischer
kommen
Modifikationen
kulturelle
Funktionen
und
(ihre
Vorhandenheit) als strukturelle Bestandteile unserer ökologischen Nische (der kulturellen
Welt) zu. Die kulturelle Welt, in der Artefakte über Echte Funktionen verfügen, ist nicht in
erster Linie ein intentionales Produkt von menschlichen Subjekten, sondern ein
biologischer Bestandteil der Natur des Menschen.616 Der kumulative, epistemische,
reflexive, totale, ökologische Nischenbau erläutert den Begriff einer Heideggerschen Welt
im Sinne des Biologischen Naturalismus’. So vermögen wir einerseits zu verstehen
inwiefern der Mensch in der Natur lokalisiert werden kann, und wir können diese
Lokalisierung andererseits als eine normative begreifen.
Wenden wir uns nun dem Problem neu erschaffener Artefakte zu. Es scheint zwei Fälle zu
geben, die für das Verständnis kultureller Funktionen als Echten Funktionen problematisch
sind, nämlich neue Artefakte (wie etwa Neuerfindungen) und singuläre Artefakte (wie etwa
Kunstwerke). Für solche Artefakte gibt es keine Vorfahren, sie sind nicht Mitglieder einer
REF.617 Sollen wir, wie im Falle biologischer Merkmale, sagen, dass neue oder singuläre
Artefakte zwar funktionale Rollen haben, aber keine Echten Funktionen? Nun, zuerst kann
man darauf hinweisen, dass Neuerfindungen (unabhängig davon, ob sie kopiert werden
oder nicht) anders als spontane Mutationen nicht vom Himmel fallen. Sie sind das Resultat
615 Wir verstehen die Artefakte (das Zeug) und deren kulturellen Funktionen (die Vorhandenheit) in unserer
Nische (der kulturellen Welt) nicht aufgrund der Absichten anderer, vielmehr verstehen wir, was andere
beabsichtigen, aufgrund ihres In-der-Nische-Seins. Was wir bislang unberücksichtigt gelassen haben, ist die
Situation, in der sich ein Handelnder befindet. Häufig müssen wir nicht direkt auf mentale Zustände
zurückgreifen, um zu verstehen oder vorherzusehen, was ein anderer tun wird. Es reicht, wenn wir wissen, in
welcher Situation er sich befindet. Beim Gehen auf dem Bürgersteig oder im Stadtverkehr übernehmen
sowohl die impliziten als auch die expliziten Regeln und die Beschaffenheit der Wege die Rolle von
Verhaltenserklärern. Sobald man etwas über die Absichten des Anderen herausfinden möchte, kommt der
Ablauf ins Stocken. Will man herausfinden, ob der entgegenkommende Passant links oder recht passieren
möchte, findet man sich unversehens im bekannten Links-rechts-Passanten-Tanz. Situationen sind durch den
Zeug- und Zeichenzusammenhang strukturiert. Wer jemandem bei der Arbeit zusieht, verfolgt nicht die
mentalen Zustände des Arbeitenden, sondern seine Hantierung mit Geräten. So gibt die Handhabung von
Zuhandenem ebenfalls Aufschluss über Absichten.
616 Wiederum soll nicht ausgeschlossen werden, dass intentionale Zustände zur Nischenkonstruktion
beitragen oder Bestandteil der Normalen Bedingung der Echten Funktionen von Artefakten sind. Aus der
Perspektive der Biosemantik ist das Haben intentionaler Zustände nicht abhängig vom Bewohnen einer
kulturellen Welt (und mithin auch nicht abhängig von der Zugehörigkeit zu einer Sprachgemeinschaft),
sondern abhängig von der Zugehörigkeit zu einer biologischen Art.
617 Vgl. Vermaas und Houkes 2003: 265f.; Lewens 2004: 141ff.
269
eines Selektionsprozesses, dem unterschiedliche Vorfahren oder Vorstudien eines
Prototyps oder eines Werks ausgesetzt wurden. Die Funktion von technischen Artefakten
legt es nahe, dass ein Artefakt über bestimmte Eigenschaften verfügen muss, die es
wahrscheinlich oder zumindest möglich machen, dass das Artefakt eine bestimmte
Wirkung unter bestimmten Umständen überhaupt ausführen kann. Es reicht also nicht aus,
dass ihm eine Funktion zugeschrieben wird. Die Zuschreibung von Funktionen ist eine
epistemologische Angelegenheit, doch die Funktionen von Artefakten hängen von
ontologischen Bedingungen ab. Diese objektiven Bedingungen sind ebenso Bestandteil der
Normalen Erklärung für die Ausübung einer Funktion, wie die Absicht des glücklichen
Erfinders. Stellen wir uns darüber hinaus vor, jemand baut eine Maschine. Doch damit
diese Maschine funktioniert, fehlt eine bestimmte Verbindung zwischen zwei Elementen.
Zufällig fällt eine Nuss in die Maschine, stellt die Verbindung her, und bringt sie zum
laufen. Hat die Nuss nun die Funktion, diese Verbindung herzustellen? Ja, sie erfüllt eine
kausale Rolle in Anhängigkeit von einem Design für die ganze Maschine. Dieses Design
mag Ausdruck der Absicht eines Erfinders sein, es involviert jedoch nicht nur diese
Ansichten, sondern es involviert Eigenschaften von Materialien, Naturgesetze, Echte
Funktionen bereits bestehende Artefakte usw.618
Doch wie auch immer wir die Absicht des Erfinders oder Schöpfers eines Artefakts
oder die Absicht des Urhebers oder Entwerfers eines Designs verobjektivieren, es trifft
nach wie vor zu, dass neuartige oder singuläre Artefakte ihre Funktion durch die Absichten
eines Individuums erhalten, und nicht durch einen öffentlichen und kollektiven
historischen Prozess der Herstellung, Verteilung, Nutzung, Wartung, Verbesserung und
Veränderung. Ich bin jedoch der Ansicht, dass dies kein Problem für die hier
vorgeschlagene Sichtweise bedeutet. Die Lösung besteht darin, die Echten Funktionen
neuer oder singulärer Artefakte nicht als kulturelle, sondern als biologische Funktionen zu
betrachten. Bei den Funktionen solcher Artefakte handelt es sich um Äußerungen eines
Lebewesens mit Adaptierten Abgeleiteten Echten Funktionen. Sie sind eher verwandt mit
der Funktion des Farbwechsels eines Chamäleons vor einem Bücherregal mit ausschließlich
anthroposophischer Literatur (das Farbmuster ist völlig neuartig und bei keinem
Chamäleon jemals zuvor aufgetreten), als mit der Funktion von Automobilen (1.1.4.).
Technische Neuerfindungen haben die biologische Funktion, bestimmte Probleme
zu lösen, die nicht notwendigerweise Probleme des Erfinders sind. Ihre Funktion leitet sich
618 Analog verhält es sich mit der Anekdote des Malers Apelles. Dieser wollte beim Malen eines Pferdes
dessen Schaum auf dem Gemälde nachahmen. Das sei ihm so misslungen, dass er aufgab und den Schwamm,
mit dem er die Farben vom Pinsel abzuwischen pflegte, gegen das Bild schleuderte. Als dieser auftraf, habe er
eine Nachahmung des Pferdeschaums hervorgebracht.
270
von dem Vermögen der instrumentellen Intelligenz oder des Zweck-Mittel-Denkens ab.
Wir sind nicht gezwungen, uns das Zweck-Mittel-Denken allein als Ausdruck des
Vermögens vorzustellen, durch Versuch und Irrtum zu lernen. Wir können das ZweckMittel-Denken auch als eine Tätigkeit der Vorstellungskraft denken. Das Zweck-MittelDenken ist eine Fähigkeit, über die auch Poppersche Wesen verfügen (2.2.).619 Diese
spielen Szenarien vor ihrem inneren Auge durch und machen sich dies für die
Entscheidung zwischen alternativen Handlungsabläufen zunutze. Wenn wir einen Schritt
weiter gehen und Gregorische Wesen berücksichtigen, so kommen nicht nur verschiedene
Handlungsabläufe ins Bild, sondern auch Artefakte. Nun können auch Artefakte als
Bestandteile von alternativen Handlungsabläufen vor dem inneren Auge durchgespielt
werden. Dies können sich Gregorische Wesen für eine Entscheidung zwischen alternativen
Zusammensetzungen von Artefakten zunutze machen (2.2.). Neuerfindungen erhalten ihre
Funktion also abgleitet vom Vermögen der Vorstellungskraft ihrer Erfinder, Artefakte zu
einem bestimmten Zweck neu zusammenzusetzen. Das Resultat dieses Prozesses ist eine
Vorstellung eines neuen Artefakts, eine Art mentales Design für ein neues Artefakt. Die
Funktion dieses Designs besteht darin, ein Objekt hervorzubringen, das ein Problem zu
lösen verspricht. Dieses Objekt (das Artefakt) ist ein Mittel zu einem Zweck, dessen
Funktion sich von dem Vermögen des Zweck-Mittel-Denkens ableitet.620 Und der Zweck,
das zu lösende Problem, ist der Adaptor der Neuerfindung. Erst wenn diese neuartigen
Artefakte Teil eines öffentlichen und historischen Prozesses der Reproduktion oder der
Konsumation werden, erst wenn sie Bestandteil der kulturellen Welt (unserer ökologischen
Nische) werden, kommt ihnen auch eine kulturelle Funktion zu.621 Die Schöpfung von
Hier zwei Beispiele für Poppersche Wesen, die sich des Zweck-Mittel-Denkens bedienen. Ein Rabe sieht
im klirrenden Winter eine Stange, an der an Schnüren gefrorenes Trockenfleisch hängt. Im Flug ist es nicht
möglich, das harte Fleisch mit dem Schnabel zu packen. Was tun? Der Rabe setzt sich auf die Stange, zieht
ein Stück Schnur mit dem Schnabel zu sich hoch, legt es auf die Stange, setzt den Fuß darauf, holt das
nächste Stück hoch, legt es wiederum auf die Stange, setzt den Fuß darauf usw. Schließlich hält er das Fleisch
in den Krallen und pickt Stücke heraus (vgl. Heinrich 1996). Der Psychologe Wolfgang Köhler untersuchte
kurz vor dem Ersten Weltkrieg die Intelligenz von Menschenaffen. So ließ er beispielsweise außerhalb des
Schimpansenkäfigs Bananen auslegen, und zwar in einer für Schimpansenarme zu großen Entfernung. Im
Käfig befanden sich zwei Bambusrohre von unterschiedlichem Durchmesser, mit denen die Schimpansen
Futter heranziehen konnten. Doch ein Schilfrohr allein reichte nicht an die Bananen heran. Ein Schimpanse
namens Sultan entdeckte, während er mit diesen Rohren spielte, dass sich das dünnere in das dickere Rohr
stecken lässt. Jetzt konnte er die ersehnten Bananen erreichen (vgl. Köhler 1921).
620 Für eine Analyse des Zweck-Mittel-Denkens auf teleosemantischer Grundlage vgl. Papineau 2005.
621 Longy 2007 und 2009 löst das Problem eines neuen Artefakts, das niemals seine Funktion F ausgeübt hat,
wie folgt: Bei einem solchen neuen Artefakt A kann die Wirkung von Vorfahren nicht erklären, warum A
existiert und warum A die Funktion hat, F zu tun. Doch A hat eine Eigenschaft E, die zeitlos mit einer
bestimmten Wirkung verbunden ist. Ist diese Wirkung F, dann hat A die Funktion F, auch wenn keine
Vorfahren vorhanden sind, deren Besitz von F erklärt, warum A existiert und die Funktion F hat. Objektive
Gründe für die Auswahl von Eigenschaften mit bestimmten Wirkungen übernehmen im Falle von
Neuerfindungen oder singulären Artefakten die Rolle, die tatsächliche Wirkungen und deren Folgen für die
Fitness von Organismen bei biologischen Funktionen spielen. Objektive Gründe dafür, dass eine bestimmte
Eigenschaft oder Entität eine bestimmte Wirkung hat, können darin gefunden werden, dass sie zu einer
619
271
singulären Artefakten wie Kunstwerken kann in Analogie dazu als biologische Äußerung
mit Nicht-Relationalen Abgeleiteten Echten Funktionen betrachtet werden. Deren
Funktion kann möglicherweise darin gesehen werden, bestimmten Erfahrungen ihres
Schöpfers auf Ausdruck zu verleihen. Dies bedeutet weder, dass Kunstwerke wesentlich
Expressionen sind, noch dass sie ihre Bedeutung durch den Schöpfer erlangen. Dies
geschieht erst durch ihre Integration in die kulturelle Welt (vgl. die Überlegungen zur Lyrik
in Abschnitt 1.1.7.).622
Sowohl biologische Funktionen als auch kulturelle Funktionen sind stets Echte
Funktionen, die Mitglieder einer biologischen oder kulturellen funktionalen normativen
Kategorie besitzen. Funktionale normative Kategorien werden durch REFs gebildet. Die
Normativität, das Seinsollen, der Mitglieder dieser Kategorien stellt der Biosemantik jene
Normativität zur Verfügung, die sie benötigt, um die normative Dimension von RVehikeln, mithin deren Intentionalität, naturalistisch zu erklären, denn diese Normen sind
beobachterunabhängig, ontologisch objektiv und kommen zunächst Teilen und
Äußerungen von Lebewesen zu, dann aber auch Artefakten in einer kulturellen Welt.
Damit verfügen wir über die Grundlagen für einen Biologischen Naturalismus. Ich habe
bereits skizziert, wie sich der intentionale Aspekt in der Biosemantik gestaltet, und zwar
anhand von tierlichen Repräsentationen wie Bienentänzen, kognitiven Repräsentationen
wie Überzeugungen, sprachlichen Repräsentationen wie Aussagesätzen und künstlerischen
Repräsentationen wie sie die Lyrik der Moderne hervorbringt. Ich werde den semantischen
Aspekt der Biosemantik anhand des Inhalts von (visuellen) Wahrnehmungen detaillierter
im Kapitel 5 vorstellen. Im Moment bin ich noch mit dem biologischen Aspekt der
Biosemantik befasst. Zu diesem biologischen Aspekt gehört nicht nur die bislang geleistete
Verteidigung der Existenz natürlichen Normen, sondern auch die Naturalisierung
(Beheimatung) des Menschen, insbesondere seiner zweiten Natur, in der natürlichen Welt.
Ein erster Schritt wurde im Abschnitt über kulturelle Funktionen getan. Doch es fehlt ein
wesentlicher Schritt, nämlich der Animalismus, demzufolge Menschen essenziell Tiere sind.
natürlichen Art gehören. Natürliche Arten umfassen nicht nur REFs, sondern auch zeitlose Arten wie
Metalle. Sie gelangt schließlich zu folgender tentativen Bestimmung: X hat die Funktion F: (i) X ist Mitglied
einer natürlichen Art. (ii) Mitglieder von X tun F mit einer Wahrscheinlichkeit p aufgrund ihrer Zugehörigkeit
zu einer natürlichen Art. (iii) X existiert wegen (ii).
622 Die Kunsttheorie von Dewey entwickelt Vorstellungen dieser Art (vgl. Dewey 1989a). Zur Integration von
Deweys Philosophie in eine teleosemantische Perspektive vgl. Godfrey-Smith 1996: V-VI. Die hier suggeriere
Perspektive hat in meinen Augen den Vorteil, dass sie evolutionstheoretische und sozialkonstruktivistische
Erklärungen von Kunstwerken nicht als Gegensätze betrachten muss. Sie trennt den Schöpfungsakt eines
singulären Artefakts als biologische Äußerung von der Integration des Artefakts in die kulturelle Welt, in der es
erst zu einem Kunstwerk mit einer kulturellen Funktion wird (vgl. Wilson 2005). Für eine Theorie des
Kunstwerks als einer kulturellen funktionalen normativen Kategorie vgl. Zangwil 2007; Parsons und Carlson
2009, wobei ersterer eine strikt intentionalistische Sicht, letztere hingegen eine kollektivistische Sicht
vertreten.
272
Ich werde diesen Schritt anhand der Diskussion spezifischer normativer Kategorien
vorbereiten und schließlich in Kapitel 4 nehmen.
273
3.3. Spezifische normative Kategorien
3.3.1. Thompson und Foot über Lebensformen
Unter den Begriff einer natürlichen Norm – verstanden als normative Kategorie, die
defekte Mitglieder qua Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kategorie enthalten kann –
finden sich, so habe ich behauptet, zwei verschiedene Sorten natürlicher Normativität,
nämlich einerseits die Normativität von Funktionen und andererseits die Normativität von
Lebewesen. Funktionen und Lebewesen stellen ein Maß dar, von dem Entitäten und
Prozesse abweichen können. Ich habe gezeigt, inwiefern dies der Fall für funktionale
normative Kategorien ist. Es gibt nun nicht nur defekte Mitglieder funktionaler Kategorien,
sondern auch defekte Mitglieder von biologischen Arten. Lebewesen können krank sein,
unfähig zu bestimmten Äußerungen oder ihnen fehlen bestimmte Teile, und mit beidem
die entsprechenden Fähigkeiten. Es gibt gute und schlechte, außergewöhnliche oder
abnorme Teile, Äußerungen und Exemplare einer Art. Und es gibt gute und schlechte
Bedingungen für Exemplare einer Art, außergewöhnliche oder abnorme Bedingungen,
unter denen Exemplare einer Art leben.623 Wie steht es mit der anderen Sorte normativer
Kategorien, den spezifischen normativen Kategorien? Woran haben gute und schlechte,
defekte und intakte, gesunde und kranke Exemplare einer Art ihr Maß? Eine der
Biosemantik kongeniale philosophische Theorie, die es uns erlaubt, diese Fragen zu
beantworten, stellt die Tugendethik in der naturalistischen Ausprägung dar, die ihr Foot
und Hursthouse gegeben haben.624 In diesem Abschnitt möchte ich diesen Ansatz mit dem
Ziel einführen, ein Verständnis der spezifischen normativen Kategorien zu entwickeln und
verteidigen (3.3.1.). Ich werde zeigen, dass der – pace Foot und Hursthouse – mit dem
623 Natürlich können Lebewesen als Bestandteile der kulturellen Welt eine kulturelle Funktion übernehmen.
Wir züchten Obstbäume und Hunde zu verschiedenen Zwecken und bilden die Hunde auch entsprechend
aus. Hierbei handelt es sich um Echte Funktionen, doch nicht um natürliche Funktionen, die Lebewesen als
Mitglieder einer bestimmten Art zukommen. Und natürlich können Lebewesen Funktionen im Sinne kausaler
Rollen haben. Beispielsweise kann es als die Funktion von Würmern betrachtet werden, als
Nahrungsressource für Maulwürfe zu dienen. Doch dafür sind Regenwürmer nicht selektiert worden, es
handelt sich lediglich um ein Funktionieren-als. Andererseits übernimmt eine Regenwurmpopulation eine
Funktion im Hinblick auf die Beschaffenheit eines bestimmten Stück Bodens, und es könnte deshalb so
aussehen, als wäre dies eine selektierte Wirkung dieser Organismen, weil die Wirkungen ihres Verhaltens
einen Beitrag zur Nischenkonstruktion leistet. Doch wie wir bereits gesehen haben (1.1.3.), kann eine
Funktion nur derivativ einem Organismus oder einer Population zugeschrieben werden. Eigentlich handelt es
sich um die Funktion eines Vermögens (eines K-Mechanismus) eines Organismus oder der Individuen einer
Population.
624 Vgl. Foot 2001, 2002b: XII; Hoursthouse 1999, 2004. Ich betrachte die Arbeiten von Hursthouse als
Konkretisierungen von Foot, wie sie es selbst tut. Die Erneuerung dieser aristotelisch ausgerichteten
Tugendethik im 20. Jh. geht zurück auf Anscombe 1958 und Geach 1977. Nussbaum 1999 und McIntyre
1999 vertreten verwandte Auffassungen. Die Tugendethik hat jedoch viele Gesichter (vgl. Swanton 2003;
Annas 2006).
274
darwinistischen Rahmen der Biosemantik kompatibel ist (3.2.3.). Schließlich möchte ich die
Übertragung des Ansatzes auf die Bewertung moralischer Aspekte unserer Lebensform
darlegen und einige Einwände zurückweisen, ohne diese Übertragung jedoch im vollen
Umfang darzulegen oder verteidigen zu können (3.3.3.). Es ist nicht unerheblich, diese
Darlegung mit einzubeziehen, denn ihr Zweck besteht darin, plausibel zu machen, dass
natürliche Normen die Grundlage nicht nur intentionaler, sondern auch moralischer
Normativität abzugeben vermag.625
In Natural Goodness übernimmt Foot als Ausgangspunkt die von Geach vertretene These,
dass „gut“ kein prädikatives, sondern ein adverbiales Adjektiv ist (3.1.3.). Gutheit ist kein
autonomes Prädikat, sondern stets die Gutheit einer bestimmten Art von Dingen.
Betrachten wir zunächst solche Redeweisen wie:
(1) „Dieser Baum hat gute / schlechte Wurzeln.“
(2) „Hitze ist gut für Kakteen, aber schlecht für Lilien.“
(3) „Was für ein gesundes / krankes Exemplar!“
Mit Redeweisen wie (1) zeichnen wir bestimmte Bedingungen als gut oder schlecht für
Lebewesen aus. Welche Bedingungen für ein Lebewesen gut oder schlecht sind, hängt
davon ab, um welche Art Lebewesen es sich handelt. Bedingungen werden als „gut“ oder
„schlecht“ im Hinblick auf eine Art spezifiziert, die Ausdrücke werden also attributiv
gebraucht. Natürlich gibt es etwas, das diese Bedingungen insgesamt gut macht, nämlich
der Umstand, dass sie zum Gedeihen von Lebewesen beitragen. Ob etwas für ein
Lebewesen gut oder schlecht ist, hängt von seinem positiven oder negativen Beitrag zum
Gedeihen des Lebewesens ab. Die Gutheit oder Schlechtheit der Bedingungen hängt also
letztlich davon ab, dass etwas ein Lebewesen ist, und davon, um welche Art von
Lebewesen es sich handelt. Weiterhin beschreiben wir mithilfe solcher Redeweisen wie (2)
bestimmte Teile von Lebewesen als gut oder schlecht. Eine Pflanze kann gute (starke,
kräftige) Wurzeln haben dafür, dass es sich bei dieser Pflanze um eine Eiche handelt.
Würden wir vergleichbare Wurzeln bei einer Sonnenblume finden, so würde wir nicht von
starken und kräftigen Wurzeln, sondern von abnormen Auswüchsen und Wucherungen
sprechen. Ob die Teile gut oder schlecht sind, hängt letztlich wiederum davon ab, dass
etwas ein Lebewesen ist, und um welche Art von Lebewesen es sich handelt. Schließlich
bezeichnen wir mittels solcher Redeweisen wie (3) bestimmte Exemplare als gut oder
625
Für die Ausführung dieser These vgl. Kapitel 3.
275
schlecht. Unter die Schlechtheit eines Lebewesens fallen etwa Krankheiten, körperliche
Defekte, Verhaltensabnormitäten. Nehmen wir die uns bereits bekannten Springspinnen
(3.2.4.) Stellen wir uns vor, diese Familie wäre noch nicht bekannt. Ein Mitglied dieser
Spinnenfamilie besitzt nicht nur relativ zu seiner Körpergröße enorm große Hauptaugen,
sondern es verfügt zusätzlich noch über kleine Seitenaugen. Handelt es sich um eine kranke
Spinne mit augenartigen Auswüchsen? Oder um das Resultat eines verrückten
Laborexperiments? Oder nehmen wir Springspinnen, die Ameisen mimen. Handelt es sich
bei einem Exemplar um abnorme Ameisen mit acht Beinen und mehreren Augen?
Wiederum, so scheint es, hängt die Entscheidung darüber, ob es sich bei einem Exemplar
um ein abnormes oder normales, um ein krankes oder gesundes, um ein defektes oder
intaktes Lebewesen handelt, davon ab, um welche Art von Lebewesen es sich handelt.626
Die Gutheit oder Schlechtheit von Bedingungen, Teilen und Exemplaren scheint
darüber hinaus nicht beobachterrelativ zu sein, sondern hängt davon ab, zu welcher Art
von Lebewesen ein Organismus gehört. Es sind biologische Tatsachen bestimmter Art, die
für Gutheit und Schlechtheit bei Lebewesen ausschlaggebend sind. Was würde
beispielsweise jemand sagen, der die Auffassung vertritt, dass die Zuschreibung von „gut“
oder „schlecht“ Ausdruck einer Pro-Einstellung sei? Was sagt ein Vertreter dieser
Anschauung auf die Frage, was es für eine Eiche heißt, gute Wurzeln zu haben oder unter
guten Bedingungen zu wachsen? Die Antwort müsste in etwa lauten: „Gute Wurzeln sind
Wurzeln, die wir wählen würden, wenn wir Eichen wären, und ebenso sind gute
Bedingungen solche, die wir wählen würden, wenn wir Eichen wäre.“ Diese Antwort zeugt
von einer bestimmten Form des Anthropomorphismus, die uns auf geradezu lächerliche
Weise von der Natur anderer Lebewesen unterscheidet. Die Absurdität dieser Antwort liegt
in der zwanghaften Projektion unserer Vorstellungen auf den Baum.627 Dabei gibt es
offensichtlich eine andere Antwort: Gute Wurzeln und gute Bedingungen für eine Eiche
sind solche, die Mitglieder seiner Art typischerweise gedeihen lassen. Natürlich kann ein
Baum schlechte oder gute Wurzeln relativ zu unseren Vorstellungen und Präferenzen
haben. Wollen wir einen Krüppelbaum züchten oder jemandem einen besonders
missratenen Baum schenken, sind andere Wurzeln gut bzw. schlecht. Aber die Pointe ist,
dass ein Baum einer Art gute oder schlechte Wurzeln qua Mitglied dieser Art haben kann,
ganz unabhängig von unseren Vorstellungen und Präferenzen. Die Gutheit oder
Schlechtheit der Wurzeln qua Teile eines Lebewesens einer Art hat nichts mit unseren
Vgl. die Entwicklung dieser Überlegung bei Thompson 2004.
Eine der bedauerlichen Auswirkungen des Paley-Syndroms (2.1.), nur dass hier der Zweck nicht zur
Unterstellung eines transzendenten, sondern eines immanenten Zwecksetzers führt.
626
627
276
Vorstellungen oder Präferenzen zu tun. Es handelt sich, wie Foot sagt, um natürliche
Qualitäten und natürliche Defekte eines Wesens.
Wir können also festhalten, dass die oben diskutierten Redeweisen von der Gutheit
von Teilen, Bedingungen und Exemplaren offenbar etwas damit zu tun haben, dass es sich
um Lebewesen handelt und vor allem damit, um welche Art von Lebewesen es sich
handelt. Und zweitens können wir festhalten, dass die Gutheit bei Lebewesen keine Sache
der Beobachtereinstellung ist. Allgemein kann man der attributiven Auffassung von „gut“
und „schlecht“ zufolge von einem Objekt nicht einfach sagen, dass es gut ist, sondern man
muss stets mitsagen, zu welcher Art von Objekten es als gutes Exemplar gehört. Da es nun
keinen Grund zur Annahme gibt, dass sich der Gebrauch von „gut“ im moralischen
Bereich schlagartig ändert, verwenden wir auch „moralisch gut“ attributiv. Bestimmte
Dispositionen oder Prozesse sind nicht Charakterzüge oder Handlungen und additiv dazu
auch noch gut, sondern es sind gute oder schlechte Ausprägungen bestimmter
Charakterzüge oder Handlungen. Ebenso sind bestimmte Lebewesen nicht Menschen und
additiv dazu auch noch gut, sondern diese Lebewesen sind gute Menschen. Moralisch gute
Menschen und moralisch gute Taten sind nun Menschen bzw. Taten, die dazu führen dem
Gedeihen ihrer Art zu Gute zu kommen – oder wie Hume sagen würde: Es handelt sich
um Charakterzüge oder um Taten aufgrund von Charakterzügen, die uns selbst oder
anderen angenehm oder nützlich sind. Solche Charakterzüge sind Tugenden. Entsprechend
lautet die allgemeine These von Foot, „that moral judgment of human actions and
dispositions is one example of a genre of evaluation itself actually characterized by the fact
that its objects are living things“.628 Damit stellt sich Foot zwei Aufgaben:
1. Sie muss eine Form der Bewertung der Gutheit und Schlechtheit für Lebewesen finden.
Dies verlangt nach einer Theorie über „natural goodness and defect in living things“.629
Mit anderen Worten: Lebewesen müssen als eine natürliche normative Kategorie
aufgefasst werden.
2. Sie muss zeigen können, dass die für Lebewesen entwickelte Auffassung natürlicher
Normativität die Grundlage dafür abzugeben vermag, dass menschliche Handlungen
und Dispositionen einer moralischen Bewertung unterzogen werden können, die
dadurch gekennzeichnet ist, dass sie Menschen als Lebewesen betrifft.
Foot 2001: 4. Vgl. auch Foot 2002a: 43.: „...there is a conceptual connexion between life and good in the
case of human beings as in that of animals and even plants. Here, as there, however, it is not the mere state of
being alive that can determine, or itself count as, a good, but rather life coming up to some standard of
normality.“
629 Foot 2001: 3.
628
277
Die erste Aufgabe verlangt nach einer Theorie natürlicher Normen und die zweite nach
einer Anwendung der Lösung der ersten Aufgabe auf die Moralität von Menschen. Mir
geht es zunächst darum, die erste These aufzunehmen und zu verteidigen.
Die gesuchte Form der Bewertung der Gutheit und Schlechtheit für Lebewesen
findet Foot bei Thompson:630 Ein Lebewesen sei defekt, wenn ihm ein Merkmal oder ein
Vermögen fehlt, das typisch für die „Lebensform“ (life-form) ist, zu der ein solches
Lebewesen gehört. Es ist die Lebensform, die das Maß vorgibt, von dem Exemplare
abweichen können, sie ist die Kandidatin für die gesuchte spezifische normative Kategorie.
Ich möchte allerdings drei Thesen an Thompsons Position unterscheiden:
1. die These, der zufolge etwas nur dann ein Lebewesen ist, wenn es Teil einer
Lebensform ist,
2. die These, dass die Zugehörigkeit zu einer Lebensform Lebewesen einem
normativen Standard unterstellt, und
3. die These, dass es sich bei dem Begriff der Lebensform um einen nichtempirischen Begriff handle.
Die ersten beiden Thesen akzeptiere ich, nicht aber die dritte These. In diesem Abschnitt
will ich die ersten beiden Thesen darstellen und zeigen, dass Lebensformen spezifische
normative Klassen sind.
Thompson zufolge zeigt sich die Normativität der Lebensform in der besonderen
Form von Urteilen über Lebewesen. Solche Urteile haben einerseits die Form der oben
diskutierten Redeweisen (1) bis (3). Diese Redeweisen von der Gutheit von Teilen,
Bedingungen und Exemplaren bringen eine normative Dimension dadurch ins Spiel, dass
sie Individuen vor dem Hintergrund arttypischer Ausprägungen von Teilen, Äußerungen
und entsprechenden Fähigkeiten bewerten. Um eine solche Bewertung vorzunehmen, so
haben wir gesehen, müssen wir wissen, dass es sich um ein Lebewesen handelt und um
welche Art von Lebewesen es sich handelt. Doch auch scheinbar nicht-normative, eine
Lebensform scheinbar nur beschreibende Urteile verfügen über eine normative Dimension
– Urteile wie „Das Hermelin wechselt im Winter den Pelz“, „Springspinnen haben
Seitenaugen“, „Der Berggorilla ist schwarz“. Solche Urteile finden wir in biologischen
Texten über das Hermelin, über Springspinnen oder über den Berggorilla. Thompson ist
der Ansicht, das Entscheidende an der Speziesspezifität normativer Urteile über Lebewesen
sei ihre logische Form. Die Form solcher Urteile lautet: „S ist / hat / tut F“ (oder „Se sind
630
Thompson 1995 (= Thompson 2008: I), 2004.
278
/ tun / haben / F“). Thompson nennt solche Urteile „aristotelisch-kategorische Urteile“
(Aristotelian categoricals) oder „naturhistorische Urteile“ (natural-historical judgements).631 Er
meint, es handle sich um eine Urteilsform sui generis. Solche Urteile zeichnen sich erstens
durch nicht-statistische Generalität aus. Wir bilden allgemeine Aussagen wie „Der
Berggorilla hat schwarzes Fell“ oder „Der Berggorilla ist ein Pflanzenfresser“ oder „Der
Berggorilla lebt in Gruppen“. Das sind keine statistischen Aussagen, sondern
Beschreibungen der Lebensform Berggorilla. Wie im Falle von Funktionen müssen
keinesfalls die überwiegende Anzahl der Mitglieder einer normativen Kategorie ihrem Maß
entsprechen: Die meisten Spermien erfüllen ihre Funktion nicht und die meisten
Erwachsenen haben keine 32 Zähne. Sie zeichnen sich zweitens durch Atemporalität aus.
Der Indikativ Präsens ist diesen Urteilen nicht zufällig, sondern drückt aus, dass nicht
bestimmte individuelle Berggorillas zu einem bestimmten Zeitpunkt und an einem
bestimmten Ort beschrieben werden, sondern die Lebensform Berggorilla. Drittens
zeichnen sie sich durch die eigenartige Verwendung des Singulars aus. Wir sprechen von
dem Berggorilla (Gorilla beringei beringei), wenn wir die Lebensform charakterisieren. Viertens
schließlich unterstützen diese Urteile, trotz ihrer verallgemeinernden Form, eine bestimmte
Schlussform nicht. Wir können von „Der Berggorilla hat schwarzes Fell“ und „Guido ist
ein Berggorilla“ nicht schließen, dass Guido schwarzes Fell hat, denn Guido ist ein Albino.
Die möglichst vollständige naturhistorische Beschreibung einer Lebensform
umfasst nun solche naturhistorischen Urteile, deren Gesamtheit das Maß der normativen
Bewertung für ein Exemplar einer Lebensform abgibt:
„If, though, we want to apply ‘normative’ categories to sub-rational nature, and
apart from any relation to ‘our interests’, then the question inevitably arises, and
not so unreasonably: Where does the standard come from? What supplies the
measure? The system of natural historical propositions with a given kind as subject
supplies such a standard for members of that kind. We may implicitly define a
certain very abstract category of ‘natural defect’ with the following simple-minded
principle of inference: From: “The S is F”, and: “This S is not F”, to infer: “This S
is defective in that it is not F”. It is in this sense that natural historical judgements
are ‘normative’, and not by each proposition’s bearing some sort of normative
infrastructure. The first application of concepts of good, bad, defect and pathology
is to the individual, and it consists in a certain sort of reference of the thing to its
form or kind.“632
631 Thompson 2008: 64f. Mit „Naturgeschichte“ meint Thompson nicht die Evolution einer Lebensform,
sondern die synchrone Beschreibung der Lebensform. Ich werde aber zeigen, dass Thompson und Foot nicht
ohne Geschichte auskommen können. Die Lebensform muss diachron verstanden werden.
632 Thompson 2008: 80f. Vgl. Foot 2001: 33: „Thus, evalutation of an individual living thing in its own right,
with no reference to our interests and desires, is possible where there is intersection between two types of
propositions: on the one hand, Aristotelian categoricals (life-form descriptions relating to the species), and on
the other, propositions about particular individuals that are the subject of evaluations.“
279
Wir können nun einsehen, warum die Gutheit bei Lebewesen keine Sache der
Beobachtereinstellung ist. Sie hängt von zwei Sorten Tatsachen ab, nämlich einerseits von
Tatsachen über eine bestimmte Lebensform und andererseits von Tatsachen über ein
Individuum, das dieser Lebensform angehört. Eine Lebensform ist wie eine Echte
Funktion „a measure from which actual facts can depart“.633
Wir haben bereits gesehen, dass biologische Merkmale durch ihre Echte Funktion
konstituiert werden (3.2.3.-3.2.4.). Das Tierauge ist, was es ist, weil es eine bestimmte
Funktion ausübt. Eine Definition des Auges weist das Auge als eine funktionale Kategorie
aus. Augen haben die Funktion, ihren Trägern räumliche Wahrnehmung zu ermöglichen,
und sie tun dies, indem sie multidirektional Lichtintensitäten absorbieren. Token, die diese
Funktion nicht ausüben können, sind defekte Augen. Analog dazu ist Thompson der
Ansicht, dass Lebewesen Entitäten sind, die essenziell zu Lebensformen gehören. Wir
fassen etwas als Lebewesen und seine Tätigkeiten als biologische Vollzüge allein vor dem
Hintergrund einer Gesamtheit von naturhistorischen Urteilen. Thompson meint nämlich,
dass
Definitionen
von
„Leben“
oder
„Lebewesen“
mittels
Merkmalen
wie
„Selbsterhaltung“, „Anpassung“, „Stoffwechsel“ oder „Reproduktion“ auf einer
grundlegenderen Auffassung darüber beruhen, was es für eine Entität bzw. einen Prozess
bedeutet, ein Lebewesen bzw. Leben zu sein. Leben sei der Prozess der Aufrechterhaltung
einer bestimmten Lebensform.634 Etwas sei (und dies ist Thompsons zweite These) ein
Lebewesen, insofern es einer bestimmten Lebensform angehört. Der Grund dafür liegt
darin, dass die Frage, was es für eine Entität bzw. einen Prozess bedeute ein Lebewesen
bzw. Leben zu sein, beantwortet werden kann, indem wir darauf hinweisen, dass jene
Entitäten Lebewesen sind, die Subjekte in naturhistorischen Urteilen sein können. Was
solchermaßen Subjekt dieser Urteilsform ist, gehört zu einer Lebensform. Bei diesem
grundlegenderen Begriff einer Lebensform handle es sich deshalb (dies Thompsons dritte
These) um keinen empirischen Begriff, weil die Urteilsformen für die Bildung empirischer
Urteile über Lebewesen immer schon in Anspruch genommen werden.
Foot betont nun (und sie klärt damit Thompsons Position), dass die Merkmale und
Fähigkeiten, die in den normativen, naturhistorischen Urteilen einer Lebensform genannt
werden, im Lebenszyklus dieser Lebensform eine Rolle spielen müssen. Wir müssen also
einerseits darauf achten, dass Lebensformen einen typischen Lebenszyklus durchlaufen. So
betrachten wir z.B. die unterschiedlichen Gestalten, die ein Frosch im Laufe seines Lebens
annimmt, als Gestalten einer Lebensform. Wir müssen andererseits darauf achten, welche
633
634
LBT: 83.
Vgl. Thompson 2008: 34-48.
280
Rolle die in den Lebensformbeschreibungen genannten Teile, Äußerungen und Fähigkeiten
für das Gedeihen der Mitglieder einer Lebensform und der Lebensform im Ganzen spielt.
Es muss für das Gedeihen der Individuen und der Art einen Unterschied machen, ob sie
über diese Merkmale verfügen oder nicht. Foot weist richtig darauf hin, dass das Fehlen
eines lediglich für die Art charakteristischen Merkmals kein Defekt sein muss.
Beispielsweise ist es für den Berggorilla typisch, dass seine Handflächen schwarz sind. Es
wäre aber kein Defekt eines Gorillas, wenn dessen Handflächen gefleckt wären. Der
Gorilla hat typischerweise zwei Hände und zehn bewegliche Finger, der Mangel dieser Teile
oder der für sie charakteristischen Eigenschaften jedoch würde einen Defekt bedeuten,
denn Hände sind für das Gedeihen eines solchen Tiers eminent wichtig.635 Merkmale
müssen also eine Rolle im Leben eines Individuums einer bestimmten Art spielen. Nur
Merkmale, die eine Funktion im Leben einer Art haben, sind defekt oder intakt.
Entsprechend ist auch das Lebewesen defekt oder intakt. Foot vertieft die Normativität
von naturhistorischen Urteilen dadurch, dass sie darauf hinweist, dass sie teleologisch
geordnet sein müssen. Die in diesem Urteilen beschriebenen Teile und Äußerungen von
Lebewesen müssen eine Rolle im Gedeihen einer Art spielen. Damit scheiden wir nicht nur
irrelevante Merkmale (wie die gefleckte Hand des Gorillas) aus der normativen Zuordnung
von Tatsachen über eine Lebensform und Tatsachen über ein Individuum aus, sondern wir
scheiden auch Merkmale aus beiden Tatsachenmengen aus, die gar keine biologischen
Merkmale sind. So wird das Fell von Gorillas taufeucht und glänzt oder die Blätter von
Eichen rascheln im Wind, aber dies spielt im Lebenszyklus dieser Wesen keine Rolle. Mit
anderen Worten: Es sind Merkmale mit einer Echten Funktion, die für normative Urteile
über Mitglieder von Lebensformen relevant sind. An dieser Stelle greifen funktionale und
spezifische normative Kategorien ineinander.
Bei vielen Lebewesen spielen Merkmale nur im Hinblick auf Nahrung und
Reproduktion eine Rolle. Doch wenn wir soziale Tiere, wie etwa den Gorilla, ins Auge
fassen, werden die Hinsichten reichhaltiger. Wir können dann normative Struktur von
Lebensformen auf der Grundlage von aristotelisch-kategorischen Urteilen in vier Schritten
beschreiben:
1. Wir beschreiben den Lebenszyklus, der beim Gorilla nicht nur (i) Selbsterhaltung und
(ii) Fortpflanzung als Zwecke umfasst, sondern auch (iii) den Genuss der für diese
635
Foot 2001: 30.
281
Wesen charakteristischen Freuden und die Vermeidung der für sie charakteristischen
Leiden sowie (iv) eine charakteristische Ausgestaltung des sozialen Zusammenlebens.636
2. Wir versammeln Beschreibungen, die angeben, wie in einer bestimmten Lebensform
typischerweise Nahrung aufgenommen wird, wie Entwicklung stattfindet, welche Mittel
der Verteidigung zur Verfügung stehen, wie die Fortpflanzung gesichert wird, welche
Verhaltensweisen sich finden, wie der Sozialverband strukturiert ist usw. Diese
Beschreibungen bestehen aus aristotelisch-kategorischen Urteilen. Diese Urteile bilden
zusammen eine Naturgeschichte der Art.
3. Von diesen Urteilen werden Normen abgeleitet, die von einem Gorilla eine bestimmte
Fellfarbe, eine bestimmte Ernährung und ein bestimmtes Sozialverhalten verlangen.
Doch wie wir anhand der Footschen Klärung von Thompsons Position gesehen haben,
muss sich die normative Dimension dieser Urteile auf die vier unter (1) beschriebenen
Zwecke beziehen. Es werden also Merkmale wichtig, die im Leben einer Art eine Rolle
spielen. Die zur Erreichung dieser Zwecke wichtigen Elemente sind Teile (Organe und
Formen) und Äußerungen (Verhaltensweisen und Produkte) von Gorillas sowie deren
kognitiven und konativen Vermögen.
4. Schließlich werden durch die Anwendung dieser Normen auf ein Exemplar der
betreffenden Lebensform Urteile über das Exemplar gefällt. Ein solches Exemplar
kann so sein, wie es sein sollte, oder aber in bestimmten Hinsichten defekt sein.637
Unter den genannten Zwecken ist (iv), die charakteristische Ausgestaltung des sozialen
Zusammenlebens
wichtig,
insbesondere
wenn
das
Zusammenleben
weitgehend
kooperative Züge beinhaltet. Wir können sagen, um wiederum das für die Biosemantik
wichtige Beispiel der Biene aufzunehmen, dass es im Lebenszyklus von Bienen Tätigkeiten
gibt, die nicht in erster Linie im Hinblick auf eine individuelle Biene relevant sind, sondern
im Hinblick auf die Mitglieder ihres Sozialverbands. Foot spricht hier von „fremdnützigen
Qualitäten und Mängeln“ (other-regarding goodnesses and defects) und kommentiert:
„Take, for instance, the dance of the honey bee which tells other bees of a source
of food. No doubt an individual bee that does not dance does not itself suffer
636 Vgl. Hursthouse 1999: 202: „A good social animal (of one of the more sophisticated species) is one that is
well fitted or endowed with respect to (i) its parts, (ii) its operations, (iii) its actions, and (iv) its desires and
emotions; whether it is thus well fitted or endowed is determined by whether these four aspects well serve (1)
its individual survival, (2) the continuance of its species, (3) its characteristic freedom from pain and
characteristic enjoyment, and (4) the good functioning of its social group—in the ways characteristic of the
species.“
637 Vgl. Foot 2001: 33f.
282
from its delinquency, but ipso facto because it does not dance, there is something
wrong with it, because of the part that dancing plays in the life of its species.“638
Die gesuchte Theorie über „natürliche Gutheit“ stellt also auf die Lebensform ab, die das
Maß vorgibt, von dem ein Lebewesen abweichen kann. In diesem Sinne sind
Lebensformen (biologische Arten) spezifische normative Kategorien. Es handelt sich bei
den von spezifischen normativen Kategorien abgeleiteten Normen für individuelle
Lebewesen um Normen, die erklärt werden können „in terms of facts about things
belonging to the natural world“.639
Betrachten wir noch einmal die für eine Lebensform charakteristische Normativität
an einem Beispiel. Dieses Beispiel wird uns eine Schlussregel in die Hand geben. Hier ist
ein naturhistorisches Urteil im Sinne Thompsons:
(1) Die Honigbiene tanzt, um Futterquellen für das Bienenvolk
anzuzeigen.640
Die in (1) genannte Fähigkeit der Honigbiene spielt sowohl eine Rolle im Hinblick auf die
Fortpflanzung als auch auf das Überleben der Bienen. Das Urteil (1) ist also eingebettet in
den erforderlichen teleologischen Rahmen, den wir im dritten Schritt genannt haben. Aus
(1) ergibt sich nun als normative Aussage:
(2) Die Honigbiene muss in der Lage sein, Futterquellen für das Bienenvolk
anzuzeigen.641
Im Hinblick auf eine individuelle Honigbiene können nur natürliche Qualitäten und
Defekte formuliert werden. Aus (2) ergibt sich:
(3) Eine Honigbiene, die Futterquellen nicht anzeigt oder nicht anzuzeigen
in der Lage ist, ist in dieser Hinsicht defekt.
Teleologische Aussagen wie (1) stellen im Rahmen von Urteilen über Lebensformen die
faktische Basis in der Form von Urteilen wie (2) für normative Urteile wie (3) zur
Verfügung. Das „müssen“ in (2) ist deshalb ein normatives Müssen. Natürlich nicht im
Sinne eines Tunsollens, sondern im Sinne eines Seinsollens (3.1.2.).
Gegen die Theorie der natürlichen Gutheit spezifischer normativer Kategorien können
verschiedene Einwände vorgebracht werden. Ich werde in diesem Abschnitt einige
Foot 2001: 35.
Foot 2001: 36f.
640 Foot 2001: 31.
641 Man müsste präzisieren, dass weibliche Honigbienen in einer bestimmten Phase ihres Lebenszyklus diese
Fähigkeit haben und ausüben müssen. Vgl. die auffällige Analogie zu Sellars’ Regeln der Kritik wie z.B.
„Uhrenschlagwerke sollten alle Viertelstunde schlagen“ aus Abschnitt 1.2.6.!
638
639
283
Einwände aufnehmen und zurückweisen. Dabei werde ich mich auf Einwände gegen
Lösung der ersten Aufgabe durch Foot und Hursthouse richten.642 Die erste Aufgabe
besteht darin, eine Theorie für die Bewertung der natürlichen Qualitäten und Defekte eines
Lebewesens zu finden. Dies soll gelingen, wenn die Lebensform das Maß darstellt, vom
dem ein Lebewesen abweichen kann. Eine solche Lebensform ist eine spezifische
normative Kategorie. Hursthouse hat vier Zwecke vorgeschlagen, anhand derer die
Funktion von Merkmalen eines Lebewesens einer Lebensform genauer bewertet werden
kann:
„A good social animal (of one of the more sophisticated species) is one that is well
fitted or endowed with respect to (i) its parts, (ii) its operations, (iii) its actions, and
(iv) its desires and emotions; whether it is thus well fitted or endowed is
determined by whether these four aspects well serve (1) its individual survival, (2)
the continuance of its species, (3) its characteristic freedom from pain and
characteristic enjoyment, and (4) the good functioning of its social group—in the
ways characteristic of the species.“643
Diese Passage fasst die teleologische Struktur für die Bewertung von Merkmalen (Teilen,
Operationen, Verhaltensweisen, Wünschen und Gefühlen) als natürliche Qualitäten und
Defekte eines Lebewesens als Exemplar einer Lebensform im Hinblick auf die genannten
vier Zwecke zusammen. Die Wahrheit solcher Bewertungen ist objektiv, insofern sie nicht
von den Interessen und Einstellungen eines Beobachters abhängt. Hursthouse verweist
darauf, dass sich Beschreibungen, die die aristotelisch-kategorische Basis für solche
Bewertungen abgeben, in Naturwissenschaften wie Botanik, Zoologie, Ethologie usw.
finden und dass es sich deshalb um naturwissenschaftlich gestützte Bewertungen handle.
Nicht anders soll es bei einer naturalistischen Theorie auch sein.
Hier setzt nun ein erster Einwand ein. Warum sollen die Zwecke der
Selbsterhaltung, der Fortpflanzung, der Freuden und Leiden und des Zusammenlebens
gegenüber anderen Zwecken, warum sollten der Beitrag von Teilen, Operationen,
Verhaltensweisen und Wünschen und Gefühlen aber zu diesen Zwecken wissenschaftlich
privilegiert sein? So könnten Biologen doch ein Interesse daran haben, wie Lebewesen in
einem neuen, im Gegensatz zu ihrem historischen Habitat zu Recht kommen, oder
umgekehrt. Oder es könnte Veterinäre geben, die sich für die Gesundheit von Einzeltieren
interessieren und dabei beispielsweise den Alarmrufen eine gesundheitsschädigende Rolle
zuschreiben müssen, weil diese das Risiko für Individuen erhöhen. Schließlich interessieren
Die Einwände stammen in erster Linie von Copp und Sobel 2004. Sie schreiben: „The underlying aim of
both Hursthouse and Foot is to apply the lessons learned in understanding goodness of this kind in the plant
and animal world to goodness in humans. […] Yet we have reservation about the project that arise
independently of worries about the extension of the model to the case of humans.“ (Copp und Sobel 2004:
534). Es handelt sich mithin zunächst um Vorbehalte gegen die Lösung der ersten Aufgabe.
643 Hursthouse 1999: 202.
642
284
sich Evolutionsbiologen doch eher für die Fitness eines Lebewesens, wobei bisweilen das
Überleben des Individuums oder das Gedeihen der Art keine Rolle spielt, im Gegensatz
zum Wohl nahe verwandter Individuen. Man kann, so scheint es, nicht schlechterdings
behaupten, dass die Merkmale und Zwecke einen objektiven Status beanspruchen, wenn
unklar ist, welche der möglichen wissenschaftlichen Hinsichten für die Untersuchung einer
Art relevant sind.644 Die Entgegnungen liegen auf der Hand. Zunächst werden Individuen
als Mitglieder einer Art evaluiert. Deshalb ist beim Alarmruf der Beitrag zum Gedeihen der
Art relevant, nicht der Beitrag zum Überleben des Individuums. Der imaginäre Veterinär
untersucht die gesundheitsschädigende Rolle des Alarmrufs eines Individuums nicht qua
Zugehörigkeit dieses Individuums zu einer Art, sondern nur im Hinblick auf das
Individuum. Doch die zweite These von Thompsons Position lautet, dass individuelle
Lebewesen stets als Exemplare einer bestimmten Lebensform betrachtet werden müssen.
Zweitens ist innerhalb der Evolutionstheorie gerade dies die relevante Perspektive, um die
Funktion altruistischen Verhaltens oder des Verzichts auf Reproduktion von Individuen als
Mitglieder einer Lebensform festzustellen. Gehört es zu einer Lebensform, dass die
Mitglieder in stabilen sozialen Gruppen leben und darin nahe Verwandte privilegieren,
dann erscheinen Merkmale als sinnvoll, die einen Beitrag zum Gedeihen der Gruppe oder
der Sippe leisten. Wir haben bereits gesehen, dass Echte Funktionen Fitness-Komponenten
eines Merkmals sind, die Komponenten der Fitness von Vorfahren waren (3.2.4.). Es sind
deshalb die historischen Aspekte des Gedeihens einer Art, die relevant für die Bewertung
von Merkmalen von Individuen als Mitglieder dieser Art im Hinblick auf die genannten
Zwecke sind.645 Beliebige Forschungsinteressen (wie jene des imaginären Veterinärs),
beliebige
neue
Habitate
oder
von
Lebensformen
losgelöste
Fragen
nach
Fitnesskomponenten geben im Gegensatz zu einer historischen, auf die jeweilige
Lebensform gerichteten Perspektive, keine objektiven Hinsichten ab.
Kommen wir zu einem zweiten Einwand. Warum sollte für Lebewesen die
Lebensform das normative Maß sein? Warum sollte die Art die relevante Hinsicht für die
Bewertung von Individuen sein, und nicht entweder eine kleinere Einheit (Herde oder
Population) oder eine größere Einheit (Genus oder Klasse)? David Copp und David Sobel
vermuten, dass die naturalistische Tugendethik die Art als Maß wählt, um der Intuition der
Universalisierbarkeit von moralischen Werten gerecht zu werden, die für Moraltheorien
Copp und Sobel 2004: 534ff.
Denken wir an das Beispiel der Sozioökologie aus Abschnitt 2.4.4. zurück. Wir haben gesehen, dass man
die Fragen nach dem geleisteten historischen Beitrag eines Merkmals zur Fitness (Adaptation) und dem
wahrscheinlichen aktuellen Beitrag (adaptives Merkmal) methodisch unterscheiden kann. Nun hängen
Adaptationen und adaptive Merkmale zusammen. Es besteht kein Gegensatz zwischen Adaptationen (den
„evolved survival, mating, and rearing strategies“) und adaptiven Merkmalen („the consequence that the trait
has for an individual’s ability to survive, or to mate, or to rear healthy offspring“).
644
645
285
unerlässlich scheint. Das wäre natürlich problematisch für die Tugendethik, weil so die
Lösung der ersten Aufgabe durch Anforderungen an die zweite Aufgabe diktiert würde.646
Doch es gibt davon unabhängige Gründe, die Art als Maß zu wählen. Betrachten wir zuerst
die kleineren Einheiten, nämlich Herde (oder analoge Bezeichnungen) und Population.
Zunächst gehört es zu Lebewesen als Mitgliedern einer Lebensform, dass sie in Herden
leben oder nicht. Ob das Leben in einer Herde relevant ist oder nicht und auf welche
Weise dies relevant ist, hängt davon ab, zu welcher Lebensform ein Individuum gehört. Ein
Zwergflusspferd ist kein asoziales Flusspferd, sondern gehört zu einer solitären
Lebensform. Ein Bonobo in einer Schimpansengruppe ist kein asoziales Individuum,
sondern ein Individuum, das in der Gruppe einer Lebensform lebt, zu der es nicht gehört.
(Tatsächlich wurden die eher umgänglichen Bonobos vor der Entdeckung, dass es sich um
eine eigene Art handelt, zu deren Nachteil in Zoos mit den eher gehässigen Schimpansen
zusammen gehalten.) Die Bildung von kleineren Einheiten gehört zur Art und Weise wie
Mitglieder einer Lebensform leben oder gedeihen. Pavianweibchen etwa leben in großen
Gruppen, die aus hierarchisch und relativ stabilen Verwandtschaftsgruppen bestehen,
deren Mitglieder bisweilen Männchen zur Fortpflanzung und zum Schutz ihres
Nachwuchses vor Infantizid rekrutieren. Demgegenüber gehört es zu den artspezifischen
Eigenheiten keiner Lebensform, dass sie in Populationen lebt oder nicht. Populationen
bestehen einfach aus potenziell sich kreuzenden Individuen einer Art in einem bestimmten
Gebiet.647 Populationen werden also wiederum im Hinblick auf Arten bestimmt. Bei
kleineren Einheiten lautet die Antwort auf die Frage, warum Lebewesen natürliche
Qualitäten oder Defekte denn nicht einfach als Mitglieder einer Gruppe oder einer
Population haben, dass gute oder schlechte Mitglieder einer Gruppe oder Population gute
oder schlechte Mitglieder im Hinblick auf die Art sind, zu der sie gehören.
Wie steht es mit größeren Einheiten? Wir haben bereits gesehen, dass Merkmale
mit Echten Funktionen tatsächlich ohne Rücksichtnahme auf die Art bestimmt werden
können. Wir können sagen, was ein gutes Auge für die Klasse der Vögel (Aves), für die
Ordnung der Greifvögel (Falconiformes), für die Familie der Habichtartigen (Accipitridae) oder
für Steinadler (Aquila chrysaetos) ist. Dabei müssen wir bedenken, dass die Echten
Funktionen biologischer Merkmale letztlich in ihrem Überlebenswert für eine Art bestehen.
Die letztlich relevante REF für die Bestimmung der Echten Funktion eines biologischen
Merkmals ist die Art. Denn Merkmale müssen bestimmte Wirkungen haben, die die Fitness
ihrer Träger gegenüber Alternativen erhöht. Lebewesen ohne das in Frage stehende
Copp und Sobel 2004: 537.
Vgl. Mayr 2001: 84. Allerdings können beispielsweise auch Gruppen als Elemente betrachtet werden, die
eine Population bilden (vgl. Sterelny und Griffthis 1999: 41), doch das spielt hier keine Rolle.
646
647
286
Merkmal stellen nur eine Alternative dar, wenn sie zur selben Art gehören. Und der Beitrag
zur Fitness muss wiederum im Rahmen der Art gesehen werden, weil Lebewesen sich als
Mitglieder einer Art reproduzieren, weil sie ja mehr Lebewesen derselben, nicht einer
beliebigen Art hervorbringen. Auch im Falle von Lebewesen ist die Art der Bezugsrahmen.
Für Lebewesen ist die Art der relevante Bezugsrahmen aufgrund der Objektivität, die dem
Art-Taxon zukommt. Die Art ist keine beliebige biologische Einheit. Zu den großen
Themen der Evolutionstheorie gehören die Entstehung, die Erhaltung und das Aussterben
von Arten. Die Art ist deshalb die grundlegende Einheit der Evolution. Innerhalb einer Art
werden Gene weitergegeben, innerhalb einer Art wird ein biologisches Merkmal aufgrund
seiner adaptiven Leistungen häufiger. Die generationenweise Vererbung von Merkmalen
verlangt eine kausale Relation zwischen Mitgliedern einer Art. Solche Kausalverbindungen
finden sich nur zwischen raumzeitlich verbundenen Entitäten. Also muss es sich bei Arten
um raumzeitlich verbundene Entitäten handeln. Eine solche Entität kann nun ontologisch
als Individuum aufgefasst werden.
Für die Auffassung, dass biologische Arten für die Evolutionstheorie Individuen
sein müssen, haben vor gut dreißig Jahren Michael Ghiselin und David Hull argumentiert.
Zahlreiche Autoren sind ihnen darin gefolgt. Ich werde ihnen darin auch folgen. Ghiselin
und Hull kontrastieren das Individuum als ontologische Kategorie mit der Klasse oder
Menge. Mengen sind abstrakte Entitäten, die aus homogenen, nicht-kohäsiven Elementen
bestehen, Individuen hingegen sind konkrete Entitäten, die aus heterogenen, kohäsiven
Teilen bestehen. Ghiselin und Hull zufolge können nur Individuen als raumzeitliche
Akteure auftreten, nicht jedoch Klassen und Mengen. Biologische Arten müssen jedoch in
der Evolutionstheorie als Akteure betrachtet werden, und zwar in dem Sinne, dass sie
entstehen, sich entwickeln und verschwinden. Wären Arten keine Individuen, könnten sie
nicht evolvieren, da sie jedoch evolvieren, müssen sie Individuen sein.648 Arten können
648 Ghiselin 1987: 129: „If species were not individuals, they could not evolve, indeed they could not do
anything whatever.“ Für die Analogie zwischen biologischen Arten und Individuum kann auch außerhalb
dessen, was die Evolutionsbiologie braucht, argumentiert werden. Betrachten wir die folgenden sieben
Charakteristika von materiellen Dingen wie Steinen oder Hüten: (i) Sie sind konkret und einzeln. (ii) Sie sind
den Sinnen zugänglich. (iii) Sie sind räumlich lokalisierbar, d.h. sie füllen zu jedem Zeitpunkt ihrer Existenz
eine ganz bestimmte Portion des Raumes aus und sind somit objektiv lokalisierbar. (iv) Sie sind zeitlich
lokalisierbar, d.h. sie fangen zu einem Zeitpunkt zu existieren an und hören zu einem bestimmten Zeitpunkt
zu existieren auf. (v) Sie sind partikulär, d.h. sie exemplifizieren verschiedene Eigenschaften, sie selbst aber
können nicht von etwas anderem exemplifiziert werden. (vi) Sie verändern sich, d.h. zu unterschiedlichen
Zeitpunkten ihrer Existenz können Gegenstände unterschiedliche Eigenschaften aufweisen. (vii) Sie
existieren nur kontingenterweise, d.h. die Nicht-Existenz eines jeden Dinges ist möglich. Die Charakteristika
(iii) bis (vii) treffen ohne Weiteres auf biologische Arten zu: Berggorillas leben in Ostafrika, sie entstanden vor
X Jahren und sie werden voraussichtlich einmal aussterben. Gorillas sind schwarz, warmblütig, selten, groß
usw., aber kein Ding ist (außer in einem metaphorischen Sinne) „gorillamäßig“. Der Berggorilla hat sich im
Laufe seiner Entwicklung verändert. Und natürlich existieren Gorillas nicht notwendig. Wie steht es mit den
Charakteristika (i) und (ii)? Nun, wir betrachten nicht nur kompakte sinnliche Einzeldinge als Individuen,
sondern auch historisch-kollektive Entitäten wie Fußballmannschaften. Fußballmannschaften haben Teile, die
287
somit als raumzeitliche Individuen betrachtet werden. Doch durch die Bestimmung der
ontologischen Kategorien ist noch wenig über biologische Arten gesagt. Deren Teile
müssen kausal verbunden und kohäsiv sein. Achten wir nun auf diesen Aspekt, so können
wir den individualistischen Artbegriff präzisieren. Hull zufolge sind die relevanten
Einheiten der Evolution nicht Organismen, die durch Ähnlichkeiten zu Klassen gruppiert
werden, sondern genealogische Linien, die durch Reproduktionsprozesse gebildet
werden.649 Die Mitglieder einer Art sind Bestandteile einer phylogenetischen genealogischen
Linie zwischen zwei permanenten Artaufspaltungen oder zwischen einer permanenten
Aufspaltung und dem Aussterben einer Art.650 Die Kohäsion einer solchen historischen
Linie wird durch die Abstammung zwischen ihren Teilen gegeben, und innerhalb einer
Population oder zwischen Populationen dadurch, dass sie zu demselben Genpool
beitragen. Sie wird andererseits aber auch dadurch gegeben, dass eine Art eine
genealogische Linie ist, die eine eigene ökologische Nische besetzt. Dadurch werden
Mitglieder einer Art nämlich einer bestimmten Menge von Selektionsdrücken ausgesetzt.
Eine Art ist also ein Individuum, dessen Teile Lebewesen sind, die sich untereinander
fortpflanzen können und dieselbe Nische besetzen. Zusammenfassend kann man sagen,
dass eine Art (i) ein raumzeitliches Individuum ist, (ii) dessen Teile eine phylogenetische
genealogische Linie bilden, und (iii) diese Teile stammen voneinander ab, teilen einen
Genpool und besetzen eine ökologische Nische.651 Arten sind mithin nichts anderes als
REFs. Die Teile oder Mitglieder von Arten teilen aufgrund ihrer Verwandtschaft und
aufgrund des ökologischen Selektionsdrucks reproduktive etablierte Eigenschaften, und
bilden somit eine Reproduktive Etablierte Familie erster Ordnung (1.1.4.). Klassen oder
Mengen sind keine solchen Familien. Ihnen kommt als abstrakten, nicht-raumzeitlichen,
nicht-kohäsiven, nicht kausal verbundenen Entitäten nicht derselbe Grad von materieller
Realität zu wie Individuen. Arten gehören zu derselben ontologischen Kategorie wie
Einzellebewesen, nämlich der des raumzeitlichen Individuums.652 Ihnen kommt deshalb
derselbe Grad an materieller Realität zu wie Lebewesen.
wiederum als Einzeldinge betrachtet werden können, doch zusammen bilden sie ein konkretes Einzelding.
Ein Einzelding wie eine Fußballmannschaft braucht den Sinnen nicht in gleicher Weise zugänglich zu sein
wie ein Hut oder wie ein Stein.
649 Vgl. Hull 1978.
650 Zum phylogenetischen Artkonzept vgl. Ridley 1989.
651 Punkt (ii) liefert das „grouping criterion“: Arten sind Individuen als monophyletische Linien von
Organismen. Punkt (iii) liefert „ranking criterions“: Diese Linien werden durch Prozesse wie tatsächliche
Fortpflanzung und durch die Einheit der Nische erzeugt und erhalten. Man mag einwenden, dass dies
Lebewesen, die sich nicht sexuell fortpflanzen, ausschließt. Das mag sein. Doch im Moment spielt dies keine
Rolle, denn ich brauche einen Artbegriff für „the more sophisticated species“.
652 Arten sind auf eine vergleichbare Art kohäsiv wie es Individuen sind. Löst man etwa die Organisation der
Zellen eines Organismus auf, so ist der Organismus zerstört, auch wenn die einzelnen Zellen nicht beschädigt
werden. Aber ebenso zerstört man die Art, wenn man die einzelnen Individuen einer Art isoliert. Vgl. auch
288
Ich meine, dass wir nun eine ausreichende Antwort auf die Frage in der Hand
haben, warum die Art das relevante normative Maß für die Bewertung von Lebewesen sein
soll. Erstens sind Arten jene Kategorie, die die Evolutionstheorie grundlegend braucht, und
zweitens garantiert die Art einen Grad an Objektivität und Beobachterunabhängigkeit, den
die Theorie natürlicher Normen erreichen möchte. Im Vergleich zum Art-Taxon können
größere Einheiten wie Familie, Klasse oder Ordnung getrost als beobachterrelative Klassen
betrachtet werden. Relevant sind evolutionsbiologisch ontologisch und explanatorisch
Arten.653 Der Grund dafür, Lebewesen im Hinblick auf Lebensformen zu bewerten, ist also
nicht willkürlich oder unlauter durch einen Vorgriff auf moralische Intuitionen der
Universalisierbarkeit.654
3.3.2. Aristotelische Lebensformen als biologische Arten
Als naturalistische Theorie muss sich die Tugendethik die Frage stellen, wie ihr Verständnis
der Lebensform eines Wesens, auch jene des Menschen, in der Natur, wie sie die
Naturwissenschaften versteht, lokalisiert werden kann. Wir haben bereits gesehen, dass die
Theorie natürlicher Normen, wie sie Foot im Anschluss an Thompson entwickelt, gegen
Einwände gedeckt werden kann, indem man auf die Evolutionstheorie zurückgreift. Wir
haben gesehen, dass sich die naturalistische Tugendethik und die Biosemantik sowohl im
Hinblick auf die Auffassung normativer Kategorien als auch im Hinblick auf die
Ausbildung von Überzeugungen und Wünschen aufgrund biologischer Vermögen
theoretisch ergänzen. Die Biosemantik behauptet, dass mentale Fähigkeiten von Menschen
Brogaard 2004: 228: „Most species taxa can withstand some disruption of their population structure but some
cannot. Conversely, most organisms cannot continue to exist if their internal structure were moderately
changed; but other organisms can withstand some tearing apart. But notice that these may be differences of
degree, not of kind.“
653 Die darwinistisch motivierte Fokussierung auf die Art als normatives Maß verhindert z.B. auch die
Zuschreibung von Defekten, wie wir sie bei Aristoteles finden. So ist Aristoteles der Ansicht, der Hummer sei
ein defektes Wesen, weil er zwar Scheren habe, wie andere Arten seines Genus auch, diese aber nicht brauche
um zuzupacken, sondern um sich fortzubewegen. Das Zupacken jedoch sei der natürliche Gebrauch der
Scheren (De partes animalium 4.8 684a 32). Robben wiederum gehören zu den lebend gebärenden Wesen, und
diese verfügen normalerweise über äußere Ohren. Die Robbe sei ein defektes Wesen, weil sie keine solchen
Ohren habe (De partes animalium 2.12. 657a22-24); vgl. dazu auch Granger 1987.
654 Copp und Sobel 2004: 536f. erheben noch einen eher schwachen Einwand: Warum sollen nur arttypische
Merkmale eines Lebewesens gute Qualitäten sein können? Man könnte sich doch vorstellen, dass neue oder
rare Merkmale eine Qualität darstellen. Wären außerordentliche Geschwindigkeit oder ungewöhnliche Härte
des Gehäuses keine Vorteile für eine Schnecke? Warum nicht? Die Theorie der natürlichen Normen
behauptet primär, dass ein Lebewesen einen Defekt hat, wenn ihm ein für seine Lebensform typisches
Merkmal fehlt, das für die Erreichung der vier Zwecke, die das Gediehen der Art fördern, relevant ist. Dies
schließt nicht aus, dass ungewöhnlich gut ausgebildete Merkmale, wie die Härte des Gehäuses, eine natürliche
Qualität sein können. Warum sollten nicht auch neue Merkmale einen Beitrag zur Erreichung der vier
Zwecke leisten? Man muss nur bedenken, dass es sich zwar um adaptive Merkmale, nicht aber um
Adaptationen handelt.
289
zu ihnen als einer durch die natürliche Selektion entstandenen Lebensform oder
biologischen Spezies gehören. Behaupten die Vertreterinnen und Vertreter des ethischen
Naturalismus dasselbe? Nein. Sie scheinen eine Verankerung in der Biologie abzulehnen,
weil die in der Form von aristotelisch-kategorischen Urteilen beschriebenen Lebensformen
alle relevanten Tatsachen enthalten und deswegen eine weitere Verankerung überflüssig ist.
Foot ist der Meinung, dass ihre Verwendung von Ausdrücken wie „Zweck“, „Funktion“
oder „Rolle“ einem alltäglichen Sinn dieser Auffassungen entsprechen, nicht dem
technischen Sinn der Evolutionsbiologie.655 Und Hursthouse kontrastiert ihre aristotelische
Auffassung explizit mit einer darwinistischen.656 Aber natürlich können sie beide nicht
abstreiten, dass naturgeschichtliche Urteile auf biologischen Fakten beruhen.657
Welche Gründe werden gegen die Auffassung angeführt, eine Lebensform als
biologische Spezies im Sinne der Evolutionstheorie zu verstehen? Im Folgenden werde ich
drei Überlegungen verwerfen, die zeigen sollen, dass Lebensformen aristotelische zeitlose
Klassen sein sollen, nicht aber darwinistische historische REFs. Der ersten Überlegung
zufolge sei der Begriff der Lebensform kein empirischer Begriff, der zweiten Überlegung
zufolge sei der Begriff der Lebensform nicht historisch, und der dritten Überlegung zufolge
müsse zwischen der Funktion eines Merkmals innerhalb einer Lebensform und einer
Adaptation strikt unterschieden werden.
1. Ich habe in Abschnitt 3.3.1. drei Thesen in Thompsons Position unterschieden:
Erstens die These, der zufolge etwas nur dann ein Lebewesen ist, wenn es Teil einer
Lebensform ist, zweitens die These, dass die Zugehörigkeit zu einer Lebensform
Lebewesen einem normativen Standard unterstellen, und drittens die These, dass es
sich bei dem Begriff der Lebensform um einen nicht-empirischen Begriff handle. Der
dritten These liegt die folgende nicht stichhaltige Überlegung zugrunde: Damit die
Biologie Lebewesen empirisch untersuchen und über Lebewesen empirische
Entdeckungen machen kann, muss sie Lebewesen identifizieren können. Doch wenn
wir etwas als Lebewesen identifizieren können, können wir nicht empirisch entdecken,
dass es sich um ein Lebewesen handelt, denn dies haben wir bereits vorausgesetzt. Der
Foot 2001: 32 n10, 40 n1.
Hursthouse 1999: 257. Kitcher 2006: 164f. wirft Foot und Hursthouse denn auch vor, dass sie auf einer
aristotelischen Auffassung über Lebensformen beruhe, die von Darwin zurückgewiesen worden sei (vgl. auch
Kitcher 1999 und die Replik von Byron 2000). Ich werde in diesem Abschnitt aber zu zeigen versuchen, dass
die Auffassung, die der naturalistischen Tugendethik zugrunde liegt, einer darwinistischen Auffassung von
Arten nicht entgegen zu stehen braucht. Kitchers Artbegriff (vgl. Kitcher 2003: V-VI), demzufolge Arten
Mengen ohne Essenzen sind, weicht von dem hier vertretenen individualistischen und historischessenzialistischen Artbegriff ab.
657 Hursthouse 1999: 202, 229; Foot 2001: 92.
655
656
290
Begriff des Lebewesens, mit dem wir Entitäten und Prozesse als Lebewesen oder
Leben identifizieren, ist deshalb kein empirischer Begriff. Auf ähnliche Weise kann
man im Hinblick auf Kriterien für Lebewesen argumentieren. Lebewesen werden z.B.
durch Stoffwechsel charakterisiert. Dass und wie Lebewesen stoffwechseln ist eine
empirische Entdeckung. Aber wir müssen Lebewesen bereits aufgrund anderer
Kriterien identifiziert haben, bevor wir die empirische Entdeckung machen, dass
Lebewesen stoffwechseln. Die Kriterien, anhand derer wir Entitäten und Prozesse als
Lebewesen oder als Leben identifizieren, sind deshalb keine empirischen Kriterien.
Nun ist es richtig zu sagen, dass der biologischen Forschung kein ausgereifter Begriff
des Lebens und des Lebewesens zugrunde liegt. Man findet vage Bestimmung, wie
etwa, dass das Leben ein Prozess sei, der Stoffwechsel und Reproduktion involviere
usw.658 Es scheint allerdings für die biologische Forschung auch gar keine
Notwendigkeit zu bestehen, einen solchen Begriff zu etablieren. Die Biologie erforscht
die Entstehung und die Entwicklung des Lebens und der Lebewesen, es gehört nicht
zu ihren Aufgaben Definitionen von Leben und Lebewesen zu geben. Vielmehr geht
sie von einem lebensweltlichen Vorbegriff von „Leben“ und „Lebewesen“ aus und
findet über das Leben und über Lebewesen etwas heraus. Natürlich ist es dazu
erforderlich, dass man imstande ist, Lebewesen und Lebensprozesse vorgängig zu
identifizieren, dazu dient der lebensweltliche Vorbegriff. Mit Sicherheit gehört es zu
diesem Vorbegriff (auch wenn man im Hinblick auf Pflanzen und Pilze wird Abstriche
machen müssen), dass Lebewesen gezeugt werden, dass sie wachsen, sich entwickeln,
sich ernähren, reagieren, sich verhalten, verletzt werden und sterben. Dieser Vorbegriff
setzt nicht voraus, dass wir in einem naturwissenschaftlichen Sinne wissen, was Leben
ist, ebenso wenig wie der Vorbegriff von Luft, Gold oder Wasser voraussetzt, dass wir
über die chemische Beschaffenheit dieser Stoffe Bescheid wissen. Man kann mithilfe
solcher Vorbegriffe unterschiedliche Dinge ungeschieden zusammenwerfen, die nach
genauerer Untersuchung getrennt werden müssen. Ebenso können die Vorbegriffe sich
als falsch herausstellen, weil sie kriterial zu eng sind und lediglich einen Teilaspekt
herauspicken. Schließlich kann ein Vorbegriff selbst aufgrund von Entdeckungen, die
über den durch ihn bezeichneten Gegenstandsbereich gemacht werden, modifiziert,
angereichert, völlig verändert oder entsorgt werden. Aus diesen Überlegungen ergibt
sich folgendes Bild: Vorbegriffe identifizieren Entitäten und Prozesse auf empirische
Weise und wissenschaftliche Entdeckungen sind empirischer Natur. Vorbegriffe und
wissenschaftliche Entdeckungen sind nicht voneinander getrennt, sondern aufeinander
658
Stearns und Hoekstra 2005: 524.
291
angewiesen und beeinflussen sich gegenseitig. Es gibt also weder Grund zu der
Annahme, dass Vorbegriffe für Leben und Lebewesen nicht empirisch sein müssten,
noch gibt es Grund zu der Annahme, dass diese Vorbegriffe gegenüber
wissenschaftlichen Entdeckungen des von ihnen bezeichneten Gegenstandsbereichs
immun sind. Im Gegenteil erscheint die Annahme plausibler, dass die Vorbegriffe für
Leben auf vortheoretischen empirischen Verallgemeinerungen beruhen und dass diese
vortheoretischen
Verallgemeinerungen
durch
wissenschaftliche
Entdeckungen
modifiziert, angereichert oder gar völlig verändert werden.
2. Foot und Thompson bestehen darauf, dass ihre Auffassung natürlicher Normen nichtdarwinistisch ist, und sie versuchen funktionale normative Kategorien den spezifischen
normativen Kategorien unterzuordnen. Funktionen müssen nämlich in naturhistorische
Beschreibung integriert werden, sie sind stets relativ zu einer Art oder Lebensform:
„Natural teleological judgments may thus be said to organize the elements of a natural
history; they articulate the relations of dependence among the various elements and
aspects of a given kind of life.“659 Somit wären spezifische und funktionale normative
Kategorien integriert, wobei den spezifischen normativen Kategorien (den
naturhistorischen Urteilen) der Vorrang vor den funktionalen normativen Kategorien
(den teleologischen Urteilen) gebührt. Doch diese Unterordnung funktionaler unter
spezifische normative Kategorien kann nicht gelingen. Erstens sind funktionale
Aussagen über biologische Merkmale nicht auf deren Unterordnung unter
speziesspezifische Naturgeschichten angewiesen. Funktionale biologische Vorgänge,
wie Verdauen oder Sehen, funktionale biologische Entitäten wie Magen oder Auge,
sind nicht allein speziesbezogen beschreibbar und bewertbar. Was ein Auge ist, was ein
gutes Auge ist, kann unabhängig davon, welche Rolle das Eulenauge im Leben der
Schleiereule oder ein Katzenauge im Leben der Hauskatze spielt, beschrieben werden,
und zwar durch die Angabe der Funktion des Organs. Diese wiederum ergibt sich aus
der Evolution des Auges (3.2.4.). Weiter überschätzt Thompson die drei (in Abschnitt
3.3.1. genannten) Merkmale der naturgeschichtlichen Urteilsform. Auch funktionale
Normen haben ein hohes Maß an Generalität, Atemporalität und Singularität in der
Beschreibung. So ist der Bienenstachel zum Stechen da, auch wenn die meisten Bienen
das niemals tun. Dasselbe kann im Falle von Hornissen und Wespen auch gesagt
werden. Biologische Homologien und Analogien haben Funktionen unabhängig von
bestimmten Lebensformen. Der Grund dafür, dass solche funktionalen Merkmale eine
Norm angeben können, liegt nicht in ihrer Einbettung in die Beschreibung einer
659
Thompson 2008: 78.
292
spezifischen Lebensform, sondern in der evolutionären Geschichte des Merkmals,
seiner Zugehörigkeit zu einer REF. Nun sind aber nicht nur biologische Funktionen
(biologische funktionale normative Kategorien), sondern auch alle Beschreibungen von
Lebensformen (spezifische normative Kategorien) implizit auf diesen historischen
Bezug angelegt. Nichts an der Form aristotelisch-kategorischen Aussagen verweist auf
das, was Elisabeth Anscombe als „Aristotelische Notwendigkeiten“ bezeichnet hat.
Eine Aristotelische Notwendigkeit ist etwas, das notwendig ist, insofern und weil davon
etwas Gutes für eine Art abhängt: Wölfe müssen in Rudeln jagen, Eichen müssen Wurzeln
schlagen, Katzen müssen ihren Jungen das Töten beibringen, Menschen müssen sich
darauf verlassen können, dass andere Dinge tun, ohne gezwungen zu werden usw.
Aristotelische Notwendigkeiten sind auf das Gedeihen und Gelingen einer Lebensform
gerichtet. Aristotelisch-kategorische Aussagen sind für sich genommen auch über eine
Lebensform als misslingende denkbar. Die meisten Wasserfrösche werden vor
Erreichung der Geschlechtsreife gefressen, als Kaulquappen und als Fröschchen. Der
Satz „Wasserfrösche sterben vor Erreichung der Geschlechtsreife“ ist ein möglicher
Satz einer pessimistischen Naturgeschichte des Wasserfrosches. Manche Wasserfrösche
können nicht quaken, weil ihre Quakblasen verzogen sind, andere können sich nicht
fortpflanzen, weil sie defekte Geschlechtsorgane haben usw. Daraus lassen sich
aristotelisch-kategorischen Aussagen bilden, die atemporal, generell und singulär sind,
und es ergeben sich entsprechende Normen: Defekte Frösche erleben die
Geschlechtsreife, Kranke Frösche haben funktionstüchtige Geschlechtsorgane, und
abnormale Frösche können quaken. Aber das ist natürlich absurd, denn wir beurteilen
diese Dinge aufgrund ihres Gelingens, nicht ihres Misslingens. Gelingendes Leben auf
einer rein biologischen Stufe zeichnet sich durch Überleben, Reproduktion und
Gedeihen aus. Den zur Zeit vorhandenen Lebensformen ist genau dies gelungen. Ein
gelingendes Leben für eine biologische Lebensform kommt also nicht ohne Bezug auf
den historischen Prozess aus, der ihr Überleben, ihre Reproduktion und ihr Gedeihen
erlaubt.660 Deshalb sind die spärlichen Kommentare von Thompson und Foot gegen
Darwins Rückwärtsblick unzutreffend, wenn etwa Thompson über seine gleichsam
atemporalen naturgeschichtlichen Beschreibungen meint: „The bare description of this
sort of order has nothing to do with natural selection either; these propositions are in
no senses hypotheses about the past“.661 Aber das trifft nicht zu. Die gleichsam
660 Dies gilt sogar für eine ausgestorbene Lebensform (wie die Dinosaurier). Die Dinosaurier, deren
Lebensform wir beschreiben können, sind jene, denen es bis zu einem gewissen Zeitpunkt gelungen ist, eine
Lebensform zu bilden.
661 Thompson 2008: 79.
293
atemporalen naturgeschichtlichen Beschreibungen kommen ohne impliziten Bezug auf
die Vergangenheit nicht aus, wenn sie eine gelingende Lebensform beschreiben sollen.
Darüber hinaus sind Beschreibungen von Lebensformen immer Beschreibungen von
Wesen mit Vorfahren. Gerade der Umstand, dass ein Lebewesen nur als Lebewesen
gesehen werden kann, wie Thompson behauptet, wenn es als Teil einer bestimmten
Lebensform betrachtet wird, ordnet es in einen historischen Zusammenhang ein.
Aristotelisch-kategorischen Urteile müssen als natur-geschichtliche Urteile gelten.
3. Bei Foot findet sich eine ähnliche Überlegung. Sie rekapituliert die teleologische
Stoßrichtung ihrer Auffassung, indem sie sagt, dass Fragen danach, warum ein Wesen
ein bestimmtes Merkmal habe, befriedigend durch eine Verortung dieses Merkmals
innerhalb der Lebensform, der das Wesen angehört, beantwortet werden kann. Sie
verweist ausdrücklich darauf, dass sie eine solche Frage nicht als historische Frage
verstehe wie Millikan LTOBC. Dabei zitiert sie David Wiggins Äußerung, dass es in der
Ethik darauf ankomme, was die Moral geworden sei, nicht wie sie entstanden sei.662
Schließlich sei es unabdingbar, die Funktion eines Merkmals innerhalb einer
Lebensform von einer Adaptation zu unterscheiden. Adaptationen verorte man in der
Geschichte eines Lebewesens, Funktionen hingegen würden sich auf die Rolle im
Leben der Individuen einer Lebensform beziehen.663 Hier werden unterschiedliche
Dinge auf unterschiedlichen Ebenen durcheinander geworfen. Es kann (erstens)
hinsichtlich der Frage, ob die Frage, was ein biologisches Merkmal für ein Lebewesen
leistet, historisch zu verstehen sei oder nicht, keine Rolle spielen, was den
Moralphilosophen interessiert. Die Theorie natürlicher Normen soll ja die erste
Footsche Aufgabe lösen, nicht die zweite. Darüber hinaus berücksichtigt die Theorie
der Echten Funktion nicht nur die „tiefe“ Vergangenheit eines Merkmals, sondern
auch die rezente Vergangenheit und die proximale Selektion, wie wir im Zuge der
Diskussion der Standardsicht über funktionale normative Kategorien gesehen haben
(3.2.4.). Auch im Hinblick auf moralische Normen ist die Perspektive der
Evolutionstheorie ja nicht darauf eingeschränkt, darauf zu blicken, wie diese Normen
entstanden sind, es kann auch in den Blick genommen werden, warum sie sich erhalten
haben und erhalten.664 Wir haben (zweitens) gesehen, dass die Funktionen von
biologischen Merkmalen nicht allein im Hinblick auf deren Funktion innerhalb einer
bestimmten Lebensform betrachtet werden können, und wir haben (drittens)
festgehalten, dass Urteile über Lebensformen implizit auf die historischen
Foot 2001: 40 n1.
Foot 2001: 32 n10.
664 Vgl. Nichols 2002. Vgl. auch die auf Millikans Biosemantik gestützte These von Harms 2000.
662
663
294
Komponenten des gelingenden Überlebens Bezug nehmen. Schließlich ist (viertens)
nicht ersichtlich, wie Foot den Problemen für Funktionsbeschreibungen entgegentreten
will, die lediglich auf die funktionale Rolle eines Merkmals innerhalb eines Systems
abstellt. Wir haben diese Theorien bereits kritisiert (1.1.4., 1.2.6., 3.2.1.-3.2.4.) und
gesehen, dass nur eine historisch-teleologische Theorie diese Probleme zu lösen
vermag. Gerade die Theorie der Echten Funktionen beantwortet Fragen danach, warum
ein Wesen ein bestimmtes Merkmal hat. Dass ein Lebewesen bestimmte Merkmale hat
und dass diese Merkmale bestimmte Aufgabe erfüllen sollen, wird erklärt durch die
Geschichte sowohl der biologischen Art, zu der das Lebewesen gehört, als auch durch
die Geschichte dieser Merkmale. Es reicht deshalb nicht aus, wie Foot suggeriert,
einfach terminologisch zwischen „Funktion“ und „Adaptation“ zu unterscheiden.
Innerhalb eines naturalistischen Bildes müssen die biologischen Funktionen von
Merkmalen befriedigend erklärt werden können. Eine solche Erklärung liefert Darwins
Evolutionstheorie.
Da weder die besonderen Merkmale der aristotelisch-kategorischen Urteile, noch der Bezug
auf atemporale Lebensformen für eine strikte Entgegensetzung eines aristotelischen
Verständnisses und eines darwinistischen Verständnisses der Lebensform als natürlicher
normativer Kategorie (und dies ist es ja, was uns vorrangig interessiert) sprechen, stellt sich
die Frage, warum die Vertreterinnen der naturalistischen Tugendethik so erpicht darauf
sind, sich von der Evolutionstheorie abzugrenzen. Dafür gibt es zwei Gründe. Der erste
Grund wird von Thompson in einem Manuskript unverblümt genannt: „The core of all
these objections [against Foot’s theory], to put the matter crudely, is that any such naturalism
will express a sort of reductive empiricism perhaps coupled with an alarming and idiotic
moral conservatism.“665 Ich bin auf diese Art von Zweifeln bereits eingegangen und
behandle sie nicht weiter.
Der zweite Grund scheint in der Ansicht zu bestehen, dass eine darwinistische
Auffassung von Lebensformen nicht dazu imstande ist, einer Lebensform so etwas wie ein
Wesen oder eine Essenz zuzuschreiben.666 Wie wir gesehen haben, können Arten mit guten
Gründen als Individuen betrachtet werden.667 Allerdings haben die Pioniere dieser
Michael Thompson, „Forms of Nature: First, Second, Living, Rational, Phronetic“ (Mss. Juli 2009: 2).
Zumindest kann man die kryptischen Bemerkungen von Foot 2001: 32 n10 über Dawkins so verstehen.
667 Foot 2001: 32 n10 beispielsweise spielt kurz auf diese Auffassung an, doch augenscheinlich ohne sie zu
verstehen, und vermengt sie mit einer sehr gleichsam kosmologischen Form der Teleologie: Im Kontext der
Evolutionstheorie „it is supposed to make sense to speak of the good of a species, as if a species were itself a
gradually developing, one-off going organism, whose life might stretch for millions of years. Perhaps the
extinction of a species is imagined a kind of death, and therefore as if it were an evil…“ Foot hat durchaus
Recht, wenn sie der Evolutionstheorie diese Vorstellung unterstellt. Allerdings geht es nicht um Fantasien,
665
666
295
Auffassung die Unterscheidung zwischen Individuum und Klasse mit der Unterscheidung
„x hat kein Wesen“ und „x hat ein Wesen“ gleich gesetzt. Und Ernst Mayrs wiederholter
Hinweis, dass das vordarwinistische Denken ein typologisches Denken sei, wobei der Typ
bestimmt, zu welcher Art ein Individuum gehöre, und das nachdarwinistische Denken ein
Denken in Populationen sei, worin alleine die unterschiedlichen Individuen existieren, und
Typen bloße Abstraktionen darstellen, hat ein Übriges getan. Denn Mayr identifizierte
diese Unterscheidung mit derjenigen zwischen Essenzialismus und Antiessenzialismus. Der
hier verworfene traditionelle Essenzialismus besagt, dass alle Mitglieder und nur die
Mitglieder einer Art eine gemeinsame Essenz teilen, die für die typischen Eigenschaften
dieser Mitglieder verantwortlich ist.668 Ob diese Essenz sich nun gleichsam in den
Mitgliedern befindet (in re) oder außerhalb ihrer (ante rem), spielt keine Rolle. Unterschiede
zwischen Mitgliedern einer Art sind auf externe Einflüsse zurückzuführen, die die
Ausprägung
der
die
Essenz
manifestierenden
Eigenschaften
verhindern.
Aber
offensichtlich scheinen die Kräfte der Evolution sowohl gegen die Annahme zu arbeiten,
dass bestimmte Eigenschaften allen Mitgliedern einer Art und nur ihnen zukommen, als
auch gegen die Annahme, dass die Grenzen der Zugehörigkeit zu einer Art klar und
deutlich sind. Der graduelle Vorgang der Entstehung neuer Arten macht Artgrenzen vage,
konvergente Evolution und gemeinsame Abstammung lassen Merkmale über Artgrenzen
hinweg als Analogien bzw. als Homologien auftreten, und der Verlauf der Evolution führt
diachron zu starken Variationen innerhalb einer Art, und die Heterogenität des Genpools
führt synchron ebenfalls zu artinternen Variationen, die Unterschiede innerhalb der Art
erklären. Variation ist keine Störung der Artessenz, sondern eine vitale Eigenschaft
biologischer Arten.
669
Es macht deshalb den Anschein, als könnte die Darwinistische
Auffassung von Arten als Individuen, die in Form verstreuter Populationen existieren und
aus sehr unterschiedlichen Organismen bestehen, auf keinen Fall mit dem Essenzialismus
in Übereinstimmung gebracht werden. Doch diese Konsequenz ergibt sich nicht, wenn
eine biologische Art zugleich ein Individuen und eine natürliche Art mit einer Essenz ist.
Biologische Arten werden (neben chemischen Elementen) in der philosophischen
Diskussion – etwa bei Putnam oder bei Kripke – geradezu als Musterbeispiele für
natürliche Arten mit einer Essenz angeführt. Darüber hinaus erlaubt uns die
Artzugehörigkeit, einem Lebewesen bestimmte Eigenschaften mit großer Zuverlässigkeit
sondern um eine ontologische Klassifikation. Und es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass deshalb die
Art oder Dinge, die der Art zustoßen, als gut oder schlecht bewertet werden. Gut oder schlecht sind
Lebewesen qua Mitglieder einer spezifisch normativen Kategorie.
668 So charakterisiert Hull 1994: 313 den Arten-Essenzialismus wie folgt: „...each species is distinguished by
one set of essential characteristics. The possession of each essential character is necessary for membership in
the species, and the possession of all the essential characters sufficient.“.
669 Vgl. Hull 1965; Sober 1980.
296
zuzuschreiben und diese voraussagen zu können. Von einer schnurrenden Katze auf
„Katzen schnurren“ zu schließen oder von „Katzen schnurren“ darauf zu schließen, dass
Susi schnurrt, ist kein schlechter Schluss, solange man bedenkt, um welche Art von Urteil
es sich handelt. Dieser zweite Punkt ist sowohl für den Erwerb von Artbegriffen als auch
für die wissenschaftliche Arbeit fundamental. Kinder erlernen Begriffe für Arten in kurzer
Zeit anhand von wenigen Einzelexemplaren. Wissenschaftler erwerben Erkenntnisse über
Arten und bestimmten Arten anhand der Untersuchung von wenigen Einzelexemplaren.
Es scheint Gruppen von Merkmalen zu geben, die wir bei Lebewesen aufgrund ihrer
Zugehörigkeit zu einer Art häufig gemeinsam antreffen. Da Arten durch aristotelischkategorische Urteile beschrieben werden, dürfen wir nicht erwarten, dass ein Lebewesen
alle Merkmale der für seine Lebensform typischen Merkmalsgruppe besitzt. „Katzen
schnurren“ ist ein solches Urteil. Aus ihm folgt nicht, dass Susi schnurren kann, nur weil
Susi eine Katze ist. Ebenso wenig folgt daraus, dass ein Mitglied einer anderen Art nicht
soll schnurren können. Es gibt drei Gründe dafür, dass Lebewesen einer Art über solche
relativ stabilen und deshalb induktiv wertvollen Merkmalsgruppen verfügen: (i) Lebewesen
einer Art sind Kopien oder Reproduktionen von Lebewesen derselben Art. (ii) Ein
Lebewesen einer Art durchläuft einen bestimmten Entwicklungsprozess, den es mit seinen
Artgenossen teilt. (iii) Ein Lebewesen einer Art bewohnt dieselbe ökologische Nische wie
seine Artgenossen. Es sind also externe (nämlich genealogische, entwicklungsbedingte und
ökologische) Faktoren, die dafür sorgen, dass Mitglieder einer Art eine Gruppe von
Merkmalen teilen.
Richard Boyd zufolge können biologische Arten wie andere natürliche Arten auch
aufgrund von Ähnlichkeiten zwischen Mitgliedern als etwas betrachtet werden, dem eine
Essenz zukommt. Eine solche Essenz liegt vor, wenn sich bei Mitgliedern einer Art eine
stabile Merkmalsgruppe findet, deren Stabilität durch einen zugrunde liegenden
Mechanismus erklärt werden kann. Natürliche Arten sind Boyd zufolge „homöostatische
Eigenschaftsgruppen“ (homeostatic property clusters). Bei homöostatischen Eigenschaften
handelt es sich um Eigenschaften, die sich gegenseitig gegenüber externen Einflüssen und
Veränderungen stützen.670 Entsprechend kann nun eine Art definiert werden und zwar
durch „shared properties and by the mechanisms (including both ‘external’ mechanisms
and genetic transmission) which sustain their homeostasis.“
671
Allerdings schenkt Boyd
Beispielsweise bilden Hydrogen und Oxygen eine solche homöostatische Gruppe. Nicht alle
Kombinationen chemischer Elemente bilden stabile Gruppen. Die Eigenschaften der chemischen Elemente,
die Hydrogen und Oxygen binden, sind auch verantwortlich für charakteristische Eigenschaften von Wasser.
Weil diese Eigenschaften durch die homöostatische Gruppe Hydrogen und Oxygen erklärt werden können,
handelt es sich bei den Eigenschaften von Wasser um eine homöostatische Eigenschaftsgruppe.
671 Boyd 1999b: 81.
670
297
dem Umstand, dass Arten in erster Linie genealogische Individuen sind, zu wenig
Beachtung. Die Identitätsbedingungen einer Art sind nicht auf Ähnlichkeiten zwischen
ihren Mitgliedern zurückzuführen, sondern darauf, dass Arten historische Individuen sind.
Millikan nun vertritt eine an Boyds Auffassung angelehnte Sicht auf biologische
Arten.672 Sie betont jedoch die historischen Relationen, die Mitglieder einer Art
zusammenhalten. Demgegenüber sind die von Boyd betonten Ähnlichkeiten zwischen
Mitgliedern sekundär. Die Ähnlichkeiten (die homeostatischen Merkmalsgruppen)
zwischen Mitgliedern einer Art folgen in erster Linie aus ihrer genealogischen
Verbundenheit, und in zweiter Linie aus den Mechanismen, die entwicklungsgeschichtlich
und ökologisch für Homogenität sorgen. Variable Abweichungen zwischen den
(Eigenschaften von) Mitgliedern einer Art erklären sich durch genetische Variationen,
unvollkommene Reproduktionen und Veränderungen in der Umwelt.673 Für Millikan ist
eine biologische Art eine historische Art (historical kind). Im Unterschied zu ahistorischen
Arten (eternal kinds) spielen bei historischen Arten die historischen Relationen zwischen den
Mitgliedern eine entscheidende Rolle, denn sie erklären warum Mitglieder einer Art
zueinander gehören und bestimmte Merkmalsgruppen gemeinsam haben. Die Stabilität der
Merkmalsgruppen der Mitglieder einer biologischen Art ergibt sich aus der Tatsache, dass
aktuelle Mitglieder Kopien von Vorfahren sind. Eine biologische Art ist also wesentlich
eine REF.674 Bestimmte Eigenschaften werden von den meisten Mitgliedern einer
biologischen Art geteilt, weil es sich um reproduktiv etablierte Eigenschaften handelt.
Vgl. Millikan 1999a; OCCI: II. Millikan 1999b: 55f: „The copying processes that generate [biological kinds]
are not perfect, nor are the historical environments that sustain [biological kinds] steady in all relevant
respects. Moreover, as Boyd has argued, these kinds have often naturally and irreducibly vague boundaries.“
673 Wie steht es mit stabilen Abweichungen zwischen Gruppen von Mitgliedern einer Art? Bisweilen wird
behauptet, dass die Theorie historischer Essenzen ein Problem mit dem biologischen Polymorphismus habe,
d.h. mit der Ausbildung stabiler Gruppen innerhalb einer Art, die sich phänotypisch ebenso stabil
unterscheiden (vgl. Ereshefsky und Matthen 2005). Es gibt mindestens drei Arten von Polymorphismus: (i)
den bei vielen Arten stark ausgeprägten Geschlechts-Dimorphismus (etwa bei Gorillas), (ii) die Stadien im
Lebenszyklus einer Art (etwa bei Fröschen) und (iii) der soziale oder arbeitsteilige Polymorphismus (etwa bei
Ameisen). Jede Theorie über biologische Arten muss den Polymorphismus erklären können. Daraus ergibt
sich ein Polymorphismusproblem. Das Argument lautet nun, dass jeder auf Ähnlichkeit aufbauende
Artbegriff ein Problem mit dem Polymorphismus habe, dass der auf homeostatischen Eigenschaftsgruppen
basierende Artbegriff auf Ähnlichkeiten aufbaut, und dass dieser folglich am Polymorphismusproblem leide.
Verstehen wir biologische Arten mit Millikan aber wesentlich als historische Arten, dann wird die Ähnlichkeit
zwischen den Mitgliedern einer Art gegenüber genealogischen, entwicklungsbiologischen und ökologischen
Faktoren sekundär. Mitglieder einer Art und stabile Gruppen von Mitgliedern innerhalb einer Art, sind sich
aufgrund historischer Relationen untereinander ähnlich. Die Polymorphismen erklären sich aus ökologischen
und entwicklungsgeschichtlichen Mechanismen. Es gehört zu allen Mitglieder von Froscharten, dass sie eine
bestimmte Metamorphose durchmachen, es gehört zu allen Ameisenkolonien, dass sie sozial ausdifferenziert
sind und es gehört zu allen Mitgliedern von Gorillas, dass sie das Resultat zwischengeschlechtlicher
Reproduktion sind. Für diese Polymorphismustypen können, so die Vermutung, Normale Erklärungen
gefunden werden, d.h. Mechanismen, die erklären, warum bestimmte Arten diese Typen von
Polymorphismus aufweisen.
674 Historische Arten „link one member of the kind to another by some sort of causal connections among
them or by causal or historical relations to the same historical individuals or some historical setting. Members
of different biological lineages derived on separate occasions by crossing members from the same pair of
672
298
Der biosemantischen Auffassung über biologische Arten zufolge haben Arten zwar
keine traditionellen Essenzen in dem Sinne, wie Mayr, Hull und Ghiselin „Essenz“
verstehen, doch Arten weisen stabile Merkmalsgruppen auf, und der Grund, warum sie
über solche Gruppen verfügen, besteht darin, dass Arten REFs bilden. Dies macht es
möglich, dass sich Autoren wie Putnam oder Kripke auf biologische Arten als
Paradebeispiele für natürliche Arten mit Essenzen beziehen können, und es erklärt, warum
wir relativ stabile Induktionsschlüsse im Hinblick auf Lebewesen bilden können.675 Der
(wie Millikan sagt) „ontologische Grund“ für solche Schlüsse liegt in der Tatsache, dass
Mitgliedern einer Art aufgrund historischer Reproduktionsprozesse Merkmale einer
stabilen Merkmalsgruppe zukommen. Dieser ontologische Grund übernimmt in
mancherlei Hinsicht die Rolle des traditionellen Essenzbegriffs.676 Denn eine solche
Merkmalsgruppe versammelt Eigenschaften, die man als „historische Essenz“ einer Art
bezeichnen kann.677 Anders als Arten mit traditionellen Essenzen haben Arten eine
historische Essenz, (a) obwohl nicht alle Mitglieder einer Art alle Merkmale einer solchen
Gruppe haben müssen, und (b) obwohl nicht ausgeschlossen werden kann, dass eine
andere Art (oder andere Klassen von Dingen) über dieselbe Merkmalsgruppe verfügt.
Der Punkt (a) besagt, dass Mitglieder einer Art von den Merkmalsgruppen, die die
historische Essenz der Art bestimmten, abweichen können. Wir können die einzelnen
Elemente einer solchen Merkmalsgruppe nun durch aristotelisch-kategorische Urteile in
Thompsons Sinne ausdrücken. Die Quellen unvollkommener Homeostase der
Merkmalsgruppe einer Art und die Abweichungen davon bei einzelnen Lebewesen liegen in
der unvollkommenen Reproduktion oder in der Heterogenität des Genpools und der
Umwelteinflüsse. Dies erklärt, warum Urteile über solche Arten aristotelisch-kategorische
Aussagen sein müssen. Arten sind als genealogische Individuen realisiert, die durch
historische und kausale Relationen der Reproduktion zwischen Organismen gebildet
werden. Dies erklärt, warum Urteile über solche Arten natur-historische Aussagen sein
müssen. Dies ergibt zusammen genommen eine enge Beziehung zwischen dem
individualistischen und historisch-essenzialistischen Artkonzept der Biosemantik und dem
vermeintlich nicht-historischen Begriff der Lebensform. Ein Darwinsches Artkonzept erst
erklärt, was eine Lebensform ist (nämlich ein genealogisches Individuum), wodurch
species are clearly examples of kinds having historical grounds.“ (Millikan 1999b: 100) Auch Kreuzungen
zwischen Arten, die zu Exemplaren mit stabilen Merkmalsgruppen führen, können eine historische Art
bilden, denn es sind stets dieselben Prozesse der Hybridisierung, die dazu führen, dass diese Exemplare über
stabile Merkmalsgruppen verfügen. Doch natürlich handelt es sich dabei nicht um eine biologische Art, wenn
diese Exemplare unfruchtbar sind.
675 Zur dieser Verbindung von Induktion und natürlichen Arten vgl. Kornblith 1993.
676 Vgl. OCCI: 23.
677 Vgl. Griffiths 1999.
299
Lebewesen eine Lebensform bilden (nämlich durch historische Reproduktionsrelationen),
und warum eine solche Lebensform das Maß gibt, von dem einzelne Lebewesen abweichen
können (nämlich durch die in unvollkommenen historischen Reproduktionsrelationen
fundierten stabilen Eigenschaftsmerkmalen). In diesem Sinne sind die Lebensformen der
Tugendethik nicht anderes als biologische Arten. Es sind Arten im eben etablierten Sinne,
die spezifische normative Kategorien bilden.
Der Punkt (b) besagt, dass Ähnlichkeiten zwischen Lebewesen alleine kein Hinweis
auf eine gemeinsame Lebensform sind. Nehmen wir an, wir fänden jetzt eine
Fischpopulation F, die physikalisch auf keine Weise von einer Fischart F*, die vor
Millionen von Jahren ausgestorben ist, zu unterscheiden wäre. Wenn zwischen F und F*
keine genealogische Verbindung besteht, handelt es sich bei F und F* nicht um dieselbe
Art. Möglicherweise sind alle Mitglieder von F* defekt, aber keines der mit ihnen physisch
identischen Mitglieder von F war aufgrund der physischen Beschaffenheit krank. Welche
Echte Funktion das Organ O von F und das physisch gleiche Organ O* von F* hat, hängt
von der Geschichte der jeweiligen Art ab. Ebenso wären die Mitglieder einer biologischen
Art A* in einer mit der unseren biologisch identischen Parallelwelt keine Lebewesen
derselben Art, wie unsere Lebewesen der Art A, auch wenn Mitglieder von A und A*
ununterscheidbar wären, auf dieselbe Art und Weise gesund oder krank wären und ihre
Teile und Äußerungen über dieselben Echten Funktionen verfügen würden. Denn A und
A* bilden nicht ein, sondern zwei genealogische Individuen. Und schließlich wäre ein
durch ein kosmisches Zufallswunder entstandenes Fischexemplar Fritz, das in jeder
Hinsicht der neu entdeckten Population F gleichen würde, kein Mitglied der Population.
Fritz wäre niemals weder krank noch gesund und seine Teile und Äußerungen hätten keine
Echten Funktionen. Fritz ist natürlich Sumpffritz. Dem Sumpfmannproblem werde ich
mich im folgenden Kapitel 4 widmen.
3.3.3. Natürliche Gutheit für Menschen
Betrachten wir nun die Lösung der zweiten Aufgabe durch die naturalistische Tugendethik:
Sie muss zeigen können, dass die für Lebewesen entwickelte Auffassung natürlicher
Normativität die Grundlage dafür abzugeben vermag, dass menschliche Handlungen und
Dispositionen einer moralischen Bewertung unterzogen werden können, die dadurch
gekennzeichnet ist, dass sie Menschen als Lebewesen betrifft. Nun, kann ich hier die
naturalistische Tugendethik nicht im vollen Umfange verteidigen, und dies ist auch nicht
meine Absicht. Es scheint mir durchaus sinnvoll, die Tugendethik nicht puristisch zu
300
betreiben, sondern konsequenzialistische Elemente miteinzubeziehen, wie etwa Humes
Moralphilosophie dies tut, der zufolge Tugenden Charakterzüge sind, die uns selbst oder
anderen angenehm oder nützlich sind. Tugenden, so hatte ich deshalb gesagt, können als
gute und robuste Charakterzüge betrachtet werden, die sowohl eine motivierende
Komponente als auch eine Komponente des verlässlichen Erfolgs einschließen, und uns
oder anderen sowohl angenehm als auch nützlich sind. Worum es mir geht, ist die
Plausibilisierung der Idee, dass Normativität eine Frage der Zugehörigkeit zu einer
normativen
Kategorie
ist,
und
dass
der
von
der
Biosemantik
eingesetzte
Normativitätsbegriff nicht nur scheinbare oder Quasi-Normen beansprucht, sondern auf
Normativität im grundlegenden Sinne dieses Begriffs zurückgreift. Dies kann u.a. dadurch
gezeigt werden, dass natürliche Normen auch die Grundlage für moralische Bewertungen
liefern können.
Ich habe in den vorhergehenden Abschnitten den Begriff der Lebensform, den die
naturalistische Tugendethik favorisiert, durch den Begriff einer biologischen Art ersetzt.
Dies birgt natürlich die Gefahr, diffuse Vorwürfe eines „Biologismus“ auf sich zu ziehen.
Ich glaube aber nicht, dass meine Ausführungen solche Vorwürfe rechtfertigen. Vielleicht
ist es nützlich, sich etwas vor Augen zu führen, was ich bereits gesagt habe: Es gehört zur
Natur des Menschen, dass er eine zweite Natur erwirbt. Im Abschnitt 2.4. habe ich mit
Bezug auf Aristoteles gesagt, dass Menschen, um einen tugendhaften Charakter zu
erwerben, zuerst durch Gewohnheiten Charakterzüge ausbilden müssen. Denn weder
Tugenden noch Laster sind angeboren oder „genetisch determiniert“. Aber sie beruhen auf
natürlichen Anlagen, die sich durch Gewohnheiten ausbilden. In diesem Sinne meint
Aristoteles, dass die Tugenden bei uns weder von Natur aus noch gegen die Natur
entstehen, sondern wir seien eher von Natur aus fähig, sie anzunehmen und durch
Gewöhnung auszubilden.678 Der Erwerb von Charakterzügen durch Gewöhnung,
Erziehung und Lernen gehört demnach zur Natur des Menschen. Unsere Disposition zum
Erwerb von Charakterzügen überhaupt wie auch unsere Disposition zu denken, zu
handeln, zu imaginieren gehören zu unserer natürlichen Ausstattung (zu unserer ersten
Natur), und ebenso die Tatsache, dass wir diese Dinge zu lernen imstande sind. Dies
widerspricht nicht der oben vorgeschlagenen Bestimmung einer biologischen Art als
raumzeitliches Individuum, dessen Teile eine phylogenetische genealogische Linie bilden,
wobei diese Teile voneinander abstammen, einen Genpool teilen und eine ökologische
Nische besetzen. Der letzte Aspekt ist für unsere Art in ungleich stärkerer Weise als bei
anderen Lebewesen relevant. Die ökologische Nische des Menschen hatte ich als kulturelle
678
EN II 1, 1103a23-26.
301
Welt beschrieben. Und das Bewohnen einer kulturellen Welt gehört zur historischen
Essenz unserer biologischen Art.
Gemäß der zweiten Aufgabe muss eine naturalistische Tugendethik zeigen, dass ihre
Auffassung natürlicher Normen die Grundlage dafür abzugeben vermag, bestimmte
menschliche Dispositionen und Taten einer moralischen Bewertung unterziehen zu
können. Dies ist die zweite Aufgabe für Foot. Moralische Gutheit und moralische
Schlechtheit kann nun in Analogie zu natürlichen Qualitäten und Defekten betrachtet
werden.679 Natürlich unterscheidet sich die für unsere Art typische Weise des Gedeihens
und die dafür erforderlichen Merkmale von anderen Tieren:
„There are, for instance, physical properties such as the kind of larynx that allows
of the myriad sounds that make up human language, as well as the kind of hearing
that can distinguish them. Moreover, human beings need the mental capacity for
learning language; they also need powers of imagination that allow them to
understand stories, to join in songs and dances – and to laugh at jokes.“680
Menschen, die ihre Rolle in einer Gemeinschaft nicht einnehmen, sind im Hinblick auf die
soziale Gruppe defekt.681 Ausdrücke wie „Gutheit“, „Defekt“, „Lebensform“ oder
„Zweck“ können auf jede Art von Lebewesen auf die gleiche Weise angewendet werden,
nämlich relativ zu der Art, der ein Lebewesen angehört. Weder ist es erforderlich eine
spezifische Art der Normativität zu fordern, die nur unserer Lebensform entspricht, noch ist
es erforderlich, die Natur unserer Lebensform nicht gleichermaßen als etwas zu betrachten,
dass in der Natur des Naturwissenschaftlers lokalisiert werden kann, wie die Natur von
Bienen oder Gorillas.
Nun verfügen Menschen im Gegensatz zu anderen Lebewesen über einen durch
Gründe bestimmbaren Willen:
„The other animals act. So do we occasionally, but mostly we act from reason, as
they do not, and it is primarily in virtue of our actions from reason that we are
ethically good or bad human beings.“682
Moralische Bewertungen betreffen, und dies ist wichtig, nicht in erster Linie den Menschen
qua Menschen, sondern die Qualitäten und Defekte ihres Willens: Wie sehr lässt ein
Mensch seinen Willen durch Gründe bestimmen und richtet entsprechend seine Haltungen
Foot sagt, dass „the grounding of a moral argument is ultimately in facts about human life“ (Foot 2001:
24) und dass „the fact that a human action or disposition is good of its kind will be taken to be simply a fact
about a given feature of a certain kind of living being“ (Foot 2001: 5).
680 Foot 2001: 43.
681 Foot 2001: 44.
682 Hursthouse 1999: 217.
679
302
und Handlungen aus?683 Es sind nun moralische und intellektuelle Tugenden, die uns für
Gründe empfänglich machen. Doch weil Menschen die Fähigkeit, ihren Willen durch
Gründe bestimmen zu lassen im Zuge ihres Erwerbs einer zweiten Natur erwerben, „there
is a ‘natural-history story’ about how human beings achieve this good [die Tugenden und den
guten Willen] as there is about how plants and animals achieve theirs“.684 In analoger Weise
können wir sagen: Es sind biologische, funktionale Systeme zur Ausbildung von
Überzeugungen und zur Produktion und Rezeption von artikulierten Lauten, die uns für
Gründe empfänglich machen.
Trotz aller kulturellen Differenzen im Erwerb einer zweiten Natur benötigen
Menschen qua Menschen gewisse Fähigkeiten nötig, um sich und ihre Art gedeihen zu
lassen.685 Wir ziehen Kinder groß (Reproduktion), brauchen Wohnung und Kleidung und
Nahrung (Überleben), sind angewiesen auf Zuneigung und Freundschaft (soziale Gruppe).
Tugenden sind nun Mittel zur Erreichung dieser Zwecke.686 Ebenso wie für die
Biosemantik ist für die Tugendethik die Biene das Wappentier, hat doch Geach die Rolle
der Tugenden durch folgenden Satz auf den Punkt gebracht: „Virtues play a necessary part
in the life of human beings as do stings in the life of bees.“687 Bestimmte Charakterzüge
von Menschen sind konstitutiv dafür, dass es sich bei einem Menschen um ein moralisch
nicht-defektes Exemplar seiner Art handelt. Solche Charakterzüge sind Tugenden.
Tugenden machen also einen guten Menschen als guten Menschen aus. Tugenden leisten
einen Beitrag nicht nur zum Gedeihen des guten Menschen, sondern auch zum Gedeihen
seiner Art. Tugenden sind Dispositionen eines Menschen, auf seine oder anderer Wünsche,
Emotionen, Überlegungen und Handlungen gut zu reagieren.688 Tugenden wie Mut oder
Güte können als gute und robuste Charakterzüge betrachtet werden, die sowohl eine
motivierende Komponente als auch eine Komponente des verlässlichen Erfolgs
einschließen, und uns oder anderen sowohl angenehm als auch nützlich sind. Die Güte
beispielsweise ist eine Tugend, die sowohl die Motivation eines Menschen, sich für das
Wohlergehen anderer einzusetzen, als auch einen gewissen Erfolg dabei umfasst. Gütige
Vgl. Foot: 2001: 72.
Foot 2001: 51.
685 Foot 2001: 43.
686 Foot 2001: 44f: „Men and women need to be industrious and tenacious of purpose not only so as to be
able to house, clothe, and feed themselves, but also to pursue human ends having to do with love and
friendship. They need the ability to form family ties, friendships, and special relations with neighbours. They
also need codes of conduct. And how could they have all these things without virtues such as loyalty, fairness,
kindness, and in certain circumstances obedience?“
687 Geach 1977: 17: „Men need virtues as bees need stings. An individual bee may perish by stinging, all the
same bees need stings; an individual man may perish by being brave or just, all the same men need courage
and justice.“ Vgl. Foot 2001: 35; Hursthouse 1999: 209.
688 Swanton 2003: 19.
683
684
303
Menschen sind imstande auf Notsituationen auf eine Weise adäquat zu reagieren, die Not
zu lindern vermag.
Die Frage, ob eine solche Disposition gut ist oder nicht, wird dadurch bestimmt, ob
der entsprechende Charakterzug den Zwecken unserer Art als sozialen Tieren nützlich und
angenehm ist. Zu diesen Zwecken gehören, wie gesagt, das individuelle Überleben über die
Lebensalter hinweg, das Überleben von Mitgliedern der Art, der Genuss der für Menschen
charakteristischen Freuden und die Vermeidung der für sie charakteristischen Leiden sowie
eine funktionstüchtige Ausgestaltung des sozialen Zusammenlebens. Die zur Erreichung
dieser Zwecke wichtigen Elemente sind Teile (Organe und Formen) und Äußerungen
(Verhaltensweisen und Produkte) von Menschen sowie deren kognitiven und konativen
Fähigkeiten. Nicht-defekte Mitglieder von sozialen Tierarten, wie etwa dem Menschen,
streben nach den genannten vier Zwecken und verfügen über die Elemente, die zur
Erreichung dieser Zwecke dienlich sind. Analog wie Stachel im Leben der Bienen eine
Funktion erfüllen und eine natürliche „fremdnützige“ Qualität darstellen, spielen Tugenden
im Leben von Menschen eine solche Rolle.
„Human beings who are good in so far as they are courageous defend themselves,
and their young, and each other, and risk life and limb to defend and preserve
worthwhile things in and about their group, thereby fostering their individual
survival, the continuance of the species, their own and others’ enjoyment of
various good things, and the good functioning of the social group.“689
Menschen sind moralisch gut sofern ihre Charakterzüge die vier Zwecke eines sozialen
Tieres auf gedeihliche und für ihre Lebensform typische Weise fördern.690
Wenden wir nun die oben formulierte Schlussregel auf eine Tugend an,
beispielsweise auf den Mut.
(1*) Der Mensch ist mutig, um seine Angehörigen, seine Freunde, seine
Überzeugungen angemessen zu verteidigen.
Daraus ergibt sich:
(2*) Der Mensch muss mutig sein.
Und:
(3*) Ein Mensch, der nicht mutig ist, ist in dieser Hinsicht defekt.
689
690
Hursthouse 1999: 209.
Hursthouse 1999: 224.
304
Fassen wir zusammen! Wir finden Normativität in Bereich der Lebewesen qua Lebewesen.
Wir bewerten Exemplare einer Gattung anhand unterschiedlicher Ziele. Dazu gehören (bei
höheren sozialen Lebewesen) das individuelle Überleben, die Erhaltung der Art, die
Formen von Lusterlangung und Unlustvermeidung und die Organisation des
Sozialverbandes. Diese Ziele werden durch verschiedene Mittel erreicht. Dazu gehören
bestimmte
körperliche
Merkmale,
bestimmte
Reaktionsweisen,
bestimmte
Verhaltensweisen und bestimmte konative und kognitive Fähigkeiten. Was für einen
Gorilla qua Gorilla gut oder schlecht ist, ob er gesund oder krank, intakt oder defekt ist, ob
er normal oder abnormal ist, hängt von dem ab, was Gorillas als Art sind. Wir bewerten
Charakterdispositionen und Taten in analoger Weise wie wir gute, gesunde Exemplare einer
Spezies bewerten. So ist auch die Normativität, auf die sich moralische Bewertungen
beziehen, nichts, was rätselhafter Weise erst mit uns entstehen würde.
Kommen wir zu Einwänden! Tugendethiken werden mit anderen ethischen Ansätzen,
insbesondere mit konsequenzialistischen und deontologischen Ansätzen, häufig durch eine
Reihe von sehr groben Charakterisierungen unterschieden. So richte sich das Augenmerk
der Tugendethik nicht primär auf Handlungen, sondern auf Akteure, ihr Thema sei das
gute Leben und die Tugend, nicht aber die Pflicht und das Richtige, sie befasse sich eher
mit der Frage, was für eine Person man sein solle, nicht mit der Frage, was man tun solle,
sie richte sich eher auf das Seinsollen als auf das Tunsollen. Diese Charakterisierungen sind
keineswegs falsch, aber sie sind irreführend, weil sie den Anschein erwecken, die
Tugendethik habe nichts über Handlungen, Richtigkeit und Tunsollen zu sagen. Betrachten
wir, was deontologische Ansätze ganz abstrakt über moralisch richtige Handlungen sagen,
dann wir sichtbar, dass auch die Tugendethik eine normative Theorie ist.691 Eine Handlung
ist moralisch richtig, wenn sie mit den korrekten moralischen Regeln übereinstimmt. Was
aber ist eine korrekte moralische Regel? Diese Frage kann auf unterschiedliche Weise
beantwortet werden. Vielleicht sind jene moralischen Regeln korrekt, die von Gott oder der
Tradition vorgegeben sind, vielleicht können wir sie durch eine Liste charakterisieren,
vielleicht
werden
sie
durch
ein
moralisches
Prinzip
geordnet,
etwa
durch
Universalisierbarkeit oder den kategorischen Imperativ, vielleicht handelt es sich auch um
Regeln, die rationale Wesen hinter dem Schleier der Unwissenheit auswählen würden usw.
Was auch immer es ist, es bestimmt die korrekten moralischen Regeln, die es uns erlauben,
Handlungen als moralisch richtig (gut) oder als moralisch falsch (schlecht) zu bewerten.
Diesem allgemeinen Muster folgt auch die Tugendethik. Eine Handlung ist moralisch
691
Vgl. dazu Hursthouse 1999: I.
305
richtig, wenn sie mit der Handlung übereinstimmt, die ein tugendhafter Mensch unter den
gegebenen Umständen ausführen würde. Ein tugendhafter Mensch ist nun natürlich ein
Mensch, der bestimmte tugendhafte Charakterzüge besitzt und es versteht, gemäß diesen
Charakterzügen zu handeln. Was aber sind tugendhafte Charakterzüge und Tugenden?
Diese Frage kann auf unterschiedliche Weise beantwortet werden. Vielleicht sind jene
Charakterzüge Tugenden, die von Gott oder dem Commonsense dazu bestimmt sind,
vielleicht können wir sie durch eine Liste charakterisieren, vielleicht werden sie durch ein
moralisches Prinzip gekennzeichnet, etwa durch ihren Beitrag zu einem glücklichen Leben,
durch ihre soziale Nützlichkeit usw. Was auch immer es ist, es bestimmt die tugendhaften
Charakterzüge eines Menschen, die es uns erlauben, Handlungen als moralisch richtig (gut)
oder als moralisch falsch (schlecht) zu bewerten. Obwohl also die Tugendethik ihr
Augenmerk auf Akteure und die Frage „Was ist ein guter Mensch?“ richtet, muss sie doch
nicht darauf verzichten, Prinzipien des moralisch richtigen Handelns aufzustellen.
Ein weiteres Problem für den tugendethischen Naturalismus scheint darin zu
bestehen, dass die vier Zwecke lediglich auf das Funktionieren eines bestimmten
Sozialverbandes ausgerichtet sind, nicht aber auf das Gedeihen der menschlichen Gattung
im Ganzen. Dies scheint der Intuition der Universalisierbarkeit zu widersprechen.
Menschen als solche verdienen dieser Intuition zufolge moralischen Respekt, nicht nur als
Mitglieder der Familie, der Sippe, der Volksgemeinschaft oder des Staates. Im Unterschied
zu Menschen scheinen Tiere weder die vier Zwecke noch die Förderung des Gedeihens
ihrer Art als Ganzes als explizite Intentionen zu verfolgen. Aber indem sie diese Zwecke
verfolgen, tragen sie nicht nur zu ihrem individuellen Überleben und dem Funktionieren
der Gruppe bei, sondern auch zum Gedeihen ihrer Art. Menschen können diesen
Zusammenhang einsehen. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass die Universalisierbarkeit
moralischer Bewertungen ein für unsere Lebensform charakteristischer Bestandteil ist.692
Tugenden sind der naturalistischen Tugendethik zufolge Charaktermerkmale, die
dem Gedeihen unserer Art im Hinblick auf die vier genannten Zwecke förderlich sind.
Kann nun der Status eines Charakterzugs als Tugend auf jene vier Zwecke zurückgeführt
werden? Gegen diese Auffassung ist der Einwand erhoben worden erhoben, dass
keinesfalls alle Tugenden, die wir in unterschiedlichen menschlichen Gesellschaften finden,
den genannten Zwecken dienen. Unverbrüchliche Treue, wahre Freundschaften oder
Respekt vor dem Alter mögen ihnen sogar entgegen stehen. Charakterzüge, die weniger als
692 Es ist kaum zu leugnen, dass die Stabilisierung der Intuition der Universalisierbarkeit das Ergebnis eines
historischen Prozesses ist. Vgl. dazu Stohr und Wellman 2002: 69: „…given the facts of economic, social, and
environmental interdependence of cultures and communities in our world today, we must also think about
ourselves in the context of a global community.“
306
nützlich und angenehm, denn als nobel, edel, groß, unerbittlich, unerschrocken,
bewunderungswürdig, Respekt einflößend, ruhmvoll oder würdevoll angesehen werden
können, scheinen keinem der vier Zwecke zu entsprechen.693 Dem kann man
entgegenhalten, dass solche Charakterzüge aufgrund der vier Zwecke kritisiert werden
können und dass sie auf indirekte Weise wiederum den Zwecken dienen. Vor allem muss
man nicht behaupten, dass alle Tugenden natürliche Tugenden sind, oder dass Tugenden
eine Einheit bilden. Man könnte in Analogie zur Unterscheidung zwischen biologischen
und kulturellen Funktionen zwischen natürlichen Tugenden und künstlichen Tugenden
unterscheiden, wie etwa Hume dies auf systematische Weise tut.
Bisweilen wird naturalistischen Tugendethiken vorgeworfen, dass sie einem
bornierten moralischen Konservativismus das Wort reden. Betrachten wir als Beispiele die
Homosexualität und das Zölibat.694 Ist es nicht die Funktion der Geschlechtsorgane durch
die Zeugung von Kindern zum Gedeihen der Art beizutragen? Wer auf den
entsprechenden Gebrauch der Geschlechtsorgane verzichtet, scheint ein defektes Mitglied
unserer Art zu sein. Konservative Moralisten sind bisweilen der Ansicht, der homosexuelle
Gebrauch sei unnatürlich, liberale Kritiker sind hingegen bisweilen der Ansicht, der
zölibatäre Verzicht sei unnatürlich. Offenbar hängt die Natürlichkeit der Betätigung von
der moralischen Perspektive ab, die man sowieso schon eingenommen hat. Nun ist es
natürlich falsch, dass Homosexuelle und katholische Priester keinen Beitrag zur
Reproduktion leisten, denn beide können Kinder und junge Erwachsene aufziehen,
erziehen und ausbilden und so innerhalb der kulturellen Welt einen Beitrag zur
Reproduktion leisten.695 Wie steht es nun mit der sexuellen Praxis bzw. der Enthaltsamkeit
selbst? Organe, die eine Echte Funktion haben, müssen nicht benutzt werden. Es ist nichts
falsch an einer Honigbiene, die ihren Stachel niemals benutzt. Warum sollte etwas defekt
an einer Person sein, die ihre Geschlechtsorgane nicht zur Fortpflanzung benutzt? Ebenso
wenig ist an einem Geschlechtsakt etwas defekt, der nicht zur Reproduktion führt. Sogar
Vgl. Swanton 2003: 90ff.
Diese Beispiele sollen exemplarisch für ein Problem der Tugendethik sein. Kritik in dieser Richtung findet
sich bei Anthony 2000; Hooker 2002; Lenmann 2005. Auch Gowans 2008: 52 glaubt hier ein Problem
diagnostizieren zu können: „This reveals a striking asymmetry in their account. [Foot and Hursthouse] are
both fond of saying that, even as there is something wrong with a ‘free-riding wolf’ that enjoys the benefits of
the hunt without participating in it, so there is something wrong with a human being who is not charitable or
just. They also think there is something wrong with animals that do not reproduce, but they do not say in this
case that likewise there is something wrong with human beings who choose not to reproduce. Hence, in the
determination of the virtues, our natural ends as social animals are appealed to in a highly selective way. What
determines the selection, pretty clearly, is an assumed ethical outlook according to which everyone is expected
to be charitable and just in some respects (at least) in the sense of promoting the well-being of one’s social
group, but not everyone is expected to be temperate in the sense of sometimes engaging in sexual intercourse
and reproducing.“
695 Damit akzeptiere ich nicht die soziobiologische These, dass Homosexualität eine Adaptation sei. Für eine
Diskussion dieser These vgl. Horvath 2007.
693
694
307
wenn es die einzige Funktion der Geschlechtsorgane wäre, zur Fortpflanzung beizutragen,
muss nicht jeder Gebrauch dieser Organe diese Funktion auch erfüllen. Schließlich dient
der Gebrauch der Geschlechtsorgane nicht nur der Fortpflanzung. Bonobos beispielsweise
benutzen ihre Geschlechtsorgane sowohl zwischen als auch innerhalb der Geschlechter zur
Versöhnung, d.h. als Form der sozialen Wiedervereinigung nach Konfliktsituationen. Es
gibt keinen Grund zur Annahme, die einzige Funktion der Geschlechtsorgane und des
Geschlechtsverkehrs bei Menschen bestehe in der Fortpflanzung. Weder Hursthouse noch
Foot sind der Ansicht, dass Homosexualität und Zölibat Laster sind.696 Sexualpraktiken
sind keine Charaktermerkmale, sondern Praktiken. Tugenden mögen bei der Ausübung
von Sexualpraktiken relevant sein (wie Mäßigung oder Rücksicht), doch diese Tugenden
betreffen Sexualpraktiken insgesamt, nicht eine spezifische Form davon. Aus der Sicht des
tugendethischen Naturalismus gibt es also keinen Grund zu der Annahme, dass
Homosexualität oder das zölibatäre Leben gut oder schlecht seien.697 Weder wird also
einem verstockten Konservativismus das Wort geredet noch einer liberalen Sichtweise bloß
Ausdruck verliehen. Analoges gilt auch für Fälle körperlicher Behinderung. Es ist ein
Ausdruck völligen Unverständnisses gegenüber der tugendethischen Position, wollte man
sie darauf behaften, dass körperliche Gebrechen einen Menschen zu einem moralisch
schlechten Exemplar der Gattung machen. Körperliche Gebrechen sind keine
Charakterzüge, sondern Gebrechen. Als solche sind sie in moralischer Hinsicht weder gut
noch schlecht.
Einige Kritiker der Tugendethik haben den Eindruck, als würde im Übergang von
der natürlichen Normativität pflanzlicher und tierlicher Lebensformen zu derjenigen des
Menschen der Naturalismus fallen gelassen, weil die Bestimmbarkeit durch Gründe für
unsere Lebensform eine zentrale Rolle spielt. Sobald wir uns auf die Empfänglichkeit für
Gründe und den durch Gründe bestimmten Willen berufen, scheint es schlechterdings
überflüssig zu sein die Ethologie oder irgend eine andere Naturwissenschaft zu Rate zu
ziehen.698 Die Tugendethik hält dem entgegen, dass diese Art der Bestimmbarkeit durch
Gründe zu unserer zweiten Natur gehöre: „Our characteristic way of going on is a rational
way.“699 Dass der Mensch ein rationales Lebewesen sei, gehört zu den Binsenweisheiten der
Philosophiegeschichte. Es ist in der Tat schwierig zu leugnen, dass wir, anders als andere
Lebewesen, empfänglich für Gründe sind. Welche Rolle spielt denn der Umstand, dass wir
Lebewesen sind? Die naturalistische Tugendethik behauptet, dass es eine in der eben
Vgl. Hursthouse 1999: 214f.; Foot 2001: 42, 109.
Vgl. dazu auch die Kritik von Hooker 2002 und die Antwort von Hursthouse 2002.
698 Copp und Sobel 2004: 539ff.
699 Hursthouse 1999: 122.
696
697
308
dargelegten Weise zu verstehende Verbindung zwischen Normen und natürlichen
Tatsachen gibt. Exemplare der menschlichen Lebensform verfügen als Mitglieder dieser
Lebensform über natürliche Qualitäten und Defekte. Zu den Besonderheiten unserer
Lebensform gehört es, dass wir empfänglich sind für Gründe und unsere Haltungen und
Handlungen dem Willen unterstellen können. Natürlich handelt es sich hierbei um keine
statistische Beschreibung eines für unsere Art typischen Merkmals, sondern um eine
normative Eigenschaft die einem Menschen qua Mensch, als Mitglied einer spezifischen
normativen Kategorie zukommt. Diese und andere besonderen Fähigkeiten erwerben wir
als unsere zweite Natur. Trotz aller kulturellen Differenzen im Erwerb einer zweiten Natur
haben Menschen gewisse Dinge nötig, nicht nur um ihre Art gedeihen zu lassen, sondern
auch um als Mitglieder ihrer Art zu gedeihen. Tugenden sind Mittel zur Erreichung dieser
Zwecke. Der Naturalismus wird hier also keineswegs fallen gelassen. Vielmehr zeigt sich
ein Weg, wie wir unsere zweite Natur in der Natur, wie sie die biologischen Wissenschaften
verstehen, heimisch werden lassen können. Hierbei handelt es sich zunächst um eine bloße
Behauptung, die die Tugendethikerinnen dem Einwand entgegenhalten. Sie verfügen selbst
über keine Theorie darüber, inwiefern Menschen als biologische Wesen Wünsche und
Überzeugungen ausbilden, sich durch diese bestimmen lassen und sich innerhalb einer
kulturellen Welt bewegen können. Die Biosemantik hingegen ist eine Theorie, die diesen
Mangel der Tugendethik behebt.
Was folgt aus der Tatsache, dass wir unseren Willen durch Gründe bestimmen
lassen können, für die Tugenden und deren normative Dimension? Ein Mensch kann sich
z.B. fragen, warum er mutig sein sollte. Ich kann mich und andere stets fragen, warum ich
etwas tun sollte, auch wenn es eine gute Handlung und Ausdruck einer guten Einstellung
ist. Warum sollte ich mutig sein und mutig handeln? Diese Möglichkeit muss man
zugestehen, nur ändert sie nichts daran, dass das mutige Handeln (verstanden als ein
Verhalten, das darin besteht, seine Angehörigen, Freunde, Überzeugungen usw.
angemessen zu verteidigen) eine natürliche Qualität ist. Damit ist keineswegs gemeint, dass
Personen als Individuen gleichsam von Geburt auf entweder feige oder mutig sind. Mut
und Feigheit sind Charakterzüge, die man erwerben, trainieren, ausbilden und kontrollieren
kann. Sie sind in dem Sinne natürlich, dass sie natürliche Qualitäten von Menschen qua
Menschen sind. Menschen sind auch in der Lage über den teleologischen Rahmen und die
damit verbundenen Normen nachzudenken. Dies ist für den Naturalisten keine
Überraschung. Es gehört zur Natur des Menschen, dass er diese Fähigkeiten erwirbt, und
zwar indem er sich eine zweite Natur erwirbt. Menschen erwerben die Fähigkeit, ihren
309
Willen durch Gründe zu bestimmten. Ebenso wenig verändert die Bestimmbarkeit des
Willens durch Gründe den teleologischen Rahmen der natürlichen Qualitäten und Defekte.
Folgt aus der Behauptung, dass Menschen einen durch Gründe bestimmbaren
Willen haben, für normative Forderungen des Tunsollens, dass stets der Wille eines
agierenden Subjekts involviert sein muss? Foot zufolge betreffen moralische Bewertungen,
wie wir gesehen haben, nicht in erster Linie den Menschen qua Menschen, sondern die
Qualitäten und Defekte seines Willens.700 Hartmanns Metaphysik der Normativität zufolge
besteht jedes Tunsollen aus zwei Elementen, nämlich der Einsicht in ein Seinsollen und
dem Willen, jenes zu realisieren. Das Seinsollen impliziert ein Tunsollen über den Willen
von Subjekten. Solche Zweikomponentenanalysen der Normativität des Tunsollens oder
Tunmüssens finden sich auch in der zeitgenössischen Diskussion. So argumentiert etwa
Peter Stemmer dafür, dass alle Formen der Normativität „aus einem Müssen der
notwendigen Bedingung und einem Wollen“ bestehen.701 Er hebt richtig hervor, dass man
lernen müsse, Normen als Bestandteil der natürlichen Welt aufzufassen. Sobald zu dem
objektiven Müssen der notwendigen Bedingung ein Wollen hinzu komme, entstehe eine
neue Eigenschaft aus zwei nicht-normativen Zutaten, nämlich die Eigenschaft der
Normativität.702
Hier wurde behauptet, dass es sowohl in der biologischen als auch in der kulturellen
Welt normative Eigenschaften gibt, und zwar insofern es normative Klassen gibt. Wir
finden natürliche Normen in der Welt vor, und deshalb muss Normativität nicht aus zwei
Komponenten heraus entstehen. Es wurde vorgeschlagen Normativität im Sinne der
Zugehörigkeit zu einer normativen Kategorie zu verstehen. Der Wille eines Subjekts nun
ist keine notwendige Bedingung für ein Tunsollen. Betrachten wir folgende Verhaltensregel
für Mitglieder normativer Kategorien:
(1) Wenn X Mitglied einer funktionalen normativen Kategorie K mit der
Funktion F ist, dann folgt daraus, dass X F tun soll, und dass X defekt ist,
wenn X nicht F tut.
Dies ist direkt relevant für Forderungen des Tunsollens. Wenn X Arzt ist, dann folgt
daraus, dass X Personen heilen soll, und dass X defekt ist, wenn X Personen krank macht.
Was X, der Arzt, tun soll, hängt davon ab, was X ist, d.h. zu welcher normativen Kategorie
X gehört. Ob X seine Funktion ausüben will oder nicht, ist irrelevant. Ebenso ist es
irrelevant, ob X Arzt werden wollte oder nicht.
Vgl. Foot: 2001: 72.
Stemmer 2008: 43.
702 Stemmer 2008: 36.
700
701
310
Wie kommen wir zu moralischen Normen? Betrachten wir einen Folterer wie
Mengele. Wir könnten doch sagen, dass „Folterer“ eine normative Kategorie ist. Nehmen
wir als Zweck der Folter die gezielte Zufügung großer Schmerzen. Entsprechend gibt es
gute und schlechte Folterer. Judith Jarvis Thomson behandelt einen analogen Fall. Ein
guter Juwelendieb sei jemand, der wertvolle Juwelen klaut und nicht wertlosen Strass.
Dagegen ist zunächst nichts einzuwenden. Aber es widerspricht natürlich unseren
moralischen Normen. Betrachten wir das erfolgreiche Foltern oder den erfolgreichen
Juwelendiebstahl als gut (relativ zu einem normativen Begriff der die entsprechende
normative Klasse bestimmt), dann müssen wir, wie es scheint, von dieser Art
teleologischen Normativität offenbar eine andere Form der moralischen Normativität
unterscheiden. Wir wollten aber einem einheitlichen Verständnis der Normativität
Vorschub leisten. Zu diesem Zweck können wir (1) in der folgenden Weise erweitern:703
(2) Wenn X Mitglied einer funktionalen normativen Kategorie K mit der
Funktion F ist, dann folgt daraus, dass X F tun soll, und dass X defekt ist,
wenn X nicht F tut, falls X nicht Mitglied einer normativen Kategorie K*
ist, die K einschließt, sodass X ein defektes Mitglied von K* ist, wenn es F
tut.
Ein Folterer wie Mengele, der zugleich Mitglied der kulturellen funktionalen normativen
Kategorie der Ärzte ist, ist ein defektes Mitglied dieser Kategorie, wenn er seine Funktion
als Folterer ausübt. Sowohl ein Juwelendieb als auch ein Folterer sind zugleich Mitglieder
der spezifischen normativen Kategorie der Menschen. Verstoßen sie gegen die auf der
Zugehörigkeit zu dieser Kategorie basierenden Tugenden, dann sind sie moralisch defekte
Mitglieder der Kategorie Mensch. Intuitiv ist es plausibel, dass sowohl der Folterer als auch
der Juwelendieb gegen Tugenden (wie Gerechtigkeit oder Güte) verstoßen oder durch
Laster (wie Grausamkeit oder Gier) getrieben werden. Ein Folterer ist als Mitglied der
normativen Kategorie der Folterer intakt oder defekt. Als Mitglieder der normativen
Kategorie Arzt oder Mensch ist der Folterer auf jeden Fall defekt, egal ob er ausgezeichnet
oder miserabel foltert. Ebenso der Juwelendieb als Mitglied der normativen Kategorie
Mensch, egal ob er ein Meisterdieb oder ein Dummkopf ist, ob er seine Tätigkeit mit Mut
und Besonnenheit ausübt oder nicht.
Der Umstand also, dass ein Mensch Mitglied einer normativen Kategorie ist, stellt
Forderungen an sein Tun und an sein Lassen, die nicht über den Willen des betreffenden
Menschen vermittelt sind. Ebenso stellt der Gebrauch von Dingen, die einer kulturellen
funktionalen normativen Kategorie angehören, Forderungen an das Tun und Lassen von
703
Vgl. Thomson 2007.
311
Benutzern dieser Artefakte. Bisweilen wird gesagt, die Echte Funktion beziehe sich auf den
richtigen Gebrauch eines Artefakts durch aktuelle oder potenzielle Nutzer. Die normative
Dimension hängt dann von der Richtigkeit des Gebrauchs ab.704 Wir haben jedoch am
Beispiel des PKW, der als Blockade dient, gesehen, dass der Gebrauch eines Artefakts
keinesfalls seine Echte Funktion bestimmt. Es ist vielmehr umgekehrt: Die Funktion eines
Artefakts legt seinen richtigen Gebrauch fest, und gibt überdies Regeln vor, wie mit einem
Artefakt umzugehen ist. Erinnern wir uns an das Beispiel von Sellars (1.2.6.):
Uhrenschlagwerke sollten alle Viertelstunde schlagen. Das ist eine Norm, die auf
Uhrenschlagwerke zutrifft. Sie sagt etwas über das Seinsollen von Uhrenschlagwerken aus.
Solche Schlagwerke sind zu diesem Zweck hergestellt worden und sie sollen so gewartet
werden, dass sie alle Viertelstunde schlagen. Daraus ergibt sich eine Handlungsregel, die
nun nicht auf Uhren, sondern auf Personen (den Hersteller oder den Wärter) zutrifft: Man
soll dafür sorgen, dass Uhrenschlagwerke alle Viertelstunde schlagen. Die funktionale
Norm eines Artefakts gibt die Handlungsregel vor. Der Grund dafür ist natürlich, dass
Artefakte funktionale normative Kategorien bilden. Damit soll nun nicht behauptet
werden, dass die Intentionen, Überzeugungen und Wünsche von Subjekten keine Rolle
spielen. Die intentionalen Zustände von Subjekten – gemeint sind sowohl die Intentionen
und Absichten von Herstellern als auch die Wünsche, Bedürfnisse und Vorhaben von
Nutzern – sind ein Faktor in den Prozessen, die dazu führen, dass hergestellte Produkte
Echte Funktionen erwerben oder verändern. Sie sind Bestandteil der Normalen Erklärung
dafür, dass Artefakte Funktionen mit Erfolg ausführen, ebenso wie weitere
Umweltbedingungen, Naturgesetze oder die Materialbeschaffenheit eines Artefakts
Bestandteil der Normalen Erklärung dafür sind, dass Artefakte ihre Echten Funktionen
erfolgreich ausüben können. Sprachliche Formen, Worte, Wortverbindungen usw. können
im Sinne der Theoriekonstruktion ebenfalls als kulturelle funktionale normative Kategorien
betrachtet werden, und aus diesem Umstand leitet sich die sogenannte „semantische
Normativität“ ab.
704
Vgl. Scheele 2006.
312
4. SUMPFMANN UND ANIMALISMUS
4.1. Hat die Biosemantik ein Sumpfmannproblem?
Im Kapitel 3 wurden die biosemantischen Thesen, dass es natürliche Normen gibt und dass
natürliche Normativität genuine Normativität ist, mit der naturalistischen Tugendethik
verbunden. Der theoriestrategische Zug bestand darin, diese beiden Theorieformationen
sich gegenseitig stützen zu lassen. Die Tugendethik kann zeigen, wie spezifische normative
Kategorien aufzufassen sind und die Biosemantik kann darlegen, wie funktionale normative
Kategorien zu verstehen sind. Das scheinbar theorieinterne teleosemantische Problem, dass
die Darlegung von Normativität auf der Grundlage natürlicher normativer Kategorien
motiviert hat, lautete, ob die Teleosemantik einen normativen Begriff der Funktion brauche
(1.1.1. & 1.3.). Gegen Dretskes und Papineaus Einwände wurde geltend gemacht, dass IRInhalte, weil sie wahr und falsch sein können, eine normative Dimension aufweisen und
dass diese normative Dimension in der natürlichen Welt vorgefunden werden kann. Gegen
Millikan und Neander, die zwar im Gegensatz zu Dretske oder Papineau akzeptieren, dass
intentionale Repräsentationen über eine normative Dimension verfügen, jedoch defensiv
von einer gleichsam nicht-normativen Normativität auszugehen geneigt sind, wurde
gezeigt, dass die Biosemantik offensiv einen starken Begriff der Normativität in Anspruch
nehmen darf und soll (3.1.1.). Sie darf es, insofern im Begriff der normativen Kategorie alle
Formen der Normativität entweder vorgefunden oder abgeleitet werden können (3.1.2.3.1.4. & 3.3.3.), und sie soll es, insofern es sich bei der Biosemantik um einen
anspruchsvollen Theorieansatz handelt (1.1.1.), dessen explanatorisches Potenzial in seiner
Kraft zu Vereinheitlichung liegt (2.3.).
Ein analoges Vorgehen soll auch in diesem und dem nächsten Kapitel befolgt
werden. In diesem Kapitel wende ich mich dem dritten Problem der Biosemantik zu,
nämlich der Frage, ob die Biosemantik das Sumpfmannproblem lösen kann (1.1.1.). Die
Biosemantik besagt, dass es für den Geist essenziell ist, eine biologische Vorgeschichte zu
haben. Von einer Person P oder einer Kuh K wird durch irgendein Wunder ein qualitativ
identisches Duplikat angefertigt (der Sumpfmann oder die Sumpfkuh). Doch P und K
gehören zu einer biologischen Art, sie haben eine Selektions- und Lerngeschichte, die
Duplikate hingegen nicht. Folglich haben P und K gehaltvolle Wahrnehmungen,
Erinnerungen und andere geistige Zustände, die ununterscheidbaren Duplikate jedoch
nicht. Doch dies erscheint vielen Kritikern als höchst unplausibel. Man kann diese Intuition
verstärken, wenn man sich vorstellt, dass zwei Sumpfwesen sich reproduzieren und
313
dadurch ebenfalls Wesen ohne geistige Zustände hervorbringen. Ist das nicht
kontraintuitiv? Einzelne Autoren sind bereit, die Biosemantik alleine aufgrund dieser
intuitiven Unplausibilität zu verwerfen.705 Ich halte dies für überzogen, werde aber diese
Intuition nicht direkt angreifen.706 Viele Naturalisten halten Intuitionen philosophisch für
wertlos und Gedankenexperimente für nicht der Rede wert.707 Intuitionen scheinen mir
nicht wertlos zu sein. Zunächst geben sie uns Anhaltspunkte dafür, wie wir über natürliche
Arten denken. Auch meine Vorschläge zu funktionalen Kategorien und biologischen Arten
stützen sich teilweise auf solche Anhaltspunkte. Darüber hinaus sind Intuitionen eine
Quelle, die Anhaltspunkte für den Inhalt unserer Begriffe liefert. Diese Quelle, wie andere
epistemische Quellen auch, ist fehlbar. Intuitionen haben das unverzichtbare erste Wort
und sie können als epistemische Leitplanken der theoretischen Arbeit angesehen werden.
Sie haben jedoch nicht das letzte Wort. Ich werde deshalb in diesem Abschnitt die
Voraussetzungen für die Zuverlässigkeit starker Intuitionen in Frage stellen und den
Versuch unternehmen, ein Gleichgewicht zwischen gegenläufigen Intuitionen im Hinblick
auf den Sumpfmann zu erzeugen.
Schließlich – und darin besteht die Hauptaufgabe dieses Kapitels – werde ich die
Biosemantik mit dem Animalismus so zusammenführen, dass die Voraussetzung, die zum
Vgl. Block 2007: 19.
Vgl. dazu Millikan 1996, 2010; Neander1996; Papineau 1996, 2001; Lalor 1998.
707 Normalerweise werden eine bestimmte Auffassung von Begriffen, die Methode der Begriffsanalyse und
der Einsatz philosophischer Intuitionen als Einheit betrachtet. Einige Autoren betrachten Intuitionen als eine
besondere Art von apriorischen Urteilen ähnlich denjenigen geübter Mathematiker (vgl. Bealer 1998), andere
hingegen betrachten Intuitionen als Urteile über unseren Sprachgebrauch ähnlich den ästhetischen Urteilen
kultivierter Kunstkritiker (vgl. Cavell 1976). Bei beiden geht es darum, was wir in bestimmten, aktuellen oder
hypothetischen Fällen sagen würden, d.h. ob wir einen bestimmten Begriff zur Anwendung bringen würden
oder nicht. Naturalistisch gesinnte Philosophen, die Begriffsanalysen ablehnen, stehen dem Wert von
Intuitionen gelinde gesagt misstrauisch gegenüber: „philosophical intuition is epistemologically useless”
(Cummins 1998: 125). Im Hinblick auf den Sumpfmann hat Papineau ebenfalls eine solch ablehnende
Haltung bezeugt, indem er in seinem und Millikans Namen meint: „[W]e both gave the same response to the
intuition that such a being [Sumpfmann] would, contrary to our theories, have contentful beliefs and desires.
Namely, that since we were offering a posteriori theories of representation, rather than conceptual analyses of
an everyday notion, we were prepared to reject the common-sense intuition that Swampman has contentful
states.“707 (Papineau 1996: 130). Doch auch wenn man diese Haltung einnimmt, muss man etwas darüber
sagen, mit welchen Gründen man die Intuitionen des Commonsense verwirft und warum der Commonsense
solche Intuitionen hat. In meinen Augen ist nicht jeder Gebrauch von Intuitionen mit einer bestimmten
Auffassung über die philosophische Methode oder über den sprachlichen Inhalt verknüpft. Die Erörterung
von aktuellen und hypothetischen Fällen und die Befragung unserer Intuitionen reflektieren erstens einfach
unsere Überzeugungen im Hinblick auf Objektkategorien. Sie können so als Ausgangspunkt dienen, das
Wesen einer Objektkategorie zu fassen. Intuitionen sind Daten. Und wie andere Daten auch, können ihnen
alternative Datensätze oder alternative Erhebungsmethoden entgegengehalten werden. Darin besteht das
Ausbalancieren von unterschiedlichen Intuitionen. Weiter liefern Intuitionen Hinweise auf den Inhalt von
Begriffen. Dabei ist es wichtig zu sehen, dass sie dies auch dann können, wenn die in den Intuitionen
ausgedrückten Überzeugungen für den Inhalt der Begriffe nicht konstitutiv zu sein braucht, sondern sie
brauchen nur damit verbunden zu sein. Lawrence und Margolis (2003: 279) weisen zu Recht auf folgenden
Punkt hin: „Thus intuitions correlate with categorization dispositions and categorization dispositions
correlate with content. The result is that intuitions are broadly correlated with content on virtually any theory
of content.“ Intuitionen sind ein Instrument, und zwar ein fehlbares Instrument, das die Funktion hat
anzuzeigen, ob ein bestimmter Begriff in einem aktuellen und hypothetischen Fall Anwendung findet oder
nicht.
705
706
314
Sumpfmannproblem führt, als intuitiv einleuchtende Lösung eines bestimmten Problems
erscheint, sodass sich das intuitive Gleichgewicht zugunsten der Biosemantik verschiebt.
Die wichtige konstruktive These dieses Kapitels besteht jedoch in dem Nachweis, dass es
richtig ist, uns in erster Linie als biologische Wesen zu betrachten. Menschen sind Tiere.
Nur so erscheint es gerechtfertigt, für uns charakteristische mentale und andere normative
Eigenschaften als biologische Eigenschaften zu verstehen. Dieser Gedanke wird von
Millikan lediglich vorausgesetzt, nicht jedoch explizit gemacht, geschweige denn begründet.
Deshalb legt dieses Kapitel einen weiteren Grundstein für ein einheitliches naturalistisches
Bild unserer Stellung in der natürlichen Welt.
Worin besteht das Sumpfmannproblem?708 Das Problem hat natürlich mit dem
semantischen Externalismus zu tun. Putnam will mit seiner Zwillingserde zeigen, dass
mentale Zustände (wie Überzeugungen) nicht zugleich zwei Bedingungen erfüllen können,
nämlich:
(1) Mentale Zustände sind interne Zustände in dem Sinne, dass sie keine andere
Existenzvoraussetzung haben, als die Existenz eben jenes Individuums, dem diese
Zustände zugeschrieben werden.
(2) Mentale Zustände werden einem Individuum normalerweise aufgrund ihrer
kausalen Relation zu Dingen (Objekten, Eigenschaften, Ereignissen, Tatsachen) in
der aktuellen (physischen, sozialen) Umgebung dieses Individuums zugeschrieben.
708 Der Sumpfmann entstammt dem Comic Swamp Thing. In den frühen 1970er-Jahren arbeitet der
Wissenschaftler Alec Holland in den Sümpfen von Louisiana an einer bio-restaurativen Formel, mit deren
Hilfe Wüsten in Wälder verwandelt werden sollen. Infolge eines Bombenattentats auf sein Labor rennt der
mit brennenden Chemikalien überschüttete Holland in die nahen Sümpfe und versinkt. An seiner Stelle
erscheint ein pflanzenartiges humanoides Wesen: Swamp Thing, das Ding aus dem Sumpf. Dieses Wesen ist
sowohl mit Hollands Erinnerungen als auch mit dessen Persönlichkeit ausgestattet, unterscheidet sich aber in
seinem abstoßenden Äußerlichen erheblich von ihm. Die 70-er Jahre sind im Zusammenhang mit dem
Aufkommen des semantischen Externalismus auch in der Philosophie eine Zeit der Science-Fiction-Literatur.
Nachdem Putnam die Zwillingserde eingeführt hatte, tauchte dort bald auch das Ding aus dem Sumpf auf
(zuerst in Stich 1978). Millikan führt die Idee in LTOBC ein: „The position is that intentionality is grounded
in external natural relations, Normal and / or proper relations, between representations and representeds, the
motions „Normal“ and „proper“ being defined in terms of evolutionary history […]. Let me put the position
starkly – so starkly that the reader may simply close the book! Suppose that by some cosmic accident a
collection of molecules formerly in random motion were to coalesce to form your exact physical double.
Though possibly that being would be and even would have to be in a state of consciousness exactly like ours,
that being would have no ideas, no beliefs, no intentions, no aspirations, no fears, and no hopes. (His nonintentional states. Like being in pain or itching, may of course be another matter.) This because the
evolutionary history of the being would be wrong. For only in virtue of one’s evolutionary history do one’s
intentional mental states have proper functions. Hence does one mean or intend at all, let alone mean
anything determinate.“ (LTOBC: 93) Donald Davidson schließlich bringt alle Elemente zusammen und führt
so den Sumpfmann drei Jahre nach dem Erscheinen von LTOBC ausdrücklich in die Diskussion ein: „Since
some may be a little wary of Putnam’s doppelgänger on Twin Earth. Let me tell my own science fiction
story – if that is what it is. […] Suppose lightning strikes a dead tree in a swamp; I am standing nearby. My
body is reduced to its elements, while entirely by coincidence (and out of different molecules) the tree is
turned into my physical replica. My replica, Swampman, moves exactly as I did; according to its nature it
departs the swamp, encounters and seems to recognize my friends, and appears to return their greetings in
English. It moves into my house and seems to write articles on radical interpretation. No one can tell the
difference.“ (Davidson 2001: 18f.) Soviel zur Geburt von Sumpfmann.
315
Der ersten Auffassung entsprechend könnte ein Individuum auch dann noch über mentale
Zustände verfügen, wenn es das einzige existierende Individuum wäre (Solipsismus) oder
wenn die Außenwelt nicht existieren würde (Skeptizismus). Aufgrund des Vorranges der
Perspektive
der
ersten
Person
und
der
Denkmöglichkeit
des
globalen
Außenweltskeptizismus wird diese Auffassung als „cartesianische“ apostrophiert. Die
zweite Bedingung hingegen fordert für mentale Zustände nicht nur die Existenz des
Inhabers dieser Zustände, sondern auch die Existenz jener externen Dinge, von denen
diese Zustände handeln. Wenn nun mentale Zustände nicht zugleich die Bedingungen (1)
und (2) erfüllen können, muss man, wie es scheint, eine Bedingung fallen lassen. Doch
diese Konsequenz ist an dieser Stelle noch keineswegs zwingend, denn der Ausdruck
„mentaler Zustand“ ist mehrdeutig. Er kann sowohl „Vehikel“ als auch „Inhalt“ meinen.
Dies stellt kein gravierendes Problem dar. Mentale Zustände sind als Vehikel interne
Zustände, handeln aber als Zustände mit einem Inhalt von externen Umständen. Als
Vehikel werden mentale Zustände durch interne Faktoren individualisiert und identifiziert,
im Hinblick auf ihren Inhalt jedoch durch externe Faktoren. Soweit besteht keine
Unverträglichkeit zwischen (1) und (2). Man muss (1) vielmehr als semantische These
reformulieren, nämlich als semantischen Internalismus:
(1*) Die Inhalte der mentalen Zustände von S supervenieren allein auf den
internen, intrinsischen Eigenschaften von S (z.B. den intrinsischen physischen und
chemischen Eigenschaften des Hirns von S).
Wir können (1*) etwas charakterisieren. Mentale Zustände sind interne Zustände von S.
Ein Zustand ist intern, wenn er die Existenz von nichts Anderem voraussetzt, als jenes S’,
das in diesem Zustand ist. Ein Zustand ist intern, wenn er sich über Duplikate hinweg
erhält (Zwillingserde). Daraus folgt: Wenn S1 (auf der Erde) und S2 (auf der Zwillingserde)
die gleichen internen Zustände haben, so unterscheiden sie sich nicht hinsichtlich des
Inhalts dieser Zustände. Es gibt keinen Unterschied im Inhalt von mentalen Zuständen
ohne einen Unterschied in den internen Zuständen. Jede korrekte psychologische Theorie
darüber, dass ein S gewisse mentale Zustände hat (oder nicht hat) darf mithin
ausschließlich interne Eigenschaften von S berücksichtigen. Entsprechend negiert der
semantische Externalismus These (1*) und behauptet, dass nicht alle Inhalte mentaler
Zustände auf internen Zuständen von S supervenieren. Ein Zustand Z ist nicht-intern
(extern), wenn Z die Existenz von etwas Anderem voraussetzt als von S, das sich in Z
befindet. Ein Zustand ist nicht-intern (extern), wenn er sich über Duplikate hinweg nicht
erhält (Zwillingserde). Zwei intern identische S (auf der Erde bzw. der Zwillingserde)
können sich hinsichtlich des Gehalts ihrer mentalen Zustände folglich unterscheiden.
316
Von welchen externen Faktoren hängt nun der Inhalt eines mentalen Zustands ab?
Hier gibt es prinzipiell drei verschiedene Möglichkeiten: Der Inhalt mentaler Zustände
hängt von der physikalischen, von der sozialen oder von der historischen Umwelt von S ab.
Jede korrekte psychologische Theorie über den Inhalt der internen Zustände von S muss
Faktoren der physikalischen und/oder der sozialen Umwelt und/oder der historischen
Umwelt von S berücksichtigen. Für die Biosemantik ist nun die historische Umwelt
entscheidend, und zwar weil IR-Inhalte abhängig von Echten Funktionen sind, Echte
Funktionen aber eine wesentlich historische Kategorie sind. Die Biosemantik weist also in
gewisser Weise sowohl (1*) als auch (2) zurück. Intentionale Zustände supervenieren
keineswegs allein auf den internen, intrinsischen Eigenschaften eines Wesens. Zwar werden
mentale Zustände einem Wesen normalerweise aufgrund seiner kausalen Relation zu Dingen
in seiner aktuellen physischen oder sozialen Umgebung zugeschrieben. Doch der Grund
für den Besitz intentionaler Zustände liegt keineswegs in der Zuschreibung über diese
Relationen, sondern in der Geschichte des Lebewesens und den dadurch entstandenen
Funktionen seiner kognitiven Vermögen. Da Echte Funktionen also wesentlich historisch
sind (1.1.4.) und Lebewesen wesentlich zu Arten mit historischen Essenzen gehören
(3.3.2.), kann ein wundersam entstandenes Wesen ohne jede Vorgeschichte, das sich gleich
wie eine erwachsene Person verhält (der Sumpfmann), der Biosemantik zufolge keine
intentionalen Zustände haben. Worin besteht jetzt das Sumpfmannproblem für die
Biosemantik?
Von einer Person P wird durch irgendein Wunder ein qualitativ identisches
Duplikat D angefertigt (der Sumpfmann). Doch P gehört zu einer biologischen Art, hat
eine Selektions- und Lerngeschichte, D hingegen nicht. Folglich hat P gehaltvolle
Wahrnehmungen, Erinnerungen und andere geistige Zustände, der ununterscheidbare D
jedoch nicht. Dies erscheint vielen Kritikern als höchst unplausibel. Es widerspreche
sowohl der unmittelbaren als auch der philosophisch gepflegten Intuition, einen
ununterscheidbaren Doppelgänger als etwas sui generis Verschiedenes aufzufassen. Es
scheint ja für unseren praktischen Umgang mit D keinen Unterschied zu machen, ob D
biologische Vorfahren hat oder nicht. Alles scheint dafür zu sprechen, dass D ebenso über
intentionale Zustände verfügt, wie P. Wenn es für unseren Umgang mit D als einem
mentalen Wesen keinen Unterschied macht, ob er Vorfahren hat oder nicht, dann kann es
auch für den Besitz intentionaler Zustände keinen Unterschied machen, ob ein Wesen mit
intentionalen Zuständen Vorfahren hat oder nicht. Aus diesem Grund verfehlen
teleosemantische Theorien ihr explanatorisches Ziel, nämlich die Erklärung der
Intentionalität. Man kann diesen Einwand gegen die Teleosemantik dramatisieren, indem
317
man darauf verweist, dass auch die Kinder und Enkel zweier Sumpfmenschen keine genuin
intentionalen Zustände verfügen,709 oder indem man sie als „aristokratische Theorie des
Geistes“ betrachtet, in der die Abstammung über Intentionalität entscheide,710 und man
kann für den Sumpfmenschen gleiche Rechte fordern.711 Wie weit auch immer man die
Zuspitzung rhetorisch vorantreiben will, der wesentliche Punkt besteht darin, dass zwei in
ihrem Verhalten ununterscheidbare und mithin qualitativ identische Wesen derart
verschieden sein sollen, dass das eine Wesen (die Person P) über einen Geist verfügt, das
andere (deren Duplikat D) hingegen nicht. Und dies scheint unseren grundlegenden
Intuitionen zu widersprechen.
Ich halte den Anspruch auf einen starken Status für Intuitionen in der Philosophie
für weitgehend fragwürdig, bin jedoch zugleich, wie bereits dargelegt, nicht der Ansicht,
dass Intuitionen wertlos sind und sich die Diskussion von Gedankenexperimenten nicht
lohnt. Die philosophische Zuverlässigkeit von Intuitionen scheint auf zwei Grundsätzen zu
beruhen: Erstens auf der Vorstellung eines kompetenten Begriffsbenutzers, die wiederum
auf einer bestimmten Auffassung von Begriffen und privilegiertem epistemischem Zugang
zur Bedeutung von Begriffen beruht. Zweitens beruht sie auf der Annahme, dass
philosophische Gedankenexperimente, wie sie der Sumpfmannfall veranschaulicht, dazu
geeignet sind, die Kompetenz der Begriffsbenutzer und den Zugang zu ihren Begriffen in
geschärfter Weise hervortreten zu lassen.
Beide Voraussetzungen scheinen fragwürdig. Die sogenannte „experimentelle
Philosophie“712 hat den Gedanken des kompetenten Begriffsbenutzers auf zwei Weisen in
Frage gestellt. Erstens unterscheiden sich die Intuitionen für die Anwendung von
bestimmten Begriffen relativ zu Hintergrundannahmen, die mit der kulturellen Herkunft
der Begriffsbenutzer variieren. So wenden westliche und östliche Sprecher des Englischen
den Begriff des Wissens unterschiedlich an und zeigen entsprechend signifikante
Unterschiede im Hinblick auf mutmaßlich kontraintuitve Folgen externalistischer
Erkenntnistheorien.713 Der Rückgriff auf den kompetenten Sprachbenutzer scheint für sich
selbst genommen kein Entscheidungskriterium für oder gegen eine Implikation einer
philosophischen Theorie liefern zu können. Zweitens setzt der Rückgriff auf die
semantische Introspektion kompetenter Begriffsbenutzer einen direkten Zugang zum
Vgl. Block 2007: 19.
So
Patrick
Suppes,
zitiert
nach
Tim
Schroeder
Homepage:
http://wwwcsli.stanford.edu/events/Coglunch//schroeder.html. (zuletzt besucht am 04.04.2010).
711 Vgl. Anthony 1996.
712 Vgl. Knobe 2008. Für Millikans Problematisierung, die anders geartet ist als die hier vorgeschlagene, vgl.
LBM: 7, Millikan 2010.
713 Vgl. Stich 1988; Weinberg, Nichols, Stich 2001; Nichols, Stich, Weinberg 2003. Zur Unterscheidung
zwischen westlichen und östlichen Denkweisen vgl. Nisbett 2003.
709
710
318
Inhalt von Gedanken und Begriffen voraus, macht also internalistische Voraussetzungen,
die man nicht zu teilen braucht. Millikan bezeichnet diese Voraussetzung als
„Bedeutungsrationalismus“ (meaning rationalism) und meint damit die Annahme, dass
Introspektion oder Reflexion alleine darüber Auskunft geben, ob die eigenen Gedanken
und Begriffe klar, kohärent und nicht widersprüchlich seien.714 Natürlich scheint es zum
Commonsense zu gehören, dass man weiß, was man denkt. Für Millikan handelt es sich
hierbei lediglich um eine weitere Form des Mythos des Gegebenen. Der Rückgriff auf den
Commonsense ist für sich genommen keine ausreichende Basis für die Annahme, dass
Gehalt, Kohärenz und Widerspruchsfreiheit der eigenen Gedanken und Begriffe allein
introspektiv evaluiert werden könnten.
Der zweiten Annahme zufolge sind Gedankenexperimente besonders geeignet, die
begrifflichen und sprachlichen Intuitionen kompetenter Sprachbenutzer hervortreten zu
lassen. Diese Annahme erscheint mir ebenfalls fragwürdig. Zum einen sind die Begriffe
kompetenter Sprachbenutzer nicht unter Bedingungen erworben worden, wie sie in
Gedankenexperimenten hergestellt werden. Gedankenexperimente beruhen in den
überwiegenden Fällen auf der Herstellung qualitativ identischer Situationen mit einem
entscheidenden und anscheinend leicht zu lokalisierenden Unterschied, wobei die
Herstellung dieser Situation zumeist auf einer in den Augen des Alltagsverstands lediglich
fantastischen Wahrscheinlichkeit beruht. Dazu gehören Farbgeschäfte, die explodieren und
als Resultat ein Muster auf einer Leinwand erzeugen, das sinnlich nicht von Van Goghs
Sonnenblumen zu unterscheiden ist; Zwillingserden mit einer chemisch unterschiedlich
beschaffenen Substanz, die sonst ganz und gar unserem Wasser entspricht; Hellseher, die
aufgrund eines besonderen Tumors zuverlässig über bevorstehende Ereignisse Auskunft
geben können; Menschen, die durch kosmischen Zufall in Sumpfgebieten entstehen, sich
verhalten, wie andere Mitglieder unserer Spezies, nur dass sie weder eine Selektions- noch
eine Lerngeschichte hinter sich haben. Nichts weist darauf hin, dass sich unsere Begriffe
und Intuitionen gegenüber solchen spezifischen Situationen auf sicherem Terrain bewegen
können, vielmehr scheinen die Gedankenexperimente darauf hinzuarbeiten, dass wir uns
über die Anwendbarkeit unserer Begriffe und die Ausbildung von Intuitionen unsicher
werden. Gedankenexperimente schaffen keine Situationen, die Intuitionen schärfen,
sondern solche, die Intuitionen verunsichern. Die wichtigste Möglichkeit nun, Intuitionen
zu verunsichern, besteht darin, dass die Anordnung des Gedankenexperiments dazu
zwingt, einen möglicherweise entscheidenden Aspekt einer Problemlage einfach zu
714
Vgl. WQP: XIV.
319
übersehen, weil er aus der experimentellen Anordnung ausgeschlossen wird. Ich möchte
dies an einem Beispiel aus der Tierethik illustrieren.
Stellen wir uns vor, wir hätten aus irgendeinem Grunde nur die Möglichkeit eines
von zwei Wesen vor dem sicherem Tod zu retten. Bestimmt wäre es falsch, keines der
beiden Wesen zu retten. Welches soll nun gerettet werden? Eines der beiden Wesen sei ein
schwer krankes menschliches Waisenkind, das nur noch wenige Monate zu leben hat, das
andere Wesen sei ein edles, seltenes, gesundes, junges Wildtier. Wen sollen wir retten?
Sowohl der utilitaristischen Ethik Peter Singers als auch der deontologischen Ethik Tom
Regans zufolge müssen wir die Interessen bzw. die Rechte beider Wesen als prinzipiell
gleichwertig betrachten. Die Abwägung erfolgt bei Singer über ein Kalkül der Maximierung
von intrinsisch positiven Erlebnissen (Lust) und der Minimierung von intrinsisch negativen
Erlebnissen (Unlust). Die Abwägung bei Regan erfolgt aufgrund ähnlicher Überlegungen,
da sich beide Wesen hinsichtlich ihres absoluten inhärenten Wertes nicht unterscheiden,
also
muss
man
zu
einer
Abwägung
intrinsischer
Werte
übergehen.
Beide
Betrachtungsweisen konstruieren die moralische Situation so, dass sie lediglich aus zwei
Elementen besteht, nämlich aus den beiden zu rettenden Wesen.715 Demgegenüber sieht
die Tugendethik die moralische Situation von Anfang an anders. Sie besteht aus drei
Elementen, nämlich den beiden Wesen und dem in die Handlungspflicht genommenen
Akteur. Wäre es für diesen Akteur tugendhaft sich so zu verhalten, dass er von der sozialen
Nähe des pflegebedürftigen Kindes abstrahiert? Wäre es tugendhaft sich so zu verhalten,
dass er von den Folgen seiner Handlung auf sein gutes Leben abstrahiert? Natürlich nicht.
Der tugendhafte Akteur berücksichtigt sowohl die Frage der sozialen Nähe als auch die
Frage, ob es für einen wirklich tugendhaften Menschen zulässig ist, die Fürsorge für ein
Wesen auszuschlagen, denn das Wildtier würde seiner Fürsorge nach der Rettung nicht
bedürfen, das Kind hingegen schon. Es wäre ein Ausdruck mangelnder sozialer Nähe,
mangelnden Mitleids und fehlender Übernahme von Fürsorge, würde der Akteur nicht das
Kind retten. Da es sich dabei um einen Mangel an Tugenden handelt und für den
Tugendethiker das richtige Handeln sich an dem bemisst, was ein wahrhaft tugendhafter
Mensch tun würde, wäre es falsch, das Kind nicht zu retten. Nun nimmt sich die Situation
so aus, dass der tugendhafte Akteur auf jeden Fall gezwungen ist, etwas zu unterlassen, das
ein tugendhafter Akteur nicht unterlassen darf, nämlich einem Wesen zu helfen. Es ist klar,
was der Akteur aus der eben vorgeschlagenen Perspektive tun muss, aber dies bedeutet
nicht, dass er dabei nicht gezwungen wird, eine gebotene Handlung unterlassen zu müssen.
715
Singer 1994; Regan 1988; für einen Kritik an diesen Ansätzen vgl. Wolf 2004.
320
Der Akteur, wenn er tugendhaft ist, wird sich dies vorwerfen müssen. Kein Dritter,
insofern er tugendhaft ist, wird dem Akteur dies vorwerfen dürfen.
Es ist nun für meine Zwecke weniger entscheidend, wie der Akteur sich der
Tugendethik gemäß zu verhalten hätte, wichtiger ist der Umstand, dass der Tugendethiker
darauf beharren muss, die moralische Situation nicht so zu konstruieren, dass lediglich die
beiden zu rettenden Lebewesen in Betracht kommen. Es ist Ausdruck einer mangelnden
und verfehlten moralischen Wahrnehmung, die Situation allein im Hinblick auf die beiden
moralischen Objekte, nicht aber unter Einbeziehung des moralischen Akteurs zu
betrachten.716 Wer die moralische Situation so konstruiert, hat aus der Sicht des
Tugendethikers bereits die Unfähigkeit demonstriert, eine moralische Situation adäquat zu
erfassen, was natürlich ein Ausdruck eines moralisch unzureichenden Charakters ist.717
Analog ist die Situation beim Sumpfmann. Sie ist so konstruiert, dass die Vergangenheit des
Sumpfmanns keine Rolle spielt. Doch dies verfehlt die kognitive Situation. Wenn uns eine
Person sagt, sie hätte persönliche Erinnerungen an ein bestimmtes Ereignis und sich
durchgehend so verhält, als hätte sie solche Erinnerungen an dieses Ereignis, wir aber
wissen, dass diese Person unmöglich Zeuge des besagten Ereignisses hat sein können, dann
werden wir natürlich nicht glauben, dass sie tatsächlich Erinnerungen hat, auch wenn sie
sich in allem genau gleich verhält, wie eine Person, die tatsächlich Zeuge des besagten
Ereignisses gewesen ist. Ebenso verhält es sich im Falle des Sumpfmanns. Keine seiner
persönlichen Erinnerungen ist eine Erinnerung an ein bestimmtes Ereignis, weil
Sumpfmann ex hypothesis noch nichts erlebt hat. Er kann keine Erinnerungen haben. Wenn
wir nur das erinnerungsbezogene Verhalten einer normalen Person und seines
Sumpfmannduplikats vergleichen, ohne die Vergangenheit der beiden Wesen zu
berücksichtigen, dann verfehlen wir die kognitive Situation. Darin besteht die Analogie
zum moralischen Fall, den ich vorhin diskutiert habe: Ein für die (moralische bzw.
kognitive) Situation erheblicher Aspekt wird ausgeklammert und dadurch die (moralische
bzw. kognitive) Situation als solche verfehlt. Es ist ein Ausdruck eines moralisch
unzureichenden Charakters, die moralische Situation lediglich dyadisch zu verstehen, und
ebenso ist es ein Ausdruck eines verfehlten Verständnisses der kognitiven Leistung der
Erinnerung, die Situation ohne Bezug auf die Vorgeschichte der normalen Person und
seines Sumpfmannduplikats zu rekonstruieren.
Dementsprechend ist auch die in der Naturethik verbreitete Unterscheidung zwischen
„anthropozentrischen“ und „pathozentrischen“ Ansätzen verfehlt, wenn sie, wie es geschieht, als ein sich
ausschließendes Oppositionspaar aufgefasst wird, vgl. dazu Krebs 1997.
717 Tugendethische Ansätze in die tierethische Debatte führen auf sehr unterschiedliche Weise ein Becker
1983 und Hursthouse 2006. Die hier vorgeschlagene Betrachtungsweise lehnt sich an die Tugendethik im
Allgemeinen an und nicht an eine jener beiden Positionen.
716
321
Natürlich ist der Vergleich der moralischen und der kognitiven Situation nicht
symmetrisch, denn bei der kognitiven Situation würden wir zugeben wollen, dass
Sumpfmann doch zumindest glaubt, solche persönliche Erinnerungen zu haben. Doch weil
Sumpfmann der Biosemantik zufolge keine mentalen Zustände hat, kann er auch nicht der
Überzeugung sein, solche Erinnerungen zu haben. Was bringt uns dazu zu glauben, dass er
solche Überzeugungen hat? Nun, er verhält sich ganz so, als ob er solche Überzeugungen
hätte. Das wird auch von der Biosemantik nicht bestritten, ganz im Gegenteil, sie gibt
gerne zu, dass sich Sumpfmann so verhält, als ob er Überzeugungen hätte und wir
interpretieren ihn auch so, aber er hat keine Überzeugungen. Vielleicht spricht für das
Haben der Überzeugung noch, dass sich Sumpfmann solcher Überzeugungen bewusst ist
und dass er über das bestimmte Gefühl einer solchen Überzeugung verfügt. Warum sollten
das Bewusstsein oder das sichere Bewusstsein hier ausschlaggebend sein? Schließlich kann
man auch nicht ins Feld führen, dass die Äußerungen von Sumpfmann so sind, dass sie
Ausdruck
von
Überzeugungen
sein
müssen.
Die
Intentionalität
sprachlicher
Repräsentationen ist der Biosemantik zufolge unabhängig von der Intentionalität
sprachlicher Zustände (1.1.6.). Aus diesem Grund ist der Umstand, dass sich Sumpfmann
im Medium einer existierenden Sprache einer bestimmten Sprachgemeinschaft bedient,
alleine kein Hinweis darauf, dass er Inhaber intentionaler Zustände ist.
Ich habe einige grundlegende Zweifel an der Methode geäußert, philosophische
Intuition durch Gedankenexperimente hervorzubringen und dadurch philosophische
Dispute zu entscheiden, diese aber nicht zurückgewiesen. Zugleich habe ich mit dem
Verweis auf das Erinnerungsvermögen damit angefangen, eine Art Gegenintuition
aufzubauen. Ich möchte weiter daran arbeiten, diese Art von Gegenintuition aufzubauen.
Das Ziel besteht nach wie vor darin, ein intuitives Gleichgewicht zwischen der Biosemantik
und der Gegenseite herzustellen. Wir haben Varianten des Sumpfmannproblems bereits in
unterschiedlicher Gestalt angetroffen und es in theoretische Kontexte eingebettet.718 Dem
in Abschnitt 3.3.2. eingeführten Begriff der historischen Essenzen zufolge können
718 So habe ich darauf hingewiesen, dass in Jacksons Überlegungen zum „minimalen Physikalismus“
(MINPH) die geforderte physikalische Doppelgängerwelt keine essenziell historischen Entitäten enthalten
kann, und der Biosemantik zufolge auch keine Wesen mit intentionalen Zuständen. Denn in ihr würden keine
Wesen mit Echten Funktionen existieren und folglich handelte es sich um eine Welt aus Sumpfmenschen,
Sumpfkühen, Sumpffröschen usw. (2.2.) Im Verlauf der Diskussion um kulturelle funktionale normative
Kategorien am Beispiel des Küchenmessers haben wir gesehen, dass ein Artefakt einer bestimmten Kategorie
angehört, auch wenn es seine Funktion niemals erfüllen kann, weil es gemäß einem Design hergestellt wird,
dass die Funktion hat, zur Herstellung von Artefakten mit einer bestimmten Funktion zu führen. Ein
wundersam aus einem kosmischen Blitz entstandenes Ding, das wie ein Küchenmesser beschaffen und wie
ein Küchenmesser verwendbar ist, ist deshalb noch kein Küchenmesser. Es ist etwas, das miro modo wie ein
Küchenmesser beschaffen und als Küchenmesser verwendbar ist. Von einem nach einem Design
hergestellten Küchenmesser würden wir nicht sagen, dass es wie ein Küchenmesser beschaffen und als
solches verwendbar ist, sondern einfach, dass es ein Küchenmesser ist. Was als Küchenmesser fungiert, ohne
zur funktionalen normativen Kategorie der Küchenmesser zu gehören, ist ein Sumpf-Küchenmesser (3.2.5.).
322
biologische Arten eine Essenz haben, obwohl nicht ausgeschlossen werden kann, dass eine
andere Art über dieselbe Merkmalsgruppe verfügt. Ähnlichkeiten zwischen Lebewesen sind
alleine kein Hinweis auf eine gemeinsame Lebensform. Nehmen wir nun an, wir fänden
heute eine Fischpopulation F, die physikalisch auf keine Weise von einer Fischart F*, die
vor Millionen von Jahren ausgestorben ist, zu unterscheiden wäre. Wenn zwischen F und
F* keine genealogische Verbindung besteht, handelt es sich bei F und F* nicht um dieselbe
Art. Dasselbe würde für zwei gleichzeitig existierende, genealogisch jedoch völlig
voneinander isolierte Fischpopulationen gelten. Es ist einfach einem ungeheuren Zufall zu
verdanken, dass sich eine bestimmte Fischart nacheinander bzw. nebeneinander zwei Mal
entwickelt hat. Wir haben keinen Grund zur Annahme, dass Exemplare der beiden
Fischarten zur selben Spezies gehören. Dasselbe gilt für Mitglieder einer biologischen Art
A* in einer mit der unseren biologisch identischen Parallelwelt, auch wenn die Mitglieder
von A (in unserer Welt) und die Mitglieder von A* (der Parallelwelt) ununterscheidbar
sind, auf dieselbe Art und Weise gesund oder krank werden und ihre Teile und
Äußerungen über dieselben Echten Funktionen verfügen. A und A* bilden nicht ein,
sondern zwei genealogische Individuen, zwei unterschiedliche Arten. In diesen drei
Beispielen haben wir es mit unterschiedlichen Arten zu tun, deren Mitglieder
ununterscheidbar sind. Wir können dennoch zugeben, dass die bloße physische Ähnlichkeit
(sogar die bloße qualitative Identität) zwischen Lebewesen kein Grund ist, sie derselben Art
zuzurechnen. Entscheidend ist die Zugehörigkeit zu einem genealogischen Individuum.
Verlassen wir uns alleine auf die Ähnlichkeit, so betrachten wir diese Exemplare nicht so,
wie man Mitglieder einer biologischen Art betrachten muss, d.h. wir konstruieren die
biologische Situation auf eine ebenso unzulängliche Weise wie zuvor die moralische und
die kognitive Situation im Hinblick auf Erinnerungen.
Gehen wir einen Schritt weiter. Nehmen wir an, wir fänden einen einzelnen Fisch,
der wie ein etwas zu kleines Exemplar der zeitgenössischen Fischart F aussieht und über
zwei sehr lange, spitz zulaufende rote Bauchflossen verfügt. Handelt es sich um ein
zwergwüchsiges Mitglied von F mit einer außergewöhnlichen Bauchflosse? Oder handelt es
sich um ein Exemplar einer bislang unbekannten Art? Über diese Frage entscheidet
wiederum die genealogische Zugehörigkeit zu der Fischart F. Nehmen wir nun weiter an,
wir begegnen einem einzelnen Fisch, Sumpffritz, der durch ein kosmisches Zufallswunder
entstanden ist. Dieses Ding sieht aus wie ein Fisch und verhält sich wie ein Fisch und
scheint, wie eine genetische Analyse ergibt, zur Art F zu gehören. Wenn wir wissen, dass
dieser Fisch durch ein Zufallswunder entstanden ist, so bleibt unklar, ob es sich bei diesem
Wesen überhaupt um ein Lebewesen handelt. Sumpffritz wäre niemals krank oder gesund
323
und seine Teile und Äußerungen hätten keine Echten Funktionen. Warum sollte nun die
bloße Ähnlichkeit mit Lebewesen einer bestimmten Art uns dazu veranlassen, Sumpffritz
als Mitglied der Art F und als Lebewesen zu betrachten? Wir haben bereits gesehen, dass
die Ähnlichkeit zwischen Einzellebewesen allein keinen Grund darstellt, sie derselben
biologischen Art zuzurechnen. Warum sollte die Ähnlichkeit nun ein Grund sein, sie
derselben ontologischen Kategorie zuzurechnen?
Der Sumpffisch gibt Anlass dazu, die Verbindung zwischen dem Grundbegriff der
Biosemantik – dem Begriff der Echten Funktion als funktionale normative Kategorie – und
dem Grundbegriff der naturalistischen Tugendethik – dem Begriff der Lebensform als
spezifische normative Kategorie – abermals zu festigen. So akzeptiert Thompson das
Folgende als Konsequenz seiner Entwicklung des Begriffs der Lebensform:
„What should we say about a creature who comes to be from sand or swamp muck
by the agency of lightning or by quantum-mechanical accident – a creature part for
part the same as I am, standing nearby, and just considered physically? […]
Philosophers have doubted whether such a thing could have thoughts, or whether
its thoughts would have content. If you shout the name ‚Thompson!’, each will
turn his head, it is supposed, but while I am wondering ‚What’s N.N. doing here?’,
the new-comer will not be. We must accept this skepticism and carry it further: the
thing has no ears to hear with and no head to turn; it has no brain-states, no brain
to bear them, and no skull to close them in; prick it, and it does not bleed; tickle it,
and it does not laugh; and so forth. It is a mere congeries of physical particles and
not so much as alive. […] In supposing my imagined double to be a product of
sheer accident, we have severed all links with any specific such wider context; we can
associate him with no determinate life-form at all; and so the ground of all vital
description is removed.“719
Es liegt auf der Hand, dass der für die Tugendethik grundlegende Begriff der Lebensform
und der für die Biosemantik grundlegende Begriff der Echten Funktion aus demselben
Holz geschnitzt sind. Thompsons Ausführungen lassen nun weitere Zweifel daran
aufkommen, ob man zur Annahme berechtigt ist, dass sein Duplikat überhaupt ein Mensch
ist, weil er zu keiner Lebensform gehört. Ist der „Arm“ des Doppelgängers tatsächlich ein
Arm? Handelt es sich um einen verkrüppelten Flügel? Oder handelt es sich einfach um eine
Wucherung? Wenn wir den Doppelgänger keiner Lebensform zuordnen können, bleiben
diese Fragen offen. Ja, es bleibt offen, ob wir seinen „Arm“ überhaupt als „Arm“ oder
seinen verkrüppelten Flügel überhaupt als „Flügel“ bezeichnen sollen. Arme und Flügel
kommen Lebewesen zu. Nur handelt es sich bei dem Duplikat überhaupt um ein
Lebewesen?
Man möchte dem entgegnen: Ist das nicht offenkundig? Nein. Wir können uns
dazu eines beinahe Science-Fiction-Falls bedienen. Astrobiologen beschäftigt u.a. das
719 Thompson 2008: 60f. Die Rede von „wider context“ übernimmt Thompson an dieser Stelle von
Anscombe. Gemeint ist natürlich die Lebensform.
324
Problem, ob es uns gelingen würde, extraterrestrisches Leben überhaupt als solches zu
erkennen, wenn wir auf es stoßen würden. Da uns Lebensformen, die nicht auf DNA- und
Proteinbasis bestehen, unbekannt sind, scheint es eine offene Frage zu sein, was als Indiz
für andere Lebensformen betrachtet werden könnte.720 So existieren Spekulationen über
Lebensformen auf der Basis von Silikon oder Ammoniak.721 Es ist keineswegs klar, ob wir
eine Lebensform als solche erkennen würden. Und ebenso wenig ist es ausgeschlossen,
dass sich materielle Gebilde finden lassen, die zwar wie terrestrische Lebewesen aussehen
und gebaut sind, aber keine Lebewesen sind. Am aussagekräftigsten sind nun Spuren von
Lebensformen, die Analogien zu den uns bekannten terrestrischen Lebewesen aufweisen.
1996 wurden im Marsmeteorit ALH84001 Magnetit-Ketten gefunden, die den
Magnetosomketten der uns bereits vertrauen maritimen Magnetobakterien verblüffend
ähnlich sind.722 Handelt es sich bei den Spuren in ALH84001 um magnetische Fossilien?
Wie jüngere Forschungen zeigen, können primitive Lebewesen auch unter (beispielsweise
thermisch) extremen Umweltbedingungen prosperieren. Entsprechend kann Leben auch
unter extremen Bedingungen angetroffen werden, wie es etwa unter der Eisdecke der
Antarktis der Fall ist.723 Funde von Marssonden weisen auf das Vorkommen von Wassereis
und auf eine kohlendioxidhaltige Atmosphäre hin. Diese Bedingungen können als extreme
Bedingungen die notwendigen Voraussetzungen für das Prosperieren von extremophilen
Lebensformen bilden.724 Weiter hat es den Anschein, als könnten nicht-biologische
Magnetitketten mindestens sechs Eigenschaften für biologische Magnetitketten nicht
erfüllen.725 Wenn diese Eigenschaften als robuste Biosignaturen betrachtet werden dürfen,
so können etwa ein Viertel der magnetischen Spuren auf ALH84001 auf biologischen
Ursprung zurückgeführt werden.726 Aus diesen Gründen wurden die auf ALH84001
gefundenen Spuren von einigen Astrobiologen als Fossile extraterrestrischer Lebewesen
angesehen.727 Dennoch werden diese Evidenzen dafür, dass es sich bei diesen Spuren
tatsächlich um biologische und nicht nur um geologische Sedimentierungen handelt, als
nicht völlig durchschlagend betrachtet. Die Untersuchungsmethoden für diese enorm
kleinen Strukturen sind aufwendig und fehleranfällig. Weiter weisen die terrestrischen
Vgl. Pace 2001; van Loon 2005.
Vgl. Bains 2004.
722 Für einen Überblick vgl. McKay et al. 2003.
723 Vgl. Rothschild et al. 2001; Siegert et al. 2001.
724 Vgl. Cavicchioli 2002.
725 Biogene Magnetite (wie die Kristalle der bakteriellen Magnetosome) haben eine restringierte Größe, einen
hohen Grad an chemischer Reinheit, weisen kaum kristallografische Mängel auf, besitzen eine spezifische
kristalline Morphologie, verfügen über eine Axis-Ausrichtung 111 bzw. 112 und treten in kettenartigen
Gebilden auf.
726 Vgl. Thomas Keprta et al. 2000.
727 Vgl. McKay. et al. 1996.
720
721
325
Magnetosome Abweichungen von den extraterrestrischen Magnetitspuren auf ALH84001
auf.728 Schließlich scheinen Magnetite, wie sie auf dem Meteoriten gefunden worden sind,
auch aus anorganischen Prozessen hervorgehen zu können; allerdings kann dieser Prozess
nicht reproduziert werden.729
Diese Beispiele sollen Zweifel an der Annahme schüren, dass wir uns nicht in der
ontologischen Zuordnung einer Entität täuschen können. Weder wäre es im Falle
extraterrestrischer Entitäten klar, ob wir sie als Lebewesen erkennen würden oder nicht
und ebenso ist es im Falle vermeintlich extraterrestrischer Fossilien unklar, ob es sich um
biogene Spuren handelt oder nicht. Wir haben jedoch keinen Grund zur Annahme, dass es
im Hinblick auf die ontologische Kategorie eine Unklarheit geben könnte. Entweder
handelt es sich bei einer extraterrestrischen Entität um ein Lebewesen oder nicht. Der
sicherste Anhaltspunkt besteht darin, dass wir eine solche Entität einer Lebensform (einer
spezifischen normativen Klasse) zuordnen können. Und entweder handelt es sich bei den
Magnetiten auf ALH84001 um Fossilien oder nicht.
Wir sollten deshalb zögern, Sumpffritz ohne weiteres als ein Lebewesen zu
betrachten. Nach allem, was wir wissen, spricht seine Genealogie gegen die Annahme, dass
es sich bei ihm um ein Lebewesen handelt. Was bringt uns dazu, Sumpffritz oder den
Sumpfmann als Lebewesen zu betrachten, die biologische Funktionen einer bestimmten
Art ausüben? In Abschnitt 2.1. habe ich das Paley-Syndrom eingeführt. Ihm liegt die Idee
zugrunde, dass von einem organisierten Ganzen und seinen tätigen Teilen zunächst auf
einen Zweck und schließlich auf einen Zwecksetzer geschlossen werden muss. Die diesem
Schluss zugrunde liegende Neigung, aufgrund der organisierten Anordnung tätiger Teile
zunächst auf einen Zweck und schließlich, auf einen Zwecksetzer zu schließen ist das
Paley-Syndrom.730 Wie ich gezeigt habe, gibt es nach den Attacken Humes und der Theorie
von Darwin keinen Grund dafür, im Falle zweckmäßig organisierter Lebewesen auf einen
transzendenten oder transzendentalen Zwecksetzer zu schließen. Es ist nun wichtig, im
Paley-Syndrom zwei Schritte zu unterscheiden, nämlich einerseits den Schluss vom
Arrangement der Teile auf einen Zweck und andererseits den Schluss von einem Zweck
auf einen Zwecksetzer. Darwin erlaubt es uns im Falle von Lebewesen nicht nur, auf den
zweiten Schritt zu verzichten, sondern auch, von Zwecken in der Natur zu sprechen, ohne
dass man sich damit auf einen Zwecksetzer beziehen muss. Darwin fragt danach, wozu
bestimmte Merkmale eines Lebewesens da sind (existieren). Antworten auf solche Fragen
werden durch ihren spezifischen Beitrag zum Überleben im Verlauf der Geschichte einer
Vgl. Busek et al. 2001.
Vgl. Golden et al. 2001.
730 Dretske 1995: 146f.
728
729
326
Art angegeben. Nehmen wir Darwins Beitrag auf eine Weise theoretisch ernst, wie es die
Biosemantik oder die Theorie der Lebensformen nahe legt, dann müssen wir nicht nur
gegenüber dem zweiten Schritt in Paleys Überlegung misstrauisch sein, sondern auch
gegenüber dem ersten. Hume beispielsweise wollte keineswegs das erste Symptom des
Paley-Syndroms, nämlich den Schritt von der organisierten Anordnung tätiger Teile auf
einen Zweck, kurieren, sondern lediglich das zweite, den Schluss auf einen transzendenten
Zwecksetzer. Doch Darwins Theorie führt uns dazu, auch dem ersten Schritt zu
misstrauen. Selbst was, wie Sumpfmann oder Sumpffritz, wie ein zweckmäßig organisiertes
Lebewesen erscheint, braucht deswegen noch keines zu sein, denn weder kommen den
Tätigkeiten dieser Sumpfwesen Funktionen zu, noch gehören sie zu einer Lebensform.
Die Neigung von einem organisierten Ganzen und seinen tätigen Teilen auf einen
Zweck zu schließen und die Neigung, von einem Zweck auf einen Zwecksetzer zu
schließen, entstammen beide dem Bereich des Umgangs mit Artefakten, d.h. mit kulturellen
funktionalen normativen Kategorien (3.2.5.). Doch ebenso, wie es nicht überall, wo sich ein
Zweck oder eine Funktion finden lassen, einen Zwecksetzer geben muss, muss dort, wo ein
organisiertes und tätiges Ganzes vorliegt, ein Zweck oder eine Funktion gefunden werden.
Die unmittelbare Ursache für das Paley-Syndrom besteht natürlich in unserer Neigung
aufgrund sinnfälliger Ähnlichkeiten oder gar Gleichheiten auf eine gemeinsame Natur,
einen gemeinsamen ontologischen Status der sinnlich wahrgenommen Gegenstände zu
schließen. Zwei Beispiele sollen dies abschließend illustrieren. Thomas von Aquin zufolge
üben Engel, wenn sie die Erscheinung von Menschen annehmen, keine Lebensfunktionen
aus. Sie sehen zwar in solchen Situationen aus wie Menschen, gehen, sehen, essen und
sprechen wie Menschen, doch in Tat und Wahrheit trifft es weder zu, dass sie gehen, noch
dass sie sehen, essen oder sprechen.731 Die täuschend vollständige Ähnlichkeit ist kein
Grund, Engel in Menschengestalt als Menschen zu betrachten. Ebenso wenig ist sie ein
Grund, Engel in Menschengestalt zur ontologischen Kategorie der Lebewesen zu zählen.
Wir können einem Menschen zu trinken geben, nicht aber dem Engel; wir können den
Menschen gehen sehen, nicht aber den Engel usw. Arthur Dantos Methode zur Klärung,
ob ein materieller Gegenstand den ontologischen Rang eines Kunstwerks beanspruchen
darf, führt zum selben Ergebnis.732 In Dantos Galerie sinnlich ununterscheidbarer
Artefakte finden sich zahlreiche Zufallskreationen: In einem Pariser Vorort explodiert ein
Farbladen und durch ein Wunder wird auf eine leere Leinwand eine exakte Kopie des
letzten Seerosenbildes von Claude Monet gespritzt. Niemand wird sagen, dass das
731
732
Summa theologiea 1 q 51 art. 3.
Vgl. Danto 1981.
327
explosionsgenerierte Bild ein Kunstwerk ist. Monets Gemälde hingegen ist ein Kunstwerk.
Es handelt sich also um zwei Objekte unterschiedlicher ontologischer Art. Wir können
beispielsweise in Monets Bild den Zug zur Abstraktion oder das verwelkende Rot der
Rosen hervorheben, nicht aber im Explosionsprodukt; wir können das Seerosenbild als
Höhepunkt seines Altersstils verehren, nicht aber das Explosionsprodukt usw. Weder den
Engel noch das Explosionsprodukt sollten wir trotz der augenfälligen sinnlichen und
behavioralen Gemeinsamkeiten ein und derselben ontologischen Kategorie zuordnen. Man
müsste schon ein Erzempirist sein, um die Natur einer Sache oder deren Zugehörigkeit zu
einer bestimmten ontologischen Kategorie mit der sinnlichen Erscheinungsweise dieser
Sache zu identifizieren.
Keine der in diesem Abschnitt angestellten Überlegungen haben den Zweck, das
Sumpfmannproblem zu lösen. Sie verfolgen vielmehr das Ziel, erstens die Voraussetzungen
philosophischer Intuitionen aufgrund von Gedankenexperimenten in Frage zu stellen, und
zweitens die vorhandenen Alltagsintuitionen hinsichtlich des Sumpfmannes und
vergleichbarer Kreaturen in ein instabiles Gleichgewicht zu bringen. Im Folgenden werde
ich diese Strategie weiter verfolgen. Ich werde einen theoretischen Kontext schaffen, in
welchem es intuitiv durchaus plausibel erscheint, nur Wesen mit einer bestimmten Art von
Vergangenheit intentionale Zustände zuzuschreiben. Vor diesem Hintergrund wird die
durch
das
Gedankenexperiment
des
Sumpfmanns
problematisierte
Vergangenheitsorientierung der Biosemantik nicht mehr als Problem erscheinen, sondern
als Lösung.
328
4.2. Das Argument für den Animalismus
Der angesprochene theoretische Kontext ist der sogenannte „Animalismus“.733 Für den
Animalismus sind Menschen essenziell Lebewesen – genauer gesagt: Tiere. Lebewesen
gehören zu einer Lebensform, d.h. zu einer biologischen Art, und biologische Arten sind
historische Individuen mit historischen Essenzen. Dafür habe ich in Kapitel 3
argumentiert.734 Nun muss ich dafür argumentieren, dass jeder Mensch essenziell ein Tier
ist. Daraus folgt, dass jeder Mensch zu einer biologischen Art gehört und eine historische
Essenz hat. Da die Biosemantik zeigen will, dass intentionale Repräsentationen letztlich
biologische Kategorien sind, insofern sie auf Echten Funktionen beruhen, ist für sie die
Voraussetzung wesentlich, dass wir als Inhaber und Verwender intentionaler
Repräsentationen biologische Wesen sind. Die Biosemantik ist nicht nur eine Theorie für
die sogenannte „Kognition“ von nicht-menschlichen Tieren, sondern auch eine Theorie für
die Intentionalität der inneren und äußeren Repräsentationssysteme höherer Tierarten wie
Menschen.
733 Der Ausdruck „Animalismus“ mag wie eine hässliche Eindeutschung einer ursprünglich englischen
Wortprägung erscheinen. In der Tat handelt es sich um eine ursprünglich deutsche Wortprägung, die hässlich
gemeint war. Werner Sombart hat in seinem Spätwerk Vom Menschen (1938) das kontrastive Begriffspaar
„Animalismus“ und „Hominismus“ gebildet. Unter Animalismus fallen alle Lehren, die den Menschen nicht
als eine besondere Art von Seiendem auffassen, sondern ihn als Teil der natürlichen Welt der Tiere
betrachten. Sombarth zufolge begeht der Animalismus damit einen verhängnisvollen Fehler: „Der Mensch
steht außerhalb, neben, hinter der Natur und führt sich selbst; das Tier steht in der Natur und wird von ihr
geführt, es bildet einen Teil der Natur und ihres ‚Plans’, den es bewusstlos ausführen muss. Dieser Gedanke
der Gegenüberstellung des naturfreien Menschen und des naturgebundenen Tiers ist heute allgemein bei allen
denen, die endlich, nach langer Nacht, wieder Einsicht gewonnen haben in das Wesen des Menschen. […]
Insofern der Gegensatz der beiden Auffassungen darin zum Ausdruck kommt, daß im einen Falle der
Mensch als Mensch, im anderen Falle als eine Tierspezies angesehen wird, können wir jene als hoministische
(zum Unterschiede vom humanistische), diese als animalistische bezeichnen.“ (Sombart 1938: 8, 89) Die
These des von Sombart verpönten Animalismus’ lautet: „Es gibt im Menschen nichts, was nicht auch im Tier
wäre.“ (ibid. 96) Während der Hominismus in der deutschen Tradition fortlebe, habe sich im „dunklen“ 19.
Jahrhundert in Frankreich und in den angelsächsischen Nationen der Animalismus immer mehr zur
herrschenden Auffassung aufgespielt. Descartes, die französischen Materialisten, Newton, Stuart Mill und
Marx sind seine Vorreiter, Darwin sein Höhepunkt. Sombart wirft dem Animalismus vor, die Grenzen des
Bereichs der unbelebten, materiellen Welt, für den die naturwissenschaftliche Rationalität zuständig ist, zu
überschreiten. Die entscheidende Überschreitung stelle Darwins Evolutionstheorie dar, die zweite die
Anwendung von Mechanismus und Biologismus auf den Menschen. Sombarts „Animalismus“ ist cum grano
salis mein „Biologischer Naturalismus“ (vgl. 2.3.). Der zeitgenössische Animalismus als These über die
menschliche Identität ist ein wichtiger Teil des Biologischen Naturalismus.
734 Autoren wie Mayr, Ghiselin oder Hull, die die individualistische Antwort auf die Frage, was biologische
Arten sind, auf den Weg gebracht haben, stellten sich explizit gegen die Idee, dass biologischen Arten eine
Essenz oder ein Wesen zukomme. Auch dem Menschen, als biologische Art, komme somit kein Wesen zu.
Allerdings sind dies keine „traditionellen“ Essenzen. Der im Kapitel 3 dargelegten Auffassung über
biologische Arten zufolge haben Arten zwar keine traditionellen Essenzen, sondern weisen stabile
Merkmalsgruppen auf, und der Grund, warum sie über solche Gruppen verfügen, besteht darin, dass Arten
REFs bilden. Die individualistische Antwort impliziert also keineswegs, dass Arten kein Wesen haben
können. Betrachtet man den Menschen metaphysisch als Tier und somit als wesentlich zugehörig zu einer
biologischen Art, so folgt daraus, dass es so etwas wie ein Wesen des Menschen im Sinne des Essenzialismus
stabiler Merkmalsgruppen geben kann. Vgl. dazu Machery 2008.
329
Nun scheint es doch tatsächlich eine naheliegende und offensichtliche Antwort auf
die Frage, was der Mensch sei, zu sein, dass er ein Tier ist. Der Mensch ist ein Tier in dem
Sinne, dass Menschen Lebewesen sind und eine biologische Art bilden. Diese Antwort ist
anscheinend unbefriedigend, denn die Mehrheit der philosophischen Tradition akzeptiert
sie nicht. Der Animalismus behauptet demgegenüber: Jede menschliche Person ist mit je einem
Tier numerisch identisch. Der Animalismus ist also in erster Linie eine These darüber, was wir
metaphysisch sind. Entgegen den klassischen Auffassungen, denen zufolge der Mensch ein
Tier plus X ist, gehört der Zusatz „plus X“ nicht essenziell zu dem, was der Mensch oder
die menschliche Person metaphysisch ist.
Warum spreche ich von „Tier“ und nicht von „Lebewesen“? Man stelle sich die
folgende Situation vor: Ich sitze auf einem Stuhl. Auf eben diesem Stuhl befindet sich auch
ein Lebewesen. Lebewesen kann man grob einteilen in Pilze, Pflanzen und Tiere. Nun sitzt
auf dem Stuhl, auf dem ich sitze, mit Sicherheit weder ein Pilz noch eine Pflanze, sondern
ein Tier. Die Frage lautet nun, ob ich, ein Mensch, mit diesem Tier identisch bin. Natürlich
kann man auch fragen, ob ich, ein Mensch, mit diesem Lebewesen identisch bin. Nura ist
die Bezeichnung „Tier“ genauer, da wir weder Pilze noch Pflanzen sind. Wie andere Tiere
können Menschen von Biologen untersucht und von Medizinern behandelt werden; wie
andere Tiere ist ein Mensch ein Lebewesen, eine komplexe Struktur, die sich und
seinesgleichen durch Entwicklung, Assimilation, Reproduktion und Selbststeuerung erhält;
wie andere Tiere gehört der Mensch zu einer biologischen Art. Der Mensch ist also ein Tier
in dem Sinne, dass Menschen wie andere Tiere Lebewesen sind und eine biologische Art
bilden. Die vorgeschlagene Antwort ist anscheinend wiederum unbefriedigend. Man mag
zwar zugeben, so die Reaktion auf die vorgeschlagene Antwort, dass wir (irgendwie) mit
einem Tier verbunden sind. Wir haben zwar (wie man sagen könnte) einen Tierkörper, doch
wir sind nicht dieses Tier. Wir könnten unseresgleichen ebenso gut als Gespenst, Geist,
Computer, Außerirdische oder Engel antreffen.
Um die These zu verteidigen, dass wir Tiere sind, möchte ich zunächst eine
Voraussetzung machen, die nicht selbstverständlich ist, von der ich aber erwarte, dass sie
von vielen Leserinnen und Lesern geteilt wird. Diese Voraussetzung lautet: Wir sind keine
immateriellen Seelen, immateriellen Substanzen und keine Gedankenbündel, sondern ein
Stück materieller Natur. Ich möchte damit die Idee, dass wir eine immaterielle Natur
haben, nicht leichthin verwerfen, sondern vielmehr so vorgehen, den Animalismus
zunächst als eine plausible Variante der Auffassung einzuführen, dass wir irgendwie
materieller Natur sind oder zumindest auf einer materiellen Grundlage irgendwie
supervenieren oder emergieren. Die Probleme sowohl des Substanz- als auch des
330
Eigenschaftsdualismus sind bekannt genug, sodass nicht zuerst der Dualismus
zurückgewiesen werden muss, sondern eine nicht-dualistische Variante vorgeschlagen
werden sollte, die dann gegebenenfalls auf Einwände durch Dualisten zu reagieren hätte.
Auf welche Weise sind wir also materieller Natur? Anders gefragt: Welche Art Ding
bin ich metaphysisch gesprochen? Die Antwort, die ich geben möchte, lautet, dass ich
numerisch identisch mit einem Tier bin. Als Präzisierung der Animalismus-These bietet
sich die folgende Formulierung an: Er, sie, ich und alle menschlichen Personen sind mit Tieren
numerisch identisch.735 Diese These wird von unterschiedlichen Autoren unterschiedlich
verteidigt und als „Animalismus“ bezeichnet. Der Animalismus ist eine These darüber, was
wir sind. Was also interessiert, sind menschliche Personen. Es mag Personen geben, die keine
Tiere sind (Engel, Gott oder Prof. Simon Wright736). Und es mag Tiere geben, die keine
Personen sind (wie Austern, Katzen, Embryonen oder Wachkoma-Patienten). Doch
Personen, die Tiere sind, haben dieselben Identitätsbedingungen wie Tiere, die keine
Personen sind.
Um der Animalismus-These Kontur zu geben, muss der Ausdruck „Person“ etwas
genauer gefasst werden. Lockes Definition ist eine mögliche Option. Eine Person sei „a
thinking intelligent being that has reason and reflection, and can consider itself as itself, the
same thinking thing, in different times and places”737. Diese Definition lässt auch erkennen,
weshalb Embryonen oder Leute in Wachkoma keine Personen sind. Es trifft trotzdem zu,
dass ich und alle Menschen einmal Embryonen waren, und es ist möglich, dass jemand von
uns ein Wachkomapatient wird. Embryonen und Wachkomapatienten sind Tiere, aber
(nach Lockes Definition) keine Personen. Dem Animalismus zufolge ist eine menschliche
Person nun ein solches „thinking intelligent being“, das zu einem Tier auf dieselbe Art und
Es ist nicht leicht, eine treffende Formulierung der Animalismus-These zu finden. Ein Vorschlag lautet:
Alle Personen sind mit Tieren identisch. Diese Formulierung impliziert, dass es keine Personen geben kann,
die nicht Tiere sind, und einige Animalisten (wie etwa Peter Van Inwagen) glauben, dass Engel und Gott
existieren, und zwar als Personen, aber natürlich keine Tiere sind. Andere Animalisten (wie Olson) wollen
dies nicht von vornherein ausschließen. Vielleicht so: Wir sind mit Tieren identisch. Aber wer sind „wir“?
Nun: Du und ich und alle Wesen derselben natürlichen Art sind mit einem Tier identisch. Das Problem
besteht nun im Folgenden: Wenn man sagt, dass Personen eine natürliche Art bilden, dann müssten alle
Personen (Gott, Engel) mit einem Tier identisch sein, was aber nicht der Fall zu sein braucht. Dann wäre
aber der Animalismus falsch, wenn es andere Personen als Tiere gibt. Man könnte auch einfach sagen wollen:
Du und ich und alle Individuen, die zu Homo sapiens gehören, sind mit einem Tier identisch. Das ist
natürlich nicht informativ, weil man sagt, dass Tiere (Mitglieder von Homo sapiens) mit Tieren identisch sind.
Die vorgeschlagene additive Formulierung scheint mir diesen Schwierigkeiten am besten Rechnung zu tragen.
Dabei ist es wichtig in Erinnerung zu behalten, dass der Animalismus eine These darüber ist, was ich bin, was
Sie sind usw. Was interessiert, sind also menschliche Personen. Es mag Personen geben, die keine Tiere sind
(wie Engel, Gespenster, Götter oder Außerirdische Intelligenzen). Und es mag Tiere geben, die keine
Personen sind (wie Austern, Katzen, mein Embryo oder Leute im Wachkoma). Aber Personen, die Tiere
sind, haben dieselben Identitätsbedingungen wie Tiere, die keine Personen sind. Ich bin einer Katze
diesbezüglich ähnlicher als einem Gespenst oder einem Engel.
736 Im Comic Captain Future existiert das „lebende Gehirn“ Simon Wright von seinem Körper getrennt in
einem Behälter. Sinne und Sprache werden durch Sensoren und einen Sprachprozessor ermöglicht.
737 Vgl. Locke, Essay 2.27.9.
735
331
Weise wie ich oder sonst jemand in der engsten aller denkbaren Beziehungen steht,
nämlich in jenem der Identität. Tiere sind, wie andere Organismen auch, grob gesagt
komplexe Strukturen, die sich und ihresgleichen durch Entwicklung, Assimilation und
Reproduktion erhalten. Wir können die enge Beziehung zwischen mir und meinem Tier
vorläufig, d.h. ohne die Animalismus-These vorauszusetzen, z.B. wie folgt charakterisieren:
Die Person kann ein Tier schon allein dadurch bewegen, dass sie dies beabsichtigt; die
Person kann die Außenwelt durch die Sinnesorgane eines Tiers wahrnehmen; die Person
kann sich Nahrung zuführen, indem das Tier etwas isst usw.
Eric Olson hat ein einfaches Argument für den Animalismus vorgeschlagen, das ich
akzeptiere.738 An dieser Stelle möchte ich mich selber sozusagen als Versuchstier
gebrauchen und dabei meine Fähigkeit anwenden, die erste Person Singular zu gebrauchen.
Die Pointe dieser Formulierung des Arguments für den Animalismus ist vergleichbar mit
der Pointe des Gebrauchs der ersten Person Singular in Descartes’ Meditationen, denn es
geht darum eine Argumentation aufzubauen, die alle, die den Ausdruck „ich“ korrekt zu
gebrauchen wissen, auf sich anwenden können. Allerdings hängt im Gegensatz zu
Descartes’ Meditationen nichts an der Besonderheit des Gebrauchs von „ich“. Dabei setze
ich voraus, dass der Ausdruck „ich“ ein referentieller Ausdruck ist. Diese Annahme scheint
trotz der prominenten Widerrede von Elisabeth Anscombe durchaus plausibel.739 Diese
Überlegungen sind natürlich bereits in die eben eingeführte Formulierung der
Animalismus-These investiert: Er, sie, ich und alle menschlichen Personen sind mit Tieren numerisch
identisch.
Ich sitze jetzt auf einem Stuhl und denke an etwas oder über etwas nach. Ich kann
also zu mir sagen: „Ich bin das denkende Wesen, das auf meinem Stuhl sitzt.“ Auf eben
diesem Stuhl befindet sich auch ein Lebewesen. Es handelt sich um keine Morchel und um
keine Palme, sondern um ein menschliches Tier. Die Frage lautet nun: Bin ich mit dem
Tier identisch? Das Animalismus-Argument für die positive Antwort auf diese Frage lautet
in der ersten Person formuliert wie folgt:
(1) Es gibt ein menschliches Tier, das hier (auf diesem Stuhl) sitzt.
(2) Dieses Tier denkt. (Falls es mehr als eines gibt, so denken sie alle.)
(3) Ich bin das denkende Wesen, das hier sitzt. (Anders gesagt: Das einzige denkende
Ding auf meinem Stuhl ist nichts anderes als ich.)
(4) Also bin ich dieses Tier (das jetzt gerade denkt).
738
739
Vgl. Olson 2003.
Vgl. Anscombe 1975; dagegen argumentiert überzeugend Van Inwagen 2002.
332
Falls das stimmt, dann bin ich weder eine immaterielle Substanz, noch ein Bündel mentaler
Zustände, noch ein funktionales Analogon zu einer Software, noch eine durch ein Tier
konstituierte Person, noch ein Körper oder ein Gehirn usw., sondern ein Tier. Die Schritte
des Animalismus-Arguments sollten zunächst etwas kommentiert werden. Zuerst die erste
Prämisse. Manche Leute stören sich an der Redeweise „menschliches Tier“ oder „Tier“ zur
Bezeichnung von Menschen. Man kann die erste Prämisse auch so reformulieren: Es gibt
einen Menschen, der hier (auf diesem Stuhl) sitzt, solange Sie mit „Mensch“ ein Mitglied
der Art Homo sapiens meinen. Damit ist immer noch ein Mitglied einer biologischen Art
gemeint. Also ein Tier. Nun zur zweiten Prämisse. Da ich denke, bin ich auch ein Wesen
mit geistigen Zuständen. Dem Animalismus-Argument zufolge bin ich ein Tier mit
geistigen Zuständen, zumindest für eine gewisse Zeit. Es ist für ein Tier nicht wesentlich,
dass es geistige Zustände hat, denn es gibt Tiere (und andere Arten von Lebewesen) ohne
geistige Zustände. Auch ich hatte als Embryo keine geistigen Zustände. Ich bin also nicht
wesentlich ein denkendes Tier, sondern wesentlich ein Tier. Natürlich bin ich phasenweise auch
noch Person, Denker, Schweizer, Sprecher des Deutschen, Sänger oder Bartträger usw.
Nichts davon bin ich wesentlich. Wichtig ist nun die dritte Prämisse. Man kann sich fragen,
warum auf dem Stuhl nicht zwei verschiedene Dinge sitzen sollten, nämlich ich und das
Tier in mir? Falls ich nicht mit meinem denkenden Tier numerisch identisch bin, dann
stecken in diesen Schuhen, die ich jetzt trage, dann befinden sich an dieser Stelle, an der ich
eben jetzt sitze und schreibe, zwei denkende Entitäten: ich und das denkende Tier. Wer
von uns beiden denkt, dass ich nicht mit meinem denkenden Tier numerisch identisch bin,
das Tier oder ich? Falls das Tier dies denkt, ist sein Gedanke natürlich falsch. Falls ich das
denke, möchte ich gerne wissen, woher ich weiß, dass ich diesen Gedanken denke, und
nicht mein Tier. Doch diese Überlegungen sind absurd.
Vielleicht will man nun doch an der zweiten Prämisse rütteln und fragen: Warum
sollten wir akzeptieren, dass auf diesem Stuhl, auf dem ich sitzend an etwas denke, ein
denkendes Tier sitzt? Das Tier denkt doch nicht, ich denke. Diese Zurückweisung der zweiten
Prämisse ist merkwürdig. Falls man akzeptiert, dass auf dem Stuhl ein bestimmtes Tier
sitzt, und falls man akzeptiert, dass man an etwas denkt, aus welchem Grund sollte man
leugnen, dass das Tier, das auf demselben Stuhl sitzt, dieselben Kleider trägt wie ich,
dieselbe Temperatur hat wie ich und aus denselben Materieteilchen besteht, nicht an
dasselbe denkt? Wer die zweite Prämisse bestreitet, muss entweder akzeptieren, dass er von
anderer Natur ist als dieses Tier auf dem Stuhl (von immaterieller Natur), oder er muss
akzeptieren, dass auf dem Stuhl gleichzeitig zwei verschiedene Dinge sitzen, nämlich ein
gedankenloses Tier und ein denkendes Wesen. Aber warum sollte dieses Tier nicht denken?
333
Ich und mein Tier befinden sich zur selben Zeit am selben Ort, haben dieselbe materielle
Beschaffenheit, bestehen aus denselben Materieteilchen. Was hindert das Tier daran, an X zu
denken, während ich an X denke? Wie könnte eine Erklärung lauten für diese erstaunliche
Koinzidenz zwischen mir, dem Denker, und meinem gedankenlosen Tier? Soweit ich sehe,
gibt es keine Erklärung, die plausibler ist als der Schluss, dass ich und alle menschlichen
Personen jeweils mit genau einem denkenden Tier identisch sind. Die Biosemantik liefert
natürlich eine positive Theorie dafür, dass Tiere Gedanken haben und an etwas denken
können.
Wenn jede menschliche Person mit einem Tier numerisch identisch ist, so folgt
daraus, dass jede menschliche Person wesentlich ein Tier ist. Alle Prädikate, die auf eine
bestimmte Person zutreffen, treffen auch auf diese Person als Tier zu. Die numerische
Identität mit einem Tier bedeutet also, dass alle Eigenschaften, die ich habe, auch
Eigenschaften dieses Tiers auf meinem Stuhl sind und umgekehrt. Es geht also nicht
darum, dass ich qua funktionierender Körper mit einem Tier identisch bin. Vielmehr ist der
Referent von „ich“ immer ein bestimmtes Tier (und nicht nur „qua“ X). Das läuft darauf
hinaus, dass ich wesentlich (in einem metaphysischen Sinn) ein Tier bin. Das bedeutet: Ich,
der Denker, bin nicht wesentlich eine Person, sondern ein Tier. „Person“ ist für Wesen wie
uns nur ein Phasenbegriff (wie Sprecher oder Sänger), kein Wesensbegriff. Wenn ich
aufhöre, eine Person zu sein, dann existiere ich (der Referent von „ich“) weiter (wie ich
weiter existiere, wenn ich aufhöre, ein Sprecher oder Sänger zu sein). Wenn ich aufhöre, ein
Tier zu sein, dann existiere ich nicht mehr. Jede meiner qualitativen Eigenschaften kommt
mir immer als Tier zu, denn das ist es, was ich bin.
Hört eine Person auf, ein Tier zu sein, so hört sie damit auf zu sein, was sie ist.
Warum sollte nun ein Objekt wesentlich nur ein Ding sein können? Wäre es nicht möglich,
dass ein Objekt wesentlich zwei oder mehr Dinge sein könnte? Diese Annahme scheint mir
absurd. Der Grund ist der: Ein Objekt hört auf zu existieren, wenn es aufhört das zu sein,
was es wesentlich ist. Wäre ein Objekt seinem Wesen nach mehr als ein Ding, so würde es
mehr als einmal aufhören können, zu sein, was es ist. Es würde also aufhören können zu
sein, jedoch weiter existieren. Doch ein und dasselbe Objekt kann nicht zwei sich
ausschließende Eigenschaften besitzen. Dies wäre, wie Hume es ausdrückt, „ein Widerspruch
in sich, ja es wäre sogar der glatteste aller Widersprüche, wonach es einem Dinge möglich sein
soll, zugleich zu sein und nicht zu sein.“740
740
Vgl. Hume, Treatise, 1.1.7.4.
334
Das Leben von Tieren und anderen Lebewesen endet normalerweise mit dem
Tod.741 Dem Animalismus zufolge endet auch meine Existenz mit meinem Tod. Stirbt das
Tier, sterbe ich. In meinem Sarg liegt eine Leiche. Wenn meine Existenz mit dem Tod
endet, bin diese Leiche nicht ich. Soll man dagegen sagen: Da mein Körper eine Leiche
werden wird, ich jedoch nicht, bin ich nicht mit meinem Körper identisch? Dieser
Überlegung liegt eine äquivoke Verwendung des Begriffs „Körper“ zugrunde. „Köper“
kann hier sowohl „Lebewesen“ als auch „lebloses materielles Objekt“ bedeuten. Natürlich
ist auch ein Lebewesen ein materielles Objekt (es wird durch ein materielles Objekt
konstituiert), aber eine Leiche oder ein Kadaver ist kein Lebewesen. Menschen können
nacheinander auf zweierlei Weise existieren: als lebende und als tote Menschen. Aber nur
lebende Menschen sind Tiere. Auch wenn es zutrifft, dass meine Existenz mit meinem Tod
endet, so spricht das nicht gegen die Behauptung, dass ich ein Tier bin. Lebewesen sind
(wie Wasserfontänen) einem Prozess dauernder Assimilation unterworfen: Neue Materie
wird aufgenommen, alte Materie ab- und ausgestoßen, es findet ein ständiger Austausch
statt, der als „Fließgleichgewicht“ bezeichnet worden ist. Kadaver hingegen sind (wie
Bronzestatuen) Körper allein aufgrund der Stabilität des sie konstituierenden Materials.
Weder die alltägliche Vorstellung eines Lebewesens noch das biologische Konzept eines
Organismus erlauben es, dass Lebewesen ihren Tod überleben. Was müsste man denn tun,
um ein Tier zu töten, wenn es nicht ausreicht, es in einen Kadaver zu verwandeln?
Einige Animalisten, wie Olson 2004, sind der Ansicht, dass Tiere nach ihrem Tod weiter bestehen. Andere
Animalisten bestreiten, dass ein Tier nicht mehr existiert, wenn es tot ist. Lebewesen existieren auch nach
ihrem Tod weiter (vgl. Carter 1999). Wenn ein Lebewesen eines Tages ein Kadaver sein wird, scheint die
Annahme natürlich, dass dieses Lebewesen und der Kadaver ein- und dasselbe Ding sind. Daraus kann man
ein Argument zugunsten des Animalismus gegen den psychologischen Personalismus gewinnen: (1) Jemandes
Tod hinterlässt eine tote Person. (2) Die tote Person und die lebende Person weisen keine psychische
Kontinuität auf. (3) Die tote Person ist mit der (ehemals) lebendigen Person identisch. (4) Also ist psychische
Kontinuität für personale Identität nicht notwendig. Mir scheint aber weder die Annahme plausibel, dass
Lebewesen ihren Tod überstehen, noch bin ich der Ansicht, dass der Animalismus ein zusätzliches Argument
benötigt.
741
335
4.3. Das Ersetzungsproblem
Das Animalismus-Argument steht nun vor einem Problem. Ich habe gesagt, dass das Tier
auf meinem Stuhl aus denselben Materieteilchen bestehe wie ich. Man könnte also den
Ausdruck „Tier“ im Argument durch „Körper“ oder durch „Materiehaufen“ ersetzen.
Betrachten wir die Ersetzungen durch „Materiestück“. Das Animalismus-Argument sieht
nun wie folgt aus, wobei die dritte Prämisse gleich bleibt:
(1) Es gibt ein Materiestück (das heißt: ein instabiles Aggregat von Materieteilchen, das
die Form meines Körpers hat), das hier (auf diesem Stuhl) sitzt.
(2) Dieses Materiestück denkt.
(3) Ich bin das denkende Wesen, das hier sitzt.
(4) Also bin ich dieses Materiestück (das jetzt gerade denkt).
Viele Animalisten lassen diese und ähnliche Ersetzungen zu. Daraus ergibt sich natürlich
ein Problem für den Animalismus, das sogenannte „Ersetzungsproblem“. Wenn das
Argument durch diese Ersetzung auch einen Materialismus ergibt, warum soll das
Argument überhaupt für den Animalismus sprechen? Wenn wir den Ausdruck „Tier“ im
Animalismus-Argument durch andere Ausdrücke ersetzen können, beispielsweise durch
„Körper“, durch „Materiestück“ oder „Gehirn“, wie können wir dann weiterhin den
Animalismus vertreten? Dieses Problem empfinden Animalisten als besonders bedrückend.
Einige Animalisten reagieren auf radikale und revisionistische Weise auf dieses
Problem: Sie bestreiten, dass Materiestücke oder Körper oder Gehirne wirklich existieren.
Die einzigen wirklich existierenden zusammengesetzten Entitäten sind Lebewesen. Olson
nennt dies „biologischen Minimalismus”. Der biologische Minimalismus sei „the view that
[…] material things compose something if and only if their activities constitute a life.“742 Es
gibt keine Artefakte wie Statuen, Stühle oder Häuser, keine Dinge wie den Mond, die
Sterne, Steine oder Flüsse, keine nicht-elementaren Körperteile wie Hand, Hirn oder Herz.
Die einzigen zusammengesetzten Dinge sind Lebewesen. Ich kann deshalb weder ein Hirn,
noch ein Körper, noch ein Materiestück sein, sondern nur ein Tier. Warum? Nun, weil
742 Vgl. Olson 2007: 226. Auch Animalisten wie Peter Van Inwagen und Trenton Merricks zufolge
konstituieren die Teile eines materiellen Aggregats ein genuines Objekt nur dann, wenn die Tätigkeiten dieser
Teile ein Leben konstituieren (Van Inwagen 1990: 81-3), wobei „Leben“ hier in einem biologischen Sinne
verstanden wird. Die einzigen materiellen Objekte, die es gibt, sind Organismen und deren elementare
Bestandteile (Atome oder „simples“). So schreibt Van Inwagen (1990: 121): „Was ist die Grundlage meiner
Einheit? Anders gefragt, was verbindet die elementaren Bestandteile, aus denen ich bestehe, zu einem
einzigen Seienden? Mir erscheint folgende Antwort plausibel: Was sie zusammenhält ist der Umstand, dass
ihre Tätigkeiten ein Leben konstituieren, einen homeo-dynamischen Sturm von Bestandteilen, ein
selbsterhaltendes, ausreichend individuiertes Ereignis.“
336
Hirne, Körper oder Materiestücke auf der uns interessierenden metaphysischen Ebene
nicht existieren.
Beachten wir, warum viele Animalisten die Ersetzungen akzeptieren. Sie betonen,
dass ich und mein Tier aus denselben Materieteilchen bestehen. Deshalb liege es nahe, dass ich
und mein Tier identisch seien. Das Ersetzungs-Problem lautet: Das Materiestück besteht
auch aus denselben Materieteilchen wie das Tier, warum bin ich also kein Materiestück?
Konsequenterweise muss man die Ersetzungen akzeptieren; und um den Animalismus
retten zu können, muss der biologische Minimalismus akzeptiert werden. Diese
Konsequenz scheint mir überzogen. Aus der Perspektive der Biosemantik geht das besser.
Ich bestreite nicht, dass unbelebte zusammengesetzte Körper existieren, sondern ich
bestreite, dass Körper oder Materiestücke denken können, auch wenn sie wie „mein“ Tier
geformt sind und aus denselben Materieteilchen bestehen. Deshalb kann im AnimalismusArgument das Tier nicht ersetzt werden.
Warum können nur Tiere an etwas denken, nicht aber Materiehaufen oder Körper?
Ich habe als eine Theorie für intentionale Zustände die Biosemantik vorgeschlagen. Eine
Folge des biosemantischen Externalismus ist der Sumpfmann. Ich könnte mir vorstellen,
dass ich (auf meinem Stuhl sitzend) von einem kosmischen Blitz getroffen in meine
atomaren Bestandteile zerlegt und durch ein kosmisches Wunder wieder als
ununterscheidbarer Körper aus denselben Materieteilchen rekonstruiert werde. Doch dieser
Instantmensch gehört, anders als ich, zu keiner biologischen Art und hat weder eine
Selektions- noch eine Lerngeschichte, und folglich hat er keine intentionalen Zustände.
Wenn ich also mein Tier bin und dies nicht nur als bloßer Materiehaufen, dann sind die
Ersetzungen im Animalismus-Argument unzulässig. Die Biosemantik benötigt also die
revisionistische und unglaubwürdige These des biologischen Minimalismus nicht.743 Es sind
Tiere, die als biologische Lebewesen intentionale Zustände haben, nicht Materiehaufen
oder Körper.
Es passt durchaus zu unseren Intuitionen, dass es Tiere sind, die denken, und nicht
Ansammlungen von Materieteilchen oder bloße Körper. Es passt weiterhin zu unseren
Man mag einwenden, dass es ebenso unglaubwürdig ist, die Sumpfmann-Geschiche zu akzeptieren. Ich
glaube nicht, dass es ebenso unglaubwürdig ist. In unserem normalen, durchschnittlichen, ontologischen
Inventar (NDO-Inventar) kommen leblose Naturdinge und Artefakte ebenso vor wie Lebewesen. Der
biologische Minimalismus bestreitet ein Element des manifesten Weltbildes. Sumpfmänner kommen in
unserem NDO- Inventar nicht vor, und das nicht, weil sie fiktiv sind (wie etwa Sherlock Holmes oder Anna
Karenina), sondern weil sie völlig willkürliche und unwahrscheinliche Fiktionen sind, deren
Entstehungsbedingungen die Zuverlässigkeit unserer Intuitionen schwer evaluierbar machen. Meine Lösung
des Ersetzungsproblems ist besser, weil sie nicht gegen unser NDO-Inventar verstößt, sondern nur gegen
Intuitionen im Rahmen einer wenig welthaltigen Fiktion. Auch das Argument, dass es für leblose Dinge und
Artefakte (im Unterschied zu Lebewesen) keine guten Theorien der metaphysischen Komposition gibt, ist
nicht stichhaltig, weil es sie sehr wohl gibt (vgl. Elder 2004).
743
337
Intuitionen, dass nicht nur Lebewesen existieren, sondern auch Materiehaufen wie Felsen,
unbelebte zusammengesetzte Körper wie Hämmer, oder Organe wie das Hirn. Wie ist es
nun mit Körpern oder Materiestücken, die wie mein Tier geformt sind, wie mein Tier
aussehen, und sich wie mein Tier verhalten? Denken sie? Warum sollten Körper oder
Materiehaufen allein aus diesen Gründen denken? Körper und Materiehaufen gehören
nicht zur richtigen ontologischen Kategorie, um denken zu können, Tiere hingegen
gehören zu der richtigen ontologischen Kategorie. Was unterscheidet nun einen bloßen
Körper wie den Sumpfmann von einer Person? Nun, die Person ist ein Tier. Die Person
gehört als Tier zu einer biologischen Art und hat somit eine Selektions- und
Lerngeschichte, der Sumpfmann hingegen nicht. Denn wie ich zu zeigen versucht habe,
gehören Lebewesen (und mithin auch Tiere) zu einer Lebensform, d.h. zu einer
biologischen Art, und biologische Arten sind historische Individuen mit historischen
Essenzen. Der Biosemantik zufolge hat das Tier gehaltvolle Wahrnehmungen,
Erinnerungen und andere intentionale Zustände, sein ununterscheidbares Instantduplikat
jedoch nicht. Der Unterschied zwischen mir, dem Tier, und dem Sumpfmann, dem
Materiehaufen oder dem bloßen Körper besteht erstens darin, dass das Tier denkt, nicht
aber der Materiehaufen, und zweitens darin, dass das Tier zu einem historischen
Individuum gehört, der Materiehaufen hingegen nicht. Diese beiden Unterschiede werden
durch die Biosemantik in systematischer Weise aufeinander bezogen, weil sie ja die
Fähigkeit des Tiers, intentionale Zustände zu haben, aus seiner Zugehörigkeit zu einer
historischen Art erklärt. Wenn wir also die Intuition akzeptieren, dass Tiere denken, wenn
wir weiterhin den biologischen Minimalismus ablehnen, so ergibt sich aus dem Argument
für den Animalismus und dem Ersetzungsproblem ein theoretischer Kontext, in dem nicht
mehr das Sumpfmannproblem als Problem erscheint, sondern der Umstand, dass
Sumpfmann (der Materiehaufen und Körper) und ich (das Tier) grundsätzlich verschieden
sind. Wir können die Ersetzung der zweiten Prämisse – dieses Materiestück oder dieser
Körper denkt – nicht akzeptieren, weil Materiestücke oder Körper nicht denken, Tiere
hingegen schon. Die Biosemantik erklärt diesen intuitiv plausiblen Unterschied. Doch
dieser Unterschied hat zur Folge, dass der Sumpfmann (ein Materiestück oder Körper)
nicht denkt. Wenn wir den Sumpfmann auf diese Weise betrachten, erscheint er nicht
länger als eine intuitiv starke Grundlage gegen die Biosemantik.
Der Animalismus liefert der Biosemantik eine Grundlage für die von ihr gemachte
Voraussetzung, dass Menschen wesentlich Tiere sind. Im Gegenzug kann der Animalismus
einsehen, dass er in Verbindung mit der Biosemantik nicht länger unter dem Druck des
Ersetzungsproblems auf die revisionistische Bahn des biologischen Minimalismus fliehen
338
muss. Animalismus und Biosemantik sind wie Tugendethik und Biosemantik natürliche
Verbündete.
Wie steht es mit der Ersetzung durch „Hirn“? Betrachten wir die sicherlich
merkwürdig klingende Möglichkeit, dass ich mein Hirn bin. Dies bedeutet, dass ich
numerisch identisch mit meinem Gehirn bin und dass ich bei dem Gebrauch von „ich“ auf
mein Hirn referiere. Man kann sich das entsprechende Argument wie folgt vorstellen:
(1) In jenem Bereich, in dem sich Materieteilchen nach der Art eines (gesunden und
wachen) menschlichen Lebewesens angeordnet finden, existiert auch genau ein
denkendes Wesen.
(2) Nur ein (gesundes und waches) Lebewesen mit einigen gehirnartig angeordneten
Materieteilchen ist ein denkendes Wesen.
(3) In jenem Bereich, in dem sich ein (gesundes und waches) menschliches Lebewesen
befindet, befinden sich auch einige gehirnartig angeordnete Materieteilchen.
(4) In jenem Bereich, in dem sich ein (gesundes und waches) menschliches Lebewesen
befindet, befindet sich auch ein Gehirn.
Wenn (2), (3) und (4) zutreffen, dann findet sich in jenem Bereich, in dem sich
Materieteilchen nach der Art eines (gesunden und wachen) menschlichen Lebewesens
angeordnet finden, sowohl ein denkendes Lebewesen als auch ein denkendes Hirn. Hirn
und Lebewesen sind jedoch nicht identisch. Ich bestünde also aus (mindestens) zwei
Denkern, nämlich dem Hirn und dem Lebewesen. Dann muss (1) falsch sein. Doch dies
scheint nicht akzeptabel. Alle meine Gedanken würden dann nämlich von einem zweiten
Denker geteilt, der numerisch von mir verschieden ist. Da die Gedanken beider Denker
inhaltlich identisch sind, kann ich, wenn ich einen Gedanken denke, nicht wissen, ob ich
das Lebewesen oder das Gehirn bin. Bin ich gar beide? Wenn ich denke, dass ich nicht
mein Hirn bin, sondern dieses Lebewesen, dann liege ich möglicherweise falsch. Würde
mein Hirn wird in einen anderen Organismus verpflanzt, der am Leben erhalten wird, so
wüsste ich nicht, ob ich als das alte Tier oder als Hirn im neuen Tier weiterexistieren werde.
Oder existiere ich in beiden weiter? Trenton Merricks zufolge ist (4) falsch.744 Es gibt kein
Gehirn. Es gibt nur gehirnartig angeordnete Materie. Um dem Ersetzungsproblem und
dem eben skizzierten Zweidenkerproblem zu entkommen, verpflichtet sich also auch
Merricks auf einen biologischen Minimalismus. Dieser Ontologie kann die Biosemantik
nicht folgen, weil sie auf die Realität von biologischen Funktionen verpflichtet ist. Hirne
744
Vgl. Merricks 2001.
339
haben bestimmte biologische Funktionen und gehören somit zu einem Typ. Es gibt
Gehirne und nicht nur gehirnartig angeordnete Materie. Merricks glaubt, bestreiten zu
müssen, dass Hirne existieren, weil er sonst kein Mittel gegen das Ersetzungsproblem sieht.
Warum sollte man akzeptieren, dass ich mein Gehirn bin und dass es das Gehirn ist, das
denkt? Dies scheint zunächst auf der Ebene der Alltagssprache falsch zu sein. Wir
schreiben intentionale Prädikate nicht Gehirnen zu, sondern in erster Linie intentionalen
Lebewesen. Nicht meine Beine besteigen den Berg, sondern ich besteige den Berg und
benutze dazu meine Beine. Nicht mein Hirn wünscht es sich, diesen Berg zu besteigen,
sondern ich wünsche dies und benutze in gewisser Weise dazu auch mein Hirn.745
745 Neuestens vertritt Derek Parfit die Ansicht, dass das Hirn für Tiere wie uns konstitutiv sei (vgl. Parfit
2008), da dass das Hirn alle kognitiven und konativen Prozesse kontrolliere und steuere. Also kann man
dasselbe Tier erhalten, indem man einen Prof. Simon Wright erschafft. (Im Comic Captain Future existiert
das „lebende Gehirn“ Simon Wright von seinem Körper getrennt, in einem Behälter. Sinne und Sprache
werden durch Sensoren und einen Sprachprozessor ermöglicht. Wrights Behälter verfügt über
Traktorstrahlen und ermöglichen ihm schwebende Mobilität, sogar im Weltraum, da Wright nicht atmen
muss.) Entweder muss man leugnen, dass Wright ein bewusstes Wesen ist, oder aber dass er ein Tier ist.
Wenn man die zweite Option wählt, soll das Problem darin bestehen, dass man Wrights Hirn wieder in einen
tierischen Körper einpflanzen kann, und warum sollte er sich dadurch in ein Tier zurückverwandeln (vgl.
Noonan 1998, 305f.)? Die erste Option erscheint aus Gründen der behavioralen Äquivalenz zwischen Wright
und uns als unplausibel. Was ist dazu zu sagen? Zur zweiten Option ist dasselbe zu sagen, das bislang gegen
den Sumpfmann gesagt worden ist. Zur ersten Option ist zu sagen, dass sich Wright durch Rückverpflanzung
seines Hirns tatsächlich wieder in ein Tier verwandelt. Ein Grund ist der folgende: Tiere gehören zu Arten
und müssen sich deshalb fortpflanzen können, d.h. über Organe verfügen, die die Echte Funktion der
Reproduktion haben. Diese Organe können natürlich fehl- oder gar nicht funktionieren. Selbst der sterile
Maulesel hat solche Organe, Wright hingegen nicht. Schließlich kann man gegen Parfits Prämisse einwenden,
dass nicht alle kognitiven und konativen Prozesse, die dasjenige ausmachen, was wir die Persönlichkeit eines
Menschen oder eines anderen Lebewesens nennen, ausschließlich durch das Hirn kontrolliert werden. Das
Hirn ist nicht unser exklusives Kontrollorgan. Steinhart 2001 verweist auf vier miteinander vernetzte
organische Systeme: Das zentrale Nervensystem (das außer dem Hirn auch das Rückenmark einschließt), dass
enterische System (im Magen-Darm-Trakt, das für Bauchgefühle wie Ekel zuständig ist), dass Immunsystem
(für das man Metaphern wie das „immunologische Selbst“ oder „immunologisches Gedächtnis“ geprägt hat,
vgl. Tauber 1994) und das endokrinale System (dessen Hormonproduktion Wachstum, Entwicklung, die
Funktionen vieler Organe und Stoffwechselvorgänge reguliert). Wenn wir also Jupps Hirn in Japps Körper
verpflanzen, haben wir damit nicht Jupps Persönlichkeit verpflanzt.
340
341
4.4. Selbstbewusstsein: Das Schimpansen-Argument
Die Animalismus-These lautet: Er, sie, ich und alle menschlichen Personen sind mit Tieren numerisch
identisch. Ein offensichtlicher Einwand gegen den Animalismus lautet, dass Menschen von
anderen Tieren grundlegend verschieden sind. Wir sind Personen, keine Tiere. Warum also
im Animalismus-Argument das „Tier“ nicht durch den Ausdruck „Person“ ersetzen?
Nehmen wir an, es gibt eine Eigenschaft F, die nicht-menschlichen Tieren (NichtPersonen) abgeht, für uns – für das, was wir sind – aber zentral ist. F würde nun für einen
biologischen Bruch oder Graben zwischen menschlichen und nicht-menschlichen
Lebewesen sorgen. Zwar ist jede Person zugleich ein Tier (d.h. ein Tier konstituiert mich),
sie ist aber numerisch von ihm verschieden. Wo ich bin, sind zwei, ein Tier und eine
Person. Um dem Zweidenkerproblem zu entkommen, muss man ergänzen, dass Tiere
keine Gedanken haben und nicht denken, sondern nur Personen. Das Person-Sein ist keine
biologische Kategorie. Menschen sind wesentlich Personen, nicht Tiere.
Was macht denn das besondere Sein einer Person aus? Erinnern wir uns, dass wir
zunächst davon ausgegangen sind, dass wir keine immateriellen Seelen, immateriellen
Substanzen und keine Gedankenbündel sind, sondern (irgendwie) ein Stück materieller
Natur. Dem Personalismus zufolge sind wir auch keine immateriellen Entitäten, sondern
durch ein Tier konstituierte psychische, behaviorale oder selbstbewusste Entitäten.
Personen zeichnet also gegenüber bloßen Tieren entweder eine besondere Form der
psychischen
Kontinuität
aus
oder
sie
zeichnen
sich
durch
eine
besondere
Verhaltensfähigkeit aus oder sie zeichnen sich einfach dadurch aus, dass sie eine subjektive
Perspektive auf die Welt haben. Die bereits angeführte Definition von Locke (4.2.)
entspricht der Sichtweise des Personalismus. Ihr zufolge ist eine Person „a thinking
intelligent being, that has reason and reflection, and can consider itself as itself, the same
thinking thing, in different times and places”746. Lockes Definition unterstreicht sowohl
eine bestimmte Form der psychischen Kontinuität („consider itself as…the same thinking
thing, in different times and places“) als auch besondere Fähigkeiten („reason and
reflection“) und schließlich noch die subjektive Perspektive („consider itself as itself“).
Was meint der Personalist damit, dass wir durch ein Tier konstituierte besondere
Entitäten (nämlich Personen) sind? Das Paradigma für Konstitution sind Statue und
Lehmklumpen. Nehmen wir an, aus einem Lehmklumpen werde eine Staute geformt, diese
werde zerstört, und übrig bleibe der Lehmklumpen. Beide Dinge (Statue und
Lehmklumpen) bestehen aus derselben Materie (denselben Materieteilchen), doch es
746
Vgl. Locke, Essay 2.27.9.
342
handelt sich um zwei (qualitativ) verschiedene Dinge. Es scheint also, als könnten zwei
(qualitativ) verschiedene Dinge ko-lokalisiert sein und so raumzeitlich koinzidieren.
Während die Statue existiert koinzidiert sie raumzeitlich mit dem Lehmklumpen, aber vor
ihrer Herstellung und nach ihrer Zerstörung existiert zwar der Lehmklumpen, nicht aber
die Statue. Der Lehmklumpen überlebt (wenn man so sagen will) die Statue. Folglich
existieren Staue und Klumpen für eine gewisse Zeit ko-lokalisiert. Dieses Beispiel kann nun
auf Personen und Tiere übertragen werden: So wie für einen bestimmten Zeitpunkt Statue
und Lehm ko-lokalisiert existieren (in derselben Materie realisiert sind), existieren eine
Person und ein Tier ko-lokalisiert. Die Person wird durch das Tier konstituiert. Doch das
Tier existiert vor der Person (als Embryo) und bisweilen auch nach der Person (bei
vegetativen Patienten oder als Leiche). Gegen diese Sichtweise könnte man nun dreierlei
einwenden:
(a) Der Statue (bzw. der Person) kommt keine eigene Existenz zu. Es existiert nur der
Lehmklumpen (bzw. das Tier), der für eine gewisse Zeit die Form einer Statue
(bzw. einer Person) annimmt.
(b) Dem Lehmklumpen (bzw. dem Tier) kommt keine eigene Existenz zu. Es existiert
nur die Statue (bzw. die Person), der Lehmklumpen (bzw. das Tier) ist einfach ein
unterschiedliches Arrangement von Materieteilchen.
(c) Weder Lehmklumpen (bzw. Tier) noch Statue (bzw. Person) existieren. Alles, was
existiert, sind Materieteilchen.
Die Position (c) ist sicher unattraktiv, denn sie leugnet die Existenz sowohl von Lebewesen
als auch von Personen. Die Position (b) ist schwer verständlich. Möglicherweise entspricht
Descartes’ Dualismus diesem Bild. Ich bin eine Person und das heißt: Ich bin eine
denkende Substanz. Mein Körper ist eine Tiermaschine, doch diese Tiermaschine ist
lediglich ein Modus der ausgedehnten Substanz. Somit kommt ihr keine eigenständige
Existenz zu. Die Position (a) entspricht dem Animalismus. Sie legt nahe, dass ich mit einem
biologischen
Lebewesen
(mit
einem
Tier)
identisch
bin,
das
zeitweilig
und
kontingenterweise auch eine Person ist. Wir sind wesentlich Tiere und (sehr häufig)
zeitweilig auch noch Personen in dem von Locke angezeigten Sinn.747
Dass ich wesentlich (im metaphysischen Sinne von: essenziell) ein Tier bin, mag stimmen, das ist aber
nicht die Eigenschaft, die wir wesentlich (im normativen Sinne von: wichtig) für uns finden. Wir fassen uns
nicht als Tiere, sondern als Personen (oder als Sprecher oder als Kinder Gottes usw.) auf, und das ist uns
wichtig. Es ist konstitutiv für unser Selbstverständnis, dass wir uns als Personen, Sprecher, Gotteskinder usw.
auffassen, nicht als Tiere. Dies trifft bis zu einem gewissen Grad sicher zu, stellt aber kein Einwand gegen
den Animalismus dar. Man mag vielleicht zu bedenken geben, dass doch metaphysisch als wesentlich
747
343
Was ist hiervon zu halten? Zunächst kann der Animalismus durchaus zugeben, dass
es Eigenschaften gibt, die mich und andere Menschen von anderen Tieren unterscheiden,
nämlich so, wie es Eigenschaften gibt, die Biber von anderen Tieren unterscheiden. Jede
Eigenschaft, die mir zukommt, muss aber gemäß der Animalismus-These eine Eigenschaft
dieses Tieres sein, das ich bin. Die Biosemantik hat nun zu zeigen, dass und wie es uns
möglich ist, bestimmte Eigenschaften wie psychische Kontinuität, bestimmte Fähigkeiten
wie Reflexion oder Rationalität als Tier zu haben. Auch wenn wir diese Eigenschaften
möglicherweise als sehr besondere Tiere haben, so eben doch als Tiere.
Ich werde nun wie folgt vorgehen. Die meisten Personalisten machen
Selbstbewusstsein zu dem entscheidenden Kriterium für das Person-Sein. Ich werde zunächst
auf Zirkularitätsprobleme hinweisen, die sich erstens zeigen, wenn der Personalist das
Selbstbewusstsein an der erinnerten psychischen Kontinuität festmachen möchte, und die
sich zweitens zeigen, wenn Selbstbewusstsein auf deflationistische Weise an der Fähigkeit
des richtigen Gebrauchs der ersten Person Singular festgemacht wird. Schließlich werde ich
mithilfe des „Schimpansenarguments“ zeigen, dass nicht-menschliche Tiere als Tiere über
eine anspruchsvolle Form von Selbstbewusstsein verfügen. Es gibt somit keinen Grund für
die Annahme, dass das Selbstbewusstsein als konstitutives Element dessen, was es heißt,
eine menschliche Person zu sein, dagegen spricht, dass menschliche Personen wesentlich
Tiere sind. Im Gegenteil.
Bevor ich damit beginne, ist es sicher angebracht, den schillernden Ausdruck
„Selbstbewusstsein“ etwas zu verdeutlichen. In einer sicher etwas vagen, doch
hinreichenden Formulierung lautet eine entsprechende Selbstbewusstseins-These: Ein
Wesen hat nur dann einen Geist (intentionale Zustände), wenn es Bewusstsein von sich als Wesen mit
Geist (intentionalen Zuständen) hat. Ich glaube durchaus, dass die Selbstbewusstseins-These
ihre Berechtigung hat, nicht in dem starken Sinn zwar, dass Selbstbewusstsein für das
Haben von jeglicher Art intentionaler Zustände konstitutiv ist, sondern im folgenden Sinn:
Ein geistiges Wesen muss zusätzlich auch ein Bewusstsein seiner intentionalen Zustände
haben können. Darüber hinaus kann die Möglichkeit der Zuschreibung von
Selbstbewusstsein gegenüber sprachlosen Lebewesen zu differenzierteren Auffassungen
ausgezeichnet werden soll, was uns auch normativ als wesentlich erscheint. Die Beispiele des Embryos und
des Wachkomapatienten zeigen jedoch, dass der Animalismus offenbar ethisch relevant ist. Darüber hinaus
lässt sich mit dem Animalismus auch eine (historisch fundierte) Begründung des „Kerngehalts“ der
Menschrechte finden, nämlich für Folterverbot und Lebensrecht. Es ist also für unser Selbstverständnis
keinesfalls unwichtig, dass wir Tiere sind.
344
jener Arten von Selbstbewusstsein führen, die wir Menschen mit den Tieren teilen bzw.
nicht teilen.748
Das vertraute psychische Kriterium für die diachrone Einheit der Person besteht im
Zusammenhängen der Erinnerungen (und Antizipationen). Das Erinnerungskriterium ist
jedoch von einem Zirkel bedroht. Wenn man zugesteht, dass das Haben von geistigen
Zuständen (wie es Erinnerungen und Antizipationen sind) einen Träger oder Inhaber
dieser Zustände voraussetzt, dann muss man diesem Träger der Erinnerungen bereits
diachrone Einheit zugestanden haben. Der Zirkel besteht also darin, dass das
Erinnerungskriterium für die diachrone Einheit der Person bereits auf die diachrone
Einheit der Person als Trägerin oder Inhaberin der Erinnerungen zurückgreifen muss.
Diesen Zirkel räumt man aus, indem man das Lebewesen (und dessen diachrone Einheit)
als Träger oder Inhaber der geistigen Zustände voraussetzt. Wenn jedoch das Lebewesen
(das Tier) als Träger der Erinnerungen einer Person in Frage kommt, warum sollten wir die
menschliche Person nicht gleich mit einem Tier identifizieren? Es ist ein Tier, das sich
erinnert. Da ich diese Tier bin, erinnere ich mich. Dieses Tier ist mit mir numerisch
identisch, nicht mit der Person, an die ich mich erinnere, denn es gibt Dinge, an die ich
mich nicht erinnere oder nicht erinnern kann. Dennoch sind sie mir zugestoßen. Wem sind
sie zugestoßen? Nun, dem Tier, das ich bin.
Die sogenannten „Einfachen Theorien“ der personalen Identität (wie sie etwa von
Reid oder Roderick Chisholm vertreten werden) beharren auf der Existenz einer nichtreduzierbaren Perspektive der ersten Person. Es soll diese einfache und nicht-reduzierbare
Perspektive sein, die das Kriterium für das Person-Sein zur Verfügung stellt. Dieses
Beharren kann durch einen Verweis auf die kriterienlose Selbstreferenz im
748 Ich möchte an dieser Stelle eine Lesart der Selbstbewusstseins-These ausschließen. Einer möglichen Lesart
zufolge heißt Bewusstsein von sich als Wesen mit Geist, dass das Wesen über eine Theorie des Geistes (eine
„Theory of Mind“) verfügt. Bewusstsein von sich selbst ist so betrachtet eine Form des Selbstwissens, weil ein
Wesen mit einer Theorie des Geistes über ein Wissen über seine mentalen Zustände (oder über sein Selbst)
verfügt. Selbstwissen ist auf eine Theorie des Geistes angewiesen, weil es die Selbst- und Fremdapplikation
von Zeichen oder Begriffen für geistige Zustände (oder für Wesen mit geistigen Zuständen) voraussetzt.
Mich interessiert aber mehr, welche Art von Selbstbewusstsein ein Wesen haben muss, um überhaupt in der
Lage zu sein, seine geistigen Zustände durch die Selbst- und Fremdapplikation von Zeichen oder Begriffen
wissend zu erfassen. In einer sehr starken Variante behauptet diese Lesart, dass Wesen ohne Theorie des
Geistes keinerlei bewusste Zustände haben. Zwar zeigt eine Katze, der ich sadistisch die Vorderbeine breche,
alle Anzeichen von akutem Schmerz. Sie zeigt bloßes Schmerzverhalten. Meines Erachtens ist diese Variante
des Vorschlags nicht haltbar. Ihr liegt eine „Higher-Order-Theory“ des Bewusstseins zugrunde, die nicht nur
die angedeuteten Folgen zeitigt, sondern auch theoretische Probleme aufwirft. Bewusste Zustände sind nicht
Zustände, von denen ein Wesen Bewusstsein hat, sondern Zustände, mit denen es von etwas Bewusstsein hat.
Ein Häher kann (mithilfe einer visuellen Repräsentation) eine Nuss wahrnehmen, ohne Bewusstsein von dieser
Wahrnehmung zu haben. Ich gehe also im Folgenden davon aus, dass (einige) nicht-menschliche Tiere
bewusste Erlebnisse haben, und dass das Haben bewusster Erlebnisse jedoch nicht impliziert, dass sie sich
dieser Erlebnisse bewusst sein müssen.
345
Selbstbewusstsein untermauert werden. Die Person bezieht sich in Gedanken (mit „IchGedanken“) kriterienlos auf sich selbst bzw. auf ihre aktuellen geistigen Zustände. Diese
Bezugnahme ist epistemisch privilegiert, weil Irrtum ausgeschlossen sein soll. Ich kann
mich weder darüber täuschen, dass ich mich auf mich beziehe, noch kann ich mich über
meine Gedanken täuschen. Auch semantisch ist dadurch die Referenz der Ich-Gedanken
gesichert. Gemeint ist stets der Denkende. Man kann die Struktur, die der Einfachen
Theorie zugrunde liegt, als „Ego-hic-nunc-Struktur“ bezeichnen. Wenn ich hier und jetzt IchGedanken denke, dann stehen sowohl die Referenz als auch die Wahrheit solcher
Gedanken außerhalb jeden Zweifels.
Die Einheit einer so aufgefassten Person über die Zeit hinweg kann nun so
verstanden werden, dass sie durch die Erinnerung (und Antizipation) des Denkenden
konstituiert wird. Das Problem besteht im Folgenden: Jede Erinnerung ist zunächst ein
aktueller geistiger Ich-Zustand: „Ich (hic et nunc) erinnere mich, dass ich (hic et nunc) gestern
ge-x-t habe“. Die Perspektive der ersten Person gibt für sich genommen keinen
Anhaltspunkt für die Wahrheit dieser Zuschreibung. Die semantischen und epistemischen
Privilegien der Ego-hic-nunc-Struktur können nicht ohne Weiteres auf mein vergangenes
(oder zukünftiges) Ich übertragen werden. Ganz im Gegenteil: Eine Erinnerung ist nicht
aus der Perspektive der ersten Person als Erinnerung kenntlich. Damit ein Zustand eine
Erinnerung ist, muss er auf angemessene Weise verursacht worden sein. Weder garantiert
das bloße Erinnerungsgefühl oder die bloße Tatsache, dass der Denkende hic-et-nuncErinnerungsgedanken hat, diese Bedingung für Erinnerungen noch kann aus der hic-et-nuncPerspektive der ersten Person ein Ich-Gedanke überhaupt als Erinnerung erfasst werden.
Etwas Anderes als die auf hic et nun restringierte Erste-Person-Perspektive muss also die
diachrone Einheit des Subjekts der erinnerten Erlebnisse garantieren. Wiederum bietet sich
als Kandidat ein Lebewesen als Subjekt der erinnerten Erlebnisse an.
Der Animalismus bietet sich also als natürlicher Ausweg sowohl aus dem Zirkel des
Erinnerungskriteriums als auch aus der Gegenwartsgefangenschaft der Einfachen Theorie
an. Es ist die Existenz des Lebewesens als Inhaber von Erinnerungen, die die zeitliche
Identität einer menschlichen Person garantiert. Die Ausprägung einer besonderen Fähigkeit
zur Erfassung seiner selbst durch das Denken von Ich-Gedanken oder das
Selbstbewusstsein ist eine Eigenschaft, die sich ein Menschentier erwerben kann. Dies
bedeutet jedoch nicht, dass der Referent der Ich-Gedanken jene Entität sein soll, die durch
die Fähigkeit, Ich-Gedanken zu unterhalten, erst konstituiert wird. Der Referent der IchGedanken ist der Träger jener Gedanken, auf die ich mich beziehe, wenn ich mir selber
346
Gedanken zuschreibe. Dem Animalismus zufolge beziehe ich mich damit auf das mit mir
numerisch identische Tier.
Wir bekommen einen weiteren Zirkel zu fassen, wenn wir uns einer deflationistischen
Selbstbewusstseinstheorie zuwenden.749 Hierbei ist nicht die Fähigkeit entscheidend, IchGedanken zu denken, sondern die Fähigkeit den Ausdruck „ich“ korrekt zu gebrauchen.
Auch der Deflationist versteht unter Selbstbewusstsein das Haben von Ich-Gedanken mit
reflexivem
Selbstbezug.
Sprachlich
erfolgt
reflexiver
Selbstbezug
durch
das
Personalpronomen der ersten Person Singular, durch „ich“. „Ich habe Zahnschmerzen“ ist
ein Ich-Gedanke, wobei „ich“ nicht einfach durch einen Eigennamen oder eine definite
Beschreibung ersetzt werden kann, da Fehlidentifikation ausgeschlossen werden soll. Ich
kann mich kaum darüber irren, dass ich Zahnschmerzen habe, aber ich kann mich darin
irren, dass Markus Wild Zahnschmerzen hat. Entscheidend ist nun, dass der Deflationist
behauptet, eine Theorie darüber, was es heißt, Ich-Gedanken zu erfassen, erkläre alles, was
spezifisch für Selbstbewusstsein ist. Das bedeutet, dass eine Theorie darüber, wie wir
Gedanken haben können, die immun gegen Irrtum sind, alles erklärt, was spezifisch für
Selbstbewusstsein ist. Folglich haben wir, wenn wir die Beherrschung von „ich“ erklärt
haben, erklärt, wie wir Gedanken haben können, die irrtumsimmun sind. Die Fähigkeit zu
Ich-Gedanken wird, so der Deflationist, vollständig erklärt durch die Beherrschung von
„ich“. Und die Regel für die Beherrschung von „ich“ lautet: Wenn ein Sprecher „ich“ sagt,
so bezieht er sich auf sich selbst, und zwar als Hervorbringer von „ich“. Wenn ein Sprecher
also ein „ich“-Token verwendet, dann bezieht er sich auf sich als Hervorbringer dieses
Tokens. Dazu muss der Sprecher aber wissen, dass er der Hervorbringer dieses Tokens ist.
Das Problem besteht nun darin, dass die Anwendung dieser Regel wiederum IchGedanken voraussetzt, weil ein Ich-Sager im Gebrauch von „ich“ die Regel implizit auf sich
selbst anwendet. Diese Voraussetzung wird aber durch die Fähigkeit zur Anwendung der
Regel nicht erklärt. Also erklärt die Beherrschung der Regel von „ich“ nicht alles, was
spezifisch für Selbstbewusstsein ist. Mehr noch: Das Explanandum des Deflationisten (die
Ich-Gedanken) ist Teil des Explanans (die Beherrschung der ersten Person Singular). José
Luiz Bermúdez hat in diesem Zusammenhang von einem Erklärungszirkel gesprochen.
Dieser Erklärungszirkel verunmöglicht zudem eine Erklärung der Entstehung der realen
Fähigkeit der Beherrschung von „ich“. Und es ist sicher nicht zu viel verlangt, die
Bedingungen für den Erwerb einer solchen Fähigkeit erklären zu wollen.
749
Ich folge hier Ausführungen von Bermúdez 1998.
347
Will man nun nicht ausschließen, dass eine nicht-zirkuläre Erklärung von
Selbstbewusstsein möglich ist (oder den Zirkel nicht als konstitutiv für Selbstbewusstsein
betrachten), kann man eine Prämisse des Deflationismus verwerfen, nämlich das folgende
Sprache-Gedanke-Prinzip: Die Fähigkeit, überhaupt gedankliche Inhalte zu denken, beruht
auf der Fähigkeit zur Beherrschung von sprachlichen Ausdrücken oder von Begriffen für
diese Inhalte. Anders formuliert: Die gedanklichen Inhalte, die man einem Wesen
überhaupt zuschreiben kann, werden allein durch die Begriffe und Äußerungen bestimmt,
die dieses Wesen hat oder tätigt. Ich habe dieses Prinzip bereits in meinen Ausführungen
zu den Häher-Gedanken verworfen. Bermúdez’ Vorschlag lautet, die Verbindung zwischen
geistigen Zuständen und Sprachbeherrschung aufzulösen. Stattdessen brauchen wir eine
Theorie für nicht-sprachliches und nicht-begriffliches Selbstbewusstsein. Biosemantisch
gewendet: Wir brauchen eine biologische Funktion für ein Bewusstsein von sich als Wesen
mit Geist.
Bermúdez’ Strategie besteht darin, Verhaltensformen sprachloser Wesen ausfindig
zu machen, die die Zuschreibung von Zuständen mit nicht-begrifflichem Erste-PersonGehalt erfordert. Zu diesem Zweck untersucht er vier Verhaltensbereiche und
unterscheidet verschiedene Formen des Selbst: Die Wahrnehmungserfahrung liefert ein
ökologisches Selbst, die somatische Propriozeption ein körperliches Selbst, der SelbstWelt-Dualismus ein perspektivisches Selbst und die Interaktion ein psychisches Selbst. Das
alles wirkt etwas disparat. Vor allem scheint sich der Zirkel zu wiederholen, den wir
vermeiden wollten. Ich veranschauliche dies am ökologischen Selbst. Viele Tiere können
(beispielsweise) in ihrem visuellen Wahrnehmungsfeld invariante Information über die
Position der Gliedmaßen ihres eigenen Körpers von variablen Informationen über die
aktuelle Umwelt unterscheiden. Diese Unterscheidung ist grundlegend für zielgerichtetes
Verhalten. Man stelle sich nur die Fortbewegung eines 60 Kilogramm schweren OrangUtans hoch oben in den Baumkronen vor! Doch auch wenn dieser Orang-Utan seine
Gliedmaßen von Ästen und anderen Objekten unterscheidet, so reicht dies scheinbar nicht
für so etwas wie Selbstbewusstsein, denn die Gliedmaßen müssen ja als seine Gliedmaßen
auftauchen. Und dies setzt wiederum Selbstbewusstsein voraus. Der Zirkel, so scheint es,
fällt auf Bermúdez zurück.
Dem kann man entgegenhalten, dass die (äußere) Wahrnehmung der Gliedmaßen
als Invarianten im visuellen Feld mit der (inneren) körperlichen Eigenwahrnehmung des
Lebewesens korreliert. (Bewusste Empfindungen haben wir sprachlosen Tieren ja
zugestanden.) Aufgrund dieser Korrelation ist Körperwahrnehmung eine Form der
Selbstwahrnehmung. Freilich handelt es sich hierbei nur um eine Art des
348
Selbstbewusstseins, von der man nur (aber immerhin) sagen kann, das Tier habe ein
Körperselbst. So kann beispielsweise die Solidität von Objekten gefühlt werden und dabei
fühlt ein Tier auch, dass es selbst solide ist. Tiere können sich (ihre Position) im Raum
verorten. Weiter sind die räumlichen Inhalte ihrer Wahrnehmungen egozentrisch
ausgerichtet, die Dinge sind nah, fern, oben, unten, links, rechts, mittig usw. Die
berühmten Spiegeltests schließlich zeigen, dass Tiere über ein körperliches Selbst verfügen.
Dieses Körperselbst ist wichtig für die flexible Verhaltenssteuerung, wie das Beispiel des
Orang-Utans zeigt.
Diese Art des Selbstbewusstseins ist nicht in einem begrifflichen Sinne
irrtumsimmun. Fremdkörperliche Propriozeptionen (wenn man so sagen möchte) können
(bei uns) sogar empirisch vorgetäuscht werden. Dieser Mangel an Irrtumsimmunität ist
nicht weiter schlimm, denn wir suchen ja nach einer (biologischen) Voraussetzung für den
Gebrauch der ersten Person Singular, und es ist erst dieser Gebrauch, der
Irrtumsimmunität generiert. Wichtig hierbei ist die Funktion des Körperselbst: Falls ein
Tier seine Gliedmaßen nur als Objekte unter anderen Objekten betrachtet, dann ist die
normale biologische Funktion der Repräsentation des eigenen Körpers nicht erfüllt. Und
die biologische Funktion scheint auf der Hand zu liegen: Nur Informationen über es selbst
als es selbst ermöglichen es dem Tier, sich in einer Situation überhaupt flexibel zu verhalten.750
Man mag nun einwenden, dass wir doch nach einem Bewusstsein von sich als
einem Wesen mit geistigen Zuständen suchten. Dennoch kann ich festhalten, dass das
Körperselbst den Zirkel auffangen kann: Die Fähigkeit zur Beherrschung von „ich“ wird
erklärt durch ein vorbegriffliches Bewusstsein meiner selbst als körperliches Wesen. Anders
formuliert: Sie wird erklärt durch die Fähigkeit zu einer vorbegrifflichen Repräsentation
meines Körpers, die die Funktion hat einem Lebewesen einer Situation entsprechendes
flexibles Verhalten zu ermöglichen. Die Frage lautet nun: Wie kommen wir über die nichtsprachlichen Verhaltensevidenzen eines sprachlosen Tiers zur begründeten Behauptung, es
Die Paviane im afrikanischen Okawangodelta sehen, dass gefährliche Löwen auf sie zurennen und fliehen
in die entgegengesetzte Richtung. Dieselben Paviane scheinen auch zu wissen, wann Löwen für sie
ungefährlich sind (sie erkennen irgendwie satte Löwen), und verhalten sich dann lediglich vorsichtig.
Erdhörnchen reagieren auf Schlangen nicht damit, dass sie sich in ihre Erdhöhlen verkriechen, denn anders als
etwa Schakale können Schlangen ihnen ins Erdloch folgen. Deshalb werden Schlangen zunächst zum Schein
attackiert, auf ihre Aggressivität hin getestet, der Nachwuchs wird gewarnt usw. Um die von einer Schlange
ausgehende Gefahr abzuschätzen, muss ein Erdhörnchen Informationen über die Temperatur, die Größe
und die Art der Schlange gewinnen. Ein brütender Regenpfeifer muss mit seinem Tanz, der einen
gebrochenen Flügel vortäuscht, einen potenziellen Nesträuber von seiner Brut weglocken. Nähert sich der
Räuber dennoch dem Nest, muss der Vogel sein Verhalten entsprechend risikoreicher gestalten. Er muss
seine Position relativ zu Räuber und Nest und seinen Flügeltanz so verändern, dass der Räuber auf den
Regenpfeifer aufmerksam wird. Die Repräsentation der Bewegung des Nesträubers relativ zum Nest und zum
Regenpfeifer lenkt das Verhalten des Vogels. Diese Repräsentation beinhaltet Informationen über die
Position des Vogels und seine Bewegung. Somit beinhaltet diese Repräsentation Informationen über den
Vogel selbst.
750
349
verfüge über die Fähigkeit sich selbst als Wesen mit bewussten Zuständen zu erfahren? Ich
möchte nun ein Argument dafür vorschlagen, dass sprachlose Tiere sich als Wesen mit
(mindestens) einer Art von bewussten Zuständen erfahren können. Ich nennen es das
„Schimpansenargument“, weil ich es am Beispiel dieser Spezies durchführe. Es könnte
jedoch auch anhand anderer Tierarten, wie Elstern, Papageien, Elefanten oder Tümmlern
durchgeführt werden.
Ein bekanntes Experiment zur Selbsterkennung („self-recognition“) ist Gordon
Gallups Spiegeltest: Tiere benutzen ihr Spiegelbild, um einen auf ihren Körper gemalten
Farbflecken mit Finger, Rüssel oder Schnabel zu finden. Schimpansen (oder Tauben,
Elstern, Delfine und Elefanten) erkennen sich selbst in diesem Sinne im Spiegel. 751 Die
Selbsterkennung ist wie gesagt stets auf das Körperselbst bezogen und das „Selbst“ im
„Selbsterkennungs-Test“ muss präzisiert werden: Es handelt sich eigentlich um
Körperselbst-Erkennungs-Tests.
Menschenaffen erkennen also ihren Körper. Sie haben in diesem Sinne ein
Körperselbst. Wir können nun die Fähigkeiten von Schimpansen zu dieser Art von
Körperselbsterkennung mit einer anderen Fähigkeit kombinieren. Es gilt als gut gesichert,
dass Schimpansen eine Vorstellung davon haben, was ihre Artgenossen sehen bzw. was sie
nicht sehen können. Schimpansen unterscheiden zwischen der Sichtbarkeit von Objekten,
wenn diese sich in der direkten Sichtlinie von Artgenossen befinden, und der NichtSichtbarkeit von Objekten, wenn sich zwischen der Blickrichtung des Artgenossen und
dem Objekt ein opakes Hindernis befindet. Schimpansen können also Blickrichtungen
verfolgen. Sie verstehen, was es heißt, dass jemand etwas sieht oder nicht sieht: Sie können
daraus Aufschluss über den Informationsstand und das Verhalten ihrer Artgenossen
gewinnen. Schimpansen unterscheiden auch, ob sie selbst von einem Artgenossen gesehen
werden oder nicht.
Nehmen wir nun diese beiden Fähigkeiten zusammen! Die erste Fähigkeit besteht
darin, dass Schimpansen ihr Körperselbst im Spiegel erkennen, und die zweite darin, dass
sie den Unterschied zwischen Sichtbarkeit und Nicht-Sichtbarkeit von sich selbst und
Tauben können auf Videoschirmen unterscheiden, ob sie ein echtzeitliches Video ihrer selbst oder ein
altes Video von sich vor sich haben. Diese Tauben können dieselbe Unterscheidung auch dann noch
ausführen, wenn ihnen ihr Echtzeit-Videobild mit einigen (5-7) Sekunden Verzögerung vorgespielt wird
(Tauben schneiden besser ab als dreijährige Kleinkinder.). Dies bedeutet, dass Tauben ihre eigenen
Bewegungen von den Bewegungen anderer unterscheiden können. Im Unterschied zu Gallups Spiegeltest ist
dieser Versuch nicht darauf angewiesen, dass sich das Tier aufgrund des Spiegelbilds an einer Stelle seines
Körpers berührt. Die Versuchsanordnung gleicht vielmehr den spontanen Bewegungen, die Menschen
ausführen, wenn sie auf einem Bildschirm sehen, dass sie in diesem Moment in Echtzeit gefilmt werden. Die
Selbsterkennung ist jedoch stets auf das körperliche Selbst bezogen, entweder auf ein ungewöhnliches
Merkmal des eigenen Körpers oder auf die aktuellen bzw. eben ausgeführten Bewegungen des eigenen
Körpers.
751
350
anderen Objekten für Artgenossen erkennen. Als unproblematische Zusatzprämisse führe
ich ein, dass Schimpansen zwischen Artgenossen und Nicht-Artgenossen unterscheiden
können. Aus dieser Zusatzprämisse folgt, dass sie sich (ihr Körperselbst) als artgenössisch
erkennen. Das trifft auch auf das eigene Spiegelbild zu. Das begriffliche Argument für
Zustandsbewusstsein ist nun das Folgende:
(1) Ein Schimpanse S schreibt Artgenossen Zustände des Sehens zu.
(2) S erkennt sich (im Spiegel) als Artgenossen.
(3) S schreibt sich Zustände des Sehens zu.
Vorausgesetzt habe ich, dass Schimpansen etwas bewusst als etwas sehen können. Folglich
hat der Schimpanse S (der sich im Spiegel erkennt) ein Bewusstsein von sich (und von
seinen Artgenossen) als Wesen mit bewussten Zuständen. (Mit dem Ausdruck „Wesen“
meine ich an dieser Stelle einfach das Körperselbst.)
Diese Folgerung entspricht, wie ich meine, der Selbstbewusstseins-These. Das
Schimpansen-Argument harmoniert auch mit einer abgeschwächten Form von Peter
Strawsons Symmetrie-These. Strawson zufolge besteht eine notwendige Bedingung für die
Zuschreibung bewusster Zustände (Erfahrungen) gegenüber sich selbst darin, dass man sie
auch „to others who are not oneself“ zuschreiben kann.752 Mit den „others who are not
oneself“ scheint Strawson „other minds“ zu meinen. Ich bin nicht sicher, ob man diese
Interpretation akzeptieren muss, und wir können folgende Ersetzung vornehmen:
Artgenossen oder „other bodily selfs who are not my bodily self“. Dies ist die eben
erwähnte Abschwächung der Symmetrie-These. Die zweite Fähigkeit der Schimpansen
besteht ja in der Zuschreibung eines Informationsstands und möglicher Verhaltensweisen
gegenüber Artgenossen aufgrund ihrer Blickrichtung (dasselbe können übrigens auch
Häher). Und Artgenossen sind für den Schimpansen „other bodily selfs who are not my
bodily self“.
Das Argument für Selbstbewusstsein bei nicht-menschlichen Tieren beruht weder auf einer
besonderen Fähigkeit der Introspektion noch auf einer Fähigkeit zur Beherrschung
sprachlicher Ausdrücke. Es beruht auf einer biologischen Fähigkeit den eigenen Körper
durch den Raum zu manövrieren, einer Fähigkeit, die, wie gezeigt, von deflationistischen
Erklärungen des Selbstbewusstseins implizit in Anspruch genommen wird. Nichtdeflationistische
Ansätze
zum
Selbstbewusstsein
sind,
sofern
sie
auf
das
Erinnerungskriterium setzen, bereits an ein Lebewesen als Träger und Garant von
752
Strawson 1959: 99.
351
Erinnerungen verwiesen. Beide Ansätze können also so behandelt werden, dass sie das
Lebewesen, das sich mithilfe eines Ausdrucks oder durch Ich-Gedanken auf sich bezieht,
immer schon in Anspruch genommen haben. Zusammen mit dem Nachweis, dass nichtmenschlichen Tieren mithilfe eines Arguments zweifellos Selbstbewusstsein, verstanden als
Bewusstsein von eigenen intentionalen Zuständen, zugeschrieben werden kann, ergibt sich,
dass der Animalismus es zulässt, dass Tiere Personen in Lockes Sinne sein können, auch
wenn sie sich nicht sprachlich auf sich selbst als sie selbst beziehen.
352
5. EINE BIOSEMANTISCHE THEORIE DES SEHENS
5.1. Konsumenten und Produzenten
Blicken wir kurz zurück auf die These des Animalismus: Jede menschliche Person ist mit
einem Tier numerisch identisch. Im vorangegangenen Kapitel meine ich plausibel gemacht
zu haben, dass diese These wahr sein kann – ich schreibe „kann“, weil ich sie nicht
gegenüber Alternativen, sondern lediglich als solche verteidigt habe (4.2.). Wenn wir die
Biosemantik akzeptieren, so stellt sich dem Argument für den Animalismus das
Ersetzungsproblem nicht auf eine Weise, die ihn zwingt, den „biologischen Minimalismus“
anzunehmen (4.3.). Meines Erachtens hat die Biosemantik auf das Ersetzungsproblem eine
einfache und elegante Antwort parat, die man getrost als Gegenintuition gegen den
Sumpfmann-Einwand betrachten darf. Philosophische Gegenintuitionen, so habe ich
argumentiert, müssen weder widerlegt noch ausgeräumt, sondern ausbalanciert werden
(4.1.).753 Schließlich habe ich ein Argument dafür entwickelt, dass sprachlosen Tieren, wie
beispielsweise Schimpansen, Selbstbewusstsein im relevanten Sinne zugestanden werden
muss, nämlich ein Bewusstsein von den eigenen mentalen Zuständen (4.4.). Den Menschen
als Tier betrachten, heißt nicht, ihn als Wesen zu betrachten, dass weder Intentionalität
noch Selbstbewusstsein hat, denn schon als Tier hat der Mensch Selbstbewusstsein und
Intentionalität. Das für Menschen spezifische soziale, kulturelle oder sprachliche Leben ist
keine für Selbstbewusstsein und Intentionalität konstitutive Bedingung. Die Biosemantik
betrachtet den Menschen also nicht primär als eine Sonderform rationaler Wesen (d.h. als
endliche oder leibliche Inhaber eines diskursiven Verstandes), sondern primär als eine
Sonderform sinnlicher Lebewesen. Das Sonderbare am Menschen ist nicht der Umstand,
dass er als Verstandeswesen auch noch endlich oder leiblich existiert, sondern der
Umstand, dass er als sinnliches Lebewesen über diskursive und kulturelle Fähigkeiten
verfügt. Weder für die Philosophie des Geistes noch für die Moralphilosophie wird der
Mensch qua Verstandeswesen betrachtet, sondern in beiden Bereichen qua Lebewesen
(2.1. & 3.3.). Wie andere Tiere auch nehmen Menschen durch ihre Sinne Informationen aus
ihrer Umwelt auf. Dazu sind sie wie andere Tiere auch auf ihre körperlichen Sinnesorgane
753 Millikan hat eine weitere Strategie entwickelt, um mit durch Gedankenexperimente gewonnen Intuitionen
umgehen zu können (vgl. WQP: 262-264). Der Proponent führe ein Gedankenexperiment ein und weigere
sich, selbst Position zu beziehen. Der vernünftige Grund für die Weigerung besteht, wie ich ausgeführt habe,
darin, dass Gedankenexperimente die Bedingungen verändern, unter denen wir unsere Intuitionen ausgebildet
haben, denn die Echte Funktion unseres Vermögens kann nur unter historisch Normalen Bedingungen
ausgeübt werden. Nun lasse der Proponent aber andere Philosophen, die Intuitionen entwickeln, ihre
Ansichten vorbringen. Sie werden sich widerstreiten. Die Strategie des Proponenten besteht nun darin, zu
zeigen, dass die sich widerstreitenden Intuitionen der unterschiedlichen Parteien auf die eine oder andere
Weise auf den vom Proponenten gemachten theoretischen Vorschlag Bezug nehmen.
353
angewiesen. Es liegt also aufgrund der vorangegangenen Argumentation nahe, Menschen
zuerst als sinnliche Lebewesen in den Blick zu nehmen. Genau dies soll in diesem Kapitel
geschehen. Ich habe mich in der Diskussion des Selbstbewusstseins und bereits zuvor
(3.2.4.) in erster Linie auf die visuelle Wahrnehmung bezogen. Der mentale Zustand, auf
den ich mich bei der Entwicklung des Arguments für Selbstbewusstsein exemplarisch
bezogen habe, ist das Sehen. In diesem Kapitel nun soll gezeigt werden, was Sehen aus der
Sicht der Biosemantik ist.754
Wie in den bisherigen Kapiteln auch, werde ich ein für die Biosemantik
grundlegendes Thema systematisch rekonstruieren, das sich in Millikans Arbeiten verstreut
zwar vorfindet, jedoch nicht eigens ausgearbeitet ist. Erst diese Ausarbeitungen geben der
Biosemantik den Boden, auf dem sie als Theorieformation wirklich zu stehen vermag.
Nach der Verteidigung des Normativen Naturalismus (Kap. 2), der Existenz natürlicher
Normen (Kap. 3) und des Animalismus (Kap. 4), möchte ich in diesem letzten Kapitel eine
biosemantische Theorie der Wahrnehmung formulieren. Und wie in den vorhergehenden
Kapiteln werde ich von einer gegen die Biosemantik vorgebrachten Argumentation
ausgehen und diese nicht nur zurückweisen, sondern mit ihrer Hilfe auch zeigen, wie die
biosemantische Theorie der Wahrnehmung fundiert sein muss. Betrachten wir also
zunächst die angesprochene Argumentation gegen die Biosemantik.
5.1.1. Ein Biologiemärchen
Wie zu Beginn dieser Studie gesagt, kann man grundsätzlich zwei Versionen der
Teleosemantik
unterscheiden,
nämlich
eine
produzentenorientierte
und
eine
konsumentenorientierte Version (1.1.1.). Die Biosemantik ist eine konsumentenorientierte
754 In der Tat gehören seit Aristoteles das Wahrnehmungsvermögen neben dem Bewegungsvermögen zu den
distinkten Merkmalen höherer Tiere, wobei die visuelle Wahrnehmung überwiegend und mit gutem Grund
als wichtigste Form der Wahrnehmung betrachtet wurde und wird. Aristoteles widmet dem Sehen, als dem
edelsten Sinn, große Aufmerksamkeit (De an., II.5-12). Wie Aristoteles betont, verhilft uns der Sehsinn mehr
als andere Sinne zur Erkenntnis der Dinge und erfreut uns um seiner selbst willen (Met., A 980a25). Kant
folgt in dieser Nobilitierung Aristoteles (Anthropologie, § 19; AA VII: 156). Im 20. Jh. ist diese Konzentration
auf den Sehsinn Gegenstand von Kritik geworden. Der Pragmatismus fordert eine Ablösung der
„Zuschauertheorie“ der Erkenntnis durch eine an der Praxis ausgerichtete Auffassung (so Dewey 1998). Die
Bevorzugung des Sehsinns führe zu einem falschen Model der Erkenntnis als akkuratem Abbilden der
Realität (so Rorty 1979). Die Metaphysik sei einseitig geprägt durch eine Orientierung am Sehen (so
Heidegger 1976: 203-238). Das Sehen wird zum Inbegriff der disziplinierenden Macht der Moderne (so
Foucault 1976). Mir scheinen alle diese Vorbehalte aus einem übertrieben Bedürfnis der Abgrenzung
entstanden zu sein. Zweifellos weisen andere Sinne Besonderheiten auf, die beachtet werden wollen. So
scheint Tönen anders als visuellen Eindrücken eine Zeitlichkeit und Ereignishaftigkeit anzugehören, die es
eigens zu berücksichtigen gilt (vgl. Dokic 2007). So scheint eine stärkere Privilegierung des Tastsinns und der
Leiblichkeit eine veränderte Akzentuierung in der Philosophie der Wahrnehmung zu erlauben (vgl. Gibson
1979; Noë 2004). Doch ignoriert man das Bedürfnis nach Abgrenzung und die Rhetorik des Neubeginns,
dann sieht sich der Vorrang der visuellen Wahrnehmung zu Recht in keiner Weise in Frage gestellt.
354
Version.755 Gegen die Konsumentenorientierung hat Paul Pietroski einen viel beachteten
Einwand vorgebracht.756 Ihm zufolge führt die konsumentenorientierte Version sowohl zu
unplausiblen Zuschreibungen von intentionalen Inhalten als auch zu einem Unvermögen,
zwischen intentionalen und teleologischen Verhaltenserklärungen unterscheiden zu
können. Rufen wir uns kurz die wesentlichen Elemente der Konsumentenorientierung in
Erinnerung (1.1.3.). R-Vehikel müssen durch einen K-Mechanismus – Interpretanten im
Sinne von Peirce (1.2.2.) – interpretiert werden, um einen IR-Inhalt zu haben. Der IRInhalt besteht in jenen Bedingungen, mit denen das R-Vehikel gemäß einer (abstrakten)
Abbildungsregel korrespondieren muss, damit der K-Mechanismus seine Funktion erfüllen
kann. Die Funktion des Konsumenten spielt somit die entscheidende Rolle in der
Festlegung des intentionalen Inhalts. Es ist wichtig zu betonen, dass auch Produzenten eine
Funktion haben. Deren Aufgabe besteht darin, R-Vehikel hervorzubringen, die gemäß
einer Abbildungsregel mit Sachverhalten korrespondieren. K- und P-Mechanismen müssen
bei der Hervorbringung von Repräsentationen oder Zeichen also kooperieren. Die
Konsumentenorientierung bedeutet somit nicht, dass Produzenten in der Biosemantik
keine Rolle spielen (1.1.4.).757
Pietroski benutzt nun eine Art „Biologiemärchen“, um seine Kritik zu formulieren:
Es waren einmal die Kimus, sehr einfache Lebewesen, die friedlich und
farbenblind am Fuße eines Berges lebten. Zu ihrem Leidwesen wurden sie jeden
Morgen von den räuberischen Snorfs heimgesucht. Eines Tages aber bildete der
Kimu Jack in Folge einer spontanen Mutation einen Mechanismus aus, der es ihm
erlaubte, bestimmte Wellenlängen des Lichts wahrzunehmen, die bei uns der
Wahrnehmung der Farbe Rot entsprechen. Aufgrund dieses „Rot-Sensors“ wurde
Jack empfänglich für die entsprechende Wellenlänge und ihre Emissionsquellen
zogen ihn auf wundersame Weise an. Er bestieg jeden Morgen den Berg, an dessen
Fuße die Kimus lebten, um dem Sonnenaufgang näher zu sein. So entging Jack den
Raubzügen der Snorfs, die niemals Berge bestiegen. Ebenso erging es jenen
Nachkommen Jacks, die den Rot-Sensor ererbt hatten. Und wenn sie nicht
gestorben sind, vermehren sie sich noch heute.
Der Biosemantik zufolge muss der Inhalt der durch rote Objekte oder Regionen
ausgelösten Repräsentation der Rot-Sensoren von Jacks Nachkommen wie folgt bestimmt
werden: Die durch den internen Mechanismus produzierten R-Vehikel erlauben es den
Inhabern des Rot-Sensors, sich von Snorfs weg zu bewegen. Kimus mit Rot-Sensoren
Vgl. WQP: IV; Matthen 2006.
Vgl. Pietroski 1992; Macdonald und Papineau 2006: 7-9.
757 Wie Millikan über sich schreibt: „As a corrective to the emphasis that others in the teleosemantic business
have placed on the function of the representation producers, Millikan […] has recently been emphasizing the
devices that use or ‘consume’ representations. The official statement of Millikan’s position, LTOBC,
however, emphazises producer and consumer equally. It also distinguishes the functions of these two from a
third and quit different thing, the representation itself. The roles that these three items play are distinct but
equally important for an analysis of mental semantics.“ (WQP: 125f.)
755
756
355
haben gegenüber ihren sensorlosen Artgenossen also einen entscheidenden Vorteil, und
aus diesem Grund haben die Inhaber des Rot-Sensors überlebt und sich reproduziert. Der
IR-Inhalt der R-Vehikel, die der Rot-Sensor produziert, muss also in etwa lauten
„snorffreie Richtung!“, wie Pietroski richtig folgert:
„For assuming that the relevant consumers of B-tokens [die R-Vehikel des RotSensors] in kimus are the mechanisms that guide kimu behavior, and assuming […]
that such mechanisms have the save conduct of kimus as their Proper Function,
then what B-token consumers need when they consume B-tokens is that the
region indexically specified by the particular B-token be relatively snorf-less.“758
Selbst wenn niemals ein Snorf die Ursache dafür gewesen ist, dass der Rot-Sensor eines
Nachfahrens von Jack ein R-Vehikel hervorgebracht hat, hat das Vehikel den IR-Inhalt
„snorffreie Richtung!“. Ansonsten fehlt diesen Kimus die Fähigkeit, Snorfs von anderen
Dingen zu unterscheiden. Sie sind außer Stande einen Snorf als Fressfeind wahrzunehmen.
Nun scheint es laut Pietroski erstens unplausibel, dass Lebewesen, die nicht zwischen A
und Nicht-A unterscheiden können, Repräsentationen mit dem Inhalt „A-freie Richtung!“
oder „Nicht-A dort!“ ausbilden. Der IR-Inhalt einer solchen Repräsentation besteht nur
akzidentiell und hat keinen direkten Bezug zu den Snorfs. Um Repräsentationen über
Snorfs zu bilden, so Pietroski, müssen die einzelnen Kimus doch zuerst einmal Snorfs
repräsentieren können, damit diese überhaupt Bestandteil eines IR-Inhalts sein können.
Zweitens scheint die Zuschreibung „snorffreie Richtung!“ durch keine empirischen
Verhaltensbeobachtungen an Kimus bestätigt werden zu können. Im Gegenteil. Bemalt der
Verhaltensforscher einen Snorf mit roter Farbe, werden die Kimus geradewegs auf ihn zu
gehen, wie auf andere rote Dinge auch. Dem Verhaltensforscher dürfte sich vielmehr der
Schluss nahelegen, dass die Sensoren der Kimus Rotes repräsentieren und nicht „snorffreie
Richtung!“. Dieser Schluss dränge sich auch deshalb auf, weil der Sensor nur dadurch aktiv
ist, dass er von etwas Rotem affiziert wird. Rote Dinge sind die Ursache für die Aktivierung
des Sensors. Drittens verallgemeinert Pietroski seinen Einwand. Man könnte ja sagen, dass
Kimus aufgrund ihres Sensors gleichsam Überzeugungen ausbilden. Der Inhalt dieser
Überzeugungen würde lauten, dass sich in einer bestimmten Richtung keine Snorfs
befinden. Die Wahrheit einer solchen Überzeugung hängt nun in keiner Weise von Snorfs
ab, sondern von Objekten, die Licht in einer bestimmten Wellenlänge reflektieren, das bei
uns Rotwahrnehmungen verursachen würde. Es scheint unplausibel zu sein, dass der Inhalt
einer Wahrnehmungsüberzeugung nicht durch Objekte, Eigenschaften oder Sachverhalte
spezifiziert wird, die kausal für die Ausbildung dieser Wahrnehmungsüberzeugung
verantwortlich sind, und es scheint unplausibel zu sein, dass der Inhalt einer
758
Pietroski 1992: 274.
356
Wahrnehmungsüberzeugung durch Objekte, Eigenschaften oder Sachverhalte spezifiziert
wird, die weder kausal für die Ausbildung dieser Wahrnehmungsüberzeugung
verantwortlich sind, noch vom Inhaber der Überzeugung unterschieden werden können.759
Millikan akzeptiert die Inhaltszuschreibung „snorffreie Richtung!“, denn diese
Zuschreibung ergibt sich aus der Biosemantik. Die Kritik hingegen muss man nicht
akzeptieren. Im Folgenden werde ich drei Reaktionen auf Pietroskis Einwand diskutieren.
Die Dreizahl entspricht nicht der eben vorgestellten Zählung der Einwände, sondern eher
einer tiefer liegenden Problemschicht, die uns der Einwand freizulegen gestattet. In einer
ersten Reaktion werde ich Pietroskis Verallgemeinerung des Einwands und seine
Auffassung von Verhaltenserklärungen kritisieren. Pietroski lässt sich nämlich von
mangelnden Differenzierungen zwischen Repräsentationsarten und von falschen Ideen
über Verhaltenserklärungen in die Irre führen. Auf diesem Wege kann auch festgestellt
werde, dass Pietroskis Einwand nicht so sehr auf die biosemantische Auffassung von
Überzeugungen zielt, sondern vielmehr auf ihre Auffassung von Wahrnehmungen (5.1.2.).
Danach werde ich untersuchen, ob die produzentenorientierte Version der Teleosemantik,
wie sie etwa Dretske, Neander oder Tye vertreten, besser dasteht (5.1.3.). Diese
Untersuchung erlaubt es, auf grundlegende Probleme der produzentenorientierten Version
zu stoßen (5.1.3.1.-5.1.3.4.), sie aber gegenüber einigen Einwänden zu verteidigen, die
Annahmen betreffen, die sie mit der Biosemantik teilt (5.1.4.). Endlich werde ich mit dem
Nomischen Korrelationsprinzip auf die tiefste Schicht stoßen, auf die Pietroskis Einwand
verweist (5.1.5.1.). Die Biosemantik verzichtet nämlich auf zwei Momente, die von vielen
philosophischen Wahrnehmungstheorien als für Wahrnehmungen konstitutiv akzeptiert
werden, nämlich den Gedanken, dass der Inhalt einer Wahrnehmung durch ein bestimmte
Objekt innerhalb der Ursachenkette spezifiziert werden muss (5.1.5.2.) und dass eine
Wahrnehmungstheorie bei unserer subjektiven Erfahrung von der Welt anzusetzen hat (5.1.5.3.).
Kurz: Sie verwirft die Kausale Theorie der Wahrnehmung. Verzichtet sie nicht auf zu viel?
Bevor ich in 5.3. die biosemantische Theorie der Wahrnehmung darstelle (5.3.), wird es
deshalb nötig sein, diesen Verzicht ausführlich zu motivieren und zu verteidigen (5.2.).
5.1.2. Erste Reaktion: Mangelnde Differenzierungen
Pietroskis Biologiemärchen ist nicht so irreal, wie es den Anschein haben mag. Darin liegt
ja die Kraft des Beispiels. Zwischen Jacks Nachfahren und den Magnet-Bakterien (1.1.1.)
gibt es nämlich Parallelen. Ebenso wie der Kimu durch die Detektion von bestimmten
759
Vgl. Pietroski 1992.
357
Wellenlängen dazu gebracht wird, snorffreie Richtungen zu repräsentieren, wird das
Bakterium durch die Detektion des geomagnetischen Feldes dazu gebracht, die Richtung
sauerstoffarmer Wasserschichten zu repräsentieren. In beiden Fällen legt dasjenige, das die
R-Vehikel kausal hervorbringt (produziert) nicht den IR-Inhalt fest. Es ist die spezifische
Weiterverwendung des R-Vehikels (durch einen kooperierenden Konsumenten), die den
IR-Inhalt festlegt.760 In beiden Fällen also ist die Ursache der magnetotaktischen bzw. der
fototaktischen Reaktion nicht dasjenige, das durch das Lebewesen repräsentiert wird.
Weder repräsentiert das Bakterium die Richtung des Nordpols, noch repräsentiert der
Kimu den Sonnenaufgang. Was hätten sie davon? Natürlich muss eine Normale
Erklärung – die erklärt, wie eine bestimmte Reproduktiv Etablierte Familie ihre Direkte
Echte Funktion historisch erfolgreich ausgeübt hat (1.1.4.) – solche Ursachen einbeziehen.
Sie muss das geomagnetische Feld bzw. rote Objekte oder Regionen erwähnen, wenn sie
erklärt, wie die Vorfahren der Bakterien bzw. Jack und seine Sippe die entsprechende
Echte Funktion historisch erfolgreich ausgeübt haben. Jacks Enkel konnten den Snorfs
entkommen, indem sie in die Richtung roter Regionen gingen, und die Bakterien
navigierten sich in sauerstoffarme Wasserschichten, indem sie den Linien des
geomagnetischen Feldes folgten. Würden nun Verhaltensforscher die Bakterien mittels
künstlicher magnetischer Felder untersuchen, so hätten sie keine Schwierigkeiten damit,
diese Wesen in für sie toxische Wasserschichten zu lotsen. Offenbar kann es nicht die
Funktion der Magnetosome sein, sie in für sie letale Umstände zu lenken oder auf
Indikationsspulen zusteuern zu lassen! Ebenso wenig kann es die Funktion der RotSensoren sein, die Kimus in die Arme von rot bemalten Fressfeinden zu treiben oder auf
Feuerwehrautos zugehen zu lassen. Der Umstand, dass z.B. männliche Kampffische
(Gattung Betta) auf vorbeifahrende Feuerwehrautos mit der Einnahme der Kampfposition
reagieren, hat Niko Tinbergen nicht zu der Annahme veranlasst, dass die Einnahme der
charakteristischen Kampfposition die Funktion hat, sich gegen rote Dinge aggressiv zu
verhalten, sondern zu der Annahme, dass es die Färbung der Rivalen ist, die solch
aggressives Verhalten auslöst. Der kausale Auslöser eines Verhaltens bestimmt jedoch nicht
dessen Funktion. Zur Erklärung des Verhaltens gehört nicht nur die Ursache, sondern
sowohl die Einbeziehung der Lebensform der Kampffische als auch die Beachtung der
Funktion des Verhaltens. Die Verhaltenserklärungen des Forschers nötigen ihn also nicht
dazu, dasjenige als repräsentierten Inhalt anzuerkennen, das sich als unmittelbarer Auslöser
von repräsentationalen Aktivitäten und damit unweigerlich gekoppelten Verhaltensweisen
760 In Tat und Wahrheit ist das Navigationssystem vieler magnetotaktischer Bakterien komplexer als der RotSensor der einfältigen Kimus.
358
anbietet. Es legt sich also weder im Falle der Bakterien der Schluss nahe, dass die
Magnetosome sie zum Nordpol führen sollen, noch, dass die Sensoren der Kimus sie auf
rote Dinge ansprechen lässt. Was der Verhaltensforscher braucht, um die Verhaltensweisen
dieser beiden Wesen zu erklären, ist erstens ein Begriff des Verhaltens, der auf Echte
Funktionen Bezug nimmt (1.2.5.) und zweitens ein bestimmtes Maß an Einsicht in die
Lebensform, zu der diese Lebewesen gehören (3.3.1.-3.3.2.). Beide Momente sind
konstitutiv für Verhaltenserklärungen. Pietroskis Verhaltensforscher gleicht jenen
Schildbürgern, die den Aal, der alle Weihnachtskarpfen im Teich gefressen hat, zum Tod
durch Ertrinken verurteilen, sich dann aber des sich im Wasser so kläglich windenden
Delinquenten erbarmen und ihn in einem Akt der Begnadigung wieder aus dem Wasser
nehmen.
Die
Koppelung
von
repräsentationalen
Aktivitäten
und
bestimmten
Verhaltensweisen führt zu einem nächsten Punkt gegen Pietroski. Bei den in Frage
stehenden Repräsentationen (der Bakterien, der Kimus, der Kampffische) handelt es sich
um „Pushmi-pullyu-Repräsentation“ (PPR).761 Millikan unterscheidet indikative (oder
informierende oder deskriptive) Repräsentationen (wie Überzeugungen), imperativen (oder
motivierenden oder direktiven) Repräsentationen (wie Wünschen) und PPRs. Veridische
Überzeugungen repräsentieren einen vorhandenen Sachverhalt, erfüllbare Wünsche
repräsentieren einen herzustellenden Sachverhalt. Eine PPR enthält sowohl imperative als
auch indikative Elemente. Primitive tierliche Signale, wie etwa Warn- oder Paarungssignale,
sind PPRs. Wir haben Beispiele für PPRs im Kellenschlag des Bibers (1.1.3.), im
Schwänzeltanz
der
Biene
(1.1.5.),
oder
in
der
visuellen
Wahrnehmung
von
Paarungspartnern bei Springspinnen (3.2.4.) kennengelernt. Auch das Froschauge, das eine
Fliege wahrnimmt (1.1.3), produziert ein PPR. Der Wahrnehmung der Fliege (indikativ)
folgt instantan das Herausschleudern der Zunge (imperativ). PPRs finden sich auch als
Aussagen in natürlichen Sprachen („Nein, Hänschen, wir essen nicht mit den Fingern!“,
„Die Sitzung ist hiermit beendet!“, „Das tut der Katze doch weh!“).762 Aus diesem Grund
hat die sprachliche Formulierung des Inhalts der Kimu-Repräsentation die Form
Vgl. VM: VI, XIII; LBM: IX. Das Fabeltier Pushmi-pullyu taucht auf in Hugh Loftings Kindergeschichte
The Voyages of Dr. Dolittle (1922). Es handelt sich dabei um gazellenartige Tiere ohne Schwanz, dafür mit
einem Kopf an jedem Ende und Hörnern auf jedem Kopf. In der Übersetzung heißt dieses Tier „StossmichZiehdich“. Dolittle bringt ein solches Tier mit nach England und wird gefragt, was das für zwei Tiere sind:
„Oh, that, said the Doctor with a smile. That isn’t two animals, it’s one animal with two heads.“ (Lofting
1922: 43)
762
Folgt man der Wahrnehmungstheorie von Gibson, dann handelt es sich bei
Wahrnehmungsrepräsentationen um PPRs. Gibson zufolge repräsentieren die perzeptiven Systeme eines
Lebewesens „Eignungen“ (affordances) in der Umwelt für bestimmte Verhaltensweisen (die ich „Aneignungen“
nennen werde). Ich komme darauf in 5.3.3.3. ausführlich zu sprechen.
761
359
„snorffreie Richtung!“. Das Ausrufezeichen soll den direktiven Aspekt dieser PPR sichtbar
machen.
Ich möchte diesen Punkt nun vertiefen, damit wir dadurch von der falschen Fährte
abkommen, auf die uns Pietroski gesetzt hat. Erst wenn wir diese falsche Fährte verlassen,
dann können wir erkennen, worin die eigentliche Kraft des Einwands von Pietroski
besteht.
Kimus
und
Magnetbakterien
verfügen
über
keine
ausdifferenzierten
repräsentationalen Fähigkeiten, sondern ihre Repräsentation sind, wie im Falle der meisten
einfachen Lebewesen, PPRs. Die falsche Fährte führt nun vom Biologiemärchen zur
biosemantischen Theorie von Überzeugungen. Diese falsche Fährte verdankt sich nicht
zuletzt der unglücklichen Art und Weise, wie seit Fodors Kritik der Teleosemantik das
eben angeführte Froschbeispiel als Beispiel für die teleosemantische Erklärung des Inhalts
von Überzeugungen verwendet wird.763 Nun führt zwar ein Weg von der Diskussion des
visuellen Systems eines Frosches zu einem Repräsentationssystem, das Überzeugungen
auszubilden vermag, aber der Weg ist nicht so kurz, dass die Wahrnehmung des Frosches
als Überzeugung behandelt werden kann (1.1.6.). Ebenso wenig hat ein Bakterium die
Überzeugung, dass in der und der Richtung günstige Umweltbedingungen zu finden sind.
Auch das ungleich komplexere Repräsentationssystem der Bienentänze vermag keine
Überzeugungen auszubilden. Das Verhalten von Lebewesen wie Kimus, Bakterien,
Springspinnen oder Fröschen wird nicht durch eine der Wunsch-Überzeugungs-Theorie
analoge Form der Verhaltenserklärung erklärt, sondern durch PPRs.
Es mag nun einleuchtend erscheinen, imperative von indikativen Komponenten zu
unterscheiden, aber weshalb als Komponenten ein und derselben Repräsentation? Man sollte
diese
Komponenten
aus
folgendem
Grund
nicht
auf
zwei
unterschiedliche
Repräsentationen verteilen: Frösche beispielsweise sind nicht in der Lage, ihr
Fressverhalten ihrem Sättigungsgrad anzupassen. Jede vorüberschwirrende Fliege ist nicht
nur Anlass für eine Information, sondern stets Gelegenheit für ein bestimmtes Verhalten.
Die Repräsentation der Fliege muss also zugleich als indikativ und imperativ betrachtet
werden. Doch selbst wenn der Frosch über seinen Sättigungsgrad irgendwie informiert
wäre, würde daraus nicht folgen, dass sein Hunger die Rolle eines Wunsches und seine
Wahrnehmung einer Fliege die Rolle einer Überzeugung spielen müsste. Und zwar nicht
allein deshalb, weil die entsprechenden Repräsentationen nicht die Bedingungen erfüllen,
die Überzeugungen der Biosemantik zufolge erfüllen müssen, sondern einfach deshalb, weil
der Stand der Sättigung eine interne Bedingung für die Aktivierung einer PPR sein kann.
Eine Ausdifferenzierung in indikative und imperative Zustände tritt erst auf, wenn ein
763
Vgl. Fodor 1992; Allen 2001.
360
Lebewesen über ein ausreichendes komplexes und reichhaltiges Repräsentationssystem
verfügt – komplex und reichhaltig im Sinne der TRS (1.2.7.) –, das es erlaubt,
Informationen über die Umwelt von spezifischen Verhaltensweisen abzukoppeln und sie
für verschiedene Verhaltensdispositionen zu verwenden. Wenn eine Repräsentation nicht
mehr an ein spezifisches Verhalten gebunden ist, hat sie auch keine imperative
Komponente mehr. Sie kann als rein indikativ betrachtet werden. Indikative Komponenten
können sich dadurch von Verhalten abkoppeln, dass sie allgemein verwertbare
Informationen (etwa in Form einer „mentalen Karte“ des Reviers) bereit stellen, imperative
Komponenten dadurch, dass sie bestimmte Bedürfnisse und Triebe als zu erstrebende
Ziele repräsentieren (und so beispielsweise unterdrückt werden können).764 Allgemein gilt:
Je stärker indikative und imperative Komponenten ausdifferenziert sind, je stärker
indikative oder imperative Repräsentationen von bestimmten und unmittelbaren
Verhaltensweisen abgekoppelt sind, je expliziter Sachverhalte durch indikative und Ziele
durch imperative Repräsentationen repräsentiert werden und je flexibler seine
Repräsentations- und Reaktionspaletten verbunden sind, desto höher steht das Lebewesen
kognitiv, desto kognitiv komplexer ist es. Kimus sind nicht kognitiv komplex. Denn die
indikativen und imperativen Komponenten des durch den Rot-Sensor hervorgebrachten
Repräsentations-Typ in keiner der genannten Weisen ausdifferenziert.
Es gibt also keinen Grund dafür, die in Pietroskis Biologiemärchen aufgeworfenen
Vorbehalte auf die biosemantische Theorie der Überzeugungen zu übertragen. Es scheint
vielmehr der Fall zu sein, dass diese Übertragung das Wesen der Theoriekonstruktion
grundlegend verkennt (1.1.6.). Weder Pietroskis Einwand, dass die Biosemantik zu
unplausiblen Inhaltszuschreibungen und Verhaltenserklärungen führt, noch sein
generalisierter Einwand können deshalb überzeugen.
5.1.3. Zweite Reaktion: Kritik der produzentenorientierten Version
Wie steht es mit der Anforderung einer kausalen Relation zum Repräsentierten im Falle
veridischer
Repräsentationen?
Es
macht
ganz
den
Anschein,
als
wären
produzentenorientierte Teleosemantiken diesem Einwand Pietroskis nicht ausgesetzt, weil
sie einerseits den IR-Inhalt durch die Echte Funktion der die R-Vehikel produzierenden PMechanismen festlegen und andererseits fordern, dass solche Funktionen auf der
Grundlage kausaler oder informationaler Relationen aufbauen müssen. Wenn der Rot-Sensor
der Kimus etwas repräsentieren, dann rote Objekte oder Regionen. Ihr Sensor trägt
764
Für weitere Stufen der Differenzierung vgl. VM: XIII-XVIII und Wild 2008.
361
Information über bestimmte Wellenlängen und er hat die Echte Funktion, diese
Information zu tragen. Dass der Kimu dadurch den Snorfs entwischt, ist einfach ein
glücklicher Nebenumstand. Läuft ein rothungriger Kimu einem Snorf in die Fänge, dann
leidet er nicht unter den Folgen eines Irrtums, sondern unter großen Pech.765 Ich denke
nicht, dass die produzentenorientierte Version der Teleosemantik besser fährt. Sie gerät
vielmehr in eine Reihe von Schwierigkeiten. Ich werde zunächst eine gut artikulierte
produzentenorientierte Version darstellen, nämlich jene von Dretske.766 Im Anschluss
daran werfe ich Probleme für diesen Ansatz auf. Dabei handelt es sich um Probleme im
Informationsbegriff (5.1.3.1.), um die Verwechslung zwischen R-Inhalt und IR-Inhalt
(5.1.3.2.), um das Unvermögen der Inhaltsfestlegung (5.1.3.3.) und um einen
grundlegenden Fehler im Hinblick auf phänomenale Inhalte (5.1.3.4.). Zwei auch für die
biosemantische Wahrnehmungstheorie nicht unerhebliche Aspekte werde ich hingegen
verteidigen, nämlich die These, dass (visuelle) Wahrnehmungen Repräsentationen sind
(5.1.4.1.) und die Annahme eines nicht-begrifflichen Inhalts (5.1.4.2.).
Dretskes Modell für mentale Repräsentationen sind nicht tierliche Signale wie
Bienentänze,
sondern
technische
Geräte
wie
Thermostate,
Luftdruckmesser,
Geschwindigkeitsanzeigen oder Tankuhren.767 Ebenso wie solche Geräte die Aufgabe
haben, Zustände außerhalb von ihnen anzuzeigen, haben Repräsentations-Systeme die
Aufgabe, Zustände des Körpers oder der Außenwelt anzuzeigen (to indicate). Das Anzeigen
fasst Dretske als das Tragen von Information über einen Zustand, das Haben der Aufgabe
als das Haben einer Funktion: „[A] system, S, represents a property, F, if and only if S has
the function of indicating (providing information about) the F of a certain domain of
objects.“768 Künstliche Repräsentations-Systeme, wie etwa Messgeräte, erhalten diese
Funktion von uns, ihren Erbauern, zugewiesen. Angeborene natürliche RepräsentationsSysteme, wie es Sinnesorgane sind, erhalten ihre Funktionen von der Evolution
zugewiesen, erworbene natürliche Repräsentations-Systeme, wie Überzeugungssysteme, primär
durch Lernprozesse. Zustände natürlicher Repräsentations-Systeme sind mentale
Repräsentationen. Dretske charakterisiert seine Position im Hinblick auf mentale
Repräsentationen durch folgende These: Alle mentalen Tatsachen sind repräsentationale
Etwas Ähnliches gilt Dretske zufolge auch für die Magnetbakterien, vgl. Dretske 1986.
Dretskes und Tyes Ansätze sind in vielerlei Hinsicht vergleichbar. Im Unterschied zu Tye, der lediglich
darauf verweist, dass Repräsentation Kovariation unter idealen Bedingungen sei (Tye 1995: 101, 153), hat
Dretske eine ausgearbeitete Theorie der mentalen Repräsentation. Tye 1995, 2000 verteidigt seine Theorie des
phänomenalen Gehalts gegen eine Vielzahl von Einwänden, während Dretske 1995 seine Theorie des
phänomenalen Gehalts eher vorstellt als verteidigt.
767 Vgl. McGinn 1997: 528: „Who could have thought that so much philosophy could be extracted from
reflection on the humble speedometer? Fred Dretske is the world’s leading theorist of this simple measuring
device.“
768 Dretske 1995: 2.
765
766
362
Tatsachen und alle repräsentationalen Tatsachen sind Tatsachen über informationale
Funktionen.769 Im Folgenden interessiere ich mich in erster Linie für angeborene natürliche
Repräsentations-Systeme und deren Zustände.
Erstens werden mentale Repräsentationen durch die Begriffe der Information und
der Funktion erklärt. Zum Begriff der Funktion findet sich bei Dretske wenig. Allerdings
vertritt er einen Funktionsbegriff, der in relevanten Hinsichten mit dem hier vertretenen,
ätiologischen Begriff der Echten Funktion übereinstimmt. Unter Information versteht
Dretske grob gesagt Folgendes: Information ist eine objektive Größe, die in Begriffen von
gesetzesartigen Beziehungen, die zwischen verschiedenen Ereignissen und Strukturen
bestehen, definiert wird.770 Der Begriff der Information ist abhängig von Naturgesetzen,
nicht von intentionalen Akteuren, die etwas als Information nutzen. Soll ein Zustand A
über einen Zustand B Informationen tragen, so müssen A und B in einer naturgesetzlichen
Relation zueinander stehen.771 Dretske versteht Naturgesetze als Relation zwischen
Universalien.772 Sein Begriff der Information ist also von dem des Naturgesetzes abhängig.
Damit ist auch sein Begriff der Repräsentation von dem des Naturgesetzes abhängig.
Zweitens behauptet Dretske, dass alle Aspekte des Mentalen auf die so erklärten
mentalen Repräsentationen zurückgeführt werden können. Dies gilt insbesondere für die
drei Elemente der Subjektivität, nämlich für (i) die Bewusstheit mentaler Zustände (im
Unterschied zu unbewussten mentalen Zuständen, (ii) die Introspektion der eigenen
mentalen Zustände (im Unterschied zum bloßen Haben bewusster mentaler Zustände) und
(iii) den phänomenalen oder qualitativen Charakter einiger Klassen von mentalen
Zuständen, wie Sinneserfahrungen, Körperempfindungen, Emotionen und Stimmungen
(im Unterscheid zu Überzeugungen, Absichten oder Wünschen), wobei der phänomenale
Charakter die Eigenschaften beispielsweise von Sinneserfahrungen bezeichnen, die dafür
verantwortlich sind, wie einem Subjekt diese Erfahrungen erscheinen, wie sie sich für das
Subjekt anfühlen. Welche Behandlung lässt Dretske den drei Momenten der Subjektivität
angedeihen?
Im Hinblick auf (i) vertritt Dretske die These, dass ein mentaler Zustand Z1
aufgrund intrinsischer Eigenschaften bewusst ist, und nicht aufgrund einer externen Relation
zu einer höherstufigen Repräsentation Z2, die Z1 repräsentiert. Dretske vertritt also im
Hinblick auf (i) einen Repräsentationalismus erster Stufe, keinen Repräsentationalismus
Dretske 1995: xiii.
Vgl. Dretske 1981, 2008.
771 Vgl. Dretske 1981: 74f.
772 Ohne Universalien keine Naturgesetze. Wenn es also Naturgesetze gibt, dann gibt es auch Universalien,
vgl. Dretske 1977: 267.
769
770
363
zweiter Stufe.773 Ein wichtiges Problem besteht hier darin, dass unklar ist, wie sich bewusste
von unbewussten mentalen Zuständen unterscheiden sollen. Dies führt u.a. zu der
problematischen Position, dass für ein Subjekt unbewusste Zustände als eigentlich bewusst
betrachtet werden müssen.
Im Hinblick auf (ii) vertritt Dretske einen komplexen Ansatz, den er in
unterschiedlichen Fassungen vorgelegt hat. Im Wesentlichen geht es ihm darum, die
Introspektion nach dem Modell der versetzten Wahrnehmung zu modellieren. Ein Subjekt
weiß, was hinter seinem Rücken geschieht, wenn es in einen Spiegel blickt. Dies ist ein
Beispiel für versetzte oder verschobene Wahrnehmung. In Analogie dazu versteht Dretske die
Introspektion. Ein Subjekt weiß, was in seinem Geist vorgeht, wenn es sich auf den Inhalt
seiner Repräsentationen konzentriert. Da Dretske mentalen repräsentationalen Inhalt (nicht
aber die mentalen repräsentationalen Vehikel) strikt externalistisch auffasst, weiß ein
Subjekt, was in seinem Geist vorgeht, wenn es gleichsam nach draußen blickt. Es handelt
sich bei der Introspektion also um „Extrospektion“. Hinzu kommt, dass ein Subjekt über
eine Theorie des Geistes verfügen muss, um zur Introspektion fähig zu sein. Ein heikler
Punkt findet sich darin, dass unklar ist, worin eine Theorie des Geistes bestehen soll (4.4.).
Ein weiterer heikler Punkt besteht in der Konsequenz, dass ein Subjekt nicht wissen kann,
ob es wirklich phänomenale Zustände hat oder nicht (und nur ein Zombie ist, der
irrigerweise glaubt, in einem phänomenalen Zustand zu sein).774
Im Hinblick auf (iii) vertritt Dretske die Auffassung, dass der phänomenale oder
qualitative Charakter der entsprechenden Klassen mentaler Zustände nicht als eine Menge
intrinsischer Eigenschaften des repräsentierenden Vehikels aufgefasst werden sollte,
sondern als Repräsentation externer Eigenschaften. Mit anderen Worten: Die scheinbar
nicht-intentionalen Eigenschaften der entsprechenden Klassen mentaler Zustände werden
auf intentionale Eigenschaften dieser Zustände reduziert.775 Der phänomenale Charakter
eines mentalen Zustandes (gebildet durch seine Qualia) wird mithin nicht durch
Eigenschaften der Repräsentation selbst konstituiert, sondern durch externe Eigenschaften
der (in einer spezifischen Modalität) repräsentierten Objekte.776 Wie steht es mit
Dretske ist wie Tye 1995 ist ein Anhänger von FOR („First Order Representationalism“), nicht von HOR
(„Higher Order Representationalism“) wie z.B. auch Carruthers 2000.
774 Vgl. Dretske 2006.
775 „Qualia in einer Sinnesmodalität M (für S) sind die Weisen, wie Objekte S in M phänomenal erscheinen.
Im Einklang mit der repräsentationalistischen These identifiziere ich Qualia weiterhin mit phänomenalen
Eigenschaften – jenen Eigenschaften, mit denen ein Objekt (gemäß der These) sinnlich repräsentiert […]
wird.“ (Dretske 1995: 73).
776 Diese These wird als „Repräsentationalismus“ oder „Intentionalismus“ bezeichnet. Da es zahlreiche
Thesen und Theorien gibt, auf die der Begriff des Repräsentationalismus angewendet wird, müsste man
ausdrücklicher von einem „externalistischen Repräsentationalismus im Hinblick auf den phänomenalen
Charakter oder Qualia“ sprechen.
773
364
Wahrnehmungshalluzinationen? In solchen Fällen finden sich ja keine repräsentierten
Objekte und deshalb auch keine repräsentierten Eigenschaften solcher Objekte. Dennoch
haben Wahrnehmungshalluzinationen einen phänomenalen Charakter. Dem Subjekt einer
solchen Halluzination scheint es so, als würden vor ihm rosa Elefanten tanzen. Welche
Eigenschaften werden hier repräsentiert? Dretskes Antwort lautet, dass das Subjekt, anders
als im veridischen Falle, keine instantiierten Eigenschaften, sondern uninstantiierte
Eigenschaften repräsentiere, wie „Rosaheit“ und „elefantenhaftes Aussehen“. Solche
Eigenschaften versteht Dretske als Universalien, und zwar merkwürdigerweise deshalb,
weil im veridischen Falle eine Rosawahrnehmung eine informationale Relation zu einer
Instantiierung von Rosaheit unterhält. Das halluzinierende Subjekt repräsentierte folglich
unintantiierte Universalien. Verpflichtet sich Dretske damit nicht auf einen abstrakten
Universalienrealismus?777
5.1.3.1. Information als Grundlage?
Die Grundlage für Dretske Version der Teleosemantik ist sein Begriff der Information. Es
ist eine notwendige Bedingung dafür, dass ein R-Vehikel o veridisch als F repräsentiert, dass
das Vehikel die Information trägt, dass oF. Hinzukommt, dass das Vehikel Bestandteil eines
Systems sein muss, dass die Echte Funktion hat, Vehikel hervorzubringen, die
Informationen über Eigenschaften vom Typ F tragen. Das visuelle System etwa hat die
Echte Funktion Informationen über bestimmte Farbeigenschaften zu tragen. Zustände des
visuellen Systems sind deshalb Repräsentationen von Farbeigenschaften, nämlich
veridische Repräsentationen, wenn sie tatsächlich die Information tragen, dass o rot ist;
falsche, wenn sie repräsentieren, dass o rot ist, o aber nicht rot, sondern grün ist;
halluzinatorische, wenn sie repräsentieren, dass o rot ist, aber kein o existiert. Der RotSensor der Kimus hätte die Echte Funktion Informationen über die Farbeigenschaft Rot
zu tragen. Dies legt sogleich die Frage nahe, inwiefern das Haben von Information über
Farbeigenschaften für den Kimu biologisch relevant sein soll. Es wird sich zeigen, dass
Dretskes Teleosemantik nur äußerlich auf die Natürliche Selektion bezogen bleibt und
somit keine naturalistische Antwort auf Kants Frage bereit stellt (1.1.2). Wichtig für diesen
Nachweis ist nun Dretske These, dass ein biologisches System, wie der Rot-Sensor oder ein
Magnetosom, niemals die Echte Funktion hätte erwerben können, Rot bzw. die Richtung
des geomagnetischen Nordpols zu repräsentieren, wenn die Vorfahren dieser Systeme diese
777
Vgl. dazu Schmid 2006.
365
Informationen nicht tatsächlich getragen hätten. Hieraus ergeben sich Probleme für eine
produzentenorientierte Teleosemantik.
Zunächst ist die Formulierung, es sei die Funktion eines Zustandes, Information
über F zu tragen, unverständlich. Echte Funktionen sind selektierte Wirkungen. Es ist die
Funktion von etwas, etwas Bestimmtes zu bewirken oder hervorzubringen. Wenn es aber
die Funktion einer Repräsentation sein soll, Informationen über F zu tragen, und ein
Zustand nur dann Informationen über F trägt, wenn F tatsächlich vorliegt, dann ist es die
Funktion dieses Zustandes, die selektierte Wirkung zu haben, dass F tatsächlich instantiiert
ist, d.h. zu bewirken, dass F tatsächlich vorliegt! Doch zumindest ein indikativer,
repräsentationaler Zustand kann nicht bewirken, dass sein Repräsentandum vorliegt, nicht
einmal im veridischen Fall, und ebenso wenig kann er bewirken, dass er über F
Information trägt.
Zweitens verbaut sich die produzentenorientierte Version Dretskes die Möglichkeit
zu erklären, wie Repräsentations-Systeme, wie sie durch das Magnetbakterium
veranschaulicht werden, eine für sie nützliche Umweltbedingung anzeigen können. Es
besteht eine naturgesetzliche – und das hießt: informationale – Relation zwischen der
Ausrichtung der Magnetosome und der Richtung des geomagnetischen Nordpols. Die
Magnetosome repräsentieren demzufolge die Richtung des geomagnetischen Nordpols.
Doch das Bakterium braucht keinen Nordpol, es braucht sauerstoffarme Wasserschichten.
Zwischen dem geomagnetischen Nordpol und sauerstoffarmen Wasserschichten besteht
jedoch keine naturgesetzliche Relation, mithin auch keine informationale Relation. Der
produzentenorientierten Version zufolge ist es für die Magnetosome des Bakteriums also
schlechterdings unmöglich, eine für diese vorteilhafte Umweltbedingung anzuzeigen, weil
es niemals die Funktion erwerben kann, Information über die Richtung sauerstoffarmer
Wasserschichten zu tragen.
Dretske meint: „The fundamental idea is that a system, S, represents a property, F,
if and only if S has the function of indicating (providing information about) the F of a
certain domain of objects.“778 Indikationsrelationen sind anspruchsvoll. Ein Zustand s von
S ist nur dann ein Indikator für F, wenn die Wahrscheinlichkeit, dass F vorliegt, wenn s
auftritt, gleich 1 ist. Anders gesagt: Wäre F nicht vorgelegen, so wäre S nicht in den
Zustand s übergegangen. Dretskes Ausarbeitung des Informationsbegriffs ist von
verschiedener
Seite
vorgeworfen
worden,
dass
die
sehr
starke
wahrscheinlichkeitstheoretische Formulierung (p = 1) verhindere, dass irgendetwas
778
Dretske 1995: 2.
366
Informationen tragen könne.779 Dagegen mag man einwenden, dass Dretske seinen
Informationsbegriff nicht immer so strikt versteht, wie er ihn einführt. Auch hohe
Zuverlässigkeit reicht offenbar aus.780 Doch selbst bei dieser liberalen Variante bleibt das
folgende Problem: Das Tragen von Information (Indikation) ist für Repräsentation vor
einem biologischen Hintergrund (i) weder notwendig, (ii) noch erklärt es, was ein Zustand
repräsentiert.781 (i) Erstens kann ein Zustand die Funktion erwerben, etwas anzuzeigen,
selbst wenn er relativ unzuverlässig ist. Lebewesen entwickeln Detektoren für Beutetiere
oder Fressfeinde. Die Entwicklung solcher Detektoren ist nicht dadurch bedingt, dass sie
Beute oder Feinde mit der Wahrscheinlichkeit gleich 1 oder größter Zuverlässigkeit
anzeigen, sondern, dass sie diese oft genug anzeigen und dass das Verhältnis von Kosten und
Nutzen für die Evolution der Detektoren günstig ausfällt. So müssen etwa Detektoren für
Fressfeinde weniger daran gemessen werden, dass sie zuverlässig Information über
Fressfeinde tragen, mithin am laufenden Band richtige Positive liefern („Ein Feind!“, wenn
einer da ist), sondern in erster Linie daran, dass sie weniger falsche Negative („Kein
Feind!“, wenn einer da ist) denn falsche Positive („Ein Feind!“, wenn keiner da ist) liefern.
Mit anderen Worten: Die Zuverlässigkeit eines Indikators kann niedrig sein, und er kann
dennoch adaptiv wertvoll sein und so eine biologische Funktion erwerben. (ii) Zweitens
kann ein Zustand zwar bestimme Umweltbedingungen als zuverlässiger Indikator anzeigen,
dies bedeutet jedoch nicht, dass es diese Umweltbedingungen sind, die vom Zustand
repräsentiert werden. Bewegungen im Spinnennetz zeigen der Spinne zuverlässig die
Richtung der Quelle für diese Bewegungen an. Was auch immer die Quelle der Bewegung
ist, sie ist für die Spinne uninteressant, wenn es sich nicht um Beute handelt. Der
Biosemantik zufolge, produziert ein P-Mechanismus ein R-Vehikel, dessen Struktur mit
bestimmten Strukturen in der Umwelt isomorph ist. Bewegt ein Kind mit einem Stöcklein
sanft das Netz, so ist das R-Vehikel nicht nur isomorph mit den Bewegungen des
Stöckchens, sondern auch mit jenen der Hand, mit beliebigen neuronalen Vorgängen im
Nervensystem des Kindes, die mit seinen Handbewegungen korreliert sind, und mit dem
Lied, dass es zum Takt der Stöckchenbewegung singt. Nichts davon wird durch das RVehikel repräsentiert, obschon das Vehikel mit diesen Strukturen korrespondiert.
Repräsentiert wird vielmehr „Spinnenfutter“; und zwar, weil dies die Bedingung ist, die
vorliegen muss, damit das Verhalten der Spinne erfolgreich ist (mehr dazu in 5.1.3.3.).
Dretskes Version der Teleosemantik scheint mir aus diesen Gründen als
naturalistische Theorie der Repräsentation ungeeignet, weil sie mit der von ihr in Anspruch
Vgl. Putnam 1986; Loar 1991.
Vgl. Dretske 1986: 18, 1988: 97; Neander 1996.
781 Vgl. Godfrey-Smith 1989, 1992.
779
780
367
genommenen Hintergrundtheorie, nämlich der Theorie der natürlichen Selektion, nicht in
Übereinstimmung gebracht werden kann. Der Grund dafür liegt im Informationsbegriff,
der die Idee der Repräsentation konfus (erster Einwand) macht, evolutionäre Erklärungen
nicht unterstützen kann (zweiter Einwand) und nicht geeignet ist, die Entstehung von
repräsentationalen Systemen, die eine biologische Funktionen haben, verständlich zu
machen (dritter Einwand). Keines dieser Probleme trifft die Biosemantik. Natürlich ist die
Forderung nach einer informationalen Relation nichts Anderes als die von Pietroski
erhobene Forderung nach einer kausalen Relation. Weil diese Forderung mehr Probleme
schafft als beseitigt, sollten wir sie fallen lassen.
5.1.3.2. Die Verwechslung von R-Inhalt und IR-Inhalt
Zu Beginn von 5.1.3. habe ich darauf hingewiesen, dass es sich bei Dretskes und Tyes
Theorie hinsichtlich der Frage, was einen Zustand bewusst mache, um einen
Repräsentationalismus erster Stufe (FOR) handelt, der einem Repräsentationalismus
zweiter Stufe (HOR) gegenüber gestellt wird. Der Unterschied zwischen diesen Positionen
besteht in der Antwort auf die Frage, was einen Zustand Z bewusst macht. FOR zufolge
geschieht dies durch intrinsische Eigenschaften von Z, HOR zufolge durch eine bestimmte
relationale Eigenschaft von Z, nämlich durch die Repräsentation von Z durch einen höher
stufigen repräsentationalen Zustand. Die Frage nun, wie sich bewusste von unbewussten
Zuständen unterscheiden, beantworten sowohl Tye als auch Dretske mit dem Hinweis der
Verfügbarkeit der Repräsentation durch den Organismus für weitere kognitive Aktivitäten. Eine
Repräsentation ist bewusst, wenn sie zur Bildung einer (vielleicht nur sehr simplen)
Wahrnehmungsüberzeugung bereit steht (Tye: poised) oder dazu dienlich ist (Dretske:
serviceable). Die einem Organismus bewussten Erfahrungen mit phänomenalem Charakter
sind Dretske zufolge jene angeborenen natürlichen Repräsentationen, die der Konstruktion
von erworbenen natürlichen Repräsentationen dienen, die wiederum der effizienteren
Erfüllung der Bedürfnisse und Wünsche eines Organismus dienlich sind.782 Dretske
schreibt einer natürlichen systemischen Repräsentation also zwei Funktionen zu. Die erste
Funktion besteht darin, Informationen über etwas zu tragen, die zweite darin, der
Konstruktion von erworbenen natürlichen Repräsentationen dienlich zu sein. Durch die
erste Funktion hat die Erfahrung einen phänomenalen Inhalt, durch die zweite wird sie
bewusst. (Im Unterschied zu HOR wird nicht verlangt, dass die Erfahrung durch einen
782
Dretske 1995: 19.
368
zweiten Zustand repräsentiert wird, um bewusst zu sein.) Nennen wir die erste Funktion
„Indikatorfunktion“, die zweite „Servicefunktion“.
Nun unterscheidet sich die produzentenorientiert Version der Teleosemantik
jedoch nicht mehr von der konsumentenorientierten Biosemantik. Die Indikatorfunktion
besteht darin, bestimmte Repräsentationen zu produzieren (nämlich angeborene natürliche
Repräsentationen), die Servicefunktion darin, diese Repräsentationen für den Organismus
auf bestimmte Weise nutzbar zu machen (nämlich für die Konstruktion natürlicher
erworbener Repräsentationen, die das Verhalten des Lebewesens steuern). Dies entspricht
der biosemantischen Unterscheidung der Funktion von P-Mechanismen und der Funktion
von K-Mechanismen. Der entscheidende Unterschied besteht freilich darin, dass Dretske
zufolge ein Zustand Z eines P-Mechanismus (etwa des visuellen Systems) bereits als solcher
einen IR-Inhalt hat und dass die Relation der Verfügbarkeit für einen K-Mechanismus
diesen IR-Inhalt lediglich noch bewusst macht. Allerdings wird dieser Relation aufgetragen,
dafür zu sorgen, dass Z für das Lebewesen überhaupt irgendeinen Nutzen erfüllt. Daraus
folgt, dass die Indikatorfunktion als solche dem Lebewesen keinen Nutzen bringt, sondern
erst die Servicefunktion. Dies bedeutet, dass der Indikator als solcher keine Echte Funktion
erwerben kann, sondern nur vermittelt über die Servicefunktion. Der Grund besteht darin,
dass der Indikator im Verlauf der Selektionsgeschichte der betreffenden Lebensform den
Lebewesen
irgendeinen
Nutzen
verschafft
haben
muss,
um
überhaupt
eine
Indikatorfunktion zu erhalten. Doch dieser Vorteil kann nur aufgrund der Servicefunktion
wirksam werden.
Daraus folgt: Ein Zustand Z eines P-Mechanismus kann nicht bereits als solcher
einen IR-Inhalt haben. Denn der IR-Inhalt wird durch eine Echte Funktion festgelegt und
es ist nicht die Indikatorfunktion, die diese Rolle übernehmen kann, sondern die
Servicefunktion. Mit anderen Worten: Nicht der Produzent legt den IR-Inhalt fest, sondern
der Konsument. Die produzentenorientierte Version der Teleosemantik schreibt bereits
den R-Vehikeln einen IR-Inhalt zu und übersieht, dass diese lediglich über einen R-Inhalt
verfügen. Der R-Inhalt ist kein Inhalt im eigentlichen Sinne, sondern besteht lediglich in
einer Kausal-, Informations- oder Isomorphie-Relation zwischen Vehikel und Strukturen in
der Welt. Nichts am R-Vehikel legt nahe, welches die Strukturen wären, die den IR-Inhalt
des Vehikels festlegen würden. Wird eine bestimmte Vehikel-Struktur-Korrelation ohne
Bezug auf einen kooperierenden Konsumenten ausgezeichnet, dann verfällt man entweder
einer Form des Mythos des Gegebenen oder überlässt die Festlegung des Inhalts einer
externen Instanz. Im ersten Fall übernimmt die Information oder Indikation die Rolle des
Gegebenen, im zweiten Fall übernimmt ein externer Betrachter (etwa der Neurologe) die
369
Aufgabe, die Korrelation festzustellen und ungerechtfertigterweise zu objektivieren. Im
ersten Fall wird keine naturalistische Erklärung des intentionalen Inhalts geleistet und in
zweiten Fall keine naturalistische Erklärung desselben. Erst der Rückgriff auf die
Servicefunktion weicht dieser unangenehmen Alternative aus und führt direkt zur
konsumentenorientierten Version der Teleosemantik: zur Biosemantik.
5.1.3.3. Das Problem der Gehaltsbestimmung
Die Zuschreibungen von Funktionen gegenüber Merkmalen mit Echten Funktionen sind
bekanntlich bedroht durch Unbestimmtheit. Wenn solche Zuschreibungen unbestimmt
sind, dann auch die Zuschreibungen von IR-Inhalten auf der Grundlage Echter
Funktionen. Wenn die Zuschreibung von IR-Inhalten unbestimmt ist, so ist unklar, unter
welchen Bedingungen ein R-Vehikel fehlrepräsentiert. Doch dann ist das Kriterium zur
Beantwortung von Kants Frage nicht erfüllt, nämlich die Lösung des Problems der
Fehlrepräsentation (1.1.3.). Dieses Problem wird in der Literatur anhand des Beispiels eines
Frosches, der nach einer Fliege schnappt, diskutiert. Fodor, der das Beispiel eingeführt hat,
ist der Ansicht, dass teleologische Theorien an prinzipieller Unterbestimmtheit leiden, und
deshalb das Problem der Fehlrepräsentation nicht lösen können.783
Betrachten wir das Beispiel genauer. Unterschiedlich spezialisierte Typen von
Retinazellen von Fröschen reagieren selektiv auf bestimmte Stimulusklassen. So reagiert der
„Convex Edge Detector“ (CED) vorwiegend auf kleine, dunkle, bewegte Objekte. Dabei
handelt es sich vorwiegend um Insekten (Fliegen, Mücken, Käfer, Ameisen usw.). CED
detektiert also Beutetiere. Nehmen wir nun vereinfachend an, dass CED direkt einen
Mechanismus auslöst, der für das Schnappen nach Insekten verantwortlich ist. Detektiert
der Frosch eine Fliege, so schnappt er sogleich nach ihr, indem er seine Schleuderzunge
betätigt. Es ist für Frösche natürlich vorteilhaft, sich Beutetiere als Futter einverleiben zu
können. Die Evolution hat dafür gesorgt, dass spezialisierte Retinazellen eine ganze Reihe
von für den Frosch unerheblichen Informationen ausfiltert. So kann der Frosch
unmittelbar auf Beutetiere reagieren. Fodor gibt nun folgende Spielregeln vor: CED
reagiere auf kleine, dunkle, bewegte Objekte (KDBO), worunter auch Bleikügelchen
783 Vgl. Fodor 1990a. Das Beispiel geht zurück auf den Aufsatz „What the Frog’s Eye Tells the Frog’s Brain“
(1959) von J.Y. Lettvin et al. Die ursprünglich am Leopardfrosch (Rana pipiens) durchgeführten und später
vertieften empirischen Untersuchungen wurden für die philosophischen Zwecke massiv vereinfacht. Dagegen
haben etwa Allen 2001 und Neander 2006 Einspruch erhoben: Wenn die Teleosemantik eine naturalistische
Theorie des Inhalts neuronaler Zustände sein soll, muss sie auch anhand empirische fundierter und
reichhaltiger Beispiele durchgeführt werden können. Ich habe durchaus Sympathien für diesen Gedanken.
Doch die Frage, ob die Teleosemantik eine Lösung des Problems der Fehlrepräsentation durch die drohende
Unbestimmtheit der Funktionszuschreibung beheben kann, muss eine Antwort finden, bevor der Ansatz zum
Einsatz kommt. Insofern sind vereinfachte Beispiele gerechtfertigt.
370
gehören, und der Frosch ernähre sich normalerweise nur von Fliegen. Stimuliert man CED
mit KDBO, so schnappt der Frosch zu. Was ist die Funktion von CED? Auf KDBO zu
reagieren oder auf Fliegen zu reagieren? Um zu überleben, braucht der Frosch Fliegen,
deshalb hat er CED. Doch in der historischen Umgebung der Froschvorfahren waren
Fliegen immer auch KDBO. Fodor zufolge kann nicht bestimmt werden, worin die
Funktion von CED besteht. CED detektiert also KDBO oder Fliegen. So bleibt unklar,
welches Element der Disjunktion den Inhalt der Repräsentation ausmacht und deshalb
kann nicht gesagt werden, ob der Frosch fehlrepräsentiert, wenn er durch artifizielle
KDBO stimuliert wird. Und deshalb könne der Rückgriff auf die Teleologie (auf Echte
Funktionen) das Problem der Fehlrepräsentation nicht lösen.784
Ausgehend von diesen Spielregeln liegt die Lösung für eine konsumentenorientierte
Teleosemantik auf der Hand: Der Frosch braucht Fliegen, nicht KDBO. Die
produzentenorientierte Version hingegen hat keine Mittel in der Hand, den Inhalt des
Vehikels zu bestimmen, da es mit mehreren Strukturen ko-variiert. Die Behandlung des
Kimu-Falles durch die Biosemantik beruht also auf einem klaren Vorteil dieser Version.
Hilft der argumentative Zug hier tatsächlich weiter? Was will der Frosch von Fliegen? Sind
sie für ihn nicht nur wichtig, weil er sie verdauen kann? Und da der Frosch auch Mücken
frisst, warum sollten wir das Beispiel auf Fliegen beschränken? Geht es also nicht einfach
um Froschfutter? Nur um natürliches oder auch künstliches Froschfutter? Fodors Beispiel
hat zu einem Sammelsurium von Lösungsvorschlägen für die Funktion von CED geführt:
Fliegen,785 Froschfutter,786 Nährstoffe,787 und KDBO788. Viele Autoren behaupten aus
unterschiedlichen Gründen, dass auf dieser Ebene Funktionen unbestimmt bleiben
müssen,789 andere glauben, dass der Frosch mehrere verschiedene Inhalte repräsentiert.790
Bevor ich auf dieses Problem aus der Perspektive der Biosemantik eingehe, möchte
ich auf eine Unterscheidung hinweisen, nämlich auf die Unterscheidung zwischen
prinzipieller Unbestimmbarkeit und lediglich kontingenter Unbestimmbarkeit. So ist etwa
Dretske der Ansicht, es handle sich um eine nur kontingente Unbestimmbarkeit: Es ist uns
epistemisch nicht möglich, den Inhalt zu bestimmen. Dretske meinte zunächst, dass die
Funktion auf der Ebene von einfachen Organismen wie Bakterien oder Frösche
unbestimmt bleiben müsse, und dass nur das Lernen Zuständen eine bestimmte Funktion
784 Dieses Disjunktionsproblem, so haben wir in 1.1.1. gesehen, ist eine Version des Problems der
Fehlrepräsentation.
785 Sterelny 1990: 124ff.
786 Millikan 1991.
787 Price 2001: 80.
788 Neander 1995: 130; Jakob 1997: 134.
789 Dennett 1987: 320; Papineau 2003.
790 Rowlands 2006: 130ff.
371
zuweisen könne.791 Der Vorschlag lautet also, dass wir die epistemologische Seite und die
ontologische Seite des Problems der Funktionsbestimmung auseinanderhalten. Auch wenn
wir nicht wissen, worin die Funktion besteht, so ist doch anzunehmen, dass es eine solche
Funktion gibt. Die Funktion von X erklärt, warum X da ist, und die Existenz von X ist das
Resultat eines objektiven Prozesses, nämlich der Evolution des Lebens. Dennett hingegen
geht von einer prinzipiellen Unbestimmbarkeit aus. Er vertritt die Auffassung, dass im
Hinblick auf die Festlegung von Echten Funktionen der Streit über diese Festlegung gerade
zeige, dass es nichts gibt, was Zuschreibungen wahr macht: „When the ‚fact of the matter’
about proper functions is controversial […] there is no ‚fact of the matter’.“792 Man kann
die epistemologische von der ontologischen Seite also gerade nicht unterscheiden. Die
Zuschreibung einer Funktion gegenüber X erleichtert einfach die Erklärung und die
Voraussage dessen, was X tut. Natürlich ist die Existenz von X das Resultat objektiver
kausaler Prozesse, nicht jedoch die Funktionszuschreibung. Das Problem dieser beiden
entgegengesetzten Auskünfte besteht darin, dass sie die ontologische Objektivität von
Funktionen bzw. deren Beobachterrelativität je voraussetzen. In dieser Form können sie
uns zunächst nicht bei der Frage weiterhelfen, ob Funktionen bestimmt sind oder nicht.
Ich werde nun so vorgehen, dass ich Dennetts Antwort zurückweise und Dretskes Antwort
akzeptiere. Ich möchte, anders als Dretske, am Beispiel des Frosches klären, wie wir
dennoch dazu kommen können, den Inhalt einer Repräsentation zu bestimmen. Ich
akzeptiere also eine Form des intentionalen Realismus. Der Verweis auf unergründliche
intentionale Tatsachen scheint mir aus einer naturalistischen Perspektive eher
unbefriedigend.793 Bei Dennett korrespondiert die Beobachterrelativität direkt mit der
Unmöglichkeit eines epistemisch objektiven Urteils über Funktionen. Ich habe bereits in
der Kritik an Searles Funktionsauffassung gezeigt, dass ein solcher Standpunkt nicht stabil
ist (3.2.1.). Darüber hinaus setzt dieser Standpunkt voraus, dass die Existenz von Zwecken
notwendig mit der Unterstellung eines Zweck setzenden Subjekts verbunden ist. Wie ich
bereits nahe gelegt habe, sind wir nicht gezwungen, diese säkularisierte Fassung eines
theologischen Erbes anzutreten. Wir können es ausschlagen, und wir sollten dies auch tun
(2.1.). Schließlich folgt aus einer Uneinigkeit über Funktionszuschreibungen nicht, dass
791 Dretske 1986, 1988. Dretske änderte freilich später seine Meinung und meinte, dass es für angeborene
natürliche Repräsentationen, die ja nicht erlernt sind, eine bestimmte Funktion geben müsse, auch wenn wir
diese nicht bestimmten können (Dretske 1995; Dretske 2001: 65ff.) Diese Änderung hat damit zu tun, dass
Dretske auf der Grundlage seiner alten Überzeugung nicht zwischen der Funktion natürlichen angeborenen
Repräsentationen und natürlichen erworbenen Repräsentationen unterscheiden kann. Ersteren käme
andernfalls ja gar keine bestimmte Funktion, und mithin kein IR-Inhalt, zu.
792 Dennett 1987: 300.
793 Ich werde in 5.1.4.2. ein Argument für den intentionalen Realismus zumindest von nicht-begrifflichen IRInhalten liefern.
372
kein „fact of the matter“ vorliegen kann. So können sich Archäologen darüber uneins sein,
worin die Funktion eines prähistorischen Artefakts bestand, nur folgt daraus nicht, dass
dieses Artefakt keine Funktion hatte.
Wie ist nun der Inhalt einer Repräsentation zu bestimmen? Was eigentlich wollten
wir vom Froschbeispiel wissen? Wir wollten wissen, was der Inhalt der Wahrnehmung des
Frosches ist, der eine Fliege vorbei schwirren sieht. Karl sagt: „Der Frosch sieht die
Fliege.“ Der Gebrauch des Wortes „sehen“ ist Alltagsgebrauch. Warum sagt Karl, dass der
Frosch etwas sieht? Zunächst: Weil die Fliege bei Tageslicht vor den Augen des Frosches
vorbeischwirrt. Das Wort „sehen“ wird in Karls Aussage in einem transitiven Sinn
verwendet: etwas sehen. Doch diese Verwendung impliziert den intransitiven Gebrauch
von Sehen: überhaupt sehen. Denn Karls Aussage unterstellt, dass die Augen des Frosches
intakt und aktiv sind. (Er ist nicht blind, sie sind nicht verschlossen, nicht zugeklebt usw.).
Dies ist der Normalfall für Augen, und zwar nicht weil Froschaugen statistisch häufiger
sehkräftig sind als sie es nicht sind, sondern weil Augen zum Sehen da sind. Wozu hätte der
Frosch sonst Augen? Das Sehen (intransitiv) ist die Funktion von Augen, es ist die Norm,
von der blinde Frösche abweichen.794
Wir wollten wissen, was der Frosch sieht und Karls unaufregende und
unreflektierte Behauptung war: „Der Frosch sieht die Fliege“. Doch Sehen im transitiven
Sinne reicht noch nicht aus für das, was wir über den Frosch wissen wollen. Wir wollen
wissen, als was der Frosch sieht, was er sieht. Wir brauchen einen besonderen transitiven
Sinne von „sehen“, nämlich den intentionalen Sinn: etwas als etwas sehen. Wir wollten
genauer gesagt wissen, wie (falls es möglich ist) wir den intentionalen Inhalt (etwas als etwas
sehen) jener Struktur (R-Vehikel) bestimmen könnten, die ein Subsystem des VS des
Frosches (nämlich CED) ausbildet, wenn es beispielsweise auf eine vorbei schwirrende
Fliege reagiert. Karls zweifellos zutreffende Behauptung, der Frosch sehe die Fliege, könnte
man verstehen als „Der Frosch sieht die Fliege als Fliege“. Doch dann erscheint sie nicht
mehr fraglos zutreffend, denn mit „Fliege“ gibt Karl kaum eine treffende Antwort. Es
könnte sich ja auch um Mücken oder Käfer handeln. Doch diese Unterschiede dürften für
den Frosch egal sein.
Betrachten wir eine nun keine alltägliche, sondern eine theoretische Antwort auf
das Problem. Rowlands zufolge sieht (intentional) der Frosch mindestens drei Dinge:
794 Die dreifache Unterscheidung zwischen intransitivem Sehen, transitivem Sehen und transitivintentionalem Sehen, die grob der Unterscheidung zwischen dem funktionierenden Vermögen zu sehen, dem
Sehen mit R-Inhalt und dem Sehen mit IR-Inhalt entspricht, werde ich in 5.3.1.2. wieder aufnehmen und
erläutern.
373
„catchable, there!“, „stomachable, there!“, „disgestible, there!“795 Das ist verwirrend. Karl
wollte wissen, was der Frosch sieht, und dachte dabei an die Möglichkeit, dass der Inhalt
dessen, was der Frosch sieht, bestimmbar sein könnte. Kein Problem, sagt Rowlands, der
Frosch sieht alle diese Dinge ganz bestimmt, nur eben einmal mithilfe des Fangsystems, ein
andermal mittels des Schlucksystems und dann mit dem Verdauungssystem. Das ist sicher
verwirrend.
Betrachten wir die Sache nun mithilfe des bislang aufgebauten biosemantischen
Ansatzes. CED reagiert auf die Fliege mit der Ausbildung eines bestimmten visuellen
Musters, das mit der Gestalt und mit der Bewegung der Fliege hier und jetzt isomorph ist.
Dieses Muster ist ein R-Vehikel, denn das VS des Frosches (genauer: CED) hat die
Funktion, auf visuelle Reize mit derartigen Musterbildungen zu reagieren. Natürlich reagiert
CED auf allerlei Reize, indem es solche Muster bildet. Doch CED ist nicht dysfunktional,
sofern es etwa auf KDBO-Reize reagiert. Dabei kann es sich auch um vorbei fliegende
Bleikügelchen handeln. CED erfüllt seine Echte Funktion als Produzent und produziert
entsprechende Vehikel. Nun wollten wir wissen: Was ist der IR- Inhalt dieser Vehikel? Der
IR-Inhalt wird durch den Konsumenten – genauer: durch jene Isomorphie-Relation, die
der Konsument braucht, um seine Echte Funktion zu erfüllen – festgelegt; und die Echte
Funktion eines Konsumenten muss einen für den Organismus nützlichen Effekt haben.
Man sollte sich also fragen: Womit muss das Muster des Froschauges isomorph sein, damit
es dem Frosch etwas nützt? Gehen wir einige Antworten durch. Ich setze dabei voraus,
dass Bleikügelchen dem Frosch keinerlei Nutzen bringen, was sicher plausibel ist. (i)
KDBO? Darunter fällt auch ein Bleikügelchen. (ii) Mit etwas Fangbarem? Fangbar sind
auch Bleikügelchen, doch die nützen dem Frosch nichts. Ebenso wenig nützt die Fliege
dem Frosch, insofern sie nur fangbar ist. (iii) Mit etwas Schluckbarem? Schluckbar sind
auch Bleikügelchen, doch die nützen dem Frosch nichts. Genauso wenig nützt die Fliege
allein als schluckbare dem Frosch. (iv) Mit etwas Verdaubarem? Die Bleikügelchen sind
nicht verdaubar, sie nützen dem Frosch auch hier nichts. Die Fliege hingegen ist verdaubar.
Ebenso sind es Mücken und Käfer, doch nicht in ihrer Eigenschaft als Fliegen, sondern in
ihrer Eigenschaft als Froschfutter. Die Tatsache, dass es sich um eine Fliege handelt, und
nicht um eine Mücke, ist irrelevant für die Verdaubarkeit. Doch auch das Verdaubare nützt
dem Frosch nur, insofern es ihn als Frosch (als Teil einer Lebensform) nährt. Verdaubare
Papierkügelchen etwa nähren ihn nicht. Deshalb lautet Millikans Antwort: „Froschfutter“.
Das weist in die richtige Richtung. Doch macht Millikan zu wenig deutlich, was ihre
Antwort motiviert.
795
Rowlands 1997.
374
Nehmen wir nun an, der böse Psychosemantiker würde den Frosch statt mit
Bleikügelchen mit künstlichen Nährstoffkügelchen beschießen. Sieht der Frosch nun
dasselbe wie im Fall der Fliege, nämlich Froschfutter? Auf den ersten Blick macht es den
Anschein, denn auch Nährstoffkügelchen können dem Frosch als Futter dienen. Es macht
für den Frosch anscheinend keinen Unterschied, ob er nach Nährstoffkügelchen oder nach
Insekten schnappt. Beides ist Froschfutter. Nun könnten wir uns daran erinnern, dass
Normale Erklärungen für Direkte Echte Funktionen nicht nur die kausalen Rollen des
involvierten Systems explizieren müssen, sondern auch jene Bedingungen zu
berücksichtigen haben, unter denen ein Mechanismus seine Echte Funktion erworben hat
und reproduziert worden ist. Solche Normalen Erklärungen nennen somit historische
Normale Bedingungen (mit denen die durch CED hervorgebrachten R-Vehikel
korrespondieren), die vorliegen mussten, damit das Lebewesen davon profitieren konnte.
Wir müssten also auf die Vorgeschichte einer Lebensform zurückblicken und auf jene
Bedingungen achten, unter denen Konsumenten einen Nutzen hatten und einen Beitrag
zur Erhaltung und zum Überleben der Lebensform leisteten. Die Normale Bedingung, die
es braucht, um dem Frosch zu nützen, ist der IR-Inhalt des R-Vehikels. Deshalb sieht
(transitiv-intentional) der Frosch Froschfutter, wenn er eine Fliege sieht (transitiv). Doch
anders als Bleikügelchen fallen nicht nur Fliegen, sondern auch synthetische
Nährstoffkügelchen unter diesen Inhalt. Der Frosch macht hier ebenso wenig eine
Unterscheidung wie zwischen Fliegen und Mücken. Warum sollte er? Wir können also
nicht sagen, dass es in der historischen Umwelt des Frosches keine synthetischen
Nährkügelchen gegeben habe. Diese Differenz ist irrelevant für die Aufgabe des
Konsumenten der existierenden Frösche. Die historischen Normalen Bedingungen nennen
jene Bedingungen, unter der eine Mechanismus erfolgreich für eine Lebensform tätig war,
sie legen aber nicht alle Bedingungen erfolgreicher Aktivität fest.
Das Verdauungssystem wird gegenüber dem Schnapp- und Schlucksystem als
Konsument ausgewiesen, weil die Einverleibung beliebiger Gegenstände dem Frosch so
lange keinen Nutzen bringt, bis sie ihn nähren (bis das Verdauungssystem seine Funktion
erfüllt und das Einverliebte in Nährstoffe umwandelt). Doch warum sollten wir an dieser
Stelle nicht weitergehen? So meint etwa Papineau:
„The biological point of catching flies is to get them into the stomach. No
reproductive advantage accrues if a fly is caught, but it isn’t ingested. Again, the
biological point of ingesting something into the stomach is to get nutrients into the
bloodstream. No reproductive advantage accrues if a fly is ingested but it yields no
nutrients into the bloodstream. And so on. In the end, the ultimate point of all
375
functional traits is to produce viable offspring. No reproductive advantage ensues
from any intermediate effects if they don’t eventuate in offspring.“796
Natürlich begeht Papineau hier einen Fehler, wenn er sagt „No reproductive advantage
accrues if a fly is ingested but it yields no nutrients into the bloodstream“, denn so ist die
Fliege entweder kein Froschfutter oder kann nicht als solches verwendet werden. Die
Funktion des Verdauungssystems (sein selektierter Effekt) ist es, Nährstoffe in den
Blutkreislauf zu bringen. Wenn die Fliege keine Nährstoffe enthält, kann es diese Funktion
nicht erfüllen, denn es fehlt ein entscheidender Teil der Normalen Erklärung, nämlich die
Normale Bedingung, die vorliegen, muss, damit der Konsument seine Funktion ausüben
kann. Wenn die Fliege Nährstoffe enthält, das Verdauungssystem diese aber weder zerlegt
noch abgibt, dann kann es seine Funktion ebenfalls nicht erfüllen, diesmal aber nicht, weil
die Normale Bedingung für seine Funktionsausübung nicht vorliegt, sondern weil es seine
Funktion nicht ausüben kann, es ist dysfunktional (krank) oder afunktional (defekt).
Dennoch verweist Papineaus Bemerkung auf einen wichtigen Punkt. Hier droht
sozusagen Unbestimmtheit nach hinten. Papineau droht in seinem Einwand die Funktion
aller Konsumenten auf Fitness zu reduzieren. Dabei vergisst er jedoch, dass es in der
Bestimmung der Echten Funktion eines Konsumenten nicht direkt um die Fitness geht,
sondern um den spezifischen Beitrag zur Fitness. Bedenken wir, dass der Konsument das RVehikel benutzen muss, um seine Aufgabe zu erfüllen. Das R-Vehikel ist das
Reizungsmuster in CED, das durch die vorbei schwirrende Fliege ausgelöst worden ist. Der
Konsument muss dem Frosch nützen, indem es dieses R-Vehikel verwendet. Die
Bedingungen, die Vorliegen müssen, sind mit dem Vehikel korrelierende Bedingungen.
Doch die Sexualorgane des Frosches brauchen zur Ausübung ihrer Funktion keine Vehikel,
die mir dem Vorbeischwirren von Froschfutter korrespondieren. Ebenso wenig der
Blutkreislauf und ebenso wenig der Froschlaich.
Betrachten wir jedoch die Sache auf diese Weise, dann scheidet nun auch das
Verdauungssystem als Konsument aus. Ebenso das Schlucken. Der Frosch reagiert ja nicht
mit Verdauen und Schlucken auf das R-Vehikel, sondern mit dem Herausschleudern seiner
Zunge. Es ist dieser Mechanismus, der für die Ausübung seiner Funktion das R-Vehikel
braucht. Die Schleuderzunge nützt dem Frosch, weil er damit Futter fangen kann. Es
reichte in der Umwelt des Froschvorfahren aus, nach KDBO zu schnappen, denn auf
diesem Weg wurde häufig genug Froschfutter gefangen. Sowohl „Froschfutter“ (das, was
der Frosch braucht) als auch KDBO (womit das R-Vehikel korrespondiert) scheinen gute,
für sich genommen jedoch ungenügende Antworten auf die Frage nach dem IR-Inhalt des
796
Papineau 2003b: 109.
376
R-Vehikels zu sein. Man sollte die Antworten deshalb wie folgt kombinieren: CED
repräsentiert (der Frosch sieht intentional) kleines, dunkles, bewegliches Froschfutter
(KDBF). Für diese kombinierte Antwort ist der Umstand wichtig, dass das Froschauge an
das Zungenschleudern gekoppelt ist. Das Zungenschleudern dient der Futteraufnahme,
denn über die Zunge gelangt die Jagdbeute in Mund und Magen des Frosches. Das
Froschauge alleine repräsentiert nur dunkle, vorüber fliegende Dinge, im Verbund mit dem
Zungenschleudermechanismus aber KDBF. Froschauge und Schleuderzunge ko-operieren
als Produzent und Konsument. Der Konsument (Zunge) hat die Funktion, dunkle,
vorüberfliegende Objekte dem Verdauungssystem zur Verfügung zu stellen. Deshalb
gehört zum IR-Inhalt das Froschfutter. Der Produzent (Auge) hat die Aufgabe Vehikel
hervorzubringen, deren Struktur mit externen Strukturen über Transformationen hinweg
korrespondiert. In die Bestimmung des IR-Inhalts gehen also Elemente der Funktion des
Produzenten und Elemente der Funktion des Konsumenten ein. Dies war bereits bei den
Kimus der Fall. Der IR-Inhalt „snorffreie Richtung!“ vereint kausale Elemente, die den
Produzenten (Rot-Sensor) betreffen, nämlich die Richtung, und akausale Elemente, die die
Echte Funktion des Kimu-Verhaltens betreffen, nämlich die Bewegung weg von Snorfs.
Millikan scheint also die Rolle des Konsumenten aus theoriestrategischen Gründen zu stark
zu betonen, auch wenn sie immer wieder darauf hinweist, dass für die Festlegung des IRInhalts beide Systeme, Produzent und Konsument, kooperieren müssen.
Ein letzter Punkt für das Problem der Inhaltsbestimmung bleibt: Wie steht es mit
dem Hintergrund der Normalen Bedingungen? Sauerstoff, Licht, Schwerkraft gehören zu
diesem Hintergrund, der vorhanden sein musste, damit der Konsument (der
Schleuderzungenmechanismus) seine Aufgabe erfolgreich erfüllen konnte. Es scheint nun,
als würde die Beschreibung des IR-Inhalts diesen Hintergrund mit nennen müssen, als
wäre der Inhalt so etwas wie KDBF-Schwerkraft-Sauerstoff-Licht usw. Doch damit wird
der Inhalt auf unkontrollierbare Weise angereichert. Eine erste Antwort könnte lauten: Der
Hintergrund ist nicht Bestandteil einer Normalen Erklärung für die Erfüllung der Aufgabe
des Konsumenten einer bestimmten Lebensform (biologischen Art). Jeder irdische
biologische Mechanismus funktioniert unter Bedingungen der Schwerkraft, jedes irdische
Landlebewesen agiert unter Sauerstoffbedingungen, und jedes tagaktive Landlebewesen
agiert unter Lichtbedingungen. Warum sollten diese Bedingungen als Bestandteil der
Erklärung von Mechanismen und Systemen einer bestimmten Lebensform herangezogen
werden? Sie würden zur Erklärung der Funktionsweise des Mechanismus’ (in Cummins’
Sinn von „Funktion“) nichts beitragen. In dieser Form ist die Antwort noch
unbefriedigend. Wir sollten den Hintergrund aus dem intentionalen Inhalt unter dem
377
Vorzeichen seiner biologischen Naturalisierung entfernen können. Doch dann ist der
Hinweis auf die Irrelevanz des Hintergrunds für unsere Art, natürliche Dinge zu erklären,
ein ungenügender Hinweis. Es müsste gezeigt werden, dass der Hintergrund biologisch
irrelevant ist. Nun sind Bedingungen für irdische Lebewesen überhaupt in der Tat keine
Bedingungen, die für die Evolution einer bestimmten irdischen Lebensform relevant
wären. Hier ein Beispiel des Evolutionsbiologen George Williams, der uns auffordert einen
fliegenden Fisch zu betrachten,
„that has just left the water to undertake an aerial flight. It is clear that there is a
physiological necessity for it to return to the water very soon; it cannot long
survive in the air. It is, moreover, a matter of common observation that an aerial
glide normally terminates with a return to the sea. Is this the result of a mechanism
for getting the fish back into water? Certainly not; we need not invoke the
principle of adaptation here. The purely physical principle of gravitation adequately
explains why the fish, having gone up, eventually comes down.“797
Die Gravitation ist als Hintergrund für alle irdischen Lebewesen vorhanden, ebenso
Sauerstoff für alle Landlebewesen und ebenso Licht für alle tagaktiven Lebewesen. Doch
der fliegende Fisch ist nicht an das Gesetz der Schwerkraft angepasst. Er vererbt ja seine
Fähigkeit zu fliegen nicht als Vorteil gegenüber einem Artgenossen weiter, der nicht unter
diesem Gesetz steht. Die Rückkehr des Fisches zum Wasser ist keine biologische, sondern
eine physikalische Notwendigkeit. Ebenso wenig sind die Systeme und Mechanismen des
Frosches eine Adaptation für das Leben unter den Bedingungen der Schwerkraft.
Gegenüber welcher Alternative? Das VS des Frosches produziert keine R-Vehikel als
Anpassung an die Schwerkraft oder als Anpassung an Sauerstoff. Dies sind lediglich
physikalische bzw. chemische Bedingungen. Das Licht hingegen ist eine wichtige
Hintergrundbedingung für das VS und ist Teil der Normalen Erklärung für die Fähigkeit zu
sehen im intransitiven Sinn. Ohne Licht keine Evolution von VS. Für das transitive Sehen
ist Licht ebenso eine physikalische Notwendigkeit wie die Gravitation im Falle des
fliegenden Fisches. Uns ging es um das transitiv-intentionale Sehen einer bestimmten
Lebensform. Aus diesem Grund gehören sowohl Bedingungen für alle biologischen, für
alle irdischen oder für alle amphibischen Lebensformen als auch physikalische und
chemische Bedingungen für biologische Tätigkeiten nicht zur Beschreibung des IR-Inhalts.
Bleiben wir also bei KDBF als IR-Inhalt.798
Williams 1996: 11f.
Mein Vorschlag kommt im Resultat mit Agar 1993 überein, dem zufolge der Frosch „small, dark, moving
food“ repräsentiert. Agar begründet seine Antwort aber damit, dass diese Inhaltsbeschreibung alle kausal
relevanten Eigenschaften benenne. In meiner Überlegung spielen aber die involvierten Konsumenten für die
Spezifikation der in einer Normalen Erklärung zu nennenden kausalen Eigenschaften die entscheidende
Rolle.
797
798
378
5.1.3.4. Die Transparenz der Erfahrung
Wir haben bislang gesehen, dass die produzentenorientierte Version der Teleosemantik
gegenüber der konsumentenorientierten Version keine entscheidenden Vorteile bietet,
sondern im Gegenteil nicht zur Auffassung passen will, dass Funktionen selektierte
Wirkungen sind, der Verwechslung von R-Inhalt und IR-Inhalt unterliegt und keine
befriedigende Antwort auf das Problem der Bestimmung des IR-Inhalts hat. Wann immer
die produzentenorientierte Version diese Schwierigkeiten angehen möchte, tendiert sie von
selbst zu einem konsumentenorientierten Version. Ich möchte nun auf ein weiteres
Problem der produzentenorientierten Version zu sprechen kommen, das später sehr
relevant werden wird (5.3.4.3., 5.3.5.), nämlich das Problem der Transparenz.
Dretske und Tye würden davon ausgehen, dass die sensorische Repräsentation der
Kimus, sofern sie diese für die Konstruktion kognitiver Repräsentationen zu nutzen
verstünden, einen bestimmten phänomenalen Charakter hätte: Die Kimus sehen nämlich
rot. Der Rot-Sensor trägt ja Information über rote Objekte (oder ko-variiert mit diesen), er
hat die Funktion erworben, diese Information zu tragen, und er produziert natürliche
systemische Repräsentationen. Oder in Tyes Variante: der Rot-Sensor stellt den Kimus
PANIC-Zustände zur Verfügung.799 Tye und Dretske zufolge ist nun der phänomenale
Charakter einer sinnlichen Wahrnehmung identisch mit dem Vorliegen einer bestimmten Art
natürlicher angeborener Repräsentation bzw. einer PANIC-Repräsentation. Qualia sind für
Tye und Dretske keine intrinsischen Eigenschaften eines Subjekts, sondern externe
intentionale Objekte von Repräsentationen. Im veridischen Falle handelt es sich um
Eigenschaften der repräsentierten Objekte, im halluzinatorischen Falle um uninstantiierte
Eigenschaften. Dretske argumentiert für diese Auffassung („Repräsentationalismus“ oder
„Intentionalismus“) auf folgende Weise: Der phänomenale Charakter unserer bewussten
Erfahrungen besteht in Eigenschaften F, die ein Objekt o zu haben scheint. Bewusste
Erfahrungen sind bisweilen veridisch, d.h. bisweilen besteht der phänomenale Charakter
bewusster Erfahrungen in F, die o tatsächlich hat. Unsere bewusste Erfahrung repräsentiert
799 Erfahrungen mit phänomenalem Charakter werden als PANIC-Zustände aufgefasst. Das Akronym steht
für: verfügbarer (poised), abstrakter (abstract), nicht-begrifflicher (nonconceptual) intentionaler (intentional) Inhalt
(content). Die visuelle Repräsentation einer Farbfläche handelt von der Farbe einer Fläche. Dies ist ihr
intentionaler Inhalt. „Abstrakt“ bezieht sich auf Folgendes: Zwei Einzeldinge, die völlig gleich aussehen,
können aufgrund visueller Diskrimination alleine nicht unterschieden werden, sie sehen ja genau gleich aus.
Also ist der Inhalt der visuellen Repräsentation auf einen abstrakten Inhalt bezogen, nämlich das Aussehen,
und nicht auf ein konkretes Einzelding. Um die Farbfläche wahrzunehmen, braucht ein Organismus keine
Begriffe für diese Farbe. Der Inhalt ist also nicht-begrifflich. Mithilfe der visuellen Repräsentation von Farben
können Organismen etwas über Farben lernen (Bienen können lernen, dass sich dort Futter findet, Menschen
können Farbwörter lernen) Der intentionale, nicht-begriffliche Inhalt ist verfügbar für weitere kognitive
Prozesse. Bewusste werden von unbewussten Zuständen also durch die Verfügbarkeit bestimmter Zustände
unterscheiden.
379
o als F habend. Also sind die Qualitäten der bewussten Erfahrungen (ihr phänomenaler
Charakter) nichts Anderes als repräsentierte Eigenschaften externer Objekte (im
veridischen Fall).800
Die entscheidende Motivation für diese Argumentation verdankt sich nun der
sogenannten Transparenz von Wahrnehmungserfahrungen. Wenn wir uns auf die
qualitativen Eigenschaften eines Wahrnehmungsobjekts konzentrieren und diese
beschreiben, uns anschließend auf die Eigenschaften unserer Wahrnehmung dieses Objekts
konzentrieren und nun diese beschrieben, so werden sich diese beiden Beschreibungen nicht
unterscheiden. Unsere Wahrnehmungen sind, wie es scheint, auf die von ihnen
repräsentierten Eigenschaften hin durchsichtig oder transparent. Im negativen Sinne meint
Transparenz also, dass der phänomenale Charakter einer Erfahrung keine Eigenschaft der
Erfahrung selbst ist, auf die wir irgendwie unsere Aufmerksamkeit richten könnten. Im
positiven Sinne meint Transparenz, dass wir in einer Erfahrung auf Eigenschaften von
Objekten gerichtet sind, nicht auf Eigenschaften der Erfahrung. Tye zufolge ist die
Transparenz von Erfahrungen die entscheidende Motivation für seine Theorie, denn sie
liefert die beste Erklärung für das schlagende Phänomen der Transparenz.801 Die
Transparenz der Erfahrung ist auch die entscheidende Prämisse in Dretskes Argument:
Der phänomenale Charakter unserer bewussten Erfahrungen besteht in Eigenschaften F,
die ein Objekt o zu haben scheint.
Es gibt nun verschiedene Arten der Transparenz. Da gibt es die cartesianische
These, dass der Geist sich selbst epistemologisch vollkommen durchsichtig sei. Der Geist
„Since the qualities objects are represented as having are qualities they sometimes - in fact (given a
modicum of realism) qualities they usually - possess, the features that define what it is like to have an
experience are properties that the objects we experience (not our experience of them) have.” (Dretske 1995:
83f.)
801 „The best theory, I suggest, is that visual phenomenal character is representational content of a certain sort
– content into which certain external qualities enter.“ (Tye 2000: 48; vgl. Dretske 1995: xiii). Die Idee geht auf
eine oft zitierte Passage in G.E. Moore’s „The Refuation of Idealism“ (1903) zurück, worin epistemologische
und metaphysische Transparenz zusammen auftreten: „The true analysis of a sensation or idea is as follows.
The element that is common to them all, and which I have called ‚consciousness’, really is consciousness. […]
When we know that the sensation of blue exists, the fact we know is that there exists an awareness of blue.
[…] It is to be aware of an awareness of blue; awareness being used, in both cases, in exactly the same sense.
[…] the moment we try to fix our attention upon consciousness and to see what, distinctly, it is, it seems to
vanish: it seems as if we had before us a mere emptiness. When we try to introspect the sensation of blue, all
we can see is the blue: the other element is as if it were diaphanous [meine Hervorhebung]. Yet it can be
distinguished if we look enough, and if we know that there is something to look for.“ (Moore 1993: 40)
Gilbert Harman hat sie wieder aufgenommen: „When Eloise sees a tree before her, the colors she experiences
are all experienced as features of the tree and its surroundings. None of them are experienced as intrinsic
features of her experience. Nor does she experience any features of anything as intrinsic features of her
experiences. And that is true of you too. There is nothing special about Eloise’s visual experience. When you
see a tree, you do not experience any features as intrinsic features of your experience. Look at a tree and try to
turn your attention to intrinsic features of your visual experience. I predict you will find that the only features
there to turn your attention to will be features of the presented tree…“ (Harman 1997: 667)
800
380
hat vor sich keine Geheimnisse, er hat nichts zu verbergen.802 Von dieser
epistemologischen Transparenz, um die es Dretske und Tye nicht geht, kann man
Transparenz in einem metaphysischen Sinne unterscheiden. Die von ihnen gemeinte
Transparenz sagt etwas darüber aus, was Erfahrungen sind. Bewusste Erfahrungen mit
phänomenalem Charakter sind durchsichtig, ähnlich wie (saubere) Fenster oder
Brillengläser durchsichtig sind: In einer bewussten visuellen Erfahrung eines Ausschnitts
der Welt nehmen wir keine Eigenschaften der Erfahrung (des Bewusstseins) wahr, sondern
Objekte, Eigenschaften usw. des gesehenen Ausschnitts der Welt.803
Die Frage lautet nun: Nehmen wir notwendigerweise oder normalerweise keine
Eigenschaften der Erfahrung wahr? Die These der Transparenz der Erfahrung kann also
stark („notwendigerweise“) oder schwach („normalerweise“) verstanden werden. Stark
gelesen besagt sie, dass wir einer phänomenal bewussten Erfahrung selbst unmöglich
gewahr werden können, es sei denn dadurch, dass wir uns der Objekte gewahr werden, die
durch diese Erfahrungen repräsentiert werden. Es gehört dann zur Natur phänomenal
bewusster Erfahrungen, dass sie transparent sind. Schwach gelesen besagt diese
Transparenzthese, dass es sehr schwierig (und ungewöhnlich) ist, unserer Erfahrungen
gewahr zu werden. Je nachdem, ob man die starke oder schwache Lesart anwendet, klingt
die Motivation für den Repräsentationalismus nicht mehr so zwingend:
„Try to focus your attention on some intrinsic feature of the experience that
distinguishes it from other experiences, something other than what it is an
experience of. The task seems impossible: one’s awareness seems always to slip
through the experience to blueness and squareness, as instantiated together in an
external object.“804
Je nachdem, ob man „seems“ oder „impossible“ betont, erhält man eine schwache oder
eine starke Lesart angeboten. Intendiert ist die starke Lesart. Es ist unmöglich. Denkbar ist
auch eine schwache Lesart: Es scheint fast unmöglich, man kann es aber lernen.
802 Vgl. Shoemaker 1996: 224: „According to this, the mind is transparent to itself. It is of the essence of
mental entities, of whatever kind, to be conscious, where a mental entity’s being conscious involves its
revealing its existence and nature to its possessor in an immeditate way, [exhibting] a super-certain kind of
knowledge which is suited for being the epistemological foundation for the rest of what we know.“ Auch von
Farben wird bisweilen behauptet, sie seien epistemologisch vollkommen durchsichtig. Farben sind
geheimnislos, sie verbergen sich nicht. „Revelation: The intrinsic nature of canary yellow is fully revealed by a
standard visual experience as of a canary yellow thing (and the same goes, mutatis mutandis, for the other
colours).” (Johnston 1997: 138; das ist nicht Johnstons Position.) Wer eine Farbe sieht, hat ipso facto das
intrinsische Wesen dieser Farbe erkannt. Weder werden Farben ‚an’ etwas erkannt (wie Rotkehlchen), noch
gibt es etwas ‚hinter’ den Farben zu erkennen (wie im Fall von Masern). Träfe diese Transparenzthese zu,
wären Farben einerseits unabhängig von ihrem Wahrgenommenwerden (weil sie ein intrinsisches Wesen
haben), andererseits wären sie nicht auf physikalische Eigenschaften reduzierbar (weil diese durch bloßes
Hinsehen nicht manifest würde).
803 Dretske und Tye setzen hier bei der Innenperspektive an. Und das bedeutet: bei unserer Erfahrung von der Welt.
Ich werde in 5.2. zu zeigen versuchen, dass der Ansatz bei der Innenperspektive nicht nur irreführend ist,
sondern auch den Ansatz bei der Außenperspektive als philosophische Alternative übersieht!
804 Tye 1995: 30.
381
Es ist nun weder unmöglich noch besonders schwierig, sich der Eigenschaften der
eigenen Erfahrung gewahr zu werden. Wenn ich meine Brille absetze und einen klaren
Sternenhimmel betrachte, sehe ich statt einzelner Sterne kugelförmig angeordnete
Ansammlungen zerstreuter Lichtpunkte mit unscharfer Kontur, deren Anzahl ich mithilfe
meiner Augenmuskeln variieren kann. Wohlgemerkt hat nicht der ganze Sternhimmel diese
visuelle Gestalt, sondern jeder Stern. Es ist mir dennoch bislang nicht eingefallen, diese
visuelle Gestalt als eine Eigenschaft der Sterne zu betrachten. Vielmehr handelt es sich um
Eigenschaften eines defekten Teils meines visuellen Systems (der Hornhaut). Ein geübter
Maler wie Claude Monet kann durchaus gelernt haben, sich auf die Art und Weise zu
konzentrieren, wie ihm Kathedralen oder Seerosen erscheinen, und nicht auf die
Kathedralen und Seerosen selbst. Auch in diesem Fall richtet der Maler seine
Aufmerksamkeit auf Eigenschaften seiner Wahrnehmung und nicht nur auf Eigenschaften
des wahrgenommenen Objekts.
Man kann weitergehen. Warum sollte sich die Transparenz der Erfahrung allein auf
bestimmte sinnliche Qualitäten richten? Transparent ist die alltägliche Wahrnehmung
normalerweise nicht nur bezüglich des Bewusstseins, sondern auch bezüglich der im
Bewusstsein erfahrenen sinnlichen Eigenschaften. Diese Transparenzthese, die sozusagen
auch Eigenschaften von Objekten durchsichtig macht, findet sich etwa bei Heidegger:805
„Niemals vernehmen wir […] im Erscheinen der Dinge zunächst und eigentlich
einen Andrang von Empfindungen, z.B. Töne und Geräusche, sondern wir hören
den Wind im Schornstein pfeifen, wir hören das dreimotorige Flugzeug, wir hören
den Mercedes […]. Viel näher als alle Empfindungen sind uns die Dinge selbst.
Wir hören im Haus die Tür schlagen und hören niemals akustische Empfindungen
oder auch nur bloße Geräusche. Um ein reines Geräusch zu hören, müssen wir
von den Dingen weghören, unser Ohr davon abziehen, d.h. abstrakt hören.“806
Heideggers These handelt nicht nur über Sinnesreizungen (Empfindungen i.e.S.). Sie besagt
nicht nur, dass wir (beispielsweise) durch die unterschiedlichen Gestalten der Bilder auf
unserer Retina hindurch die Gestalt eines Objekts oder durch die unterschiedlichen
Lichtintensität auf den Fotorezeptoren unserer Zapfen die Farbe eines Objekts sehen.
Auch diese Konstanzphänomene sind Transparenzphänomene.807 Seine These besagt, dass
auch Eigenschaften der Objekte durchsichtig sind. Wir sehen im Normalfall (im
alltäglichen Umgang mit Zuhandenem) nicht das Rot eines Buchs, sondern ein rotes Buch.
Zunächst
scheint
Heidegger
mit
„Niemals
[…]
niemals…“
auf
eine
starke
Transparenzthese zuzusteuern, schwächt jedoch ab („Um ein reines Geräusch zu
Ich werde diese These mithilfe von Reid in Abschnitt 5.3. verteidigen.
Heidegger 1977: 10f.
807 Vgl. Dretske 1981: 163f.
805
806
382
hören…“). Zwei weitere Zweideutigkeiten zeigen sich in dieser Passage. (i) Aussagen wie
„S hört den Wind im Schornstein pfeifen“ „S hört das dreimotorige Flugzeug“, „S hört den
Mercedes“ können non-epistemisch oder epistemisch verstanden werden. Man kann einem
Hund, Kind oder Erwachsenen die Wahrnehmung eines Mercedes zuschreiben („S hört
einen Mercedes kommen“), ohne dem Wahrnehmungssubjekt den Begriff eines Mercedes
zuzuschreiben. Subjekte können einen Mercedes auch im nicht-epistemischen Sinne hören.
Hingegen hört der Kenner von Fahrzeugmotoren oder der Erwarter eines Mercedes im
epistemischen Sinne, dass ein (unbestimmter oder bestimmter) Mercedes kommt. Sie
verfügen über den Begriff eines Mercedes. (ii) Die Inhalte von Wahrnehmungen und von
Wahrnehmungsüberzeugungen werden nicht getrennt. Grob gesagt können wir davon
ausgehen, dass der Inhalt einer Wahrnehmung dem Inhalt einer durch sie hervorgebrachten
Wahrnehmungsüberzeugung entspricht. In der zitierten Passage geht Heidegger von
Wahrnehmungsurteilen im epistemischen Sinne aus. Er ist der Ansicht, dass wir durch (für
sich genommen inhaltslose) Empfindungen hindurch den Mercedes hören. Bei
entsprechender Ausbildung, Kenntnis, Erwartung usw. hören wir ihn direkt, wir
erschließen nicht, dass es sich um einen Mercedes handelt, ebenso wie eine Kennerin einen
bestimmten Sänger hört, eine bestimmte Apfelsorte riecht und schmeckt oder einen
bestimmten Malstil sieht und nicht aus ihren Empfindungen oder den Eigenschaften der
Objekte erschließt.
Es sieht also so aus, dass die These der Transparenz der Erfahrungen nichts über
die Natur von Erfahrungen aussagt. Es ist vielleicht normalerweise so, dass wir uns der
Eigenschaften von Objekten und nicht der Eigenschaften unserer Erfahrungen dieser
Objekte bewusst werden. Allein, es ist keineswegs notwendigerweise so. Selbst wenn dem
so wäre, ist damit nicht gesagt, dass unsere Sinneserfahrungen nur auf genuin sinnliche
Eigenschaften hin transparent sind, wie etwa Farben, und nicht auf Autotypen, Apfelsorten
oder Malstile. Die These der Transparenz der Erfahrung ist als Prämisse in Dretskes
Argument nicht haltbar. Und dies heißt, dass die entscheidende Motivation für den
externalistischen Repräsentationalismus im Hinblick auf Qualia verfehlt ist.808
Indem wir auf das geachtet hatten, was Dretske angeborene natürliche Repräsentation
nennt (worunter in erster Linie Sinneswahrnehmungen fallen), konnten wir feststellen, dass
die produzentenorientierte Teleosemantik sowohl hinsichtlich ihrer naturalistischen
Verankerung (5.1.4.1.) als auch hinsichtlich ihrer Antwort auf das Problem der
808 Der Qualia-Externalismus ist in letzter Zeit verschiedentlich attackiert worden, wobei nicht nur die
Transparenzthese im Zentrum dieser Angriffe steht. Vgl. etwa die Beiträge in Wright 2008.
383
Unterbestimmtheit des IR-Inhalts (5.1.4.3.) hinter der Biosemantik zurück bleibt. Entfaltet
man jedoch die theoretischen Elemente für die Bestimmung sowohl der Natur als auch der
Natürlichkeit mentaler Repräsentationen, so zeigt sich, dass die produzentenorientierte
Teleosemantik die Konsumentenorientierung implizit in Anspruch nimmt. Das ist bei
Lichte betrachtet wenig überraschend. Repräsentationen oder Zeichen sind nun einmal
dreistellige Entitäten und eine Naturalisierung von Repräsentationen im Rahmen der
Evolution des Lebens – die einzige Form der Naturalisierung, auf die es ankommt – muss
auf die Verwendung von Repräsentationen oder Zeichen Bezug nehmen. Darin zeigt sich
wiederum das pragmatistische Erbe der Biosemantik (1.2.). Schließlich hat sich gezeigt, dass
die Hauptmotivation für den Qualia-Externalismus fragwürdig ist. Dies ist freilich keine
gute Nachricht für Naturalisten, gilt doch der Qualia-Externalismus als eine der
verheißungsvollsten Vorschläge für eine Naturalisierung dieses Aspekts der Subjektivität.
Hier zeigt sich die Wahrheit des Slogans, wonach der phänomenale Charakter des
Bewusstseins das „schwierige Problem“ für den Naturalismus darstellt, und nicht
Intentionalität (1.1.), Normativität (1.1.4., 2.1., 3.1.-3.3.) oder Selbstbewusstsein (4.4.). Ich
möchte an dieser Stelle das Qualia-Problem offen lassen (vgl. aber 5.3.2.3.) und lediglich
anmerken, dass mir sowohl reduktionistische als auch eliminativistische Strategien zur
Lösung dieses Problem nicht überzeugend erscheinen. Qualia sind ein Problem für ein
umfassendes naturalistisches Bild unseres geistigen Lebens. Das Qualia-Problem ist ein
Problem für den Naturalismus.
Trotz aller Kritik an der produzentenorientierten Teleosemantik: Es gibt natürlich
Thesen, die beide Formen der Teleosemantik miteinander verbinden. Neben den zentralen
funktionalen Elementen, für die ich bislang argumentiert habe, gehören dazu die These,
dass sinnliche Wahrnehmungen Repräsentationen sind und dass es nicht-begriffliche IRInhalte gibt. Im Folgenden sollen diese beiden Thesen verteidigt werden.
5.1.4. Zwei Gemeinsamkeiten teleosemantischer Theorien der Wahrnehmung
5.1.4.1. Sehen als Repräsentieren
Wie wir gesehen haben, muss man verschiedene Elemente einer Repräsentation
unterscheiden. Eine zentrale Unterscheidung ist jene zwischen Vehikel und Inhalt.
Teleosemantiker vertreten im Hinblick auf IR-Inhalte einen Vehikelinternalismus und
einen Inhaltsexternalismus. Dretske erläutert diese Unterscheidung mithilfe eines
Vergleichs. Denkt man an ein Märchen, so kann man an zwei Dinge denken, nämlich an
384
die Wörter, die das Märchen erzählen, oder an das, was die Wörter erzählen. Das erste ist
das Märchen-Vehikel, das zweite der Inhalt des Märchens. Märchen sind beispielsweise in
Büchern niedergeschrieben, doch das, was sie erzählen, geschieht nicht in diesen Büchern.
Anders als die in historischen Darstellungen oder in Reportagen erzählten Ereignisse
geschehen und geschahen Märchenereignisse nirgends.809 Dasselbe gilt von mentalen
Repräsentationen. Ebenso wie sich Märchen-Vehikel in einem Buch befinden, so lassen
sich R-Vehikel im Geist bzw. im Körper eines Lebewesens finden. Doch ebenso wenig wie
der Inhalt des Märchens im Buch zu finden ist, müssen sich die IR-Inhalte im Geist oder
im Körper finden lassen. Für den Naturalisten sind R-Vehikel natürlich in den Körpern,
nicht im Geist, von Lebewesen zu finden, die Inhalte hingegen nicht, denn diese werden
durch externe Tatsachen festgelegt. Repräsentationen sind also keine Bildchen im Kopf (im
Geist oder im Hirn), wie ein verbreitetes Vorurteil gegen den Repräsentationalismus es will,
sondern Vehikel, deren IR-Inhalte durch externe Tatsachen festgelegt werden. Aus
demselben Grund sind die Inhalte von Repräsentationen keine essenziell privaten
Entitäten.
Die Unterscheidung von Vehikel und Inhalt stößt weder unseren CommonsenseMeinungen noch unseren Sprachgebrauch vor den Kopf. Wenn ich die Augen oder Ohren
verschließe oder verstopfe, so sehe und höre ich nichts mehr, weil mich weder visuelle
noch akustische Reize affizieren können. Einfälle kommen mir in den Sinn, Gedanken
gehen mit durch den Kopf, Informationen habe ich im Gedächtnis, Summen rechne ich im
Kopf aus, etwas lebt in meiner Vorstellung usw., weil die entsprechenden R-Vehikel in
meinem Sinn, Kopf, Gedächtnis oder in meiner Vorstellung sind, nicht weil die
repräsentierten Inhalte dort sind. Der Vehikelinternalismus legt eine Erklärung für die
Commonsense-Idee eines mit Einschränkungen geltenden privilegierten Zugangs zu den
eigenen mentalen Zuständen nahe. Schließlich suggeriert er eine einfache Antwort auf die
Frage, wie Gedanken, Wünsche und Absichten direkt unser Verhalten beeinflussen
können: Die internen Vehikel sind Ursachen unseres Verhaltens, insofern sie über
bestimmte Inhalte verfügen.
Für den Repräsentationalisten ist auch Wahrnehmen (Sehen, Hören usw.)
Repräsentieren. In einer Repräsentation wird ein Ausschnitt der Welt als so-und-so-seiend
repräsentiert, die Umwelt wird auf eine bestimmte Weise repräsentiert. Der
Repräsentationalist unterstellt mithin, dass Wahrnehmungen die Umwelt auf eine
bestimmte Weise repräsentieren. Anders formuliert: Repräsentationen haben einen Inhalt.
Dieser Inhalt kann bezüglich des repräsentierten Ausschnitts der Welt korrekt oder
809
Vgl. Dretske 1995: 34f.
385
inkorrekt,
wahr
oder
falsch
sein.
Diese
Sichtweise,
dass
Wahrnehmungen
repräsentationalen Inhalt haben, wird sowohl von Nonkonzeptualisten als auch von
Konzeptualisten geteilt. Sie stellt die gemeinsame Basis ihres Disputs dar. Die Frage in
diesem Disput lautet: Wie ist der Inhalt der Wahrnehmung beschaffen? Eine diesem Disput
vorgelagerte
Frage
lautet
jedoch:
Haben
Wahrnehmungen
überhaupt
einen
repräsentationalen Inhalt? Wird etwa im Sehen ein Ausschnitt der Welt als so-und-soseiend, die Umwelt auf eine bestimmte Weise repräsentiert? In diesem Abschnitt möchte
ich die repräsentationalistische Auffassung der Wahrnehmung gegen Angriffe verteidigen.
Die These (R) lautet, dass Wahrnehmungen Repräsentationen sind. Wahrnehmungen
involvieren, dass ein der Wahrnehmung fähiges Lebewesen Repräsentationen bestimmter
Art ausbildet und dass diese Repräsentationen einen IR-Inhalt haben. Ich werde meine
Verteidigung von (R) an Charles Travis’ Attacke auf den Repräsentationalismus
orientieren.810 In der folgenden Auseinandersetzung mit Travis soll es also um die Frage
gehen, aus welchen Gründen man Wahrnehmungen einen IR-Inhalt zuschreiben sollte und
warum man Wahrnehmungsepisoden so verstehen sollte, dass sie R-Vehikel involvieren. Ist
erst einmal gezeigt worden, dass die Wahrnehmung über eine repräsentationale Natur
verfügt, stellt sich die Frage, welcher Art der Inhalt visueller Repräsentationen ist. Ich
werde den Inhalt als nicht-begrifflichen Inhalt bestimmen und in der (leider sehr
verworrenen) Debatte um die Existenz nicht-begrifflichen Inhalts verorten. Weil mich in
erster Linie die visuelle Wahrnehmung interessiert, werde ich mich hauptsächlich auf das
Sehen, auf die visuelle Wahrnehmung, und auf visuelle Systeme (VS) konzentrieren: (R):
Sehen ist Repräsentieren.
Auf den ersten Blick scheint es durchaus plausibel zu sagen, dass Wahrnehmungen
einen Inhalt haben, dass sie von etwas handeln und dieses etwas auf eine bestimmte Art
und Weise erfassen. Was will Travis dagegen vorbringen? Travis meint, dass die These des
Repräsentationalismus bezüglich der Sinneswahrnehmung durch die Formulierung „a given
perceptual experience has a given representational content“ zum Ausdruck gebracht
werden kann. Er bemängelt, dass diese These ohne Argument akzeptiert werde. Seine
Vermutung lautet, dies geschehe „faute de mieux“.811 Demgegenüber behauptet Travis,
dass in der Wahrnehmung nichts als so-und-so beschaffen repräsentiert werde.
Insbesondere gebe es nichts an der Wahrnehmung, was veridisch oder illusorisch sei. Die
Travis 2004.
Travis 2004: 57. Travis verweist auf eine ganze Reihe von Autoren, die diese Thesen teilen: Davies,
Peacocke, McDowell, Harman, Searle, Tye, McGinn.
810
811
386
Sinne seien in dieser Hinsicht „dumm“ und „stumm“. Sie sagen uns nichts.812 Von Austin
her entwickelt Travis ein alternatives Modell zum Repräsentationalismus, um das „faute de
mieux“ zu konterkarieren. Unsere Sinne repräsentieren nichts als so-und-so seiend,
vielmehr stellen sie uns unsere Umgebung in Aussicht, indem sie uns mit darin
vorhandenen Dingen konfrontieren und nicht mit darin nicht vorhandenen Dingen.813
Travis umreißt seine Alternative wie folgt:
„I cannot be confronted correctly or incorrectly, veridically or deceptively. I simply
confront what there is. Perception leads me astray only where I judge erranousley,
failing to make out what I confront for what it is. […] It makes us aware, to some
extent, of things (around us) being as they are. It is then up to us to make out, or
try to, which particular way that is. Perception cannot present things as being other
than they are. […] In perception, things are not presented, or represented, to us as
being thus and so. They are just presented to us, full stop. It is in making out, or
trying to, what it is that we confront that we take things, rightly or wrongly, to be
thus and so.“814
Die Spitze besteht darin, dass es in den Sinnen keinen Irrtum geben könne, sondern Irrtum
allein dadurch zustande komme, dass wir die Dinge, die die Sinne uns zeigen, kognitiv als
so und so beschaffen auffassen und beurteilen. Travis diskutiert verschiedene Fälle des
irrtümlichen Beurteilens oder Irreführens (misleading) und führt dabei zwei technische
Ausdrücke ein, die kurz erläutert werden müssen, nämlich „faktive Bedeutung“ (factive
meaning) und „anzeigen“ (indicating). Nehmen wir Travis’ Beispiel: Sid erscheint betrunken
auf der Party, was bedeutet, dass er wieder einmal einen Job verloren hat. Sids Trunkenheit
(A) bedeutet, dass er seinen Job verloren hat (B), wenn gilt: Wenn A, dann B. Das meint
Travis mit faktiver Bedeutung.815 Wenn nun vernünftigerweise erwartet werden kann, dass
A faktiv B bedeutet, dann wird B durch A angezeigt.816 Sids Trunkenheit kann anzeigen,
dass er wieder einmal seinen Job verloren hat, weil das z.B. bislang immer so gewesen ist.
Natürlich kann man sich täuschen. Insofern kann, was wir sehen, irreführend sein. Anders
gesagt: Wir müssen die Dinge, wie sie uns die Sinne präsentieren, erst so und so auffassen
(taking) und nur insofern wir der Auffassung sind, die Dinge, wie sie uns die Sinne
präsentieren, würden etwas anzeigen (indicating), können uns die Sinne irreführen. Ob
unsere Auffassung dessen, was die Sinne anzeigen, irreführt oder nicht, hängt von der
faktiven Bedeutung dessen, was wir sehen ab, von der faktischen Beschaffenheit der Welt
und unserer Kenntnis davon, nicht vom Gehalt des Sehens. Die Sinne selbst führen nicht
Der Titel von Travis’ Aufsatz „The Silence of the Senses“ spielt auf den erfolgreichen Film „The Silence
of the Lambs“ an.
813 Travis 2004: 64.
814 Travis 2004: 65.
815 Travis 2004: 66.
816 Travis 2004: 67.
812
387
irre. Travis legt großen Wert darauf, dass faktive Bedeutung und Anzeigen von
Repräsentieren unterschieden sind.817 Wenn A faktiv B bedeutet, dann repräsentiert die
Wahrnehmung von A nicht B, sondern A ist ein Anlass, B zu erwarten. Was man die Dinge
zu bedeuten erwartet, hängt einerseits davon ab, was sie faktisch bedeuten, d.h. wie die
Welt beschaffen ist, und andererseits von unserer Kenntnis dieser Beschaffenheit.
Ein Repräsentationalist wie Dretske würde zum Beispiel des Betrunkenen
Folgendes sagen: Es handelt sich bei Sid um einen Fall indirekten Sehens, und dies besagt
nichts gegen (R). Der springende Punkt besteht darin zu behaupten, dass für das Irreführen
nicht die Sinne und ihr mutmaßlicher repräsentationaler Gehalt zuständig sind, sondern
unsere Erwartungen darüber, was der Zustand A anzeigt (in der Bedeutung, die Travis
diesem Ausdruck gibt). Indem ich beispielsweise auf die Anzeige einer Personenwaage
blicke, sehe ich indirekt mein Körpergewicht. Die Anzeige zeigt mein Körpergewicht an,
weil der Zustand der Anzeige (A) mein Körpergewicht (B) „faktiv bedeutet“. Ich sehe
sozusagen, wie schwer ich bin. Selbstverständlich würde ich dies nicht sehen, ohne ein
bestimmtes Wissen (Auffassung, Erwartung) über die Personenwaage und ihre Anzeige.
Wie könnte ich in diesem Fall irregeführt werden? Entweder, indem ich eine falsche
Auffassung einer Waage habe (sie zeigt immer mein Idealgewicht von 80 kg an), indem die
Waage nicht richtig funktioniert (die Anzeige geht stets auf 80 kg) oder indem ich auf die
falsche Anzeige blicke (und dort steht jemand, der 80 kg schwer ist). Sofern ich sehe, was
die Anzeige anzeigt (der Zeiger zeigt auf die 80), gibt es im Inhalt der Wahrnehmung
tatsächlich nichts, was irreführend wäre. Doch das beweist noch nichts. Meine
Erwartungen oder die Waage führen mich irre, nicht aber der Inhalt meines Sehens. Somit
ist hinsichtlich der Frage, ob sehen einen Inhalt hat nichts entschieden.
Es darf nicht verwirren, bei dem Ausdruck „anzeigen“ (indicating) an den Gebrauch
von „indicating“ in Dretske Informationstheorie zu denken. Wenn man Dretskes
Informationstheorie im Hintergrund hat, erscheint Travis’ Gegenüberstellung von
Repräsentation auf der einen und „faktiver Bedeutung“ und „Anzeige“ auf der anderen
Seite rätselhaft. Für Dretske trägt A über B Information, wenn gilt: Immer wenn A, dann
B. Das Tragen von Information hängt – in Travis’ Worten – davon ab „on what as a rule cooccurs with what“.818 Der entscheidende Unterschied besteht darin, dass Travis das Anzeigen
durch unsere Sinne vom kognitiven Erfassen einer faktiven Bedeutung abhängig macht, während
ein Repräsentationalist wie Dretske das kognitive Erfassen von etwas vom Vorliegen einer
informationalen Indikation abhängig macht. Travis glaubt gegen Informationstheoretiker, aus
817
818
Travis 2004: 66f.
Travis 2004: 67.
388
der Perspektive der Biosemantik ganz richtig, dass ein Zeichen oder eine Repräsentation
nichts bedeutet, wenn sie nicht für etwas genommen wird. Er meint aber zu Unrecht, dass
ein solches Nehmen oder Erfassen kognitiver und mithin urteilsartiger oder begrifflicher
Natur sein muss. Doch als Konsumenten von Zeichen und Repräsentationen kommen
nicht nur diese Weisen des kognitiven Erfassens in Frage. Im Falle des betrunkenen Sid
jedoch kann die Biosemantikerin Travis zustimmen: Ich interpretiere Sids betrunkenes
Erscheinen auf der Party als Zeichen für etwas (5.3.4.2.).
Wie steht es nun mit der direkten Wahrnehmung von Objekten (Travis spricht von
„unmediated awareness“)? Aufgrund seiner vorhergegangenen Diskussion des Irreführens
glaubt sich Travis in der Position Folgendes behaupten zu können: Das direkte Sehen von
Objekten ist eine Art und Weise über die Welt informiert zu sein, und nicht über die Welt
fehlinformiert zu werden. Das direkte Sehen erschöpfe sich vollständig im Anzeigen und
faktiven Bedeuten, darüber hinaus werden die Dinge nicht noch zusätzlich als so-und-so
repräsentiert. Man kann über die Präsenz eines Schweins informiert werden (Travis’
Beispiel), indem man ein Schwein sieht, nicht indem man es als so-und-so sieht. Wenn man
ein Schwein zu sehen glaubt, obschon keines vorhanden ist, so wird man nicht durch ein
Schwein irregeführt, sondern eben durch etwas ganz Anderes oder durch etwas, was wir für
ein Schwein halten, etwa durch eine mechanisch animierte Schweinehälfte.819 Die Sinne
zeigen einfach, was da ist (ein Schwein, kein Schwein, ein Scheinschwein). Das Irreführen
liege ganz und gar darin, dass man etwas als Anzeige auffasst: „So far, there are no signs of
something in perception to mislead other than by being taken to indicate what is not so.“820
Travis geht von den folgenden zwei Formen des Irrtums in der direkten Wahrnehmung aus:
Ich sehe ein Objekt, doch ist da keins (kein Schwein). Ich sehe etwas als etwas Anderes
(Scheinschwein). Verantwortlich für den Irrtum ist nicht der Inhalt des Sehens, sondern
unsere Auffassung des Gesehenen. Wir fassen das, was uns die Sinne präsentieren, als
Anzeige für etwas auf. Wenn als Anzeige für etwas Nichtexistentes oder Anderes, dann
sind nicht die Sinne irreführend, sondern unser Auffassen.
Es gibt jedoch eine weitere Form des Irrtums, die Travis nicht beachtet, und diese
ist die für den Repräsentationalismus entscheidende: Ich sehe ein Objekt (es ist vorhanden
und nicht etwas Anderes), nehme aber eine Eigenschaft an ihm wahr, die es nicht hat. Es
gibt also drei Fälle des Wahrnehmungsirrtums und im dritten Fall sieht S ein Objekt o als F,
obschon o G ist. Betrachten wie ein Beispiel. Die Farbe gelb erscheint (für uns) als weiß,
wenn sie im Licht einer Natriumdampflampe gesehen wird. Apfelsaft erscheint im Lichte
819
820
Travis 2004: 67f.
Travis 2004: 68.
389
einer Natriumdampflampe als weiß (obwohl gelblich). Ich sehe nicht etwas, das nicht
vorhanden wäre (das Glas Apfelsaft steht vor mir), ich sehe auch nicht etwas Anderes (ich
sehe eine Farbe). Woher stammt der Irrtum in diesem Fall? Laut Travis stammt er nicht aus
den Sinnen, ihnen gemäß ist der Apfelsaft weiß. Er stammt daher, dass etwas „being taken
to indicate what is not so.“ Das weiße Aussehen des Apfelsafts soll nun was anzeigen, um
mich irrezuführen? Dass der Apfelsaft gelb ist? Dann bin ich gerade nicht irregeführt durch
meine Auffassung dessen, was angezeigt wird. Dass der Apfelsaft weiß ist? Dann bin ich in
der Tat irregeführt, und zwar nicht durch meine Auffassung, sondern durch die Art und
Weise, wie mein Sehen einen Ausschnitt meiner Umwelt repräsentiert. Das den Irrtum
hervorbringende Missverhältnis besteht nicht zuerst zwischen meiner Auffassung und der
Beschaffenheit der Welt, sondern zuerst zwischen dem repräsentationalen Inhalt meines
Sehens und der Beschaffenheit der Welt.
Das Durcheinander, das Travis anrichtet, wird deutlicher, wenn wir zwischen dem
Sehen von Objekten, Eigenschaften und Tatsachen unterscheiden. Ich sehe ein Objekt,
nämlich den Apfelsaft. Dieses Objekt erscheint mir auf bestimmte Art und Weise, nämlich
weiß. Der Apfelsaft scheint also weiß zu sein. Hier liegt ein Irrtum im IR-Inhalt der
Wahrnehmung vor, denn die Farbe des Apfelsafts ist gelb. Wenn ich nun aufgrund meiner
Wahrnehmung urteile, dass der Apfelsaft weiß ist, dann stelle ich sehend eine Tatsache fest.
Hier liegt nun ein Irrtum in der Auffassung oder im Urteil vor. Man kann zwar sagen, dass
ich urteile, dass der Apfelsaft weiß ist, doch Grundlage meines Urteils ist die sinnliche
Repräsentation des Apfelsafts als etwas Gelbes, mithin ihr IR-Inhalt. Der Irrtum in der
Auffassung leitet sich vom Irrtum im sinnlichen IR-Inhalt her. Wenn ich jedoch weiß, dass
das Licht von einer Natriumdampflampe auf das Getränk fällt, dann urteile ich nicht, dass
es weiß ist, denn ich weiß, dass diese Art von Licht möglicherweise das Beleuchtete anders
erscheinen lässt. Und wenn ich weiß, dass Natriumdampflampenlicht Objekte, die im
Sonnenlicht gelb erscheinen, weiß erscheinen lässt, so fälle ich das Urteil, dass das Getränk
(der Apfelsaft) gelb ist.
Partielle Sinnestäuschungen (und partielle Irrtümer) kommen im Alltag häufig vor,
zumindest ebenso häufig wie Verwechslungen und gewiss häufiger als Halluzinationen.
Anders als Travis behauptet, ist es nicht so, dass Repräsentationalisten ohne Argumente (R)
behaupten. Denn für (R) spricht ein bekanntes und altes Argument, das für die meisten
Repräsentationalisten auf der Hand liegt, selten explizit gemacht wird, und als
„Meisterargument für die Inhaltsunterstellung“ betrachtet werden darf. Es lässt sich
anhand der bekannten Müller-Lyer-Täuschung artikulieren. Zwei Linien A und B sehen
ungleich lang aus. Sie sind aber nicht ungleich lang. Bekanntlich beeinflusst unser Wissen
390
davon, dass die Linien eigentlich gleich lang sind, nicht, wie die Linien für uns aussehen.
Unsere Neigung zur Auffassung, dass die Linien ungleich lang sind, ist für das
Zustandekommen der Sinnestäuschung weder notwendig noch hinreichend. Auch ohne
eine solche Neigung würde diese Sinnestäuschung (oder andere) entstehen. Man kann die
Neigung zur Auffassung, dass die Linien ungleich lang sind auch als Hinweis darauf
nehmen, dass sie gleich lang sind. Hier scheint ein klarer Fall dafür vorzuliegen, dass ein
Irrtum in den Sinnen liegt. Die beste Erklärung dafür ist (R): Der Inhalt unseres Sehens der
Müller-Lyer ist, dass die Linien ungleich lang sind. Wir sehen die Linien als ungleich lang
und das ist falsch, denn die Linien sind nicht ungleich lang.821
Wie erklärt Travis die Müller-Lyer? Die Linien sehen ungleich lang aus, sie scheinen
nicht nur so auszusehen. Es kann natürlich durchaus sein, dass zwei Linien deshalb
ungleich lang aussehen, weil sie ungleich lang sind. Daher nehmen wir das Aussehen
(ungleiche Länge) in beiden Fällen als Anzeige für eine tatsächlich vorhandene
Ungleichheit der Linien. Wir erwarten vernünftigerweise, dass das Aussehen der Linien (sie
sehen ungleich lange aus) faktiv bedeutet, dass die Linien ungleich lang sind. Unsere
Auffassung, dass dies im Falle der Müller-Lyer zutrifft, führt uns in die Irre, nicht das
Aussehen der Linie:
„What one gets wrong is the arrangement of the world: how the misleading seen
thing in fact relates to other things. That mistake neither requires, nor suggests,
that in this illusion one line is represented to us as being longer than the other.“822
Wenn ich Travis richtig verstehe, dann ist die Müller-Lyer-Täuschung analog zu
komparativen Fällen: Etwas sieht aus wie ein Apfel, also schmeckt es wie ein Apfel. Etwas
Anderes sieht aus wie ein Apfel und schmeckt nicht wie ein Apfel – weil es kein Apfel,
sondern eine Wachsskulptur ist. Etwas, das aussieht wie ein Apfel, löst in uns die
berechtigte Erwartung aus, dass es wie ein Apfel schmeckt. Zwei Linien, die ungleich lange
aussehen, lösen in uns die berechtigte Erwartung aus, dass sie ungleich lang sind. Sie sehen
nämlich aus wie ungleich lange Linien. Travis gibt eine Beschreibung dafür, was wir bei
ungleich aussehender Länge der beiden Linie vorzufinden erwarten. Wir sind in unserer
Erwartung irregeführt. Der Irreführung entspringt aus der Diskrepanz zwischen unserer
Erwartung und dem Aussehen der Linien.
Bisweilen werden Sinnestäuschungen wie die Müller-Lyer zugunsten des Nonkonzeptualismus angeführt.
Das ist hier nicht der Fall. Auch ein Konzeptualist wie McDowell führt die Müller-Lyer an, um (an dieser
Stelle nur implizit, nicht ausdrücklich wie Travis suggeriert) zu behaupten, dass Wahrnehmungen Inhalte
haben: „In the Müller-Lyer illusion, one’s experience represents the two lines as being unequally long.“
(McDowell 1996, 11n9). Vgl. dazu die Auseinandersetzung zwischen McDowell 2001 und Schantz 2001.
822 Travis 2004: 68.
821
391
Soweit so gut. Es geht aber um die Frage, ob das Sehen etwas falsch repräsentiert.
Die Falschheit entspringt einer Diskrepanz zwischen der tatsächlichen Länge der Linien
und dem Aussehen der Linien. Der Fall des Apfels ist nicht analog. Der Wachs-Apfel sieht
aus wie ein Apfel. Unsere Erwartung führt uns irre, wenn wir in den Apfel beißen. Die
gleichlangen Linien sehen demgegenüber nicht aus wie gleichlange, sondern wie ungleich
lange Linien. Nicht unsere Erwartung führt uns irre, sondern das Sehen repräsentiert zwei
gleichlange Linien als von ungleicher Länge. Wenn Travis schreibt, wir würden irregeführt
durch „how the misleading seen thing in fact relates to other things“, dann meint er, der
hier relevante Irrtum (eine Sinnestäuschung) bestehe darin, dass wir das ungleich lange
Aussehen der Linien (the misleading seen thing) komparativ als einen Fall von faktiver
Bedeutung (other things) auffassen (wenn zwei Linien ungleich lange aussehen, so sind sie
ungleich lang). Das ist falsch. Der Irrtum (die Sinnestäuschung) besteht nicht darin, dass
wir das ungleich lange Aussehen komparativ subsumieren, sondern darin, dass die Linien
ungleich lang aussehen. Würde die Sinnestäuschung nämlich in dieser komparativen
Subsumtion bestehen, dann würde sie verschwinden, sobald wir vernünftigerweise
erwarten können, dass das ungleich lange Aussehen von Linien mit Winkeln an den
jeweiligen Enden anzeige, dass die Linien gleich (nicht ungleich) lange sind. Doch der
Umstand, dass etwas aussieht wie ein Arrangement für eine Müller-Lyer-Täuschung, bringt
die Sinnestäuschung nicht zum verschwinden. Der entscheidende Streich wird also
wiederum wie folgt geführt: Travis lokalisiert den Irrtum falsch. Der Irrtum liegt nicht in
einer Diskrepanz zwischen Aussehen und Erwartung und auch nicht in einer komparativen
Subsumtion. Er liegt vielmehr in der Diskrepanz zwischen der tatsächlichen Länge der
Linien und ihrem Aussehen. Die Idee der komparativen Subsumtion ist schlicht falsch.
Betrachten wir eine weitere anti-repräsentationalistische Erklärung der Müller-Lyer.
Sie stammt von Merleau-Ponty.823 Der Hauptpunkt lautet auch hier, dass im Sehen keine
Täuschung vorliege. Merleau-Ponty geht zunächst von einer aus seiner Sicht
verfälschenden
Wahrnehmungstheorie
aus.
Ausgangspunkt
ist
die
Theorie,
Wahrnehmungen seien Empfindungen. Was sind Empfindungen? Merleau-Ponty weist den
Gedanken zurück, Empfindungen seien Eindrücke, d.h. kleinste Elemente der
Wahrnehmung, in sich undifferenziert und kontextfrei. So etwas treffen wir in der
Wahrnehmung jedoch nicht nur niemals an, es ist auch nicht einmal vorstellbar. Eine
zweite Theorie, nach der Wahrnehmungen Qualitäten sind, sei verfälschend, weil sie
behauptet, Qualitäten seien Empfindungen, also ein „élément de la conscience“, nicht das
Empfundene, also „une propriété de l’objet“, aber die Merkmale des Empfundenen den
823
Merleau-Ponty 1945: 21ff.
392
Empfindungen zuschreibe.824 In dieser Theorie werden die Eigenschaften des
Empfundenen auf die Empfindung übertragen und dadurch werde nicht sie, sondern ihr
Gegenstand charakterisiert. Millikan bezeichnet dies als „Internalisierung des Inhalts“
(content
internalizing).
Dabei
werden
Eigenschaften
des
repräsentierten
Wahrnehmungsobjekts auf das Wahrnehmungsvehikel projiziert. Häufig wird am
Repräsentationalismus kritisiert, er nehme Zwischenglieder zwischen Geist und Welt an
und mache dadurch die Relation zwischen Welt und Geist zu einem Rätsel. Das ist ein
Vorurteil. Was immer die Relation zwischen Geist und Welt sein soll, der
Repräsentationalismus erklärt bestimmte Relationen zwischen Geist und Welt, und die
Biosemantik geht davon aus, dass bestimmte Relationen zwischen Geist und Welt für das
Haben von repräsentationalen Fähigkeiten und mithin von Repräsentationen notwendig
sind. Der Repräsentationalismus wird freilich dann zum Problem, wenn Eigenschaften des
Repräsentierten auf das R-Vehikel (das Zwischenglied) projiziert werden (Internalisierung)
oder umgekehrt (Externalisierung).825
Ein zweites Problem mit der Theorie von Wahrnehmungen als Qualitäten besteht
Merleau-Ponty zufolge in der Suggestion, die Bedeutung einer Wahrnehmung sei durch die
Qualitäten bereits vollauf bestimmt. Merleau-Ponty meint nun, dass der Grundirrtum
solcher Theorien einer Verwechslung zwischen wahrgenommener Welt und Welt des
Wahrnehmenden entspringe. Die wahrgenommene Welt sei objektiv und bestimmt, die darin
vorhandenen Eigenschaften (Qualitäten) ebenso. Es scheint, als würden wir einen klar
abgegrenzten Ausschnitt der Welt wahrnehmen, etwa jenen Ausschnitt, der sich auf unsere
Netzhaut projiziert. Die Welt des Wahrnehmenden hingegen sei nicht in diesem Sinne
objektiv und bestimmt, im Gegenteil: „Il nous faut reconnaître l’indéterminé comme un
phénomène
positif.“826
Die
wahrgenommenen
Dinge
können
nicht
auf
die
Abbildungsverhältnisse von Oberflächen auf die Netzhaut reduziert werden, denn zum
Gesichtsfeld gehöre beispielsweise auch die nicht sichtbare Rückseite von Dingen oder die
unbestimmte Grenze des Gesichtsfelds und „à la limite, ce qui est derrière mon dos n’est
pass ans présence visuelle“.827 Merleau-Ponty spricht von einem „préjugé du monde
objectif“, d.i. das Vorurteil einer Welt-an-sich mit einer bestimmten Beschaffenheit.828
Diese Auffassung der Welt werde auf die Wahrnehmung übertragen, und darin stecke nicht
nur der Fehler der Internalisierung des Inhalts, sondern auch das Vorurteil der objektiven
Auffassung der Welt. Die Rede von „Sinnestäuschungen“ setze nicht nur voraus, dass die
Ibid. 26.
OCCI: 110-115.
826 Merleau-Ponty 1945: 28.
827 Ibid. 28.
828 Ibid.
824
825
393
Wahrnehmung bestimmt sei, sondern dass es eine objektive Welt mit einer bestimmten
Beschaffenheit unabhängig von der Wahrnehmung gebe.
Was sagt Merleau-Ponty vor diesem Hintergrund zur Müller-Lyer? Die beiden
Linien seinen „ni égaux ni inégaux“.829 Die Alternative gleich/ungleich sei lediglich in der
Welt der Objektivität zwingend, nicht in der Welt der Wahrnehmung. Der Vergleich
zwischen den beiden Linien sei erst auf dem Boden der objektiven Welt möglich, die
Linien in der Wahrnehmung würden aber sozusagen nicht zu dieser objektiven Welt gehören.
Für die Wahrnehmung sind eine isolierte Linie und dieselbe Linie in einem
Gestaltzusammenhang nicht dasselbe. Mit dem Gestaltzusammenhang meint MerleauPonty je die Linien der Müller-Lyer im Zusammenhang mit den jeweils nach außen bzw.
nach innen zeigenden Winkeln. Wir nehmen Linie A als eine Gestalt wahr und Linie B als
eine andere Gestalt. Die Linien in A bzw. B sind nun weder gleich noch ungleich, sondern
Bestandteile unterschiedlicher Gestalten. Ein Vergleich zwischen beiden Linien ist eine
Aufforderung, die Linien außerhalb ihres Gestaltzusammenhangs wahrzunehmen. Dann
sind es andere Linien, denn ihre Länge wird durch den Gestaltzusammenhang konstituiert,
nicht durch den Vergleich.
Merleau-Ponty schlägt somit gleich drei Behauptungen in den Wind, die der
Repräsentationalist gemäß (R) aufstellen muss, wenn er über die Müller-Lyer spricht: (i) Im
Sehen der Müller-Lyer werden die beiden Linien als ungleich lang repräsentiert. (ii) In der
Müller-Lyer liegt eine Sinnestäuschung vor. (iii) Die Täuschung erklärt sich aus der
Diskrepanz zwischen dem Aussehen der Linien und ihrer tatsächlichen Beschaffenheit.
Gegenüber (i) behauptet Merleau-Ponty, dass der Vergleich der beiden Linien den
Gestaltzusammenhang
auflöse
und
deshalb
andere
Wahrnehmungsgegenstände
konstituiere. Gegenüber (ii) behauptet Merleau-Ponty, dass keine Sinnestäuschung vorliege,
sondern sich die Linien als das zeigen, was sie im gegebenen Gestaltzusammenhang sind.
Und gegenüber (iii) behauptet Merleau-Ponty nicht nur dasselbe wie gegenüber (ii),
sondern verwiest zudem auf das „Welt-Vorurteil“, die Idee einer Welt mit objektiver
Beschaffenheit.
Wenden wir uns zuerst (i) zu. Es leuchtet nicht ein, warum der Vergleich zwischen
den beiden Linien den Gestaltzusammenhang verändern sollte. Natürlich, nur innerhalb
des gegebenen Gestaltzusammenhangs sehen die Linien der Müller-Lyer ungleich lang aus.
Wären beide Linien ohne Winkel dargestellt, sähen sie gleich lang aus, wäre nur eine Linie
mit Winkeln (gegen außen oder gegen innen weisend) abgebildet, so sähen sie wiederum
ungleich lang aus. Doch jedes Mal bewirkt eben der Gestaltzusammenhang das ungleiche
829
Ibid.
394
Aussehen der Länge der Linien. Ein Vergleich zwischen den beiden Linien ist also nicht
nur innerhalb der „objektiven Welt“ möglich. Sogar wenn wir mit Merleau-Ponty im
Gesichtsfeld Unbestimmtheiten und unbestimmte Grenzen des Gesichtsfeldes und der in
diesem Feld sich zeigenden Dinge zulassen, so erscheint uns das Gesichtsfeld als eine
Einheit. Die Gestalten A und B der Müller-Lyer sind Bestandteile dieser Einheit. Aus
diesem Grund sind sie auch vergleichbar. Nichts von dem, was Merleau-Ponty anführt,
spricht also gegen (i).
Wenn wir uns (ii) zu. Warum behauptet Merleau-Ponty, es handle sich bei der
Müller-Lyer um keine Täuschung? Der Grund liegt darin, dass er bei der Diskussion der
Müller-Lyer von bestimmten Theorien über diese Täuschung ausgeht, die er als
„Intellektualismus“ bezeichnet. Dem Intellektualismus zufolge sind Phänomene wie die
Müller-Lyer Sinnestäuschungen, weil der „Getäuschte“ die Hauptelemente (die beiden
Linien) nicht isoliert vergleicht, sondern sich durch die Nebenelemente (die Winkel)
ablenken lässt. Es handelt sich also um eine fehlende Aufmerksamkeit auf die
Hauptelemente.830 Der „Getäuschte“ ist noch nicht genug geschult in der „richtigen“
Wahrnehmung. Weiter glaubt der Intellektualist, dass der „Getäuschte“ auf der Ebene der
bloßen Wahrnehmung tatsächlich zwei gleich lange Linien sieht, sich aber infolge der
mangelnden Aufmerksamkeit auf diese beiden in der Wahrnehmung gegebenen
Hauptelemente zu dem falschen Urteil verleiten lasse, die Linien seien von ungleicher
Länge.831 Dies ist also der Sinn von „Täuschung“ mit dem sich Merleau-Ponty
auseinandersetzt: Die Linien Müller-Lyer werden eigentlich als gleich lang gesehen, bloße
Unaufmerksamkeit ist es, die zum falschen Urteil führt. Soweit ich weiß, vertritt heute
niemand mehr diese Deutung der Müller-Lyer. Insbesondere ist der Repräsentationalist
nicht auf diese Deutung angewiesen und es bleibt ein vernünftiger Sinn von „Täuschung“,
wenn er sagt: Im Sehen der Müller-Lyer werden die beiden Linien als ungleich lang
repräsentiert, d.h. anders als sie tatsächlich sind. Lediglich die falsche Theorie, gegen die
sich Merleau-Ponty zu Recht wendet, spricht also gegen (ii), nicht das Phänomen selbst.
Den Punkt (iii) kann nicht ausführlich gewürdigt werden. Die Redeweise, dass wir
die Linien anders sehen, als sie tatsächlich beschaffen sind, setzt für Merleau-Ponty voraus,
dass die Welt auf eine bestimmte Art und Weise beschaffen ist. Darin drückt sich
möglicherweise ein „realistisches Vorurteil“ aus, dass die Wissenschaften vom gemeinen
Menschenverstand übernehmen.832 Dies scheint mir ein eher notwendiges Vorurteil zu sein,
nämlich ein für die Erkenntnis notwendiges. Freilich, die Tatsache, dass wir eine
Ibid. 57.
Ibid. 58.
832 Ibid. 29.
830
831
395
Vorstellung davon brauchen, dass es eine Beschaffenheit der Welt unabhängig von unserer
Repräsentation dieser Welt gibt (hypothetischer Realismus), sagt jedoch nichts darüber aus,
dass es tatsächlich eine Art und Weise gibt, wie die Welt unabhängig von unseren
Repräsentationen
dieser
Welt
beschaffen
ist
(ontologischer
Realismus).
Der
Repräsentationalismus, so wie ich ihn verstehe, geht jedoch von diesem „Vorurteil“ aus.
Dafür Argumente zu finden ist eine andere Sache.833
Ich habe die Auffassung von Travis zurückgewiesen, dass (R) faut de mieux
behauptet werde und habe ein Argument für (R) vorgebracht. Dieses Argument habe ich
gegenüber alternativen Perspektiven auf das Phänomen der Sinnestäuschungen am Beispiel
der Müller-Lyer verteidigt. Darüber hinaus habe ich darauf aufmerksam gemacht, dass der
Repräsentationalismus und die ihn tragende Unterscheidung zwischen Inhalt und Vehikel
weder unseren alltäglichen Denk- und Redeweisen widersprechen noch eine besondere
Form des Problem der Relation zwischen Geist und Welt aufwerfen, sofern man die
Unterscheidung zwischen Inhalt und Vehikel mit Sorgfalt handhabt. In dieser Hinsicht
stimmt die Biosemantik mit der Wahrnehmungsphänomenologie Merleau-Pontys überein.
Wir werden sehen, dass sie auch mit Merleau-Pontys Vorstellungen darüber übereinstimmt,
was es heißt, ein Objekt zu sehen, denn in der Tat gehören zur visuellen Wahrnehmung
auch die nicht sichtbare Rückseite von Dingen und das im Rücken Gelegene
(5.1.4.1. & 5.3.3.1.). Nun möchte ich mich aber der zweiten These zuwenden, die von allen
Versionen der Teleosemantik unterschrieben wird, nämlich der Existenz einer nichtbegrifflichen Inhalts.
5.1.4.2. Vier Arten nicht-begrifflichen Inhalts
Im ersten Kapitel von Hemingways Romans Wem die Stunde schlägt begegnet Robert Jordan
dem Bandenführer Pablo, unterhält sich mit ihm und geht ohne ihn weiter. Auf dem
anschließenden Weg zum Lager der Bande realisiert Jordan, dass Pablo über Pferde
verfügen muss. An dieser Stelle schreibt Hemingway über Jordan: „He remembered now
noticing, without realizing it, that Pablo’s trousers were worn soapy shiny in the knees and
thighs.“834 Natürlich sind Jordan die Hosen über die Assoziationskette von den Pferden
über das Reiten wieder eingefallen. Der mich interessierende Punkt ist der folgende: Jordan
erinnert sich, gesehen zu haben, dass die Hosen abgewetzt sind, ohne es realisiert zu haben.
Während der Unterhaltung hat er die Hosen natürlich gesehen. Und wenn er die Hosen
833 Dies ist ein Aspekt von Millikans Theorie, den ich hier nicht behandeln kann, vgl. dazu Elder 2004 und
Elder 2011, auf Millikan aufbauend.
834 Hemingway 1994: 13.
396
gesehen hat, so hat er auch die abgewetzten Stellen gesehen. Pablo begegnend und vor ihm
stehend hatte Jordan ja freie Sicht auf die Hosenbeine und -knie. Aber er hat nur gesehen
und nicht realisiert, dass diese Stellen abgewetzt sind. Wir können den Punkt so
formulieren: Jordan hat die abgewetzten Stellen gesehen, hat jedoch nicht gesehen, dass die
Stellen abgewetzt sind. Das scheint paradox. Hat Jordan die abgewetzten Stellen zugleich
gesehen und nicht gesehen? Der Anschein einer Paradoxie verschwindet, wenn wir zwei
Formen des Sehens unterscheiden, nämlich Sehen und Sehen-dass.
Man könnte eine solche Stelle vielleicht auch so lesen, dass Jordan zwar gesehen
habe, dass die Stellen abgewetzt sind, ihm die Bedeutung dieser Beobachtung nicht klar
gewesen ist. Erst jetzt wird ihm klar, dass die abgewetzten stellen ein Hinweis auf die
schlechte Ausrüstung der Bande ist. Liest man die Stelle so, hat Jordan von Anfang an
gesehen, dass die Hosenbeine und -knie abgewetzt sind. Nur hat er den Hinweis während
der Unterhaltung mir Pablo nicht verstanden. Wer so liest, liest ungenau. Hemingway sagt:
„He remembered now noticing, without realizing it, that Pablo’s trousers were worn soapy
shiny in the knees and thighs.“ Das Realisieren bezieht sich eindeutig nicht auf eine
Folgerung bezüglich der schlechten Ausrüstung, sondern darauf, dass die Hosen „worn
soapy shiny in the knees and thighs“ sind. Auch der Umstand, dass sich Jordan nun
erinnert, gesehen zu haben, dass etwas der Fall ist, spricht nicht gegen meine Lesart. Die
Dass-Klausel bezieht sich auf den Akt des Erinnerns nach der Begegnung mit Pablo und
nicht auf den Akt des Gewahrwerdens während der Unterhaltung mit ihm. Während dieser
Unterhaltung sieht Jordan die abgewetzten Stellen, ohne zu sehen, dass sie abgewetzt sind
und ohne daraus Schlüsse zu ziehen.
Daraus ergibt sich ein weiterer interessanter Aspekt der Unterscheidung zwischen
Sehen und Sehen-dass. Jordan erinnert sich nun an die abgewetzten Stellen. Zugleich
erinnert er sich, dass er nicht realisiert hat, dass sie abgewetzt sind. Obwohl er nicht
gesehen hat, dass die Stellen abgewetzt sind, steht die Wahrnehmung der abgewetzten
Stellen seiner Erinnerung zur Verfügung. Da er Pablo jetzt nicht sieht, kann er auch nicht
sehen, dass die Hosen abgewetzt sind, aber er kann sich erinnern, dass die Hosen abgewetzt
waren. Warum? Weil er die abgewetzten Stellen gesehen hat. Diese Wahrnehmung kann
also durchaus eine kognitive Funktion erfüllen, denn ihr Inhalt bleibt der Erinnerung
verfügbar. Weiter kann Jordan daraus folgern, dass Pablo in seinen Hosen reitet und
vermutlich über keine gute Ausrüstung verfügt. Das bloße Sehen, das ich vom Sehen-dass
unterschieden habe, vermag also durchaus eine Rolle in kognitiven Aktivitäten wie erinnern
oder folgern zu spielen. Dieses Sehen charakterisiert Hemingway als „noticing without
397
realizing“ und man kann diese Wortfügung als „Wahrnehmen-ohne-bemerken“ übersetzen.
Entsprechend ist das Sehen-dass ein „Wahrnehmen-und-bemerken“.
Dass man Dinge wahrnehmen kann, ohne sie zu bemerken, sollte nicht erstaunen.
So kann ich wahrnehmen, dass jemand sagt, es sei sehr heiß in diesem Raum, ohne zu
bemerken, dass er mich veranlassen möchte, ein Fenster zu öffnen oder etwas dergleichen.
Ich kann auch hören, dass jemand sagt „Hier drinnen ist es aber heiß“, ohne zu bemerken,
dass er gesagt hat, es sei heiß hier drinnen. Was mich interessiert ist der zweite Fall. Mich
interessiert, ob man den Unterschied zwischen einem Sehen als Wahrnehmen-ohnebemerken und einem Sehen als Wahrnehmen-und-bemerken aufrecht erhalten und
charakterisieren kann. Wenn man den Unterschied aufrecht erhalten kann, so stellt sich die
Frage, wie man das Sehen als Wahrnehmen-ohne-bemerken selbst charakterisieren kann.
Wie lässt sich, genauer gefragt, der Inhalt dieses Sehens charakterisieren?
Sehen verschafft Lebewesen einen besonderen Zugang zu ihrer Umwelt, einigen
Lebewesen sogar einen besonders bevorzugten Zugang. Durch Sehen können Lebewesen
beispielsweise Gegenstände als dreidimensionale, farbige, bewegte, lokalisierte Objekte
erfassen und sie dadurch oder infolgedessen memorieren, klassifizieren oder manipulieren.
Zum Sehen braucht ein Lebewesen keine Begriffe. Dafür lassen sich folgende
Plausiblitätsargumente vorbringen:835
1. Tiere und Kleinkinder haben Sinnesorgane, mit denen sie Dinge wahrnehmen. Sie
verfügen aber (vermutlich) nicht über die passenden Begriffe. Ihre Wahrnehmung ist
nicht-begrifflich.836 Um ein x wahrzunehmen (ein Ding, eine Eigenschaft, ein Ereignis),
brauche ich nicht zu wissen, was ein x ist und dass es ein x ist.
2. Unabhängigkeit von Wahrnehmungsgehalten und Überzeugungsgehalten. Dies lässt
sich anhand der bereits diskutierten Müller-Lyer-Täuschung illustrieren.837 Der Gehalt
der Überzeugung hat keinen Einfluss auf den Gehalt der Wahrnehmung, sie steht sogar
in direktem Widerspruch zum Gehalt der Wahrnehmung. Unsere Überzeugungen, wie
die Dinge sind, lässt unberührt, wie die Dinge uns sinnlich erscheinen.
3. Wie soll man sich empirische Begriffe – Farbbegriffe zum Beispiel – aneignen, wenn es
keine Ebene nicht-begrifflicher Gehalte gibt? Ich habe viele Braunwahrnehmungen und
Hundewahrnehmungen, die Braunes und Hunde darstellen, bevor ich die Begriffe
BRAUN und HUND überhaupt anwenden kann.838
Vgl. Wild 2005.
Vgl. Peacocke 2001. Dagegen McDowell 1996: 108-126.
837 Vgl. Fodor 1990: 231-251, Schantz 2001, Crane 2007: 109f. Dagegen Hamlyn 2003.
838 Vgl. Engel 2003.
835
836
398
4. Begriffe lassen sich aus spezifischen Kontexten herauslösen und anderweitig
verwenden. Diese Art der Kompositionalität und der Generalität zeichnet begriffliche
Gehalte aus. Die Begriffe BRAUN und HUND lassen sich in vielen Kontexten
verwenden. Aber die Wahrnehmung dieses braunen Hundes dort ist kontextspezifisch
oder situationsabhängig.839
5. Wahrnehmungen können direkt relevant sein für Handlungen. Ich sehe, ob ein
Gegenstand in eine Spalte passt, auch wenn ich keinen Begriff von den Maßen der
Spalte und des Gegenstandes habe.840
6. Wahrnehmungen sind viel reicher und feinkörniger als Überzeugungen. Wir nehmen
differenzierter wahr, als wir mit unseren begrifflichen Ressourcen differenzieren
können.841 Um ein bestimmtes Blau zu sehen, brauche ich nicht den Begriff für dieses
bestimmte Blau. Und dieses bestimmte Blau sieht als Blau eines gemalten Sees in
schlechter nichtgemalter Beleuchtung anders aus als das Blau einer Wollmütze im
hellen Sonnenlicht.
Diese
Argumente842
sollen
plausibel
machen,
dass
es
nicht-begrifflichen
Wahrnehmungsinhalt gibt: Wahrnehmungen wie das Sehen gehören zu den biologischen
Fähigkeiten von Organismen (1.), sie sind überzeugungs- und begriffsunabhängige (2.),
reiche, feinkörnige (6.), kontextspezifische Repräsentationen (4.), die dem Verhalten (5.)
und dem Lernen (3.) zur Verfügung stehen.
Argumente dieser Art motivieren die Annahme, dass das Sehen eine basale
biologische Fähigkeit ist und darin nicht von höheren kognitiven Fähigkeiten (dem Sehendass) abhängt. Wie soll nun das hier gemeinte Sehen genauer charakterisiert werden? Man
kann den Unterschied, wie gesagt, wie folgt ausdrücken: oF sehen (Jordan sieht die
abgewetzten Stellen) und sehen, dass o ein F ist (Jordan sieht, dass die Knie abgewetzt
sind.). Der Satz mit der Dass-Klausel stellt eine Tatsache fest. Deshalb spricht
beispielsweise Dretske hier von einem epistemischen Sehen (epistemic seeing, meaningful
perception, cognitive perception, seeing facts). Um sehen zu können, dass oF, brauche ich
beispielsweise Begriffe für o oder für F. Doch um o oder um F zu sehen, brauche ich weder
den Begriff für o noch den Begriff für F. Dieses Sehen nennt Dretske nicht-epistemisches
Sehen (non-epistemic seeing, simple seeing, sense perception, seeing things, seeing properties).
Vgl. Kelly 2003.
Vgl. Peacocke 2001.
841 Vgl. Tye 2005.
842 Dretske beispielsweise betont vor allem das erste Argument über Tiere und Kleinkinder und das letzte
Argument, den Reichtum des sinnlichen Inhalts (Vgl. Dretske 1981: 150-153 und 167f., Dretske 2001: 102).
Wir sind zwar begrifflich zuständig für den Inhalt unseres epistemischen Sehens, aber wir sind nicht die
Herren unseres Sehens überhaupt: „People are not authorities about what they see.“ (Dretske 1969: 10)
839
840
399
Gegenstände dieses Sehens können sowohl Objekte als auch Eigenschaften sein. Dieses
Sehen kann durch seinen negativen Überzeugungsgehalt charakterisiert werden: „There is a
way of seeing such that for any proposition P the statement ‚S sees D’ does not logically
entail the statement ‚S believes P’.“843 Dretske schlägt die folgende Definition des
nichtepistemischen oder nicht-begrifflichen Sehens vor: „S sees D: D is visually
differentiated from its immediate environment by S.“844 Etwas sehen bedeutet also, dieses
Etwas von seinem unmittelbaren Umfeld unterscheiden zu können. Es reicht nicht, dass
dieses Etwas ein VS einfach kausal affiziert. Auch ein weißes Stück Papier auf einer weißen
Wand affiziert das Auge eines Betrachters, doch weil das Auge des Betrachters das weiße
Stück Papier von der Wand nicht unterscheiden kann, kann der Betrachter es auch nicht
sehen.
Die Existenz eines solchen Sehens, wie es die oben genannten Argumente
motivieren, kann in einem biosemantischen Argument für die Existenz nicht-begrifflichen
Sehens ausformuliert werden. Dies ist das Argument:
(1) Sehen ist die Funktion eines VS.
(2) Funktionen sind Echte Funktionen.
(3) Unser visuelles System hat diese Funktion aufgrund seiner evolutionären
Geschichte.
(4) Die Funktion unseres VS besteht natürlich und objektiv, d.h. unabhängig von
kognitiven Projektionen (z. B. Überzeugungen über diese Funktion, Begriffen für
das Gesehene usw.).
(5) Die Funktion legt den Inhalt des Sehens fest.
(6) ALSO ist der Inhalt des Sehens unabhängig von kognitiven Projektionen und
besteht natürlich und objektiv.
Zweifellos ist jeder dieser Schritte erklärungsbedürftig, doch habe ich bereits einen großen
Teil der Erklärungsleistung erbracht. Der Schritt (1) ist zunächst begrifflicher Natur.
843 Dretske 1969: 6. Vgl. ibid. 7: „It must always be remembered, though, that what I am trying to establish is
a logical independence, not a psychological independence.“
844 Später wird Dretske diese Definition variieren. 80er-Jahre: Das visuelle System trägt Information in
analoger (nicht digitaler) Form über D. (Vgl. Dretske 1981: 142: „Perception is a process by means of which
information is delivered within a richer matrix of information (hence in analog form) to the cognitive centers
for their selective use. [...] If the information that s is F is never converted from a sensory (analog) to a
cognitive (digital) form, the system in question has, perhaps, seen, heard or smelled an s which is F, but it has
not seen that it is F – does not know that it is F. The traditional idea that knowledge, belief, and thought
involve concepts while sensation (or sensory experience) does not is reflected in this coding difference.”) 90erJahre: Das visuelle System hat die natürliche Funktion, bestimmte Informationen über D zu tragen (Vgl.
Dretske 1995.) Ich habe die Missverständnisse bzw. Fehler, die diese Formulierung implizieren bzw. begehen
bereits kritisiert.
400
Abgekürzt kann man ihn so reformulieren: Augen sind zum Sehen da, Augen ermöglichen
das Sehen. Die Redeweise von einem visuellen System baut lediglich eine biologische
Tatsache in diese Redewiese ein, nämlich die Tatsache, dass zum Vermögen des Sehens
physiologisch mehr gehört als Augen. Allgemeiner formuliert lautet derselbe Punkt:
Wahrnehmungssysteme sind zum Wahrnehmen da, Wahrnehmungssysteme ermöglichen
Wahrnehmungen. Es ist also einfach begrifflich wahr, dass VS die Funktion des Sehens
haben. Der Schritt (2) verlangt eine Explikation des unverfänglichen Begriffs der Funktion
in Schritt (1) im Sinne des ätiologischen Funktionsbegriffs. Ich habe diese These bereits
ausführlich verteidigt (1.1.4., 2.1., 3.2.3.). Schritt (3) akzeptiert eine gut gestützte empirische
These über die Naturgeschichte unseres VS. Diese These schließt alle uns bekannten
visuellen Systeme ein. Aufgrund seiner organisierten Komplexität kann das VS als eine
evolutionäre Anpassung betrachtet werden, d.h. das VS ist eine Akkumulation
koadaptierter Merkmale. Und die beste Erklärung für biologische, koadaptierte Strukturen
mit organisierter Komplexität sind adaptionistische Erklärungen. Auch aus diesem Grund
liegt es nahe, einen ätiologischen Begriff der Funktion zu vertreten, der (biologische)
Funktionen als selektierte Effekte beschreibt. Es bleibt freilich denkbar (und einige
Autoren argumentieren für diese Überzeugung) dass VS auch durch einen Schöpfer
hergestellt worden sind und ihre Funktion von ihm erhalten haben. Da nun die Natürliche
Selektion auch unter dieser teleologischen Sichtweise ein objektives Geschehen ist, sind
Echte Funktionen objektive Eigenschaften von Merkmalstypen von Organismen. Dies
bedeutet: Das Herz hat die Echte Funktion, Blut zu pumpen, ganz unabhängig davon, ob
jemand glaubt, dass das Herz Blut pumpe, oder dass irgendjemand bestimmte
Auffassungen über Lebewesen vertritt (3.2.1.-3.2.2.), das Herz aus irgendwelche Gründen
etwas Anderes als Blut pumpt oder das Herz, weil defekt, Blut nicht auf die richtige Weise
(z.B. nicht regelmäßig) oder gar nicht pumpt. Diese Überlegungen motivieren den Schritt
(4).
Die entscheidende Frage an das Argument lautet nun, in welcher Bedeutung von
Sehen
die
Rede
ist
und
um
die
Funktion
wovon
es
sich
handelt.
Der
produzentenorientierte Repräsentationalist möchte gerne sagen, dass es sich bei Sehen um
einen Zustand mit einem intentionalen Inhalt handelt, der durch die Funktion des VS
festgelegt wird. Und dieser Inhalt ist nicht-begrifflich. Nicht so der konsumentenorientierte
Repräsentationalist! Das bloße Sehen hat erstens keinen IR-Inhalt, sondern lediglich einen
R-Inhalt und es geht zweitens um die Funktion des P-Mechanismus, nicht um die Funktion
des K-Mechanismus. Der zweite ist der Grund für den ersten Punkt. Deshalb kann es sich
beim „Sehen“ im Argument nicht um ein intentional-transitives Sehen (mit IR-Inhalt)
401
handeln, sondern lediglich um transitives Sehen (mit R-Inhalt). Da nicht-begrifflicher
Inhalt ein IR-Inhalt sein muss, kann es sich beim Sehen nicht um Sehen mit nichtbegrifflichem Inhalt handeln. Die Unterscheidung zwischen dem nicht-epistemischen
Sehen und dem epistemischen Sehen-dass ist nicht identisch mit der Unterscheidung
zwischen nicht-begrifflichem und begrifflichem Inhalt. Weder hat das nicht-epistemische
Sehen einen nicht-begrifflichen Inhalt noch ist das epistemische Sehen ausschließlich
begrifflicher Natur. Der produzentenorientierte Repräsentationalist verwechselt wiederum
R-Inhalt und IR-Inhalt. Aus der Sicht der Biosemantik muss das Argument entweder als
Argument für den objektiven R-Inhalt von P-Mechanismen oder als Argument für den IRInhalt von P-cum-K-Mechanismen interpretiert werden. In seiner jetzigen Form ist es zu
unterbestimmt. Ich möchte es an dieser Stelle als Argument für den objektiven R-Inhalt
eines P-Mechanismus’ (nämlich VS) akzeptieren, nicht als Argument für nicht-begrifflichen
IR-Inhalt.
Neben der Verwechslung von R- und IR-Inhalt zeigt sich in der Debatte um die
Existenz eines nicht-begrifflichen Inhalts (NBI) noch ein weiterer Pferdefuß. NBI wird in
dieser Debatte in unterschiedlichen Bedeutungen verwendet. Es ist wichtig, zunächst drei
dieser Bedeutungen von NBI zu unterscheiden.
1. Die kontrastive Bedeutung von NBI. Offenbar sind Begriffe wie „nicht-epistemisches
Sehen“ oder „nicht-begrifflicher Inhalt“ kontrastive Begriffe. Eine Bedeutung von NBI
ist nun explizit kontrastiv. Tiere und Kleinkinder zeigen Verhaltensweisen, die man mit
Rückgriff auf repräsentationale Inhalte zu erklären wünscht. Die beste Erklärung für
diese Verhaltensweisen besteht mithin in der Annahme, dass diese Wesen
Repräsentationen mit einem IR-Inhalt bilden und dass diese Repräsentationen diese
Verhaltensweisen lenken. Doch offenbar verfügen weder Tiere noch Kleinkinder über
begriffliche Fähigkeiten. Es ist also nützlich, eine andere Art von Inhalt zu postulieren,
um die kognitiven Repräsentationen von Tieren und Kleinkinder sowohl
charakterisieren zu können als auch von den kognitiven Repräsentationen rationaler,
d.h. denk- und sprachfähiger Wesen, wie wir es sind, absetzen zu können. In der
kontrastiven Bedeutung ist NBI also sozusagen reserviert für Lebewesen, die nicht
normale, erwachsene Begriffsbenutzer sind.
2. Die subpersonale Bedeutung von NBI. Subpersonale Prozesse des Nervensystems von
höheren
Lebewesen
können
mit
einem
gewissen
Erkenntnisgewinn
als
Repräsentationen mit einem Inhalt beschrieben werden. Solche Beschreibungen sind
nützlich, um etwa die Arbeitsweisen unseres Hirns und seiner Subsysteme zu
402
verstehen. Dabei handelt es sich nicht lediglich um nützliche Beschreibungsweisen,
sondern um Beschreibungen der Informationsverarbeitung durch biologische Systeme.
So können Informationen durch das VS aufgenommen und verarbeitet, im Gedächtnis
gespeichert oder abgerufen werden. Des weiteren können beide Arten von
Informationen integriert werden usw. Freilich handelt es sich bei diesen Prozessen um
subpersonale Prozesse. Kognitive Subjekte sind sich dieser Prozesse nicht bewusst und
sind nicht identisch mit ihren Wahrnehmungen, Erinnerung, Folgerungen usw. auf der
personalen Ebene. NBI findet sich allein auf der subpersonalen Ebene, begriffliche
Inhalte hingegen gehören zur personalen Ebene. Möglicherweise findet sich bei nichtrationalen Lebewesen wie Tieren und Babys nur die subpersonale Ebene, vielleicht
auch nicht. Doch dieser Unterschied ist für die subpersonale Verwendung unerheblich.
3. Die phänomenale Bedeutung von NBI. Das phänomenale Erleben in der sinnlichen
Wahrnehmung, in Körperempfindungen oder in Gefühlszuständen gehört zu unserem
bewussten, personalen Leben. Aber offensichtlich übersteigt der Reichtum (Dichte,
Feinkörnigkeit, Differenziertheit usw.) bewusster Wahrnehmungserlebnisse unsere
begrifflichen Ressourcen. Zudem sind begriffliche Fähigkeiten augenscheinlich keine
Voraussetzung für das phänomenale Erleben. Wir können davon ausgehen, dass auch
Tiere und Babys über phänomenales Erleben verfügen, unabhängig davon, ob wir Tiere
nun begriffliche Fähigkeiten zuschreiben wollen oder nicht.
In den oben angeführten sechs Argumenten finden sich alle diese Bedeutungen. So
verweist das Argument (1.) auf die kontrastive Bedeutung, die Argumente (3.) und (5.) auf
die subpersonale Bedeutung, die Argumente (2.), (4.) und (6.) schließlich auf die
phänomenale Bedeutung. Bisweilen vermengen sich die unterschiedlichen Bedeutungen
auch innerhalb der einzelnen Argumente.
Im evolutionären Argument für das nicht-begriffliche Sehen ist die kontrastive
Bedeutung implizit ausgeschlossen, denn es geht darin nicht um die Funktion des VS von
nicht-menschlichen Lebewesen, sondern von Lebewesen überhaupt. Dem Animalismus
zufolge kann man auch nicht sagen, dass das visuelle System als biologisches Vermögen für
Wesen, wie wir es sind, unerheblich ist. Da Wesen wie wir wesentlich Tiere sind kann man
in dieser Hinsicht nicht von einem strikten Kontrast ausgehen.
Für die Charakterisierung des nicht-epistemischen Sehens durch Dretske („S sees
D: D is visually differentiated from its immediate environment by S.“) scheint die
subpersonale Bedeutung auszureichen. Denn die Differenzierung eines Objekts von dessen
Umgebung durch das visuelle System kann als ein Vermögen des Wahrnehmungssubjekts
403
ausgefasst werden, ohne dass sich das Subjekt auf der personalen Ebene dieser
Differenzierung in irgend einer Form bewusst sein muss.
Doch sind nun die subpersonale und die phänomenale Bedeutung stets gut
unterschieden? Werfen wir wiederum einen Blick auf den Qualia-Repräsentationalismus.
Tye zufolge repräsentiert ein Schmerzerlebnis eine Gewebeschädigung am eigenen Körper,
ein visuelles Erlebnis eine Eigenschaft eines materiellen Objekts. Doch Tye zufolge muss
man, um beispielsweise Schmerzen im Fuß zu haben oder um eine rote Rose zu sehen, sich
nicht bewusst sein, dass der Fuß beschädigt oder die Rose rot ist (d.h. bestimmte
Wellenlängen des Lichts reflektiert und andere resorbiert). Man muss, um Schmerzen zu
empfinden oder Rosen zu sehen, nicht notwendigerweise über die Mittel verfügen, in
Begriffe zu fassen, was die Schmerzen repräsentieren (Schädigung im Fuß) oder was die
Wahrnehmung repräsentiert (Rot der Rose). Der Inhalt von Empfindungen (wie
Schmerzen) und Erfahrungen (wie visuelle Wahrnehmungen) ist nicht-begrifflich. In
welchem Sinne? Bestimmt verwendet Tye den Begriff nicht im kontrastiven Sinn. Falls aber
die subpersonale Bedeutung intendiert ist, besteht das Problem darin, dass keine
Notwendigkeit besteht, irgendwelche subpersonalen Zustände überhaupt im Bewusstsein
eines Subjekts auftreten zu lassen. Tye würde dann nicht das Schmerz- oder
Wahrnehmungsbewusstsein erklären, sondern lediglich subpersonale Prozesse anführen,
die solchem Bewusstsein zugrunde liegen mögen. Offenbar intendiert Tye die
phänomenale Bedeutung. Bei visuellen Erfahrungen zeigen sich im phänomenalen Erleben
Farben für die man nicht zwingend Begriffe haben muss. Natürlich ist sich das
Erlebenssubjekt dieser Farben, d.h. der repräsentierten Eigenschaft, bewusst. Analog
müsste sich das Subjekt im Falle von Schmerzen im Fuß eines Gewebeschadens im eignen
Fuß bewusst sein. Denn der Gewebeschaden ist die repräsentierte Eigenschaft. Auch wenn
sich das Subjekt dieser Eigenschaft nicht-begrifflich bewusst ist, so scheint die
Beschreibung eines Schmerzerlebnisses als „Gewebeschaden in meinem Fuß“ doch zu
komplex, um das phänomenale Erleben zu charakterisieren. Tim Crane hat nun darauf
hingewiesen, dass Tye sich hier je nach Kontext auf unterschiedliche Bedeutungen von
NBI bezieht:
„Meine Einschätzung der hier auftretenden Schwierigkeit lautet, dass Tye sich bei
der Beantwortung des Einwands, dass sich ein Subjekt eines Schadens [im Fuß]
nicht gewahr sein müsse, auf die subpersonale Auffassung nicht-begrifflichen
Gehalts bezieht, aber auf die phänomenologische Auffassung verweist, wenn er die
Vorstellung vom nicht-begrifflichen Gehalt verwendet, um Bewusstsein zu
erklären. Auf diese letzte Vorstellung ist er angewiesen. Doch dann muss er mehr
404
darüber sagen, warum wir uns Subjekte als sich (auf nicht-begriffliche Art und
Weise) des Schadens an ihren Körpern gewahr denken sollten.“845
Diese Einschätzung lässt sich generalisieren. Der Verweis auf ein nicht-begriffliches,
repräsentationales Bewusstsein von etwas wird in Ausdrücken beschrieben, die nahe legen,
dass sich das bewusste Subjekt dessen, wovon es Bewusstsein hat, wovon seine
Repräsentation handelt, gerade nicht bewusst ist. Aus der Perspektive der Biosemantik
stellt sich die Problemlage noch einmal anders dar. Wir haben bereits gesehen, dass
produzentenorientierte Theorien, wie diejenige von Tye, dazu neigen, IR-Inhalte und RInhalte zu verwechseln (5.1.3.2.). Es ist nun keineswegs klar, inwiefern NBI ein Inhalt im
Sinne eines IR-Inhalts ist. Wenn wir NBI in der phänomenalen Bedeutung verwenden, so
haben wir einen Inhalt beschrieben, der keinerlei Beziehung zu einem Konsumenten oder
Interpretanten aufweist. Wir beschreiben lediglich Charakteristika von NBI wie Dichte,
Kontinuität, Feinkörnigkeit, Differenziertheit usw.), ohne uns die Frage zu stellen,
inwiefern diese Merkmale etwas charakterisieren, das einen IR-Inhalt hat. Solche
Charakterisierungen von NBI bleiben auf der Ebene des R-Inhalts stehen, und mithin auf
der Ebene des R-Vehikels. Dabei wird der R-Inhalt mithilfe von Merkmalen eines IRInhalts charakterisiert: Im phänomenalen Erleben erscheinen einem Subjekt die visuellen
Szenerien als dicht, feinkörnig, differenziert usw. Dies mag zutreffen. Doch solange man
lediglich auf der Ebene des R-Inhalts verbleibt, wird nichts darüber ausgesagt, inwiefern es
sich hierbei um IR-Inhalte handeln soll. Und solange man auf der Eben der R-Inhalte
bleibt, verbleibt man ipso facto auf der subpersonalen Ebene. Denn R-Inhalte sind Inhalte,
die einem R-Vehikel zukommen, insofern es von einem P-Mechanismus produziert
worden ist, und nicht Inhalte, die durch die Verwendung des R-Vehikels durch einen KMechanismus festgelegt werden und mithin IR-Inhalte wären. Man muss also erstens den
Konsumenten für die R-Inhalte bestimmten, und man muss zweitens zeigen, dass es sich
um Konsumenten handelt, die nicht nur die Subsysteme eines Lebewesens betreffen,
sondern das Lebewesen als Ganzes. Erst mit diesem zweiten Schritt hat man die
subpersonale Ebene verlassen.
Ich werde auf der Grundlage dieser Überlegungen eine vierte Bedeutung von NBI
etablieren, die sich von der kontrastiven, subpersonalen und phänomenalen Bedeutung
unterscheidet. Dabei handelt es sich um die behaviorale Bedeutung von NBI. Der NBI von
visuellen Wahrnehmungen ist ein IR-Inhalt, insofern bestimmte Verhaltensweisen des
ganzen Lebewesens als Konsumenten der R-Vehikel seines VS in Betracht gezogen werden
845
Crane 2007: 78.
405
können. Ich werde auf diese vierte behaviorale Bedeutung von NBI unten in 5.3.3.2.
zurückkommen.
5.1.5. Dritte Reaktion: Kritik der Kausalen Theorie des Sehens
5.1.5.1. Das Nomische Korrelationsprinzip
Wir haben gesehen, dass Pietroskis Biologiemärchen auf zwei Ebenen keinen Einwand
gegen die Biosemantik darstellt, sondern diese im Gegenteil stärkt. Auf einer ersten Ebene
kann der Einwand aufgrund einer Verwechslung von Repräsentationstypen (es handelt sich
um
PPRs,
nicht
um
Verhaltenserklärung
Überzeugungen)
(Verhaltensweisen
und
werden
einer
über
unzureichenden
ihre
Funktion
Idee
der
individuiert)
zurückgewiesen werden (5.1.2.). Auf einer zweiten, tieferen Ebene, konnte gezeigt werden,
dass das Biologiemärchen keineswegs für eine produzentenorientierte Teleosemantik
spricht. Eine genaue Betrachtung der Produzentenorientierung zeigt, dass diese entweder
ihrem vorgeblichen Naturalismus nicht genügen kann (5.1.4.1. & 5.1.4.4.) oder sich in
Richtung
der
Konsumentenorientierung
der
Biosemantik
bewegen
muss
(5.1.4.2. & 5.1.4.3.). Allerdings gibt es natürlich Übereinstimmungen zwischen diesen
beiden Positionen, die nicht nur die Tatsache betreffen, dass es sich um zwei Versionen der
Teleosemantik handelt. Dabei handelt es sich um die Thesen, dass Wahrnehmungen
Repräsentationen sind (5.1.5.1.) und um die Behauptung der objektiven Existenz von NBI
(5.1.5.2.).
Kommen wir nun zu einer dritten, der tiefsten Ebene des Einwandes von Pietroski.
Die korrekte Reaktion der Biosemantik auf das Biologiemärchen – nämlich die
Beschreibung des Inhalts der Kimu-Repräsentation als „snorffreie Richtung!“ – zeigt, dass
die Biosemantik auf ein Prinzip verzichtet, dass Wahrnehmungstheorien gemeinhin
akzeptieren
und
dass
sowohl
im
Commonsense
als
auch
in
den
Wahrnehmungswissenschaften akzeptiert ist. Die intuitive Idee besteht darin, dass eine
Antwort auf die Frage „Was wird gesehen?“ den Gegenstand einer Wahrnehmung als
deren Ursache einschließen muss. Was die Biosemantik also scheinbar aus der Hand gibt,
ist das Nomische Korrelationsprinzip (NKP):
NKP Wahrnehmungen können eine Eigenschaft F nur intentional repräsentieren,
wenn die R-Vehikel mit Instantiierungen von F nomisch korreliert sind.
Um auf unser Paradigma zurück zu greifen: Die Ausrichtung der Magnetosome des
Magnetbakteriums (das R-Vehikel) ist nomisch nicht mit der Richtung von
406
sauerstoffarmem Wasser korreliert, sondern (auf der nördlichen Erdhemisphäre) mit der
Richtung des geomagnetischen Nordpols. Die Biosemantik bestimmt den IR-Inhalt als
„Sauerstoffarme Richtung!“. Die Magnetosome repräsentieren somit eine Eigenschaft,
ohne dass sie mit Instantiierungen dieser Eigenschaft nomisch korreliert wären. Das ist
eine Verletzung von NKP.
Freilich könnte man darauf erwidern, dass NKP einfach deshalb nicht verletzt ist,
weil unser Paradigma eben keine Wahrnehmung ist. Die Bakterien nehmen die Richtung
von sauerstoffarmem Wasser nicht wahr, sondern zeigen sie lediglich an. Für genuine
Wahrnehmungen (bei Springspinnen oder erwachsenen Personen) kann NKP immer noch
beansprucht werden. Allerdings ist Pietroskis Biologiemärchen so konstruiert, dass es eine
Analogie zwar nicht zwischen dem Rot-Sensor der Kimus und Überzeugungen, dafür aber
zwischen dem Rot-Sensor und genuinen Wahrnehmungen nahe legt: Der Kimu „sieht“
keine roten Flächen, sondern er „sieht“ snorffreie Richtungen, obwohl die Relation
zwischen roten Flächen und Snorfs einerseits und dem Rot-Sensor und Snorfs andererseits
nomisch vollkommen unerheblich ist. Sie ist jedoch evolutionär keineswegs unerheblich. Wie
ich zu zeigen versucht habe, ist die Evolutionsbiologie keine nomologische
Naturwissenschaft (2.2.). Aus diesem Grund sind die relevanten Bedingungen für
Repräsentationsrelationen nicht zwingend nomische Relationen.
Dies ist ein erster prinzipieller Grund, warum die Biosemantik NKP auch auf der
Ebene genuiner Wahrnehmungen nicht akzeptieren muss. Ein zweiter prinzipieller Grund
besteht darin, dass es für eine repräsentationalistische Theorie zentral ist, Vehikel und
Inhalt nicht zu verwechseln. IR-Inhalte finden sich nicht bereits auf der Eben der RVehikel, dort finden sich lediglich R-Inhalte. Wie wir bereits gesehen haben, neigt die
produzentenorientierte Version der Teleosemantik dazu, IR-Inhalt und R-Inhalt zu
verwechseln (5.1.4.2.). Eine solche Verwechslung äußert sich auch in der Projektion von
Eigenschaften des R-Vehikels auf repräsentierte Objekte und vice versa (5.1.5.1.) Auch NKP
neigt zu dieser Verwechslung, weil es für eine Wahrnehmung, verstanden als
Repräsentation mit einem IR-Inhalt, eine nomische Korrelation zwischen R-Vehikel und
einer Eigenschaft F verlangt. Natürlich muss eine Korrelation zwischen R-Vehikel und
dem R-Inhalt des Vehikels vorliegen und im Falle der Sinneswahrnehmung ist es auch
offensichtlich,
dass
diese
Korrelation
faktisch
nomisch
bzw.
kausal
ist.
Wahrnehmungssysteme haben zwar die Funktion R-Vehikel aufgrund bestimmter kausaler
Einflüsse zu produzieren. Doch dieser Umstand alleine legt keine IR-Inhalte fest. Es ist
also nicht diese Korrelation, die den IR-Inhalt des betreffenden R-Vehikels festlegt. Was
den IR-Inhalt festlegt wird durch die Funktion eines kooperierenden Konsumenten
407
bestimmt. Das, was der Fall sein muss, damit dieser Konsument seine Echte Funktion
erfüllen kann, ist der IR-Inhalt, den ein R-Vehikel trägt.
Die tiefste Ebene des Einwands aus Pietroskis Biologiemärchen kann in diese Frage
gefasst werden: Verzichtet die Biosemantik mit NKP nicht auf zu viel? Ich möchte dem
widersprechen und die These vertreten, dass eine biosemantische Theorie der
Wahrnehmung nicht nur NKP als notwendigen Bestandteil einer Analyse des
Wahrnehmungsbegriffs
fahren
lassen
darf,
sondern
auch
den
Ansatz
bei
Wahrnehmungserfahrungen und die Idee einer Analyse des Wahrnehmungsbegriffs. Kausale
Elemente spielen in den Wahrnehmungen faktisch eine Rolle, sind aber kein notwendiger
Bestandteil. Wahrnehmungserfahrungen müssen zwar erklärt werden (im Sinne der
vereinheitlichenden explanatorischen Integration, wie ich sie in 2.3. präsentiert habe), aber
ein philosophisches Verständnis von Wahrnehmungen muss explanatorisch nicht bei der
Innenperspektive einsetzen, die, im Gegenteil, auf falsche Fährten führt. Bevor ich im
Folgenden diese beiden Punkte darlege und begründe (5.2.) sowie im Anschluss daran eine
biosemantische Wahrnehmungstheorie skizziere (5.3.) möchte ich den angezeigten
Gedankengang an dieser Stelle im Hinblick auf die Kausale Theorie der Wahrnehmung
motivieren.
Denn
diese
Theorie
umfasst
sowohl
kausale
Objekte
als
auch
Wahrnehmungserfahrungen und versteht sich darüber hinaus als Analyse des
Wahrnehmungsbegriffs.
5.1.5.2. Kausale Theorie des Sehens und veridische Halluzinationen
Paul Grice hat die Grundlagen der Kausalen Theorie der Wahrnehmung geliefert.846 Die
Kausale Theorie der Wahrnehmung versteht sich als begriffliche Analyse des
vortheoretischen
Wahrnehmungsbegriffs.
Diese
Theorie
unterstellt,
dass
die
unterschiedlichen Sinnesmodalitäten unter einen einheitlichen alltäglichen Begriff der
Wahrnehmung fallen. Da mich in erster Linie die visuelle Wahrnehmung interessiert, will
ich mich um diese Unterstellung nicht eigens Sorgen machen.847 Ich werde entsprechend
von der Kausalen Theorie des Sehens (KTS) sprechen. Es scheint mir nun zwar
unzweifelhaft, dass sowohl unser alltäglicher Gebrauch des Ausdrucks „sehen“ als auch der
naturwissenschaftliche Gebrauch dieses Ausdrucks ein kausales Element enthalten, man
muss dieses kausale Element jedoch von der Kausalen Theorie der Wahrnehmung
Vgl. Grice 1989.
Dass diese Unterstellung nicht zwingend ist, zeigt ein Blick auf mittelalterliche Species-Theorien. So
benötigen visuelle und akustische Wahrnehmungen vermittelnde „sinnliche Species“, nicht aber taktile,
olfaktorische oder gustative Wahrnehmungen. Der Grund dafür liegt darin, dass allein visuelle und akustische
Wahrnehmungen Zugang zu räumlich entfernten Objekten verschaffen.
846
847
408
unterscheiden. Dem alltäglichen Gebrauch des Ausdrucks liegt keineswegs implizit ein Satz
notwendiger und hinreichender Bedingungen zugrunde, die seine Anwendung regeln. KTS
unterstellt, dass für eine Theorie der Wahrnehmung die begriffliche Analyse (und
entsprechend eine Begriffsdefinition) ein adäquates Instrument darstellt. Es gibt jedoch
Alternativen, etwa die bereits vorgestellte Theoriekonstruktion (1.1.6.). Darüber hinaus
scheint die Begriffsanalyse (verstanden als die wohl geformte Angabe von notwendigen
und hinreichenden Bedingungen der Begriffsanwendung) über die Analyse solcher Begriffe
wie „Junggeselle“ hinaus bislang keine außergewöhnlichen und gemeinhin akzeptierten
Erfolge verbuchen können. Schließlich wird unterstellt, dass der angemessene Kontext, in
dem sich der (oder: unser) vortheoretische Begriff der Wahrnehmung auffinden lässt, der
alltägliche Wahrnehmungsbegriff ist. Der alltägliche Wahrnehmungsbegriff wird damit zum
Ausgangspunkt für eine philosophische Theorie der Wahrnehmung. Warum sollte er das
sein? Auf diese Frage könnte man antworten, dass der alltägliche Wahrnehmungsbegriff
der adäquate Ausgangspunkt für eine Begriffsanalyse ist. Doch dies wiederholt lediglich die
zweite Unterstellung und wir müssen diese Antwort nicht akzeptieren. Weiter könnte man
als Antwort geben, dass vortheoretische Begriffe sich natürlicherweise eben im
Alltagskontext finden lassen und nicht etwa in wissenschaftlichen Kontexten. Dies trifft
aber nicht zu. Auch in wissenschaftlichen Kontexten finden sich vortheoretische Begriffe,
die nicht mit Verwendungsweisen in außerwissenschaftlichen Kontexten übereinstimmen
müssen. Auf die Frage wird schließlich auch gerne geantwortet, dass wir von irgendeinem
Punkt ausgehen müssen und nicht anders können als von unserem alltäglichen
Wahrnehmungsbegriff auszugehen. Verweist man nun auf andere Verwendungskontexte
des Wahrnehmungsbegriffs (etwa auf wissenschaftliche, historische, ethnologische oder
fantastische Kontexte), wird weiter behauptet, dass diese Kontexte von alltagssprachlichen
Kontexten abhängen oder ihnen gegenüber parasitär sind. Warum sollten sich in diesen
Kontexten nicht auch vortheoretische Begriffe finden, die deshalb keineswegs den
vortheoretischen Kontexten anderer Kontexte entsprechen müssen? Lassen wir diese
Fragen auf sich beruhen. Betrachten wir den durch KTS zu analysierenden Begriff als den
vortheoretischen Begriff eines reflektierten Commonsense. Wie lautet KTS in ihren
Grundzügen?
KTS zufolge gilt: S sieht ein Objekt o oder eine Eigenschaft F gdw S’ visuelle
Erfahrungen kausal von einem Sachverhalt abhängig sind, der o bzw. F einschließt. Oder:
S sieht o als F gdw gilt:
(1) S hat eine visuelle Erfahrung E von o als F,
409
(2) o ist F,
(3) E hängt kausal von der Tatsache ab, dass o F ist.
Für das Sehen von o bzw. F oder für das Sehen, dass o F ist, ist es nicht nur eine
notwendige Bedingung, dass o bzw. F vorhanden sind oder dass o F ist, sondern ebenso,
dass die visuelle Erfahrung E von o, F oder oF nicht wäre, wie sie ist, wenn o bzw. F nicht
vorgelegen hätte oder o nicht F wäre. Wie die Dinge visuell erscheinen hängt (im
veridischen Falle) davon ab, wie die Dinge sind. Und diese Abhängigkeit muss
kontrafaktisch sein. Insofern respektiert KTS also NKP.
Betrachten wir nun einen hypothetischen Fall von Sehen in attitudionaler
kontrafaktischer Abhängigkeit.848 Das Hirn des vollkommen blinden Geronimo wird mit
einem Computer so verbunden, dass ein Neurochirurg in Geronimo die visuellen
Halluzinationen von just jenen Szenerien hervorzurufen vermag, die sich tatsächlich vor
seinen
blinden
Halluzinationen.
Augen
Der
abspielen.
Neurochirurg
Folglich
garantiert
hat
die
Geronimo
veridische
attitudionale
visuelle
kontrafaktische
Abhängigkeit der halluzinierten visuellen Wahrnehmung Geronimos von der optischen
Szenerie vor dessen Augen. Solange der Neurochirurg die kontrafaktische Abhängigkeit
aufrecht erhält, sieht der blinde Geronimo die Szenerie vor seinen Augen. Auch die kausale
Abhängigkeit ist gegeben. Geronimo sieht die Szenerie vor seinen Augen in attitudionaler
kontrafaktischer Abhängigkeit, nämlich in Abhängigkeit sowohl von den Szenerien vor
seinen Augen als auch von der Auffassung der Szenerien, die der Neurochirurg ausbildet.
KTS möchte ausschließen, dass Geronimo im beschriebenen Fall sieht. Der Grund
ist ganz einfach der, dass es sich hier nicht um einen normalen kausalen Weg von den
Szenerien zum Wahrnehmungserlebnis handelt. Der reflektierte Commonsense würde
solche Fälle nicht als genuine Wahrnehmungsfälle klassifizieren. Und da KTS sich als
Analyse unseres reflektieren Commonsense-Begriffs des Sehens versteht, muss sie solche
Fälle ebenfalls ausschließen. Um auszuschließen, dass der blinde Geronimo sieht, müssen
veridische visuelle Halluzinationen ausgeschlossen werden. Eine der Aufgaben der
Bedingung (3) besteht darin, solche Halluzinationen auszuschließen.849 Allerdings muss (3)
zu diesem Zweck qualifiziert werden. Nicht jede Art kausaler Abhängigkeit ist ausreichend,
denn auch im Falle Geronimos lässt sich eine kausale Abhängigkeit rekonstruieren. Es
muss sich um die richtige Art kausaler Abhängigkeit handeln.850 Welches ist die richtige Art?
Eine offensichtliche Antwort lautet: Damit E eine visuelle Wahrnehmung sein kann, muss
848 Die Qualifikation „attitudional“ bedeutet, dass die kontrafaktische Abhängigkeit durch die propositionalen
Einstellungen eines intentionalen Wesens vermittelt ist.
849 Vgl. Lewis 1980.
850 Vgl. Strawson 1974.
410
E auf natürliche Weise oder unter normalen Bedingungen von o oder von F verursacht
werden. Damit ist beispielsweise ausgeschlossen, dass über attitudionale Einstellungen
vermittelte kausale Abhängigkeiten zugelassen werden. Daraus ergeben sich zwei
Probleme. Erstens scheinen Angaben darüber, was „normal“ oder „natürlich“ ist von
empirischen Befunden abzuhängen. Das erledigt die Reinheit der Begriffsanalyse. Das
zweite Problem besteht darin, dass die Qualifizierung von Fällen nicht-normaler oder
nicht-natürlicher kausaler Abhängigkeit ausschließt, die der vortheoretische Begriff des
Sehens gerade nicht auszuschließen wünscht, so etwa Fälle des Sehens mit Hilfe von
Spiegeln, Brillen, Mikroskopen oder Teleskopen.
Anstelle der kausalen Abhängigkeit sollten wir auf die biologischen (natürlichen)
Funktionen (3.2.3.) und auf kulturelle (artifizielle) Funktionen (3.2.5.) zurückgreifen, die
beides Echte Funktionen (1.1.4.) sind. Die biologischen Funktionen erläutern auf eine
prinzipielle Weise, was unter „normalen“ oder „natürlichen“ zu verstehen ist. Doch dies
involviert nicht zwingend kausale oder informationale Relationen. Die kulturellen
Funktionen erläutern auf eine prinzipielle Weise, warum das Sehen mit Instrumenten
ebenso ein Sehen gemäß einer Echten Funktion ist wie das Sehen gemäß biologischer
Funktionen. (Allerdings verlangt dies nach einer anderen Behandlungsart des Falles des
blinden Geronimo.) Soviel zur Notwendigkeit der kausalen Bestimmung und der Reinheit
der Begriffsanalyse. Wie steht es nun mit der Wahrnehmungserfahrung als Erfahrung von
der Welt?
5.1.5.3. Superman, Geronimo, Zombies und Olfaktoren
Es ist sicher nicht falsch zu sagen, ein Subjekt sehe, wenn die Dinge oder die Szenerie vor
seinen Augen in ihm direkt entsprechende, passende visuelle Erfahrungen verursachen. Es
fällt schwer, Gegenbeispiele im normalen Verlauf der Dinge zu finden. Selbst
außerordentliche und fantastische Fähigkeiten, wie die visuellen Kräfte des Comic-Helden
Superman, widersprechen dem nicht.851 Wie testen wir, ob Superman tatsächlich durch
Wände sehen kann? Falls Superman in einem Test wiederholt dieselben Beschreibungen
der sichtbaren Szenen hinter einer Wand abgibt, wie sie eine Person gibt, die
unbehinderten visuellen Kontakt zu diesen Szenen hat, sollten wir Superman zugestehen,
dass er diese Szenen sieht und entsprechende Beschreibungen formen, wie etwa:
Superman besitzt übermenschliche visuelle Fähigkeiten, die sowohl den für uns zugänglichen Bereich des
elektromagnetischen Spektrums („Röntgenblick“ und „Infrarotblick“) als auch den Grad der uns erreichbaren
Auflösung weit übertreffen („Mikroskopblick“ und „Teleskopblick“). Mithilfe seines Röntgenblicks sieht er
durch opake Objekte, mit dem Infrarotblick im Dunkeln, mit dem Teleskopblick sieht er in weite Fernen und
mit dem Mikroskopblick auch im atomaren Bereich.
851
411
„Superman sieht, dass Lois Lane einen roten Apfel isst“. Warum glauben wir Superman,
dass er durch Mauern sehen kann? Weil er uns mündliche oder schriftliche Berichte von
den Dingen und Ereignissen hinter der Mauer gibt, die wir auch geben würden, stünde die
Mauer nicht zwischen uns und diesen Dingen. Entscheidend für das Zugeständnis ist
weniger die Tatsache, dass Superman visuelle Erfahrungen hat, sondern dass Superman in
der Lage ist, Beschreibungen sichtbarer Szenen zu geben.852
Wir unterstellen vermutlich, dass Superman visuelle Erfahrungen macht, wenn sein
Röntgenblick durch Wände dringt. Es sind diese Erfahrungen, so könnte man sagen, die er
anschließend beschreibt. Allerdings ist diese Auskunft merkwürdig, denn er beschreibt ja
nicht die Erfahrungen, die er macht, sondern die Dinge, die er sieht bzw. zu sehen glaubt.
Lois Lanes Apfelmahl ist keine Erfahrung von Superman. Wie auch immer, der Punkt hier
und jetzt ist der Folgende: Beschreibungen sind zwar nicht entscheidend für die Tatsache,
dass ein Wesen etwas sieht oder nicht, sie lassen uns aber erkennen, ob ein Wesen etwas
sieht oder nicht. Lebewesen, die nicht über die Fähigkeit der Beschreibung ihrer
Wahrnehmung verfügen, sprechen wir deswegen die Wahrnehmungsfähigkeit nicht ab.
Auch Springspinnen sehen etwas. Und wie das Argument in 5.1.5.2. gezeigt hat, sollten wir
das Sehen von Lebewesen (auch Superman ist ein Lebewesen) keinesfalls von
Beschreibungen abhängig machen.
Wie steht es nun mit einem philosophischen Zombie, der über keine visuellen
Erfahrungen verfügt und dennoch Beschreibungen von sichtbaren Szenen vor seinen
Augen abgibt, die auch eine normale Person abgeben würde, die unbehinderten visuellen
Kontakt zu diesen Szenen hat? Der Zombie hat direkten kausalen Kontakt zu den Szenen,
er kann sie beschreiben und er hat keine visuellen Erfahrungen. Sieht er die Szenen? Oder
nehmen wir den blinden Geronimo. Er leidet an wahren Halluzinationen und hat visuelle
Erfahrungen. Er besteht den Beschreibungstest und offenbar sind die Szenen vor seinen
blinden Augen kausal irgendwie verantwortlich dafür, dass er diese Erfahrungen hat und
diese Beschreibungen gibt. Geronimo kann die Szenen beschreiben, doch er hat künstliche
visuelle Erfahrungen und höchst vermittelten kausalen Kontakt zu den Szenen. Sieht
Geronimo die Szenen? Beim Zombie und bei Geronimo handelt es sich nicht um bloße
852 Dies bedeutet nicht, dass die Berichterstattung ausschlaggebend dafür ist, was (geschweige denn ob) jemand
sieht oder nicht sieht. Es bedeutet lediglich, dass wir die Existenz dieser vom Normalfall abweichenden
Fähigkeit irgendwie überprüfen würden, um glauben zu können, dass es sich um ein Sehen handelt. Wenn
eine Person, wie etwa Natasha Demkina, behauptet, sie würde von ihrer gewöhnlichen Sehfähigkeit zu dem,
was sie als „medical vision“ bezeichnet, umschalten können, so kann man dies durch einen Vergleich
zwischen ihren Berichten über das Innere anderer Personen und Röntgenaufnahmen überprüfen. Dass
Demkina die Überprüfung nicht bestanden hat, bedeutet nicht, dass es nicht möglich ist, auf diese Weise zu
sehen, sondern es bedeutet, dass sie eine Schwindlerin ist. Ebenso würden wir Superman keines Blickes
würdigen, wenn seine teichoskopischen Berichte nicht viel zuverlässiger wären als unsere Vermutungen.
412
Fantasien, sondern um Zuspitzungen von tatsächlichen Fällen. Blindsichtige Patienten
verfügen über keine visuellen Erfahrungen, sie können trotzdem (je nach Art der
Verletzung, die zu ihrer Blindsicht führt) auf spezifische Nachfrage hin die Formen von
Objekten mit einer Zuverlässigkeit bestimmen, die signifikant über Zufallswerte hinaus
geht. Die Analogie zu Geronimo ist diese: Normalsichtige Personen können nicht nur
Ereignisse sehen, die sich in ihrer Umgebung abspielen, sondern auch solche, die in weit
entfernten Gebieten vorfallen oder sogar in der Vergangenheit vorgefallen sind, wenn sie
entsprechende Filmaufnahmen auf einem Bildschirm verfolgen. Mithilfe solcher visueller
Instrumente vermögen wir als „Fern-Seher“ sowohl in räumliche als auch zeitliche
Entfernungen zu sehen, als „Tief-Seher“ winzige Dinge oder das Innenleben anderer
Lebewesen zu sehen. Geronimo oder Superman dramatisieren lediglich diese
Möglichkeiten.
Weder der Zugriff auf eine visuelle Erfahrung (wie der Zombie und der
Blindsichtige nahe legen) noch der unmittelbare kausale Kontakt zu einer Szenerie (wie
Geronimo und visuelle Instrumente nahe legen) scheinen notwendig dafür zu sein, dass wir
einem Lebewesen zugestehen, dass es etwas sieht. Der Grund für diese Zuschreibungen
besteht darin, dass wir nicht umhin können, die Beschreibungen, die die angeführten
Figuren von den visuellen Szenen geben, als Beschreibungen von gesehenen Szenerien
anzuerkennen, weil auch wir Normalsichtigen solche Beschreibungen von denselben
visuellen Szenen geben würden.853 Natürlich möchte ich damit nicht sagen, dass die
Biosemantik alle diese Fälle als Fälle von Sehen akzeptiert, denn so würde auch der
Sumpfmann als Wesen gelten, das etwas sieht. Mir geht es an dieser Stelle bei dem Einsatz
von Fantasiefiguren und Grenzfällen in erster Linie darum, Gegenintuitionen sowohl gegen
die Commonsense-Auffassung des Sehens als auch gegen KTS anzubieten. Weder scheinen
das Element der Wahrnehmungserfahrung noch das auf eine „natürliche“ oder „normale“
Weise qualifizierte Element des kausalen Objekts dazu zu gehören, wenn wir einem Wesen
zugestehen, dass es sieht. Zugespitzt: Wäre Superman ein Zombie (Superzombie), er
vermöchte doch genau zu beschreiben, was der Astronaut Vladim in der Raumstation
Sirius 28 gerade tut. Vladims Partner Michail würde eine kompatible Beschreibung geben.
Warum nun nicht sagen, dass Superzombie ebenso wie Michail sieht, was Vladim gerade
tut?
Ein weiterer Punkt, der gegen KTS spricht, ist dieser: Es gibt keinen notwendigen
Zusammenhang zwischen dem Haben eines bestimmten Typs von sinnlicher Erfahrung
853 Die relative Beschreibungsunfähigkeit des Blindsichtigen lässt sich in der Dramatisierung dieses Falles
durch den Zombie kompensieren. Man kann den Zombie, wie Ned Block es tut, als Superblindsichtigen, d.h.
als partiellen Zombie, darstellen.
413
und einem bestimmten Typ wahrnehmbarer Eigenschaften. Zwar nehmen wir
normalerweise an, dass wir wissen, dass raue Oberflächen rau sind, weil sie sich rau
anfühlen, oder dass rote Dinge rot sind, weil sie rot aussehen. Allein, „normalerweise“
bedeutet
nicht
„notwendigerweise“.
Normalerweise
lösen
bestimmte
sichtbare
Eigenschaften in uns bestimme visuelle Erfahrungen aus. Nur wer die Erfahrung eines roten
Apfels macht, der vor ihm auf dem Tisch liegt, sieht einen roten Apfel. Aber es ist nicht
notwendig, dass der rote Apfel durch eine visuelle Erfahrung wahrgenommen werden
muss. Auf diesen Punkt hat Reid bereits im Inquiry into the Human Mind (1764) hingewiesen.
Reid bemerkt Folgendes:
„The firm cohesion of the parts of a body, is no more like that sensation by which
I perceive it to be hard, than the vibration of a sonorous body is like the sound I
hear: nor can I possibly perceive, by my reason, any connection between the one
and the other. No man can give a reason, why the vibration of a body might not
have given the sensation of smelling, and the effluvia of bodies affected our
hearing, if it had so pleased our Maker. In like manner, no man can give a reason,
why the sensations of smell, or taste, or sound might not have indicated hardness,
as well as that sensation, which, by our constitution, does indicate it. Indeed no
man can conceive any sensation to resemble any known quality of bodies.“854
Reid behauptet, dass zwischen den Erfahrungen von Härte oder Klang einerseits und der
Kohäsion einer Körperoberfläche oder der Vibration eines Hohlkörpers andererseits
keinerlei Ähnlichkeit besteht und dass keine Relation zwischen diesen Arten von
Phänomenen a priori erkannt werden könne. Allerdings sollte man Reid nicht so verstehen,
dass es keine Relationen zwischen Teilen von Sinnesorganen (wie Trommelfell oder Retina)
und Eigenschaften von externen Körpern gibt (wie deren Vibration oder Refraktion), denn
zweifellos gibt es zwischen der Schwingung von Körpern und der Schwingung des
Trommelfells eine Art empirischer Ähnlichkeitsrelation, die wir als Relation der
Isomorphie betrachten können. Doch diese Relationen, und das ist Reids Punkt, sind
keineswegs notwendig für die Wahrnehmung der Härte eines Objekts usw. Denn die
Schwingungen eines Körpers hätten ebenso gut normalerweise Geruchserfahrungen
veranlassen können, wie die Dünste eines Körpers solche des Gehörs. Wir können uns also
intelligente Lebewesen vorstellen, sogenannte „Olfaktoren“, die die Röte eines Apfels nicht
sehen, sondern riechen. Wenn Olfaktoren einen roten Apfel zu Gesicht bekommen, haben
sie olfaktorische Erfahrungen eines Typs, die ein normales Exemplar unserer Art hätte,
wenn es schwefelhaltigen Wasserdampf riechen würde. Olfaktoren urteilen aufgrund dieser
olfaktorischen Erfahrung, dass der Apfel rot ist, wie wir aufgrund unserer visuellen
Erfahrung urteilen, dass der Apfel rot ist. Mit abnehmendem Licht vermindert sich die
854
Reid 1997: 57.
414
Wahrnehmungsfähigkeit der Olfaktoren und bei völliger Dunkelheit vermögen auch sie
den Apfel nicht mehr wahrzunehmen; der Schwefeldampfduft verschwindet. Wenn wir
und diese intelligenten Lebewesen die Farben von Äpfeln beurteilen, kommen wir
größtenteils zu übereinstimmenden Ergebnissen. Sowohl die Olfaktoren als auch wir
verfügen über sinnliche, von externen Objekten verursachte Erfahrungen. Sowohl sie als
auch wir sind in der Lage aufgrund dieser Erfahrungen zuverlässige Urteile über das
Aussehen dieser Objekte abzugeben. Wir sehen den Apfel und wir sehen, dass der Apfel
rot ist. Wie steht es mit den Olfaktoren? Sehen sie den Apfel? Sehen sie, dass der Apfel rot
ist? Dagegen spricht, dass Olfaktoren im Gegensatz zu uns keine visuellen Erfahrungen
haben. Dafür spricht jedoch, dass sie aufgrund ihrer Erfahrungen Urteile über sichtbare
Eigenschaften zu fällen vermögen.
Gegen die Idee, dass Olfaktoren rote Äpfel sehen, könnte man Folgendes
vorbringen: Es ist doch so, dass sich Wesen, um als sehende Wesen gelten zu können,
doch zumindest auf genuin sichtbare Eigenschaften beziehen können müssen. Schwefeldüfte
sind nun einmal keine genuin sichtbaren Eigenschaften, sondern genuin riechbare
Eigenschaften. Olfaktoren riechen Äpfel, aber sie sehen sie nicht. Dagegen ist erstens zu
sagen: Olfaktoren riechen Äpfel nicht in dem Sinne, wie wir sie riechen. Denn Äpfel
riechen für uns nicht nach Schwefel. Ebenfalls riechen sie für Olfaktoren nicht nach
Schwefel, sondern sie sehen für Olfaktoren rot aus. Olfaktoren schließen auch nicht
aufgrund eines Geruchs, dass der Apfel rot ausschaut, ebenso wenig wie wir aufgrund der
Wahrnehmung der Röte darauf schließen, dass der Apfel rot ausschaut. Sowohl wir als
auch die Olfaktoren nehmen die Röte des Apfels direkt wahr. Wenn wir also sagen, dass
Olfaktoren Äpfel riechen, dann meinen wir nicht dasselbe, was wir meinen, wenn diesen
Ausdruck auf unsere olfaktorischen Erfahrungen anwenden. Was meinen wir dann? Nun,
wir meinen mit „riechen“ im Falle der Olfaktoren offensichtlich das, was wir bei uns mit
„sehen“ meinen. Wir meinen damit also, dass Olfaktoren Äpfel sehen. Wichtiger ist die
Frage, was genuin sichtbare Eigenschaften sein sollen. Normalweise definiert man die
fragliche Klasse ostentativ und verweist auf Form und Farbe. Doch wir haben gesehen,
dass Olfaktoren in der Lage sind, Farben olfaktorisch wahrzunehmen (nicht zu riechen, das
können wir auch). Fledermäuse und andere mittels Echolokation navigierende Lebewesen
sind in der Lage, Formen zu hören. Ebenso wie Olfaktoren Farben olfaktorisch
wahrnehmen, können Fledermäuse Formen hören, und Akustiker (eine andere seltsame
Spezies) können Formen akustisch wahrnehmen, so wie wir Formen visuell wahrnehmen.
Begabte Synästhetiker, wie Vladimir Nabokov, besitzen die Fähigkeit Farben zu hören,
415
oder genauer: gefärbt zu hören.855 Farben und Formen sind also weder deswegen genuin
visuelle Eigenschaften, weil sie Bestandteil visueller Erfahrungen sind (denn sie können
auch ein solcher Bestandteil olfaktorischer Erfahrungen sein), noch, weil sie durch die
visuelle Sinnesmodalität wahrgenommen werden (denn sie können auch durch andere
Modalitäten aufgenommen werden bzw. deren Erfahrungen „einfärben“). Vielleicht ist es
besser zu sagen, dass Farbe und Form externer Objekte zwar genuin visuelle Eigenschaften
sind, dass aber diese Eigenschaften, um wahrgenommen zu werden, weder Bestandsteil der
Wahrnehmungserfahrung sein müssen noch durch eine spezifische Sinnesmodalität
repräsentiert werden müssen. Die Wahrnehmung genuin visueller Eigenschaften externer
Objekte ist weder anhängig von einer spezifischen Sinnesmodalität (nämlich einem
visuellen Vermögen, wie es für unsere Art typisch ist) noch von einer spezifischen
Erfahrungstyp (nämlich der visuellen Erfahrung, wie sie für unsere Art typisch ist). Wir
können weitergehend sogar sagen, dass ein Wesen visuelle Eigenschaften wahrnehmen
kann, auch wenn es weder über eine visuelle Modalität noch über visuelle Erfahrungen
verfügt. Die Olfaktoren nehmen Farben wahr, aber sie machen dabei keine visuellen
Erfahrungen. Die Fledermäuse nehmen Formen wahr, aber sie verfügen über kein visuelles
System. Sehen diese Wesen Farben und Formen? Der Anwendungsbereich auch des
reflektierten Commonsense-Begriffs von „sehen“ ist einfach zu unscharf, um auf seiner
Grundlage eine Entscheidung darüber zu fällen, ob der Zombie, Geronimo oder der
olfaktorische Experte den roten Apfel sehen. Und dasselbe trifft auf KTS als Analyse
dieses Begriffs zu.
Ich habe oben gesagt, es sei sicher nicht falsch zu sagen, ein Subjekt sehe, wenn die
Dinge vor seinen Augen in ihm entsprechend passende visuelle Erfahrungen direkt
verursachen. Es ist nicht falsch, so etwas zu sagen, weil es auf die normalen Fälle und für
Mitglieder unserer Spezies zutrifft. Die Anwendung ist für imaginäre Fälle (Zombie,
Geronimo, Olfaktor) jedoch ebenso unklar wie für pathologische Fälle (Blindsicht), für
außergewöhnliche Fälle (Nabokov), für andere Arten (Fledermäuse) und für visuelle
Hilfsmittel (Fernseher). In diesen Fällen fehlt entweder eine passende visuelle Erfahrung
ganz (Zombie, Blindsicht) oder es handelt sich um keine visuelle Erfahrung (Olfaktor,
Fledermaus) oder die kausale Relation zum gesehenen Objekt entbehrt der gewünschten
raumzeitlichen Direktheit (Geronimo, Fernseher).
855 „On top of this I present a fine case of colored hearing. Perhaps ‘hearing’ is not quite accurate, since the
color sensation seems to be produced by the very act of my orally forming a given letter while I imagine its
outline. […] The word for rainbow, a primary, but decidedly muddy, rainbow, is in my private language the
hardly pronounceable: kzspygv.“ (Nabokov 1967: 34f.)
416
Ich betrachte die vorhergegangenen Überlegungen als ausreichend, um die Idee zu
motivieren, dass eine Theorie der Wahrnehmung nicht nur NKP als notwendigen
Bestandteil einer Analyse des Wahrnehmungsbegriffs fahren lassen darf, sondern auch den
Ansatz
bei
Wahrnehmungserfahrungen
und
die
Idee
einer
Analyse
des
Wahrnehmungsbegriffs. Ich möchte nun zeigen, warum eine Wahrnehmungstheorie diese
Momente nicht nur fahren lassen darf, sondern es auch sollte.
417
5.2. Innenperspektive und Außenperspektive
5.2.1. Sehen als Prozess in der Welt und als Erfahrung von der Welt
Das Sehen nimmt beim Menschen einen besonderen Stellenwert ein. Der besondere
Stellenwert des Sehsinns für den Menschen zeigt sich nicht nur darin, dass er der biologisch
herausragende oder der praktisch nützlichste, sondern auch darin, dass er der ästhetisch
ansprechendste und der theoretisch vorzüglichste Sinn ist. Philosophische Theorien des
Sehens interessieren sich für das Sehen als Erfahrung von der Welt und dessen Relation zu
physischen oder materiellen Objekten (Ontologie), zum phänomenalen Erleben
(Phänomenologie) und zum Wissen (Epistemologie). Dabei war und ist die
Auseinandersetzung
mit
naturwissenschaftlichen
(physiologischen,
optischen,
psychologischen, neurologischen oder biologischen) Theorien des Sehens häufig auch ein
Motor der philosophischen Theoriebildung.856
Die visuelle Wahrnehmung zeichnet sich durch verschiedene Arten von
Spannungen aus, die sie philosophisch interessant machen. Das Sehen ist, wie andere
Formen der Wahrnehmung, ein Prozess in der raumzeitlichen Welt. Durch das Sehen hat
die Umwelt Zugang zum Lebewesen. Eine philosophische Theorie der Wahrnehmung
könnte von außen ansetzen und Wahrnehmung primär als Prozess in der Welt betrachten.
Das Sehen ist aber auch eine Erfahrung von der raumzeitlichen Welt. Durch das Sehen hat
das Lebewesen Zugang zur Umwelt. Der überwiegende Teil philosophischer Theorien der
Wahrnehmung setzt von innen an und bemüht sich um ein Verständnis der Wahrnehmung
als Erfahrung von der Welt. Aus dieser Perspektive – der Innenperspektive – erscheint das
Sehen als Prozess in der Welt einfach als empirisch-naturwissenschaftliche Perspektive –
der Außenperspektive – auf die Wahrnehmung.
Das metatheoretische Ziel einer biosemantischen Theorie der Wahrnehmung besteht
darin, den Ansatz der Innenperspektive hinter sich zu lassen und den Ansatz aus der
Außenperspektive als einen philosophischen – naturalistischen – Ansatz auszuweisen. Das
theoretische Ziel besteht anschließend in der Artikulation einer biosemantischen Theorie der
Wahrnehmung. Zuerst muss also die Innenperspektive kritisiert und die Außenperspektive
856 Hermann von Helmholtz bemerkte zu Recht: „Der Punkt an dem sich Philosophie und
Naturwissenschaften am nächsten berühren, ist die Lehre von den sinnlichen Wahrnehmungen des
Menschen.“ (Helmholtz 1971: 48)
418
nobilitiert werden. Dies geschieht in diesen Abschnitt 5.2. Im nächsten Abschnitt 5.3. wird
die biosemantische Theorie der visuellen Wahrnehmung artikuliert.857
Von Außen kann das Sehen als Prozess, wie andere biologische Vorgänge auch,
dadurch bestimmt werden, dass seine Funktion charakterisiert wird. Einer gängigen
kognitionswissenschaftlichen Überzeugung zufolge besteht die Funktion des Sehens in der
Aufnahme visueller Information aus der Umwelt zur Steuerung des Verhaltens und es kann
als Quelle von Wissen, Überzeugungen und Wünschen dienen. In einem jüngeren
Standardwerk wird visuelle Wahrnehmung definiert als „Prozess des Erwerbs von Wissen
über Objekte und Ereignisse in der Umwelt durch die Extraktion von Informationen aus
dem Licht, das jene ausstrahlen oder reflektieren“.858 Die visuelle Wahrnehmung
unterscheidet sich von anderen Formen der Wahrnehmung durch den Informationsträger
Licht (mit Objektoberflächen als Reflektoren) und durch das informationsverarbeitende
visuelle System. Das visuelle System (von Wirbeltieren) besteht nicht nur aus Augen (mit
Netzhaut bzw. Retina), sondern auch aus der Sehbahn (mit Sehnervenkreuzung bzw.
Chiasma opticum), Teilen des Zwischenhirns (mit seitlichem Kniehöcker bzw. Corpus
geniculatum laterale) und Teilen der Großhirnrinde (Sehrinde bzw. visueller Cortex). Der
Aufbau des Auges ist verantwortlich für die Entstehung eines retinalen Reizmusters
(Retinabild), das verschiedene Verarbeitungsstufen (Bild, Oberfläche, Objekt, Kategorie)
durchläuft.859 Das visuelle System zeichnet sich durch funktionale Spezialisierung und
durch verteilte Codierung aus.860 Zahlreiche Hirnareale sind an der Verarbeitung visueller
Reize und der Herstellung visueller Wahrnehmungen beteiligt. Die Außenperspektive wird
nun vorwiegend durch Verweise auf empirische Theorien der Wahrnehmung
charakterisiert. Diese können grob in vier Gruppen unterteilt werden: konstruktivistische
oder kognitivistische Theorien,861 komputationalistische Theorien,862 Gestalttheorien863 und
ökologische Theorien.864
Die basale Unterscheidung zwischen Außenperspektive (Sehen als Prozess in der Welt) und
Innenperspektive (Sehen als Erfahrung von der Welt) ist sicher zunächst metaphorisch. Ich kann nicht sehen,
dass hier eine Definition oder präzise Charakterisierung dieser beiden Perspektive einen großen theoretischen
Nutzen bringen wird. Intuitiv ist die Unterscheidung sicher fassbar und sie wird sich im Verlauf der
Diskussion verschärfen.
858 Palmer 1999: 5.
859 Vgl. Marr 1982; Palmer 1999: 24-43, 85-93; Goldstein 2002: 41-145.
860 Yantis 2001, 2-3.
861 Richard Gregory oder Irving Rock vertreten die Auffassung, dass Wahrnehmungen Hypothesen über die
Welt sind. Wahrnehmung ist mit wissenschaftlicher Forschung vergleichbar: Man bildet aufgrund der
vorhandenen Reize Hypothesen über den Ursprung der Wahrnehmung, prüft, bestätigt usw. die Hypothesen
(vgl. Bruner 1957; Rock 1985; Gregory 1980; Palmer 1999). Zahlreiche philosophische Positionen sind vom
Konstruktivismus maßgeblich beeinflusst worden, so etwa Goodmans Nominalismus oder Kuhns
Wissenschaftstheorie.
862 Neuere kognitive (oder komputationale) Theorien versuchen Wahrnehmungstheorien im Anschluss an das
Model von David Marr in Analogie zu Computermodellen auszuformulieren (vgl. Marr 1982).
857
419
Von philosophischer Warte aus wird nun gemeinhin gesagt, dass es sich bei solchen
Wahrnehmungstheorien bloß um empirische Theorien handelt, d.h. um Theorien, die
Wahrnehmungen als kausale Prozesse im Reich der Naturgesetze behandeln und die als
Inputs für behaviorale Outputs betrachtet werden können. Demgegenüber hat es die
Philosophie der Wahrnehmung mit Erfahrungen von der Welt zu tun, die nicht nur
Ursachen sondern Gründe für (bestimmte Arten von) Überzeugungen und Handlungen geben.
Die philosophische Betrachtung der Wahrnehmung ist also der empirischen Betrachtung
gegenüber zumindest begrifflich unabhängig, wenn nicht sogar begrifflich vorrangig.
Sekundär stellt sich die Frage, zu welchen empirischen die philosophischen
Wahrnehmungstheorien (in irgendeinem Sinne) passen. Ich habe bereits darauf
hingewiesen, dass ich die Unterscheidung zwischen einem Reich der Naturgesetze und
einem Reich der Gründe für dubios halte (2.4.). Sie dient eher als Gesprächsstopper, denn
als Einsichtengenerator. Ein Biologischer Naturalismus (2.3.) muss weder die
Vollständigkeit der Disjunktion noch die Unvereinbarkeit der Bereiche akzeptieren.
Andererseits kann es sich bei einer Betonung der Außenperspektive nicht einfach darum
handeln, irgendeine empirische Wahrnehmungstheorie als Grundlage zu akzeptieren und
darauf aufbauen philosophische Fragestellungen anzugehen. Dies wäre naiv. Vielmehr
handelt es sich bei dieser Betonung eines Ansatzes bei der Außenperspektive darum, den
Externalismus der Biosemantik auch methodisch ernst zu nehmen.
Was ist mit der „Innenperspektive“ gemeint, mit dem Sehen als Erfahrung von der
Welt? Die Innenperspektive bietet sich vielen philosophischen Wahrnehmungstheorien als
selbstverständlicher Ausgangspunkt an. Was mit dieser „Innenperspektive“ gemeint ist,
863 Die Gestaltpsychologie wies im frühen 20. Jh. die Idee zurück, dass Wahrnehmungen aus isolierten Reizen
konstruiert werden. Im Mittelpunkt steht die These, dass nicht einzelne Empfindungen, sondern
ganzheitliche Gebilde (Gestalten) Gegenstand der Wahrnehmung sind. Die durch Husserl begründete
Phänomenologie, die sich als Erforschung der intentionalen Struktur des Bewusstseins versteht, hat sich in
Anlehnung an die Gestaltpsychologie der Wahrnehmung angenommen. In phänomenologischer Perspektive
wird in der Beschreibung des Sehens eine ganze Reihe konstitutiver Faktoren relevant, wie etwa
Zeitbewusstsein, Raumerfahrung, Aufmerksamkeit, Leiblichkeit, Handlungsabsichten, Kommunikation und
Lebenswelt. Insbesondere Merleau-Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung entwickelt, vor dem Hintergrund
der Gestaltpsychologie, eine die Leiblichkeit betonende Wahrnehmungstheorie und kritisierte sowohl
empiristische als auch rationalistische Theorien (vgl. Merleau-Ponty 1945; 2003: 10-23).
864 Gibson entwarf eine ökologische Psychologie, dessen zentraler Begriff der schwierig zu übersetzende
Kunstausdruck „affordance“ ist. Ich werde weiter unten auf diesen Begriff zurückkommen und ihn mit
„Eignung“ übersetzten (vgl. Gibson 1979). Nach Gibson ist Wahrnehmung kein inferenzieller Prozess,
sondern die direkte Aufnahme relevanter Information aus der Umwelt. Einem aktiven Lebewesen sind alle
Informationen in der Umwelt zur Verfügung, das Retinabild ist ein künstlich eingeschränkter Ausgangspunkt.
Wahrnehmungen sind direkt, nicht vermittelt über Schlüsse oder Hypothesen. Wahrnehmungen werden nicht
aus Empfindungen konstruiert. Visuelle Illusionen stellen jedoch ein Problem für die ökologische Theorie
dar; ebenso Fragen der neuronalen Realisierung. Im Anschluss an ökologische und phänomenologische
Ansätze gewinnen in der Philosophie zusehends biologische, handlungs- und leiborientierte (embedded and
embodied) Theorien des Sehens an Bedeutung (Vgl. Noë 2004; Matthen 2005; VM).
420
kann durch einen beinahe beliebigen Aufsatz zur Wahrnehmungsphilosophie der letzten
Jahrzehnte illustriert werden. Hier ein Beispiel von Matthew Nudds:
„Suppose that you are looking at a vase of flowers on the table in front of you.
You can visually attend to the vase and to the flowers, noticing their different
features: their colour, their shape and the way thea are arranged. In attending to the
vase, the flowers and their featuresm you are attending to mind-indepentend
objects and features. Suppose, now, that you introspectively reflect on the visual
experience you have when looking at the vase of flowers. In doing so, you might
notice various features of your experience, for example that individual petals on
the flowers a difficult to distinguish. Althought in introspection your interest is in
the character of your experience, your attention is still to the objects of your
experience – to the mind-independent vase and the flowers. Since attending to
your experience involves attending to mind-independent objects and features of
your experience, your experience seems introspectively to involve those mindindependent objects and features. In general, then, when we introspect a visual
experiential episode, it seems that we are related to some mind-independent object
or feature that is present and is a part, or a consitutent, of the experience.“865
Das Zitat hilft uns, drei Merkmale herauszustellen, die aufscheinen, wenn man die
Innenperspektive wählt. Erstens erscheinen uns aus der Innenperspektive die Dinge und
deren Merkmale direkt gegeben. Dies ist das Merkmal der Unmittelbarkeit. Zweitens
bemerken wir nicht einerseits Merkmale von Objekten und Merkmale der Wahrnehmung,
sondern die Wahrnehmung erscheint uns als ein einheitlicher Vorgang.866 Dies ist das
Merkmal der Einheitlichkeit. Schließlich präsentiert uns unsere Wahrnehmung die Dinge und
deren Merkmale als vom betrachtenden Geist unabhängig. Dies ist das Merkmal der
Objektivität. Ich werde im Folgenden aufzeigen, dass die grundlegende Spannung jene
zwischen einer Außenperspektive und einer Innenperspektive ist, und zwar, indem sie auf der
Seite der Innenperspektive wiederholt wird. Und ich werde dafür argumentieren, dass ein Ansatz
bei der Außenperspektive philosophisch sowohl legitim als auch angezeigt ist, indem ich
auf drei Probleme verweise, die sich ergeben, wenn die Innenperspektive bevorzugt wird.
Das erste Problem betrifft die Unmittelbarkeit (5.2.2.), das zweite die Einheitlichkeit (5.2.3.)
und das dritte die Objektivität der Wahrnehmung (5.2.3.). Ich will dabei deutlich machen,
dass der Ansatz bei der Innenperspektive ganz grob mit zwei unterschiedlichen Titeln
versehen werden kann. Ist der Ansatz „humeanisch“ konzentriert er sich auf die
Konstruktion von Objekten aus Sinnesdaten (wie etwa bei Ayer). Ist der Ansatz
Nudds 2009: 334.
Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass die auch in Nudds Beschreibung stillschweigend in Anspruch
genommene These von der Transparenz der Erfahrung keine Behauptung darüber darstellt, was
Wahrnehmungen notwendigerweise sind, sondern nur, was sie normalerweise sind (5.1.3.4.). Ob die
Wahrnehmungserfahrung transparent ist, hängt davon ab, worauf wir unsere geistige Aufmerksamkeit
richten. Der Satz „Although in introspection your interest is in the character of your experience, your
attention is still to the objects of your experience“ richtet die Aufmerksamkeit darauf, dass „individual petals
on the flowers“ nur schwieirg unterscheidbar sind. Doch ebenso gut können wir unsere Aufmerksamkeit
darauf richten, dass die individuellen Blütenblätter für uns „difficult to distinguish“ sind.
865
866
421
„kantianisch“ so fokussiert er die Konstitution von Objektivität in der Wahrnehmung (wie
etwa bei Strawson). Doch in beiden Fällen bleibt der Ansatz bei der Innenperspektive als
Erfahrung von der Welt. Dem möchte ich einen Ansatz gegenüberstellen, den man
(ähnlich grob) als „aristotelisch“ bezeichnen kann. Dieser Ansatz begreift Wahrnehmung
primär als einen Prozess in der Welt. Dabei handelt es sich jedoch nicht in erster Linie um
einen Prozess im Sinne der empirischen Erforschung der Gesetzmäßigkeiten von
Wahrnehmungsprozessen, wie sie die Wahrnehmungsphysiologie und -psychologie
unternehmen. Der aristotelische Ansatz der Biosemantik begreift Wahrnehmungen
vielmehr als Fähigkeit und Tätigkeit von Lebewesen. Die philosophische Untersuchung der
Wahrnehmung sollte also nicht bei unserer Wahrnehmungserfahrung ansetzen, sondern bei der
Tatsache, dass Wahrnehmung eine Fähigkeit und Aktivität von Lebewesen ist.
5.2.2. Erstes Problem der Innenperspektive: Unmittelbarkeit
Aus der Innenperspektive, der Perspektive der Erfahrung von der Welt, entspringt der
besondere Stellenwert des Sehens seiner Unmittelbarkeit, Einheitlichkeit und Objektivität.
Dies zeigt sich etwa im Vergleich zu anderen Sinnesmodalitäten. Wir hören ein Objekt
(etwa eine Glocke) via die Geräusche, die es erzeugt, wir riechen ein Objekt (etwa einen
Apfel) via die Gerüche, die es verströmt, doch wir sehen ein Objekt nicht via sein Aussehen
oder via seine Erscheinung, sondern unmittelbar. Wir schmecken etwas nur in unserem
Mund, betasten einen Gegenstand nur an einer bestimmten Stelle, doch wir sehen Objekte
nicht nur in Relation zu unserem Körper, sondern auch in ihren gegenseitigen objektiven
Relationen. Sehend haben wir unmittelbaren Zugang zur Welt und die Objekte dieser Welt
scheinen uns ohne vermittelnde Zwischenglieder als objektiv und vollständig zugänglich.
Im Sehen ist uns also eine von uns unabhängige Welt gegenwärtig. Das Sehen versetzt uns,
wie es scheint, in direkten Kontakt mit den uns umgebenden Objekten. Allgemein
erscheint uns das Sehen als unmittelbare Erfahrung von außerhalb von uns existierenden
Objekten in einer um das sehende Subjekt zentrierten, einheitlichen raumzeitlichen Welt.867
Weiterhin akzeptieren die meisten Theorien des Sehens eine Kausalbedingung: Ein Subjekt
sieht ein Objekt nur dann, wenn das Objekt eine Ursache der visuellen Erfahrung des
Subjekts ist.868
Offenbar befinden sich die Perspektive auf die Wahrnehmung als einer Erfahrung
von der Welt und die Perspektive auf die Wahrnehmung als eines Prozesses in der Welt in
867
868
Strawson 1979: 97.
Vgl. Grice 1989; Vision 1997.
422
einer gewissen Spannung. Sowohl der Konstruktivismus als auch der Kognitivismus
beschreiben die Wahrnehmung als einen komplexen Prozess, der ausgehend von einer
unterbestimmten und unsteten informationalen Grundlage diese Grundlage in mehreren
Verarbeitungsstufen anreichert und so unser visuelles Bild der Welt herstellt. Doch für das
wahrnehmende Subjekt stellt sich die visuelle Wahrnehmung nicht so dar. Ihm eröffnet
sich unmittelbar eine reichhaltige und detaillierte Welt. Weder ein verarmter Input noch
Ebenen der Verarbeitung oder die Konstruktion eines visuellen Bildes gehören zu diesem
Offensein für die Welt.
Auf der anderen Seite lassen sich die Unmittelbarkeit und Objektivität der visuellen
Wahrnehmung
leicht
Wahrnehmungsirrtümer
als
trügerisch
spielen
in
erweisen.
Sinnestäuschungen
Wahrnehmungstheorien
eine
wichtige
und
Rolle.
Insbesondere der Sehsinn ist anfällig für Täuschungen, Ambiguitäten und sogar für
Paradoxien.869 Seit der Antike spielen Illusionen und Halluzinationen für das
philosophische Nachdenken über die Sinneswahrnehmung eine entscheidende Rolle.870
Daraus ergeben sich zwei weitreichende Fragen, die die Unmittelbarkeit bzw. die
Objektivität des Sehens betreffen. Die epistemologische Frage lautet: Ist die visuelle
Wahrnehmung objektiv zuverlässig? Die phänomenologische Frage lautet: Welches sind die
unmittelbaren
Objekte
der
visuellen
Wahrnehmung?
Natürlich
gibt
es
einen
Zusammenhang zwischen den beiden Fragen. Wenn die unmittelbaren Objekte der
visuellen Wahrnehmung Sinnesdaten sind, was berechtigt uns dann zu der Annahme,
Wahrnehmungen würden von dauerhaften und geistunabhängigen Objekten handeln?
Dennoch interessiert mich die epistemologische Frage, die den Skeptizismus betrifft, an
dieser Stelle nicht weiter. Welche Antworten stehen der phänomenologischen Frage zur
Verfügung? Nach einer weit verbreiteten Meinung sind es drei grundsätzliche Antworten:
„Es gibt drei Wahrnehmungstheorien, die um philosophische Anhängerschaft
konkurrieren: den direkten Realismus, den Repräsentationalismus und den
Phänomenalismus. Jede von ihnen kann als Antwort auf folgende Frage aufgefasst
werden: Was ist das direkte oder unmittelbare Objekt unseres Geistes, wenn wir
wahrnehmen?“871
869 Wie etwa perspektivische Täuschungen, Spiegelungen, Lichtbrechungen, Regenbogen, Mondillusion,
Träume, Krankheiten, Halluzinogene, Necker-Würfel, Müller-Lyer-Täuschung, Machbänder, Ames-Räume,
Hohlmasken, Escherbilder usw. Vgl. dazu Gregory 2001: 237-307.
870 Eine Illusion kann man als eine Wahrnehmungssituation auffassen, in der zwar ein physisches Objekt
wahrgenommen wird, aber anders erscheint als es wirklich beschaffen ist. Eine Halluzination kann als eine
Wahrnehmungssituation verstanden werden, in der ein Objekt und Eigenschaften wahrgenommen werden,
ohne dass ein entsprechendes physisches Objekt vorhanden wäre.
871 Armstrong 1966: ix.
423
Direkte Realisten glauben, die Objekte der Wahrnehmung seien die physischen Objekte
selbst, die unabhängig existieren. Die anderen beiden Theorien gehen davon aus, dass es
sich bei den unmittelbaren Objekten der Wahrnehmung nicht um physische Objekte
handelt, sondern um erfahrene Objekte (Sinnesdaten). Phänomenalisten sind der Ansicht,
physische Objekte seien regelmäßige Muster tatsächlicher oder möglicher Kombinationen
von
Sinnesdaten,
die
nicht
unabhängig
von
der
Wahrnehmung
existieren.872
Repräsentationalisten oder indirekte Realisten873 meinen, dass wir zwar eine Welt
physischer Objekte wahrnehmen, aber wir tun dies lediglich indirekt, vermittelt über
Sinnesdaten (oder Repräsentationen), die von externen Objekten verursacht werden.874 Es
ist nun wichtig zu sehen, dass man die hier angesprochene zu den drei skizzierten
Optionen führende Spannung zwischen der Unmittelbarkeit und Objektivität der
Wahrnehmung auf der einen Seite und den Illusions- und Halluzinationsargumenten auf
der anderen Seite auf eine Spannung zurückführen muss, die sich innerhalb unserer
Erfahrung von der Welt verorten lässt. Ein Blick auf Jerry Valbergs ingeniöse Exposition
des Problems der Wahrnehmung hilft, diesen Punkt zu fassen.
Valberg zufolge gibt es ein genuines Rätsel der Erfahrung.875 Dieses Rätsel ist ein
Ausdruck einer Spannung zwischen Erscheinung und Welt. Die Dinge in der Welt
erscheinen uns auf unterschiedliche Weisen, doch was uns erscheint, ist eine Welt der
Dinge. Diese erscheint uns am direktesten im Sehen. Nichts ist für uns (normalerweise) so
robust, wie die sichtbare Welt der Dinge, mögen sich die Dinge in der Welt auch noch so
oft und noch so schnell verändern. Die Robustheit der Welt zeigt sich am deutlichsten,
wenn und indem wir sie sehen. Wir sagen deshalb bisweilen, dass wir etwas erst glauben,
wenn wir es sehen. Dennoch hat diese Welt in der Reflexion eine Tendenz, sich zur
Erscheinung zu verflüchtigen. Sie wird zum Schein gegenüber dem, was wirklich ist (sie
wird zu einer Scheinwelt) oder sie ist nichts als ein Schein (sie wird sozusagen zu einem
Weltschein). Worin nun besteht das Rätsel? Valberg formuliert die Spannung, die dieses
Rätsel verursacht, wie folgt:
Vgl. Ayer 1940.
Vgl. Jackson 1977.
874 Warum sollten das physische und das erfahrene Objekt unterschieden werden? Anlass gibt das Argument
von der Sinnestäuschung. Die wohl kürzeste Form dieses Arguments stammt von David Hume: Der Tisch,
den wir sehen, scheint kleiner zu werden, wenn wir uns weiter von ihm entfernen; aber der wirkliche Tisch,
der unabhängig von uns existiert, erleidet keine Veränderung: Es war somit nur ein Bild, das dem Geist
gegenwärtig war (vgl. Wild 2008b). Das gesehene Objekt wird kleiner, wenn wir uns von ihm entfernen, doch
das physische Objekt verändert sich nicht. Also ist dem Subjekt nur ein Bild (Idee, Vorstellung, Sinnesdatum,
Perzept) des physischen Objekts gegenwärtig, nicht das physische Objekt selbst. Für eine elaborierte Form
des Arguments vgl. Robinson 1994: 151ff.
875 Vgl. Valberg 1992.
872
873
424
„We can reason about our experience, or we can (as I shall say) be open to it – that
is, to how things are in our experience. If we follow a certain line of reasoning
about our experience, we are led to the conclusion that the object of experience is
not part of the world, an external object. However, if we are open to our
experience, all we find is the world. So, if we reflect in the right ways, we get pulled
first in one direction and then another. This, very simply, is the puzzle.“876
Mit „certain line of reasoning“ meint Valberg Illusions- und Halluzinationsargumente. Die
Konklusion solcher Argumente lautet, dass das Objekt der Erfahrung nicht Teil einer
äußeren Welt ist. Solche Argumente machen im Wesentlichen drei Schritte:
1.
Schritt der Kausalität. Wir beginnen beim kausalen Element der Wahrnehmung.
Äußere (materielle, physikalische) Dinge verursachen vermittelt über die Sinne
und das Hirn eine Wahrnehmung dieser Dinge.
2.
Schritt der Skepsis. Wir nutzen eine Möglichkeit aus, die das kausale Element zur
Verfügung stellt, indem wir zeigen, dass die Dinge irrelevant sind für die
Wahrnehmung von Dingen sind.
3.
Schritt der Generalisierung. Aufgrund dieser Möglichkeit schließen wir, dass nicht
die Dinge in unserer Wahrnehmung gegenwärtig sind. Solche Argumente sollen
zeigen, dass die Dinge in der Welt nicht die direkten Objekte unserer
Wahrnehmung sind.
Mit dem Offensein für die Welt meint Valberg die folgende These W: „The world (external
objects) is (are) present in experience.“877 W ist nun scheinbar weniger eine Konklusion
eines Arguments, sondern vielmehr eine gemeinhin implizit akzeptierte These. Es ist
wichtig, den Status von W nicht falsch zu verstehen. Es könnte ja zunächst so aussehen,
dass sich mit den Illusions- oder Halluzinationsargumenten auf der einen und mit W auf
der anderen Seite, eine reflektierte philosophische Perspektive und die naive Alltagssicht
gegenüberstehen. Doch beides sind reflektierte philosophische Positionen, denn W stellt
überhaupt erst als Reaktion auf die philosophisch durchaus anspruchsvollen Illusions- oder
Halluzinationsargumente eine Position dar. Diese Position wird etwa als „naiver
Realismus“ bezeichnet. Durch Illusions- und Halluzinationsargumente wird ein
wesentliches Merkmal unserer Alltagssicht erkennbar. Das Offensein für die Erfahrung
von der Welt ist keine Ausgangsposition, sondern das Ergebnis der Reflexion auf unsere
Erfahrung von der Welt. Die Einsicht in die Offenheit stellt sich nicht ein, indem wir auf
876
877
Valberg 1992: 3.
Valberg 1992: 42.
425
philosophische Reflexion verzichten – Wie könnte es dann eine Einsicht sein? – , sondern
sie ist das Ergebnis philosophischer Reflexion.878
Es gibt in der Philosophie eine verbreitete Reaktion auf dieses Rätsel, die darin
besteht in etwa das Folgende zu sagen: Wir sollten einfach darauf verzichten, von einem
kausalen Prozess in der Welt zu meiner Erfahrung von der Welt überzugehen. Dieser
Übergang gleicht einem Kategorienfehler. Es gibt zwar eine kausale Erklärung für die
Prozesse, die von Objekten über das Auge zum Gehirn führen, allein der letzte Schritt,
dass dieser Prozess in einer Wahrnehmungserfahrung endet (diese verursacht) ist falsch.
Eines sind die körperlich-kausalen Prozesse, ein anderes ist unsere Erfahrung. Diese
Reaktion ist problematisch. Das kausale Element, dem zufolge äußere Dinge die
Wahrnehmungen dieser Dinge verursachen, ist nun Valberg zufolge keine Dreingabe,
sondern Bestandteil meiner Erfahrung von der Welt. Verzichte ich auf das kausale
Element, so verzichte ich auf einen Bestandteil meiner Erfahrung der Welt. Wir können
das kausale Bild nicht einfach fallen lassen und so tun, als könnten wir W davon freihalten.
Der Schritt (1) der Kausalität, der zu den Illusions- und Halluzinationsargumenten führt,
gehört zu W. Die Trennung dieser Elemente nimmt auseinander, was in W
zusammengehört. Damit kann W ebenso wenig von problematisierenden Überlegungen in
Schutz genommen werden, wie man ein Lebewesen vor Nierenleiden durch die ersatzlose
Entfernung der Nieren in Schutz nehmen kann. Valberg nennt das kausale Element „the
causal picture of experience“.879 Es gehört zu W, dass die Dinge in der Welt unter
bestimmten Bedingungen unsere Sinne kausal beeinflussen. Dieses kausale Element muss
von der KTS, die ich oben kritisiert habe, unterschieden werden. Das kausale Element ist
kein Ausdruck einer philosophischen Analyse der Wahrnehmung, die hinreichende und
notwendige Bedingungen für das Vorliegen einer Wahrnehmung nennt, sondern es ist ein
Bestandteil von W. Das Rätsel, von dem Valberg spricht, entspringt somit einem internen
Konflikt: „We live with the world present to us, yet our picture of the world includes
something (the causal picture of experience) on the basis of which we can prove that the
world is not present to us.“880
Vgl. Valberg 1992: 21f. Und ibid. 29: „Thus the antinomy is a function of the fact that my experience is a
subject-matter on which I can reflect in two very different ways. There is the indirect way: reasoning, in terms
of the causal picture of experience, to a conclusion about how things are in my experience. And the direct
way: simply being open to how things are in my experience. […] When, having reached the conclusion of the
problematic reasoning, I become open to my experience, everything looks as before. And, in a real sense,
everything is as before. I already knew the object present to me was a book. Nothing has changed, yet things
are different: I am open to what I already knew. The conclusion of the reasoning is overthrown.“
879 Valberg 1992: 10.
880 Valberg 1992: 45. Man sollte hier nicht einwenden, dass wir diesen Konflikt einem neuzeitlicheuropäischen Weltbild zu verdanken hätten. Das kausale Bild der Wahrnehmung ist nicht allein integraler
Bestandteil des Weltbildes der Neuzeit. Es ist auch Bestandteil anderer Weltbilder, wie der Rekurs
878
426
Bei der von Valberg angesprochenen Spannung zwischen W (der Offenheit der
Welt in der Erfahrung) und den Illusions- oder Halluzinationsargumenten handelt es sich
jedoch nicht um eine Spannung zwischen der Innenperspektive auf die Wahrnehmung als
einer Erfahrung von der Welt und der Außenperspektive auf die Wahrnehmung als eines
Prozesses in der Welt. Vielmehr handelt es sich um eine Wiederholung dieser Spannung
auf der Seite der Innenperspektive. Ich sage deshalb, dass es sich auf der Seite der
Innenperspektive wiederholt, weil sowohl die Motivation für die phänomenologische Frage
als auch Valbergs Rätsel erst vor dem Hintergrund der Art und Weise verständlich werden,
wie sich uns die Welt in der visuellen Wahrnehmung zeigt, nämlich als unmittelbare
Erfahrung von außerhalb von uns existierenden, unabhängigen Objekten in einer um uns
zentrierten raumzeitlichen Welt. Zu diesem Bild der Dinge gehört ein kausales Element,
das die Spannung zwischen W und der Bestreitung von W veranlasst. Der springende
Punkt besteht darin, dass die Anhaltspunkte, die zu Valbergs Rätsel führen, alle aus der
Innenperspektive gewonnen werden. Diese Struktur der Wiederholung der Spannung
zwischen Außen- und Innenperspektive auf der Seite der Innenperspektive findet sich auch
in der philosophischen Diskussion um die Natur der Farben. Um dem grundsätzlichen
Gedanken, um den es hier geht, nämlich den der Wiederholung der Spannung zwischen
Innen- und Außenperspektive auf der Seite der Innenperspektive, mehr Kontur zu
verleihen, werde ich mich kurz der Geografie der gegenwärtigen philosophischen
Farbdebatten zu.
Die innenperspektivische Unmittelbarkeit des Sehens zeigt sich insbesondere an
Farben. Farben sind dem Betrachter in normalen Wahrnehmungsumständen gleichsam
ganz und gar offenbar. Was Gelb ist, erfährt man am besten, indem man beispielsweise
eine reife Zitrone ansieht. Doch es stellt sich die Frage, was Farben sind. Sind Farben
Eigenschaften materieller Objekte oder Eigenschaften des Betrachters dieser Objekte?
Wenn Farben Eigenschaften physischer Objekt sein sollen, müssen sie physikalisch
beschreibbar sein. Einige Wissenschaftler und Philosophen bestreiten, dass Farben
ausschließlich physikalisch (unabhängig vom Betrachter) beschrieben werden können. Aus
unterschiedlicher Epistemologien auf das kausale Bild belegt. Wie in den Epistemologien und Optiken
griechischer Atomisten (bei Demokrit), arabischer Ärzte (bei Ibn al-Haytham), chinesischer Daoisten (bei
Dschung Dsi) oder indischer Buddhisten (bei Dharmakirti; zu Dharmakirti vgl. Dunne 2004, 84f. Ebenso
wenig ist W eliminierbar. Zwar werden wir nicht mit einem bestimmten Weltbild geboren, sondern wir
erwerben ein Weltbild. Wenn wir jedoch darüber nachdenken, wie wir überhaupt ein Weltbild erwerben (wir
erwerben z.B. von anderen ein durchschnittliches ontologisches Inventar und eine Sprache für dieses
Inventar), so müssen wir W unweigerlich voraussetzen. Wir können, wenn wir überhaupt irgendein Weltbild
erwerben, es nicht ohne W erwerben. W ist kein beliebiger Teil eines beliebigen Weltbildes, der sich als
illusionärer Teil herausstellen könnte, sondern W haben wir akzeptiert, sobald wir überhaupt ein Weltbild
erworben haben. Vgl. Valberg 1992; 49: „The process of acquiring a picture of the world and the process of
coming to accept (W) are one and the same process.“
427
diesem Grund existieren unterschiedliche Farbtheorien.881 Philosophische Farbtheorien
unterscheiden sich zunächst durch die Bestimmung der Natur von Farbe. Dem
„Subjektivismus“ zufolge sind Farben geistige Eigenschaften visueller Zustände, physische
Objekte hingegen sind nicht farbig. Für den „Relationalismus“ sind Farben Relationen
zwischen Subjekten und physischen Objekten, etwa Dispositionen physischer Objekte
bestimmte Farbwahrnehmungen auszulösen. Der „Objektivismus“ behauptet, dass Farben
physische Eigenschaften von Objekten sind. Das Spektrum reicht also von rein
betrachterabhängigen zu rein betrachterunabhängigen Theorien, der Relationalismus
umfasst Mischformen. Und wie im Falle der phänomenologischen Frage nach dem
unmittelbaren Objekt der Wahrnehmung gibt es ein Analogon zum naiven Realismus, das
wie dieser durch die fehlgeleiteten Theorien hindurch zu einem geläuterten Standpunkt der
Offenheit der Welt in der Erfahrung zurückkehren möchte: Dem „Primitivismus“ zufolge
sehen wir Farben als primitive Eigenschaften in der Welt, die nicht auf physikalische
Eigenschaften reduziert werden können.882
Wie auch immer man die Natur der Farben bestimmt, man muss auch eine
Erklärung dafür geben, wie Farben als Eigenschaften von Objekten gesehen werden, denn
in der Unmittelbarkeit des Sehens als Erfahrung von der Welt werden Farben als
Eigenschaften wahrgenommen, die zu äußeren Objekten gehören, sie werden sozusagen als
intrinsische Eigenschaften gesehen. Reife Zitronen sind gelb. Warum erscheint uns das
Gelb als intrinsische Eigenschaft der Zitrone selbst? Diese Frage stellt sich in erster Linie
subjektivistischen Farbtheorien, denen zufolge Farben ja Eigenschaften visueller Zustände
sind. Einige Subjektivisten sind Sinnesdatentheoretiker. Objekte scheinen einfach deshalb
farbig zu sein, weil sie durch Sinnesdaten konstituiert werden. Der indirekte Realismus
hingegen fasst Farben als Sinnesdaten auf, die (nicht-farbige) physische Eigenschaften von
Objekten repräsentieren. Wir sind uns der Objekte indirekt visuell bewusst, indem wir sie
indirekt via Farben sehen. Die räumlichen Eigenschaften der Sinnesdaten fungieren als
Indikatoren der räumlichen Eigenschaften der physischen Objekte. Ein Einwand lautet,
dass es äußerst unklar ist, was Sinnesdaten sein sollen und wie sie sich zu räumlichen
Eigenschaften von Objekten verhalten. Und warum sollten wir überhaupt annehmen, dass
Sinnesdaten die direkten Objekte der Wahrnehmung sind? Der Adverbialismus bietet eine
Alternative. Adverbialisten betrachten Farben nicht als Sinnesdaten, d.h. nicht als direkte
Objekte der visuellen Wahrnehmung, vielmehr sehen wir physische Objekte direkt. Doch
deren Farbigkeit ist eine Eigenschaft unseres Sehens. Wir sehen die Zitrone gleichsam
881
882
Vgl. Byrne und Hilbert 1997.
Vgl. Byrne und Hilbert 2007.
428
gelblich, wobei „gelblich“ eine adverbiale Modifikation des Sehens ist. Für Objektivisten
und Relationalisten stellt sich die Frage, wie wir Farben als Eigenschaften äußerer Objekte
sehen, scheinbar weniger dringend. Sie müssen sich zur Frage äußern, ob Farben direkt
gesehen werden oder vermittelt über geistige Eigenschaften der visuellen Wahrnehmung.
Ist das Gelb der Zitrone ganz und gar eine Eigenschaft des physischen Objektes oder
nicht? Zahlreiche Objektivisten sind Repräsentationalisten oder Intentionalisten und
vertreten die Ansicht, dass visuelle Wahrnehmungen keine geistigen Eigenschaften
aufweisen, außer den direkt repräsentierten Farben der physischen Objekte. Unsere
Wahrnehmung ist auf diese Farbeigenschaften hin transparent. Farben sind also
repräsentierte Eigenschaften physischer Objekte. Wir sehen die Zitrone als gelb, weil sie
gelb ist. Wir haben bereits gesehen, dass die Transparenz der Wahrnehmung kein
besonders guter Motivator für diese Auffassung ist (5.1.3.4.). Ein weiterer Einwand lautet,
dass uns nicht alle Farben als Eigenschaften von Objekten erscheinen (Nachbilder, das
Blau des Himmels) und dass nicht alle Objekte mit derselben Farbe (Gelb) dieselbe
Oberflächeneigenschaften besitzen (Zitronen und Fotos von Zitronen). Für den
Relationalisten sind Farben (beispielsweise) Dispositionen von Objekten, bestimmte
visuelle Wahrnehmungen auszulösen. Entsprechend müssen Farbwahrnehmungen auch
durch geistige Eigenschaften charakterisiert werden. Wir sehen die Zitrone als gelb, weil sie
in uns eine Gelbwahrnehmung auslöst. Ein Einwand lautet, dass wir nicht bloß
Dispositionen sehen, sondern aktuelle Eigenschaften von Objekten, und dass uns Farben
nicht wie Relationen erscheinen, sondern als nicht-relationale Eigenschaften von Objekten.
Ökologische Farbtheorien, eine wichtige Spielart des Relationalismus, nehmen den
Umstand ernst, dass das Farbsehen ein Produkt der Evolution ist und je nach biologischer
Art verschieden ausfällt. Artspezifische Farbwahrnehmungen erfüllen bestimmte
biologische Funktionen innerhalb bestimmter ökologischer Nischen. Farben sind
Relationen zwischen Lebewesen und Objekten in ihrer Umwelt. Die Funktion der
Farbwahrnehmung ist die Diskriminierung von Objekten vor Hintergründen oder die
Diskriminierung von Objektoberflächen. Weil dies die Funktion ist, nehmen Lebewesen
Farben als Eigenschaften von Objekten wahr. Ein Einwand lautet, dass Farben mit
diskriminatorischen Reaktionen bestimmter Organismen auf ihre Umwelt gleichgesetzt
werden, was aber nichts mit unserem unmittelbaren Sehen von Farben zu tun zu haben
scheint.883
883 Vgl. Thompson 1995; Matthen 2005. Ökologische Farbtheorien unterhalten natürlich die größte Affinität
zu einer biosemantischen Theorie der Wahrnehmung. Allerdings gehen Vertreter dieser Theorien nicht auf
die metatheoretische Frage des richtigen Ansatzes für eines Wahrnehmungstheorie ein.
429
Hier wiederholt sich nun nicht allein die Struktur der Antworten auf die
phänomenologische Frage, sondern auch, und zwar wiederum auf der Seite der
Innenperspektive, die Spannung zwischen der Perspektive auf die Wahrnehmung als einer
Erfahrung von der Welt und der Perspektive auf die Wahrnehmung als eines Prozesses in
der Welt. Die Wiederholung findet deshalb auf der Seite der Innenperspektive statt, weil
das primäre Problem für alle philosophischen Farbtheorien erst vor dem Hintergrund der
Art und Weise verständlich wird, wie sich uns Farben aus der Innenperspektive zeigen, nämlich
als intrinsische Eigenschaften von außerhalb von uns existierenden Objekten in einer um
uns zentrierten raumzeitlichen Welt. Im Sehen als Erfahrung von der Welt ist die Welt
(sind externe Objekte) in der Erfahrung „präsent“ (wie Valberg im Hinblick auf W sagt).
Allerdings enthält dieses Bild der Erfahrung von der Welt, Elemente (wie etwa das kausale
Element), die Anlass dazu geben, sowohl an der Unmittelbarkeit als auch an der
Objektivität Zweifel zu hegen. Formen des Indirekten Realismus (etwa des Relationalismus
in den Farbtheorien) sind Weisen, Zweifel an der Unmittelbarkeit zu erheben. Formen des
Phänomenalismus (etwa des Subjektivismus in den Farbtheorien) sind Weisen, solche
Zweifel an der Objektivität vorzubringen. Doch beide Positionen müssen auf die eine oder
andere Art und Weise mit W in Übereinstimmung gebracht werden. Andererseits müssen
Formen des Direkten Realismus (wie etwa der Objektivismus in der Farbtheorie) mit den
Illusions- und Halluzinationsargumenten zu Rande kommen, die sich aus Elementen von
W ergeben. Der springende metaphilosophische Punkt bleibt jedoch der folgende: Diese
Spannungen ergeben sich aus der Innenperspektive bzw. aus der Wiederholung des
Problems der Vermittlung zwischen der Perspektive auf die Wahrnehmung als einer
Erfahrung von der Welt und der Perspektive auf die Wahrnehmung als eines Prozesses in
der Welt auf der Seite der Innenperspektive. Der naive Realist und der Farbprimitivist
sehen diesen metaphilosophischen Punkt nicht und meinen, sie würden sich auf die Seite
des Commonsense schlagen. In Tat und Wahrheit beharren sie einfach auf W, ohne zu
sehen, dass W eine reflektierte philosophische Position ist, die sich ebenfalls aus dem
Ansatz bei der Innenperspektive ergibt. Sie betrachten die Reaktion auf skeptische
Argumente, nämlich W, fälschlich als natürliche Einstellung, die solche Argumente
ungerechtfertigterweise hinter sich lassen.
Das erste Problem der Innenperspektive besteht also im Folgenden: Der Ansatz bei
der Innenperspektive ist ein Ansatz bei der Erfahrung von der Welt, in der uns Objekte in
der Welt unmittelbar präsent scheinen, doch er führt mit einem geringen Aufwand an
Reflexion dazu, dass uns diese Unmittelbarkeit ständig entgleitet, sei es im Hinblick auf die
phänomenologische Frage, sei es im Hinblick auf die Natur der Farben. Offenbar führt der
430
Ansatz bei der Innenperspektive also zu widersprüchlichen Auffassungen über die
Wahrnehmung. Wenn ein Ansatz zu widersprüchlichen Auffassungen führt und ein
alternativer Ansatz zur Verfügung steht, dann sollte man sich diesem alternativen Ansatz
zuwenden.
5.2.3. Zweites Problem des Innenperspektive: Einheitlichkeit
Die Rede vom Sehen als einer Erfahrung von der Welt suggeriert, dass es sich beim Sehen
um ein einheitliches Phänomen handelt. Die Innenperspektive ist zunächst und zumeist die
Perspektive normaler erwachsener Denker (5.2.4.). Dies suggeriert, dass es sich beim Sehen
als einer Erfahrung von der Welt eigentlich um Urteile über die Welt, um implizite
Beschreibungen der Welt, um die spontane Anwendung von Begriffen auf die
Sinneseindrücke oder um das Erfassen von Propositionen handelt – kurz: um ein Sehendass. Beide Ideen zusammen genommen, nämlich die Idee der Innenperspektive als jene
normaler Erwachsener und die Idee, dass Sehen für normaler Erwachsene immer Sehendass ist, führen zu der dritten Idee, dass es sich beim Sehen als einer Erfahrung von der
Welt um ein einheitliches Phänomen handelt. Sehen ist einfach eine besondere Form des
Denkens normaler Erwachsener. Descartes beispielsweise, der mit großer Bestimmtheit bei
der Innenperspektive ansetzte, hat diese Folgerung explizit gezogen. Die Wahrnehmung ist
eigentlich eine Tätigkeit des Intellekts. Nun möchte ich behaupten: Der Ansatz bei der
Innenperspektive führt dazu, dass die Wahrnehmung (das Sehen) vereinheitlicht und
überintellektualisiert wird. Ich wende mich in diesem Abschnitt kurz dem Problem der
Vereinheitlichung zu. Im nächsten Abschnitt werde ich mit der Überintellektualisierung
unter dem Titel „Objektivismus“ zuwenden.
Es können verschiedene Ebenen des Sehens unterschieden werden. So hat Dretske,
wie wir gesehen haben (5.1.5.2.), nicht-epistemisches Sehen (das Sehen von Objekten oder
Eigenschaften) und epistemisches Sehen (Sehen von Tatsachen oder das Sehen-dass)
unterschieden. Um eine Zitrone zu sehen muss ein Subjekt weder Begriffe auf ein Objekt
anwenden noch Urteile über es fällen, sondern das Objekt muss lediglich auf eine
bestimmte Weise aussehen und visuell unterscheidbar sein. Epistemisches Sehen heißt
Sehen, dass etwas der Fall ist, dass das Subjekt glaubt oder urteilt, dass X eine Zitrone ist.
Veridisches epistemisches Sehen ist Wissen.884
884
Vgl. Dretske 1969.
431
Zweitens kann man mit der Existenz von NBI von einem nicht-begrifflichen Sehen
sprechen (das nicht mit dem nicht-epistemischen Sehen verwechselt werden darf).885 Für
die Existenz von NBI sprechen, wie gezeigt (5.1.5.2.), beispielsweise die visuellen
Fähigkeiten von (mutmaßlich nicht über Begriffe verfügenden) Tieren, die Unabhängigkeit
dessen, was wir sehen, von Überzeugungen über das Gesehene oder die Reichhaltigkeit
und Feinkörnigkeit visueller Erfahrungen. Auch empirische Befunde sprechen für die
Existenz von NBI. Zu den wichtigsten dieser empirischen Entdeckungen gehört die
Existenz eines ventralen VS und eines dorsalen VS, wobei das ventrale System für das
Sehen von Objekten zuständig zu sein scheint (für das „Was“), das dorsale hingegen für
das Verhalten (für das „Wo“ oder „Wie“).886 Die Entdeckung dieser Systeme kann mit der
Idee verbunden werden, dass das Sehen unterschiedliche Arten von Repräsentationen mit
NBI involviert.887 Allerdings ist der Begriff des NBI, wie gesagt, vieldeutig.
Weiter kann man eine Art von Sehen unterscheiden, die Richard Wollheim „Sehenin“ (auch „Darstellungssehen“) genannt hat. Ein Subjekt sieht in X (dem Medium) ein Y
(ein Objekt), z.B. in dieser Anordnung von Öl auf Leinwand eine Zitrone. Wollheim
zufolge sehen wir ein Bildobjekt Y stets in diesem Sinne, ein Bild sehen, heißt Y in X zu
sehen. Und wenn wir in X ein Y sehen, dann sehen wir immer beides, X und Y, zugleich.888
Davon unterschieden werden muss das durch Wittgenstein diskutierte und durch
die Kippfigur des Hasen-Enten-Bild illustrierte „Sehen-als“ (auch „Aspektsehen“). Wir
sehen nicht zugleich einen Hasen und eine Ente, sondern wechseln plötzlich vom einen
Aspekt zum anderen, und wir sehen nicht nur Aspekte in bildlichen Darstellungen, sondern
z.B. auch in Gesichtern, Landschaften, Situationen usw. Dabei sehen wir nicht „eine
Eigenschaft des Objekts, es ist eine interne Relation zwischen ihm und anderen
Objekten“.889 Das Sehen-als ist reichhaltiger als das einfache Sehen oder das Sehen-dass
und ähnelt doch dem Denken. Einige Autoren haben Wittgensteins Bemerkungen zum
Aspektsehen als Sehtheorie verstanden: Sehen ist immer ein Sehen-als, und Sehen-als ist
eigentlich Sehen-dass. Diese Tendenz kann auch unabhängig von Wittgenstein festgestellt
werden. Da es sich beim Sehen im normalen Sinn dieses Ausdrucks stets um ein Sehen von
etwas als etwas handle, können alle Formen des Sehens auf Arten des durch Urteile,
Begriffe oder Proportionen zu charakterisierenden Sehens verstanden werden. Ebenso
kann man also Wollheims Darstellungssehen als besonderen Fall des Sehen-dass verstehen:
Vgl. Gunther 2003.
Vgl. Milner und Goodale 1995.
887 Vgl. Jacob und Jeannerod 2003.
888 Wollheim 1980: 192-210. Konsequenterweise sehen wir Wollheim zufolge kein Bild, wenn wir ein Trompel’œil sehen, solang wir nicht durchschauen, dass es sich um ein Trompe-l’œil handelt.
889 Vgl. Wittgenstein, PU II.xi (Wittgenstein 1984ff., Bd. 1).
885
886
432
Wir urteilen, dass diese und diese Anordnung von Ölflecken eine Zitrone darstellt. Und
schließlich haben einige Autoren dafür argumentiert, dass Wahrnehmung auf der
personalen Ebene stets ein Sehen-dass ist.
Die Vereinheitlichung des Sehens könnte natürlich als Vorteil aufgefasst werden.
Wir haben ja gesehen, dass philosophische Erklärungen wesentlich mit Vereinheitlichungen
zu tun haben (2.3.). Allerdings glaube ich, dass es sich hier nicht um eine genuine Form der
Vereinheitlichung handelt. Vielmehr handelt es sich um die Verallgemeinerung eines
voreingenommenen Ansatzes bei der Innenperspektive. Dies wird im folgenden Abschnitt
deutlich werden.
5.2.4. Drittes Problem der Innenperspektive: Überintellektualisierung
In einer Anmerkung zur oben (5.2.1.) zitierten Passage über das Sehen einer Vase mit
Blumen kommentiert Nudds den Ansatz bei der Innenperspektive wie folgt:
„Strawson is right when he suggests that a theory of perceptual experience should
start from the fact that ‚mature sensible experience (in general) presents itself as, in
Kantian phrase, an immediate consciousness of the existence of things outside us.’
(1979:77).“890
Was Nudds und Strawson hier empfehlen, ohne dafür zu argumentieren, ist ein
voreingenommener Ansatz bei der Innenperspektive. Nudds verweist hier auf einen
Aufsatz von Strawson, der sich kritisch mit der Wahrnehmungstheorie von Alfred Jules
Ayer auseinandersetzt. Strawson wirft Ayer vor, dass dieser zwar richtig unsere Erfahrung
von der Welt als Ausgangspunkt für eine Untersuchung der Wahrnehmungserfahrungen
und ihrer Relation zu Objekten in der Welt nehme, dass er diesen Ausgangspunkt jedoch
entstelle. Das Argument gegen Ayer funktioniert deshalb, weil beide den empfohlenen
Ansatz bei der Innenperspektive teilen. Beide versäumen es jedoch gleichermaßen, für
diesen Ansatz zu argumentieren. Betrachten wir uns dieses instruktive Paar genauer.
Ayer geht davon aus, dass sinnliche Erscheinungen (Sinnesdaten, Sinnesinhalte,
Sinneseindrücke, Qualia, Perzepte, usw.) die unmittelbaren Objekte der Wahrnehmung
sind. Welche Relation besteht zwischen sinnlichen Erscheinungen und den materiellen
Dingen wie Tischen oder Äpfeln, die zu einem überwiegenden Teil unsere Alltagswelt
bevölkern, und die deshalb als paradigmatische Dinge betrachtet werden können?891 Ayer
argumentiert zugunsten der Unabhängigkeit der Erscheinungen von materiellen Dingen in
890
891
Nudds 2009: 334 n2.
Ayer 1973: 68f.
433
der Wahrnehmung. Dies bedeutet keineswegs, dass materielle Dinge wahrgenommen
würden, oder dass diese Dinge auf Erscheinungen reduzierbar wären (wie der
Phänomenalismus behauptet), vielmehr können Ayer zufolge erst auf der Basis von
Erscheinungen Wahrnehmungsurteile über materielle Dinge gefällt werden, da die
Alltagswelt materieller Dinge aus den Erscheinungen allererst konstruiert werden muss.
Aus der Sicht von Ayers Konstruktivismus, die er als „raffinierten Realismus“ bezeichnet,
verhalten sich Wahrnehmungserfahrungen und Objekte in der Welt wie Daten zu
Theorien. Die Sinneserfahrungen sind die Daten, aus denen wir die objektive Welt
konstruieren.892
Strawson betont nun, dass der Ansatz für eine Theorie des Wahrnehmung in einer
adäquaten Beschreibung der sinnlichen Erfahrung eines erwachsenen, reifen Menschen
bestehen müsse, denn das Ziel der philosophischen Analyse besteht ja darin, die
Voraussetzungen für die zentralen Komponenten unserer Wahrnehmung der Welt
herauszuarbeiten, über die beispielsweise ein Kleinkind noch nicht verfügen dürfte. Bei
diesen Komponenten handelt es sich natürlich um die Unmittelbarkeit, die Einheitlichkeit
und die Objektivität sowohl der Wahrnehmung als auch der wahrgenommenen Objekte in der
Außenwelt. Zweitens müsste Ayer zufolge diese adäquate Beschreibung unserer reifen,
sinnlichen Erfahrung unabhängig von Beschreibungen sein, die auf die genannten zentralen
Komponenten zurückgreifen. Strawson bestreitet, dass Ayers Ansatz beide Bedingungen
erfüllt. Wenn wir einen beliebigen Erwachsenen bitten, seine sinnlichen Erfahrungen zu
beschreiben, ohne für seine Beschreibungen beanspruchen zu wollen, tatsächlich Urteile
über unmittelbar wahrgenommene, einheitliche, objektive Dinge und deren Merkmale zu
fällen (also gleichsam unter Bedingungen der Epoché rein phänomenologisch zu
beschreiben), so würde er seine sinnliche Erfahrung ganz einfach so beschreiben, als würde
er die Welt der materiellen Dinge beschreiben.893 Doch damit bringt der Beschreibende
bereits jene Komponenten in Anschlag, von denen die sinnliche Erfahrung für sich genommen
Ayer zufolge doch frei sein soll, da sie aus ihr erst konstruiert werden sollen. Eine adäquate
Beschreibung der sinnlichen Erfahrung bringt also bereits jene Komponenten (Strawson
892 Ayers frühe Theorie der Wahrnehmung bestand in einer Form eines Phänomenalismus, demzufolge
sämtliche Aussagen über materielle Dinge in Aussagen über aktuelle oder mögliche Erscheinungen – Ayer
spricht von „Sinnesdaten“ oder „Sinnesinhalten“ (sense-contents) – übersetzbar sind (Ayer 1940). Auf dem Weg
zu seiner späten Theorie verwirft Ayer zwar seine frühere Idee einer Reduktion materieller Dinge auf
Erscheinungen, verteidigt jedoch auch in seiner späteren „raffinierten Realismus“ (Ayer 1973) nach wie vor
die Auffassung, dass Wahrnehmungsurteile über die materielle Welt durch sinnliche Erscheinungen, die er
nun als „Qualia“ (Universalien) und als „Perzepte“ (partikuläre Qualia) bezeichnet, gerechtfertigt werden
müssen, gegen die Auffassung, dass empirische Urteile und Aussagen nur durch etwas gerechtfertigt werden
kann, was selbst die Form von Urteilen oder Aussagen hat, gegen Angriffe auf die Intelligibilität der
Unterscheidung zwischen materiellen Dingen und Erscheinungen (wie sie Austin vorgebracht hat) und gegen
privatsprachliche Argumente vom Schlage Wittgensteins (vgl. Ayer 1969).
893 Vgl. Strawson 1979: 97ff.
434
nennt sie „Begriffe“) in Anschlag, die wir auch in unsere Beschreibungen der Welt
materieller
Objekte
in
Anschlag
bringen.
Beschreibungen
unserer
Wahrnehmungserfahrungen haben also denselben Inhalt wie Beschreibungen unserer
Wahrnehmungsurteile. Diese Überlegung soll zeigen, dass Ayer den Ausgangspunkt seiner
Analyse von Anfang an entstellt und dass die Ebenen der sinnlichen Erscheinungen und
der materiellen Objekte nicht voneinander getrennt werden können. Somit fällt Ayers
Analogie von Datensatz und Theorie, denn in die Daten, die eine Theorie stützen oder
durch sie erklärt werden sollen, dürfen die zentralen Komponenten der Theorie nicht
eingehen. Genau dies tun sie aber im Falle einer adäquaten Beschreibung unserer
normalen, erwachsenen sinnlichen Erfahrung.
Während Ayer das Bild vorschwebt, dass wir in dem, was wir in
Wahrnehmungsurteilen
beschreiben,
über
dasjenige,
was
wir
in
der
Wahrnehmungserfahrung vorfinden, hinausgehen, suggeriert Strawson ein Bild, in dem wir
von unseren gewöhnlichen Wahrnehmungsurteilen lediglich einen Schritt zurücktreten, um
unsere Erfahrung zu beschreiben. Doch natürlich finden wir dabei die Komponenten des
alltäglichen Weltbildes sowohl in den Wahrnehmungsurteilen als auch in den
Wahrnehmungserfahrungen vor. In Strawsons Bild kann man sagen, dass der begriffliche
Rahmen unserer Alltagssicht unhintergehbar ist. Er ist nicht aus etwas Gegebenem
konstruiert, wie Ayer meint, sondern „something given within the given“.894
Zusammengefasst kann man sagen: Ayer konstruiert materielle Wahrnehmungsobjekte aus
Wahrnehmungserfahrungen, Strawson meint, dass zentrale Komponenten der Objektivität
für die Wahrnehmungserfahrung selbst konstitutiv sind. Man kann Ayers Ansatz als
„humeianisch“ und Strawsons Ansatz als „kantianisch“ bezeichnen.
Wichtiger als die Differenzen zwischen Ayer und Strawson ist in unserem
Zusammenhang die folgende Gemeinsamkeit. Beide stimmen darin überein, dass eine
philosophische Untersuchung der Wahrnehmung bei der Frage nach der Relation zwischen
Dingen in der Welt und der Erscheinung dieser Dinge für uns ansetzen muss und dass eine
solche Untersuchung bei der Wahrnehmung als Erfahrung von der Welt ansetzen muss. Ayer
betrachtet die Sinnesdaten als semantische und epistemische Basis unseres alltäglichen
Bildes der Dinge. Auch wenn Strawson diese Auffassung zurückweist, so teilt er doch
Ayers generelle explanatorische Richtung: Die Grundkomponenten desjenigen, worüber
unsere Wahrnehmungen handeln (nämlich die materiellen Dinge und deren Merkmale)
sollen in den Inhalten der Wahrnehmung normaler, erwachsener Personen vorgefunden
werden, entweder im Sinne einer Konstruktion von Objekten aus vorobjektiven
894
Strawson 1979: 97.
435
Wahrnehmungserfahrungen
oder
im
Sinne
einer
Konstitution
von
Wahrnehmungserfahrungen durch zentrale Komponenten der Objektivität. Bei beiden
Autoren findet sich somit ein explanatorischer Vorrang der Erfahrung von der Welt, sei
dies nun ein Vorrang der reinen Erfahrung (Sinnesdaten) oder der begriffenen Erfahrung
(Begriffsschema). Es handelt sich bildlich gesprochen um eine Erklärungsrichtung von
Innen nach Außen, von einem Inhalt, der dem Subjekt oder den Subjekten (unvermittelt
oder vermittelt) gegeben ist, zu den Objekten der sinnlichen Erfahrung. Man kann diese
Erklärung von Innen nach Außen „internalistisch“ nennen. Diese internalistische
Erklärungsrichtung behauptet einen methodischen, semantischen und epistemischen
Vorrang der Wahrnehmungserfahrung, d.h. sie beginnt bei der Innenperspektive.
Weshalb, um auf Nudds zurückzukommen, haben Strawson und Ayer Recht, wenn
sie nahelegen, „that a theory of perceptual experience should start [from the] mature
sensible experience […] of the existence of things outside us“? Man könnte antworten:
Weil die zentrale Frage der Philosophie der Wahrnehmung die Frage nach dem Verhältnis
zwischen Wahrnehmungserfahrung und -objekten ist. Aus diesem Grunde sollte man
erstens
bei
der
Wahrnehmungserfahrung
ansetzten
und
zweitens
bei
der
Wahrnehmungserfahrung normaler, erwachsener Personen. Aber warum? Würde die
zentrale Frage lauten, welches das Verhältnis zwischen den Wahrnehmungserfahrungen
normaler, erwachsener Personen und ihrer Auffassung von Objektivität ist, so könnte man
verstehen, warum man bei normalen, erwachsenen Personen und deren Auffassung von
Objektivität ansetzt. Doch selbst hier stellt sich die Frage, warum man bei den Erfahrungen
und Auffassung dieser Subjekte ansetzt und nicht bei den Objekten der Wahrnehmung oder
bei den Aktivitäten von Wahrnehmungssubjekten überhaupt. Wichtiger ist der Punkt, dass
die Frage der Philosophie der Wahrnehmung ja nicht allein auf die Wahrnehmung
normaler, erwachsener Personen zielen kann. Wir schreiben nicht nur uns und anderen
normalen, erwachsenen Personen, sondern auch zahlreichen Tieren Sinneswahrnehmungen
zu. Und es spricht zunächst nichts dagegen, dies zu tun – außer der Ansatz bei der
Innenperspektive.
Der Ansatz bei der Erfahrung normaler, erwachsener Personen, wie ihn Strawson
und Nudds fordern, nimmt zweierlei für entschieden an, ohne dafür Argumente zu liefern.
Erstens den Ausgangspunkt bei der Erfahrung als einem Zustand und zweitens den
Ausgangspunkt bei der Erfahrung als einem Zustand normaler, erwachsener Personen. Natürlich
kann man immer entgegnen, dass es doch zunächst einmal darum gehen müsse zu klären,
was Wahrnehmung für uns bedeute. Abgesehen von der Zirkularität dieser Entgegnung,
birgt dieses Vorgehen die Gefahr der Überintellektualisierung der Wahrnehmung. Man
436
beginnt bei einem bestimmten anspruchsvollen Fall (Wahrnehmung normaler, erwachsener
Personen), expliziert die in diesem Fall hervorstechenden Elemente (sei es der
Konstruktion oder der Konstitution) und gelangt dahin, die dem bestimmten Fall
entnommenen Elemente als konstitutiv für Wahrnehmung überhaupt bzw. andere Formen
der
Wahrnehmung
als
derivativ
gegenüber
dem
Ausgangsfall
zu
verstehen.
Überintellektualisierung von X entsteht also durch die Übertragung der hervorstechenden
Elemente eines anspruchsvollen Sonderfalles von X auf das Ganze von X. Das ist keine
saubere Analyse, sondern schlechtes induktives Denken. Schlecht, weil die Ausgangsbasis
(das „sample“) weder ausreichend weit (die Innenperspektive eines Subjekts) noch
ausreichend gestreut (die Innenperspektiven normaler, erwachsener Subjekte) ist. Diese
Form der Überintellektualisierung findet sich nicht nur in der Philosophie der
Wahrnehmung, sondern auch in anderen Gebieten der Philosophie des Geistes und der
Erkenntnistheorie. Ich will diesen wichtigen Punkt der Überintellektualisierung am Beispiel
der Debatte zwischen epistemischem Internalismus und epistemischem Externalismus
illustrieren.
Der Leitgedanke des epistemologischen Internalismus lautet, dass es für Wissen
unabdingbar ist, dass ein Subjekt für eine Überzeugung, die als Wissen gelten können soll,
weitere Überzeugungen braucht, die sich auf die erste Überzeugung beziehen. Es genügt
nicht, eine Überzeugung zu haben, sondern sie muss in den Augen des Subjekts als
Überzeugung besonderer Art betrachtet werden können, z.B. als eine gerechtfertigte
Überzeugung. Damit eine Überzeugung ein Wissen sein kann, muss das Subjekt also etwas
über diese Überzeugung wissen – oder besser: Das Subjekt muss der Faktoren gewahr sein
oder gewahr sein können die der Überzeugung z.B. eine Rechtfertigung verleihen. Die
Versuchung ist nun groß, den Externalismus einfach als Negation des Internalismus zu
verstehen und zu sagen, er bestreite, dass rechtfertigende Faktoren dem Subjekt bewusst
oder zugänglich sein müssen.
Wenn ich im vorhergegangenen Absatz von einem Subjekt gesprochen habe, so
wird man dabei meistens an normale, erwachsene Personen gedacht haben. Manche
Autoren sind hier so expliziet wie Laurence BonJour:
„The most generally accepted account is that a theory of justification is internalist if
and only if it requires that all of the factors needed for a belief to be epistemically
justified for a given person be cognitively accessible to that person, internal to his
cognitive perspective…“895
895
BonJour 1992: 132.
437
Aber es geht doch um ein Verständnis von Wissen und was Wissen von einer nur zufällig
wahren Meinung unterscheidet (wobei die Aufklärung des Begriffes der Rechtfertigung
lediglich ein besonderer Weg ist, zu einem solchen Verständnis zu gelangen). Warum
sollten nun das Verb „wissen“, das Substantiv „Wissen“ und damit verwandte Ausdrücke
nur auf Personen anwendbar sein? Katzen sehen und hören Mäuse. Deshalb wartet die Katze
vor dem Loch, in dem die Maus verschwunden ist. Sie weiß, wo die Maus verschwunden
ist. Hasso, der Hund, sieht seine Futterschüssel, er sieht also, dass die Schüssel dort vor
ihm steht, er weiß, wo die Schüssel steht. Hans, der Häher, erinnert sich, wo er die Kerne
vergraben hat, nämlich in der rechten Geschirrhälfte. Er weiß, an welcher Stelle er die
Kerne vergraben hat. Sowohl Hans als auch Hasso sind mittels ihrer kognitiven Vermögen
auf die richtige Weise mit bestimmten Dingen oder Sachverhalten verbunden. Diese
Verbindung führt dazu, dass Hans und Hasso wissen, wo die Schüssel steht bzw., dass die
Kerne in der rechten Hälfte vergraben sind, doch weder Hasso noch Hans wissen, dass sie
auf die richtige Weise mit einem bestimmten Ding oder Sachverhalt verbunden sind, sie
können weder die Qualität ihrer kognitiven Vermögen noch der aufgenommene
Information beurteilen. Alle diese Dinge sind ihrer subjektiven Perspektive nicht
zugänglich, was uns dennoch nicht daran hindert zu sagen, dass Tiere wie Hans oder Hasso
etwas wissen. Es macht deshalb den Anschein, dass die von Internalismus geforderte
Zugänglichkeit für das Subjekt unerheblich für Wissen ist. Tiere sind eben so gute Subjekte
von Wissenszuschreibungen wie Personen. Der Externalismus sollte nicht primär als
Negation der scheinbaren Default-Position des Internalismus verstanden werden, sondern
als Position, die die Überintellektualisierung der Internalisten mit Verweis auf tierliche
Subjekte
nicht
ohne
Weiteres
durchlassen
möchte.896 Es
ist
klar,
dass
die
Überintellektualisierung auch hier darin besteht, dass ein anspruchsvoller Sonderfall X (das
Wissen normaler, erwachsener Personen) und dessen hervorstechende Elemente (kognitive
Zugänglichkeit von Rechtfertigungsgründen) als das Ganze von X (Wissen) verstanden
wird. Das ist schlechtes induktives Denken, denn weder ist die Ausgangsbasis ausreichend
weit noch ausreichend gestreut.
Vielleicht möchten Internalisten der Wahrnehmung, des Wissens usw. behaupten,
dass es ihnen nur um den Sonderfall geht, und dass man Tieren ihretwegen eine andere Art
von Wahrnehmung, Wissen usw. zuschreiben darf. Doch Antworten dieses Typs sind aus
zwei Gründen unbefriedigend. Erstens geht damit die Behauptung einher, dass es zwei
Arten von X gibt. Es ist keineswegs klar, dass dies der Fall ist und dass die eine Art nicht
ein Unterfall der anderen ist, so dass es tatsächlich nur eine Art von X gibt. Zweitens habe
896
Vgl. dazu Alston 1989: VIII-IX; Goldman 1999; Dretske 2000: V; Kornblith 2002: II.
438
ich für den Animalismus im Kapitel 4 argumentiert, demzufolge Menschen wesentlich
Tiere sind. Die großzügige Geste, mit der zwei Arten von X unterschieden werden, kann
deshalb nicht ohne Weiteres auf Unterscheidungen wie „tierliches Wissen vs personales
Wissen“ oder „tierliches Sehen vs personales Sehen“ verweisen. Denn die Subjekte der
Zuschreibung sind nicht Tiere und Personen, sondern zwei Arten von Tieren. Deshalb ist
der basale Begriff der des tierlichen Wissens oder des tierlichen Sehens. Personales Wissen
oder personales Sehen ist der Unterfall, nicht der Überfall.
Dass die Unterscheidung von zwei Arten von X in Probleme führt kann wiederum
an einem Beispiel aus der Erkenntnistheorie illustriert werden. Ernest Sosa bezeichnet
seine erkenntnistheoretische Position als „Vermögens-Perspektivismus“ (VP).897 VP
zeichnet
sich
durch
drei
Merkmale
aus:
(i)
Im
Gegensatz
zu
generischen
Zuverlässigkeitstheorien beruht VP nicht allein auf der Annahme beliebiger zuverlässiger
Prozesse oder Mechanismen für den Erwerb von Überzeugungen, um diese als Wissen
durchgehen zu lassen, vielmehr ist es erforderlich, dass die entsprechende Überzeugung
von einem zuverlässigen Vermögen abgeleitet wird. (ii) VP unterscheidet zwei Arten von
Rechtfertigung, nämlich die Angemessenheit (aptness) einer Überzeugung und ihrer
Rechtfertigung im vollen Sinne.898 Eine Überzeugung ist angemessen (apt), wenn sie von
einem zuverlässigen Vermögen abgeleitet werden kann. Gerechtfertigt hingegen ist sie nur
dann, wenn sie auf kohärente Weise in die epistemische Perspektive eines Subjekts passt.
(iii) VP unterscheidet tierliches Wissen von reflektiertem Wissen. Das tierliche Wissen
verlangt eine Überzeugung, die angemessen ist, d.h. von einem zuverlässigen Vermögen
abgeleitet werden kann. Demgegenüber ist für das reflektierte Wissen nicht nur eine
angemessene Überzeugung gefordert, sondern auch eine Rechtfertigung, weil die
reflektierte Überzeugung auf kohärente Weise in die epistemische Perspektive des Subjekts
passen muss. Sosa vertritt also zunächst eine Art von externalistischem VermögensReliabilismus, demzufolge meine Überzeugung Wissen darstellt, wenn sie nicht nur wahr
ist, sondern auch auf ein zuverlässiges kognitives Vermögen von mir zurückgeführt werden
kann, d.h. auf ein Vermögen, dass eine wahrheitsgeneigte Disposition darstellt. Tierliches
Wissen erfordert nicht, dass das Subjekt über eine epistemische Perspektive auf seine
Überzeugung verfügt, aus der es beispielsweise die Quelle für seine Überzeugung als
897 „Virtue Perspectivism“ (vgl. „Reliabilism and Intellectual Virtue“, „Knowledge and Intellectual Virtue“,
„Methodology and Apt Belief“ in Sosa 1991). Die Übersetzung als „Tugend-Perspektivismus“ wäre
irreführend. Wenn Sosa von intellektuellen Tugenden spricht, dann meint er keine exzellenten Charakterzüge,
sondern kognitive Vermögen, deren Hauptmerkmal ihre Zuverlässigkeit ist (Sosa 1991: 227). Wenn
zuverlässig, sorgen solche Vermögen dafür, dass durch sie hervorgebrachte oder übermittelte Überzeugungen
wahr sind (Sosa 1991: 236). Deshalb kann man „Virtue Perspectivism“ als „Vermögens-Perspektivismus“
übersetzen.
898 Vgl. Sosa 1992: 91f.
439
zuverlässig wahrheitsgeneigt evaluieren oder mit seinen übrigen Überzeugungen abgleichen
könnte. Doch der Vermögens-Reliabilismus ist lediglich eine notwendige Bedingung für
Wissen. Diese Bedingung entspricht dem tierlichen Wissen. Hinzukommen muss, als
weitere Bedingung, das reflektierte Wissen, nämlich eine evaluierende Perspektive auf die
Zuverlässigkeit des Vermögens. Deshalb bezeichnet Sosa seine Position insgesamt als
„Vermögens-Perspektivismus“.
Wie steht es nun mit dem tierlichen Wissen? Handelt es sich um eine andere Art
von Wissen? Doch wenn dies so ist, stellt sich das Problem, dass wir es mit einer Petitio
gegenüber der externalistischen Motivation zu tun haben. Tiere wissen nicht in einem
anderen Sinn als wir, dass dort ein Napf steht. Oder handelt es sich um einen Aspekt von
Wissen, um eine notwendige Bedingung? Doch dann würde eine tierliche Überzeugung gar
kein Wissen darstellen, weil es dem Wissenssubjekt an reflektiertem Wissen, d.h. an einer
Perspektive auf die Zuverlässigkeit seiner Vermögen mangelt. Tiere, sofern sie nur über
tierliches Wissen und nicht auch über reflektiertes Wissen verfügen, würden folglich gar
nicht wissen. Es scheint nun plausibel, dass Tiere nicht über die erforderliche epistemische
Perspektive verfügen. Also wissen sie nicht. Sosas Position ist also im Hinblick auf die
motivierende Intuition des Externalismus instabil. Entweder läuft sie darauf hinaus, zwei
Arten von Wissen zu unterscheiden, oder sie unterscheidet zwei Komponenten von Wissen
und bestreitet somit, dass Tiere etwas wissen. Nehmen wir nun an (und vielen Passagen
weisen darauf hin), dass Sosa nicht nur zwei Komponenten des Wissens, sondern zwei
Arten von Wissen unterscheidet. Warum sollten wir überhaupt eine zweite Art einführen?
Sosa ist der Ansicht, dass das reflektierte Wissen besser ist als tierliches:
„[B]eyond ‘animal knowledge’ there is a better knowledge. This reflective
knowledge does require broad coherence, including one’s ability to place one’s
first-level knowledge in epistemic perspective. But why aspire to any such thing?
What is so desirable, epistemically, about broad coherence? Broad coherence is
desirable because it yields integrated understanding, and also because it is truth
conducive…“899
Abgesehen von der fragwürdigen Idee, dass Wissen besser oder schlechter, mehr oder
weniger Wissen sein kann,900 stellt sich die Frage, warum das reflektierte Wissen
zuverlässiger sein sollte. Wenn die tierlichen Vermögen zuverlässig und wahrheitsgerichtet
sind, dann sind sie gut, wenn die Reflexion zuverlässig und wahrheitsgerichtet ist, ist sie
ebenfalls gut. Andernfalls ist es in beiden Fällen schlecht. Reflektiertes Wissen,
Überzeugungen zweiter Stufe, sind nicht von Natur aus zuverlässiger als Überzeugungen
899
900
Vgl. Sosa 1991: 240, 1997: 422.
Vgl. Wild 2008a.
440
erster Stufe. Nun sagt Sosa auch, das reflektierte Wissen sei „desirable because it yields
integrated understanding“, und zwar durch die Herstellung von weitreichender Kohärenz.
Das hilft leider nicht viel, denn weitreichende Kohärenz und umfassendes Verstehen
scheinen beinahe synonym zu sein. Allerdings hilft uns der Hinweis, zu sehen, worum es
beim reflektierten Wissen letztlich geht. Es geht gar nicht um Wissen, sondern um
Verstehen. Sosa hat einfach das Thema gewechselt.
Wir sehen also in diesem Exkurs in die Epistemologie erstens wiederum das Muster
der Überintellektualisierung. Wir erkennen darin zweitens die Strategie, zwei Begriffe von
X zu unterscheiden. Doch solche Unterscheidungen laufen einfach darauf hinaus, den
vorher in der Überintellektualisierung bevorzugten Sonderfall als den eigentlichen Fall zu
betrachten.
Schließlich
können
Internalisten
aller
Schattierungen,
die
bei
der
Innenperspektive ansetzen, behaupten, dass dieser Ansatz die einzige Möglichkeit ist, um
die Probleme der Wahrnehmung, des Wissens usw. philosophisch zu behandeln. Die
Antwort darauf lautet: Wenn es einen Innenperspektive gibt, muss es auch einen
Außenperspektive geben. Wie sich der Ansatz bei der Außenperspektive für eine
Wahrnehmungstheorie ausnimmt, werde ich in 5.3. darlegen.
Unlängst hat auch Tyler Burge behauptet, dass viele Bereiche der Philosophie heute unter
„Hyperintellektualisierung“ leiden. So schreibt er etwa über die Handlungstheorie:
„Action theory in philosophy, over the last half-century, has been almost as hyperintellectualized as perception theory. Usually discussion begins with cases involving
desire, intention, will, and then focuses on sub-cases of intentional action. There is
nothing in itself wrong with this focus, of course. But often it is assumed that such
approaches encompass all action.“901
Obwohl Burge seinen Ausdruck „Hyperintellektualisierung“ nicht eigens charakterisiert,
liegt
es
doch
auf
der
Hand,
das
er
dem
entspricht,
was
ich
hier
als
„Überintellektualisierung“ beschrieben habe. In seinen jüngsten Publikationen hat Burge
mit Blick auf die Philosophie des 20. Jahrhunderts in großem Umfang dafür argumentiert,
dass die Theorie der Wahrnehmung unter Überintellektualisierung leide. So ist es
beispielsweise zu einem Standardzug geworden, die Fähigkeit von Subjekten, sich in der
Wahrnehmung auf Einzelobjekte zu beziehen, von einer ganzen Reihe von begrifflichen
Fähigkeiten abhängig zu machen. Zu solchen begrifflichen Fähigkeit gehören etwa die
Fähigkeit zu Anwendung von Sortalen oder von Kausalbegriffen, die Fähigkeit sich selbst
spatiotemporal zu lokalisieren, die Unterscheidung zwischen Erscheinung und Wirklichkeit,
die Akzeptanz von Wahrnehmungsinhalten als Gründe usw. So muss etwa ein
901
Burge 2009b: 256.
441
„humeianisches“ Wahrnehmungssubjekt über die begrifflichen oder sprachlichen Mittel
verfügen, um zu verstehen, was es heißt, dass etwas die Ursache von bestimmten
Sinnesdaten ist, um Wahrnehmungsobjekte zur Verfügung zu haben. So muss etwa ein
„kantianisches“ Subjekt über die begrifflichen oder sprachlichen Mittel verfügen, um zu
verstehen, was es heißt, ein Einzelding als geistunabhängig und eigenen Gesetzmäßigkeiten
folgend zu individuieren, um Wahrnehmungsobjekte zur Verfügung zu haben. Das
Gemeinsame an Humeianern und Kantianern des 20. Jhs. besteht Burge zufolge in der
These, dass ein Subjekt auf irgendeine Weise über konstitutive Bedingungen für die
Repräsentation materieller Objekte und ihrer Eigenschaften verfügen muss, etwa indem das
Subjekt diese Bedingungen zu repräsentieren in der Lage ist. Burge spricht hier von der
These des „Individuellen Repräsentationalismus“.902 Dieser These zufolge muss ein Subjekt
konstitutive Bedingungen für die Repräsentation materieller Objekte internalisieren, in sich
vorfinden, bei sich implizit oder explizit repräsentieren usw., um überhaupt ein materielles
Objekt repräsentieren zu können. Das Problem des Individuellen Repräsentationalismus
besteht darin, dass ohne besondere Begründung ein Projekt durch ein anderes ersetzt wird
oder dass diese beiden Projekte zumindest nicht ausreichend unterschieden werden. Das
erste Projekt versucht darzulegen, welches die konstitutiven Bedingungen für die objektive
Repräsentation von materiellen Objekten und ihren Eigenschaften in der Welt sind. Das
zweite Projekt hingegen untersucht konstitutive Bedingungen für unsere Konzeption von
Objektivität, etwa für unsere Konzeption von geistunabhängigen, eigengesetzlichen
Objekten als geistunabhängig und als eigengesetzlich. Es liegt auf der Hand, dass ein
Subjekt im zweiten Projekt (z.B. eine normale, erwachsene Person) irgendwie in der Lage
sein muss, sich begrifflich oder sprachlich irgendwie sowohl als geistiges Wesen und
unterschieden von externen Objekten als auch diese externen Objekte als bestimmten
kausalen Regelmäßigkeiten oder Gesetzmäßigkeiten unterworfen zu verstehen. Es liegt
keineswegs auf der Hand, dass ein Subjekt im zweiten Projekt (z.B. ein normaler,
erwachsener Rabe) über diese Fähigkeiten verfügen muss, um Repräsentationen von
Objekten in seiner Umwelt bilden zu können. Wer, wie etwa Strawson, ein Interesse daran
hat, unser Begriffsschema, das Begriffsschema normaler, erwachsener Personen, zu
erkunden, sollte nicht auf die Annahme verfallen, dass etwa die visuelle Wahrnehmung
materieller Objekte überhaupt von der Fähigkeit eines Subjekts abhängig ist, zwischen
seinen visuellen Wahrnehmungen und den materiellen Objekten als solchen zu
unterscheiden:
902 Burge 2009a: 285-294; 2010: 12-22. Burge 2010 untersucht sorgfältig die Positionen von Quine, Davidson,
Strawson und Evans und weist die argumentationsfreie Akzeptanz des Individuellen Repräsentationalismus
nach.
442
„Such a presumption would exclude children and animals, who certainly lack a
conception of their perceptions as such, from perceiving physical entities as having
specific physical attributes. Such a view would be high-handed and
hyperintellectualized. Strawson probably believed this view. But his failure to call
attention to its consequences and his failure to argue for it suggest that he slides
carelessly between the project of explaining conditions for our conception of
objectivity and the project of accounting for conditions on perceptual
representation of physical objects.“903
Obwohl ich glaube, im Schimpansen-Argument gezeigt zu haben, dass nicht-menschliche
Tiere in der Lage sind, sich selbst als Wesen mit Wahrnehmungen zu repräsentieren (4.4.),
meine ich, dass Burge durchaus Recht hat mit seiner Analyse. Die Ersetzung des ersten
Projekts durch das anspruchsvollere zweite Projekt bzw. das Versäumnis, beide Projekte
angemessen zu unterscheiden und zwischen ihnen hin und her zu pendeln, bezeichne ich
als „Objektivismus“. Der Objektivismus ist einfach das Resultat der oben beschriebenen
Überintellektualisierung.
Ein wichtiger Fall von Überintellektualisierung betrifft die Normativität. Ich habe
bereits darauf hingewiesen, dass Millikan zu defensiv ist, wenn sie behauptet, dass ihr
Verständnis von Normativität als Maßstab, von dem aktuelle Tatsachen abweichen können,
ein grundsätzlich anderes Verständnis ist als jenes, wonach Normen das Sollen für ein
Subjekt involvieren (3.1.4.). Ich habe demgegenüber behauptet, dass Normativität generell
auf die Zugehörigkeit zu funktionalen oder spezifischen normativen Kategorien
zurückzuführen sei. In Hartmanns Slogan ausgedrückt: Das Seinsollen ist basaler als das
Tunsollen (3.1.2.). Damit blockiere ich, wie im Falle der Erkenntnistheorie, die generöse
Unterscheidung zwischen zwei Arten von Normen, nämlich zwischen richtig wichtigen
Normen und nicht ganz richtigen, derivativen Normen. In der Philosophie wird
Normativität in der Tat vorwiegend mit moralischen oder anderen intentionalen
Handlungen assoziiert, die ein Sollen für ein Subjekt involvieren. Dies bedeutet, dass ein
Subjekt in der Lage sein muss, sich selbst einer Norm zu unterstellen und sich selbst so auf
ein Sollen zu verpflichten. Doch dazu muss das Subjekt in der Lage sein, die entsprechende
Norm zu internalisieren, in sich vorfinden, bei sich implizit oder explizit repräsentieren
usw. Es ist leicht zu sehen, dass hier etwas dem Individuellen Repräsentationalismus in der
Wahrnehmungstheorie Analoges geschieht. Nun ist die Internalisierung moralischer oder
prudentieller Sollensnormen natürlich wichtig für normale, erwachsene Personen, und es ist
sicher interessant, sich zu fragen, wie diese Internalisierung vor sich geht, wie Normen
repräsentiert werden, wie sie handlungsleitend werden können. Doch diese Art von
Normativität ist einfach ein anspruchsvoller Sonderfall mit einigen hervorstechenden
903
Burge 2009a: 298.
443
Elementen (wie etwa die Selbstverpflichtung normaler, erwachsener Personen), die gerade
deshalb keineswegs angeben müssen, was für Normativität überhaupt konstitutiv ist.
Übersieht man diesen Punkt und kommt zu schlechter Induktion, sieht man sich schnell in
die Lage versetzt zu behaupten, dass die dem bestimmten Fall entnommenen Elemente
konstitutiv für Normativität überhaupt sind bzw. dass andere Formen der Normativität als
derivativ gegenüber dem Ausgangsfall verstanden werden müssen. Und genau dies ist die
Struktur der Überintellektualisierung. Normen müssen von einem Subjekt, das unter eine
Norm fällt, nicht internalisiert oder repräsentiert werden. Die visuelle Wahrnehmung von
Lebewesen fällt unter funktionale und spezifische Normen, ohne dass das Lebewesen diese
Normen internalisiert oder repräsentiert, ja ohne dass es dazu überhaupt in der Lage sein
muss. Ich werde auf Normen in Wahrnehmungsprozessen in Abschnitt 5.3.3.2.
zurückkommen.
Ich möchte also suggerieren, dass die philosophische Neigung zur Überintellektualisierung
und der Objektivismus im Ansatz bei der Innenperspektive nicht nur besonders ausgeprägt
zu Tage treten, sondern sich aus diesem Ansatz ergeben. Diesen Ansatz finden wir nicht
nur in dem uns hier interessierenden Fall der Wahrnehmung, sondern auch beim Wissen,
beim Handeln und bei der Normativität. Mit den in den Abschnitten 5.2.2 bis 5.2.4.
dargelegten Überlegungen dürften wir ausreichend Motivation zusammen haben, dem
Ansatz bei der Innenperspektive in der Wahrnehmungstheorie mit guten Gründen zu
misstrauen und uns nach einer Alternative umzusehen.
444
5.3. Eine biosemantische Theorie des Sehens
5.3.1. Drei Motivationen für die Außenperspektive
Die Alternative zur Innenperspektive besteht darin, bei der Außenperspektive anzusetzen.
Die Außenperspektive charakterisiert das Sehen als einen Prozess in der Welt. Wie ist dies
gemeint? Die visuelle Wahrnehmung ist eine Fähigkeit und eine Tätigkeit von Lebewesen,
die bei Erfüllung ihrer Funktion ein Sehen von Objekten und deren Merkmalen in der
Umwelt dieser Lebewesen ist. Sie ist der Repräsentation genuin sichtbarer Eigenschaften
oder der Repräsentation von Bedingungen der Objektivität vorgelagert und nicht von
diesen abhängig. Ich werde in diesem Abschnitt den Ansatz bei der Außenperspektive auf
unterschiedliche Weise motivieren, einmal mit Verweis auf den Commonsense, dann durch
eine Überlegung, die ich als „Winckler-Beckett-Problem“ bezeichne, und schließlich durch
den Fall des blinden Geronimo (den wir bereits aus 5.1.6. kennen). Natürlich bedeutet der
Ansatz bei der Außenperspektive nicht, dass die Innenperspektive irrelevant wäre, sondern
dass die Innenperspektive aus den bislang genannten und im Folgenden noch zu
nennenden Gründen keinen adäquaten Ausgangspunkt darstellt.
5.3.1.1. Commonsense und die Außenperspektive
Der Ansatz bei der Außenperspektive kann in erster Annäherung durch Hinweise
darauf motiviert werden, wie wir vom Sehen und Tätigkeiten des Sehens im Alltag
sprechen. Stellen wir uns vor, ich sehe auf einem Gebirgspfad jemanden vor mir stehen,
der zwischen Gebüsch und Holz hindurch in die Landschaft blickt, und dann weiter geht.
Nichts weist darauf hin, dass die Person etwas Besonderes gesehen hat, ich bin einfach
neugierig auf den Ausblick von jenem Punkt. Ich gelange zu dem Punkt, an dem die Person
eben noch gestanden hat, und versuche zu sehen, was sie gesehen hat. Wie mache ich das?
Ganz einfach. Ich sehe nach und sehe dann das, was die Person gesehen hat. Ich sehe
einen bestimmten Ausschnitt einer bestimmten Landschaft, darin bestimmte Dinge und
Relationen zwischen diesen Dingen. Einige Relationen sind stabil, andere ändern sich,
einige Dinge sind näher, deutlicher, mit spezifischen Farben und Helligkeiten, andere
weiter entfernt, undeutlicher, von unspezifischer Farbe und diffuser Helligkeit usw. Ich
sehe dasselbe, was die Person gesehen hat. Ich habe, wie man etwas künstlich sagen
könnte,
dasselbe
Wahrnehmungserlebnis
wie
sie.
Wenn
ich
also
mein
Wahrnehmungserlebnis beschreibe, dann habe ich vermutlich auch ungefähr das
445
Wahrnehmungserlebnis der Person beschrieben. Um zu wissen, was die Person gesehen hat,
muss ich Folgendes tun: Ich muss mein Wahrnehmungserlebnis beschreiben. Um zu sehen,
was sie gesehen hat, muss ich einfach Folgendes tun: Ich muss mich an denselben Ort
stellen, auf dem die Person gestanden hat, ich muss meinen Kopf und meine Augen in
dieselbe Richtung lenken, ich muss die Augen geöffnet haben. Sofern meine Augen nicht
versagen und Licht und Landschaft sich nicht radikal verändert haben oder verändern
werden, sehe ich, was die Person gesehen hat, vorausgesetzt, die Person ist nicht sehr
kurzsichtig oder blind. Um also zu sehen, was die Person gesehen hat, muss ich zwei
verschiedene Dinge tun: Ich muss nachsehen, wie die Person es getan hat, und ich muss
sehen, was die Person gesehen hat. Das erste ist eine Tätigkeit, etwas, das ich tue, das
zweite ist das Ziel der Tätigkeit. Wie wir später sehen werden, gehört das Ziel dieser
Tätigkeit zur Tätigkeit (5.3.3.1.). Sehen ist also normalerweise nicht primär ein Zustand
oder ein Wahrnehmungserlebnis, sondern eine zielgerichtete Tätigkeit. Sehen ist darüber
hinaus nicht nur eine Tätigkeit erwachsener, normaler Personen, sondern eine Tätigkeit
zahlloser Lebewesen.
Manchmal wird die Beschreibung der Bedingungen, unter denen etwas gesehen
wird, von der Beschreibung des Wahrnehmungserlebnisses getrennt. Wenn wir uns fragen,
ob jemand etwas sieht, dann reicht es normalerweise aus, dass wir auf diese Bedingungen
Bezug nehmen und auf die Beschreibung des Wahrnehmungserlebnisses verzichten. Wenn
ich und die Person beide funktionierende Wahrnehmungssysteme haben, die relevanten
Bedingungen dieselben bleiben, und ich mich in Position und Haltung der Person bringe,
dann sehen wir dasselbe. Wir lernen, das Wort „sehen“ (und verwandte Wörter) auf andere
Personen anzuwenden, indem wir etwas über Bedingungen lernen, die normalerweise
vorliegen müssen, damit andere Personen etwas Bestimmtes sehen. Zu diesen Bedingungen
gehören
sowohl
Ermöglichungsbedingungen
des
Subjekts
als
auch
Ermöglichungsbedingungen der Umwelt. Ermöglichungsbedingungen des Subjekts S sind
beispielsweise, dass S funktionierende Augen (ein funktionierendes visuelles System) hat
(und nicht teilweise oder vollkommen blind ist, Hirnschäden hat usw.), dass S bei
Bewusstsein ist (nicht mit offenen Augen schläft, ohnmächtig ist usw.), dass S die Augen
frei hat (offen, unverdeckt, unverbunden usw.), dass S in normaler Verfassung ist (nicht
unter
Drogen
steht,
hypnotisiert
oder
exaltiert
ist
usw.)
Zu
den
Ermöglichungsbedingungen der Umwelt gehört, dass es hell (und nicht stockdunkel) ist,
dass sich ein Objekt (im weitesten Sinne) vor S befindet (und nicht nur helles Licht), dass
das Objekt als visuelles Objekt geeignet ist (sichtbar, nicht unsichtbar; nicht verdeckt usw.),
446
dass das Objekt nicht zu weit von S entfernt ist, dass das Zielobjekt nicht zu klein für S ist,
dass sich keine opaken Objekte zwischen S und dem Zielobjekt befinden.
Die beiden Klassen von Ermöglichungsbedingungen sind nicht sauber getrennt. So
ist eine Antwort auf die Frage, ob ein Objekt zu weit entfernt ist, um gesehen werden zu
können, oder zu klein ist, um gesehen werden zu können, oder durch andere Objekte
verdeckt und deshalb vielleicht nicht gesehen werden kann, davon abhängig, um was für
ein Wesen es sich bei S handelt. Ob es sich um einen Menschen, einen Adler, einen
Maulwurf oder einen Kryptoniten (wie Superman) handelt, spielt hier evidenterweise eine
Rolle. Diese Abhängigkeit der Ermöglichungsbedingungen der Umwelt von jenen des
Subjekts ist keineswegs zufällig. Lebewesen und deren Umwelten sind aufeinander bezogen
(3.2.6.). Wir können also sowohl die Bedingungen des Subjekts als jene der Umwelt
variieren, indem wir beachten, von welchen Subjekten wir sagen, dass sie etwas sehen. Wir
können dies von allen Lebewesen sagen, die die oben genannten Bedingungen erfüllen.
Dazu gehört eine enorme Bandbreite an Tieren. Tiere mit Augen können unter den
erwähnten Bedingungen sehen. Vermutlich sind die Wahrnehmungserlebnisse solcher
Wesen aber von unseren Erlebnissen sehr verschieden. Sie ändern sich vermutlich mit der
Beschaffenheit der Lebewesen. Egal, ob wir alltägliche, historisch, fiktive oder
wissenschaftliche Verwendungen von „sehen“ betrachten, in allen Verwendungen finden
wir Ausdrücke des Sehens auf eine enorme Bandbreite von Lebewesen angewendet, und
zwar einfach infolge der Erfüllung der oben genannten Bedingungen.
Die visuellen Wahrnehmungserlebnisse von Superman unterscheiden sich
vermutlich nicht wesentlich von den Wahrnehmungserlebnissen, die wir haben, wenn wir
eine gute Brille benutzen, auf Röntgenbilder blicken, mit Nachtsichtgeräten beobachten,
durch Mikroskope oder Teleskope spähen. Hier geht es also nicht um Variationen
unterschiedlicher
Erlebnisarten,
sondern
um
Modifikationen
einzelner
Ermöglichungsbedingungen. Dass wir dennoch sagen, Superman sieht (mithilfe seiner
Superblicke) durch die Wand der Raumstation im All das tödliche Virus, reflektiert lediglich
unsere Redeweisen bezogen auf prosthetisches Sehen. Das Sehen durch Mikroskope oder
Teleskope ist kein anderes Sehen als Sehen von bloßem Auge, das wir in den oben
genannten Bedingungen charakterisiert haben. Für das Sehen von einem Wildschwein
macht es keinen Unterschied, ob ich es von bloßem Auge, durch ein Nachtsichtgerät oder
durch ein Fernglas erblicke. In allen Fällen sehe ich ein Wildschwein. Wichtig ist weniger
das Gerät, sondern die richtige Verwendung des Geräts. Diese Verwendung muss erlernt
werden. Sie richtet sich nach der Funktion der Geräte (nach der kulturellen funktionalen
Kategorie, zu der sie gehören). Auch Superman hat die richtige Verwendung seiner
447
übermenschlichen Fähigkeiten gelernt und vermag nun seine „Wahrnehmungsgeräte“
richtig zu verwenden. Das Verwenden von optischen Instrumenten und der Einsatz der
visuellen Superkräfte aber sind Tätigkeiten. Ebenso sind unsere Sehensarten Tätigkeiten.
Alle diese Tätigkeiten sind von außen beobachtbar. Ebenso wie die Tätigkeiten von
Lebewesen, die Augen haben, von außen beobachtbar sind, sind sowohl die
Ermöglichungsbedingungen des Subjekts als auch jene der Umwelt von außen
beobachtbar. Ob ein Lebewesen funktionierende Augen hat, bei Bewusstsein ist, die Augen
frei hat, in normaler Verfassung ist, ob es hell ist, sich ein nicht zu kleines Objekt nicht zu
weit entfernt vor dem Lebewesen befindet usw. können wir von außen feststellen. Die
Außenperspektive auf das Sehen ist also eine natürliche Perspektive. Sie entspricht unserer
Alltagseinstellung und lässt sich ohne Probleme auf andere Lebensformen (reale und
imaginäre) anwenden. Dabei wird das Sehen als ein Prozess in der Welt aufgefasst, nämlich
als Tätigkeit von Lebewesen, die ihre Augen und ihre optischen Instrumente einsetzen. Die
Innenperspektive, die Idee, dass das Sehen in erster Linie die Erfahrung einer normalen,
erwachsenen Person von der Welt ist, stellt keine natürlich Einstellung dar, sondern, wie
Valberg zu Recht betont hat, eine reflektierte Einstellung (5.2.2.). W – „The world (external
objects) is (are) present in experience.“ – ist eine reflektierte philosophische Position. W
stellt sich nicht ein, indem wir auf philosophische Reflexion verzichten, sondern sie ist das
Ergebnis philosophischer Reflexion, die bereits durch philosophisch anspruchsvolle
Argumente hindurch gegangen ist. Nichts zwingt uns deshalb dazu, bei der
Innenperspektive anzusetzen. Im Gegenteil sollten wir dem Ansatz bei der
Innenperspektive mit Misstrauen begegnen, da sie interne Spannungen erzeugt (5.2.2.), zu
vorschneller Vereinheitlichung führt (5.2.3.), den Verwirrungen des Objektivismus’ in die
Arme läuft und zu Überintellektualisierungen Anlass gibt (5.2.3.). Doch der Ansatz bei der
Außenperspektive kann auf systematischere Weise motiviert werden, als durch den bloßen
Verweis auf den Commonsense und seine Redensarten über Sehensarten. Damit komme
ich zur zweiten Motivation.
5.3.1.2. Das Winckler-Beckett-Problem
Die Einführung des Winckler-Beckett-Problems904 erfordert eine gewisse Vorarbeit, die für
die weiteren Überlegungen sehr wichtig sein wird. Ich habe bereits von der Unterscheidung
zwischen Sehen in einem intransitiven Sinne und Sehen in einem transitiven Sinne
Gebrauch gemacht (5.1.3.3.). Was ist mit dieser Unterscheidung genauer gemeint? Ein
904 Der Name leitet sich vom Übersetzer Carl Winckler und vom Dichter Samuel Beckett ab. Es wird sich im
Verlauf des Abschnitts zeigen weshalb.
448
Lebewesen kann sowohl sehen (falls es nicht blind ist) als auch etwas sehen (falls es nicht
die Augen verschlossen hat, durch Dunkelheit gehindert oder stark geblendet wird usw.).
Ersteres ist intransitives Sehen (Sehenintr) oder: Sehen können. Letzteres ist transitives Sehen
(Sehentr) oder: Sehen von etwas. Diese Unterscheidung wird im Gebrauch von „sehen“ nicht
explizit getroffen, doch unterschiedliche Verwendungskontexte weisen darauf hin, dass die
Unterscheidung auch in der Alltagssprache vorhanden ist. So kann auf die Frage „Können
Sie etwas sehen?“ auf zwei unterschiedliche Arten geantwortet werden: „Nein, es ist als
hätte ich das Augenlicht verloren.“ Oder: „Nein, es ist stockdunkel hier“. Die erste
Antwort antwortet auf die Frage „Können Sie etwas sehenintr?“, die zweite hingegen auf die
Frage „Können Sie etwas sehentr?“ Ebenso unterscheiden sich die Ausrufe „Ja, ich kann
sehen!“ und „Ja, jetzt sehe ich etwas!“. Eine des Sehens fähige Person kann im Stockdunkel
im intransitiven Sinn sehen, nicht aber im transitiven Sinn. Zwar verliert sie im Stockdunkel
nicht ihre Fähigkeit zu sehen, sie kann dennoch nichts sehen. Deshalb lautet eine
verständliche Auskunft einer Person im Stockdunkel auf die Frage „Kannst Du etwas
sehen?“ nicht „Nein, ich kann nicht sehen!“, sondern „Nein, ich kann nichts sehen!“.
Das intransitive Sehen ist eher eine passive, das transitive Sehen eher eine aktive
Fähigkeit eines Lebewesens. Passive Fähigkeiten sind nichts, was ein Lebewesen tut,
sondern passive Fähigkeiten machen Lebewesen empfänglich, sie sind dafür zuständig, dass
einem Lebewesen überhaupt bestimmte Dinge passieren können, dass es durch bestimmte
Objekte überhaupt affiziert werden kann. Man kann eine passive Fähigkeit auch als
„Vermögen“ bezeichnen. Bei diesem Vermögen handelt es sich in erster Linie darum, dass
ein Lebewesen über funktionstüchtige Augen bzw. über ein funktionstüchtiges visuelles
System verfügt (im Sinne von: hat). Natürlich gibt es auch einen Sinn, demzufolge eine
blinde Maus sehen kann, insofern sie zu einer Lebensform gehört, die Sehvermögen
besitzt. Dieser Fall soll durch das Sehenintr nicht abgedeckt werden, sondern nur Fälle von
funktionstüchtigen VS (in dem Sinne, dass ein solches System überhaupt funktioniert, und
nicht, dass es sehr gut funktioniert). Auch abnorm kurzsichtige Mäuse vermögen zu
sehenintr. Normalsichtige Mäuse, die schlafend oder ohnmächtig sind, deren Augen
verbunden oder die sich im Stockdunkel befinden, können sehenintr. Sie verfügen über das
Vermögen
zu
sehen.
Das
Sehenintr
liegt
also
vor,
wenn
bestimmte
Ermöglichungsbedingungen des Subjekts (nicht der Umwelt) gegeben sind.
Das transitive Sehen hingegen ist eher eine aktive Fähigkeit eines Lebewesens.
Aktive Fähigkeiten sind etwas, das ein Lebewesen ausübt, und sie ermöglichen einem
Lebewesen weitere zielgerichtete Aktivitäten. Man kann eine aktive Fähigkeit auch als
„Fertigkeit“ bezeichnen. Bei dieser Fertigkeit handelt es sich in erster Linie darum, dass ein
449
Lebewesen über seine funktionstüchtigen Augen bzw. über sein funktionstüchtiges
visuelles System verfügt (im Sinne von: es kontrolliert). Sehentr ist zunächst eine Fertigkeit
in dem einfachen Sinne, das ein Lebewesen, wenn es etwas sehen soll, seine Augen öffnen,
sie in eine Richtung lenken, sie fokussieren, sie annähern und entfernen muss usw. Das
transitive Sehen ist in einem anspruchsvolleren Sinne eine Fertigkeit, wenn es darum geht,
nach etwas Bestimmtem mit den Augen zu suchen, etwas zu beobachten, etwas visuell zu
verfolgen, die Augen in eine angemessene Entfernung zum Objekt zu bringen oder sie in die
richtige Richtung zu lenken usw. Nichts davon spielt beim Sehenintr eine Rolle.905
Innerhalb der aktiven Fähigkeit (der Fertigkeit) des transitiven Sehens muss man
unterscheiden zwischen dem Sehen von etwas und dem Sehen von etwas als etwas. Letzteres ist
intentionales Sehen, d.h. Sehen mit einem IR-Inhalt. Das Sehen von etwas ist entweder
Sehen mit einem R-Inhalt oder Sehen mit einem ausgeliehenen IR-Inhalt. Denken wir an
das oben benutzte Frosch-Beispiel. Wir wollten wissen, was ein Frosch sieht, der eine
Fliege sieht. Karl sagte: „Der Frosch sieht die Fliege.“ Das Wort „sehen“ wird in Karls
Aussage in einem transitiven Sinn verwendet: etwas sehen. Doch Sehen in diesem transitiven
Sinne reicht jedoch noch nicht aus für das, was wir wissen wollen. Wir wollen wissen, als
was der Frosch sieht, was er sieht. Wir fragen also nach einen anderen transitiven Sinne,
nämlich den intentionalen Sinn: etwas als etwas sehen. Diese Unterscheidung innerhalb des
transitiven Sehens können wir wie folgt indexieren: transitives Sehen von etwas ist Sehentr
und transitives Sehen von etwas als etwas ist Sehenitr (nämlich intentional-transitives Sehen).
Sicher siehttr der Frosch etwas, insofern das visuelle R-Vehikel mit der vorbeischwirrenden
Fliege ko-variiert. Aber die Festlegung des IR-Inhalts dieser Struktur übernimmt Karl, der
sagt, dass der Frosch eine Fliege sieht. Karl legt dem Frosch den IR-Inhalt dessen, was er
(der Frosch) sieht, sozusagen aus.906 Er leiht dem Frosch den IR-Inhalt gleichsam aus,
freilich aufgrund der Voraussetzung, dass der Frosch siehtintr und etwas siehttr. Doch um zu
bestimmen, als was der Frosch die Fliege siehtitr, müssen wir die Echte Funktion des
Konsumenten seines R-Vehikels bestimmen. Diese Unterscheidung innerhalb des
transitiven Sehens ist entscheidend und entspricht der Unterscheidung zwischen R-Inhalt
(sehentr) und IR-Inhalt (sehenitr). R-Vehikel haben einen Inhalt nur in Abhängigkeit von
einem Vermögen mit einer Echten Funktion (sehenintr). Diese Unterscheidung wird jedoch
oft übersehen, etwa von Neurologen oder Verhaltensbiologen, die Kovariation oder
Korrelation zwischen neuronalen Zuständen bzw. Verhaltensweisen und Ereignissen oder
Zur Bedeutung der normativen Ausdrücke wie „angemessen“ oder „richtig“ vgl. 5.3.3.2.
Heidegger 1983 zufolge gehört es zur Seinsart von Lebewesen (im Gegensatz zur Seinsart von Dasein),
dass wir ihnen den intentionalen Gehalt ihrer Verhaltungen gleichsam ausliehen müssen, um uns dessen
Verhalten verständlich zu machen.
905
906
450
Strukturen in der Umwelt als IR-Inhalte akzeptieren. Das Sehentr ist eine einfache
Fertigkeit, das Sehenitr ist eine anspruchsvolle Fertigkeit. Zum Sehentr gehört es, dass
sowohl bestimmte Ermöglichungsbedingungen des Subjekts als auch der Umwelt gegeben
sind. Zu ersteren gehören, dass S bei Bewusstsein ist, dass S die Augen frei hat; zu letzten,
dass es hell ist, dass sich ein Objekt vor S befindet, dass das Objekt als visuelles Objekt
geeignet ist, nicht zu weit entfernt ist, nicht zu klein ist usw. Zum Sehenitr gehört, dass ein
(angeborener oder erworbener) Konsument, vorausgesetzt Sehenintr und Sehentr sind
gegeben, von den durch einen visuellen Produzenten hervorgebrachten R-Vehikeln auf
bestimmte Weise Gebrauch macht. Und aus diesem Grund ist Sehenitr wesentlich eine
Tätigkeit.
Das Vermögen des Sehensintr ist nun eine notwendige Voraussetzung für die
Fertigkeit des Sehenstr. Ein Wesen, das kein Sehvermögen hat, kann nicht etwas sehen. Die
Fertigkeit des Sehenstr ist eine notwendige Voraussetzung für die Fertigkeit des Sehensitr.
Ein Wesen, das nicht etwas sehen kann, kann nicht etwas als etwas sehen. Folglich ist das
Sehenintr eine notwendige Voraussetzung für das Sehenitr. Diese Bedingungsverhältnis ist
nun der Ausgangspunkt für die systematische Zurückweisung des Ausgangs bei der
Innenperspektive. Kein Wahrnehmungssubjekt hat aus der Innenperspektive die
Möglichkeit zu entscheiden, ob es siehtintr oder nicht. Und dies bedeutet, dass die
Bedingung
für
Sehentr
und
Sehenintr
keinem
Wahrnehmungssubjekt
aus
der
Innenperspektive zugänglich ist. Dies stellt, wie ich meine, einen guten Grund dafür dar,
die Untersuchung des Sehens nicht aus der Innenperspektive zu beginnen. Warum aber ist
das Vermögen des Sehensintr aus der Innenperspektive unzugänglich?
Wir können dies anhand der folgenden Überlegung erkennen. In der deutschen
Übersetzung von Lockes Essay findet sich die folgende mysteriöse Passage:
„So kann man also mit Recht sagen, dass jemand die Dunkelheit sehe. Nimmt man
nämlich einen vollkommen dunklen Raum an, von dem kein Licht reflektiert wird,
so kann man sicherlich dessen Gestalt sehen oder ihn bildlich darstellen.“907
Wie kann Locke behaupten, man könne die Gestalt eines stockdunklen Raumes sehen oder
bildlich darstellen? In einem stockdunklen Raum sieht man keine Gestalt, andernfalls wäre
es nicht stockdunkel. Ebenso wenig kann man einen solchen Raum bildlich darstellen. Ein
pechschwarzes Gemälde ist nicht die Darstellung einer Situation, in der man nichts sieht.
In einem stockdunklen Raum sieht man nicht Schwarz, sondern man sieht eben nichts.
Nun, Locke hat auch nichts dergleichen behauptet, sondern sein Übersetzer Carl Winckler.
Locke sagt nämlich:
907
Essay 2.8.6.: 146.
451
„And thus one may truly be said to see Darkness. For supposing a hole perfectly
dark, from whence no light is reflected, ’tis certain one may see the Figure of it, or
it may be Painted….“
Die Umrisse eines schwarzen Loches können natürlich gesehentr werden, denn es hebt sich
ja von einem Hintergrund ab, und sie können auch gemalt werden. In einen stockdunklen
Raum jedoch siehttr auch derjenige, der siehtintr, nichts. Seine Antwort auf die Frage, ob er
etwas sehen könne, lautet in diesem Falle: „Nein, ich kann nichts sehen, es ist
stockdunkel.“ Diese Antwort impliziert, dass der Befragte sehenintr kann. Woher weiß er,
dass er siehttr? Er weiß es, weil er ansonsten Objekte visuell diskriminieren kann. Woher
weiß der Befragte, dass er siehtintr? Er weiß es aus demselben Grund, nämlich daraus, dass
er Objekte visuell diskriminieren kann, weil das transitive Sehen das intransitive Sehen
impliziert. Woher weiß er aber im Stockdunkel, dass er siehtintr? Nun, aus der Erinnerung
daran, dass er visuell diskriminiert hat sowie aufgrund der Erfahrung, dass er bislang nach
dem Stockdunkel wiederum visuell diskriminiert hat.
Die Ausgangssituation dieser Überlegung findet sich in Samuel Becketts später
Erzählung Company. Sie beginnt so: „A voice comes to one in the dark. Imagine. To one on
his back in the dark.“908 Stellen wir uns also vor, wir, die wir uns bislang des Augenlichts
erfreuten, wachen nach einer Betäubung im Stockdunkel auf und können nichts sehen. Oder
können wir nicht sehen? Die Stimme des bösen Neurochirurgen aus dem Off teilt uns nun
das Folgende mit: „Während Ihrer Betäubung sind Sie einer bestimmten Operation
unterzogen worden oder auch nicht. Falls Sie dieser Operation unterzogen worden sind,
sind Sie nun vollkommen blind, Sie können nicht sehen und das Licht ist an. Falls Sie
dieser Operation nicht unterzogen worden sind, können Sie nach wie vor sehen, das Licht
ist jedoch aus und es herrscht vollkommene Dunkelheit. Entscheiden Sie nun, in welcher
Situation Sie sich befinden. Aber Obacht! Wenn Sie sich für die erste Option entscheiden
und meinen, die Operation habe statt gefunden, dies aber nicht zutrifft, werden Sie nicht
von Ihrer Blindheit geheilt werden, andernfalls schon. Wenn Sie sich für die zweite Option
entscheiden und glauben, es herrsche Stockdunkelheit, dies aber nicht der Fall ist, werden
Sie sogleich blind gemacht, andernfalls geschieht nichts mit Ihnen. In welcher Situation
befinden Sie sich?“
Der böse Neurochirurg stellt uns das Winckler-Beckett-Problem. Es hängt für uns
einiges von der Richtigkeit unserer Antwort auf dieses Problem ab. Worauf wollen wir uns
für unsere Entscheidung stützen? Welche Anhaltspunkte können wir finden, die eher für
die eine als für die andere Option sprechen und es uns erlauben, mehr zu tun, als zu raten?
908
Beckett 2009: 3.
452
Welche Anhaltspunkte wir auch immer verwenden, um uns zu entscheiden, der springende
Punkt besteht darin, dass wir in der Innenperspektive keine Anhaltspunkte finden können.
Die Frage, ob wir im intransitiven Sinne sehen oder nicht, hängt von externen Faktoren ab,
die aus der Innenperspektive nicht direkt zugänglich sind. Sie wären uns natürlich indirekt
zugänglich, nämlich sobald wir sähenitr. Doch der springende Punkt des Winckler-BeckettProblems besteht darin, dass wir sehr wohl über das Vermögen zu sehenintr verfügen
können und dass es eine Tatsache ist, dass wir über dieses Vermögen verfügen, ohne dass
uns dies aber aus der Innenperspektive irgend zugänglich wäre. Das (außer durch
glückliches Raten) unlösbare Winckler-Beckett-Problem spricht deshalb gegen den Ansatz
bei der Innenperspektive.
Eine analoge Überlegung lässt sich für das Sehentr anstellen, wenn wir uns auf einen
Blindsichtigen beziehen. Der Blindsichtige siehttr, doch diese Tatsache ist ihm aus der
Innenperspektive nicht zugänglich. Man kann dagegen nicht einwenden, dass der
Blindsichtige doch über keine aktive Fähigkeit des Sehenstr verfüge, denn reale
Blindsichtige sind sehr wohl in der Lage, sich beispielsweise durch einen Raum zu bewegen
und dabei Hindernisse zuverlässig zu umgehen909
Dasselbe gilt für eine Variante des Winckler-Beckett-Problems. Dieses Mal entführt
und betäubt uns der böse Neurochirurg, doch wie wir aus der Betäubung erwachen, sehen
wir, dass wir in einem Bett in einem Krankenzimmer liegen. Die Stimme des bösen
Neurochirurgen aus dem Off teilt uns jetzt Folgendes mit: „Während Ihrer Betäubung sind
Sie einer bestimmten Operation unterzogen worden oder auch nicht. Falls Sie dieser
Operation unterzogen worden sind, dann sind Sie nun vollkommen blind und ihr Gehirn
ist mit einem Computer vernetzt, den ich bediene und der Ihnen just jene visuellen
Wahrnehmungen induziert, die Sie hätten, wenn sie sehen könnten. Falls Sie dieser
Operation nicht unterzogen worden sind, sind ihre Augen intakt und ihr Hirn ist keinem
Computer angeschlossen. Entscheiden Sie nun, in welcher Situation Sie sich befinden.
Wenn Sie sich für die erste Option entscheiden, diese aber nicht zutrifft, werden Sie nicht
von Ihrer Blindheit geheilt werden und vernetzt bleiben, andernfalls schon. Wenn Sie sich
für die zweite Option entscheiden, diese aber nicht der Fall ist, werden Sie sogleich blind
gemacht und vernetzt, andernfalls geschieht nichts mit Ihnen. In welcher Situation
befinden Sie sich?“ Diese Variante des Problems ist natürlich nichts Anderes als das
Problem der veridischen Halluzination. Ich habe es bereits am Beispiel des blinden
Geronimo eingeführt (5.1.5.2.-5.1.5.3.). Nicht wenige Philosophen gehen davon aus, dass
das Opfer der Neurochirurgen, sofern ihm vollkommene, veridische Halluzinationen
909
Vgl. Jacob und Jeannerod 2003.
453
induziert werden, nicht nur nicht sieht, sondern nichts sieht. Die Entscheidung, vor die der
Neurochirurg sein Opfer also stellt, besteht in der Frage, ob es jetzt etwas (das
Krankenzimmer) sieht oder nicht. Der springende Punkt besteht wiederum darin, dass es
in der Innenperspektive keine Anhaltspunkte finden kann. Somit hängt auch die Frage, ob
wir sehenitr oder nicht sehenitr, von externen Faktoren ab, die aus der Innenperspektive
nicht zugänglich sind.
In allen diesen Fällen hat der böse Neurochirurgen natürlich keine Schwierigkeit
damit zu wissen, was der Fall ist. Er kann problemlos darüber Auskunft geben oder
feststellen, ob seine jeweiligen Opfer sehenintr oder sehentr oder sehenitr. Damit meine ich
weiter motiviert zu haben, dass eine philosophische Untersuchung der Wahrnehmung nicht
bei der Innenperspektive, sondern bei der Außenperspektive anzusetzen hat. Damit
komme ich zur dritten Motivation für den Ansatz bei der Außenperspektive.
5.3.1.3. Der blinde Geronimo
Bleiben wir noch etwas beim blinden Geronimo. Sein Hirn wird mit einem Computer so
vernetzt, dass der böse Neurochirurg in Geronimo die visuellen Halluzinationen von just
jenen Szenerien hervorzurufen vermag, die sich tatsächlich vor seinen blinden Augen
abspielen. Folglich hat Geronimo veridische visuelle Halluzinationen. Der Neurochirurg
garantiert die attitudionale kontrafaktische Abhängigkeit der halluzinierten visuellen
Erfahrungen Geronimos von der optischen Szenerie vor dessen Augen. Wir haben bereits
gesehen, dass KTS auszuschließen wünscht, dass dieser Fall als genuines Sehen durchgeht
(5.1.5.2.). Aber warum wollen wir eigentlich den Fall des blinden Geronimo überhaupt
ausschließen? Alle Elemente von KTS sind doch da: Das Wahrnehmungserlebnis E, dass o
F ist, die kausale Relation zwischen E und oF. Warum wollen wir gerade nicht sagen, dass
Geronimo die Szenerie siehtitr, die ihm der böse Neurochirurg induziert? Nun, was
offensichtlich daran stört, ist die Tatsache, dass Geronimo blind ist und trotzdem (in irgend
einem Sinne) sehen können soll. Wer blind ist, dessen Augen sind defekt. Die Augen erfüllen
ihre Funktion nicht nur unzureichend oder unvollständig, sondern überhaupt nicht. Mit
anderen Worten: Geronimo siehtintr nicht und deshalb wäre es absurd zu sagen, dass er
siehtitr.
Ändern wir nun den Fall des blinden Geronimo etwas ab. Der Chirurg schließt
Geronimos Gehirn nicht an einen Computer an, sondern pflanzt ihm andere biologische
Augen ein, die ihm das Sehen ermöglichen.910 Aus dem blinden wird ein sehender
910
So wie es mit John Anderton (Tom Cruise) im Film Minority Report geschieht.
454
Geronimo, der mithilfe seiner neuen Augen visuelle Szenerien ebenso wahrnimmt, wie
Personen, die mit ihren natürlich ausgebildeten Augen sehen. Nichts spricht dagegen zu
sagen, dass der operierte Geronimo die visuellen Szenerien, die sich vor seinen neuen
Augen abspielen, sieht, solange sie ihre Echte Funktion gemäß einer Normalen
Erklärungen ausüben.911 Ändern wir den Fall abermals ab. Der Chirurg pflanzt Geronimo
Kameras als künstliche Augen ein, die ihm das Sehen ermöglichen. Aus dem blinden wird
ein sehender Geronimo, der mithilfe seiner künstlichen Augen visuelle Szenerien ebenso
wahrnimmt, wie Personen, die mit ihren eigenen Augen sehen. Nichts spricht dagegen zu
sagen, dass Geronimo die visuellen Szenerien, die sich vor seinen künstlichen Augen
abspielen, sieht, solange diese optischen Artefakte ihre kulturelle Funktion gemäß einer
Normalen Erklärungen ausüben. Die Normale Erklärung für das Funktionieren der
biologischen Augen und der künstlichen Augen unterscheidet sich nur unwesentlich. Die
künstlichen Augen übernehmen die Echte Funktion der biologischen Augen, weil sie zu
diesem Zweck und gemäß einem Design entworfen worden sind (3.2.6.), und sie
übernehmen diese Funktion gemäß der Normalen Erklärung für biologische Augen.912
Zur Bestimmung dessen, was es heißt, dass ein Lebewesen etwas sieht, sollten wir
deshalb anstelle der kontrafaktischen kausalen Abhängigkeit auf die biologischen
(natürlichen) Funktionen (3.2.3.) und auf kulturelle (artifizielle) Funktionen (3.2.5.)
zurückgreifen, die beides Echte Funktionen (1.1.4.) sind. Kausale Abhängigkeiten gehören
zu einem gewissen Ausmaß zu einer Normalen Erklärung für das Zustandekommen
visueller Repräsentationen. Dies bedeutet, dass Sehen kausale Elemente enthält, nicht aber,
dass es durch kausale Abhängigkeiten definiert werden kann.
Nun war aber der ursprüngliche Fall des blinden Geronimo, den wir als Sehensfall
ausschließen wollten, weil ein Wesen mit defekten Augen nichts siehtintr, ja anders angelegt.
Nicht seine defekten Augen werden ausgewechselt, sondern sein intaktes Hirn wird mit
einem Computer so vernetzt, dass ein Neurochirurg oder der Computer selbst die visuellen
Halluzinationen von just jenen Szenerien hervorzurufen vermag, die sich tatsächlich vor
911 Eine Normale Erklärung erklärt, wie Mitglieder einer bestimmten REF ihre Direkte Echte Funktion
historisch erfolgreich ausgeübt haben (1.1.4.).
912 Hinzu muss allerdings kommen, dass Geronimo durch den Eingriff in die Lage versetzt wird, die durch
die künstlichen Augen (ein artifizieller P-Mechanismus) hervorgebrachten R-Vehikel auf dieselbe Weise zu
verwenden, wie andere Exemplare seiner Art es zu tun imstande sind. Denn erst durch die Verwendung von
(biologischen oder kulturellen) R-Vehikeln durch entsprechende K-Mechanismen wird der unbestimmte
repräsentationale Inhalt jener Vehikel zu einem bestimmten intentionalen Inhalt. Wenn Geronimo in
postoperativen Tests auf dieselbe Weise reagiert, wie andere gesunde Artgenossen auch, sind wir ohne
Weiteres bereit zu sagen, dass er siehtitr. Es macht dabei, soweit ich sehen kann, keinen Unterschied, ob
Geronimo weiß, dass er nun über künstliche Augen verfügt oder nicht. Nehmen wir an, eine sehende Person
wäre wie der blinde Geronimo operiert und mit künstlichen Augen versehen worden. Hier würde es für die
Frage, ob diese Person sieht, keinen Unterschied machen, dass sie nicht um diese Operation weiß. Allerdings
würden wir diese Person im Gegensatz zum blinden Geronimo bedauern.
455
den nach wie vor defekten Augen des solcherart vernetzten Geronimo abspielen. Die
(natürlichen oder artifiziellen) Augen (oder das visuelle System) eines Lebewesens sind ein
Bestandteil dieses Lebewesens aufgrund von dessen Funktion es in der Lage ist, Objekte in
seiner Umwelt gemäß einer Normalen Erklärung zu sehen. Die Tatsache, dass der vernetze
Geronimo alle Sehtests ebenso bestehen würde, wie der mit neuen oder künstlichen Augen
ausgestattete Geronimo oder eine normal sehende Person, kann nicht verhindern, dass es
absurd ist zu sagen, der vernetzte Geronimo würde etwas sehen, denn auch der vernetzte
Geronimo ist blind. Entscheidend bleibt der Umstand, dass der vernetzte Geronimo über
keine (natürlichen oder künstlichen) funktionierenden Augen verfügt. Dieses Nicht-verfügenüber hat eine doppelte Bedeutung: Erstens besitzt der vernetzte Geronimo keine
funktionierenden Augen und zweitens benutzt nicht er die Augen (bzw. entsprechende
okulare Äquivalente), sondern der Neurochirurg oder der Computer. Wie kann ein
Lebewesen normalerweise Augen benutzen? Ein Lebewesen benutzt Augen, insofern es sie
besitzt, d.h. insofern sie funktionierende Bestandteile seines Körpers sind. Benutzbare
Augen sind Bestandteile eines Lebewesens insofern ihre Benutzung in der Verfügung des
Lebewesens liegt. Die Verfügung liegt im Falle des vernetzten Geronimos nicht bei ihm
(denn weder besitzt noch benutzt er Augen oder okulare Äquivalente), vielmehr liegt die
Kontrolle
über
die
Wahrnehmungserlebnisse
des
vernetzten
Geronimo
beim
Neurochirurgen oder beim Computer.
Der Fehler von KTS besteht also nicht allein darin, dass KTS die kausale
Bedingung anstelle der funktionalen Bedingung privilegiert. Ein zweiter Fehler von KTS
besteht darin, dass nicht Augen (oder was auch immer die Echte Funktion hat einem
Lebewesen visuelle Informationen über seine Umgebung zur Verfügung zu stellen) die
Grundlage für die Bestimmung des Sehens sind, sondern die visuelle Erfahrung. Denn die
Bedingung (1) von KTS lautet, dass ein Wahrnehmungssubjekt eine visuelle Erfahrung E
von oF haben muss, um zu sehen. Wiederum finden wir die Innenperspektive auf eine
Weise privilegiert, die Fehler produziert, und die entscheidenden, aber doch eigentlich
einfachen Punkte verdeckt. Ein dritter Fehler von KTS besteht darin, dass KTS von einem
passiven Bild der Wahrnehmung ausgeht. Lebewesen verwenden ihre Sinnesorgane zur
Erkundung ihrer Umgebung oder des eigenen Körpers. Und deshalb gehört die Verfügung
(der Besitz und die Benutzung) über die Sinnesorgane, das Verfügen über die Augen, zum
Begriff des Sehens. Die Verfügung über die Augen durch ein Lebewesen betrifft nicht nur
die Funktion und das tatsächliche Funktionieren von Augen, sondern die Benutzung der
funktionstüchtigen (natürlichen oder artifiziellen) Augen durch das Lebewesen zur
Erkundung seiner Umgebung oder seines Körpers. Weder die Funktion der Augen noch
456
ihr Funktionieren liegen in der Verfügung eines Lebewesens, das Augen besitzt. Aber die
Benutzung der funktionierenden Sinnesorgane liegt in dessen Verfügung. (Mit dieser
Bemerkung wiederhole ich lediglich das mittels des Winckler-Beckett-Problems erreichte
Resultat, dass das Sehenintr nicht in der Verfügung der Innenperspektive eines Lebewesens
liegt.) Und dieses Verfügen über ist natürlich eine Tätigkeit von Lebewesen.
5.3.2. Die biosemantische Theorie der (visuellen) Wahrnehmung
5.3.2.1. Input-, System- und Output-Komponenten von P-Mechanismen
Sehen kann als funktionaler Begriff verstanden werden, nämlich als Funktion von VS. Wir
sollten also angeben, was die Funktion von VS ist. Dadurch erfahren wir, was Sehen ist.
Die Echte Funktion eines Organs (des Herzens etwa) kann dadurch angegeben werden,
dass wir die selektierten Wirkungen angeben, die das Organ unter Normalen Bedingungen
hat. So können wir sagen: Das Herz pumpt Blut. Dies ist die Echte Funktion des Herzens.
Wir geben also jene Wirkung an, die Auskunft darüber gibt, warum das Herz da ist und die
das Herz (läuft alles gut) hervorbringt. Um diese Wirkung hervorzubringen, muss das Herz
in bestimmten Zuständen sein. So muss es beispielsweise in diastolischen und systolischen
Zuständen sein. Ohne diese Zustände könnte das Herz seine Funktion, Blut zu pumpen,
nicht erfüllen. Doch auch wenn das Herz (aus welchen Gründen auch immer) nicht in
diese Zustände überzugehen vermag, so hat es nach wie vor die Funktion, Blut zu pumpen,
auch wenn es sie nicht erfüllt oder nicht erfüllen kann. Vielleicht ist das Herz defekt und
kann nicht schlagen. Vielleicht ist kein Blut oder eine andere Flüssigkeit vorhanden. Im
ersten Fall kann das Herz die funktionsermöglichenden Zustände nicht einnehmen. Es ist
defekt. Im zweiten Fall ist mit dem Herzen selbst alles in Ordnung, aber die Normalen
Bedingungen liegen nicht vor. In beiden Fällen kann es seine Funktion, Blut zu pumpen,
nicht erfüllen.
Betrachten wir das Herz nun als System, so können wir verschiedene Normale
Komponenten unterscheiden:
(i)
Input-Komponenten (das Vorhandensein von Blut beim Herzen)
(ii)
System-Komponenten (das Einnehmen diastolischer oder systolischer
Zustände)
(iii)
Output-Komponenten (das tatsächliche Pumpen von Blut).
Dies sind Normale Komponenten, weil sie zur Normalen Erklärung für die Erfüllung der
Funktion des Systems gehören. Andere Komponenten mögen vorhanden sein, sie gehören
aber nicht zur Normalen Erklärung. Die Output-Komponente (hier: das Pumpen von Blut)
457
ist die erfolgreiche Echte Funktion des Systems (hier: des Herzens). Um diese Funktion
ausüben zu können, müssen bestimmte System-Komponenten und bestimmte InputKomponenten vorliegen. Fehlen diese Komponenten (oder eine davon), kann das Herz
sein Echte Funktion nicht ausüben, auch wenn es selbst völlig funktionstüchtig ist (wenn
Input-Komponenten wegfallen), aber auch, wenn es funktionsuntüchtig ist (wenn die
System-Komponenten wegfallen). Obwohl mit dem Wegfall von Input- oder SystemKomponenten (oder beidem), das System auch seine Output-Komponente verliert, behält
das System als Mitglied einer REF jedoch seine Echte Funktion. Die Output-Komponente
des Systems ist ja nicht identisch mit seiner Echten Funktion, sondern nur mit seiner
erfolgreich ausgeübten Echten Funktion. (Das ist das Geheimnis der Normativität.)
Übertragen wir dieses Bild nun auf visuelle Systeme (VS). Was ist die OutputKomponente für VS? Die Output-Komponente von VS ist einfaches Sehen eines Objekts.
VS hat einfaches Sehen von o als Output: VS diskriminiert o visuell von dessen
unmittelbarer Umgebung. Was ist die Input-Komponente für VS? Input-Komponenten
sind Bedingungen, die vorliegen müssen, damit ein System wie VS seine Funktion
erfolgreich ausüben kann. Die Input-Komponente von VS ist die Reizung durch o in einer
Umgebung in einem adäquaten Medium (wie etwa Sonnenlicht). Was sind SystemKomponenten für VS? Die System-Komponenten sind die jeweiligen Mechanismen, aus
denen VS besteht, und die die Input-Komponenten verarbeiten. Diese Komponenten
variieren beträchtlich zwischen unterschiedlichen Lebewesen. Bei vielen VS gehören aber
v. a.
unterschiedliche
Helligkeitskonstanz
usw.)
Konstanz-Mechanismen
und
(Größenkonstanz,
Kontrast-Mechanismen
Farbkonstanz,
(Hell-dunkel-Kontraste
für
Kantendetektion usw.) dazu. Nach der Funktion eines VS kann man also auf die folgende
Art und Weise fragen: Welche Input-Komponenten zu diskriminieren ist die Aufgabe eines
VS? Anders formuliert: Korrelationen mit welcher Art von Objekten zu haben ist die
Aufgabe eines VS? Und entsprechend: Welche Art von Output zu erzeugen ist die Aufgabe
von VS?
Ich habe in Abschnitt 3.2.4. über Augen das Folgende gesagt: Augen haben die
Funktion, ihren Trägern räumliche Wahrnehmung zu ermöglichen, und sie tun dies, indem
sie multidirektional Lichtintensitäten absorbieren. Augen haben als P-Mechanismen die
Funktion, Strukturen auszubilden, die das Resultat der Extraktion nützlicher Informationen
durch System-Komponenten sind. Tieraugen bilden eine REF, deren Mitgliedern die Echte
Funktion zukommt, ihren Träger lichtbasierte multidirektionale räumliche Wahrnehmung
von Objekten zu ermöglichen. Die normativen Begriffe für die Kategorie des Auges sind
Auflösung und Empfindlichkeit. Augen sind nun natürlich Teile von VS, die sich durch
458
funktionale Analyse individuieren lassen. Diese Teile umfassen sowohl InputKomponenten (die Augen sind sozusagen das Interface zur Umwelt eines Lebewesens) als
auch System-Komponenten. Bestimmte Kontrast-Mechanismen (etwa zur KantenDetektion) sind als System-Komponenten von VS bereits in die Augen „eingebaut“. Die
Rezeptorenverbände auf der Retina haben die Funktion, Helligkeitskontraste zu verstärken,
und so das Sehentr von Kanten von Objekten oder von Farbübergängen auf Objekten zu
ermöglichen, d.h. zum Bestandteil des Outputs zu machen. Die visuellen R-Vehikel sind
also qua Helligkeitskontraste mit Kantenverläufen und Flächenbrüchen isomorph.
Betrachten wir abermals das Herz. Offensichtlich übernehmen die SystemKomponenten eine wichtige Brückenfunktion zwischen Input- und Output-Komponenten.
Ist Blut im Körper vorhanden, dann sorgen Diastole und Systole dafür, dass das Herz Blut
pumpt. Ebenso vermitteln die System-Komponenten bei VS zwischen Input und OutputKomponenten. Die visuelle Diskriminierung von o in einer bestimmten Umgebung kann
nur gelingen, wenn die System-Komponenten die Input-Komponenten entsprechend
verarbeiten. Dabei übernehmen in erster Linie Konstanz- und Kontrast-Mechanismen eine
wichtige Aufgabe. Auch diese Mechanismen haben eine Echte Funktion. Die Funktionen
der System-Komponenten sind der Echten Funktion des Systems als Ganzem
untergeordnet. Es handelt sich um Subfunktionen. Die Aufgabe der Subfunktionen besteht
darin, einen bestimmten Output zu ermöglichen. Liegen die relevanten InputKomponenten vor und sind die System-Komponenten funktionstüchtig (im Sinne ihrer
Subfunktionen), so wird der Output durch das System erzeugt.
Der Output eines VS nun ko-variiert mit den Input-Komponenten. Für diese
Kovariation sorgen zunächst die System-Komponenten. Die Kovariation fassen wir als
Isomorphie-Relation (1.1.3., 1.1.5., 1.1.7.). Mit anderen Worten: Das VS ist ein PMechanismus. Das VS produziert R-Vehikel. Der Output eines VS ist also ein R-Vehikel.
Es hat als solches lediglich einen R-Inhalt. Ein solcher R-Inhalt ist unterbestimmt, da der
Output eines VS mit vielen Strukturen isomorph sein kann. Auch wenn beispielsweise die
Konstanz-Mechanismen zuverlässig bestimmte Oberflächen, Größen und Entfernungen
stabil halten, so ist damit noch nicht gesagt, als was ein Lebewesen das derart stabil
Gehaltene sieht. Wir befinden uns deshalb erst auf der Ebene des Sehenstr, noch nicht des
Sehensitr. Allerdings können wir aufgrund des Vorliegens von Konstanz-Mechanismen
bereits sagen, dass das VS eines Lebewesens, das über solche visuelle Subfunktionen
verfügt, Objekte in einer Umgebung diskriminiert, wenn auch noch nicht vollständige Objekte
(5.3.3.2.).
459
Oben habe ich gesagt, wir sollten angeben, was die Funktion eines VS ist, um zu
erfahren, was Sehen ist. Hier müssen wir nun präzisieren! Denn wir erfahren bei der
Betrachtung eines VS lediglich, was Sehentr ist. Wir erfahren jedoch nicht, was Sehenitr ist.
Was Sehenitr ist, erfahren wir, wenn wir uns dem ganzen Lebewesen zuwenden, das über ein
VS verfügt. Denn es sind nicht VS, die sehenitr (auch wenn man vielleicht sagen kann, dass
VS sehenintr oder sehentr), sondern Lebewesen mit funktionstüchtigen VS. (Wir sagen, dass
die Katze die Maus sieht, und nicht, dass das VS der Katze die Maus sieht.)913 In
biosemantischen Ausdrücken können wir nun sagen, dass das Verfügen über das VS durch
ein Lebewesen darin besteht, dass das VS einen Konsumenten hat. Der Konsument
ermöglicht es dem Lebewesen aufgrund der Aktivität des P-Mechanismus bestimmte Dinge
zu tun, und zwar dann, wenn bestimmte Input-Komponenten vorliegen, mit denen die
Output-Komponenten aufgrund der Arbeit der System-Komponenten isomorph sind. So
verstanden ist die Art des Sehens, die uns interessiert, nämlich Sehenitr, die
Weiterverwendung des Outputs von VS durch einen Konsumenten, und nicht ein Output
gegeben normale System- und Input-Komponenten. Da also der Output von VS, um dem
Lebewesen zur Verfügung zu stehen, von einem K-System verwendet werden muss, lautet
die Frage, welchen Arten von Konsumenten das VS dient.
Wir können den letzten Punkt wiederum anhand der Magnetbakterien illustrieren.
Das Orientierungssystem dieser Bakterien besteht nicht nur aus magnetotaktischen
Komponenten (den Magnetosomen), wie wir bislang zu Zwecken der Veranschaulichung
vereinfachend vorausgesetzt haben, sondern auch aus aerotaktischen Komponenten, die
die Veränderung des Sauerstoffgehalts des Wassers registrieren. Die System-Komponente
Magnetotaxis hat also die Subfunktion die Richtung des magnetischen Feldes zu
registrieren und die System-Komponente Aerotaxis registriert Veränderung des
Sauerstoffgehalts, dies ist deren Subfunktion. Beide System-Komponenten sind Bestandteil
des Orientierungssystems. Ihre beiden Subfunktionen arbeiten dem Output des
Orientierungssystems zu, nämlich der Angabe einer bestimmten Fortbewegungsrichtung.
Erst die Verwendung dieses Outputs durch einen Konsumenten, der der Tätigkeit des
ganzen Lebewesens dient, führt zur Festlegung des IR-Inhalts des Outputs. Der Konsument
des Outputs des Orientierungssystems ist das Navigationssystem. Die Funktion des
913 In der Diskussion des Falles des blinden, aber vernetzten Geronimo habe ich argumentiert, dass wir diesen
Fall deshalb nicht als Sehenitr einer Szenerie klassifizieren wollen, weil Geronimo über kein funktionstüchtiges
VS verfügt. Geronimo kann nicht sehenintr und folglich kann er nicht sehenitr. Der tiefere Grund, das VS des
Neurochirurgen oder des Computers nicht als Ersatz-VS zu akzeptieren besteht darin, dass Geronimo nicht
über dieses VS verfügt. Weder besitzt er es als Teil seines Körpers noch benutzt er es als Teil seiner
Tätigkeiten. Vielmehr werden die Tätigkeiten des vernetzten Geronimo, etwa seine Augenbewegungen und
Kopfdrehungen, vom externen VS registriert und in ihrer Ausrichtung prädiktiert, sodass das entsprechende
veridische Halluzinationen induziert werden können.
460
Navigationssystems ist die Fortbewegung in Richtung für das ganze Lebewesen
zuträglicher Umweltbedingungen oder die Entfernung von für das ganze Lebewesen
abträglicher Umweltbedingungen. Der IR-Inhalt der durch das Orientierungssystems
(mithin durch die beiden System-Komponenten) zur Verfügung gestellten Outputs besteht
in der Angabe der Richtung einer relativ sauerstoffarmen Region. Die Verarbeitung der
Input-Komponenten durch die beiden System-Komponenten Magnetotaxis und Aerotaxis
führen dazu, dass das Bakterium in sauerstoffarme Regionen navigiert oder in
sauerstoffarmen Regionen verweilt. Sowohl die Fortbewegung in Richtung sauerstoffarmer
Regionen als auch das Verweilen in einer sauerstoffarmen Region sind beides Tätigkeiten
dieser Lebewesen.
5.3.2.2. R-Inhalte und IR-Inhalte von Wahrnehmungsempfindungen
Wir haben nun die wichtigen Elemente zusammen, um die für die biosemantische Theorie
der Wahrnehmung zentrale Unterscheidung einzuführen, nämlich die Unterscheidung
zwischen dem R-Inhalt von Wahrnehmungsempfindungen und dem IR-Inhalt von
Wahrnehmungsempfindungen. Erstes entspricht dem Sehentr, zweites dem Sehenitr. Die
Wahrnehmung eines Lebewesens besteht in der Nutzung oder Verwendung der durch die
Wahrnehmungssysteme dieses Lebewesens hervorgebrachten Empfindungen. Und die
visuelle Wahrnehmung eines Lebewesens besteht in der Nutzung oder Verwendung der
durch das visuelle System dieses Lebewesens hervorgebrachten Empfindungen.
Wahrnehmungen sind von Empfindungen begleitet, visuelle Wahrnehmungen etwa von
Farbempfindungen,
Helligkeitseindrücken
oder
Hell-dunkel-Kontrasten,
akustische
Empfingen von Eindrücken der Höhe, Lautstärke oder Bewegung. Doch wovon handeln
Wahrnehmungsempfinden? Bei dieser Frage handelt es sich um eine Frage nach der
Intentionalität von Wahrnehmungsempfindungen. Es ist wichtig, hier zwei Arten von
Intentionalität zu unterscheiden, wobei es sich nur bei der zweiten Art um Intentionalität
im eigentlichen Sinne handelt. Ich habe zwischen dem bestimmten intentionalen Inhalt eines RVehikels (IR-Inhalt) und dem unbestimmten repräsentationalen Inhalt eines R-Vehikels (RInhalt) unterschieden (1.1.3.). R-Vehikel werden von P-Mechanismen hervorgebracht, die
die Echte Funktion haben, Strukturen hervorzubringen, die andere Strukturen (im Sinne
einer Isomorphie) abbilden. Solche Strukturen haben einen R-Inhalt.
Als „Empfindungen“ werden hier mithin nicht die proximalen Reize eines VS
bezeichnet, etwa die Reizungen der Netzhaut. Dies sind die Input-Komponenten.
Empfindungen sind die durch die System-Komponenten bereits verarbeiteten InputKomponenten, also die Output-Komponenten. Dies haben wir ja soeben als R-Vehikel
461
identifiziert. Die Isomorphie-Relation zwischen dem R-Vehikel und einer externen Struktur
wird also nicht durch direkte kausale Kovariation aufrechterhalten – so ko-variiert der
Schatten mit dem Baum oder der Baum mit seinem Spiegelung auf der Wasseroberfläche –
, sondern durch die über System-Komponenten vermittelte Kovariation. Die SystemKomponenten garantieren im Falle des VS erstens die Aufrechterhaltung von IsomorphieRelationen zwischen R-Vehikeln (Output-Komponenten) und externen Strukturen und
nicht jene zwischen R-Vehikeln und proximalen Reizen (Input-Komponenten). Die
System-Komponenten garantieren im Falle des VS zweitens die Aufrechterhaltung von
Isomorphie-Relationen zwischen R-Vehikeln (Output-Komponenten) und externen
Objekten und nicht jene zwischen R-Vehikeln und Objektflächen. Insbesondere die
Konstanz-Mechanismen sind hier wichtig. Größenkonstanz sorgt für Isomorphie mit der
Größe eines Objekts trotz der Abnahme der Objektfläche auf der Netzhaut bei Entfernung
des Objekts von VS bzw. trotz Zunahme der Objektfläche auf der Netzhaut bei
Annäherung des Objekts an VS. Die Formkonstanz sorgt für Isomorphie mit der Form
eines Objekts trotz durch Perspektivwechsel und Reizveränderungen bedingter
Veränderungen der Form des Objekts auf der Netzhaut. Farbkonstanz sorgt für
Isomorphie mit der anhaftenden Farbe eines Objekts trotz Veränderungen in den
Beleuchtungsfarben, die beispielsweise durch Beleuchtungseffekte oder Schatteneffekte
hervorgerufen werden.
Erst die Nutzung und Verwendung solcher Strukturen nun gibt ihnen einen IRInhalt. Der (unbestimmte) R-Inhalt eines R-Vehikels wird durch die Echte Funktion des
ihn benutzenden Konsumenten festgelegt. Wir können nun zwischen dem R-Inhalt und
dem IR-Inhalt von Wahrnehmungsempfindungen unterscheiden:914
R-Inhalt von Wahrnehmungsempfindungen: Eine Empfindung (Typ) ist eine
Empfindung von X im Hinblick auf ein Wahrnehmungssubjekt S, wenn (unter
Normalen Bedingungen) Empfindungszustände dieses Typs in S nur dann
produziert werden, wenn sich in der unmittelbaren Umgebung von S tatsächlich
etwas befindet, das X ist.
IR-Inhalt von Wahrnehmungsempfindungen: Eine Empfindung (Typ) ist eine
Empfindung von X im Hinblick auf ein Wahrnehmungssubjekt S, wenn (unter
Normalen Bedingungen) die nicht-inferenzielle Reaktion von S auf
Empfindungszustände dieses Typs eine Reaktion ist, die besagt, dass etwas in der
unmittelbaren oder erweiterten Umgebung von S X ist.915
914 Ich lehne mich an den Vorschlag von Churchland 1979: 14 an, auf den Millikan in LTOBC: 319 & 343
verweist.
915 Ich werde in 5.3.4.2. nach der Diskussion von Reids Unterscheidung zwischen natürlicher und erworbener
Wahrnehmung eine leicht modifizierte Fassung „IR-Inhalt von Wahrnehmungsempfindungen*“ vorschlagen.
462
Einige Formulierungen in dieser Unterscheidung verlangen nach Kommentierung: (i)
Wahrnehmungssubjekte sind Lebewesen einer bestimmten Art (3.3.2.). (ii) Empfindungen
sind Typen von Empfindungen, weil eine Empfindung stets die Empfindung eines
Lebewesens (einer bestimmten Art) ist, dessen Wahrnehmungssysteme SystemKomponenten zur Verarbeitung von Input-Komponenten gemäß der Echten Funktionen
dieser System-Komponenten enthalten. In Abhängigkeit von diesen Subfunktionen
generiert ein Wahrnehmungssystem (ein P-Mechanismus) als Output-Komponente (ein RVehikel) verschiedene Empfindungen eines Typs. (iii) Normale Bedingungen für
Wahrnehmungsempfindungen mit R-Inhalt oder IR-Inhalt sind keine statistischen oder
idealen Normalbedingungen, sondern historische Normalbedingungen, die vorliegen
mussten, damit ein Produzent oder ein Konsument eine bestimmte Wirkung (seine Echte
Funktion) erfolgreich ausüben konnte (1.1.4.). (iv) Ein Lebewesen, dessen visuelle
Wahrnehmungsempfindungen einen R-Inhalt haben, ist ein Lebewesen, das siehttr, d.h.
etwas sehen kann. Der R-Inhalt von Wahrnehmungsempfindungen wird durch ein VS
hergestellt, also durch einen P-Mechanismus. Die Output-Komponenten von VS sind RVehikel. (v) Ein Lebewesen, dessen visuelle Wahrnehmungsempfindungen einen IR-Inhalt
haben, ist ein Lebewesen, das siehtitr, das etwas als etwas sehen kann. Der IR-Inhalt von
Wahrnehmungsempfindungen ist nicht vom VS abhängig, sondern von einem KMechanismus, der den Output von VS gemäß seiner Echten Funktion verwendet.
Was ein Lebewesen physiologisch wahrzunehmen imstande ist, ist eine Frage, die
primär die R-Inhalte von Wahrnehmungsempfindungen betrifft. Diese Art der
Empfindungsfähigkeit kann von Art zu Art variieren. Dabei kann es sich um Variationen
zwischen Sinnesmodalitäten handeln. Maulwürfe und Grottenolme sind im Gegensatz zu
Wölfen und Menschen für visuelle Empfindungen unempfänglich, Wölfe und Menschen
sind im Gegensatz zu Tauben und Delfinen für magnetische Felder unempfänglich. Es
kann sich jedoch auch um Variationen innerhalb einer Sinnesmodalität handeln. So sind
einige farbempfindliche Lebewesen Trichromaten und andere nicht, für einige Lebewesen
befindet sich das hörbare Feld zwischen 20 Hz und 20 kHz, für andere weit darüber.
Schließlich kann die Empfindungsfähigkeit innerhalb einer Art variieren, entweder
zwischen Individuen (manche haben ein besseres Gehör als andere) oder innerhalb eines
Individuums (entsprechend den artspezifischen Formen der Reifung und Alterung). Aber:
Solche artspezifischen oder individuellen Variationen der Sinnesmodalitäten legen nun
zwar fest, was ein Lebewesen sehentr kann, sie legen jedoch nicht fest, was ein Lebewesen
sehenitr kann.
463
Nachdem wir uns mit der Produzentenseite befasst haben, sollten wir uns der
Konsumentenseite zuwenden, nämlich den IR-Inhalten von Wahrnehmungsempfindungen.
Die Echte Funktion des Konsumenten eines visuellen R-Vehikels (des Outputs von VS,
der visuellen Wahrnehmungsempfindung) wird als „nicht-inferenzielle Reaktion von S“
angesprochen. Dazu ist Folgendes zu bemerken: (i) Konsumenten (als K-Mechanismen)
können einer analogen Komponentenanalyse unterzogen werden, wie wir es für VS (d.h.
für einen P-Mechanismus) getan haben. Die Output-Komponente eines K-Mechanismus
ist die Echte Funktion (selektierte Wirkung) des Konsumenten. Und diese selektierte
Wirkung wird als „nicht-inferenzielle Reaktion von S“, des ganzen Lebewesens, bezeichnet.
(ii) Nicht-inferenzielle Reaktionen sind stets Reaktionen eines Lebewesens einer
bestimmten Art, also für S charakteristische Reaktionen. Diese artspezifischen Reaktionen
können angeboren oder erworben sein. Wesen, die eine zweite Natur (2.4.) erwerben,
erweitern damit ihre artspezifischen Reaktionsmöglichkeiten. (iii) Die Wendung „nichtinferenziell“ wird im Unterschied zu „inferenziell“ verwendet, ohne dass diese
Unterscheidung jedoch als Beschreibung der für die Wahrnehmungstheorie geläufigen,
aber höchst unklaren Unterscheidung zwischen direkter und indirekter Wahrnehmung
verstanden werden sollte. Als typischer Fall für direktes Sehen wird z.B. das Sehen von
roten Flecken auf der Haut eines Kindes betrachtet, als indirektes Sehen das Sehen, dass
das Kind die Masern hat. Die Interpretation dieses Beispiels lautet dann etwa: Der Arzt
schließt aus dem Vorliegen roter Flecken, dass das Kind die Masern hat. Dieser Schluss
wäre dann eine inferenzielle Reaktion auf die Wahrnehmung der roten Flecken auf der
Haut. Eine der Pointen der biosemantischen Theorie der Wahrnehmung besteht nun darin,
dass der Arzt direkt Sehen kann, dass das Kind die Masern hat. Ein einigermaßen geübter
Arzt schließt nicht auf einen Fall von Masern, sondern sieht einen solchen Fall vorliegen. Die
Bildung der Überzeugung des Arztes, dass das Kind Masern hat, ist ein Beispiel für einen
nicht-inferenzielle Reaktion des Arztes auf Empfindungszustände eines bestimmten Typs
(rote, raue, rundliche, kleine Erhebungen auf der Haut), die besagt, dass etwas in der
unmittelbaren Umgebung von des Arztes ein Fall von Masern ist. Die weitere Überzeugung
des Arztes beispielsweise, dass dies für das Kind bedeutet, dass es morgen nicht am
Sportanlass wird teilnehmen können, ist hingegen eine inferenzielle Reaktion auf die
Wahrnehmung von Masern. (iv) Die Formulierung „etwas in der unmittelbaren oder
erweiterten Umgebung von S“ soll darauf hinweisen, das ein Lebewesen nicht nur zu
sehenitr kann, was sich sozusagen vor seiner Nase befindet, sich mithin in seiner
unmittelbaren Umgebung befindet. Zur erweiterten Umgebung des Lebewesens gehört
auch, was es mittels überscharfer Sinnesorgane oder aber mittels visueller Instrumente
464
sehen kann. Ein Beispiel für erstes ist Superman, ein Beispiel für letzteres ist Sehen mittels
Teleskopen oder Videokameras. Eine weitere Pointe der biosemantischen Theorie der
Wahrnehmung besteht darin, dass auch in der räumlich erweiterten Umwelt eines
Lebewesens liegende Objekte nicht-inferenziell gesehen werden können; ja, auch in der
zeitlich erweiterten Umwelt eines Lebewesens liegende Objekte können nicht-inferenziell
gesehen werden (5.3.4.2.-5.3.4.3.).
Genuin sichtbare Eigenschaften gibt es auf der Ebene der R-Inhalte von
Wahrnehmungsempfindungen, nicht jedoch auf der Ebene von IR-Inhalten. Zugespitzt
kann man sagen: Was ein Lebewesen siehtitr hängt davon ab, als was das Lebewesen die
Wahrnehmungsempfindungen nimmt. Diese sind in diesem Sinne transparent. Ich habe in
5.1.4.4. zwischen Transparenz in einem starken und einem schwachen Sinne unterschieden.
Stark gelesen besagt die These von der Transparenz der Erfahrung, dass wir einer
phänomenal bewussten Erfahrung selbst unmöglich gewahr werden können, es sei denn
dadurch, dass wir uns der Objekte gewahr werden, die durch diese Erfahrungen
repräsentiert werden. Es würde so gesehen zur Natur phänomenal bewusster Erfahrungen
gehören, dass sie transparent sind. Das ist, wie gesagt, wenig überzeugend. Schwach gelesen
besagt diese Transparentthese, dass es sehr schwierig und ungewöhnlich ist, unserer
Erfahrungen gewahr zu werden. Wir können uns ebenso auf Qualitäten des Objekts
konzentrieren (die Farbe der Blumen in der Vase) oder auf Qualitäten unserer
Wahrnehmung des Objekts (die Verschwommenheit der Blumen). Wenn ich nun sage, dass
Wahrnehmungsempfindungen transparent sind, so ist dies in einem schwachen Sinn
gemeint. Wir können unsere Wahrnehmungsempfindungen als reine Empfindungen
nehmen, d.h. uns auf die R-Inhalte konzentrieren, normalerweise (biologisch
„normalerweise“) sind wir auf die Eigenschaften der gesehenen Dinge gerichtet. Allerdings,
und dies ist wichtig, bedeutet dies nun nicht, dass das Sehenitr der Objekte gleichsam auf
deren Oberfläche zum Stillstand kommt. Dies würde bedeuten, das Sehenitr mit dem
Sehentr, IR-Inhalte mit R-Inhalten, zu verwechseln. Ein geübter Arzt siehtitr rote Flecken als
Masern und eine geübte Kunstkennerin siehtitr in einer bestimmten Anordnung roter
Punkte Renoirs Spätstil. Ebenso siehtitr der Arzt nicht nur die Vorderseite des zu
behandelnden Kindes, sondern das ganze Kind. Die Kunstkennerin siehtitr nicht nur die ihr
zugewandte Seite des Gemäldes, sondern ein vollständiges Objekt. Nichts davon wird in
der Wahrnehmung erschlossen. Es ist in der Wahrnehmung präsent.
Der biosemantischen Theorie des Sehens zufolge gilt also: Weder die
Empfindungen legen fest, was ein Lebewesen sehenitr kann, noch stoppt das Sehen
gleichsam an der Oberfläche räumlich und zeitlich präsenter Oberflächen. Was ein
465
Lebewesen siehtitr, ist abhängig von der Funktion der Konsumenten. Zwar sind
Konsumenten durch Output-Bedingungen der Produzenten eingeschränkt, aber
Konsumenten können jede Art von IR-Inhalt als nicht-inferenziellen Inhalt festlegen,
solange die Output-Bedingungen der Produzenten vorliegen. Der IR-Inhalt der
Wahrnehmungsempfindung ist dann natürlich dasjenige, was vorliegen muss (womit die
Output-Bedingung auf dynamische Weise isomorph sein muss, damit der Konsument seine
Echte Funktion erfolgreich ausüben kann. Kausalbedingungen sind als Bestandteil der InputBedingungen natürlich wichtig, nur sind sie für das Sehenitr nicht ausschlaggebend.
5.3.2.3. Anmerkung über Qualia
Bei Wahrnehmungsempfindungen muss es sich in irgendeiner Weise um bewusste
qualitative Zustände eines Lebewesens, um Qualia, handeln. Ich kann im Rahmen dieser
Arbeit die Probleme der Qualia, deren Realität ich ja zugestanden habe (5.1.4.4.), nicht
behandeln. Ich möchte dennoch eine Option ansprechen, die der Biosemantik zur
Verfügung steht, ohne diese ausführlich zu erörtern oder gar zu verteidigen. Zunächst
möchte ich von der Intuition ausgehen, dass viele, auch sehr einfache Lebewesen, bewusste
Empfindungen in einem sehr anspruchslosen Sinne haben: Es „ist irgendwie“ eine
Fledermaus oder eine Spinne zu sein.
Bei der Unterscheidung zwischen Vehikeln und Inhalten haben wir gesehen, dass
sich R-Vehikel von Lebewesen (ebenso wie Märchen-Vehikel in einem Märchenbuch) zwar
im Körper eines Lebewesens finden, dass sich aber die IR-Inhalte nicht im Körper finden
lassen müssen (ebenso wenig wie sich der Inhalt des Märchens im Buch finden lassen
muss). Also lassen sich die R-Inhalte im Körper eines Lebewesens finden. R-Inhalte sind
der Biosemantik zufolge die durch einen R-Produzenten hervorgebrachten Strukturen, die
mit bestimmten externen Strukturen isomorph sind. Bei allem, was ich bislang über RInhalte von Wahrnehmungsempfindungen gesagt habe, macht es den Anschein, als würde
ich Qualia auf R-Vehikel reduzieren. Ich scheine also auf die These festgelegt, Qualia ließen
sich auf materielle Strukturen in den Körpern von Lebewesen reduzieren.
Betrachten wir eine Passage, in der sich Millikan eher beiläufig über Qualia äußert.
Sie schreibt über den Sumpfmann:
„Suppose that by some cosmic accident a collection of molecules formerly in
random motion were to coalesce to form your exact physical double. Though
possibly that being would be and even would have to be in a state of consciousness
exactly like ours, that being would have no ideas, no beliefs, no intentions, no
aspirations, no fears, and no hopes. (His non-intentional states like being in pain or
466
itching, may of course be another matter.) This because the evolutionary history of the
being would be wrong. For only in virtue of one’s evolutionary history do one’s
intentional mental states have proper functions. Hence does one mean or intend at
all, let alone mean anything determinate.“916
Millikan betrachtet bestimmte Bewusstseinszustände als nicht-intentional. Sie erwähnt
Schmerzen und Juckreiz. Wir können annehmen, dass diese Beispiele in üblicher Weise
besonders augenfällige Beispiele für nicht-intentionale qualitative Zustände (Qualia)
nennen. Weiter deutet Millikan hier die Auffassung an, dass der Sumpfmann zwar über
keine intentionalen, dafür möglicherweise über nicht-intentionale Zustände verfügt. Würde
ich hingegen die These vertreten wollen, dass Qualia auf materielle Strukturen in den
Körpern von Lebewesen reduzierbar sind, dann nur insofern diese Strukturen von
Vermögen (P-Mechanismen) mit Echten Funktionen abhängen. Dieser Zusatz würde
implizieren, dass Sumpfwesen vollkommene Zombies sind und so auch über keine nichtintentionalen qualitativen Zustände verfügen.
An dieser Stelle steht jedoch die Option offen, dass der phänomenale Charakter
mentaler Repräsentationen auf R-Vehikeln superveniert oder emergiert. Bei Qualia würde
es sich dann um supervenierende oder emergierende Eigenschaften von R-Vehikeln
handeln und nicht um nicht-repräsentationale interne materielle Zustände (wie es QualiaPhysikalisten wollen) und auch nicht um repräsentationale externe materielle Eigenschaften
(wie es Qualia-Repräsentationalisten möchten). In meinem Vorschlag bleiben Qualia somit
Eigenschaften von Repräsentationen (von R-Vehikeln), gehören aber nicht zum IR-Inhalt
dieser Repräsentationen, sondern bilden deren R-Inhalt. Qualia ko-variieren mit externen
Eigenschaften von Objekten, die die direkten Objekte unseres Bewusstseins sind, sind
jedoch
normalerweise
(nicht
notwendigerweise)
transparent.
Das
hier
intendierte
„normalerweise“ ist kein statistisches, sondern ein biologisches. Lebewesen, die des
phänomenalen Erlebens fähig sind (ich nehme wie gesagt an, dass dies auf viele Tiere
zutrifft) oder die eine Fähigkeit zur Introspektion ausgebildet haben (ich bezweifle, dass
dies auf viele Tiere zutrifft), sind nicht in erster Linie auf Eigenschaften ihrer R-Vehikel
fokussiert, sondern auf Eigenschaften, Objekte und Ereignisse in ihrer Umwelt. Auch diese
nicht-reduktionistische Option impliziert natürlich, dass Sumpfmänner Zombies sind.
Dieser Vorschlag wirft zweifellos viele Fragen auf, die ich hier nicht behandeln
kann. Er kann vermutlich mit den diesbezüglichen Auffassungen von Sidney Shoemaker in
Übereinstimmung gebracht werden. Shoemaker ist im Hinblick auf Qualia sowohl
Repräsentationalist als auch Anti-Repräsentationalist. Er erkennt an, dass phänomenaler
Charakter eine repräsentationalistische Natur hat und bestreitet zugleich, dass eine
916
Vgl. LTOBC: 93; meine Hervorhebung.
467
vollständige theoretische Erfassung von Qualia auf intrinsische Eigenschaften verzichten
kann.917
5.3.3. Aneignungen und Eignungen
5.3.3.1. Sehen als Tätigkeit von Lebewesen
Wir können für die IR-Inhalte von Wahrnehmungsempfindungen im Hinblick auf VS
zwischen visuellen Einzwecksystemen (special purpose systems), visuellen Mehrzwecksysteme
(multiple
purpose
systems)
und
visuellen
Allzwecksysteme
(general
purpose
systems)
unterscheiden.918 Sowohl Lebewesen mit visuellen Einzwecksystemen als auch solche mit
visuellen Mehrzwecksystemen kann man als „visuelle Spezialisten“ bezeichnen, Lebewesen
mit visuellen Allzwecksystemen hingegen als „visuelle Generalisten“.
Visuelle Spezialisten sind zu bestimmten artspezifischen nicht-inferenziellen
Reaktionen fähig, die entweder die Interaktionen mit unbelebten Objekten (Beibehaltung
der Fortbewegungsrichtung, die Umgehung von Hindernissen, Orientierung mittels
Orientierungspunkten etc.) oder mit belebten Objekten (Finden und Verfolgen von Beute,
die Entdeckung und Vermeidung von Feinden usw.) betreffen. Weil etwa im Falle des
Magnetbakteriums das Orientierungssystem (P-Mechanismus) und das Navigationssystem
(K-Mechanismus) so kooperieren, dass sie genau einen Typ von IR-Repräsentation
hervorbringen (nämlich die Anzeige sauerstoffarmer Regionen), handelt es sich um ein
Einzwecksystem.
Die
verschiedenen
Submechanismen
des
Orientierungssystems
(Magnetotaxis, Aerotaxis) dienen zusammen mit dem Konsumenten nur einem Zweck.
Freilich handelt es sich hierbei um kein visuelles Einzwecksystem. Der Grund besteht
einfach darin, dass das Orientierungssystem kein Auge im Sinne der Definition von 3.2.4.
einschließt und entsprechend keine visuellen Informationen verarbeitet.
919
Wir können
jedoch das VS des Frosches vereinfacht als ein visuelles Einzwecksystem auffassen.
Im Falle von Mehrzwecksystemen können System-Komponenten eines VS zu
angeborener Mustererkennung unterschiedliche im engeren Sinne biologische Funktionen
Vgl. Shoemaker 1996. Tye 2000: V bezweifelt, dass diese Position stabil sein kann.
Vgl. Land und Nilsson 2006.
919 Zur Erinnerung: Augen haben die Funktion, ihren Trägern räumliche Wahrnehmung zu ermöglichen, und
sie tun dies, indem sie multidirektional Lichtintensitäten absorbieren. „Eyes are devices for extracting useful
information from the light reflected or emitted from objects in the world around us.“ (Land und Nilsson
2001: 16) Die Räumlichkeit dieser Wahrnehmung bedeutet also nicht, dass ein Lebewesen mit Augen nur
schon, weil es über Augen verfügt, einen (egozentrischen oder allozentrisch strukturierten) Raum mit
Objekten wahrnimmt, sondern lediglich, dass es Lichtintensitäten von unterschiedlichen Raumstellen
unterschiedlich stark absorbiert.
917
918
468
erfüllen, wie etwa Beute-, Räuber- oder Artgenossendetektion. Die Springspinnen sind
Beispiele
für
Inhaber
visueller
Mehrzwecksysteme.
Die
R-Inhalte
der
Wahrnehmungsempfindungen von o eines Individuums S einer Springspinnenart werden
zu IR-Inhalten der Wahrnehmungsempfindungen von o als F, insofern S (unter Normalen
Bedingungen) über artspezifische, nicht-inferenzielle Reaktionen auf Empfindungszustände
dieses Typs verfügt, die besagen, dass etwas (o) in der unmittelbaren oder erweiterten
Umgebung von S ein F ist. Wir können zur Illustration auf ein bereits (in 3.2.4.)
eingeführtes Beispiel zurückgreifen. Eine besondere Form von Mimikry erlaubt es der
Springspinne M. assimilis, sich unter den aggressiven Weberameisen aufzuhalten. Da M.
assimilis Beute fangen muss, unter Weberameisen lebt, Attacken dieses Modells vermeiden
muss, liegt die Vermutung nahe, dass sie Beutetiere und Modelle visuell unterscheiden
können muss.920 Tests bestätigen dies. M. assimilis siehtitr also Beutetiere und Modelle. Der
K-Mechanismus, der es ihr erlaubt, die Information aus ihrem visuellen Vehikel zu
extrahieren, dass es sich bei einem Objekt um ein Modell handelt, legt den IR-Inhalt des
Vehikels fest. Die Spinne siehtitr ein Modell (eine Weberameise), unabhängig davon, ob sich
eine Weberameise in ihrer Umgebung befindet oder nicht, d.h. unabhängig davon, ob sie
eine Weberameise siehttr. Wenn das, was sie siehttr, lediglich eine Modellattrappe ist, die
eine neugierige Verhaltensbiologin vor ihr hin und her bewegt, so siehtitr die Spinne ein
Modell, aber sie siehttr kein Modell.
Der IR-Inhalt von visuellen Spezialisten ist nicht-begrifflicher Natur. Dieser Inhalt
NBI ist subpersonaler Natur und beruht auf angeborenen natürlichen Funktionen.
Wahrnehmbare Eignungen und Weisen der Aneignung sind ebenfalls angeboren und nur
minimal durch Lernprozesse modifizierbar. Damit möchte ich keineswegs ausschließen,
dass es sich auch um einen phänomenalen NBI handelt, dass es also irgendwie ist, eine
Springspinne oder ein Frosch zu sein (5.3.2.3). Doch wenn man will, kann man sagen, dass
wir erst bei den visuellen Generalisten auf eine personale Ebene gelangen, d.h. auf die Ebene
eines NBI für das ganze Lebewesen. Im Folgenden soll es nur noch um diese Ebene gehen
und um behavioralen NBI. Es geht dabei erstens darum, den in Abschnitt 5.1.4.2.
eingeführten Begriff des behavioralen NBI zu klären, und zweitens darum zu zeigen, wie
diese Art NBI Grundlage für kognitiv anspruchsvollere Wahrnehmungen und schließlich
auch für begriffliche Wahrnehmung sein kann.
Allgemein gesprochen richten sich visuelle Spezialisten also auf festgelegte
Eigenschaften (Eignungen) mit festgelegten Verhaltensweisen (Aneignungen). Die visuellen R920 Die hier auftauchenden Vorkommnisse von „muss“ sind natürlich im Sinne der in 3.3.1. eingeführten
natürlichen Normativität zu verstehen. Ich werde in 5.3.3.2. auf die Normen des Sehens zu sprechen
kommen.
469
Vehikel der Springspinne dienen festgelegten Eignungen und festgelegten Aneignungen.
Die festgelegten Aneignungen werden durch K-Mechanismen hervorgebracht, die auf ganz
spezifische Eignungen angelegt sind. Was die Springspinne siehtitr, sieht sie in seiner
Eignung als Beute, als Paarungspartner oder als Fressfeind. Und entsprechend eignet sich
die Spinne das Wahrgenommene springend, signalisierend oder fliehend an. Visuelle
Generalisten hingegen können auf festgelegte Eignungen mit einer offenen Bandbreite von
Aneignungen oder auf eine offene Bandbreite von Eignungen mit festgelegten
Aneignungen oder auf eine offene Bandbreite von Eignungen mit einer offenen Bandbreite
von Aneignungen nicht-inferenziell reagieren.
Bei Allzwecksystemen können System-Komponenten eines VS zu angeborener und
erworbener Mustererkennung unterschiedliche sowohl biologische als auch kulturelle
Funktionen erfüllen und mit neuen Funktionen versehen werden. Im Gegensatz zu
Spezialisten sind visuelle Generalisten fähig, die artspezifischen visuellen Empfindungen
nicht nur mittels angeborener oder fest verdrahteter artspezifischer K-Mechanismen zu
verwenden, sondern durch Lernen, Unterweisung, Übung neuartige K-Mechanismen
auszubilden, wobei die Ausbildung solcher K-Mechanismen durchaus zur artspezifischen
zweiten Natur einer Art gehören kann (2.2. und 3.3.2.). Zweifellos sind Menschen die
ausgeprägtesten visuellen Generalisten. Unser visuelles Supergeneralistentum hat zwei
Gründe. Erstens ist der Mensch in seiner biologischen Ausstattung plastisch. Diese
Plastizität betrifft v. a. das Gehirn. Die Plastizität des Gehirns ist jedoch lediglich ein
Beispiel dafür, was man als „Evolution der Evolutionsfähigkeit“ bezeichnet. Die
Evolutionsfähigkeit teilen wir mit zahlreichen anderen Lebewesen. Der zweite Grund für
unser visuelles Supergeneralistentum besteht in der Tatsache, dass wir nicht nur über
natürliche Fähigkeiten mit Echten Funktionen verfügen, sondern in einer kulturellen Welt
leben. In diesem Abschnitt werde ich auf den ersten Grund eingehen. Erst im folgenden
Abschnitt werde ich mich im Anschluss an die Diskussion von Reids Unterscheidung
zwischen natürlicher und erworbener Wahrnehmung dem zweiten Grund zuwenden.921
Millikan beschreibt nun Evolution der Evolutionsfähigkeit wie folgt:
„One of the many things that have evolved by natural selection is evolvability
itself. One example of this is the evolution of sexual reproduction, which mixes
genes in such a way as to introduce wide variation for selection in organisms while
still ensuring that most remain viable. Another example is the evolution of homeo
box genes. These are genes lying close together on the same chromosome that
controls the expression of other genes whose phenotypic effects lie within strictly
limited bodily areas. Thus, one part of the animal can be changed in various ways,
effectively experimented with, without at the same time affecting random unrelated
921 Natürlich hängen beide Gründe zusammen, aber das soll hier nicht eigens thematisiert werden, vgl. aber
Sterelny 2003.
470
parts of the organism. The evolution of completely new levels of natural selection
that ride piggyback on lower levels is another way in which evolution evolves. The
evolution of behavioral systems controlled partly by mechanisms that learn by
operant or instrumental conditioning […] is an example of the evolution of a new
level of selection, as are the development of trial and error in perception of paths
to a goal and the development of Popperian trial and error by which
representations are experimented with in thought.“922
Wichtig ist natürlich die Evolution von Lernmechanismen, die eine neue Ebene der
Selektion darstellen. Ein Beispiel für das Versuch-und-Irrtums-Verfahren in der
Wahrnehmung des Wegs zu einem Ziel ist das folgende: Ein Grauhörnchen sieht unter
einem Verandadach ein aufgehängtes Vogelhäuschen. Es rennt auf dem Verandageländer
hin und her und betrachtet das Futterhäuschen wiederholt von allen möglichen Seiten.
Schließlich springt es zum Abdeckgitter der Verandatür, von dort weiter in Richtung des
Vogelhäuschens und verfehlt es. Es springt etwas höher ins Abdeckgitter. Dieser erneute
Versuch führt es an sein Ziel.923
In diesem Beispiel, auf das ich im Folgenden wiederholt zurückkommen werde,
sucht ein Lebewesen visuell nach einen Pfad zu einem bestimmten Ziel. Nachdem es sich
relativ zu seinem Ziel in die richtige Position gebracht hat, nimmt es das Verandageländer
und das Abdeckgitter als gangbaren Weg zu seinem Ziel wahr. Es sieht den Weg als
VM: 15. Hier ein Beispiel für das zielgerichtete Pfadfinden: Ein Hund in einer Küche möchte etwas
fressen, das für ihn aber zu hoch hängt. Er blickt hinauf, springt und japst, dreht sich und winselt und kommt
nicht heran. Was tun? Er sieht einen Stuhl neben dem Tisch, steigt über den Stuhl auf den Tisch und
schnappt den ersehnten Leckerbissen (Cureau de la Chambre 1989: 102). Hier zwei Beispiele für Poppersche
Wesen, die sich des Zweck-Mittel-Denkens bedienen. Ein Rabe im klirrenden Winter erblickt eine Stange, an
der an Schnüren getrocknetes Fleisch hängt. Im Flug ist das harte Fleisch nicht zu erhaschen. Was tun? Der
Rabe setzt sich auf die Stange, zieht ein Stück Schnur mit dem Schnabel zu sich hoch, legt es auf die Stange,
setzt den Fuß darauf, holt das nächste Stück hoch, legt es wiederum auf die Stange, setzt den Fuß darauf usw.
Schließlich hat er das Fleisch in den Krallen. Vgl. Heinrich 1996: 994: „[T]ypically a bird approached the
string nervously, pecked or briefly yanked on the string, repeated the approach when given another
opportunity, extinguished the approach behavior, or suddenly did the entire string-pulling sequence correctly.
One of the wild birds performed the entire sequence correctly on his first approach to the string, even though
no other bird of that group had shown the behavior. After a bird had acquired the behavior it thereafter
performed the behavior correctly without fail.“ Der Psychologe Wolfgang Köhler (Köhler 1921) untersuchte
kurz vor dem Ersten Weltkrieg die Intelligenz von Menschenaffen. So ließ er beispielsweise außerhalb des
Schimpansenkäfigs Bananen auslegen, und zwar in einer für Schimpansenarme zu großen Entfernung. Im
Käfig befanden sich zwei Bambusrohre von unterschiedlichem Durchmesser, mit denen die Schimpansen
Futter heranziehen konnten. Doch ein Schilfrohr allein reichte nicht an die Bananen heran. Ein Schimpanse
namens Sultan entdeckte, während er mit diesen Rohren spielte, dass sich das dünnere in das dickere Rohr
stecken lässt. Jetzt konnte er die ersehnten Bananen erreichen.
923 Das Beispiel stammt von Millikan 2006a: 119: „I haven’t got any fancy animals such as chimps or dolphins
or African grey parrots in my laboratory, but we do have grey squirrels in our yard. And we have a bird feeder
that hangs on a chain from well under the eves above the deck of our house, hung there to keep it out of
reach of the grey squirrels. The grey squirrels are not satisfied with this arrangement. Not long ago I watched
one eyeing the feeder from the deck. It studied the situation long and hard from one side of the deck, then
from the other. It climbed up on the railing to study the situation from there, first from one side, then from
the other side, and then from underneath. It eyed the screen on the door that goes out to the deck. Finally it
made a try. Starting from a run along the railing, it leapt and ricocheted off the screen toward the feeder but
missed. Once again it surveyed the situation from various angles, and finally succeeded by hitting the screen a
little higher up, then hanging on tight to the whirligig feeder while it wound up, unwound, wound up again
and unwound. I hadn’t the heart to shoo it away!“
922
471
geeigneten Weg zum Ziel. Die Eignung, die das Lebewesen sieht, ist direkt mit einem diese
Eignung betreffenden Verhalten verbunden. Und zwar auf zweierlei Weise: Erstens bringt
sich das Tier in eine Position, einen gangbaren Weg zu finden, zweitens nimmt es diesen
Weg. Beide Verhaltensweisen können verfehlt werden. Das Tier kann sich so positionieren,
dass es keinen geeigneten Weg erblickt, und der Gang des Wegs kann misslingen. Die
Evolution behavioraler Systeme, die einem Wesen bestimmte Lernformen ermöglichen,
sind sowohl eine Voraussetzung für die Ausbildung einer weiten Bandbreite von
Verhaltensweisen als auch für die Wahrnehmung einer weiten Bandbreite von Eignungen.
Die Verhaltensweisen des Grauhörnchens sind relativ eingeschränkt, es rennt hin und her
und springt und wiederholt dasselbe. Aber es kann an Objekten neue Eignungen
wahrnehmen. In unserem Falle weisen sowohl die Verhaltensweisen als auch die möglichen
Eignungen eine weitaus größere Bandbreite auf.
Wenden wir uns nun der für die biosemantische Theorie der Wahrnehmung
zentralen Idee zu, dass das Sehenitr mit dem unbewaffneten und ungeübten Auge als
natürliche Wahrnehmung eine Tätigkeit eines Lebewesens ist. Ich habe darauf hingewiesen
(5.2.1.), dass die Alternative der Außenperspektive, im Gegensatz zu „humeianischen“ und
„kantianischen“ Ansätzen bei der Innenperspektive, als „aristotelisch“ bezeichnet werden
kann. Sie verdient diese Bezeichnung u.a. im folgenden Sinne: Laut Aristoteles ist das
Sehen eine Fähigkeit von Lebewesen, sodass sich Untersuchungen über psychische
Vermögen direkt der Biologie zuwenden dürfen. Dies ist der erste relevante Bezug zur
Biosemantik. Zweitens ist Aristoteles zufolge das Sehen eine Tätigkeit, ein Verhalten von
Lebewesen. Verhalten besteht nun nicht nur in Bewegungen, sondern auch im Innehalten,
im Stillhalten, im Einhalten usw. Das pirschende Raubtier, das plötzlich still steht, verhält
sich auf bestimmte Weise, der Läufer, der sich am Start anspannt, verhält sich ebenfalls.
Sowohl Stillstehen als auch Anspannung sind Teil einer Tätigkeit, nämlich des Anpirschens
bzw. des Wettlaufs. Im Sehen als Tätigkeit steht das Einhalten am Ende von Tätigkeiten
wie dem Umsehen, Hinsehen, Nachsehen, Überblicken, Umblicken, Anblicken usw. Dieses
Einhalten, das Sehen von etwas, ist das Ziel dieser Tätigkeiten.924 Anstelle von Ziel können
wir sagen: es ist deren Echte Funktion. Die Echte Funktion dieser Tätigkeit ist die
Wahrnehmung von vollständigen Objekten in der Umwelt eines Lebewesens. Die
924 Vgl. Heidegger 1976: 284 über Aristoteles’ Begriff der kinesis, den Heidegger als „Bewegtheit“ übersetzt:
„Die Bewegung des Sichumsehens und Nachsehens ist eigentlich erst höchste Bewegtheit in der Ruhigkeit des in
sich gesammelten (einfachen) Sehens. Solches Sehen ist das
, das Ende, worin sich die Bewegung
des Augenblicks erst auffängt und wesentlich Bewegtheit ist. (»Ende« nicht Folge des Aufhörens der
Bewegung, sondern Anfang der Bewegtheit als auffangendes Aufbehalten der Bewegung).“ Der wesentliche
Punkt besteht wie im Falle des Anpirschens und des Sprints darin, dass zur Bewegtheit sowohl Bewegung als
auch Ruhe gehören und Ruhe nicht der Gegenbegriff zur Bewegtheit ist. Die Bewegtheit geht auf ein Ziel
(ein Ende, Telos) und insofern gehört das Ziel (die Ruhe) zur Tätigkeit hinzu.
472
Aktualisierung dieser Echten Funktion besteht in Ausübungen dieser Fähigkeit, d.h. in
Tätigkeiten des Sehens. Zu diesen Tätigkeiten des Sehens gehören sowohl Bewegungen des
Lebewesens (das Umsehen, Hinsehen, Nachsehen usw.) als auch das Innehalten (das
Sehen, Fixieren, Erblicken usw. eines Objekts). Zum Sehen als Tätigkeit eines Lebewesens
gehört also das motorische System des Lebewesens. Das motorische System, so die These,
ist der primäre Konsument visueller R-Vehikel. Anders formuliert: Die Echte Funktion der
Tätigkeit des Sehens ist die Wahrnehmung von vollständigen Objekten in der Umwelt eines
Lebewesens und der Objektbezug beim Sehen wird durch die Tätigkeit des Lebewesens
hergestellt. Sehen ist also, wie es die Außenperspektive fordert, ein Prozess in der Welt,
nicht weil sich das Sehen in einem Lebewesen abspielt, sondern weil es eine Tätigkeit eines
Lebewesens in einer Umwelt ist. Diese Tätigkeit involviert Repräsentationen (R-Vehikel
mit R-Inhalten), deren IR-Inhalt zunächst auf der grundlegenden, natürlichen Ebene ein
NBI ist, und zwar nicht ein NBI in der kontrastiven, subpersonalen oder phänomenalen
Bedeutung, sondern in der behavioralen Bedeutung (5.1.5.2.). Behavioraler NBI von
visuellen Wahrnehmungen ist ein IR-Inhalt, insofern bestimmte Verhaltensweisen des
ganzen Lebewesens als Konsumenten der R-Vehikel seines VS fungieren. Dabei handelt es
sich um Verhaltensweisen, die visuelle Vehikel für Objekte als Zeichen für Eignungen dieser
Objekte konsumieren. So lautet die Behauptung. Nun zu ihrer Erläuterung und
Begründung!
In 4.4. habe ich argumentiert, dass wir sprachlosen Wesen ein Körperselbst
zuschreiben können. Viele Tiere können in ihrem visuellen Wahrnehmungsfeld invariante
Information über die Position der Gliedmaßen ihres Körpers von variablen Informationen
über die aktuelle Umwelt unterscheiden. Diese Unterscheidung ist grundlegend für
zielgerichtetes Verhalten, was man sich am Beispiel der Fortbewegung eines Orang-Utans
in den Baumkronen vor Augen führen kann. Die äußere Wahrnehmung der Gliedmaßen
sind als Invarianten im visuellen Feld mit der inneren Wahrnehmung körperlichen
Eigenwahrnehmung des Lebewesens korreliert und aufgrund dieser Korrelation ist
Körperwahrnehmung eine Form der Selbstwahrnehmung. Wichtig ist zunächst die
biologische Funktion des Körperselbst: Würde ein Tier seine Gliedmaßen nur als Objekte
unter anderen Objekten betrachten, dann wäre die biologische Funktion der
Repräsentation des eigenen Körpers nicht erfüllt. Die biologische Funktion besteht in der
flexiblen Verhaltenssteuerung, wie das Beispiel des Orang-Utans veranschaulicht, d.h. der
Koordination von Eigenkörperwahrnehmung und Verhaltensoptionen in einer aktuellen
Umwelt.
473
Dieses Körperselbst ist nun Bestandteil der Wahrnehmung, und zwar dadurch, dass
es Bestandteil des visuellen Feldes ist. Dies ist es einerseits dadurch, dass das visuelle Feld
(das Gesichtsfeld) durch das Körperselbst begrenzt ist und andererseits dadurch, dass Teile
des Körpers Bestandteil des visuellen Feldes sind.925 Der zweite Punkt ist offensichtlich.
Der erste Punkt hingegen bereitet auf den ersten Blick Probleme. Ein kontrastiver
Vergleich mag hilfreich sein: Das Gesichtsfeld ist nicht auf die gleiche Weise begrenzt wie
der Blick aus einem Fenster durch den Fensterrahmen. Erstens verdeckt im Falle des
Fensterrahmens etwas im Vordergrund (der Rahmen) etwas im Hintergrund (hinter dem
Rahmen). Zweitens ist die Begrenzung durch den Fensterrahmen scharf und bestimmt,
man kann z.B. auf die Grenz verweisen. Was außerhalb des visuellen Feldes liegt, wird
hingegen nicht durch etwas im Vordergrund verdeckt und es liegt auch nicht hinter etwas,
wodurch es verdeckt würde. Vielmehr entspricht das Gesichtsfeld der Tätigkeit des
Wahrnehmungssubjekts, die, wie bereits gesagt, sowohl Bewegung als auch Ruhe umfasst.
Das Gesichtsfeld wird durch diese Tätigkeit konstituiert, nicht durch Sehhindernisse. Es ist
fatal, die Raummetapher zu wörtlich zu nehmen und das visuelle Feld wie ein Gemälde
aufzufassen, das durch einen Rahmen oder durch das Ende der Leinwand begrenzt ist, und
deshalb beispielsweise über räumliche Eigenschaften verfügt.926 Weil das Gesichtsfeld
durch Tätigkeiten konstituiert wird, sind seine Grenzen nicht zu erfassen wie die Ränder
eines Fensterrahmens. Objekte haben räumliche Grenzen, Tätigkeiten hingegen haben
keine Grenzen dieser Art. Merleau-Pontys bereits zitierte und zunächst schwer zu
verstehende Bemerkung, dass am Ende sogar das in meinem Rücken Gelegene nicht
gänzlich ohne visuelle Gegenwart sei, verweist m.E. auf diesen Umstand. Das in meinem
Rücken Gelegene gehört zu meinem Gesichtsfeld, weil das Gesichtsfeld durch meine
Tätigkeit konstituiert wird, und nicht durch einen Rahmen, der es eingrenzt. Da ich meinen
Kopf oder mich selbst jederzeit umwenden kann (oder in einen Spiegel blicken kann),
gehört auch das in meinem Rücken Gelegene insofern zu meinem Gesichtsfeld, als dass
seine Sichtbarkeit lediglich eine geringfügige Modifikation meiner Tätigkeiten erfordert.
Das Gesichtsfeld wird nicht begrenzt durch meine Nase, meine Wangenkochen oder meine
Vgl. dazu Gibson 1979: 111f.
Es ist deshalb fatal, weil es zu einer Art „Internalisierung des Inhalts“ (5.1.4.1.) führt. Zwar scheint sich
heute niemand mehr auf die Annahme festlegen zu wollen, dass die Wahrnehmung von Farben und Formen
es erfordern, dass die Wahrnehmungsvehikel selbst Farben und Formen haben. Aus diesem Grund sind
beispielsweise einige Kommentatoren der Ansicht, dass sich hylemorphistische Wahrnehmungstheorien
vollkommen überlebt hätten. Diesen Theorien zufolge nimmt das Wahrnehmungssubjekt z.B. die Form der
Röte in sich auf. Der Charakter einer Rotwahrnehmung erklärt sich durch diese Formassimilation. Dennoch
begegnet man dem Übel der Internalisierung des Inhalts immer wieder. Hier ein Beispiel, das Millikan
anführt: „Recall, however, this passage from Strawson’s Individuals, Chapter 2: „Sounds...have no intrinsic
spatial characteristics...[by contrast]...Evidently the visual field is necessarily extended at any moment, and its
parts must exhibit spatial relations to each other“ (Strawson 1959 p.65). The visual field is itself extended?“
(OCCI: 115n)
925
926
474
Stirnwölbung, denn diese Körperteile können ebenso wie meine Hände, Schultern oder
Füße Bestandteil des visuellen Feldes werden.
Die Tätigkeiten eines Lebewesens, das über ein Körperselbst verfügt, sind, so
möchte ich behaupten, der grundlegende, natürliche Konsument der R-Vehikel, die das VS
zur Verfügung stellt. Genau genommen ist nicht die Tätigkeit oder das Verhalten der
Konsument, sondern das motorische System MS eines Lebewesens, denn eine Tätigkeit ist
ein Effekt von MS. (Ebenso ist nicht die Fortbewegung des Magnetbakteriums der
Konsument der magnetotaktischen Repräsentation, sondern das Navigationssystem, das
Fortbewegung als Output-Komponente hat.) Diese These hat nun auch einen Einfluss auf
das Wahrnehmungsobjekt. Der biosemantischen Theorie zufolge sehen wir primär nicht
Objekte mit Attributen, sondern Objekte mit Eignungen (d.h. Geeignetheiten oder
Ungeeignetheiten). Ich möchte den Ausdruck „Eignung“ als genaue Übersetzung für
Gibsons Begriff der „affordance“ benutzen. Als Gegenbegriff zu „Eignung“ werde ich den
Begriff des „Attributs“ verwenden. Sowohl Eignungen als auch Attribute sind
Eigenschaften von Objekten. Den Begriff der „Aneignung“ werde ich als freie
Übersetzung von Merleau-Pontys Begriff der „intentionnalité motrice“ benutzen.927 Wir
können nun sagen: Lebewesen sehenitr Objekte mit Eignungen, und zwar insofern diese
Objekte Anlass für bestimmte Tätigkeiten der Lebewesen geben. Diese Tätigkeiten werde
ich als „Aneignungen“ bezeichnen.
5.3.3.2. Tätigkeiten als Aneignungen
Es gibt zwei Arten der Aneignung, nämlich praktische (darunter fallen sowohl prohibtive als
auch proaktive) und explorative. Unter praktisch-proaktiven Aneignungen kann man sich etwa das
Packen eines Objekts durch ein Lebewesen mit dessen Hand oder mit dessen Maul
vorstellen. Das Objekt erscheint dann dem Lebewesen als zum Packen geeignet. Die
„Packbarkeit“ ist eine Eignung des Objekts. Unter der praktisch-prohibitiven Aneignung kann
man sich das Ausweichen eines Lebewesens vor einem Objekt vorstellen. Das Objekt
erscheint dann dem Lebewesen als zum Ausweichen geeignet. Die „Ausweichbarkeit“ ist
eine Eignung des Objekts. Praktische Aneignungen betreffen Eignungen des Objekts,
insofern ein Lebewesen in einer bestimmten Relation zu ihm steht. Unter einer explorativen
Aneignung kann man sich die visuelle oder andere sensorische Erkundungen eines Objekts
Merleau-Ponty 1945: 128 führt diesen Begriff nach der Diskussion einiger interessanter pathologischer
Fälle ein, indem er festhält: „nous somme invités à reconnaître entre le mouvement comme processus en
troisième personne et la pensée comme représentation du mouvement une anticipation ou une saisie du
résultat assuré par le corps lui-même comme puissance motrice, un ‚projet moteur‘, une intentionnalité
motrice.“ Vgl. dazu Kelly 2002.
927
475
durch ein Lebewesen vorstellen. Hier betreffen die Eignungen nicht das Objekt selbst,
insofern ein Lebewesen in einer bestimmten Relation zu ihm steht, sondern vielmehr das
Lebewesen, insofern es in einer bestimmten Relation zum Objekt steht. Bestimmte
Positionen, Standorte oder Perspektiven sind geeignet oder ungeeignet, um das Objekt zu
sehen (zu hören, zu riechen usw.).
Erinnern wir uns an das Beispiel des Grauhörnchens, das einen Weg zum
Vogelhäuschen sucht. Wir sagten: Die Eignung, die das Lebewesen sieht, ist direkt mit
einem diese Eignung betreffenden Verhalten verbunden. Und zwar auf zweierlei Weise:
Erstens bringt sich das Tier in eine Position, einen gangbaren Weg zu finden und zweitens
nimmt es diesen Weg. Das erste Verhalten ist eine explorative Aneignung. Das Tier bringt
sich in bestimmte Positionen relativ zum Zielobjekt. Das zweite Verhalten ist eine
praktisch-proaktive Aneignung. Wichtig ist, dass beide Arten der Aneignung fehl gehen
können. Ein Wesen kann in einer richtigen oder unrichtigen (angemessenen oder
unangemessenen) Position sein, um etwas zu sehen. Das Grauhörnchen muss sich hin und
her bewegen, um die richtige Perspektive auf das Vogelhäuschen als Ziel eines Wegs zu
bekommen. Allgemein müssen sich Lebewesen in eine ihrer Art entsprechenden Relation
zu einem Objekt begeben, um es zu sehen. Diese Relation kann die Entfernung, die
Perspektive, die Beleuchtung oder die Beziehung auf andere Objekte betreffen. Wer die
Farbe eines Kleidungsstücks prüfen will, muss es unverdeckt in bestimmter Beleuchtung
aus einer bestimmten Entfernung betrachten können. Er muss sich in die richtige Position
begeben, um die Farbe des Kleidungsstücks wahrnehmen zu können. Die Einnahme der
richtigen Position relativ zu einem Objekt ist eine Tätigkeit eines Lebewesens, die einer
Norm untersteht. Diese Norm ist zunächst abhängig von biologischen funktionalen
normativen Kategorien, nämlich der Echten Funktion des VS von Lebewesen einer
bestimmten Art und den dazu gehörigen Normalen Bedingungen. Diese Norm ist zweitens
von dem Objekt abhängig und der Eignung des Objekts, um die es geht. Wer die Farbe
eines Kleidungsstücks beurteilen will, der untersteht einer anderen Norm der richtigen
Position relativ zu einem Objekt als derjenige, der die Verarbeitung des Stoffs beurteilen
will. Explorative Aneignungen unterstehen also Normen. Bei einer Ausbildung zu einer
bestimmten sozialen Rolle gehört die Einnahme der richtigen Position relativ zu einem
Objekt zur Ausbildung eines geübten Auges. Ebenso gehört die richtige Verwendung eines
optischen Werkzeugs zur Ausbildung eines instrumentierten Auges. Die Normen der
richtigen Position relativ zum Objekt werden durch kulturelle funktionale normative
Kategorien vorgegeben, nämlich entweder durch die Echte Funktion der Institution, die zu
X ausbildet, oder durch die Echte Funktion des Instruments. So viel zur Normativität
476
explorativer Aneignungen. Wie steht es mit der Normativität praktischer Aneignungen?
Der Weg zum Futter, den sich das Grauhörnchen ausgespäht hat, kann ungeeignet oder
schwer gangbar sein, das Tier selbst kann ungeschickt oder in abnormer Verfassung sein.
Praktische Aneignungen (sei es proaktiver oder prohibitiver Art) können aus Gründen
dieser Art fehlgehen. Die Normen, von denen diese Art des Fehlgehens abhängt, beruhen
einerseits auf spezifischen normativen Kategorien, an denen ungeschickte oder geschickte
Exemplare einer Art bzw. normale oder abnorme Verfassungen von Exemplaren einer Art
das Maß haben, von dem sie abweichen können (3.3.). Andererseits hängt die Norm des
Fehlgehens von der wahrgenommenen Eignung des Objekts für ein bestimmtes Verhalten
ab.
Aneignungen betreffen nicht nur das tatsächliche Packen, Ausweichen, Erkunden
usw. Denn ein Lebewesen, das gelernt hat, bestimmte Objekte zu packen, bestimmten
Objekten auszuweichen oder Objekte visuell zu erkunden, hat die Fähigkeit erworben,
diese Dinge zu tun, diese Tätigkeiten auszuführen. Diese aktive Fähigkeit zur Aneignung
reicht also bereits aus, um ein Objekt mit bestimmten Eignungen zu sehenitr. Denn beide
Arten der Aneignung, praktische und explorative, sind natürliche nicht-inferenzielle
Reaktionen von S auf Empfindungszustände mit R-Inhalten, die besagen, dass etwas in der
(unmittelbaren oder erweiterten) Umgebung von S X ist. Die Fähigkeit zur Aneignung
reicht also, um ein Objekt mit Eignungen zu sehenitr, denn die Objekte werden als so und
so geeignet oder ungeeignet gesehen.
Die Objektivität der Wahrnehmung – im Sinne des Sehenstr eines Objekts – wird,
so habe ich argumentiert, durch das visuelle System garantiert (5.3.2.1. & 5.3.2.2.). Die
Output-Komponente eines VS ist bei Erfüllung der Echten Funktionen der SystemKomponenten ein R-Vehikel, das mit Objekten (nicht nur mit Objektoberflächen)
dynamisch isomorph ist. Anders als etwa Dretske oder Burge meinen,928 bin ich also nicht
der Ansicht, dass Konstanz-Mechanismen bereits garantieren, dass Lebewesen Objekte als
so und so sehen. Konstanz-Mechanismen spielen zweifellos eine entscheidende Rolle dafür,
dass Wahrnehmungsempfindungen R-Inhalte haben, dass sie von etwas Bestimmtem
handeln, nämlich von Objekten. Sie garantieren jedoch weder vollständige Objektivität (im
Sinne des Sehenstr eines dreidimensionalen Objekts) noch garantieren sie das Sehenitr. Das
natürliche Sehenitr – im Sinne des Sehens von etwas als etwas – ist ein Sehen von
vollständigen Objekten mit Eignungen aufgrund von aktuellen oder dispositionalen
Aneignungen.
928
Vgl. Dretske 1981; Burge 2010.
477
Was ist mit vollständigen Objekten gemeint? Wir haben gesagt: Die SystemKomponenten eines VS garantieren die Aufrechterhaltung von Isomorphie-Relationen
zwischen R-Vehikeln und externen Objekten, und nicht jene zwischen R-Vehikeln und
Objektflächen. Lebewesen sehentr nicht nur Körperflächen, sondern Körper. Hier sind, wie
gesagt, Konstanz-Mechanismen entscheidend. Sehenitr Lebewesen auf diese Weise
vollständige Körper? Erinnern wir uns an die Bemerkung von Merleau-Ponty, demzufolge
die wahrgenommenen Dinge nicht auf die Abbildungsverhältnisse von Oberflächen auf die
Netzhaut reduziert werden könnten, weil zum Gesichtsfeld beispielsweise auch die nicht
sichtbare Rückseite von Dingen gehöre (5.1.4.1.). Diese Forderung nach vollständiger
Objektivität
(die
Wahrnehmung
vollständiger
Objekte,
auch
wenn
sie
dem
Wahrnehmungssubjekt nur die Vorderseite zuwenden) ist nicht nur in der Phänomenologie
verbreitet, wir finden sie auch in der analytischen Philosophie. Wir müssen das Sehen so
verstehen, dass wir, wie Sellars an einem Beispiel sagt, „a cool juicy red apple (as a cool
juicy red apple)“ sehenitr können. Sellars erläutert:
„We do not see of the apple its opposite side, or its inside, or its internal whiteness,
or its juiciness. But while these features are not seen, they are not merely believed
in. They are present in the object of perception as actualities. They are present by
virtue of being imagined.“929
Sellars phänomenologische Behauptung lautet also, dass diese Merkmale (opposite side, internal
whiteness, juiciness) in der Wahrnehmung präsent sind, und zwar als aktuelle Eigenschaften
des Objekts: „These features are present in the object as actualities.“930 Die theoretische
Behauptung lautet, dass diese Merkmale als Aktualitäten von Objekten wahrgenommen
werden, weil Wahrnehmungssubjekte sie auf bestimmte Weise imaginieren – „they are
present by virtue of being imagined“ –, indem die Einbildungskraft Bildmodelle erstellt und
diese unter Begriffe bringt.931 Sellars versteht dieses Zusammenspiel von Einbildungskraft
und begrifflichen Fähigkeiten so, dass es bereits auf einer relativ anspruchslosen Ebene so
etwas wie eine Prototheorie der wahrnehmbaren Welt involviert:
„However thin – as in the case of a child – the intuitive representation may be
from the standpoint of the empirical concept involved, it nevertheless contains in
embryo the concept of a physical object now, over there, interacting with other
objects in a system which includes me. It embodies a proto-theory of a world
which contains perceivers of objects in the world.“932
Sellars 2007: 458.
Wir sehen also beispielsweise keine kausalen Eigenschaften an Objekten: „We do not see of objects their
causal properties, though we see them as having them.“ Sellars 2007: 458.
931 Vgl. dazu Haag 2007.
932 Sellars 2007: 465.
929
930
478
Hier treffen wir wiederum auf die bereits kritisierte Überintellektualisierung, auf das, was
Burge „Individuellen Repräsentationalismus“ nennt (5.2.4.). Die Überintellektualisierung
besteht darin, dass für das Sehen eines Objekts als vollständiges Objekt sowohl eine
anspruchsvolle Arbeit der Einbildungskraft als auch begriffliche Fähigkeiten in Anspruch
genommen werden müssen.933 Die Behauptung, dass die anschauliche Repräsentation eine
Prototheorie enthalte, in der wahrnehmbare Objekte und Wahrnehmungssubjekte
unterschieden und Interaktionen zwischen ihnen veranschlagt werden, ist ein klares
Beispiel für den Individuellen Repräsentationalismus. Sellars ist Recht zu geben darin, dass
wir erklären müssen, was es heißt, „a cool juicy red apple (as a cool juicy red apple)“ zu
sehenitr. Es ist nicht einzusehen, warum wir dabei auf eine derartige Prototheorie
zurückgreifen müssen. Offenbar versperrt der Ansatz bei der Innenperspektive den Blick
auf das Sehen als einen Prozess, nämlich eine Tätigkeit, in der Welt. Lebewesen
repräsentieren ein Objekt (einen Apfel etwa) als vollständiges Objekt, weil sie sich ihn
sowohl praktisch als auch explorativ aneignen können, und zwar in der Eignung als kühl,
saftig und rot.
Eine ähnliche Tendenz zur Überintellektualisierung der visuellen Wahrnehmung
kann man auch in der Phänomenologie feststellen. Die in 5.2.2. zur Charakterisierung der
Farbkonstanz angeführte begriffliche Unterscheidung zwischen anhaftender Farbe und
Beleuchtungsfarbe stammt von Wilhelm Schapp, einem Phänomenologen der ersten Stunde.
Schapp charakterisiert den Unterschied wie folgt:
„Dreht man den Gegenstand, so wird er dort hell, wo soeben Schatten war. Die
Lichter springen von einer Ecke in die andere. Umgekehrt ist die anhaftende Farbe
unbeweglich, sie bewegt sich nur mit dem Gegenstande, sie ist fest mit ihm
verbunden. Aber diese Fixierung des Unterschieds trifft noch nicht den Kern. […]
Die anhaftende Farbe ist eindeutig, die Beleuchtungseffekte sind mehrdeutig.
Dieser Unterschied scheint kein qualitativer zu sein. […] Der Unterschied
zwischen den Beleuchtungseffekten und wirklicher Farbe ist ein Formunterschied.
Die Beleuchtungsfarben entbehren einer festen Form, die wirkliche Farbe ist
eindeutig geformt. […] Die anhaftende Farbe aber zeigt das Ding in seiner
Eigenart.“934
Die anhaftende Farbe ist deshalb wichtig, weil sie, in ihrer Unterschiedenheit zu
Beleuchtungsfarben, dem Objekt zugehört, und wir das Objekt visuell verfolgen können,
indem wir die anhaftende Farbe verfolgen. Wie Heidegger in einer seiner geglückten
933 Husserl hat u.a. die Ansicht vertreten, dass für die Wahrnehmung eines vollständigen Objekts eine
bestimmte Form der Intersubjektivität erforderlich ist. In seinen Vorlesungen über Zeit und Raum von 1907
betont Husserl aber, dass die Konstitution eines identischen Objekts notwendigerweise durch
Körperbewegungen vermittelt sind (Husserl 1973: 176; vgl. Drummond 1979). Aus der Perspektive der
biosemantischen Theorie hingegen wird die Selbigkeit des Objekts durch System-Komponenten (v.a.
Konstanz-Mechanismen) garantiert, die Vollständigkeit des Objekts hingegen durch das kinästhetische
Moment, durch die „Aneignung“.
934 Schapp 1976: 87-90.
479
Formulierungen sagt: „Der Fuchs im Laufen ruht, sofern er dieselbe Färbung behält.“935
Mit „dreht man den Gegenstand…“ verweist Schapp auf eine explorative Aneignung des
Objekts. Das Objekt wird gedreht, wobei sich die Beleuchtungsfarbe verändert (es wird
„hell, wo soeben Schatten war“), die anhaftende Farbe jedoch bleibt stabil. Auf diese Art
und Weise wird der Unterschied zwischen beiden Farbarten durch explorative Aneignung
des Objekts erworben.936 Welche Eignung wird am Objekt dabei praktisch-proaktiv
angeeignet? Nun, seine Drehbarkeit für ein bestimmtes Lebewesen. Ein Objekt kann sich
zur Drehung durch ein Lebewesen eignen oder nicht. Obwohl Schapp selbst im Verlauf
seiner Erörterung immer wieder auf Tätigkeiten von Wahrnehmungssubjekten verweist,
kommt er doch an einer zentralen Stelle zu dem folgenden Schluss:
„Die Ordnung der Farbe — und in dieser Ordnung nimmt die anhaftende Farbe
einen hervorragenden Platz ein — stellt Dinge dar, und die Dinge wieder, die
durch diese Ordnung dargestellt werden, sind nur dadurch Dinge, dass sie an den
Ideen teilnehmen.“937
Ohne Teilhabe an der Ordnung der Ideen sind Dinge keine Dinge. Erst die Ideen – und
das bedeutet bei Schapp: die Begriffe938 – erlauben es, Dinge zu sehen: „Das sinnlich
Gegebene wird durch die Idee hindurch wahrgenommen; damit steht das Ding als
wahrgenommen vor uns.“939 Schapp schreibt dies in: Beiträge zur Phänomenologie der
Wahrnehmung. Der Titel lautet nicht: Beiträge zur Phänomenologie der Wahrnehmung normaler,
erwachsener Begriffsbenutzer. Auch bei ihm finden wir den Objektivismus, nämlich die
Vermengung von Repräsentation von Objekten mit der Repräsentation von Bedingungen
der Objektivität. Dies führt zu einer Überintellektualisierung, welche, wie gezeigt, auf den
Ansatz bei der Innenperspektive zurückführbar ist. Verzichten wir also auf den Ansatz bei
der Innenperspektive, nehmen wir die Tätigkeit des Lebewesens als Bestandteil der
Wahrnehmung ernst. Wahrnehmungen sind Prozesse in der Welt als Tätigkeiten eines
Lebewesens. Dagegen dürfen wir keinesfalls einwenden, wie etwa Wittgenstein dies getan
hat, dass der Wahrnehmende nicht zur Wahrnehmung, der Sehende nicht zum
Gesichtsfeld gehöre, denn wir haben bereits gezeigt, dass und inwiefern er dazugehört.940
Heidegger 1977: 249.
Dabei betont Schapp jedoch auch, dass Beleuchtungseffekte für die Wahrnehmung eines Objekts
spezifische Funktionen erfüllen können und nicht nur subtrahiert werden müssen: „Wir haben aber schon
gesehen, wie wichtig sie [die Beleuchtungseffekte] sind, damit überhaupt Dinge in ihrer räumlichen Gestalt –
und hier ist unter räumlicher Gestalt jede Erhöhung, Vertiefung, jede Krümmung, Schweifung, jede Beule,
Blase mitverstanden – vor uns zu stehen kommen.“ (Schapp 1976: 91)
937 Schapp 1976: 98.
938 Vgl. Schapp 1976: 132: „…die Idee, der Begriff vom Dinge…“
939 Schapp 1975: 132.
940 Vgl. dazu Wittgensteins Bemerkungen im TLP 5.633 (Wittgenstein 1984ff., Bd. 1); vgl. dazu Bermúdez
1998: 103ff.
935
936
480
Das Problem der Wahrnehmung eines vollständigen Objektes kann wie folgt
formuliert werden: In meiner Erfahrung ist mir von einem Objekt stets nur die sichtbare
Vorderseite als sinnlich bestimmte gegeben. Ich sehe nicht die Rückseite des Objekts oder
jene Seite, mit der es fest auf einer Fläche steht. Wie kann man nun sagen, dass ich in
meiner Erfahrung ein vollständiges Objekt wahrnehme? Aus der Innenperspektive lautet
die offensichtliche Antwort, dass ich, das Subjekt der visuellen Erfahrung von der Welt,
diese abgeschatteten Seiten941 des Objekts wahrnehme, insofern ich weiß, glaube, erwarte,
imaginiere, schließe, annehme usw., dass das Objekt über abgeschattete Seiten verfügt. Bei
diesen abgeschatteten Seiten handelt es sich um noch nicht sinnlich bestimmte (also um
sinnlich unbestimmte) Aspekte des Objekts, von denen ich weiß, glaube, imaginiere,
erwarte, schließe usw., dass sie so und so sinnlich bestimmt sind. Der Ansatz bei der
Innenperspektive führt also nicht nur zu einer Überintellektualisierung der Wahrnehmung,
indem kognitive Elemente wie Wissen, Glauben, Schließen usw. in sie eingebaut werden,
sie führt auch zu der Auffassung, dass nur das sinnlich Bestimmte sichtbar ist.
Demgegenüber hebt Merleau-Ponty hervor, dass das sinnlich Unbestimmte zur
Wahrnehmung eines Objekts gehört. Für den Intellektualisten ist nicht bestimmt, was ich
sehe, für Merleau-Ponty ist das, was ich sehe, auch unbestimmt.942 Aus diesem Grunde
meint er, dass wir uns entschließen müssten, die Unbestimmtheit als positives Phänomen
anzuerkennen. Zum Gesichtsfeld gehören also auch die abgeschattenen Seiten von
Objekten, die unbestimmte Grenze des Gesichtsfelds und am Ende sogar das in unserem
Rücken Gelegene. Ich habe bereits expliziert, wie man das im Rücken Gelegene und die
Grenzen des Gesichtsfeldes als in der Wahrnehmung präsent verstehen kann. Inwiefern
sind einem Lebewesen die abgeschatteten Seiten eines Objekts in der Wahrnehmung
präsent?
Der Grundgedanke nun von Merleau-Ponty,943 den ich hier aufnehmen möchte, ist
der folgende: Zwar ist einem Wahrnehmungssubjekt ein Objekt immer nur aus einer
Perspektive gegeben, was bedeutet, dass bestimmte Aspekte des Objekts abgeschattet sind.
(Da es sich bei diesem Wahrnehmungssubjekt um ein Lebewesen handelt, das Objekte im
Raum wahrnimmt, ist die Perspektivität der Wahrnehmung und ihr Korrelat, die
Abschattung, nicht kontingent.) Dennoch ist das vollständige Objekt in der Wahrnehmung
eines Lebewesens insofern präsent, und dies ist Merleau-Pontys Idee, als auch andere
Perspektiven auf das Objekt zu der Wahrnehmung des Objekts durch das Lebewesen
Das Objekt verfügt auch über ein abgeschattetes Innen, wie das Beispiel von Sellars zeigt, weil ich den
roten, kühlen, weißen, saftigen Apfel sehe. Ich werde der Einfachheit halber das abgeschattete Innere beiseite
lassen.
942 Vgl. Kelly 2005: 81.
943 In der Interpretation Merleau-Pontys folge ich Kelly 2005, 2007.
941
481
gehören. Inwiefern gehören diese anderen Perspektiven zu Wahrnehmung? Wir haben
gesagt, dass die Wahrnehmung nicht Erfahrung von der Welt ist, sondern Tätigkeit eines
Lebewesens in der Welt. Sehenitr ist wesentlich mit bestimmten Tätigkeiten eines
Lebewesens verbunden, nämlich den Aneignungen.
944
Zu den verschiedenen Arten der
Aneignung eines Objekts gehören explorative Aneignungen. Diese bestehen in der
Einnahme einer richtigen Position durch ein bestimmtes Lebewesen relativ zu einem
Objekt. Die Einnahme richtiger Positionen impliziert die Einnahme falscher Positionen.
Diese richtigen und falschen Positionen sind nun natürlich nichts anderes als unterschiedliche
Perspektiven auf ein Objekt.
Auf der Ebene des MS besteht die aktive Fähigkeit der explorativen Aneignung
darin, dass das Lebewesen bestimmte körperliche Haltungen zum Objekt einnimmt. Das
Grauhörnchen, das auf der Veranda hin und her rennt, nimmt zu jedem Zeitpunkt eine
bestimmte Perspektive auf das Objekt (das Vogelhäuschen) ein, doch zu jedem Zeitpunkt
ist das Grauhörnchen, solange es rennt, buchstäblich unterwegs zur nächsten Perspektive.
Die je nächste Perspektive ist in der Wahrnehmung dadurch präsent, dass das Körperselbst
des Tiers in der Wahrnehmung präsent ist. Die Wahrnehmung des Körpers (etwa der
Gliedmaßen) als Invarianten im visuellen Feld ist mit der körperlichen Eigenwahrnehmung
der Aktivität des Tiers korreliert. Weil also in der Wahrnehmung der aktive Körper des
Wahrnehmenden präsent ist und weil der aktive Körper dem Wesen die Fähigkeit
verschafft, unterschiedliche Perspektiven auf ein Objekt einzunehmen, deshalb sind in der
notwendig perspektivischen Wahrnehmung eines Objekts auch andere Perspektiven auf
dieses Objekt präsent. Das Stillhalten, Einhalten und das Fixieren oder Fokussieren des
Objekts sind dabei, wie gesagt, kein Ende der Tätigkeit, sondern Bestandteil der Tätigkeit
der explorativen Aneignung eines Objekts.
Explorative Aneignungen betreffen, wie gesagt, nicht nur die tatsächliche
Veränderung der Relation zwischen Lebewesen und Objekt (entweder, indem das
Lebewesen seine Position oder die Position seiner Teile verändert, indem das Objekt seine
Position oder die Position seiner Teile verändert, oder indem sich die Relation zwischen
Lebewesen, Objekt und einem dritten Element verändert, wie etwa der Beleuchtung),
sondern auch die aktive Fähigkeit, bestimmte explorative Aneignungen auszuführen. Zu
dieser Aneignung des Objekts gehört also nicht allein die momentane Perspektive des
Lebewesens auf das Objekt, sondern auch die anderen Perspektiven auf das Objekt, die das
944 Dies bedeutet natürlich nicht, dass Sehen mit bestimmten Tätigkeiten eines Lebewesens identisch wäre,
itr
wie Enaktivisten vom Schlage Alva Noës meinen (vgl. Noë 2003), da es erstens R-Vehikel involviert und mit
diesen R-Vehikeln zweitens auch R-Inhalte, auf denen, nach der in Abschnitt 5.3.2. nahegelegten Idee,
phänomenale Qualitäten supervenieren oder emergieren.
482
Lebewesen einzunehmen aktiv fähig ist. Die aktive Fähigkeit zur Aneignung eines Objekts
reicht deshalb aus, um das vollständige Objekt zu sehenitr. Die aktive Fähigkeit zur
explorativen Aneignung äußert sich in so und so vielen basalen, nicht-inferenziellen
Reaktionen von S auf Empfindungszustände mit R-Inhalten, die besagen, dass etwas in der
unmittelbaren oder erweiterten Umgebung von S ein vollständiges Objekt ist. In einem
Prozess der tatsächlichen explorativen Aneignung wird das Objekt durch die bereits
erwähnten Konstanz-Mechanismen stabil gehalten. Es erscheint als dasselbe vollständige
Objekt auch aus verschiedenen Perspektiven, also einerseits durch die KonstanzMechanismen, andererseits jedoch durch die besondere Eignung, im Hinblick auf die das
Objekt visuell exploriert wird. System-Komponenten wie die Konstanz-Mechanismen
sorgen für Selbigkeit im visuellen Tracking, Tätigkeiten der Aneignung für Vollständigkeit.
Das vollständige Objekt ist einem Lebewesen nicht in der Wahrnehmung präsent,
insofern ihm die Summe aller möglichen Perspektiven auf das Objekt präsent ist, sondern es
ist ihm präsent, insofern es richtige und falsche Positionen relativ zum Objekt – d.h.
Perspektiven auf es – einnehmen kann. Das Objekt als vollständiges steht also unter der
Norm richtiger Positionen relativ zu ihm. Richtige Positionen implizieren falsche
Positionen. Falsche Positionen nimmt ein Lebewesen ein, während es dabei ist, sich ein
Objekt explorativ anzueignen, und zwar mit dem Ziel der richtigen Position relativ zum
Objekt. Eine richtige Position nimmt ein Lebewesen ein, das sich ein Objekt explorativ
angeeignet hat und nun bereit ist zu einer praktischen Aneignung. Richtige Positionen kann
ein Lebewesen einnehmen, das die aktive Fähigkeit hat, sich ein Objekt explorativ
anzueignen. Das auf dem Verandageländer hin und her rennende Grauhörnchen nimmt
falsche Positionen relativ zum Vogelhäuschen ein, bis es die richtige Position erreicht hat,
nämlich die Position, von der aus es einen gangbaren Weg zum Vogelhäuschen sieht. Hat
das Grauhörnchen die richtige Position gefunden (erfolgreiche explorative Aneignung) und
den Weg begangen (erfolgreiche produktiv-proaktive Aneignung), wird es diesen Erfolg
auch zu späteren Zeitpunkten wiederholen können. Es hat eine bestimmte aktive Fähigkeit
erworben.
Der bereits angeführte Phänomenologe Schapp beschreibt das Sehen eines Objekts
(Dinges) aus phänomenologischer Perspektive auf eine eher dramatisch und metaphorisch
anmutende Weise. Der Barwert dieser Beschreibungen besteht einfach in körperlichen
Aktivitäten – und seien es nur Sakkaden, Betätigungen der Augenmuskulatur, wenn wir ein
Objekt fixieren, Drehung der Augäpfel oder des Kopfes usw. – , die Schapp
metaphorisiert. Schapp stellt sich jemanden vor, der mit geschlossenen Augen in einem
Zimmer sitzt, plötzlich die Augen öffnet und etwas sieht. Zuerst erleidet das Ding quasi
483
vom „anprallenden Blick eine Erschütterung“; nach dessen Stillstand „leuchten rechts und
links, vorn, hinten allmählich neue Gegenstände auf“; diese treten herein, fast wie jemand
zur Tür eintritt; der Hauptgegenstand wird „ergriffen“, „angepackt“, ihn „meinen wir
herausgreifend“, er ist gemeint usw.; die Nebengegenstände „werden leise berührt“; wir
fassen den Gegenstand quasi an einer Stelle an und ziehen ihn zu uns heran; allerdings
geschieht dieses „Einkrallen“ nur beim ersten Mal, dann „gleitet“ der Blick „allmählich
weiter“; beim Weitergleiten kann man unterscheiden, „ob man am selben Gegenstand sich
in dieser Weise entlang fühlt oder ob man von ihm zu einem nahe dabeistehenden
überspringt“.945 Auf diese Weise ereignet sich Schapp zufolge phänomenologisch die
Dingkonstitution in der visuellen Wahrnehmung. Es ist offensichtlich, dass der
entscheidende
Punkt
dieser
metaphorischen
Beschreibung
die
Tätigkeit
des
Wahrnehmungssubjekts ist. Weiter betont Schapp die „Nebengegenstände“, d.h. die Rolle
des Hintergrunds der Wahrnehmung eines Objekts. Auch Merleau-Ponty betont und
dramatisiert die Wichtigkeit anderer Gegenstände als Hintergrund für die Wahrnehmung
eines Dinges. So meint Merleau-Ponty an einer zentralen Stelle, dass ich die mir
abgewandte Rückseite meiner Schreibtischlampe sozusagen aus der Perspektive des
Kamins hinter der Lampe sehe, dem die Lampe ihren Rücken zeigt. Die Dinge bilden
sozusagen einen Verweisungszusammenhang möglicher Perspektiven aufeinander, und ich
sehe vollständige Objekte sozusagen mit den Augen der Dinge, die ich im Hintergrund als
Nebengegenstände mitsehe. Nun ja, vielleicht sieht ja der Kamin die Rückseite der Lampe,
wer weiß! Ich möchte freilich darauf verzichten, mich auch nur metaphorisch auf diesen
Gedanken zu verpflichten. Beide Phänomenologen neigen m.E. dazu, den Hintergrund zu
stark zu betonen. Wichtig ist allein, dass sich das Objekt vor einem Hintergrund visuell
abhebt. Wie Dretske sagt: S siehttr D bedeutet: „D is visually differentiated from its
immediate environment by S.“ Bei diesem Hintergrund, bei dieser Umgebung handelt es
sich normalerweise um andere Objekte, aber dieser Umstand ist für das Sehen eines
vollständigen Objekts nicht notwendig. Sofern ein Lebewesen aktiv ist oder über aktive
Fähigkeiten verfügt, kann es ein vollständiges Objekt sehen, auch wenn es in einer Welt zu
leben das Pech hat, in der es nur einen schwarzen Punkt auf einer unendlichen weißen
Fläche gibt.
Es ist nun diese aktive Fähigkeit, d.h. die körperliche Bereitschaft, mit einem
Objekt auf bestimmte Weise umzugehen (nämlich in der Weise der explorativen oder
praktischen Aneignung), die Merleau-Ponty „intentionnalité motrice“ nennt und als „une
945
1976: 67ff.
484
anticipation ou une saisie du résultat assuré par le corps lui-même“ charakterisiert.946
Während die explorative Aneignung konstitutiv dafür ist, dass einem Lebewesen in der
Wahrnehmung das vollständige Objekt präsent ist (und nicht nur dessen Vorderseite usw.),
sind die Formen praktischer Aneignung Echte Funktionen des MS, das als Konsument der
durch das VS zur Verfügung gestellten R-Vehikel fungierten und ihre R-Inhalte als IRInhalte festlegt. Visuelle Spezialisten wie Springspinnen und Frösche verfügen primär über
festgelegte Aneignungen für festgelegte Eignungen. Was visuelle Spezialisten sehenitr, ist
eng umgrenzt. Der IR-Inhalt ihrer Wahrnehmungsempfindungen ist abhängig von
angeborenen nicht-inferenziellen Reaktionen, die besagen, dass etwas in ihrer
unmittelbaren Umgebung als so und so geeignet oder ungeeignet ist. Visuelle Generalisten
wie Grauhörnchen oder Menschen hingegen verfügen sowohl über eine Bandbreite an
Aneignungen als auch über eine Bandbreite von Eignungen. Was visuelle Supergeneralisten
wie wir sehenitr können, ist mithin weit umgrenzt. Die IR-Inhalte unserer
Wahrnehmungsempfindungen sind abhängig von erworbenen nicht-inferenziellen
Reaktionen, die besagen, dass etwas in unserer unmittelbaren oder erweiterten Umgebung
diese oder jene Eignung (derivativ: diese oder jene Attribute) hat.
Ich habe bislang den Begriff der „Eignung“ unerklärt mitgeführt. Offenbar ist der
Begriff wichtig. Zum Schluss von 5.3.3. will ich diesen Begriff erläutern und zumindest
andeuten, inwiefern ich ihn als Gegensatzbegriff zu jenem des Attributs verstehe.
5.3.3.3. Eignungen
Millikan unterscheidet, wie wir in 5.1.2. gesehen haben, indikative Repräsentationen,
imperative Repräsentationen und Pushmi-pullyu-Repräsentation (PPR). PPRs enthalten
sowohl imperative als auch indikative Elemente. Millikan hat verschiedentlich darauf
hingewiesen, dass Gibsons „affordances“ durch PPRs repräsentiert werden947 und
akzeptiert Gibsons Konzept der „affordance“.948 Dass Wahrnehmungen zunächst
Wahrnehmungen von „affordances“ sind, treffe nicht nur auf nicht-menschliche Tiere zu,
sondern auch auf Menschen.949
Gibson zufolge besteht etwa visuelle Wahrnehmung zunächst in der Aufnahme von
(je nach Lebensform) bestimmten Mustern umliegender Lichtenergie, die auf die
Merleau-Ponty 1945: 128.
„[H]is notion that in perception we perceive certain affordances (opportunities for action) suggests that
perceptual representations are PPRs.“ (LBM: 174f.)
948 „I agree with Gibson that basic perception is perception for action, indeed, that it is perception of
affordances.“ (Millikan 2006b: 101)
949 „Gibson told us that we perceive apples as affording eating and post boxes as affording letter-mailing
(1979, p. 139). This may well be so most of the time for people, and perhaps all of the time for most
animals.“ (VM: 177; vgl. Millikan 2006b: 101)
946
947
485
Sinnesorgane von Lebewesen auftreffen und diese so direkt zu bestimmten
Verhaltensweisen veranlasse. Was dabei wahrgenommen wird, sind „affordances“. Dabei
handelt es sich um Aspekte der Umwelt, die einem Lebewesen Verhaltensweisen gleichsam
darbieten, wie etwa begehen, erklettern, durchschlüpfen, hineinschlüpfen, jagen, fliegen,
ducken, packen, werfen usw. Gibson spricht in einer etwas künstlich anmutenden Sprache
davon,
dass
Lebewesen
„Begehbares“,
„Durchschlüpfbares“,
„Erkletterbares“,
„Jagdbares“, „Packbares“, „Werfbares“ usw. wahrnehmen. Das so Wahrgenommene eignet
sich oder eignet sich nicht für die Ausführung bestimmter Verhaltensweisen oder
Handlungen, es ist dafür geeignet oder ungeeignet. Aus diesem Grunde werde ich
„affordances“ als „Eignungen“ übersetzen. Ich unterscheide in Analogie zu meiner
Diskussion der Aneignung aktive und passive Eignungen. Manche Dinge sind Anlass dafür,
dass ein Lebewesen etwas mit ihnen oder gegen sie tut, dass sie ein Lebewesen zum Ziel
hat. Aktive Eignungen betreffen sozusagen Tubares. Diese Eignungen sind Gegenstand
explorativer oder praktisch-proaktiver Aneignungen. Andere Dinge sind Anlass dafür, dass
ein Lebewesen ihnen ausweicht oder sie sich ereignen sieht. Sie stoßen dem Lebewesen
oder seiner Umgebung zu. Passive Eignungen sind sozusagen Geschehbares. Sie sind
Gegenstand explorativer oder praktisch-prohibitiver Aneignungen.
Es ist nun erstens wichtig zu betonen, dass es sich bei Eignungen nicht um
Qualitäten handelt, die einem Objekt von den Bedürfnissen oder von den
Wahrnehmungen eines Lebewesens übergestülpt werden. Eignungen sind keine
Projektionen auf Objekte, sondern Objekte haben Eignungen unabhängig davon, ob sie
wahrgenommen werden oder ob Lebewesen bestimmte Bedürfnisse haben.950 Ob ein
bestimmtes Objekt für ein Lebewesen greifbar ist oder nicht, hängt sowohl von objektiven
Eigenschaften des Objekts ab (etwa seiner Größe) als auch von Eigenschaften des
Lebewesens (etwa der Spanne seiner Hand). Genauer gesagt geht es um Relationen
zwischen Fähigkeiten von Lebewesen und Eigenschaften von Objekten. Zweitens ist es
wichtig zu betonen, dass Eignungen zwar objektiv auf Eigenschaften von Objekten
basieren, dass jedoch Eignungen nicht als Eigenschaften von Objekten wahrgenommen
werden. Ich möchte also einen Unterschied machen zwischen der Wahrnehmung von
Eigenschaften als Eigenschaften eines Objekts und von Eigenschaften als Eignungen eines
Objekts. Um terminologisch kein Durcheinander anzurichten, habe ich für das Erfassen
von objektiven Eigenschaften als solchen bereits den Ausdruck „Attribut“ eingeführt und
sie von der Erfassung objektiver Eigenschaften als Eignungen abgesetzt. Die
Eigenschaften eines Objekts o verursachen Wahrnehmungsempfindungen, die von einem
950
Vgl. Gibson 1979: 139.
486
Lebewesen entweder als Eignungen von o oder als Attribute von o repräsentiert werden. Da
die perzeptive Repräsentation von Objekten mit Eignungen basal ist, muss die perzeptive
Repräsentation von Objekten mit Attributen derivativ sein.
Was sind nun Eignungen eines Objekts?951 Eignungen sind Dispositionen. Eine
Eignung E ist die Disposition eines Objekts o zu einem Zeitpunkt t relativ zu einem
Lebewesen L mit der aktiven Fähigkeit F unter den Bedingungen B. Die Manifestation
einer Eignung involviert also eine Relation zwischen den Dispositionen eines Objekts und
einem Lebewesen. Während das Objekt über bestimmte Eigenschaften verfügen muss, die
objektive Voraussetzung dafür sind, dass es bestimmte Eignungen haben kann, muss das
Lebewesen über aktive Fähigkeiten (nicht nur über passive Fähigkeiten oder Vermögen;
5.3.1.2.) verfügen (5.3.1.3.), um bestimmte Aneignungen auszuführen. In dem oben
eingeführten Beispiel: Das Grauhörnchen (L) sieht zum Zeitpunkt t das Gitter der
Verandatür (o) als bespringbar (E). Zum Zeitpunkt t muss das Grauhörnchen über die
aktive Fähigkeit (F) verfügen, Objekte zu bespringen. Die Bedingungen B können im
Hinblick auf L als Normale Bedingungen für die Ausübung von F betrachtet werden, d.h.
als Bedingungen, die für die historisch erfolgreiche Ausübung von F vorliegen mussten
(1.1.4.). So darf L z.B. nicht schwer verletzt, altersschwach oder intoxiniert sein usw.
Vermutlich wird man von F eine gewisse Zuverlässigkeit in der Ausübung erwarten dürfen.
Wenn also ein Lebewesen L zum Zeitpunkt t unter den Bedingungen B über die
zuverlässige aktive Fähigkeit F verfügt und mittels F in eine Relation zu einem Objekt o
treten kann, die o wesentlich involviert, dann ist o ein Träger einer Eignung E relativ zu L
in B. Objekt o ist Träger einer aktiven Eignung, wenn L in eine Relation zu o treten kann,
die o als Ziel einer praktisch-proaktiven Aneignung involviert. Objekt o ist Träger einer
passiven Eignung, wenn L in eine Relation zu o treten kann, die o als Ziel praktischprohibitiven Aneignung mittels F involviert.
Wahrnehmungen im primären Sinne involvieren, wie wir gesehen haben,
behaviorale (körperliche) Aneignungen. Solche körperlichen Aneignungen können
entweder basal oder non-basal sein. Eine basale behaviorale Aneignung ist ein Verhalten
eines Lebewesens, das die Beschreibung sowohl seiner aktiven Bewegungen als auch seiner
aktiven Nicht-Bewegungen (Innehalten, Stillhalten usw.) umfasst. Das Bespringen des
Verandagitters durch das Grauhörnchen ist ein bewegtes Beispiel dafür, das Innehalten
eines Raubtiers ein unbewegtes Beispiel. Eine non-basale behaviorale Aneignung ist ein
Verhalten eines Lebewesens, das die Beschreibung des Ziels sowohl einer aktiven
Bewegungen als auch seiner aktiven Nicht-Bewegungen (Innehalten, Stillhalten usw.)
951
Ich folge hier weitgehend dem Vorschlag von Scarantino 2003.
487
umfasst. Das Streben nach dem Futter im Vogelhäuschen durch das Grauhörnchen ist
hierfür ein Beispiel, ebenso das Anschleichen an Jagdbeute. Auch nicht-menschliche Tiere
tätigen solche Aneignungen. So kann ein Fußballstürmer gegen einen Ball treten und eben
dadurch versuchen, ein Tor zu erzielen. Der Stürmer nimmt (unter den Bedingungen B
zum Zeitpunkt t) den Ball als tretbar und das Tor als erreichbar wahr. Der Ball hat die
Eignung der Tretbarkeit, das Tor die Eignung der Erreichbarkeit. Ersteres entspricht einer
basalen, Letzteres einer nicht-basalen körperlichen Aneignung.
Allerdings führen vor allem Lebewesen unserer Lebensform nicht nur körperliches
Verhalten aus, sondern auch mentales Verhalten. Das Fassen von Gedanken und
Entschlüssen, das Verbinden von Gedanken oder von Gedanken und Absichten usw. sind
Aktivitäten von Denkern. Deshalb kann man von mentalem Verhalten sprechen. Auch hier
kann man zwischen basalen mentalen und non-basalen Aneignungen unterscheiden. Eine
mentale Aneignung ist ein Verhalten eines Lebewesens, dass die Beschreibung seiner
geistigen Aktivitäten umfasst. Basale mentale Aneignungen bestehen für Wesen unserer Art
paradigmatisch darin, Eignungen unter begriffliche Bestimmungen oder Beschreibungen zu
bringen, non-basale mentale Aneignung bestehen für Wesen unserer Art paradigmatisch darin,
aus solchen Bestimmungen oder Beschreibungen Schlüsse zu ziehen. Die begriffliche
Erfassung von Eignungen (etwa durch Urteile oder Aussagen mit propositionaler Struktur
oder durch die Anwendung eines begrifflichen Vorstellungsbildes) führt dazu, dass eine
Eigenschaft eines Objekts mit einer Eignung nicht mehr als Eignung, sondern als Attribut
betrachtet wird. So kann der Stürmer sein Treten nach dem Ball und das damit bezweckte
Erreichen des Tors begrifflich als Erzielen eines Führungstors erfassen. Das eintretende
Ereignis hat das Attribut ein Führungstor zu sein. Steht das Spiel nun kurz vor dem
Abpfiff, so hat der Stürmer Grund zur Annahme, dass mit einem Führungstor der Sieg
gewiss ist. Das Attribut des Ereignisses, ein Führungstor zu sein, wird zur Prämisse für den
Schluss, dass damit der Sieg errungen ist. Ersteres ist ein basale und Letzteres eine nonbasale mentale Aneignung.
Die Unterscheidung zwischen Objekten mit Eignungen und solchen mit Attributen
entspricht der Unterscheidung die Heidegger in Sein und Zeit zwischen Zuhandenem und
Vorhandenem trifft. Paradigmatisch Vorhandenes ist für Heidegger das Zeug, Objekte
mithin, die unter kulturelle funktionale normative Kategorien fallen (3.2.6.). Zeug hat
wesentlich Eignungen zu etwas für Lebewesen unserer Art. Doch auch Naturobjekte
begegnen uns Heidegger zufolge zunächst als Zuhandenes, also als geeignet oder
ungeeignet für etwas.952 Seiendes von der Seinsart des Zuhandenen hat für Lebewesen
952
Vgl. dazu Heidegger 1993: 70f. und Wild 2008b: 102ff.
488
Eignungen. Werden Eignungen zu Gegenständen von Urteilen oder Aussagen, so erhalten
sie damit die Seinsart des Vorhandenen. Mithilfe prädikativer oder attributiver Urteile und
Aussagen erfasst ein Lebewesen die Eigenschaften von Objekten nicht als Eignungen für
etwas, sondern als Eigenschaften des Objektes selbst. Die Idee eines Objekts selbst mit nur
ihm zugehörigen Eigenschaften ist abhängig von der Fähigkeit eines Lebewesens, Urteile
zu fällen oder etwas auszusagen. Eigenschaften von Objekten werden als Attribute erfasst,
wenn sie Gegenstand attributiver Aussagen oder begrifflicher Urteile werden. Objekte mit
Eignungen haben die Seinsart des Zuhandenen, Objekte mit Attributen haben die Seinsart
des Vorhandenen. Lebewesen begegnen in ihrer Umwelt zuerst immer Objekte mit
Eignungen, denen gegenüber sie sich aneignend verhalten. Das Erfassen von Objekten mit
Attributen ist sowohl abhängig von höheren kognitiven Fähigkeiten und sprachlichem
Zeug als auch von der vorherigen Aneignung von Objekten als geeignet oder ungeeignet.
Aus diesem Grunde sind Attribute Eignungen gegenüber derivativ.
5.3.4. Natürliche und erworbene Wahrnehmung
5.3.4.1. Reids semiotischer Realismus
Reids
Theorie
biosemantischen
Empfindungen
der
Wahrnehmung
Theorie der
in
der
weist
einige
Wahrnehmung
Wahrnehmung
als
Übereinstimmungen
auf.953 Da
Zeichen
Reid
mit
der
behauptet, dass
fungieren,
wurde
seine
Wahrnehmungstheorie mit der glücklich gewählten Bezeichnung „semiotischer Realismus“
bedacht.954 Diese Bezeichnung hebt nicht nur die Rolle von Zeichen und von
Zeichenprozessen in Reids Wahrnehmungstheorie hervor, sie ersetzt zugleich die, wie wir
gleich sehen werden, unangemessene Beschreibung Reids als „direkter Realist“. Und sie
erlaubt es uns schließlich, auch Reids Theorie der Wahrnehmung als Beitrag zu einer
Semiotik zu verstehen, die wesentlich auf einem Peirceschen Zeichenbegriff beruht (1.2.2.,
1.2.4.). Freilich fehlen bei Reid im Gegensatz zur Biosemantik sowohl die behaviorale als
auch die naturalistische Komponente, sodass er natürlich weder einen semiotischen
Behaviorismus noch einen Biologischen Naturalismus vertritt. Ich werde zunächst einige
Aspekte von Reids Theorie skizzieren und auf Übereinstimmungen zwischen ihm und der
953 Reids Wahrnehmungstheorie hat in jüngster Zeit einiges an Aufmerksamkeit auf sich gezogen, vgl. Alston
1989, de Bary 2001, DeRose 1989, Buras 2008, Copenhaver 2004 & 2006, Haag und Wild 2010,
Nichols 2002, Pappas 1989, Staudacher 2008, Van Cleve 2004, Wolterstorff 2001
954 Vgl. Staudacher 2008.
489
Biosemantik hinweisen. Im Anschluss daran möchte ich mir Reids wichtige
Unterscheidung zwischen natürlicher und erworbener Wahrnehmung zu Nutze machen.
Reids Theorie wird häufig als eine Form des direkten Realismus betrachtet.
Allerdings wird der direkte Realismus ebenso häufig so verstanden, dass zwischen dem Akt
der Wahrnehmung einerseits und dem externen, realen Objekt, auf das sich die
Wahrnehmung bezieht, andererseits keine Vermittler angenommen werden dürfen. Nun
spielen in Reids Ausführungen über das Wahrnehmen jedoch Empfindungen (sensations)
und Zeichen (signs oder indicators) eine tragende Rolle und diese scheinen eine Art
Vermittler zu sein. Muss dies nicht zwangsläufig zu Spannungen im Ansatz führen?
Schauen wir genauer hin!
Laut Reid treffen Eindrücke (impressions) auf unsere Sinnesorgane auf, die
Empfindungen (sensations) im Lebewesen erzeugen, die wiederum als Zeichen (signs) für das
Lebewesen fungieren, indem sie dem Lebewesen unmittelbar (d.h. nicht-inferenziell und
ohne dem Lebewesen bewusste Vermittlungsinstanz) eine Konzeption (conception), einen
Begriff (notion), ein Bild (image) eines materiellen Objekts und seiner Qualitäten vorschlagen
(suggest),955 was mit einer instinktiven Überzeugung (conviction, belief) der realen Existenz
dieses materiellen Objekts einhergeht. Empfindungen (sensations) sind selbst noch keine
Wahrnehmungen (perceptions).956 Erst durch Konzeptionen, Begriffe, Bilder usw.
interpretierte Empfindungen sind Wahrnehmungen von Objekten mit Qualitäten.
Empfindungen sind also Zeichen, die dem Lebewesen Wahrnehmungen vorschlagen
(suggest) und materielle Objekte und deren Qualitäten bezeichnen (signify). Empfindungen
sind nur dann Zeichen, wenn sie vom Lebewesen als solche interpretiert werden
(interpreted), sie bezeichnen für sich genommen nichts. Ohne Vorschlag (suggestion) keine
Bezeichnung (signification). Keith DeRose hat diesen Aspekt von Reids Theorie als „antisensationalism“ bezeichnet.957 Dieser Anti-Sensationalismus besteht in der Leugnung, dass
es zwischen Empfindungen und den sie verursachenden Objekten intentionale oder
repräsentationale Relationen der Art gibt, dass diese Relation durch die intrinsischen
Eigenschaften entweder der Empfindung oder des Objekts festgelegt würde. Daraus ergibt
sich auch, dass Empfindungen für sich genommen keine Basis für Inferenzen bilden
können.
Zur Einführung der „natural suggestions“ vgl. Reid 1997: 38.
Die Einführung des Zeichenbegriffs, den Reid von Berkeley übernimmt, rechtfertigt er wie folgt: „And
because the mind passes immediately from the sensation to that conception and belief of the object which we
have in perception, in the same manner as it passes from signs to things signified by them, we have therefore
called our sensations signs of external objects.“ (Reid 1997: 117) Zu den anderen Elementen der
Wahrnehmung vgl. Reid 1983: 258
957 Vgl. DeRose 1989.
955
956
490
Jetzt dürfte auch deutlich geworden sein, warum Reids Theorie semiotisch ist. Der
Semiotik zufolge hat ein Zeichen einen Inhalt, wenn es sowohl einen Interpretanten als
auch eine Signifikation hat. Reid spricht davon, dass Empfindungen Zeichen (signs) von
materiellen Objekten und deren Qualitäten sind, dass sie solche Objekte bezeichnen (signify)
und dass sie interpretiert (interpreted) werden, und zwar sind sie Zeichen, die etwas
bezeichnen, nur sofern sie interpretiert werden.958 Nun könnte es scheinen, dass Reids
Theorie eine Spannung aufweist. Sollte denn der semiotische Aspekt nicht so verstanden
werden, dass Empfindungen Informationen über Objekte tragen (dies entspricht der
Relation zwischen Zeichen und Bezeichnetem) und dass in der Wahrnehmung dann
Begriffe auf diese Empfindungen angewendet werden, um diese Informationen zu
extrahieren (dies entspricht der Relation zwischen Interpretant und Bezeichnetem)? Doch
dann scheinen Empfindungen als solche ja intentionale Relationen zu Objekten zu
unterhalten und als Vermittler zwischen Wahrnehmung und Objekt zu fungieren.
Inwiefern berechtigt dies dann noch zur Zuschreibung eines direkten Realismus,
demzufolge wir direkten Zugang (im Sinne der „acquaintance“) und nicht vermittelten
Zugang (im Sinne der „description“) zu externen Objekten haben sollen? Wenn
Empfindungen intentionale Zeichen externer Objekte sind und wenn wir in der
Wahrnehmung Begriffe für externe Objekte zur Anwendung bringen, dann repräsentiert
eine Wahrnehmung ein und dasselbe Objekt gleich doppelt, nämlich einmal durch die
Empfindung (Zeichen für…) und einmal durch die Wahrnehmung (Begriff für…).959 Sehen
wir also stets vermittelt und dann auch noch doppelt?
Nun ist Reid sicher der Auffassung, dass Empfindungen (via Eindrücke) von
Objekten verursacht werden. Aber dieser Umstand bedeutet jedoch nicht, dass
Empfindungen als solche von etwas, etwa von den sie verursachenden Objekten, handeln.
Reid ist im Gegenteil geradezu erpicht darauf, kausale Relationen von der Wahrnehmung
fern zu halten.960 In biosemantischen Ausdrücken: Empfindungen sind R-Vehikel, die mit
bestimmten externen Strukturen isomorph sind und so einen R-Inhalt haben, doch RInhalte sind keine intentionalen Inhalte. Erst die Verwendung der Vehikel durch einen
Konsumenten legt einen bestimmten Inhalt fest und verleiht ihnen so einen IR-Inhalt.
Für „signify“ und „interpet“ vgl. Reid, 1997: 63, 190, 198.
Vgl. Wolterstorff 2001.
960 „When we say that one being acts upon another, we mean that some power or force is exerted by the
agent, which produces, or has a tendency to produce, a change in the things acted upon. If this be the
meaning of the phrase, as I conceive it is, there appears no reason for asserting that, in perception, either the
object acts upon the mind or the mind upon the object.“ (Reid 1983: 301) „[W]hen I say that the one suggests
the other, I mean not to explain the manner of their connection, but to express a fact, which everyone may be
conscious of – namely, that, by a law of our nature, such a conception and belief constantly and immediately
follow the sensation.“ (Reid 1997: 74)
958
959
491
Ohne K-Mechanismus haben die durch einen P-Mechanismus hervorgebrachten R-Vehikel
keinen IR-Inhalt. Ganz analog Reids Auffassung: Empfindungen sind Zeichen (signs),
insofern sie dem Lebewesen eine Konzeption, einen Begriff, ein Bild usw. vorschlagen
(suggest), und nur als solche bezeichnen (signify) sie externe Objekte und deren Qualitäten.
Wahrnehmungen involvieren also Empfindungen, die durch Objekte verursacht sind, aber
Empfindungen unterhalten für sich genommen keine intentionalen Relationen zu den sie
verursachenden Objekten. Aus diesem Grunde gibt es keine doppelte Repräsentation ein
und desselben Objekts in der Wahrnehmung.
Empfindungen sind auch nicht die direkten Objekte der Wahrnehmung, sondern
werden von wahrnehmungsfähigen Lebewesen als Zeichen für Objekte der Wahrnehmung
gebraucht. Die Empfindungen sind transparent. Dies bedeutet keinesfalls, dass
Empfindungen notwendig transparent sind. Sie sind lediglich in dem schwachen Sinne
transparent (5.1.3.4.), dass wir normalerweise (im biologisch-normativen Sinne von
„normal“) unsere Aufmerksamkeit nicht auf die Empfindungen richten und dies auch nur
mit einiger Übung vermögen.961 Wahrnehmung ist also ein Prozess in der Welt und als solcher
in der Tat vermittelt. In diesem Prozess (und als ein solcher betrachtet sie auch Reid) sind
zahlreiche physikalische und biologische Entitäten involviert, insbesondere durch PMechanismen mit Echten Funktionen hervorgebrachte R-Vehikel. Doch der Umstand,
dass der Wahrnehmungsprozess solche Entitäten involviert, bedeutet nicht, dass die
Wahrnehmung von materiellen Objekten indirekt ist. Bedeutet dies, dass die
Wahrnehmung von materiellen Objekten direkt ist? Man kann argumentieren, dass Ried
uns einzusehen lehrt, dass ein direkter Realismus nicht inkompatibel ist mit der Existenz
vermittelnder Entitäten.962 Reid ist kein direkter Realist im Sinne einer kausalen Direktheit,
sondern im Sinne einer intentionalen oder epistemischen Direktheit: Wahrnehmungen
handeln direkt von externen Objekten und ihren Qualitäten, Wahrnehmungen liefern uns
unter gewissen Bedingungen direktes Wissen von externen Objekten und ihren Qualitäten.
Die zentrale Stellung von Zeichen und Interpretationen bei Reid ist deshalb kompatibel mit
der Zuschreibung eines direkten Realismus. Es gibt im semiotischen Realismus keinen Riss.
961 Die Verwendung von Empfindungen als Zeichen ist im Großen und Ganzen entweder angeboren oder
automatisiert, so dass sich Lebewesen ihrer nicht bewusst sind. Einige dieser Vorgänge lassen sich jedoch
durch Übung wieder in das Bewusstsein rufen und von der intentionalen Ausrichtung der Wahrnehmung auf
externe Objekte ablösen. Reid 1997: 82f. führt dies am Beispiel eines Malers aus, der durch Übung diese
Abtrennung erlernt hat.
962 Vgl. Copenhaver 2006: 5: „Reid’s direct realism reveals something important about direct realism quite
generally. Namely, mediation tout court is irrelevant to whether perception is direct. After all, all sorts of
things mediate perceptual experience: photons, sensory organs, nerve impulses, etc. It is only mediation of a
particular sort that sacrifices directness. If the mediating entity (be it mental or extra-mental) is such that one
must bear some cognitive relation to it (be it thought-like or experiential) which relation provides information
necessary for getting a separate object or property in mind, then the process sacrifices directness. But
sensations do not function this way for Reid.“
492
Man kann auch zu der Ansicht gelangen, dass Reid die Unterscheidung zwischen
direkter und indirekter Wahrnehmung obsolet macht.963 Für den klassischen indirekten
Realisten sind Sinnesdaten (oder dergleichen) direkte Objekte der Wahrnehmung.
Materielle Objekte werden indirekt wahrgenommen, weil sie aus den direkten Objekten der
Wahrnehmung (unter einen Begriff gebracht) erschlossen werden. Für den klassischen
direkten Realisten sind präsente materielle Objekte und ihre wahrnehmungsfähigen
Qualitäten die direkten Objekte der Wahrnehmung. Was wird demgegenüber nur indirekt
wahrgenommen? Drei Antworten bieten sich an: (i) Einem Lebewesen nicht präsente,
materielle Objekte werden indirekt wahrgenommen, weil sie aus den direkten Objekten der
Wahrnehmung (unter einen Begriff gebracht) erschlossen werden. (ii) Ebenso kann ein
Lebewesen
nur
die
relativ
zu
einem
seiner
Wahrnehmungsvermögen
genuin
wahrnehmbaren Eigenschaften wahrnehmen. Andere Eigenschaften, die in einer
Sinnesmodalität auftauchen, werden nur indirekt gesehen, sie werden erschlossen. (iii)
Schließlich gibt es auch Eigenschaften von präsenten Objekten, die nicht wirklich
wahrgenommen
werden
können,
sondern
aufgrund
der
Erscheinung
des
wahrgenommenen Objektes (unter einen Begriff gebracht) erschlossen werden. Reid
bestreitet jedoch ausdrücklich, dass Fälle wie (ii) und (iii) Fälle indirekter, d.h. Inferenzen
involvierender Wahrnehmung sind. Wir können eine nasse Straße oder die Flexibilität eines
Astes sehen, auch wenn Nässe oder Biegsamkeit keine genuin visuell wahrnehmbaren
Eigenschaften sind. Dies sei gegen (ii) vorgebracht. Gegen (iii) führt Reid an, dass z.B. ein
erfahrener Metzger das Gewicht eines Lammes oder ein Seemann die Bauart eines weit
entfernten Schiffes sehen kann, ohne dass Inferenzen involviert wären. Der erste Punkt (i)
wird von Reid nicht bestritten, im Gegenteil besteht er darauf, dass Wahrnehmungen mit
der Überzeugung (conviction, belief) einhergehen, dass sie von externen, realen Objekten
handeln. Doch dies schließt nicht zwingend ein, dass sie von präsenten und existierenden
externen, realen Objekten handeln müssen! Gegen (i) kann man nämlich anführen, dass
man in Filmen und auf Fotos auch nicht gegenwärtige Objekte sehen kann, ohne dass
Inferenzen involviert wären – ja diese Objekte müssen zum Zeitpunkt ihrer Wahrnehmung
nicht einmal existieren (5.3.5.).
Reid und die Biosemantik weisen also beide Unterscheidungen zwischen direkt und
indirekt zurück, d.h. sowohl jene des indirekten wie auch jene des direkten Realisten.964 Der
Grund für die Zurückweisung scheint mir in beiden Fällen darin zu liegen, dass sowohl
Reid als auch Millikan die Wahrnehmung nicht primär als Erfahrung von der Welt
Vgl. VM: IX.
Dies scheint mir der eigentliche Grund dafür zu sein, dass es anhaltend unklar ist, ob man Reid als
direkten Realisten klassifizieren soll und, wenn ja, als welche Art direkten Realisten.
963
964
493
betrachten, sondern als einen Prozess in der Welt. Reids Opposition gegenüber seinen
ideentheoretischen Vorgängern besteht also weniger darin, dass er im Unterschied zu ihnen
ein direkter Realist wäre oder dass er ein Anti-Repräsentationalist wäre, sondern vielmehr
darin, dass seine Vorgänger Wahrnehmung philosophisch als Erfahrung von der Welt
auffassen und nur naturwissenschaftlich als Prozess in der Welt.965
Den semiotischen Grundgedanken, dass Empfindungen Zeichen sind, die uns
etwas vorschlagen und dadurch Objekte bezeichnen, übernimmt Reid aus Berkeleys
Analogie zwischen Worten oder Buchstaben und Zeichen. Reid zufolge richten wir beim
Lesen oder Hören unsere Aufmerksamkeit jedoch nicht auf die Worte (die Vehikel),
sondern auf deren Bedeutung (den IR-Inhalt).966 Wir erfassen diese Bedeutung auch nicht
indirekt, indem wir sie aus den Worten erschließen, sondern mit den Worten erfassen wir die
Bedeutung. Analog verhält es sich in der Wahrnehmung: Wir richten unsere
Aufmerksamkeit nicht auf die Empfindungen (die Vehikel), sondern auf das von ihnen
bezeichnete Objekt (den IR-Inhalt). Wir erfassen das bezeichnete Objekt auch nicht
indirekt, indem wir es uns aus den Empfindungen erschließen, sondern mit den Empfindungen
nehmen wir die bezeichneten Objekte selbst wahr. Als was wir die Objekte wahrnehmen,
hängt jedoch, Reid zufolge, von der Interpretation dieser Zeichen durch Konzeptionen,
Begriffe und Bilder ab. Wie wir gesehen haben, beruht die natürliche Wahrnehmung aber
zuerst auf der Tätigkeit von Lebewesen. Diese Tätigkeit besteht in Formen der Aneignung.
Gegenstand der Aneignung sind Objekte mit Eignungen. Dies verleiht natürlichen
Wahrnehmungen einen behavioralen NBI. Bilder, Konzeptionen, Begriffe usw. kommen
später.
5.3.4.2. Natürliche und erworbene Wahrnehmung
Reid zufolge haben wir (und andere Tiere) zwei Arten von Wahrnehmungen, nämlich
natürliche (natural and original) und erworbene (acquired). Letztere sind die Frucht der
Erfahrung.967 Unter die natürlichen Wahrnehmungen fallen beispielsweise „the perception
which I have by touch, the hardness and softness of bodies, of their extension, figure,
Hinweise dafür geben nicht nur Reids Beschäftigung mit Aristoteles und seine Forderung einer gewissen
Nähe zwischen Philosophie und Naturwissenschaften, sondern v.a. sein Ansatz beim Commonsense.
966 „The sensations of smell, taste, sound and color, are of infinitely more importance as signs or indications,
than they are upon their own account; like the words of a language, wherein we do not attend to the sound
but the sense.“ (Reid 1997: 43). Dasselbe lautet ohne die Analogie wie folgt: „The feelings of touch, which
suggest primary qualities, have no names, nor are they ever reflected upon. They pass through the mind
instantaneously, and serve only to introduce the notion and belief of external things, which by our
constitution, are connected with them. They are natural signs, and the mind immediately passes to the thing
signified, without making the least reflection upon the sign, or observing that there was any such thing.“
(Reid 1997: 63).
967 Vgl. Reid 1997: 171.
965
494
motion“.968 Natürlich
meint
Reid
mit natürlichen
Wahrnehmungen
nicht die
Empfindungen selbst, sondern die Tatsache, dass Empfindungen von einem Lebewesen
von Natur aus als Zeichen für bestimmte Qualitäten aufgefasst werden. Unsere natürlichen
Wahrnehmungen etwa beruhen auf bestimmten Prinzipien der menschlichen ersten Natur.969
Für Reid sind Empfindungen nicht deswegen Zeichen, weil sie aufgrund ihrer kausalen
Relation zu externen Objekten und deren Qualitäten oder weil sie aufgrund ihrer
intrinsischen Eigenschaften Informationen über diese Objekte und Qualitäten tragen,
sondern weil die Natur bestimmte Empfindungen so mit Konzeptionen, Begriffen, Bildern
usw. verbunden hat, dass aufgrund dieser Verbindung Empfindungen die Qualitäten
externer Objekte bezeichnen. Reid vertritt also weder eine kausale oder informationale
noch eine magische Zeichentheorie.970 Doch was bedeutet es, dass die Natur dafür gesorgt
haben soll, dass Empfindungen etwas für uns bezeichnen?
Beispiele für natürliche Zeichen sind Rauch oder Gesichtsausdrücke. Wo Feuer ist,
da ist auch Rauch, also ist Rauch ein Zeichen für Feuer. Bestimmte Gesichtsausdrücke sind
für alle Menschen Ausdruck von bestimmten Basisemotionen wie Ekel, Trauer, Wut,
Freude, Überraschung oder Furcht. Also sind bestimmte Gesichtsausdrücke Zeichen für
Ekel usw. Dass es sich bei Rauch oder Gesichtsausdrücken um natürliche Zeichen handelt,
hat nun weniger mit Prinzipien im Sinne moderner Naturgesetze zu tun, sondern mit
Prinzipien, die für einen eingeschränkten Bereich gelten. Menschen fassen Rauch als
Zeichen für Feuer auf und Menschen fassen bestimmte Gesichtsausdrücke als Zeichen für
Freude auf. Sie täuschen sich beispielsweise, wenn sie ähnliche Gesichtsausdrücke bei
Schimpansen als Zeichen für Freude sehen, weil Schimpansen, die für uns fröhlich
aussehen, wütend sind. Was als natürliches Zeichen gilt, hat also nicht in erster Linie mit
der physikalischen Beschaffenheit des Universums zu tun, sondern mit der Beschaffenheit
unterschiedlicher biologischer Lebensformen.971 Wie Rebecca Copenhaver es ausdrückt:
„Aliens without heads from an ice world would have no reason to connect smoke
or a grimace with fire or fear. […] In order for Reid’s natural signs to indicate as
Ibid.
„Our original perceptions must be resolved into particular principles of the human constitution. [It is] by
one particular principle of our constitution, that a certain sensation signifies hardness in the body which I
handle; and it is by another particular principle, that a certain sensation signifies motion in that body.“ (Reid
1997: 191) „Nature has established a real connection between these signs…and nature hath taught us the
interpretation of these signs; so that previous to experience, the sign suggests the thing signified.“ (Reid 1997:
190)
970 Der Ausdruck „magische Zeichentheorie“ stammt von Hilary Putnam. Putnam stellt sich vor, dass sich
eine Ameise so im Sand bewegt, dass ihre Laufspur einem Bildnis von Winston Churchill gleicht. Doch dabei
handelt es sich nicht um ein Bildnis von Churchill. Entscheidend ist hier nicht, dass die Ameise keine Absicht
hat, Churchill zu zeichnen, sondern dass die Sandspur für sich genommen nicht dafür zuständig sein kann,
dass sie etwas repräsentiert.
971 Vgl. dazu die Diskussion um die Frage, ob es in der Evolutionsbiologie Naturgesetze gibt in 2.3.
968
969
495
they do, there must be natural laws connecting them with what they signify and
persons subject to those laws.“972
Reid glaubt, dass diese Prinzipien der menschlichen Natur nur empirisch aufgefunden
werden können, denn nichts an den Empfindungen für sich genommen zeigt uns, dass sie
von bestimmten Objekten und deren Qualitäten handeln.973 Er ist nicht der Auffassung,
dass diese Prinzipien einen empirischen Ursprung haben. Denn die Prinzipien oder
„Gesetze“ der natürlichen Wahrnehmung für eine bestimmte Lebensform hat Gott
erlassen. Natürliche Zeichen sind sozusagen die Konventionen Gottes, künstliche Zeichen
sind Konventionen der Menschen. Reid zufolge ist unser VS uns von unserem Schöpfer
zum Zwecke des Sehens gegeben worden. Freilich hätte dieser, wie der Fall der Olfaktoren
zeigt, die natürliche Wahrnehmung von Farbe und Form auch einem anderen System
überantworten können. Analog die Biosemantik! Unser visuelles System hat die Echte
Funktion R-Vehikel zu produzieren, die mit den Farb- und Formeigenschaften äußerer
Objekte im Sinne einer Isomorphie-Relation korrespondieren. Erst der Gebrauch dieser
Vehikel durch einen Konsumenten bestimmt jedoch den IR-Inhalt. Nur verfügt die
Biosemantik, anders als Reid, über eine naturalistische Theorie darüber, wie es „Zwecke“ in
der Natur geben kann (2.1.). Der springende Punkt an dieser Stelle besteht darin, dass
zwischen Empfindungen und externen Objekten und Qualitäten erstens kein intrinsischer
oder a priori einsehbarer Zusammenhang besteht und dass zweitens die Art und Weise, wie
Empfindungen als natürliche Zeichen fungieren, von der Beschaffenheit der Lebewesen
abhängt, die solche Empfindungen haben. Natürliche Zeichen hängen mithin von einer
Lebensform (3.3.1.) ab.
Wenden wir uns nun den erworbenen Wahrnehmungen zu. Unter die erworbenen
Wahrnehmungen fällt zunächst Folgendes:
972 Copenhaver 2004: 72. Wir haben in Abschnitt 2.2. gesehen, dass es sich hierbei nicht um Naturgesetze im
Sinne der Physik handeln kann. Wenn Copenhaver von „laws“ spricht, so bezieht sie sich implizit auf Reids
Rede von „Gesetzen des menschlichen Geistes“: „And in a like manner when certain sensations of my Mind
are invariably accompanied with the conception and belief of certain external objects, when the same
connection is found in the minds of all men at all times, when it can be shown that this connexion does not
arise from Custom or Education, nor can be accounted for by any Law of the human mind hitherto known and
received; we ought to hold this Connexion to be itself a Law of the human Mind, until we find some more
general Law of which it is the consequence.“ (Reid 1997: 261, meine Hervorhebung; vgl. auch Reid 1997: 59,
61, 102, 191) Vielleicht könnte man Reids Redeweise als Ausdruck der Auffassung deuten, dass es für den
menschlichen Geist spezielle Naturgesetze geben müsse. Da Reid jedoch die natürliche Verfasstheit des
menschlichen Geistes (der Commonsense) als normative Größe betrachtet, ist es von der Sache, wenn auch
nicht von Reids Intentionen her, keineswegs nicht unangemessen, die Rede von „Gesetzen des menschlichen
Geistes“ als natürliche Normen im Sinne der Biosemantik aufzufassen.
973 Vgl. dazu die Diskussion über die Olfaktoren in 5.1.6. Reid schreibt dazu: „However the things may be, if
Nature had given us nothing more than impressions made upon the body, and sensations in our minds
corresponding to them, we should, in that case, have been merely sentient, but not percipient beings. We
should never have been able to form a conception of any external object, far less a belief of its existence. Our
sensations have no resemblance to external objects; nor can we discover, by our reason, any necessary
connection between the existence of the former, and that of the latter.“ (Reid 1997: 176)
496
„I perceive that this is the taste of cyder, that of brandy; that this is the smell of an
apple, that of an orange; that this is the noise of thunder, that the ringing of bells;
this is the sound of a coach passing, that the voice of such a friend.“974
Dies klingt nun so, als bestünde erworbene Wahrnehmung darin, dass Begriffsbenutzer
ihre ursprünglichen Wahrnehmungen unter Begriffe bringen. Aber Reid hat nicht nur
diesen Fall im Sinn, sondern zugleich mehr und zugleich weniger.
Zuerst zum Weniger. Natürlicherweise, so Reid, nehmen wir bestimmte
Eigenschaften der Gegenstände wahr wie Geruch, Geräusch, Farbe oder Gestalt. Hierbei
handelt es sich, wie bereits mehrfach betont, nicht um bloße Empfindungen, sondern um
Empfindungen, die ein Lebewesen seiner Natur entsprechend als Zeichen für bestimmte
Eigenschaften von Objekten interpretiert. Dass es aber der Geruch eines Apfels ist, den ich
gerade rieche, wenn ich den Obstschrank öffne, habe ich erst durch Erfahrung lernen
müssen. Ich erwerbe die Fähigkeit, die natürliche Wahrnehmung als Zeichen für Objekte
zu gebrauchen. Erst auf der Grundlage von Erfahrung und Gewöhnung rieche ich den
Apfelgeruch als Geruch eines Apfels.975 Wie verläuft dieser Prozess von Erfahrung und
Gewöhnung? Reid verweist auf bestimmte Prinzipien. So verweist er auf das Prinzip der
Induktion, dem zufolge gilt: „When we have found two things to have been constantly
conjoined in the course of nature, the appearance of the one is immediately followed by the
conception and belief of the other.“976 Durch Erfahrung und Assoziation lernen wir also
mit dem Geruch eines Apfels bestimmte andere Qualitäten dieses Objekts zu verbinden
und so die Empfindung, die ein Apfel in uns olfaktorisch verursacht, als Zeichen für einen
Apfel aufzufassen. Derart assoziierte, komplexe Wahrnehmungen bezeichnet Reid nun
ebenfalls als erworbene Wahrnehmungen.977 Das von Reid am ausführlichsten diskutierte
Beispiel für erworbene Wahrnehmung ist die visuelle Wahrnehmung von Distanz und
Dreidimensionalität. Es ist jedoch nicht diese Art von Beispiel, die ich für die erworbene
Wahrnehmung hervorheben möchte. Die Wahrnehmung vollständiger (dreidimensionaler)
Objekte, so haben wir gesehen, hängt einerseits von bestimmten System-Komponenten
von VS ab (Konstanz- und Kontrast-Mechanismen) und die daraus sich ergebenden RVehikel sind nicht von einem Einzellebewesen erworben, sondern gehören ihm seiner
ersten Natur nach an. In gewisser Weise sind auch zahlreiche grundlegende explorative
Aneignungen, die für die Wahrnehmung vollständiger Objekte konstitutiv sind, nicht
Ibid.
Vergleiche: Ein schlechtes Foto von einem Ochsen in der Ferne ist ein Ochsenbild, aber kein Bild von
einem Ochsen, weil man den Fleck nicht als Zeichen für einen Ochsen nehmen kann. Nur ein Foto von
einem Ochsen, das als Ochse erkennbar ist, kann als Bild von einem Ochsen gesehen werden. So beim Apfel:
Der Geruch stammt von einem Apfel, wird aber nicht als Apfelgeruch wahrgenommen. Wir können den
Apfel riechentr, ohne ihn zu riechenitr.
976 Reid 1997: 195f.
977 Reid 1997: 191.
974
975
497
erworben, sondern das Resultat von Reifungsprozessen eines Lebewesens. Reids
paradigmatisches
Beispiel
der
visuellen
Wahrnehmung
von
Distanz
und
Dreidimensionalität weist also eher darauf hin, dass die Unterscheidung zwischen
natürlicher und erworbener Wahrnehmung nicht scharf ist. Er fasst unter erworbene
Wahrnehmungen auch die Aktualisierung und Reifung von System-Komponenten des VS
einer Lebensform. Kleine Kinder müssen lernen, Objekte zu fixieren. Dabei handelt es sich
jedoch lediglich um einen Reifungsprozess, analog zum Lernen einer Sprache oder zum
Erlernen des Gehens. Analog können wir diese Art von erworbener Wahrnehmung, die
sich
auf
Aktualisierung
und
Reifung
angeborener
Wahrnehmungsmechanismen
konzentriert, für unsere Zwecke beiseite lassen.
Nun zum Mehr. Reid nennt Beispiele erworbener Wahrnehmung, die für die
biosemantische Theorie der visuellen Wahrnehmung bedeutender sind. Ich kann eine nasse
Straße sehen, obschon Nässe keine genuin visuelle Qualität ist. Ich kann hören, ob eine
Glocke groß oder klein ist, obschon Größe und Kleinheit keine genuin auditiven
Eigenschaften sind.978 Genuin sichtbare Eigenschaften wie Form und Farbe ordnet Reid
der natürlichen Wahrnehmung zu, die visuelle Wahrnehmung aller anderen Eigenschaften,
die wir sehen können, der erworbenen Wahrnehmung. Solche Wahrnehmungen sind auch
Tiere zu erlernen imstande. Ein Hund kann ohne weiteres darauf trainiert werden,
zwischen einer großen und einer kleinen Glocke auditiv zu unterscheiden. Wichtiger sind
die „Expertenwahrnehmungen“:
„Not only men, but children, idiots and brutes, acquire by habit many perceptions
which they had not originally. Almost every employment in life, hath perceptions
of this kind that are peculiar to it. The shepherd knows every sheep of his flock, as
we do our acquaintance, and can pick them out of another flock one by one. The
butcher knows by sight the weight and quality of his beeves and sheep before they
are killed. The farmer perceives by his eye, very nearly, the quantity of hay in a rick,
or of corn in a heap. The sailor sees the burthern, the built, and the distance of a
ship at sea, while she is a great way off. Every man accoustomed to writing,
distinguishes his acquaintance by their hand-writing, as he does by their faces. And
the painter distinguishes in the works of his art, the style of all great masters. […]
Perception ought not only be distinguished from sensation, but likewise from that
of knowledge of the objects of sense, which is got by reasoning. There is no
reasoning in perception, as hath been observed.“979
Für unsere Lebensform hat Reid vor allem die Lerngeschichte von Einzellebewesen im
Auge. Reid betont einerseits, dass die erworbene Wahrnehmung sich nicht auf normale
erwachsene Exemplare unserer Art beschränkt, sondern auch auf Kinder, Idioten und
Tiere, und er betont andererseits, dass die erworbene Wahrnehmung nicht den Gebrauch
978
979
Vgl. Reid 1983: 182.
Reid 1997: 171f.
498
der Vernunft involviert. Reid ist also der Ansicht, dass erworbene Wahrnehmung weder
den Gebrauch von Begriffen involviert (falls Begriffe allein erwachsenen, normalen
Exemplaren unserer Art oder anderen rationalen Lebewesen vorbehalten sind) noch die
Ausübung inferenzieller Fähigkeiten. Paradebeispiele erworbener Wahrnehmung sind
Wahrnehmungen von Experten. Reid erwähnt den Schäfer, der die Schafe seiner Herde
ebenso sehend erkennt wie wir unsere Bekannten; den Metzger, der Gewicht und Qualität
des zu erwartenden Schaffleisches sieht; den Bauern, der die Menge Heus oder Korns sieht;
den Matrosen, der Entfernung und Bauart von Schiffen auf offener See sieht; den
Schreiber, der die Handschriften bestimmter Personen erkennt; den Maler, der einen
bestimmten Stil sieht:
„In a word, acquired perception is very different in different persons, according to
the diversity of objects about which they are employed, and the application they
bestow in observing them.“980
Wenn Reid von der erworbenen Wahrnehmung spricht, dann bezieht er sich auf die zweite
Natur von Lebewesen. Für Reid besteht der wesentliche Unterschied darin, dass natürliche
Wahrnehmungen angeboren sind, erworbene hingegen nicht. Erworbene Wahrnehmungen
involvieren Erfahrung, Gewöhnung, Erziehung, Training, Übung, Ausbildung, Praxis
usw.981 Auch die erworbene Wahrnehmung ist nicht inferenziell, sie ist kein Resultat von
Überlegungen, wie Reid nicht müde wird zu betonen: „There is no reasoning in
perception.“982
Reid
unterscheidet
also
zwischen
natürlichen
und
erworbenen
Wahrnehmungen, und beide Arten von Wahrnehmungen (perceptions) involvieren nichtinferenzielle Vorschläge (suggestions) durch Empfindungen (sensations), und zwar gemäß den
Prinzipien der ersten und zweiten Natur einer Lebensform. Die Übereinstimmungen mit
der biosemantischen Theorie der Wahrnehmung liegen auf der Hand. Wir können die oben
gegebene Bestimmung des IR-Inhalts von Wahrnehmungsempfindungen (5.3.2.2.) leicht
revidieren, um Reids semiotische Einsichten zu integrieren. Die obige Bestimmung lautete
ja wie folgt:
IR-Inhalt von Wahrnehmungsempfindungen: Eine Empfindung (Typ) ist eine
Empfindung von X im Hinblick auf ein Wahrnehmungssubjekt S, wenn (unter
Reid 1997: 172.
Vgl. Nichols 2002, Falkenstein 2004: 158ff., Buras 2008.
982 „The power which we acquire of perceiving things by our senses, which originally we should not have
acquired, is not the effect of any reasoning on our part: It is the result of our constitution, and of the
situations in which we happen to be placed.” (Reid 1983: 238) „Perception, whether original or acquired,
implies no exercise of reason; and is common to men, children, idiots, and brutes.“ (Reid 1979: 173) Nichols
2002 ist allerdings der Ansicht, dass für Reid bewusste inferenzielle Tätigkeiten in der erworbenen
Wahrnehmung eine Rolle spielen (diese nennt er „inferential acquired perceptions“ im Unterschied zu
„habituated acquired perceptions“ Aber Reid zufolge involvieren Wahrnehmungen per definitionem keine
Inferenzen. Die „inferential acquired perceptions“ sind keine Wahrnehmungen.
980
981
499
Normalen Bedingungen) die nicht-inferenzielle Reaktion von S auf
Empfindungszustände dieses Typs eine Reaktion ist, die besagt, dass etwas in der
unmittelbaren oder erweiterten Umgebung von S X ist.
Die revidierte Bestimmung lautet nun:
IR-Inhalt von Wahrnehmungsempfindungen*: Eine Empfindung ist ein
Zeichen für X im Hinblick auf ein Wahrnehmungssubjekt S einer bestimmten
Lebensform, wenn (unter Normalen Bedingungen) die entweder natürliche oder erworbene
nicht-inferenzielle Reaktion von S auf Empfindungszustände dieses Typs eine
Reaktion ist, die besagt, dass etwas in der unmittelbaren oder erweiterten
Umgebung von S X ist.
5.3.4.3. Erworbene Wahrnehmung und kulturelle Kategorien
Oben habe ich darauf hingewiesen, dass man Reids semiotischem Realismus vorwerfen
könnte, dass in der Wahrnehmung ein Objekt gleich doppelt repräsentiert werde, einmal
durch die Empfindungen (qua Zeichen) und ein andermal durch die Wahrnehmung (qua
Begriff). Wie wir gesehen haben, handelt es sich dabei um ein Missverständnis der
Reidschen Position. Doch taucht dieses Problem mit der Unterscheidung zwischen
natürlichen und erworbenen Wahrnehmungen nicht erneut auf? In diesem und dem
folgenden Abschnitt möchte ich mich diesem und zwei weiteren Problemen in Reids
Unterscheidung zwischen natürlicher und erworbener Wahrnehmung widmen und zeigen,
wie sie auf der bislang entworfenen biosemantischen Grundlage gelöst werden können.
Warum scheint die Verdoppelung der Wahrnehmung bei der erworbenen
Wahrnehmung als mögliches Problem erneut aufzutauchen? Nun, in erworbenen
Wahrnehmungen spielen doch natürliche Wahrnehmungen auch eine Rolle. So schlagen
uns bestimmte Eigenschaften, wenn diese auf unsere Sinne einwirken, natürlicherweise vor,
dass etwas Hartes vorliegt. Ein Arzt, der ein weiches Gewebe abtastet, wird die erworbene
Wahrnehmung von malignen Knötchen im Gewebe haben. Spürt der Arzt also doppelt,
einerseits Hartes und andererseits maligne Knötchen? Hat seine Wahrnehmung zwei
unterschiedliche Referenzobjekte? Wie ist es bei einer Fernsehübertragung eines
Fußballspiels oder beim Hören einer Sonate am Radio? Sehen wir sowohl die Farbmuster
auf dem Bildschirm als auch die Vorgänge im Spiel? Hören wir sowohl die Geräusche aus
dem Radio als auch Schumanns Sonate, op.11? Eine Pointe von Reids Auffassung
hinsichtlich erworbener Wahrnehmungen besteht darin, dass in ihr nicht nur die
Empfindungen Zeichen für etwas sind, wie in der natürlichen Wahrnehmung, sondern
auch bereits interpretierte Empfindungen (d.h. Zeichen) wiederum Zeichen für etwas werden können.
Die Wahrnehmung von etwas Hartem in einem Objekt ist ebenso eine natürliche
500
Wahrnehmung, wie die Wahrnehmung von Farbmustern auf einem Objekt oder die
Wahrnehmung von Klangmustern, die einem Objekt entströmen. Nun werden in der
erworbenen Wahrnehmung die durch die Empfindungen vermittelten Eigenschaften der
Objekte oder die Objekte selbst wiederum zu Zeichen. Für das geübte Auge und für das
geübte Ohr sind die natürlich wahrgenommenen Eigenschaften (Hartes, Farbmuster,
Klangmuster) ebenso transparent wie für das ungeübte Auge und Ohr die Empfindungen.
Während ein ungeübtes Auge, wie etwa jenes einer Katze oder jenes eines
operierten Blinden, auf dem Bildschirm lediglich Farbmuster wahrnimmt, sieht der
fernsehgeübte Betrachter ein Fußballspiel. Wir können dies so ausdrücken: Der
fernsehgeübte Betrachter siehttr Farbmuster auf dem Bildschirm, aber er siehtitr das Spiel
selbst. Der sachverständige und fernsehgeübte Betrachter siehtitr nicht nur eine bestimmte
Szene eines Fußballspiels, sondern diese Szene als Schwalbe von Spieler X usw. Analoges
kann für den Arzt und das Hören der Sonate gesagt werden. In keinem Fall sind
Inferenzen involviert. Die geübten Hände, Augen und Ohren spürenitr, sehenitr und hörenitr
direkt maligne Knötchen unter der Haut, die Schwalbe im Spiel und das Presto in
Schumanns Sonate. Diese Wahrnehmungen involvieren weder Inferenzen noch sind sie
intentional verdoppelt. Die Antwort auf den neuen Verdoppelungsvorwurf lautet ähnlich
wie jene auf den ersten: Erworbene Wahrnehmungen involvieren qua Empfindungen
externe Objekte und Qualitäten, doch diese Objekte und Qualitäten fungieren für die
Wahrnehmungssubjekte als Zeichen für etwas Anderes. Wie Reid sagt: „whatever has
always been found connected with them“ wird wahrgenommen.983
Involvieren erworbene Wahrnehmungen in unserem Fall denn tatsächlich keine
Inferenzen? Aus Reids semiotischer Perspektive können Wahrnehmungen im Falle unserer
Lebensform beispielsweise sprachliche Reaktionen involvieren oder die Anwendung von
Begriffen, die wir durch Inferenzen erworben haben, nicht aber Inferenzen. Die
Empfindung einer roten Quantität in einem Behälter kann uns eine rote Flüssigkeit
vorschlagen. Ich schließe nicht, dass die rote Quantität flüssig ist, sondern ich sehe es. Die
Wahrnehmung einer roten Flüssigkeit wiederum kann selbst als Zeichen fungieren und
kann uns eine Eignung zu trinken vorschlagen, Wein zu trinken vorschlagen, die Äußerung
„Da ist noch Wein“ vorschlagen, die Eignung für einen handfesten Rausch vorschlagen
usw. Weil ich inferenziell mit der Relation zwischen Wein und Rausch vertraut bin – und
dies kann ich auch sein, ohne jemals von Wein berauscht gewesen zu sein – , kann ich in
einer roten Flüssigkeit eine Eignung für einen Rausch sehen. Mit anderen Worten: Weil ich
die Anwendung des Begriffs „Wein“ durch Inferenzen erworben habe, kann ich in der
983
Reid 1997: 236.
501
roten Flüssigkeit eine Eignung zu einem Rausch sehen. Dies ist eine erworbene
Wahrnehmung, aber sie ist in keiner interessanten Weise indirekt und involviert selbst
keine Inferenzen, wenn sie auch inferenziell erworbene Begriffe involviert.
Wir
können
die
Unterscheidung
zwischen
natürlicher
und
erworbener
Wahrnehmung mit den in Kapitel 3 vorgeschlagenen Unterscheidungen zwischen
normativen Kategorien zusammenführen, um die Übereinstimmung zwischen Reids
semiotischem Realismus und der Biosemantik weiter zu verstärken. Im Abschnitt 5.3.2.1.
habe ich auf zwei Gründe für das visuelle Supergeneralistentum unserer Lebensform
hingewiesen. Der erste Grund besteht in der starken Ausprägung der Evolution der
Entwicklungsfähigkeit. Der zweite Grund besteht in der Tatsache, dass wir nicht nur über
natürliche Fähigkeiten mit Echten Funktionen verfügen, sondern in einer kulturellen Welt
leben. Die Diskussion dieses zweiten Grundes wird zur gewünschten Verstärkung der
Übereinstimmung zwischen semiotischem Realismus und Biosemantik führen.
Unsere ökologische Nische (so habe ich in 3.2.6. argumentiert) ist der Effekt einer
kumulativen, epistemischen, reflexiven und totalen Nischenkonstruktion. Unsere
ökologische Nische besteht, wie die Heideggersche Welt, zu einem großen Teil aus
strukturiertem Zeug (Werkzeug, Schuhzeug, Schreibzeug, Nähzeug, Esswaren, Hausrat
usw.). Die Strukturiertheit des Zeugs ist Bestandteil der kumulativen, reflexiven
Weitergabe, denn es werden nicht nur Artefakte, sondern mit den Artefakten auch
Techniken ihrer Herstellung und Verwendung sowie Artefakte zur Herstellung und
Verwendung von anderen Artefakten weitergegeben. Die Artefakte (wie das Zeug) der
kulturellen Welt verfügen über Echte Funktionen. Solche Artefakte bilden nun keine
biologischen funktionalen normativen Kategorien (3.2.3.-3.2.4.), sondern kulturelle
funktionale normative Kategorien (3.2.5.-3.2.6.). Unter Artefakte fallen jedoch nicht nur
Zeug wie Gebrauchsgegenstände, Instrumente, Kunstwerke usw., sondern auch Rituale,
Institutionen, soziale Rollen usw. Ich habe in Abschnitt 3.2.5. paradigmatisch für Zeug das
Küchenmesser und für Institutionen den Arzt ausführlich diskutiert. Beide Arten von
Artefakten, Zeug und Institutionen, spielen eine Rolle für die visuelle Wahrnehmung. Mit
ihrem unbewaffneten, aber geübten Auge sind Menschen in der Lage, eine ganze Reihe von
Dingen (direkt, nicht-inferenziell) zu sehenitr, insofern sie durch Lernen, Unterweisung und
Übung in die Lage versetzt worden sind oder sich in die Lage versetzt haben, bestimmte
Typen von Empfindungen (unter Normalen Bedingungen) mit nicht-inferenziellen
Reaktionen zu quittieren, die nur erfolgreich sein (d.h. ihre Echte Funktion erfüllen)
können, wenn etwas in ihrer unmittelbaren oder erweiterten Umgebung X ist. Das geübte
Auge siehtitr nicht nur einen Holztisch, sondern einen Eichenholztisch, nicht nur rote
502
Flecken, sondern Masern, nicht nur die Darstellung eines Mannes an einem Tisch, sondern
einen Picasso; nicht nur rennende Männer in Trikots und kurzen Hosen, sondern eine
Torchance usw. Nichts davon muss als indirekte oder abgeleitete visuelle Wahrnehmung
betrachtet werden. Wer über hinreichend Training und Erfahrung verfügt, siehtitr
Eichenholztische, Masern, Picassos, Torchancen usw. direkt als Eichenholztische, Masern,
Picassos, Torchancen usw. Das hinreichende Training und die entsprechende Erfahrung
werden in einer Institution durchgeführt bzw. erworben, sie bedeutet den Erwerb einer
sozialen Rolle. Dadurch erwerben Lebewesen unserer Art neue nicht-inferenzielle
Reaktionen auf Wahrnehmungsempfindungen, die als Konsumenten dieser Empfindungen
fungieren können und so den R-Vehikeln andere IR-Inhalte verleihen. Denn eine
Empfindung ist eine Empfindung von X im intentionalen Sinne im Hinblick auf ein
Wahrnehmungssubjekt S, wenn (unter Normalen Bedingungen) die nicht-inferenzielle
Reaktion von S auf Empfindungszustände dieses Typs eine Reaktion ist, die nur erfolgreich
sein (d.h. ihre Echte Funktion erfüllen) kann, wenn etwas in der unmittelbaren oder
erweiterten Umgebung von S X ist (5.3.2.2.). Es wäre von der Sache her schlicht verfehlt,
in diesen Fällen inferenzielle Prozesse zu unterstellen. Die Behauptung, es handle sich hier
um Fälle indirekter Wahrnehmung, ist keine vortheoretische Behauptung, sondern setzt ein
bestimmtes Verständnis direkter Wahrnehmung voraus, dass ich hier gerade bestreiten will.
Die Bildung der Überzeugung des Arztes, dass das Kind Masern hat, ist ein Beispiel für
eine nicht-inferenzielle Reaktion auf Empfindungszustände eines bestimmten Typs, die
besagt, dass etwas in der unmittelbaren Umgebung des Arztes ein Fall von Masern ist. Der
Arzt siehtitr direkt, dass das Kind Masern hat, weil er beispielsweise gelernt hat, auf
Wahrnehmungsempfindungen dieser Art mit der Ausbildung einer entsprechenden
Überzeugung zu reagieren. Dieses Lernen ist gleichbedeutend mit dem Erwerb einer
sozialen Rolle und dadurch einer kulturellen Funktion als Arzt. Damit gehört der Arzt zu
einer kulturellen funktionalen normativen Kategorie. Wir können ihm (nicht aber dem Kind
oder den Eltern vorwerfen), dass er nicht gesehen hat, dass es Masern sind. Der Arzt hat in
diesem
Fall
keinen
falschen
Schluss
gezogen.
Er
hat
falsch
auf
seine
Wahrnehmungsempfindungen reagiert.
Auch Zeug spielt eine Rolle in der Erweiterung des Bereichs dessen, was wir direkt
sehenitr können. Wie wir gesehen haben, sind Schimpansen (und andere Lebewesen) in der
Lage, ein optisches Instrument (den Spiegel) zu verwenden, um gezielt auf Körperpartien
zuzugreifen, zu denen sie andernfalls keinen visuellen Zugang hätten (4.4.). Ebenso kann
ich einen Spiegel benutzen, um Dinge zu sehen, zu denen ich im Moment keinen visuellen
Zugang habe. Ich sehe im Spiegel, ob ich noch Schaum im Gesicht habe, ob sich mir von
503
hinten ein Fahrzeug nähert oder ob der Fremde um die Hausecke kommt usw. In diesen
Fällen sieht der Schimpanse einen roten Fleck auf seiner Stirn, ich sehe mich selbst, das
Fahrzeug oder den Fremden. Natürlich kann man sagen, dass der Schimpanse und ich
diese Dinge indirekt sehen, und zwar insofern wir uns eines optischen Instrumentes
bedienen, nicht jedoch in dem Sinne, dass wir aufgrund unserer Einsicht in die
Funktionsweise von Spiegeln die Positionen diese Dinge ableiten würden. Die Indirektheit
der Wahrnehmung bezieht sich bei einem optischen Instrument nicht auf inferenzielle
Prozesse, sondern auf die Vermittlung durch das Instrument. Trotz des Einsatzes eines
optischen Instruments sehen der Schimpanse und ich uns selbst bzw. das Fahrzeug oder
den Fremden. Wir sehenitr keine Bilder oder Abbildungen dieser Dinge. Diese Bilder und
Abbilder sind ebenso transparent wie die Wahrnehmungsempfindungen als R-Inhalte. Sie
sind mit bestimmten externen Strukturen isomorph, und aufgrund dieser IsomorphieRelation kann ein Wahrnehmungssubjekt diese Abbilder ebenso als R-Vehikel für die
externen Strukturen nehmen, wie es die Retinamuster oder die visuellen OutputKomponenten als Abbilder für externe Strukturen nimmt. Weder im Fall der Strukturen,
die das VS zur Verfügung stellt, noch im Falle der Strukturen, die optische Instrumente zur
Verfügung stellen, siehtitr das Subjekt diese Strukturen, sondern es siehtitr die externen
Strukturen, die vorliegen müssen, damit ein K-Mechanismus des Subjekts seine Echte
Funktion ausüben kann. Ebenso, wie visuelle Generalisten in der Lage sind, die natürlichen
artspezifischen K-Mechanismen ihrer VS mittels Lernen, Unterweisung und Übung durch
erworbene K-Mechanismen zu erweitern, sind sie in der Lage, ihre natürlichen visuellen PMechanismen durch den Gebrauch von artifiziellen visuellen P-Mechanismen zu erweitern.
Bei diesen künstlichen P-Mechanismen handelt es sich um optische (oder gar
prosthetische) Instrumente. So siehtitr das instrumentierte Auge Objekte nicht nur in der
unmittelbaren räumlichen und zeitlichen Umwelt eines Wahrnehmungssubjekts, sondern
auch Objekte die weit sehr entfernt (mit Teleskopen oder mit Videokameras) oder sehr
klein sind (mit Mikroskopen), Objekte, die in Lebewesen verborgen sind (mit
Röntgenapparaten), Objekte in der Nacht (mit Nachtsichtgeräten), Vorgänge, die sich vor
dem Zeitpunkt der Wahrnehmung abgespielt haben (in Filmen), oder Objekte, die nicht
mehr existieren (auf alten Fotos).
Ich komme zu einem zweiten Problem. Dabei handelt es sich um Reids scheinbar
unentschiedene Ausdrucksweise. Insbesondere könnte man beanstanden, Reid habe sich
wenig deutlich dazu geäußert, was es bedeuten soll, dass Wahrnehmungen Konzeptionen,
Begriffe, Bilder usw. involvieren. Was genau soll denn nun als Interpretant von
Empfindungen gelten? Aus biosemantischer Perspektive ist dies nicht zu bedauern. Reid
504
verweist hier einfach auf den Umstand, dass innerhalb einer Lebensform oder zwischen
verschiedenen Lebensformen unterschiedliche Konsumenten zur Verfügung stehen, die die
durch die VS zur Verfügung gestellten R-Vehikel weiter verwenden können. Ähnlich
unklar hat sich ein anderer Semiotiker der Wahrnehmungstheorie ausgedrückt, nämlich
Peirce.
Peirce
unterscheidet
durchgehend
zwischen
Perzept
(percept)
und
Wahrnehmungsurteil (perceptual judgement). Eine Vorschlag von Alexander Roesler folgend,
kann man das Perzept semiotisch dem Zeichen zuordnen, das Wahrnehmungsurteil dem
Interpretanten und die wahrgenommenen Qualitäten eines Objekts dem Objekt.984 Peirce
äußert sich über das Wahrnehmungsurteil nun scheinbar widersprüchlich. Manchmal
handelt es sich um ein Urteil in propositionaler Form, dann in diagrammatischer Form. Als
Urteil scheint es falsch sein zu können, doch sagt Peirce auch, dass es eigentlich nicht
falsch sein kann. An anderen Stellen handelt es sich beim Urteil um abduktive Hypothesen,
dann wieder um Gewohnheiten des Verhaltens, um ein Gefühl oder eine Anstrengung. Es
ist also nicht klar, was der Interpretant sein soll.985 Doch der Interpretant (K-Mechanismus)
ist dasjenige in einem Lebewesen, das eine Wahrnehmungsempfindung als Zeichen (RVehikel) verwendet, um damit ein Objekt zu bezeichnen (IR-Inhalt). Je nachdem kann es
sich dabei um sprachliche Reaktionen, um Verhaltensweisen, Gefühle oder körperliche
Anstrengungen handeln.
Der Verweis auf Peirce hilft uns, einen Aspekt von Reids semiotischem Realismus
zu verstehen, der bislang implizit die Diskussion der erworbenen Wahrnehmung bestimmt
hat, nämlich die Semiose. Wie wir in Abschnitt 1.2.1. festgehalten haben, geht es Peirce
nicht in erster Linie um Zeichen als solche, sondern um den Prozess der
Zeichenverwendung, mithin um Semiose. Wir haben eben gesehen, dass man das Perzept
im semiotischen Dreieck dem Zeichen, das Wahrnehmungsurteil dem Interpretanten und die
wahrgenommenen Qualitäten eines Objekts dem Objekt zuordnen kann. Die im
Wahrnehmungsprozess involvierten Zeichen nennt Peirce „Perzepte“, Millikan „Vehikel“
und Reid „Empfindungen“. Ich habe im Hinblick auf Wahrnehmungen wiederholt von
„Wahrnehmungsempfindungen“ gesprochen. Die Semiose besteht nun in der Erweiterung
dieses Dreiecks. Auf der auch für visuelle Generalisten grundlegenden Ebene fungieren
Verhaltensweisen der explorativen und praktischen Aneignung als Interpretanten
(Wahrnehmungsurteile, Konsumenten, conceptions) der Zeichen (Perzepte, Vehikel,
sensations) und verleihen den Zeichen einen behavioralen, nicht-begrifflichen IR-Inhalt, der
Vgl. Roesler 2000: 118ff. Das erste Vorkommnis von „Objekt“ meint einen materiellen Gegenstand, ein
Ereignis usw., das zweite Vorkommnis hingegen das dritte Element im semiotischen Dreieck von Zeichen,
Interpretant und Objekt.
985 Ein Beispiel für die begrifflichen Verrenkungen, zu denen ein Vereinheitlichungsversuch führt, findet sich
in Rosenthal 2004.
984
505
von Eignungen von Objekten handelt. Dieses semiotische Wahrnehmungsdreieck ist das
für Lebewesen grundlegende Dreieck. Die Semiose besteht in der Erweiterung dieses
Wahrnehmungsdreiecks. Wie sieht diese Erweiterung aus?
Mit der erworbenen Wahrnehmung, so haben wir gesehen, können Objekte und
deren Eignungen oder Eigenschaften selbst zu Zeichen werden. Diese Zeichen sind
natürlich selbst keine Empfindungen mehr, aber sie werden dem Lebewesen über
Empfindungen vermittelt. Die Möglichkeit zu dieser Art von semiotischer Erweiterung
folgt aus dem entscheidenden strukturellen Merkmal von Zeichenvehikeln, nämlich ihrer
Isomorphie-Relation (1.1.3., 1.1.5., 1.1.7.). Die Empfindungszustände E eines Lebewesens
sind strukturell isomorph mit Eignungen oder Eigenschaften von Objekten O. Diese
Eignungen oder Eigenschaften von Objekten wiederum sind strukturell isomorph mit
weiteren Sachverhalten oder Tatsachen T. Dadurch ist in ihnen die Möglichkeit angelegt,
dass O zu einem Zeichen für T werden kann. Solange E sowohl mit O als auch mit T
strukturell isomorph bleibt, kann T via E wahrgenommen werden. Ob man nun sagt, dass
E zum Zeichen für T wird oder dass O zum Zeichen für T wird, ist in gewisser Weise
gleichgültig. Doch aus der Perspektive der Semiose besteht die interessante Erweiterung ja
darin, dass nicht nur E als Zeichen fungieren kann (wie in der natürlichen Wahrnehmung),
sondern auch O, nämlich in der erworbenen Wahrnehmung.
Wir können nun erstens sagen: Das in der natürlichen Wahrnehmung durch das
natürliche Zeichen E bezeichnete Objekt O wird in der erworbenen Wahrnehmung zu einem
erworbenen Zeichen für T. O wird zu einem erworbenen Zeichen für T, sobald das
Lebewesen eine Fähigkeit erworben hat, O als Zeichen für T zu interpretieren. Diese
Fähigkeit kann unterschiedliche Formen annehmen. Sie kann als Reaktion der
Einbildungskraft, als Reaktion des Urteilsvermögens, als Reaktion des Sprachvermögens,
als emotionale Reaktion usw. aufgefasst werden.
Zweitens können wir sagen: Das erworbene Zeichen O ist in das natürliche Zeichen
E eingebettet. O ist in E eingebettet, wenn zwischen E, O und T strukturelle Isomorphien
vorliegen. Die Einbettung von O in E der ist der Grund dafür, dass wir nach wie vor von
einer Wahrnehmung sprechen können. Wir nehmen in O T wahr, solange O in E
eingebettet ist. Schließlich können wir sagen: T wird das neue Objekt („Objekt“ im Sinne
des dritten Elements im semiotischen Dreieck) der erworbenen Wahrnehmung. T ist das
intentionale Objekt der erworbenen Wahrnehmung.
Wenden wir diese strukturelle Beschreibung auf ein Beispiel an. S hörtitr
Klangmuster von Schallplatten. Die durch das Klangmuster verursachten Empfindungen E
sind natürliche Zeichen für Objekte, denen Klangmuster entströmen, also für O. Auch
506
Kleinkinder, Katzen und Mäuse können dies hören. Ein wenig Training ermöglicht es
Wesen unserer Art, bestimmte Klangmuster als Singstimme mit Klavierbegleitung (T1) zu
hören. O wird zu einem erworbenen Zeichen für T1. Etwas mehr Training ermöglicht es, T1
als Schumann-Lieder (T2) zu hören. T1 wird zu einem erworbenen Zeichen für T2. Weiteres
Training ermöglicht es, in T2 Charles Panzera Schumann-Lieder singen (T3) zu hören. T2
wird zu einem erworbenen Zeichen für T3. Das geübte Ohr hörtitr Panzera direkt
Schumann-Lieder singen, solange die Isomorphie-Relationen zwischen E, O, T1, T2 und T3
erhalten bleiben, solange T2, T1 und O in E eingebettet sind.
Kommen wir zum dritten Problem. Er wird es uns erlauben, zum nächsten
Abschnitt über zu gehen. Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass v. a. die Formulierung
„oder erweiterten Umgebung“ in „IR-Inhalt von Wahrnehmungsempfindungen*“ (5.3.4.2.)
über das von Reid Intendierte hinausgeht. Reid besteht darauf, dass ein Lebewesen nichtpräsente, materielle Objekte nur indirekt wahrnehmen kann. Dieser Überschuss ruft nun
das dritte Problem hervor: Ist erworbene Wahrnehmung wirklich Wahrnehmung? Kann ich
die Elastizität eines Astes sehen? Kann der Bauer das Gewicht eines Heuhaufens sehen?
Kann der Sachverständige einen Rembrandt sehen oder Panzera Schuman singen hören?986
Warum nicht? Reid zufolge gehören zu einer Wahrnehmung die folgenden Faktoren:
Erstens gehört zur Wahrnehmung eine Vorstellung, ein Begriff, ein Bild usw. des Objekts.
Zweitens führen Wahrnehmungen die unwiderstehliche instinktive Überzeugung (conviction,
belief) über die gegenwärtige und reale Existenz des Objekts mit sich. Drittens sind
Wahrnehmungen und die involvierte Überzeugung nicht das Resultat eines Schlusses.
Viertens involvieren Wahrnehmungen Empfindungen. Wenn der Metzger das Gewicht
eines Lammes sieht, so ist keiner der Faktoren verletzt. Der Metzger hat eine Vorstellung
des Objekts und seiner Eignung, er ist überzeugt von der Existenz des Objekts, er hat
keinen Schluss gezogen, er nimmt Wahrnehmungsempfindungen zum Zeichen für das
Gewicht des Lamms. Analoges gilt für den Bauern und den Seemann. Warum sollten sie
also nicht sehen, wie schwer das Lamm, wie gut das Heu, von welcher Bauart das Schiff ist
oder wessen Hand Feder oder Pinsel führte? Das Problem scheint darin zu bestehen, dass
Reids Ansatz ohne kausale Einschränkung durch das Wahrnehmungsobjekt einfach zu viele direkte
Wahrnehmungen zulässt, die wir nicht als Fälle von Wahrnehmungen klassifizieren
würden. So meint etwa James Van Cleve:
„Yet there are cases of acquired perception that no one would regard as genuine
perception. I return home and see my wife’s car keys on the counter (or hear my
son say “Mom’s home”), whereupon I automatically conceive of her and believe
986 Reids Vorgänger Berkeley etwa würde dies bestreiten. Wir nehmen nur dasjenige wahr, was uns
ursprünglich gegeben ist. Es gibt keine erworbenen Wahrnehmungen.
507
that she is home. Since she is upstairs, I do not perceive her, but it seems that I
fulfill all the conditions for Reidian perception.“987
Was Van Cleve zufolge fehlt, ist die Präsenz des Objekts. Er sieht den Schlüssel auf dem
Tisch oder hört seinen Sohn rufen, aber er sieht und hört nicht seine Frau. Die Frau selbst
zu sehen oder zu hören, hieße wohl, dass sie in irgendeiner angemessenen Weise die
Ursache für die Wahrnehmungen von Van Cleve wäre. Nun ist sie zweifellos in irgendeiner
Weise die Ursache für die Wahrnehmung des Schlüssels (sie hat ihn auf dem Tisch
abgelegt) oder für die Wahrnehmung des Sohnes (sie hat ihn geboren). In angemessener
Weise die Ursache für Van Cleves Wahrnehmungen ist seine Frau offenbar nicht schon
dadurch, dass sie die Ursache für das Vorliegen von Wahrnehmungsobjekten ist, die
unabhängig von ihr Wahrnehmungsempfindungen auslösen, sondern erst dann, wenn sie
selbst die Ursache für das Vorliegen von Wahrnehmungsempfindungen ist. Hier scheint
also unsere Intuition die Theoriekonstruktion der Biosemantik (1.1.6.) zu beschränken. Ich
möchte diese intuitive kausale Beschränkung akzeptieren und ihr im folgenden Abschnitt
eine prinzipielle und mit der Biosemantik kompatible Fassung geben. An dieser Stelle
werden wir sehen, inwiefern die Biosemantik der tiefsten Ebene des von Pietroskis
Biologiemärchen (5.1.1.) aufgeworfenen Problem entgegen kommen und das Nomische
Korrelationsprinzip (NKP) mit Abstrichen integrieren kann (5.1.5.1.). Diese Beschränkung
erlaubt es uns jedoch immer noch, direkte erworbene Wahrnehmungen von externen,
realen Objekten zu haben, die nicht präsent sind und nicht mehr existieren, und so die
erworbenen Wahrnehmungen auch auf die Wahrnehmung dieser Objekte zu erweitern.
5.3.5. Fotografische Transparenz und Homogenitäts-Einschränkung
Ich habe in 5.3.4.1. behauptet, dass man in Filmen und auf Fotos auch nicht gegenwärtige
Objekte sehen kann. Gemeint ist, dass man die Objekte selbst sehen kann, nicht nur ein
Abbild davon. Das Objekt der Wahrnehmung einer Fotografie von S ist S. Dies ist die
These der fotografischen Transparenz (TFT). Für diese Transparenz-These ist unabhängig
von der Biosemantik argumentiert worden.988 Ich halte sie für richtig. Allerdings ist die
These heftig umstritten, manche Kommentatoren halten sie für völlig kontra-intuitiv.989 Ein
Kommentator hat die Auffassung vertreten, dass im Rahmen der Diskussion um die
Philosophie der Fotografie die Debatte um TFT nicht gelöst werden kann. Erforderlich sei
Van Cleve 2004: 127.
Vgl. Walton 2008. Der Aufsatz „Transparent Pictures: On the Nature of Photographic Realism“ stammt
aus dem Jahr 1984. Weitere Vertreter von TFT oder des fotografischen Realismus sind Erwin Panofsky,
André Bazin, Stanley Cavell und Roland Barthes.
989 Kritik an Walton findet sich etwa Brook 1986; Currie 1991; Friday 1996; Lopes 1996, 81ff., 179ff.
987
988
508
eine Rückbindung an die Philosophie der Wahrnehmung.990 Die biosemantische Theorie
der Wahrnehmung liefert m.E. die Grundlage für TFT.
Wer in Venedig mit dem Vaporetto Nr. 1 fährt, kann nach der Haltestelle San
Marco den Dogenpalast, die Markuskirche und den Campanile aus einer bestimmten
Perspektive sehen. Wer die Pinacoteca di Brera in Mailand besucht, kann auf dem Bild
„Veduta del bacino di San Marco“ von Canaletto (ungefähr) dieselbe Ansicht sehen.
Zwischen der Ansicht und dem Gemälde besteht hinsichtlich ihrer (visuellen)
Wahrnehmung ein wichtiger Unterschied. Im ersten Falle, auf dem Schiff stehend, sehen
wir die Gebäude selbst, im zweiten Fall, vor dem Gemälde stehend, sehen wir eine
Abbildung dieser Gebäude. Sehen wir Dinge in natura, erblicken wir natürlich keine
Repräsentationen dieser Dinge, sondern sie selbst.991 Sehen wir Dinge hingegen auf Bildern,
so erblicken wir nicht die Dinge selbst, sondern Abbilder dieser Dinge. Was sehen wir auf
einem Foto dieser Szenerie? Den Campanile selbst? Ein Bild von ihm? Natürlich sind
Fotografien auch Bilder, doch TFT behauptet, dass wir auf einem Foto des Campanile den
Campanile selbst sehen. Fotografien sind auf das auf ihnen Abgebildete hin durchsichtig
oder transparent. Das geübte Auge hat mit geringem Aufwand gelernt, durch Fotos
hindurch Objekte zu sehen.
Fotos sind ebenso transparent wie die Wahrnehmungsempfindungen. Sie sind mit
bestimmten externen Strukturen isomorph und aufgrund dieser Isomorphie-Relation kann
ein Wahrnehmungssubjekt diese fotografischen Repräsentationen ebenso als R-Vehikel für
Friday 1996.
Diese Behauptung reizt vielleicht zu unmittelbarem Widerspruch. Der darin scheinbar behauptete direkte
Wahrnehmungsrealismus hinsichtlich materieller Gegenstände ist keine Position, die einem geschenkt wird.
Doch für den Unterschied, den ich hier machen möchte, spielt die Unterscheidung zwischen direktem und
indirektem Realismus keine Rolle. Auch indirekte Realismen müssen den Unterscheid zwischen einer
gesehenen und einer gemalten Szenerie (zwischen Wahrnehmung von o und Abbildung von o; zwischen
visueller Wahrnehmung und Bild) ziehen. An dieser Stelle geht es also zunächst gar nicht um die Metaphysik
der Wahrnehmung, sondern um die wenig umstrittene alltagspsychologische Feststellung, dass wir einen
Unterschied zwischen der Wahrnehmung einer Szenerie und der Wahrnehmung einer Abbildung dieser
Szenerie machen. Wir drücken diesen Unterschied wie folgt aus: Im ersten Fall sehe ich die Szenerie (die
Gebäude, ihre Eigenschaften, ihre Relationen usw.) selbst (aus einer bestimmten Perspektive), in zweiten Fall
eine Repräsentation der Szenerie (die Gebäude, ihre Eigenschaften, ihre Relationen usw. aus einer bestimmten
Perspektive). Einen weiteren Widerspruch mag die Behauptung hervorrufen, wir würden im zweiten Fall, vor
dem Gemälde stehend, eine Abbildung des Campanile sehen, denn der Campanile von San Marco ist am 14.
Juli 1902 eingestürzt. In gewisser Weise findet sich also auf Canalettos Gemälde keine Repräsentation des
Campaniles, den wir vom Schiff aus sehen, sondern eine Repräsentation seines Vorgängers. In gewisser Weise
handelt es sich jedoch um denselben Turm, denn der neue Campanile ist der architektonische, visuelle und
funktionale Nachfolger des alten Campanile. Es scheint mir deshalb heute richtig, Dinge der folgenden Art
über den heute stehenden Campanile zu sagen: „Der Bau dieses Turms wurde vom Dogen Pietro Tribuno
um 900 begonnen“, „Dieser Turm wurde 1152 vollendet“, „Dieser Turm ist das Vorbild des Kieler
Rathausturms“ usw. Solche Aussagen treffen auf den neuen Campanile ebenso zu, wie auf den alten. Wäre
der Turm vor 1902 von einem reichen Amerikaner abgetragen, verschifft und in den USA wieder aufgebaut
worden, würden wir auch davon sprechen, dass es sich um denselben Turm handelt, obwohl er mittlerweile
umgezogen ist. Sagen wir: Der Campanile ist von 1902 bis 1912 einfach einer besonders gründlichen
Renovation unterzogen worden, so dass man von einer alten und einer neuen Fassung desselben Gebäudes
sprechen darf.
990
991
509
die externen Strukturen nehmen, wie es die Retinamuster oder die visuellen OutputKomponenten als visuelle Repräsentationen für externe Strukturen nimmt, ohne diese
Repräsentationen zu intentionalen Objekten der Wahrnehmung zu machen. Weder im Fall
der Strukturen, die das VS zur Verfügung stellt, noch im Falle der Strukturen, die ein
optisches Instrument wie der Fotoapparat zur Verfügung stellt, siehtitr das Subjekt diese
Strukturen, sondern es siehtitr die externen Strukturen, die vorliegen müssen, damit ein KMechanismus des Subjekts seine Echte Funktion ausüben kann. Wer auf ein Foto meiner
verstorbenen Großmutter zeigt und fragt, wer diese Frau denn ist, dem werde ich auf ganz
und gar nicht-inferenzielle Weise die Auskunft geben: „Meine Großmutter.“ Weder lautet
die Auskunft, dass dies ein Foto meiner Großmutter ist, noch erfordert die Auskunft, dass
ich ihren Inhalt auf der Grundlage des Fotos erschließe. Man kann ohne viele Abstriche
sagen, dass ich hier meine verstorbene Großmutter seheitr. Sie selbst, nicht nur ihr Bild,
obschon ich das Foto natürlich auch sehetr. Im Sinne der in 5.3.4.3. beschriebenen Semiose
können wir sagen: Das in der natürlichen Wahrnehmung durch das natürliche Zeichen E
bezeichnete Objekt O (das Foto) wird in der erworbenen Wahrnehmung zu einem
erworbenen Zeichen für T (für den Campanile, für die Großmutter). Das erworbene
Zeichen O ist in das natürliche Zeichen E eingebettet und O ist in E eingebettet, wenn
zwischen E, O und T strukturelle Isomorphien vorliegen. T wird so das neue Objekt (drittes
Element im semiotischen Dreieck) der erworbenen Wahrnehmung. Wir sehenitr T direkt.
TFT wurde prominent von Kendall Walton vertreten. Walton stützt sich dabei auf
KTS. Seine Argumentation lautet wie folgt: Fotografien stehen per definitionem in einer
kausalen Relation zum Fotografierten. Zwischen einem Ding und seiner Fotografie
bestehen kontrafaktische Abhängigkeiten der folgenden Art: Unter normalen Bedingungen
repräsentiert ein Foto von o dessen sichtbare Eigenschaften F (zu einem Zeitpunkt t, aus
einer Perspektive P), so zwar, dass im Falle des Andersseins von F (zu t, aus P) auch die
Fotografie entsprechend anders ausfallen würde. Geht man nun von einer kausalen Theorie
des Sehens aus, so ist meine visuelle Wahrnehmung von o auf dieselbe Weise abhängig von
F (zu t, aus P). Wäre F (zu t, aus P) anders, so würde meine visuelle Wahrnehmung von o
entsprechend anders ausfallen.992 Ebenso ist meine visuelle Wahrnehmung des
fotografierten o kontrafaktisch abhängig von o. Wäre F (zu t, aus P) anders gewesen, so
wären sowohl meine visuelle Wahrnehmung als auch das Foto von o anders ausgefallen.
Die Redeweise davon, dass das Foto oder die visuelle Wahrnehmung von o entsprechend „anders“
gewesen wäre, ist vieldeutig. Sowohl Fotografien als auch Wahrnehmung sind Repräsentationen. Bei
Repräsentationen kann man Vehikel von Inhalten unterscheiden. Verschiedene Abzüge desselben Fotos sind
so viele Vehikel mit demselben Inhalt, und verschiedene Wahrnehmung derselben Sache sind ebenfalls so
viele Vehikel mit demselben Inhalt. Es geht also nicht darum, dass das Vehikel entsprechend ein anderes
gewesen sein könnte, sondern dass der Inhalt entsprechend anders sein könnte.
992
510
Zwischen o, der Fotografie von o und meiner visuellen Wahrnehmung der Fotografie von o
erhält sich ein dichtes, reichhaltiges, feinkörniges Muster kontrafaktischer Abhängigkeiten.
Aus diesem Grund ist die Fotografie visuell transparent.
Im selben Jahr wie Walton hat Millikan ebenfalls TFT vertreten, wenn auch nur
beiläufig. Sie schreibt über eine auf einem Foto abgebildete Person: „[W]e see the person
directly, focusing with the mind through the photograph upon the person-affairs behind.
We see directly that the person wears a hat or that she smiles.“993 Millikans Punkt besteht
darin, dass wir unser Wissen über die Funktionsweise von Fotoapparaten und die
Herstellung von Fotografien in keiner Weise einsetzen, um aus der zweidimensionalen
Abbildung der Person Rückschlüsse auf diese zu ziehen. Wir erschließen nicht aus dem
Bild, dass die Person einen Hut trägt oder lächelt, sondern wir sehen direkt, dass die Person
einen Hut trägt oder lächelt, weil wir (buchstäblich durch das Foto hindurch) die Person
sehen.994 Anders als Walton basiert Millikans Fassung von TFT jedoch nicht auf KTS,
sondern auf einer biosemantischen Theorie der Wahrnehmung. Sie erst macht, wie mir
scheint, TFT verständlich und plausibel.
Wie kann TFT Plausibilität verliehen werden? Man kann TFT vielleicht besser
akzeptieren, wenn man sich vor Augen hält, dass Fotos nicht nur Bilder sind, sondern eine
Art Sehhilfen. Man sieht Dinge, indem man die Augen auf sie richtet. Eine Vielzahl von
Sehhilfen kann uns dabei unterstützen. Mithilfe von Brillengläsern sehen wir, und zwar
nicht Brillenglasbilder, sondern die Dinge selbst. Mithilfe von Spiegeln sehen wir, und zwar
nicht Spiegelbilder, sondern die Dinge selbst (z.B. unser Gesicht). Ebenso ist es mit
Mikroskopen, Ferngläsern und Teleskopen: Wir sehen keine Bilder vom Mond, von
Segelschiffen oder von Infusorien, sondern wir sehen diese Objekte selbst. Selbst wenn die
Linsen und Spiegelflächen rissig, verzogen oder eingefärbt sind, sehen wir durch sie hindurch
Gesicht, Mond, Segelschiffe und Infusorien. Sie erscheinen uns zwar als ob sie zerrissen,
verzogen oder grün wären. Bekanntlich können uns Dinge etwas anders erscheinen, als sie
sind, entweder aufgrund externer Umstände (im Nebel, durch Milchglas usw.) oder
aufgrund interner Ursachen (Sehschwäche, Trunkenheit usw.), ohne dass wir deshalb eher
Abbilder dieser Objekte als sie selbst wahrnehmen würden. Man mag dagegen einwenden,
dass man im Falle von Wasserspiegelungen oder Mehrfachspieglungen ein Objekt
merkwürdigerweise doppelt oder mehrfach sehen würde, obwohl es sich doch nur um ein
Objekt handelt. Doch wenn ich mit meinen Augen ungenau einen Gegenstand fokussiere,
LTOBC: 319.
Hier entsteht natürlich ein Problem: Ich kann nicht sehen, dass meine Großmutter lächelt oder einen Hut
trägt, weil sie nicht mehr existiert. Wollen wir sagen: Ich sehe, dass sie gelächelt oder dass sie einen Hut
getragen hat? Walton zufolge sollten wir sagen, dass wir o direkt sehen, dass aber die Wahrnehmung, dass o
jetzt lächelt ein Glaubenmachen (make-believe) ist.
993
994
511
sehe ich ihn doppelt, wenn ich ihn durch ein Kaleidoskop betrachte, sehe ich ihn mehrfach,
wenn ich meine Brille abnehme, sehe ich Lichtquellen (wie brennende Kerzen, erleuchtete
Straßenlaternen oder nächtliche Sterne) in zahlreiche leuchtende Punkte zerstreut. Nichts
davon hindert mich daran, diese Objekte zu sehen, und zwar sie selbst, nicht deren
Abbilder.
Wie wir bereits feststellen konnten (5.1.5.3.), schließt unser Begriff des Sehens
erstaunliche visuelle Fähigkeiten keineswegs aus, solange die aktive Fähigkeit (5.3.1.3.) zur
visuellen Wahrnehmung in der Verfügung (5.3.1.3.) des Lebewesens ist. Solche Fähigkeiten
sind lediglich ungewöhnlich und schlagen aus der Art.995 Superman, Vertreter der
biologischen Art der Kryptoniten, besitzt übermenschliche visuelle Fähigkeiten, die sowohl
den für uns zugänglichen Bereich des elektromagnetischen Spektrums (durch seinen
Röntgenblick bzw. Infrarotblick) als auch den Grad der uns erreichbaren Auflösung weit
übertrifft (durch seinen Mikroskopblick bzw. Teleskopblick). Mithilfe seines Röntgenblicks
sieht Superman durch opake Objekte, mit dem Teleskopblick sieht er auf andere Planeten,
mit dem Mikroskopblick dringt er in den atomaren Bereich vor. So ist Superman in der
Lage mithilfe seiner kombinierbaren Superblicke durch die Wand einer um die Erde
kreisenden Raumstation das tödliche Virus im Körper des Astronauten zu erblicken. Im
Unterscheid zu unseren visuellen Subsystemen kann Superman seine Superblicke zwar
willentlich steuern, doch es fällt nicht schwer sich vorzustellen, dass wir willentlich von
Zäpfchen („Tagblick“) auf Stäbchen („Nachtblick“) umstellen könnten. Kurzum,
Supermans übermenschliche visuelle Wahrnehmungsfähigkeiten unterscheiden sich im
Wesen nicht von der Wahrnehmung, die wir haben, wenn wir eine Brille benutzen, auf
Röntgenbilder blicken, mit Nachtsichtgeräten beobachten, durch Mikroskope oder
Teleskope spähen. Das Sehen durch Mikroskope oder Teleskope ist kein anderes Sehen als
Sehen mit bloßem Auge. Für das Sehen von einem Wildschwein macht es keinen
Unterschied, ob ich es von bloßem Auge, durch ein Nachtsichtgerät oder durch ein
Fernglas erblicke. In allen Fällen sehe ich ein Wildschwein. Ebenso wie Brillen, Spiegel,
Röntgenapparate, Mikroskope oder Teleskope Sehhilfen darstellen, stellen Fotos Sehhilfen
dar. Mit Brillen sehen wir scharf, mit Spiegeln hinter uns, mit Mikroskopen das Kleine, mit
Teleskopen das Ferne, mit Nachtsichtgeräten das Verdunkelte, mit Röntgenapparaten das
Verdeckte, mithilfe von Wärmebildkameras der natürlichen Wahrnehmung unzugängliche
Bereiche des Spektrums.
995 Zweifellos verfügen Exemplare unterschiedlicher biologischer Arten über sehr unterschiedlich gute Augen.
(Wir erinnern uns aus 3.2.4., was gute Augen sind: Je besser ein Auge unter variierenden Lichtintensitäten
auflöst, desto besser ist es qua Auge. Aus dieser Perspektive haben Adler bessere Augen als Schnecken.)
512
Wobei helfen uns jedoch Fotos, im Unterschied zu anderen Sehhilfen? Sie geben
uns vier spezifische visuelle Hilfestellungen: (i) Sie helfen uns dabei, Dinge wahrzunehmen,
die im zeitlichen Fluss der Wahrnehmung unbemerkt bleiben könnten. (ii) Sie helfen uns,
zeitlich und räumlich Entferntes zu sehen. So geben sie z.B. Antwort auf die Frage, wie
Abraham Lincoln ausgesehen hat.996 (iii) Sie helfen uns, Dinge dekontextualisiert zu sehen.
Wie sieht ein Auge ohne Gesicht aus? (iv) Sie helfen uns, stillgestellte Momente zu sehen.
Berühren die vier Hufe eines galoppierenden Pferdes in irgendeinem Moment den Boden
nicht?997 Ich möchte den Punkt (ii) vertiefen, da er, wie es den Anschein macht, am
stärksten unseren Intuitionen zuwider läuft.
Wie sollen wir Personen sehen können, die längst verstorben sind, Dinge, die nicht
mehr da oder längst zerfallen sind? Zum Sehen gehört der von Walton vertretenen Version
von TFT zufolge der kausale Kontakt zum Objekt. Muss das Objekt präsent oder noch
existierend sein, damit man es sehen kann? Nein. Man denke an den Stern, der erloschen
ist, wenn das Licht bei uns ankommt. Die Kausalkette ist sozusagen bei uns angekommen,
doch das Objekt ist schon weg. Obwohl der Stern weg ist, sehe ich ihn jetzt direkt.
Entscheidend sind, so Walton, die kausale Kette und das Medium. Sehen verlangt eine
durch das Medium Licht vermittelte kausale Relation zum gesehenen Objekt. Es ist
keineswegs ungewöhnlich zu sagen, man könne etwas sehen, was nicht da ist. Man kann
Dinge sehen, die nicht da sind, wo man hinblickt, nämlich im Spiegel. Das ist nicht
gemeint. Gemeint ist: Man sieht ein Objekt, das nicht mehr da ist. Es handelt sich dabei nicht
um eine Halluzination, denn es ist dieses Objekt, das nicht mehr da ist, das die Kausalkette
ausgelöst hat. Im Falle der Halluzination sehe ich ein Objekt, das niemals dort gewesen ist,
wo ich es sehe. Der Stern war aber dort, wo ich ihn sehe, und er hat als materielles Objekt
existiert. Nehmen wir einen Vergleich. Am Abend des 14. April 1865 schoss der
Schauspieler John Wilkes Booth in einer Loge des Ford Theaters mit einer Derringer in
den Hinterkopf des amerikanischen Präsidenten Abraham Lincoln, der am folgenden Tag
kurz nach 07:00 Uhr der Verletzung erlag, die Booth ihm zugefügt hatte. Zwölf Tage nach
996 Walton 2008: 112 hat diesen Sehdienst wie folgt zugespitzt: „With the assistance of the camera, we can see
not only around corners and what is distant or small [wie im Falle von Spiegeln und Linsen]; we can also see
into the past. We see long deceased ancestors when we look at dusty snapshots of them. […] We see, quite
literally, our dead relatives themselves when we look at photographs of them.“
997 Scruton 1981 folgert aus TFT, dass Fotografien keine Kunstwerke sein können. Diese These halte ich für
falsch. Gerade TFT kann verständlich machen, warum Fotos Kunstwerke sein können und warum sie den
Wert von direkten Zeugnissen über die Vergangenheit haben. Die vier genannten Aspekte sind es, die sowohl
für den dokumentarischen als auch für den ästhetischen Wert von Fotografien verantwortlich sind. Aufgrund
ihrer Transparenz hat die Fotografie (und auch der Film als bewegte Fotografie) unser Verhältnis zur
Vergangenheit (oder Geschichte) auf entscheidende Weise verändert. Wir können an vergangene (d.h. nicht
mehr existierende) Objekte und Ereignisse nicht nur denken oder uns an sie erinnern, nicht nur
dokumentarische, historische, narrative oder piktoriale Darstellungen von ihnen zur Kenntnis nehmen, wir
können diese Objekte und Ereignisse buchstäblich sehen. Wir können beispielsweise Brahms selbst auf einer
Fotografie sehen und wir können ihn auf einer sehr frühen Walzenaufnahme selbst spielen hören.
513
dem Attentat, am 26. April 1865, wurde Booth bei seiner Gefangennahme erschossen.
Zweifellos ist Booth der Mörder von Lincoln, denn der Schuss, den er auf den Präsidenten
abgegeben hat, ist die unmittelbare Ursache für den Tod des Präsidenten. Eine
ununterbrochene und direkte kausale Kette führt von Booths willentlicher und planvoller
Betätigung der Derringer zu Lincolns Tod. Stellen wir uns nun vor, es wäre Henry
Rathbone, der in Lincolns Loge gesessen hat, direkt nach dem Schuss gelungen, den
Attentäter zu überwältigen, und er hätte ihn in diesem Kampf sofort getötet. (Tatsächlich
wurde Rathbone, der den Attentäter festzuhalten versuchte, von Booths Messer schwer
verletzt). Booth wäre tot gewesen und dennoch der Mörder des neun Stunden nach ihm
verstorbenen Präsidenten. Der tote Booth wäre die Ursache des Todes des Präsidenten.
Ein Toter kann also durchaus die Ursache von etwas sein, das sich nach seinem Ableben
ereignet.998 Ein Ereignis, das einem Objekt widerfährt, bzw. eine Handlung, die eine Person
ausführt, kann also eine Wirkung zeitigen, auch wenn das Objekt bzw. die Person zerstört
worden sind und als solche nicht mehr existieren. In analoger Weise kann ein nicht mehr
existierender Stern eine direkte Wirkung auf mein visuelles System haben, die darin besteht,
dass ich diesen Stern direkt sehe. Folglich ist es für das Sehen eines Objekts nicht
erforderlich, dass dieses Objekt zum Zeitpunkt des Sehens nach wie vor existiert.
Dieser Schluss hat Folgen für das Sehen von Objekten auf Fotografien. Wir sehen
auf Fotografien die fotografierten Objekte selbst und keine Stellvertreter oder
Repräsentationen dieser Dinge (auch wenn Fotos Repräsentationen sind). Die Fotografie
ist transparent auf das fotografierte Objekt hin. Ebenso wie ich in einem Spiegel (besser:
„durch einen Spiegel“ in Sinne sowohl von „mittels“ als auch von „hindurch“) den hinter
mir stehenden Lincoln sehen kann, kann ich auf einem Foto den räumlich oder zeitlich
weit entfernten Lincoln sehen. Das bedeutet natürlich nicht, dass man auf einer Fotografie
dasselbe sieht, was man sehen würde, wenn man dem fotografierten Objekt nackten Auges
gegenüber stünde, denn zweifellos wäre ein Sehen, das einer Fotografie analog wäre, sehr
eingeschränkt und von gewöhnlichen Umständen entfernt, da es sich um ein Sehen mit nur
einem Auge, für den Bruchteil einer Sekunde, möglicherweise in Schwarz-Weiß, den Kopf
starr fixiert, mit einer etwas anderen Linse als unserer Retina usw. handelt.999 Auch ein
eingeschränktes und von normalen Umständen entferntes Sehenitr von o ist ein Sehenitr von
o.
Dies klingt noch nicht ganz richtig, denn weder der lebendige noch der tote Booth (eine Person) ist
Ursache des Todes von Lincoln, sondern vielmehr der Schuss, den der damals lebendige und nunmehr tote
Booth auf Lincoln abgefeuert hat (eine Handlung). Es geht hier aber nicht um die Frage, wann Booths
Handlung, die wir als „Mord“ bezeichnen, abgeschlossen ist.
999 Vgl. Snyder u. Allen 1975: 151f.
998
514
Vertreter von TFT wie Walton ziehen eine deutliche Unterscheidung zwischen
einer Sehhilfe (einem Foto von Lincoln oder vom Campanile) und einem Gemälde (einem
Porträt von Lincoln oder vom Campanile). Worin besteht der Unterschied? Walton ist der
Ansicht, dass die fotografische Repräsentation des Campanile kontrafaktisch abhängig ist
vom Campanile selbst bzw. von seinen sichtbaren Eigenschaften (zu t, aus P). Nun ist
Canalettos Darstellung des Campanile ebenfalls abhängig von den sichtbaren
Eigenschaften des Turms. Wäre der Turm rund oder grün gewesen, hätte er ihn
entsprechend anders gemalt. Doch die Abhängigkeit betrifft hier nicht die sichtbaren
Eigenschaften des Campanile, sondern die Überzeugungen über seine sichtbaren
Eigenschaften. Gehen wir davon aus, dass es sich dabei um Canalettos Überzeugungen
handelt. Wären die Überzeugungen Canalettos andere gewesen, hätte er den Turm ceteris
paribus entsprechend anders gemalt. Die kontrafaktische Abhängigkeit eines Fotos von der
Szenerie am Markusplatz ist mechanisch (reproduktiv) vermittelt, die Abhängigkeit
zwischen einem Gemälde dieser Szenerie hingegen ist attitudional (intentional) vermittelt.
Der Unterschied zwischen mechanischer und attitudionaler Abhängigkeit ist epistemisch
wichtig. Die Zuverlässigkeit einer Gemäldeserie eines Verbrechens oder einer Zeichnung
einer als ausgestorben betrachteten Tierart hängen von der Zuverlässigkeit der
Überzeugungen des Malers oder des Zeichners ab. Man gewinnt in erster Linie Aufschluss
über die Überzeugungen des Produzenten: „So hat sich das Verbrechen mir dargestellt“
bzw. „So sah diese Tierart für mich aus“. Wären die Überzeugungen dieser Produzenten
andere gewesen, so wären auch die Darstellungen entsprechend anders ausgefallen.
Gemälde und Zeichnungen sind opak. Anders im Falle von Fotografien: Man erhält durch
(wörtlich: durch) die Fotoserie Aufschluss über den Hergang der Untat, man erhält durch
(wörtlich: durch) das Foto Aufschluss über das Aussehen der Tierart. Wären die
fotografierten Sachverhalte andere gewesen oder anders in Erscheinung getreten, so wären
die Fotos entsprechend anders ausgefallen, und zwar unabhängig von den Überzeugungen
des Fotografen. Aus diesem Grund werden Gemälde und Zeichnungen, anders als Foto
und Film, weder vor Gericht noch in den Naturwissenschaften als Evidenzen betrachtet.
Waltons Version von TFT nimmt also einerseits KTS in Anspruch, andererseits schließt sie
attitudionale Abhängigkeiten aus. Aus biosemantischer Perspektive legen diese beiden
Aspekte nicht die Grenze der erworbenen Wahrnehmung fest. Um diesen Punkt in den
Griff zu bekommen, können wir uns gemalten Porträts zuwenden.
George Henry Story hat berühmte Porträts von Lincoln angefertigt. Wenn nun der
Schauspieler S. dem Porträtmaler Story Modell gesessen hätte, damit dieser ein Porträt des
leider viel zu beschäftigten Präsidenten Lincoln anfertigen kann, dann wäre natürlich auch
515
daraus eine piktoriale Darstellung (ein Gemälde) Lincolns entstanden. Dasselbe gilt, wenn
Lincoln diesem Maler in höchst eigener Person Modell sitzt. In beiden Fällen sehe ich ein
Bild, das Lincoln darstellt, egal ob S. oder Lincoln Modell gesessen hat. Auf einer Fotografie
von Lincoln sehe ich jedoch nicht ein Bild, das Lincoln darstellt, sondern laut TFT Lincoln
selbst. Lincoln kann auf einem Foto nicht durch S. vertreten werden, auch wenn dieser sich
noch so sehr verkleidet haben mag. Niemals sehe ich dann ein Foto von Lincoln. Die
Relation zwischen Lincolns Foto und Lincoln selbst gleicht eher der Relation seines
persönlichen Auftauchens hinter meinem Rücken und seinem Spiegelbild vor mir. Im
Spiegelbild sehe ich Lincoln selbst. Hätte der Schauspieler S. Modell gesessen, dann gliche
Lincolns Relation zu seinem Porträt der Relation des Schauspielers Henry Fonda zu
Lincoln selbst. Im Film „Young Mister Lincoln“ sehe ich Henry Fonda und ich sehe, dass
Fonda Lincoln darstellt („spielt“), ich sehe aber nicht Lincoln selbst (ja, ich sehe nicht
einmal ein Bild von Lincoln, weder im Sinne des Gemäldes noch im Sinne des Fotos, da
der Spielfilm, anders als das Porträt oder das Foto, nicht zu einer kulturellen Kategorie
gehört, die die Echte Funktion hat, dargestellte Personen abzubilden.
Nun verhält es sich so, dass Lincoln selbst dem Maler Story Modell gesessen. Was
sehe ich also auf dem Porträt? Beginnen wir mit folgenden Überlegungen: Es gibt
Phantombilder, mit deren Hilfe nach Personen gefahndet wird. Diese Bilder haben die
Funktion, Personen erkennbar zu machen, damit man gegebenenfalls auf sie verweisen
kann. Wir können uns vorstellen, dass etwa im Falle des vermeintlich zurückgekehrten
Martin Guerre (ein historischer Fall aus dem 16. Jh., in dem ein Hochstapler behauptete,
der verschwundene Bauer Martin Guerre zu sein) die Schwester des Martin Guerre ein
Porträt hochhält und, indem sie zuerst auf das Porträt und dann auf den Hochstapler zeigt,
sagt: „Dies ist Martin und nicht dieser Betrüger dort!“ Der künstlerisch unbedeutende,
doch mit Aufträgen überlaufene englische Maler der viktorianischen High Society malt
seine Klienten nach bestimmten kollektiven Konventionen und individuellen Standards
und gibt die entworfenen Skizzen zur Fertigstellung in seine Werkstatt. Schließlich können
auch Landschaftsbilder oder Porträts (oder andere figurative Gemälde mit einem
Genrebezug auf Sachverhalte in der Welt) als intentionale Zeichen mit Echten Funktionen
betrachtet werden, die (im Falle des Porträts) minimal etwa darin besteht, eine Person für
den zeitgenössischen Betrachter (in positivem Lichte, mit repräsentativer Ausstrahlung
usw.) erkennbar zu machen. Canalettos Venedig-Bilder oder Storys Lincoln-Porträts sind
ebenso transparent wie Fotos und andere Sehhilfen, denn das auf ihnen Dargestellte
befindet sich in kausaler kontrafaktischer Abhängigkeit von der gemalten Szenerie bzw.
steht mit ihr in Isomorphie-Relationen im Sinne eines R-Inhalts. Der Betrachter kann die
516
Überzeugungen des Malers sozusagen umgehen und durch die farbigen Flecken und Linien
hindurch die porträtierte Person oder Landschaft sehen. Transparenz ist deshalb ein
Merkmal figurativer Bilder (seien es Fotos oder Gemälde), wenn sie bestimmte Kriterien
erfüllen. Der entscheidende Punkt liegt also nicht nur darin, dass (i) zwischen der
Wahrnehmung und dem Objekt o kontrafaktische kausale Abhängigkeiten bestehen,
sondern auch darin, dass (ii) zwischen der Wahrnehmung und dem Objekt o IsomorphieRelationen bestimmter Art bestehen und dass (iii) die P-Vehikel zu einer kulturellen
normativen Kategorie gehören, die die Funktion haben, Abbilder von Objekten der Art o
herzustellen.
Vielleicht können wir die folgende Homogenitäts-Einschränkung der Transparenz
einführen: Ein Instrument I ist nur dann auf ein Objekt o hin transparent, wenn es sich bei
den mittels I (durch von I produzierte R-Vehikel RV) wahrnehmbaren Eigenschaften E
von o um für eine bestimmte natürliche Sinnesmodalität S genuin wahrnehmbare
(natürliche) E handelt und wenn I durch S selbst benutzt wird (in der Verfügung von S
steht). Wir können nun sagen: Die durch RV von I wahrnehmbaren E und die durch S
ohne RV von I wahrnehmbaren E von o müssen homogen sein, d.h. es muss sich um
dieselbe Art sinnlicher Eigenschaften handeln. (Wir können es dahingestellt bleiben lassen,
ob die Eigenschaften als Eignungen oder als Attribute wahrgenommen werden.)
Die Sinnesmodalität, mit der wir sehen, dass Lincoln einen dunklen Hauttyp hat, ist
dieselbe, mit der wir auf einer (durch eine) Fotografie oder auf einem (durch ein) Porträt
sehen, dass er einen dunklen Haupttyp hatte. Eine Schallplatten-Aufnahme von Charles
Panzeras Stimme ist transparent, weil die Aufnahme die Stimme der akustischen Modalität
darbietet und Stimmen akustisch wahrgenommen werden. Zweifellos kann man Stimmen
und Gemälde spüren. Ein Tauber mag die körperliche Erschütterung der Stimme spüren,
solange sie nur laut genug ist. Eine blinde Person mag ihren Tastsinn dergestalt trainieren,
dass sie fähig ist, van Goghs Bilder von anderen Gemälden zu unterscheiden, und sogar die
einzelnen van Goghs wiederum zu unterscheiden. Sie nimmt „Der Sämann“ sozusagen
durch die Finger wahr, nicht durch die Augen, und sie kann wie wir zu
Wahrnehmungsüberzeugungen folgender Art gelangen: „Das ist der Sämann von van
Gogh. Links oben die übergroße Sonne. Hier die säende Hand.“ Doch bei diesen
Wahrnehmungen handelt es sich nicht um Wahrnehmungen des dargestellten Objekts,
sondern um Wahrnehmungen allein des Mediums oder Vehikels. Der Taube hört nicht
durch die Erschütterungen hindurch, die Blinde berührt nicht das dargestellte Objekt,
sondern eine Repräsentation des dargestellten Objekts. Zwar sieht auch der Sehende das
Fotopapier oder Öl auf Leinwand, doch er sieht durch die Medien oder Vehikel hindurch
517
die dargestellten Objekte, weil es die Funktion dieser Bilder ist, diese Objekte visuell zu
repräsentieren (oder weil die bildliche Repräsentation kontrafaktisch abhängig ist von der
repräsentierten Szenerie), so wie eine visuelle Wahrnehmung von der Szenerie abhängig
wäre, und nicht wie eine taktile Wahrnehmung von der repräsentierten Szenerie abhängig
wäre. Das Prinzip der Homogenität der genuin wahrnehmbaren Eigenschaften einer
Sinnesmodalität als eine Bedingung perzeptiver Transparenz erlaubt es nicht, mithilfe einer
Sinnesmodalität S Eigenschaften wahrzunehmen, die nicht zur Sinnesmodalität S gehören.
Es bestehen systematische Variationen zwischen o und dem Foto (oder einer
Fotoserie)
bzw.
der
visuellen
Wahrnehmung
(das
heißt
genauer:
eines
Wahrnehmungsprozesses), so dass Veränderungen auf Seiten des Repräsentierten mit
Veränderungen
auf
Seiten
des
Repräsentierenden
(der
Fotoserie,
des
Wahrnehmungsprozesses) korrespondieren. Das Foto, die Wahrnehmung sind Abbilder
(mappings), nicht allein im Sinne des hier sachlich nahe gelegten piktorialen Verhältnisses,
sondern im Sinne des abstrakteren Abbildungsverhältnisses der strukturellen Isomorphie.
So sagt Wittgenstein an einer bekannten Stelle:
„Die Grammophonplatte, der musikalische Gedanke, die Notenschrift, die
Schallwellen, stehen alle in jener abbildenden internen Beziehung zu einander, die
zwischen Sprache und Welt besteht.“1000
Doch aus dieser Beziehung folgt nicht, dass ich auch alle diese Dinge hören kann. Eine
Schallplattenaufnahme von Charles Panzera ist ein Abbild der Stimme Panzeras. Wer eine
Schallplattenaufnahme von Panzera hört, hört ihn singen. Die phonographische Abbildung
der Stimme wäre anders gewesen, hätte Panzera anders gesungen, ebenso wäre die
akustische Wahrnehmung der Stimme eine andere, würde Panzera anders singen. So sind
auch Schallplattenaufnahmen transparent, es handelt sich um phonographische
Transparenz. Gemäß der Homogenitäts-Einschränkung gilt: Man hört nicht die
musikalischen Gedanken von Schumann oder die Notendruckschrift des Verlags Härtel,
denn weder musikalische Gedanken noch Druckschriften haben als solche akustisch
wahrnehmbare Eigenschaften. Der Grund für die Homogenität liegt darin, dass die
erworbenen Wahrnehmungen eingebettet sind in Wahrnehmungsempfindungen und dass in
der natürlichen Wahrnehmung, von der jede erworbene Wahrnehmung ausgeht, stets
Wahrnehmungserfahrungen als Zeichen für etwas verwendet werden. Diese sind die
primären R-Vehikel. Wie wir am Beispiel der Olfaktoren gesehen haben (5.1.5.3.), ist die
Relation zwischen bestimmten Typen von Wahrnehmungserfahrungen kontingent. Es ist
nichts weiter als eine biologisch kontingente Tatsache, dass diese Typen von
1000
TLP 4.014 (vgl. Wittgenstein 1984ff., Bd. 1).
518
Wahrnehmungserfahrungen mit diesen Typen von Eigenschaften (sei es als Eignungen
oder als Attribute) korrespondieren. Van Cleves Sorge kann so ebenfalls Rechnung
getragen werden: „I return home and see my wife’s car keys on the counter […],
whereupon I automatically conceive of her and believe that she is home. Since she is
upstairs, I do not perceive her ….“1001 Der Schlüssel verletzt nicht nur die HomogenitätsEinschränkung und die strukturelle Isomorphie eine R-Vehikels, er führt auch keine
kulturelle funktionale normative Kategorie an, die die Funktion hätte, visuelle
Eigenschaften einer Ehefrau für Wesen mit VS sichtbar zu machen.
Damit haben wir das dritte Problem, das sich aus Reids Unterscheidung zwischen
natürlichen und erworbenen Wahrnehmungen ergibt, behoben. Im Unterschied zu Walton
und Millikan, die der Ansicht sind, dass der von ihnen intendierte Sinn von „sehen“ in TFT
nicht der Commonsense-Sinn ist,1002 bin ich der Auffassung, dass der Commonsense-Sinn
von „sehen“ durch TFT keineswegs überdehnt, gesprengt oder verlassen wird. Wir sehen
mithilfe optischer Instrumente die Objekte selbst, nicht deren Abbilder, auch wenn diese
Objekte räumlich und zeitlich weit von uns entfernt sind. Diese scheinbar nur kulturelltechnische Erweiterung des visuellen Horizonts beruht auf biologischen Fähigkeiten und
ist selbst in keinem interessanten Sinne von unseren biologischen Fähigkeiten
unterschieden. Was Tiere tun, bleibt Tiertun, auch bei nicht-menschlichen Tieren.
Van Cleve 2004: 127.
Millikan selbst ist bereit viel weiterzugehen (Mail vom 26.03.2009): „The difficulty with talking about this
is that our ordinary words for perception, like ‘seeing’, ‘hearing’ and so forth have a much narrower scope. So
it has to be kept in mind that the claim is absolutely not a piece of conceptual analysis!! The question
concerns directness of psychological processing, which is in the end an empirical matter, but as philosophers
we can argue that there are many things we know and others that are known by experimental psychology that
support the position. So yes, my suggestion is that reading what someone has written is also generally
processed directly, and that it contains natural information, in the typical case, just as hearing what someone
says does and just as looking and seeing does. I think the reason this seems odd to us is that both as laymen
and as philosophers we tend implicitly to assume that when you see something or perhaps feel it, the real
nature of the seen or felt thing is somehow present to the senses whereas it’s not when you learn through
language.“ Ich glaube, der Grund des Sträubens ist hier weder ein normalsprachliches noch analytisches
Vorurteil, auch keine Version des Mythos des Gegebenen, sondern in erster Linie der Umstand, dass es,
gegeben Millikans Konsequenzen aus der Transparenzthese, keine klare Kontrastklasse gibt zur Transparenz
von Fotos, Tonaufnahmen usw.
1001
1002
519
Nachwort
Das Buch ist ein umfangreiches Buch geworden. Im Vorwort habe ich als schwache
Entschuldigung dafür angeboten, dass es sogar noch umfangreicher hätte werden sollen.
Denn zweifellos fehlen für eine biosemantische Theorie als Ausdruck eines einheitlichen
naturalistischen Bildes unserer Stellung in der natürlichen Welt, wie ich es in 1.1.1.
formuliert habe, drei wichtige Elemente. Ich habe nämlich in 1.1.6. lediglich skizziert, wie
Aussagen und Überzeugungen nach dem Vorgehen der Theoriekonstruktion als
Repräsentationen im Sinne der Biosemantik verstanden werden können, und ich habe in
5.3.3.3. behauptet, dass Eigenschaften, anders als Eignungen, als Attribute erfasst werden,
wenn sie Gegenstand attributiver Aussagen oder begriffliche Urteile werden.
Millikans Biosemantik bietet natürlich sowohl eine Theorie über unser
Überzeugungssystem als auch über die Intentionalität der Sprache und über Begriffe an.
Unser Überzeugungssystem ist für Millikan wesentlich durch folgende drei Momente
bestimmt: die Subjekt-Prädikat-Struktur, die Fähigkeit zur Negation und das Streben nach
Kohärenz des Systems. Sozusagen nach außen hin interagiert das Überzeugungssystem mit
der Intentionalität unserer sinnlichen Repräsentationssysteme und mit der Intentionalität
der Sprache. Das Überzeugungssystem hat also zwei Umwelten: eine sinnliche und eine
sprachliche. Die Bildung von Begriffen ist eine Bedingung für den Unterhalt eines
Überzeugungssystems. Millikan vertritt nun die These, dass unser Überzeugungssystem
Begriffe sowohl infolge der Interaktion mit der nicht-sprachlichen als auch mit der
sprachlichen Umwelt bilden, und zwar letztere in Analogie zu ersterem. Die entsprechende
sprachliche Transparenzthese lautet also, dass sprachliche Repräsentationen (unter
bestimmten Bedingungen) transparente Zeichen für bestimmte Sachverhalte in der Welt
sind.1003 Dies ist die intuitive Idee: Etwas gesagt zu bekommen heißt auch, etwas zu Gehör
zu bekommen:
„Think of the matter this way. There are many ways to recognize, for example,
rain. […] There is a way that it sounds falling on the rooftop, ‘retetetetetet’, and a
way that it sounds falling on the ground, ‘shshshshsh’. And falling on English
speakers, here is another way it can sound: ‘Hey guys, it’s raining!’“1004
Gesagt bekommen, dass p, und hören, dass p, sind beides Formen direkter Wahrnehmung.
Eine
Überzeugung
ausbilden,
weil
einem
etwas
gesagt
wird,
heißt
eine
Wahrnehmungsüberzeugung ausbilden: „Forming a belief about where Johnny is on the
basis of being told where he is, is just as direct a process (and just as indirect) as forming a
1003
1004
Vgl. OCCI: VI; VM: IX; LBM: 104, 117-119, 202-219.
OCCI: 86.
520
belief about where Johnny is on the basis of seeing him there.“1005 Ebenso wie wir durch
die Sinne raumzeitlich diskontinuierlicher Substanzen (d.h. von Stoffen wie Milch, von
Arten wie Maus, von Individuen wie Mama) mittels Wahrnehmungen, Schlüssen,
Schablonen und sprachlichen Verlautbarungen verfolgen können, so können wir dies auch
durch die Sprache. Wie jemand bei Tageslicht oder durch ein Nachtsichtgerät der
biologischen Art Wildschwein durch visuelle Wahrnehmung begrifflich auf der Spur
bleiben kann, so kann er durch Zuhören und Lesen der biologischen Art Klippenschliefer
auf der Spur bleiben. (Wer noch nie von Klippenschliefern gehört hat, hat soeben seine
erste sprachliche Wahrnehmung von dieser Spezies gemacht. Durch die Zusatzinformation,
dass es sich bei Klippenschliefern um eine biologische Art handelt, weiß er in etwa, welche
Erwartungen an und welche Fragen über diese Substanz gestellt werden können.
Zusatzinformationen dieser Art nennt Millikan „templates“). Ich habe jedoch mit der
Homogenitäts-Beschränkung dieser Idee bis zu einem gewissen Grad den Boden entzogen.
Hinzu kommen die beiden folgenden Probleme. Erstes behauptet Millikan
lediglich, dass Überzeugungssysteme durch Subjekt-Prädikat-Struktur, Negation und
Kohärenz charakterisiert sind, sie argumentiert jedoch nicht für diese Annahme. Mehr
noch, sie macht in keiner Weise verständlich, ob diese Momente hinreichend sind und
worin ihr innerer Zusammenhang besteht. Aus der Perspektive des Biologischen
Naturalismus erscheint es schließlich sogar als ausgesprochen wundersam, wie Systeme mit
solchen Eigenschaften plötzlich entstehen können, denn die Repräsentationssysteme nichtmenschlicher Tiere entbehren dieser Momente. Kurz und gut, was Millikan nicht bietet, ist
ein
ausreichende
Explikation
der
spezifischen
theoretischen
Rationalität
von
Menschentieren. Auch Millikan Ausführungen zur sprachlichen Intentionalität sind dünn.
Wie Bienentänze haben sprachliche Formen Echte Funktionen, die sich in einem Prozess
der Ko-Evolution zwischen kooperativen Partnern, nämlich Sprechern und Hörern,
entwickelt haben. Sprachliche Formen sollen in einem Hörer bestimmte Verhaltensweisen
(oder andere Wirkungen) hervorrufen. So besteht die Echte Funktion eines Aussagesatzes
darin, wahre Überzeugungen über Sachverhalte in der Welt im Hörer hervorzurufen.
Millikan verbindet auf unzureichende Weise die Intentionalität von Sprachformen und
Kooperation der Sprecher, unzureichend deshalb, weil über diese Kooperation wenig
gesagt wird. Hier fehlt eine befriedigende Explikation der spezifischen praktischen
Rationalität von Menschentieren
Robert Brandoms Inferenzialismus und sein normativer Pragmatismus nun sind
natürlich Versuche, die für Menschentiere spezifische theoretische und praktische
1005
VM: 120.
521
Rationalität philosophisch in den Griff zu bekommen. Da nun sowohl Millikan als auch
Brandom von Einsichten des klassischen Pragmatismus und des Normativen Naturalismus
von Sellars ausgehen, liegt der Gedanke nahe, ob die beiden Positionen einander nicht auf
substanzielle Weise angenähert werden können. Selbstverständlich widerstreben die in
dieser Arbeit formulierten Grundlagen der Biosemantik (der Biologische Naturalismus, die
Existenz natürlicher Normen und der Animalismus) den Fundamenten des Brandomschen
Projekts. Es ließe sich m.E. zeigen, dass ebendieses Projekt an den Fundamenten an
schwerwiegenden Problemen leidet, die sich mithilfe der Biosemantik beseitigen lassen.1006
Andererseits können bestimmte Aspekte des Inferenzialismus und Brandom reichhaltige
Artikulation des normativen Pragmatismus der Biosemantik genau in den eben
eingeklagten Desiderata aushelfen. Dieser Gedanke folgt natürlich der in dieser Arbeit
durchgehend verfolgten Strategie (1.3.): Löse Probleme der Biosemantik durch die
Zusammenführung mit anderen Positionen, die Lösungen dieser Probleme anbieten, und
stelle diesen Positionen die Biosemantik für die Lösung von deren Problemen zur
Verfügung.
Wir können, so die Idee, darauf bestehen, dass die Instituierung von Normen durch
uns nicht nur auf uns als rationale Wesen, sondern auch als biologische Wesen (als Tiere)
zutrifft. Dazu müssen wir die Opposition auf geben, der zufolge Naturwesen nur
Regularitäten, Vernunftwesen hingegen Regeln folgen. Natürliche Normen sind weder
bloße Regularitäten (sie lassen sich nicht auf aktuelle Dispositionen eines Einzelentität
reduzieren) noch Regeln (sie lassen sich nicht auf explizite, intentionale Subjekte
zurückführen), noch implizit in sozialen Praktiken (sie lassen sich nicht auf unsere
normativen Einstellungen zurückführen). Wie wir gesehen haben sind natürliche
(biologische und kulturelle) Normen ein Maß des Gelingens oder des Nichtgelingens, das
weder auf nomologisches, intentionales, soziales noch auf normatives Vokabular
angewiesen ist. Gegen eine solche Option wird vielleicht eingewendet werden, dass damit
Brandoms Projekt in die Hände seines Erzfeindes übergeben wird, nämlich in die Hände
des Naturalisten, der versuche, unsere begrifflichen Vermögen in einer durch Naturgesetze
Die Biosemantik glaubt, der Rückgang auf die Evolution sei grundlegender als der Rückgang auf eine
soziale Praxis. Brandoms normativer Pragmatismus hingegen möchte erklären, worin
dispositionstranszendente Normativität besteht, ohne auf natürliche Normen zurückzugreifen. Gemäß
Brandoms normativem Phänomenalismus (NP) erfolgt die Verleihung eines normativen Status durch
normative Einstellungen. Normen seien „in some sense creatures of ours“. Dies ist die Gegenthese zu
natürlichen Normen. Doch NP kann den (Kripkensteinschen) Normenregress nicht auffangen. Vielmehr hat
NP zur Folge, dass für die Instituierung jeder Norm eine unendliche Anzahl weiterer Normen instituiert
werden müsste. Dies lässt es unverständlich erscheinen, wie diese Normen unsere Normen sein können und
worin Norm-setzendes Verhalten bestehen soll. Brandoms Unterscheidung zweier Arten von Normativität
(implizite und explizite) und NP laden zusammen zum Regress ein. Ein Rückgriff auf natürliche Normen
unterbricht den Regress.
1006
522
bestimmten Natur zu domestizieren. Aber warum denn? Die Biosemantik vertritt, wie
gezeigt, keinen reduktiven Naturalismus. Und Brandom strebt nicht weniger als die
Biosemantik nach einem einheitlichen naturalistischen Bild unserer Stellung in der
natürlichen Welt als Wesen mit praktischer und theoretischer Rationalität.
523
Literatur
Bücher von Ruth Millikan werden mittels der folgenden, auch von Millikan benutzten, Kürzel
zitiert:
LTOBC
Language, Thought, and Other Biological Categories (Millikan 1984)
WQP
White Queen Psychology (Millikan 1993a)
OCCI
On Clear and Confused Ideas (Millikan 2000a)
VM
Varieties of Meaning (Millikan 2004a)
LBM
Language. A Biological Model (Millikan 2005a)
Allen, C. 2001, „A Tale of Two Froggies“, Naturalism, Evolution, and Intentionality, hrsg. von J.
McIntosh (Canadian Journal of Philosophy Supplementary Volume 2001), 106–115.
Allen, C. et al. 1998 (Hg.), Nature’s Purposes. Analysis of Function and Design in Biology,
Cambridge: MIT Press.
Allen, C. und M. Bekoff 1994, „Intentionality, Social Play, and Definition”, Biology and Philosophy
9, 63–74.
Allen, C. und M. Bekoff 1995, „Biological Function, Adaption, and Natural Design“, Philosophy of
Science 62, 609–622.
Alston, W. P. 1989, „Reid on Perception and Conception“, The Philosophy of Thomas Reid, hrsg.
von M. Dalgarno und E. Matthews, Dordrecht: Kluwer Academic Publishers, 35–47.
Alston, W. 1989, Epistemic Justification. Essays in the Theory of Knowledge, Ithaca: Cornell
University Press.
Annas, J. 2006, „Virtue Ethics“, The Oxford Handbook of Ethical Theory, hrsg. von D. Copp,
New York: Oxford University Press, 515–536.
Anscombe, G. E. M. 1958, „Modern Moral Philosophy“, Philosophy 33, 1–19.
Anscombe, G. E. M. 1975, „The First Person“, Mind and Language, hrsg. von S. Guttenplan,
Oxford: Clarendon Press, 45–65.
Anthony, L. M. 1996, „Equal Rights for Swamp-persons“, Mind and Language 11, 70–75.
Anthony, L. M. 2000, „Nature and Norms“, Ethics 111, 8–36.
Apel, K.-O. 1976, Transformation der Philosophie, Bd. 2: Das Apriori der
Kommunikationsgemeinschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Ariew, A. 2007, „Teleology“, Cambridge Companion to the Philosophy of Biology, hrsg. von M.
Ruse und D. Hull, Cambridge: Cambridge University Press, 160–181.
Ariew, A. et al. 2002 (Hg.), Functions. New Readings in the Philosophy of Biology and Psychology,
Oxford: Oxford University Press.
Armstrong, D. M. 1983, What is a Law of Nature?, Cambridge: Cambridge University Press.
Armstrong, D. M. 1966, Perception and the Physical World, London: Routledge & Kegan Paul.
524
Avital, E. und E. Jablonka 2000, Animal Traditions. Behavioural Inheritance in Evolution,
Cambridge: Cambridge University Press.
Ayer, A. J. 1940, The Foundations of Empirical Knowledge, London: Macmillan.
Ayer, A. J. 1969, „Has Austin Refuted the Sense-Data Theory?“, ders. Metaphysics and Common
Sense, London: Macmillan, 126–148.
Ayer, A. J. 1973, The Central Questions of Philosophy, London: Weidenfeld.
Bains, W. 2004, „Many Chemistries Could Be Used to Build Living Systems“, Astrobiology 4, 137–
167.
Bartelborth, T. 2007, Erklären, Berlin: de Gruyter.
Barz, W. 2006, „Naturalisierung der Intentionalität – Ein philosophischer Holzweg“, Deutsche
Zeitschrift für Philosophie 54, 189–200.
Bealer, G. 1998, „Intuition and the Autonomy of Philosophy“, Rethinking Intuition, hrsg. von
M. DePaul und W. Ramsey, Oxford: Rowman & Littlefield, 201–239.
Beatty, J. 1995, „The Evolutionary Contingency Thesis“, Concepts, Theories, and Rationality in the
Biological Sciences (second Pittsburgh-Konstanz Colloquium in the philosophy of science),
hrsg. von G. Wolters und J. G. Lennox, Pittsburgh: University of Pittsburgh Press/
Konstanz: UVK Universitätsverlag, 45–81.
Beatty, J. 1997, „Why Do Biologists Argue Like They Do?“, Philosophy of Science 64, 231–242.
Beatty, J. 2001, „Historical Determinism, Evolution and Totalitarianism in the Works of Hannah
Arendt and Karl Popper“, Thinking about Evolution. Historical, Philosophical and Political
Perspectives. A Festschrift for Richard C. Lewontin, hrsg. von R. Singh et al., Cambridge:
Cambridge University Press, 62–76.
Becker, A. und W. Detel 2009 (Hg.), Natürlicher Geist, Berlin: Akademie-Verlag.
Becker, L. C. 1983, „The Priority of Human Interests“, Ethics and Animals, hrsg. von H. B. Miller
und W. Williams, Heidelberg: Springer, 225–238.
Beckett, S. 2009, Company, Ill Seen Ill Said, Worstward Ho, Stirrings Still, hrsg. Von D. Van Hulle,
New York etc.: Faber and Faber.
Bedau, M. 1991, „Can Biological Teleology be Naturalized?“, The Journal of Philosophy 88, 647–
655.
Bekoff, M. 1977, „Social Communication in Canids. Evidence for the Evolution of a Stereotyped
Mammalian Display“, Science 197, 1097–1099.
Benn, G. 1968, Gesammelte Werke in acht Bänden, hrsg. von D. Wellershoff, Wiesbaden: Limes
Verlag.
Bermúdez, J. L. 1998, The Paradox of Self-consciousness, Cambridge: MIT Press.
Bernstein, R. J. 1998, „Community in the Pragmatic Tradition“, The Revival of Pragmatism. New
Essays on Social Thought, Law, and Culture, hrsg. von M. Dickstein, Durham: Duke
University Press, 141–156.
Bigelow, J. und R. Pargetter 1987, „Functions“, The Journal of Philosophy 86, 181–196.
525
Birnbacher, D. 2006, Natürlichkeit, Berlin: de Gruyter.
Blakemore, R. P. 1975, „Magnetotactic Bacteria“, Science 190, 377–379.
Blakemore, R. P. 1982, „Magnetotactic Bacteria“, Annual Revue of Microbiology 36, 217–238.
Blakemore, R. P. und R. B. Frankel 1981, „Magnetic Navigation in Bacteria“, Scientific American
245, 42–49.
Block, N. 2007, Consciousness, Function, and Representation, Cambridge: MIT Press.
Bloom, H. 1995, Einflussangst. Eine Theorie der Dichtung, Basel: Stroemfeld/ Nexus (1979).
BonJour, L. 1992, „Externalism/ Internalism“, A Companion to Epistemology, hrsg. von J. Dancy
und E. Sosa, Oxford/ Malden: Blackwell Publishers, 132–136.
Boyd, R. 1999a, „Homeostasis, Species, and Higher Taxa“, Species. New Interdisciplinary Essays,
hrsg. von R. Wilson, Cambridge: MIT Press, 141–185.
Boyd, R. 1999b, „Kinds, Complexity and Multiple Realization. Comments on Millikan’s Historical
Kinds and the Special Sciences“, Philosophical Studies 95, 67–98.
Brandom, R. 1994, Making it Explicit, Cambridge: Harvard University Press.
Brandom, R. 2000a, „Pragmatik und Pragmatismus“, Die Renaissance des Pragmatismus. Aktuelle
Verflechtungen zwischen analytischer und kontinentaler Philosophie, hrsg. von M.
Sandbothe, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft, 29–58.
Brandom, R. 2000b, Articulating Reasons. An Introduction to Inferentialism, Cambridge: Harvard
University Press.
Brandom, R. 2005, „Responses“, The Pragmatics of ‚Making it Explicit’. On Robert B. Brandom,
hrsg. von P. Stekeler-Weithofer (Special issue of Pragmatics & Cognition 13), 209–229.
Brandon, R. N. 1990, Adaptation and Environment, Princeton: Princeton University Press.
Brandon, R. N. 1997, „Does Biology Have Laws? The Experimental Evidence“, Philosophy of
Science 64, 444–457.
Brandon, R. N. 2006, „The Principle of Drift. Biology’s First Law“, The Journal of Philosophy
103, 319–335.
Brentano, F. 1973, Psychologie vom empirischen Standpunkt, Hamburg: Meiner.
Broad, C. D. 1923, The Mind and its Place in Nature, London: Kegan Paul.
Brockliss, L. 2004, „Organization, Training and the Medical Marketplace in the Eighteenth
Century“, The Healing Arts. Health, Disease and Society in Europe 1500-1800, hrsg. von
P. Elmer, Milton Keynes: Open University Press, 344–381.
Brockliss, L. und C. Jones 1997, The Medical World of Early Modern France, Oxford: Oxford
University Press.
Brogaard, B. 2004, „Species as Individuals“, Biology and Philosophy 19, 223–242.
Brook, D. 1986, „On the Alleged Transparency of Photographs“, British Journal of Aesthetics 26,
277–282.
Brooks, R. A. 1991, „Intelligence Without Representation“, Artificial Intelligence 47, 139–159.
Bruner, J. S. 1957, „On Perceptual Readiness“, Psychological Review 64, 123–152.
526
Buddensiek, F. 2006, Die Einheit des Individuums, Berlin: de Gruyter.
Buller, D. 1998a, „Etiological Theories of Functions. A Geographical Survey“, Biology and
Philosophy 13, 505–527.
Buller, D. 1998b (Hg.), Function, Selection and Design, New York: State University of New York
Press.
Buras, J. T. 2005, „The Nature of Sensations in Reid“, History of Philosophy Quarterly 22, 221–
238.
Buras, J. T. 2008, „Three Grades of Immediate Perception: Thomas Reid’s Distinctions“,
Philosophy and Phenomenological Research 76, 603–632.
Burghardt, G. M. 2005, The Genesis of Animal Play. Testing the Limits, Cambridge: MIT Press.
Burnet, F. M. 1957, The Clonal Selection Theory of Acquired Immunity, Nashville: Vanderbilt
University Press.
Busek, P. R. et al. 2001, „Magnetite Morphology and Life on Mars“, Proceedings National
Academy of Science USA 98, 13491–13495.
Butler, P. M. 2000, „The Evolution of Tooth Shape and Tooth Function in Primates“,
Development, Function, and Evolution of Teeth, hrsg. von M. Teaford et al., Cambridge:
Cambridge University Press, 201–211.
Byrne, A. und D. R. Hilbert 1997, Readings on Color, Vol. 1: The Philosophy of Color, Cambridge:
MIT Press
Byrne, A. und D. R. Hilbert 2007, „Color Primitivism“, Erkenntnis 66, 73–105.
Byron, M. 2000, „Virtue and the Reductivist Challenge“, Contemporary Philosophy 22, 34–41.
Cain A. J. und P. M. Sheppard 1954, „Natural Selection in Cepaea“, Genetics 39, 89–116.
Carroll, J. 1995, Evolution and Literary Theory, Columbia: University of Missouri Press.
Carruthers, P. 2000, Phenomenal Consciousness. A Naturalistic Theory, Cambridge: Cambridge
University Press.
Carter, W. R. 1999, „Will I Be a Dead Person?“, Philosophy and Phenomenological Research 59,
167–171.
Cavell, S. 1976, „Aesthetic Problems of Modern Philosophy“, ders., Must We Mean What We Say?,
Cambridge: Cambridge University Press, 73–96.
Cavicchioli, R. 2002, „Extremophiles and the Search for Extraterrestrial Life“, Astrobiology 2, 281–
292.
Churchland, P. 1979, Scientific Realism and the Plasticity of Mind, Cambridge: Cambridge
University Press.
Clark, A und J. Toribio 1994, „Doing without Representing?”, Synthese 101, 401–431.
Cook, G. A. 2006, „George H. Mead“, A Companion to Pragmatism, hrsg. von J. R. Shook und J.
Margolis, Oxford/ Malden: Blackwell, 67–78.
Cook, L. M. 2008, „Variation with Habitat in Cepaea nemoralis. The Cain and Sheppard Diagram“,
Journal of Molluscan Studies 74, 239–243.
527
Copenhaver, R. 2000, „Thomas Reid’s Direct Realism“, Reid Studies 4, 17–34.
Copenhaver, R. 2004, „A Realism for Reid: Mediated but Direct“, British Journal for the History of
Philosophy 12, 61–74.
Copenhaver, R. 2006, „Thomas Reid’s Philosophy of Mind: Consciousness and Intentionality“,
Philosophy Compass 1, 1–11.
Copp, D. 2006 (Hg.), The Oxford Handbook of Ethical Theory, New York: Oxford University
Press.
Copp, D. und D. Sobel 2004, „Morality and Virtue. An Assessment of Some Recent Work in
Virtue Ethics“, Ethics 114, 514–554.
Crane, T. 2007, Intentionalität. Sechs Essays zur Philosophie des Geistes, Frankfurt a. M.: Fischer.
Cummins, R. 1975, „Functional Analysis“, The Journal of Philosophy 72, 741–765.
Cummins, R. 1996, Representations, Targets and Attitudes, Cambridge: MIT Press.
Cummins, R. 1998 „Reflections on Reflective Equilibrium“, Rethinking Intuition, hrsg. von
M. DePaul und W. Ramsey, Oxford: Rowman & Littlefield, 113–127.
Currie, G. 1991, „Photography, Painting, and Perception“, Journal of Aesthetics and Art Criticism
49, 23–29.
Cureau de la Chambre, M. 1989, Traité de la connaissance des animaux où tout ce qui a esté dit
pour ou contre le raisonnement des bestes est examiné, Paris: Fayard (1647).
Danto, A. C. 1981, The Transfiguration of the Commonplace. A Philosophy of Art, Cambridge:
Harvard University Press.
Darden, L. und J. A. Cain 1989, „Selection Type Theories“, Philosophy of Science 56, 106–129.
Darwin, C. 1959a, The Life and Letters of Charles Darwin, hrsg. von F. Darwin, New York: Basic
Books.
Darwin, C. 1959b, More Letters of Charles Darwin, hrsg. von F. Darwin, New York: Basic Books.
Darwin, C. 1968, The Origin of Species, London: Penguin.
Davidson, D. 2001, Subjective, Intersubjective, Objective, Oxford: Clarendon Press.
Davies, P. S. 2000, „The Nature of Natural Norms. Why Selected Functions are Systematic
Capacity Functions“, Noûs 31, 85–107.
Dawkins, R. 1987, Der blinde Uhrmacher. Ein neues Plädoyer für den Darwinismus, München:
Kindler.
Dawkins, R. 2001, Gipfel des Unwahrscheinlichen. Wunder der Evolution, Reinbek bei Hamburg:
Rowohlt.
de Bary, Ph., 2001 Thomas Reid and Skepticism: His Reliabilist Response. London & New York:
Routledge,
Dennett, D. C. 1987, The Intentional Stance, Cambridge: MIT Press.
Dennett, D. C. 1995, Darwin’s Dangerous Idea. Evolution and the Meaning of Life, New York:
Simon and Schuster.
528
DeRose, K. 1989, “ ‘Reid’s Anti-Sensationalism and His Realism’, The Philosophical Review 98,
313–348.
Detel, W. 2001a, „Teleosemantik. Ein neuer Blick auf den Geist?“, Deutsche Zeitschrift für
Philosophie 49, 465–491.
Detel, W. 2001b, „Haben Frösche und Sumpfmenschen Gedanken? Einige Probleme der
Teleosemantik“, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 49, 601–626.
Detel, W. 2005, „Hybrid Theories of Normativity“, Norms, Virtues, and Objectivity, hrsg. von C.
Gill, Oxford: Oxford University Press, 113–144.
Detel, W. 2007, Metaphysik und Naturphilosophie (Grundkurs Philosophie, Bd. 2), Stuttgart:
Reclam.
Detel, W. und B. Samson 2002, „Zum Begriff nicht-mathematischer Funktionen“, Analyse und
Kritik 24, 100–129.
deVries, W. A. 2005, Wilfrid Sellars, Chesham: Acumen.
Dewey, J. 1989a, The Later Works, 1925–1953. Art as Experience, Carbondale: Southern Illinois
University Press.
Dewey, J. 1989b, The Later Works 1949-1952: Essays, Typoscripts, and ‘Knowing and the Known’,
Carbondale: Southern Illinois University Press.
Dewey, J. 1998, Die Suche nach Gewissheit. Eine Untersuchung des Verhältnisses von Erkenntnis
und Handeln, Frankfurt a.M.: Suhrkamp (1929).
Dobzhansky, T. 1973, „Nothing in Biology Makes Sense Except in the Light of Evolution“, The
American Biology Teacher 35, 125–129.
Dokic, J. 2007, „Two Ontologies of Sound“, The Monist 90, 391–402.
Drees, O. 1952, „Untersuchungen über die angeborenen Verhaltensweisen bei Springspinnen
(Salticidae)“, Zeitschrift für Tierpsychologie 9, 169–207.
Dretske, F. 1969, Seeing and Knowing, Chicago: The University of Chicago Press.
Dretske, F. 1981, Knowledge and the Flow of Information, Oxford: Blackwell.
Dretske, F. 1986, „Misrepresentation“, Belief. Form, Content, and Function, hrsg. von R. Bogdan,
Oxford: Oxford University Press.
Dretske, F. 1988, Explaining Behavior. Reasons in a World of Causes, Cambridge: MIT Press.
Dretske, F. 1995, Naturalizing the Mind, Cambridge: MIT Press.
Dretske, F. 2000, Perception, Knowledge, and Belief. Selected Essays, Cambridge: Cambridge
University Press.
Dretske, F. 2006, „Representation, Teleosemantics, and the Problem of Self-Knowledge“,
Teleosemantics, hrsg. von D. Papineau und G. Macdonald, Oxford: Oxford University
Press, 96–84.
Dretske, F. 2008, „The Metaphysics of Information“, Wittgenstein and the Philosophy of
Information, hrsg. von A. Pichler und H. Hrachovec, Frankfurt a.M.: Ontos 2008, 273–
283.
529
Drummond, J. J. 1979, „On Seeing a Material Thing In Space. The Role of Kinaesthesis in Visual
Perception“, Philosophy and Phenomenological Research 30, 19–32.
Dunne, J. D. 2004, Foundations of Dharmak rti’s Philosophy, Boston: Wisdom Publications.
Edelman, G. 1987, Neural Darwinism. The Theory of Neuronal Group Selection, New York: Basic
Books.
Ehring, D. 1985, „Dispositions and Functions. Cummins on Functional Analysis“, Erkenntnis 23,
243–249.
Eibl, K. 2004, Animal Poeta. Bausteine der biologischen Kultur- und Literaturtheorie, Paderborn:
Mentis.
Elder, C. L. 2004, Real Natures and Familiar Objects, Cambridge: MIT Press.
Elder, C. L. 2011, „Millikan, Realism, and Sameness“, Millikan and Her Critics, hrsg. von J.
Kingsbury et al., Oxford/ Malden: Blackwell (im Erscheinen).
Elgin, C. Z. 1996, Considered Judgment, Princeton: Princeton University Press.
Engel, P. 2003, „Le contenu de la perception est-il conceptuel?“, Philosophies de la perception,
phénoménologie, grammaire et sciences cognitives, hrsg. von J. Bouveresse und J. J. Rosat,
Paris: O. Jacob, 244–261.
Ereshefsky, M. und M. Matthen 2005, „Taxonomy, Polymorphism and History. An Introduction to
Population Structure Theory“, Philosophy of Science 72, 1–21.
Falkenstein, L. 2004, „Nativism and the Nature of Thought in Reid’s Account of Our Knowledge
of the External World“, The Cambridge Companion to Reid, hrsg, von T. Cuneo und R.
Van Woudenberg, Cambridge: Cambridge University Press, 156–180.
Fiordo, R. A. 1977, Charles Morris and the Criticism of Discourse, Bloomington: Indiana
University Press/ Lisse: Peter de Ridder Press.
Fodor, J. 1983, The Modularity of Mind. An Essay on Faculty Psychology, Cambridge: MIT Press.
Fodor, J. 1986, „Why Paramecia Don’t Have Mental Representations“, Midwest Studies in
Philosophy 10, 3–23.
Fodor, J. 1987, Psychosemantics. The Problem of Meaning in the Philosophy of Mind, Cambridge:
MIT Press.
Fodor, J. 1990, A Theory of Content and Other Essays, Cambridge: MIT Press.
Fodor, J. 1994, The Elm and the Expert. Mentalese and its Semantics, Cambridge: MIT Press.
Fodor, J. 2007, „The Revenge of the Given“, Contemporary Debates in Philosophy of Mind, hrsg.
von B. McLaughlin und J. D. Cohen, Oxford/ Malden: Blackwell, 105–116.
Fodor, J. 2008 „Against Darwinism“, Mind and Language 23, 1–24.
Fodor, J. und E. Lepore 1994, „What Is the Connection Principle?“, Philosophy and
Phenomenological Research 54, 837–845.
Foot, Ph. 2001, Natural Goodness, Oxford: Clarendon Press.
Foot, Ph. 2002a, Virtues and Vices and Other Essays in Moral Philosophy, Oxford: Oxford
University Press.
530
Foot, Ph. 2002b, Moral Dilemmas and Other Topics in Moral Philosophy, Oxford: Clarendon
Press.
Foot, Ph. 2004, „Rationality and Goodness“, Modern Moral Philosophy, hrsg. von A. O’Hear,
Cambridge: Cambridge University Press, 1–14.
Förster, E. 2000, Kant’s Final Synthesis. An Essay on the Opus Postumum, Cambridge: Harvard
University Press.
Förster, E. 2002a, „Die Bedeutung von §§ 76, 77 der Kritik der Urteilskraft für die Entwicklung der
nachkantischen Philosophie (Teil I)“, Zeitschrift für philosophische Forschung 56, 169–
190.
Förster, E. 2002b, „Die Bedeutung von §§ 76, 77 der Kritik der Urteilskraft für die Entwicklung der
nachkantischen Philosophie (Teil II)“, Zeitschrift für philosophische Forschung 56, 321–
345.
Foucault, M. 1973, Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, München: Carl
Hanser.
Foucault, M. 1976, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M.:
Suhrkamp.
Fricke, E. 2007, Origo. Geste und Raum. Lokaldeixis im Deutschen, Berlin: de Gruyter.
Friday, J. 1996, „Transparency and the Photographic Image“, British Journal of Aesthetics 36, 30–
42.
Friedrich, H. 1956, Die Struktur der modernen Lyrik, Hamburg: Rowohlt.
Gadamer, H.-G. 1999, Gesammelte Werke, Tübingen: J. C. B. Mohr.
Geach, P. 1956, „Good and Evil“, Analysis 17, 32–42.
Geach, P. 1977, The Virtues, Cambridge: Cambridge University Press.
Ghiselin, M. 1975 „A Radical Solution to the Species Problem“, Systematic Zoology 23, 536–544.
Ghiselin, M. 1987, „Species Concepts, Individuality, and Objectivity“, Biology and Philosophy 2,
127–143.
Ghiselin, M. 1994, „Darwin’s Language May Seem Teleological, but His Thinking is Another
Matter“, Biology and Philosophy 9, 489–492.
Gibson, J. J. 1979, The Ecological Approach to Visual Perception, Boston etc.: Houghton Mifflin.
Godfrey-Smith, P. 1988, „Review of Language, Thought and Other Biological Categories“,
Australasian Journal of Philosophy 66, 556–560.
Godfrey-Smith, P. 1989, „Misinformation“, Canadian Journal of Philosophy 19, 533–550.
Godfrey-Smith, P. 1993, „Functions. Consensus without Unity”, Pacific Philosophical Quarterly 74,
196–208.
Godfrey-Smith, P. 1994a, „A Continuum of Semantic Optimism“, Mental Representation. A
Reader, hrsg. von S. Stich und T. A. Warfield, Oxford/ Malden: Blackwell, 259–277.
Godfrey-Smith, P. 1994b, „A Modern History Theory of Functions”, Noûs 28, 344–362.
531
Godfrey-Smith, P. 1996, Complexity and the Function of Mind in Nature, Cambridge: Cambridge
University Press.
Godfrey-Smith, P. 2001, „Three Kinds of Adaptationism“, Adaptationism and Optimality, hrsg.
von S. Hecht Orzack und E. Sober, Cambridge: Cambridge University Press, 335–357.
Godfrey-Smith, P. 2003, Theory and Reality. An Introduction to the Philosophy of Science,
Chicago: University of Chicago Press.
Goebel, B. et. al. 2004 (Hg.), Probleme des Naturalismus. Philosophische Beiträge, Paderborn:
Mentis.
Golden, D. C. et. al. 2001, „A Simple Inorganic Process for Formation of Carbonates, Magnetite,
and Sulphides in Martian Meteorite ALH84001“, American Mineralogist 8, 370–375.
Goldman, A. 1999, „Internalism Exposed“, The Journal of Philosophy 96, 271–292.
Goldstein, E. B. 2002, Wahrnehmungspsychologie, Heidelberg: Spektrum.
Goodman, N. und C. Z. Elgin 1988, Reconceptions in Philosophy and Other Arts and Sciences,
London: Routledge.
Gottschall, J. und D. S. Wilson 2005 (Hg.), The Literary Animal. Evolution and the Nature of
Narrative, Evanston: Northwestern University Press.
Gould, S. J. und E. S. Vrba 1982, „Exaptation. A Missing Term in the Science of Form“,
Paleobiology 8, 4–15.
Gowans, C. W. 2008, „Virtue and Nature“, Objectivism, Subjectivism, and Relativism in Ethics,
hrsg. von P. E. Frankel et al., Cambridge: Cambridge University Press, 28–55.
Granger, H. 1987, „Deformed Kind and Fixety of Species“, The Classical Quarterly 36, 110–116.
Gray, A. 1874, „Charles Darwin“, Nature 10, [ohne Seitenangabe].
Gregory, R. L. 2001, Auge und Gehirn. Psychologie des Sehens, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.
Gregory, R. L. 1980, „Perceptions as Hypotheses“, Philosophical Transactions of the Royal Society
B 290, 181–197.
Grice, P. 1989, „The Causal Theory of Perception“, ders. Studies in the Way of Words, Harvard:
Harvard University Press, 224–247.
Griffiths, P. E. 1992, „Adaptive Explanation and the Concept of a Vestige“, Trees of Life, hrsg.
von P. E. Griffiths, Dordrecht: Kluwer, 111–131.
Griffiths, P. E. 1993, „Functional Analysis and Proper Functions”, British Journal for the
Philosophy of Science 44, 409–422.
Griffiths, P. E. 1999, „Squaring the Circle. Natural Kinds with Historical Essences“, Species. New
Interdisciplinary Essays, hrsg. von R. Wilson, Cambridge: MIT Press, 209–228.
Grundmann, T. 2003, Der Wahrheit auf der Spur. Eine Verteidigung des erkenntnistheoretischen
Externalismus, Paderborn: Mentis.
Gunther, Y. H. 2003 (Hg.), Essays on Nonconceptual Content, Cambridge: MIT Press.
Haag, J. 2001, Der Blick nach innen. Wahrnehmung und Introspektion, Paderborn: Mentis.
532
Haag, J. 2007, Erfahrung und Gegenstand. Das Verhältnis von Sinnlichkeit und Verstand,
Frankfurt a.M.: Klostermann.
Haag, J. und M. Wild 2010, „Thomas Reid: Einleitung, Kommentare, Essay“, Ideentheorie, Bd. 2,
hrsg. von J. Haag und D. Perler, Berlin/ New York: de Gruyter, 423–462.
Habermas, J. 1981, Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Habermas, J. 1988, Nachmetaphysisches Denken. Philosophische Aufsätze, Frankfurt a.M.:
Suhrkamp.
Hacker, P. M. S. 2007, Human Nature. The Categorial Framework, Oxford/ Malden: Blackwell.
Hamlyn, D. W. 2003, „Perception, Sensation and Non-Conceptual Content“, Essays on
Nonconceptual Content, hrsg. von Y. H. Gunther, Cambridge: MIT Press, 251–262.
Hansell, M. 2005, Animal Architecture, Oxford: Oxford University Press.
Harcourt, A. H. und J. J. Stewart 2007, Gorilla Society. Conflict, Compromise, and Cooperation
between the Sexes, Chicago: University of Chicago Press.
Harland, D. P. und R. R. Jackson, 2004, „Portia perceptions: the ‘Umwelt’ of an Araneophagic
Jumping Spider“, Complex Worlds from Simpler Nervous Systems, hrsg. von F. R. Prete,
Cambridge: MIT Press, 5–40.
Harman, G. 1997, „The Intrinsic Quality of Experience“, The Nature of Consciousness, hrsg. von
N. Block et al., Cambridge: MIT Press, 663–675.
Harms, W. F. 2000, „Adaptation and Moral Realism“, Biology and Philosophy 15, 699–712.
Harrecker, S. 2007, Degradierte Doktoren. Die Aberkennung der Doktorwürde an der LudwigMaximilians-Universität München während der Zeit des Nationalsozialismus, München:
Herbert Utz.
Hatfield, G. 1990, „The Natural and the Normative. Theories of Spatial Perception from Kant to
Helmholtz, Cambridge: MIT Press.
Hawkins, R. D. und E. R. Kandel 1984, „Is there a Cell Biological Alphabet for Simple Forms of
Learning?“, Psychological Review 91, 375–391.
Heckmann, H.-D. 1994, Mentales Leben und materielle Welt. Eine philosophische Studie zum
Leib-Seele-Problem, Berlin: de Gruyter.
Heidegger, M. 1975, Grundprobleme der Phänomenologie (GA 24), Frankfurt a.M.: Klostermann.
Heidegger, M. 1976, Wegmarken (GA 9), Frankfurt a.M.: Klostermann.
Heidegger, M. 1977, Holzwege(GA 5), Frankfurt a.M.: Klostermann.
Heidegger, M. 1983, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit (GA 29/
30), Frankfurt a. M.: Klostermann.
Heidegger, M. 1993, Sein und Zeit, Tübingen: Niemeyer.
Heinrich, B. 1996, „An Experimental Investigation of Insight in Common Ravens“, The Auk 112,
994–1003.
Heldmaier, G. und G. Neuweiler 2004, Vergleichende Tierphysiologie, Bd. 2: Vegetative
Physiologie, Berlin: Springer.
533
Helmholtz, H. von, 1971, „Über das Sehen des Menschen“, ders. Philosophische Vorträge und
Aufsätze, Berlin.
Hemingway, E. 1994, For Whom the Bell Tolls, New York etc.: Arrow Books Ltd.
Hempel, C. G. 1959, „The Logic of Functional Analysis“, Symposium on Sociological Theory, hrsg.
von L. Gross, New York: Harper and Row, 271–307.
Heyes, C. und B. G. Galeff 1996 (Hg.), Social Learning in Animals. The Roots of Culture, San
Diego: Academic Press.
Hoffmann, G. 2005, „The Investigation of Nature“, The Cambridge Companion to Montaigne,
hrsg. von U. Langer, Cambridge: Cambridge University Press, 163–182.
Honnefelder, L. 2007 (Hg.), Naturalismus als Paradigma. Wie weit reicht die naturwissenschaftliche
Erklärung des Menschen?, Berlin: Berlin University Press.
Hooker, B. 2002, „The Collapse of Virtue Ethics“, Utilitas 14, 22–40.
Horvath, C. 2007, „Biological Explanations of Human Sexuality. The Genetic Basis of Sexual
Orientation“, The Cambridge Companion to the Philosophy of Biology, hrsg. von D. Hull
und M. Ruse, Cambridge: Cambridge University Press, 291–303.
Hull, D. L. 1965, „The Effect of Essentialism on Taxonomy. Two Thousand Years of Stasis“,
British Journal for the Philosophy of Science 15, 314–326 und 16, 1–18.
Hull, D. L. 1978, „A Matter of Individuality“, Philosophy of Science 45, 335–360.
Hull, D. L. 1994, „Contemporary Systematic Philosophies“, Conceptual Issues in Evolutionary
Biology, hrsg. von E. Sober, Cambridge: MIT Press, 295–330 (2. Auflage).
Hull, D. L., 1998, „On Human Nature“, Philosophy of Biology, hrsg. von D. L. Hull und M. Ruse
Oxford: Clarendon Press, 383–397.
Hull, D. L. et al. 2001, „A General Account of Selection. Biology, Immunology and Behavior“,
Behavioral and Brain Sciences 24, 511–527.
Hume, D. 1993, Dialogues and Natural History of Religion, hrsg. von J. C. A. Gaskin, Oxford:
Oxford University Press (1759).
Hurley, S. und M. Nudds 2006 (Hg.), Rational Animals?, Oxford: Oxford University Press.
Hursthouse, R. 1999, On Virtue Ethics, New York: Oxford University Press.
Hursthouse, R. 2002, „Virtue Ethics vs. Rule-Consequentialism. A Reply to Brad Hooker“, Utilitas
14 (2002), 41–53.
Hursthouse, R. 2004, „On the Grounding of the Virtues in Human Nature“, Was ist das für den
Menschen Gute? Menschliche Natur und Güterlehre, hrsg. von J. Szaif und M. LutzBachmann, Berlin: de Gruyer, 263–275.
Hursthouse, R. 2006, „Applying Virtue Ethics to Our Treatments of the Other Animals“, The
Practice of Virtue Ethics, hrsg. von J. Welchman, Indianapolis: Hackett, 136–155.
Hursthouse, R. et al. 1995 (Hg.), Virtues and Reasons. Philippa Foot and Moral Theory. Essays in
Honour of Philippa Foot, Oxford: Clarendon Press.
Husserl, E. 1973, Ding und Raum, Husserliana XVI, The Hague: Martins Nijhoff.
534
Ibbotson, M. R. und B. Dreher 2005, „Visual Functions of the Retinorecipient Nuclei in the
Midbrain, Pretectum, and Ventral Thalamus of Primates“, The Primate Visual System. A
Comparative Approach, hrsg. von J. Kremer, Chichester: Wiley, 213–265.
Jackson, R, R. und A. D. Blest 1988, „The Biology of Portia fimbriata, a Web-Building Jumping
Spider (Araneae, Salticidae) from Queensland. Utilization of Webs and Predatory
Versatility“, Journal of Zoology 196, 255–293.
Jackson R. R. und S. D. Pollard 1997, „Jumping Spider Mating Strategies. Sex Among Cannibals in
and out of Webs“, The Evolution of Mating Systems in Insects and Arachnids, hrsg. von
J. C. Choe und B. J. Crespi, Cambridge: Cambridge University Press, 340–351.
Jackson, F. 1977, Perception. A Representative Theory, Cambridge: Cambridge University Press.
Jackson, F. 1998, From Metaphysics to Ethics, Oxford: Clarendon Press.
Jackson, F. und Ph. Pettit 1988, „Functionalism and Broad Content“, Mind 97, 381–400.
Jacob, F. und J. Monod 1961, „Genetic Regulatory Mechanisms in the Synthesis of Proteins“,
Journal of Molecular Biology 3, 318–356.
Jacob, P. 1997, What Minds Can Do. Intentionality in a Physical World, Cambridge: Cambridge
University Press.
Jacob, P. und M. Jeannerod 2003, Ways of Seeing. The Scope and Limits of Visual Cognition,
Oxford: Oxford University Press.
Janaway, C. 1989, Self and World in Schopenhauer’s Philosophy, Oxford: Clarendon Press.
Janich, P. 2008 (Hg.), Naturalismus und Menschenbild, Hamburg: Felix Meiner.
Joas, H. 1980, Praktische Intersubjektivität. Die Entwicklung des Werkes von George Herbert
Mead, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Joas, H. 1992, Pragmatismus und Gesellschaftstheorie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Johnston, M. 1997, „How to Speak of the Colors“, Readings on Color, Vol 1: The Philosophy of
Color, hrsg. von A. Byrne und D. R. Hilbert, Cambridge, Mass.: MIT Press, 137–176.
Kappner, S. 2004, Intentionalität aus semiotischer Sicht. Peirceanische Perspektiven, Berlin: De
Gruyter.
Keil, G. 1993a, Kritik des Naturalismus, Berlin: de Gruyter.
Keil, G. 1993b, „Biosemantik: ein degenerierendes Forschungsprogramm?“, Neue Realitäten. XVI.
Deutscher Kongress für Philosophie. Sektionsbeiträge Bd. 1, hrsg. von der Allgemeinen
Gesellschaft für Philosophie in Deutschland, Berlin, 86–93.
Keil, G. und H. Schnädelbach 2000 (Hg.), Naturalismus. Philosophische Beiträge, Frankfurt a. M.:
Suhrkamp.
Kelly, S. D. 2002, „Merleau-Ponty on the Body“, Ratio 15, 376–391.
Kelly, S. D. 2003, „The Non-Conceptual Content of Perceptual Experience: Situation Dependence
and Fineness of Grain“, Essays on Nonconceptual Content, hrsg. von Y. H. Gunther,
Cambridge (Mass.): MIT Press, 223–229.
535
Kelly, S. D. 2005, „Seeing Things in Merleau-Ponty“, Cambridge Companion to Merleau-Ponty,
hrsg. von T. Carman, Cambridge: Cambridge University Press, 75–110.
Kelly, S. D. 2007, „What Do We See (When We Do)?”, Reading Merleau-Ponty, hrsg. von T.
Baldwin, London: Routledge, 23–43.
Kim, J. 1998, Mind in a Physical World. An Essay on the Mind-Body Problem and Mental
Causation, Cambridge: MIT Press.
Kitcher, Ph. 1981, „Explanatory Unification”, Philosophy of Science 48, 507–531.
Kitcher, Ph. 1989, „Explanatory Unification and the Causal Structure of the World“, Scientific
Explanation, hrsg. von P. Kitcher und W. Salmon, Minneapolis: University of Minnesota
Press, 410–505.
Kitcher, Ph. 1993, The Advancement of Science. Science without Legend, Objectivity without
Illusions, New York: Oxford University Press.
Kitcher, Ph. 1999, „Essence and Perfection“, Ethics 110, 59–83.
Kitcher, Ph. 2003, In Mendel’s Mirror. Philosophical Reflections on Biology, Oxford: Oxford
University Press.
Kitcher, Ph. 2006, „Biology and Ethics“, The Oxford Handbook of Ethical Theory, hrsg. von D.
Copp, New York: Oxford University Press, 163–185.
Knobe, J. et al. 2008, Experimental Philosophy, Oxford: Oxford University Press.
Köhler, W. 1921, Intelligenzprüfung an Menschenaffen, Berlin: Julius Springer.
Kornblith, H. 1993, Inductive Inference and its Natural Ground. An Essay in Naturalistic
Epistemology, Cambridge: MIT Press.
Kornblith, H. 2002, Knowledge and its Place in Nature, Oxford: Oxford University Press.
Krebs, A. 1997, Naturethik. Grundtexte der gegenwärtigen tier- und ökoethischen Diskussion,
Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Krohs, U. 2004, Eine Theorie biologischer Theorien. Status und Gehalt von Funktionsaussagen
und informationstheoretischen Modellen, Berlin: Springer.
Krohs, U. und G. Toepfer 2005, Philosophie der Biologie. Eine Einführung, Frankfurt a.M.:
Suhrkamp.
Lalor, B. J. 1998, „Swampman, Etiology, and Content“, Southern Journal of Philosophy 36, 215–
232.
Land, M. F. 1969a, „Structure of the Retinae of the Eyes of Jumping Spiders (Salticidae:
Dendryphantinae) in Relation to Visual Optics“, The Journal of Experimental Biology 51,
443–470.
Land, M. F. 1969b, „Movements of the Retinae of Jumping Spiders (Salticidae: Dendryphantinae)
in Response to Visual Stimuli“, The Journal of Experimental Biology 51, 471–493.
Land, M. F. und D.-E. Nilsson 2001, Animal Eyes, Oxford: Oxford University Press.
536
Land, M. F. und D.-E. Nilsson 2006, „General Purpose and Special Purpose Visual Systems“,
Invertebrate Vision, hrsg. von E. Warrant und D.-E. Nilsson, Cambridge: Cambridge
University Press, 167–210.
Laurence, S. und E. Margolis 2003, „Concepts and Conceptual Analysis“, Philosophy and
Phenomenological Research 67, 253–282.
Lefèvre, W. 2009, Die Entstehung der biologischen Evolutionstheorie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp
(2. Auflage).
Lenman, J. 2005, „The Saucer of Mud, the Kudzu Vine and the Uxorious Cheetah: Against NeoAristotelian Naturalism in Metaethics“, European Journal of Analytic Philosophy 1, 35–50.
Lennox, J. 1993, „Darwin Was a Teleologist“, Biology and Philosophy 8, 409–421.
Lennox, J. 1994, „Teleology by Another Name. A Reply to Ghiselin“, Biology and Philosophy 9,
493–495.
Lenz, M. und M. Wild 2011, „Gedacht wird in der Welt, nicht im Kopf. Interview mit Ruth G.
Millikan“, Deutsche Zeitschrift für Philosophie (im Erscheinen).
Levine, J. 1996, „Swampjoe: Mind or Simulation?“, Mind and Language 11, 86–91.
Lewens, T. 2004, Organisms and Artifacts. Design in Nature and Elsewhere, Cambridge: MIT
Press.
Lewis, D. 1980, „Veridical Hallucination and Prosthetic Vision“, Australasian Journal of Philosophy
58, 239–249.
Lewontin, R. C. 1983, „Gene, Organism, and Environment“, Evolution from Molecules to Men,
hrsg. von D. S. Bendall, Cambridge: Cambridge University Press, 273–285.
Lipton, P. 2005, „What Good is an Explanation?“, Explanations. Styles of Explanation in Science,
hrsg von J. Cornwell, Oxford: Oxford University Press, 1–22.
Liptow, J. 2009, „Die Rolle der Sprache in Sein und Zeit“, Verstehen nach Heidegger und
Brandom, hrsg. von B. Merker, Hamburg: Meiner, 27–46.
Liszka, J. J. 2003, „Another Look at Morris’ Semiotic“, Semiotica 145, 217–233.
Lofting, H. 1922, The Voyages of Dr. Dolittle, New York: Lippincott.
Longenbach, J. 1991, Wallace Stevens. The Plain Sense of Things, New York: Oxford University
Press.
Longy, F. 2007, „Unité des fonctions et décomposition fonctionnelle“, Le tout et les parties dans
les systèmes naturels, hrsg. von T. Martin, Paris: Vuibert, 89–97.
Longy, F. 2009, „How Biological, Cultural and Intended Functions Combine“, Comparative
Philosophy of Technical Artifacts and Biological Organisms, hrsg. von P. Kroes und U.
Krohs, Cambridge: MIT Press, 51–68.
Lopes, D. 1996, Understanding Pictures, Oxford: Oxford University Press 1996.
Machery, E. 2008, „A Plea for Human Nature“, Philosophical Psychology 21, 321–329.
MacIntyre, A. 1999, Dependent Rational Animals. Why Human Beings Need the Virtues, Chicago:
Open Court.
537
Maclean, I. 1992, Interpretation and Meaning in the Renaissance, Cambridge: Cambridge University
Press.
Marr, D. 1982, Vision. A Computational Investigation into the Human Representation and
Processing of Visual Information, San Francisco: Freeman.
Matthen, M. 1984, „Teleology, Error, and the Human Immune System“, The Journal of Philosophy
81, 351–372.
Matthen, M. 1988, „Biological Functions and Perceptual Content“, The Journal of Philosophy 85,
5–27.
Matthen, M. 1997, „Teleology and the Product Analogy“, Australasian Journal of Philosophy 75,
21–37.
Matthen, M. 1998, „Biological Universals and the Nature of Fear“, The Journal of Philosophy 95,
105–132.
Matthen, M. 2000, „What is a Hand? What is a Mind?”, Revue Internationale de Philosophie 4,
653–672.
Matthen, M. 2005, Seeing, Doing, and Knowing. A Philosophical Theory of Sense Perception,
Oxford: Oxford University Press.
Matthen, M. 2006, „Teleosemantics and the Consumer“, Teleosemantics, hrsg. von D. Papineau
und G. Macdonald, Oxford: Oxford University Press, 146–166.
Maynard Smith, J. 2000, „The Concept of Information in Biology“, Philosophy of Science 67, 177–
194.
Maynard Smith, J. und D. Harper 2003, Animal Signals, Oxford: Oxford University Press.
Mayr, E. 1942, Systematics and the Origin of Species, New York: Columbia University.
Mayr, E. 1974, „Teleologic and Teleonomic. A New Analysis“, Boston Studies in the Philosophy of
Science 14, 91–117.
Mayr, E. 1992, „The Idea of Teleology“, Journal for the History of Ideas 53, 117–135.
Mayr. E. 2001, What Evolution Is, New York: Basic Books.
McDowell, J. 1996, Mind and World, Cambridge: Harvard University Press.
McDowell, J. 1998a, Meaning, Knowledge, and Reality, Cambridge: Harvard University Press.
McDowell, J. 1998b, Mind, Value, and Reality, Cambridge: Harvard University Press.
McDowell, J. 2000, „Replies“, Reason and Nature. Lecture and Colloquium in Münster 1999, hrsg.
von M. Willaschek, Münster: LIT.
McDowell, J. 2001, „Comment on Richard Schantz“, Philosophy and Phenomenological Research
62, 181–184.
McDowell, J. 2009a, The Engaged Intellect. Philosophical Essays, Cambridge: Harvard University
Press.
McDowell, J. 2009b, Having the World in View. Essays on Kant, Hegel, and Sellars, Cambridge:
Harvard University Press.
538
McGinn, C. 1997, „Fred Dretske’s Naturalizing the Mind. Missing the Mind: Consciousness in the
Swamps“, Noûs 31, 528–537.
McKay, C. P. et al. 1996, „Search for Past Life on Mars: Possible Relic Biogenic Activity in Martian
Meteorite ALH84001“, Science 273, 924–930.
McKay, C. P. et al. 2003, „Magnetotactic Bacteria on Earth and on Mars“, Astrobiology 3, 263–270.
McLaughlin, B. 1991 (Hg.), Dretske and His Critics, Cambridge: Blackwell.
McLaughlin, P. 2001, What Functions Explain, Cambridge: Cambridge University Press.
Mead, G. H. 1934, Mind, Self and Society. From the Standpoint of a Social Behaviorist, hrsg. von
C. W. Morris, Chicago: The University of Chicago Press.
Mead, G. H. 1980, Gesammelte Aufsätze, hrsg. von H. Joas, Bd. 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Merleau-Ponty, M. 1945, Phénoménologie de la perception, Paris: Gallimard.
Merleau-Ponty, M. 2003, Das Primat der Wahrnehmung, Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Merricks, T. 2001, Objects and Persons, Oxford: Clarendon Press.
Millikan, R. 1979, „An Evolutionist Approach to Language“, Philosophy Research Archives 5, 86–
98.
Millikan, R. 1984, Language, Thought, and Other Biological Categories, Cambridge: MIT Press.
Millikan, R. 1986, „The Price of Correspondence Truth“, Noûs 20, 453–468.
Millikan, R. 1989, „An Ambiguity in the Notion ‚Function’“, Biology and Philosophy 4, 172–176.
Millikan, R. 1990, „The Myth of the Essential Indexical“, Noûs 24, 723–734.
Millikan, R. 1991a, „Speaking Up For Darwin“, Meaning in Mind. Fodor and His Critics, hrsg. von
G. Rey und B. Loewer, Oxford/ Malden: Blackwell, 151–164.
Millikan, R. 1991b, „Perceptual Content and Fregean Myth“, Mind 100, 439–459.
Millikan, R. 1993a, White Queen Psychology and Other Essays for Alice, Cambridge: MIT Press.
Millikan, R. 1993b, „Content and Vehicle“, Spatial Representation, hrsg. von N. Eilan et al.,
Oxford/ Malden: Blackwell, 256–268.
Millikan, R. 1995, „A Bet With Peacocke“ Philosophy of Psychology. Debates on Psychological
Explanation, hrsg. von C. Macdonald und G. Macdonald, Oxford: Oxford University
Press, 285–292.
Millikan, R. 1996, „On Swampkinds“, Mind and Language 11, 103–117.
Millikan, R. 1997, „Some Troubles with Wagner’s Reading of Millikan“, Philosophical Studies 86,
1–5.
Millikan, R. 1998a, „A Common Structure for Concepts of Individuals, Stuffs, and Basic Kinds:
More Mama, More Milk and More Mouse“, Behavioral and Brain Sciences 22, 55–65.
Millikan, R. 1998b, „With Enemies Like These I Don’t Need Friends“, Behavioral and Brain
Sciences 22, 89–100.
Millikan, R. 1998c, „Wings, Spoons, Pills and Quills. A Pluralist Theory of Functions“, The Journal
of Philosophy 96, 191–206.
Millikan, R. 1999a, „Historical Kinds and the Special Sciences“, Philosophical Studies 95, 45–65.
539
Millikan, R. 1999b, „Response to Boyd’s Commentary“, Philosophical Studies 95, 99–102.
Millikan, R. 2000a, On Clear and Confused Ideas. An Essay about Substance Concepts, Cambridge:
Cambridge University Press.
Millikan, R. 2000b, „Representations, Targets and Attitudes“, Philosophy and Phenomenological
Research 60, 103–111.
Millikan, R. 2000c, „Reading Mother Nature’s Mind“, Dennett’s Philosophy. A Comprehensive
Assessment, hrsg. von D, Ross et al. Cambridge: MIT Press, 55–75.
Millikan, R. 2002d, „Biofunctions: Two Paradigms“, Functions. New Readings in the Philosophy of
Psychology and Biology, hrsg. von A. Ariew et al., Oxford: Oxford University Press, 113–
143.
Millikan, R. 2004a, Varieties of Meaning. The 2002 Jean Nicod Lectures, Cambridge: MIT Press.
Millikan, R. 2004b, „Existence Proof for a Viable Externalism“, The Externalist Challenge. New
Studies on Cognition and Intentionality, hrsg. von R. Schantz, Berlin: de Gruyter, 227–238.
Millikan, R. 2005a, Language. A Biological Model, Oxford: Clarendon Press.
Millikan, R. 2005b, „On Reading Signs: Some Differences between Us and The Others“, The
Evolution of Communication Systems. A Comparative Approach, hrsg. von K. Oller et al.,
Cambridge: MIT Press, 15–30.
Millikan, R. 2005c, „Some Reflections on the Theory Theory-Simulation Theory Debate“;
Perspectives on Imitation: From Mirror Neurons to Memes, hrsg. von S. Hurley und N.
Chater, Cambridge: MIT Press, 182–188.
Millikan, R. 2005d, „Verschiedene Arten von zweckgerichtetem Verhalten“, Der Geist der Tiere,
hrsg. von D. Perler und M, Wild, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 201–212.
Millikan, R. 2006a, „Styles of Rationality“, Rational Animals?, hrsg. von S. Hurley und M. Nudds,
Oxford: Oxford University Press, 117–126.
Millikan, R. 2006b, „Useless Content“, Teleosemantics, hrsg. von D. Papineau und G. Macdonald,
Oxford: Oxford University Press, 100–114.
Millikan, R. 2006c, „Précis of Language: A Biological Model and Replies to Reviewers“, SWIF
Philosophy of Mind Review 5 http://www.swif.uniba.it/lei/mind/swifpmr.htm.
Millikan, R. 2007, „An Input Condition for Teleosemantics? Reply to Shea (and Godfrey-Smith)“,
Philosophy and Phenomenological Research 75, 436–455.
Millikan, R. 2009a, „Biosemantics“, Oxford Handbook of the Philosophy of Mind, hrsg. von B.
McLaughlin, Oxford: Clarendon Press, 394–406.
Millikan, R. 2009b, „Embedded Rationality“, Cambridge Handbook of Situated Cognition, hrsg.
von M. Aydede und Ph. Robbins, New York: Cambridge University Press, 171–181.
Millikan, R. 2010, „On Knowing the Meaning; With a Coda on Swampman“, Mind (im
Erscheinen).
Millstein, R. 2009, „Concepts of Drift and Selection in ‚The Great Snail Debate’ of the 1950s and
Early 1960s“, Descended from Darwin. Insights into the History of Evolutionary Studies,
540
1900-1970, hrsg. von J. Cain und M. Ruse, Philadelphia: American Philosophical Society
(Transactions of the American Philosophical Society 99), 271–298.
Milner, A. D. und M. A. Goodale 1995, The Visual Brain in Action, Oxford: Oxford University
Press.
Mitchell, S. 1995, „Function, Fitness, and Disposition“, Biology and Philosophy 10, 39–54.
Mitchell, S. 1997, „Pragmatic Laws“, Philosophy of Science 64, 468–479.
Mitchell, S. 2000, „Dimensions of Scientific Law“, Philosophy of Science 67, 242–265.
Mithen, S. J. 1996, The Prehistory of the Mind, London: Thames and Hudson.
Montaigne, M. de 1965, Les essais de Michel de Montaigne, hrsg. von P. Villey und V.-L. Saulnier,
Paris: Presses Universitaires de France.
Moore, G. E. 1993, Principia ethica, hrsg. von T. Baldwin, Cambridge: Cambridge University Press.
Moore, G. E. 1993, Selected Writings, London: Routledge.
Morris, C. W. 1938, „Peirce, Mead, and Pragmatism“, Philosophical Review 47, 109–127.
Morris, C. W. 1946, Signs, Language, and Behaviour, New York: Prentice-Hall.
Morris, C. W. 1971, Writings on the General Theory of Signs, The Hague: Mouton.
Morris, C. W. 1977, Pragmatische Semiotik und Handlungstheorie, Frankfurt a.M: Suhrkamp.
Morris, C. W. 1981, Symbolik und Realität, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Nannini, S. et al. 2000 (Hg.), Naturalism in the Cognitive Sciences and the Philosophy of Mind,
Frankfurt a. M.: Peter Lang.
Nabokov, V. V. 1967, Speak, Memory, New York: Vintage International.
Neander, K. 1987, „Pictorial Representation. A Matter of Resemblance“, The British Journal of
Aesthetics 27, 213–226.
Neander, K. 1991a, „Functions as Selected Effects“, Philosophy of Science 58, 168–184.
Neander, K. 1991b, „The Teleological Notion of Function“, Australasian Journal of Philosophy 69,
454–468.
Neander, K. 1995a, „Pruning the Tree of Life“, British Journal for the Philosophy of Science 46,
59–80.
Neander, K. 1995b, „Misrepresenting and Malfunctioning“, Philosophical Studies 79, 109–141.
Neander, K. 1996, „Dretske’s Innate Modesty“, Australasian Journal of Philosophy 74, 258–274.
Neander, K. 1998, „The Division of Phenomenal Labor. A Problem for Representational Theories
of Consciousness“, Philosophical Perspectives 12, 411–434.
Neander, K. 2002a, „Warum Geschichte zählt“, Formen der Erklärung in der Biologie, hrsg. von
G. Schlosser und M. Weingarten, Berlin: VWB, 91–120.
Neander, K. 2002b, „Types of Traits. The Importance of Functional Homologues“, Functions.
New Readings in the Philosophy of Psychology and Biology, hrsg. von A. Ariew et al.,
Oxford: Oxford University Press, 390–415.
Neander, K. 2005, „Content for Cognitive Science“, Teleosemantics, hrsg. von D. Papineau und G.
Macdonald, Oxford: Oxford University Press 2005, 167–194.
541
Neander, K. 2006, „Biological Approaches to Mental Representation“, Handbook of the
Philosophy of Science, Vol 3: The Philosophy of Biology, hrsg. von M. Matthen und C.
Stevens, Amsterdam: Elsevier, 549–566.
Neander, K. 2007, „Teleological Theories of Mental Content. Can Darwin Solve the Problem of
Intentionality?”, Oxford Handbook of the Philosophy of Biology, hrsg. von M.
Ruse, Oxford: Oxford University Press, 381–409.
Nelson, X. J. et al. 2005, „Living with the Enemy. Jumping Spiders that Mimic Weaver Ants“,
Journal of Arachnology 33, 813–819.
Nelson, X. J. und R. R. Jackson 2007, „Vision-Based Ability of an Ant-Mimicking Jumping Spider
to Discriminate between Models, Conspecific Individuals and Prey“, Insectes Sociaux 54,
1–4.
Nichols, R. 2002, „Learning and Conceptual Content in Reid’s Theory of Perception“, British
Journal for the History of Philosophy 10, 49–79.
Nichols, S. 2002, „On the Genealogy of Norms. A Case for the Role of Emotion in Cultural
Evolution“, Philosophy of Science 69, 234–255.
Nichols, S., S. Stich und J. Weinberg 2003, „Meta-Skepticism: Meditations on EthnoEpistemology“, The Skeptics, hrsg, von S. Luper, Aldershot: Ashgate, 227–247.
Nisbett, R. 2003, The Geography of Thought. How Asians and Westerners Think Differently and
Why, New York: Free Press.
Noë, A. 2004, Action in Perception, Cambridge: MIT Press.
Noonan, H. 1998, „Animalism versus Lockeanism. A Current Controversy“, Philosophical
Quarterly 48, 302–318.
Novalis 1978ff., Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs, hrsg. on H.-J. Mähl
und R. Samuel, München: Carl Hanser.
Nudds, M. 2009, „Recent Work in Perception. Naïve Realism and its Opponents“, Analysis 69,
334–346.
Nussbaum, M. C. 1999, Gerechtigkeit, oder Das gute Leben, Frankfurt am Main: Suhrkamp.
O’Shea, J. R. 2007, Wilfrid Sellars. Naturalism with a Normative Turn, Cambridge: Polity Press.
Odling-Smee, F. J., K. N. Laland und M. W. Feldman 2003, Niche Construction. The Neglected
Process in Evolution, Princeton: Princeton University Press.
Okren, M. 2007, Rational Animals. The Teleological Roots of Intentionality, Athens: Ohio
University Press.
Olson, E. T. 1997, The Human Animal. Personal Identity Without Psychology, New York/
Oxford: Oxford University Press.
Olson, E. T. 2003, „Warum wir Tiere sind“, On Human Persons, hrsg. von K. Petrus, Frankfurt/
London: Ontos, 11–22.
Olson, E. T. 2004, „Animalism and the Corpse Problem“, Australasian Journal of Philosophy 82,
265–274.
542
Olson, E. T. 2007, What Are We? A Study in Personal Ontology, New York: Oxford University
Press.
Osorio, D. et al. 2005, „The Ecology of the Primate Eye. Retinal Sampling and Color Vision“, The
Primate Visual System. A Comparative Approach, hrsg. von J. Kremer, Chichester: Wiley,
99–126.
Pace, N. R. 2005, „The Universal Nature of Biochemistry“, Proceedings of the National Academy
of Science USA 98, 805–808.
Palmer, S. 1999, Vision Science. Photons to Phenomenology, Cambridge: MIT Press.
Papineau, D. 1987, Reality and Representation, Oxford/ Malden: Blackwell.
Papineau, D. 1993, Philosophical Naturalism, Oxford/ Malden: Blackwell.
Papineau, D. 1996, „Doubtful Intuitions“, Mind & Language 11, 130–132.
Papineau, D. 2001, „The Status of Teleosemantics, or How to Stop Worrying about Swampman“,
Australasian Journal of Philosophy 79, 279–289.
Papineau, D. 2003a, The Roots of Reason. Philosophical Essays on Rationality, Evolution and
Probability, Oxford: Oxford University Press.
Papineau, D. 2003b, „Is Representation Rife?“, Ratio 16, 107–123.
Papineau, D. 2005, „Die Evolution des Zweck-Mittel-Denkens“, Der Geist der Tiere, hrsg. von D.
Perler und M. Wild, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 244–291.
Pappas, G. S. 1989, „Sensation and Perception in Reid“, Noûs 23, 155–167.
Parfit, D. 2008, „Persons, Bodies, and Human Beings“, Contemporary Debates in Metaphysics,
hrsg, von T. Sider et al., Oxford/ Malden: Blackwell, 177–208.
Parsons, G. und A. Carlson 2009, Functional Beauty, Oxford: Oxford University Press.
Peacocke, C. 2001, „Does Perception Have a Nonconceptual Content?“, Journal of Philosophy 98,
239–264.
Peirce, C. S. 1931-1958, The Collected Papers of Charles Sanders Peirce, hrsg. von C. Hartshorne et
al., Cambridge: Harvard University Press.
Peirce, C. S. 1967, Schriften zum Pragmatismus und Pragmatizismus, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Perlman, M. 2004 (Hg.), On Functions. The Monist 87.
Pietroski, P. M. 1992, „Intentionality and Teleological Error“, Pacific Philosophical Quarterly 73,
267–282.
Preston, B. 1998, „Why is a Wing Like a Spoon? A Pluralist Theory of Function“, The Journal of
Philosophy, 215–245.
Price, C. 2001, Functions in Mind. A Theory of Intentional Content, Oxford: Oxford University
Press.
Price, H. 2004, „Naturalism without Representationalism“, Naturalism in Question, hrsg. von D.
Macarthur und M. de Caro, Cambridge: Harvard University Press, 58–77.
Proust, J. 1997, Comment l’ésprit vient aux bêtes. Essai sur la représentation, Paris: Gallimard.
543
Putnam, H. 1986, „Information and the Mental“, Truth and Interpretation. Perspectives on the
Philosophy of Donald Davidson, hrsg. von E. LePore, Oxford/ Malden: Blackwell, 135–
147.
Putnam, H. 1992, Renewing Philosophy. Cambridge: Harvard University Press.
Putnam, H. 1998, „Pragmatism and Realism”, The Revival of Pragmatism. New Essays on Social
Thought, Law, and Culture, hrsg. von M. Dickstein, Durham: Duke University Press, 37–
53.
Rattner Gelbart, N. 2000, „The Medical World of Early Modern France (Review)“, Journal of
Social History 34, 199–202.
Rees, M. 2005, „Explaining the Universe“, Explanations. Styles of Explanation in Science, hrsg von
J. Cornwell, Oxford: Oxford University Press, 39–66.
Regan, T. 1988, The Case for Animal Rights, London: Routledge.
Reid, T. 1983, The Works of Thomas Reid, hrsg. von W. Hamilton, Hildesheim usw.: Georg Olms.
Reid, T. 1997, An Inquiry into the Human Mind on the Principles of Common Sense, hrsg. von
D. R. Brookes, Edinburgh: Edinburgh University Press.
Ridley, M. 1989, „The Cladistic Solution to the Species Problem“, Biology and Philosophy 4, 1–16.
Ridley, M. 2005, Evolution, Oxford/ Malden: Blackwell (3. Auflage).
Ritter, J. 1971-2007 (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel: Schwabe.
Robinson, H. 1994, Perception, London: Routledge.
Rock, I. 1985, Wahrnehmung. Vom visuellen Reiz zum Sehen und Erkennen, Heidelberg:
Spektrum der Wissenschaft.
Roesler, A. 2000, „Vermittelte Unmittelbarkeit. Aspekte einer Semiotik der Wahrnehmung bei
Charles S. Peirce“, Die Welt als Zeichen und Hypothese. Perspektiven des semiotischen
Pragmatismus von Charles S. Peirce, hrsg. von U. Wirth, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 112–
129.
Rorty, R. 1979, Philosophy and the Mirror of Nature, Oxford/ Malden: Blackwell.
Rosenberg, A. 1990, „Is There an Evolutionary Biology of Play?“, Interpretation and Explanation
in the Study of Animal Behaviour, Vol 1: Interpretation, Intentionality, and
Communication, hrsg. von M. Bekoff und D. Jamieson, Boulder: Westview Press, 180–196.
Rosenberg, A. 2006, Darwinian Reductionism: Or, How to Stop Worrying and Love Molecular
Biology, Chicago: University of Chicago Press.
Rosenberg, J. F. 2007, Wilfrid Sellars. Fusing the Images, Oxford: Oxford University Press.
Rosenthal, S. 2004, „Peirce’s Pragmatic Account of Perception: Issues and Implications“, The
Cambridge Companion to Peirce, hrsg. von C. Misak, Cambridge: Cambridge University
Press, 193–213.
Rothschild, L. J. et al. 2001, „Life in Extreme Environments“, Nature 409, 1092–1101.
Rountree, J. 1997, „The Plausibility of Teleological Content Ascriptions: A Reply to Pietroski“,
Pacific Philosophical Quarterly 78, 404–420.
544
Rowlands, M. 1997, „Teleological Semantics“, Mind 106, 279–304.
Rowlands, M. 2006, Body Language. Representation in Action, Cambridge: MIT Press.
Ruse, M. 2003, Darwin and Design. Does Evolution Have a Purpose?, Cambridge: Harvard
University Press.
Ryder, D. 2004, „SINBAD Neurosemantics. A Theory of Mental Representation“, Mind and
Language 19, 211–240.
Scarantino, A. 2003, „Affordances Explained“, Philosophy of Science 70, 949–961.
Schantz, R. 2001, „The Given Regained. Reflections on the Sensuous Content of Experience”,
Philosophy and Phenomenological Research 62, 167–180.
Schapp, W. 1976, Beiträge zur Phänomenologie der Wahrnehmung, Wiesbaden: Heymann (1910).
Scheele, M. 2006, „Function and Use of Technical Artefacts. The Social Conditions of Function
Assignment“, Studies in the History and Philosophy of Science 37, 23–36.
Schlosser, G. und M. Weingarten 2002 (Hg.), Formen der Erklärung in der Biologie, Berlin: Verlag
für Wissenschaft und Bildung 2002.
Schmid, S. 2006, „Repräsentationalismus, Halluzinationen und Universalien. Ontologische
Überlegungen zu Fred Dretskes Repräsentationalismus“, Facta Philosophica 8, 53–77.
Schmid, S. 2009, Finalursachen in der frühen Neuzeit. Eine Untersuchung der Transformationen
teleologischer Erklärungen (unveröffentlichte Dissertation an der Humboldt-Universität zu
Berlin).
Schnädelbach, H. 1992, „Rationalität und Normativität“, ders. Zur Rehabilitierung des animal
rationale, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 79–103.
Schneider, H.-J. 1998, „Mentale Zustände als metaphorische Schöpfungen“, Wittgensteins
Spätphilosophie. Analysen und Probleme, hrsg. von W. Kellerwessel und T. Peuker,
Würzburg: Königshausen & Neumann, 209–226.
Schönrich, G. 1990, Zeichenhandeln. Untersuchungen zum Begriff einer semiotischen Vernunft im
Ausgang von C. S. Peirce, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Schopenhauer, A. 1988, Arthur Schopenhauers Werke in fünf Bänden, hrsg. von L. Lütkehaus,
Zürich: Haffmans.
Schwartz, R. 1994, Vision. Variations on Some Berkeleian Themes, Oxford: Blackwell.
Scruton, R. 1981, „Photography and Representation“, Critical Inquiry 7, 577–603.
Searle, J. R. 1992, The Rediscovery of the Mind, Cambridge: MIT Press.
Searle, J. R. 1994, „The Connection Principle and the Ontology of the Unconscious. A Reply to
Fodor and Lepore”, Philosophy and Phenomenological Research 54, 847–855.
Searle, J. R. 1997, Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Zur Ontologie sozialer
Tatsachen, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.
Searle, J. R. 2005, „Der Geist der Tiere“, Der Geist der Tiere, hrsg. von D. Perler und M. Wild,
Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 123–152.
Seeley, T. D. 1997, Honigbienen. Im Mikrokosmos des Bienenstocks, Basel: Birkhäuser.
545
Sellars, W. 1963, Science, Perception and Reality, London: Routledge & Kegan Paul/ New York:
The Humanities Press 1963.
Sellars, W. 1968, Science and Metaphysics. Variations on Kantian Themes, London: Routledge &
Kegan Paul/ New York: The Humanities Press.
Sellars, W. 1973, „Reply to Marras“, Canadian Journal of Philosophy 2, 485–493.
Sellars, W. 1979, Naturalism and Ontology, Atascadero: Ridgeview.
Sellars, W. 1980, „Behaviorism, Language, Meaning“, Pacific Philosophical Quarterly 61, 3–30.
Sellars, W. 1997, Empiricism and the Philosophy of Mind, Cambridge: Harvard University Press
1997.
Sellars, W. 2007, In the Space of Reasons. Selected Essays of Wilfrid Sellars, Cambridge: Harvard
University Press.
Shea, N. 2005, On Millikan, Belmont: Thompson Wadsworth.
Shea, N. 2007, „Representation in the Genome, and Other Inheritance Systems“, Biology and
Philosophy 22, 313–331.
Shoemaker, S. 1996, The First-Person Perspective and Other Essays, Cambridge: Cambridge
University Press.
Short, T. L. 2007, Peirce’s Theory of Signs, Cambridge: Cambridge University Press.
Siegert, M. J. et al. 2001, „Physical, Chemical and Biological Processes in Lake Vostok and Other
Antarctic Subglacial Lakes“, Nature 414, 603–609.
Singer, P. 1994, Praktische Ethik, Stuttgart: Reclam.
Smith, N. H. 2002 (Hg.), Reading McDowell. On Mind and World, London: Routledge.
Sober, E. 1980, „Evolution, Population Thinking and Essentialism“, Philosophy of Science 47,
350–383.
Sober, E. 1990, „Putting the Function Back into Functionalism”, Mind and Cognition. A Reader,
hrsg. von W. Lycan, Oxford/ Malden: Blackwell, 97–106.
Sombart, W. 1938, Vom Menschen. Versuch einer geisteswissenschaftlichen Anthropologie, Berlin:
Duncker & Humblot.
Sosa, E. 1991, Knowledge in Perspective, Cambridge: Cambridge University Press.
Sosa, E. 1992, „Generic Reliabilism and Virtue Epistemology”, Philosophical Issues 2 (Rationality
in Epistemology), 79–92.
Sosa, E. 1997, „Reflective Knowledge in the Best Circles“, Journal of Philosophy 94, 410–430.
Spaemann, R. und R. Löw 1981, Die Frage Wozu? Geschichte und Wiederentdeckung des
teleologischen Denkens, München: Piper.
Spinoza, B. 1999, Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt, Hamburg: Meiner.
Staudacher, A. 2008, „Thomas Reids semiotischer Realismus“, Sehen und Begreifen.
Wahrnehmungstheorien in der frühen Neuzeit, hrsg. von D. Perler und M. Wild, Berlin: de
Gruyter, 319–346.
546
Stearns, S. C. und R. F. Hoekstra 2005, Evolution. An Introduction, Oxford: Oxford University
Press (2. Auflage).
Steinhart, E. 2001, „Persons Versus Brains: Biological Intelligence in Human Organisms“, Biology
and Philosophy 16, 3–27.
Stemmer, P. 2008, Normativität. Eine ontologische Untersuchung, Berlin: de Gruyter.
Sterelny, K. 1990, The Representational Theory of Mind. An Introduction, Oxford/ Malden:
Blackwell.
Sterelny, K. 2003, Thought in a Hostile World. The Evolution of Human Cognition, Oxford/
Malden: Blackwell.
Sterelny, K. und P. E. Griffiths 1999, Sex and Death. An Introduction to Philosophy of Biology,
Chicago: University of Chicago Press.
Stevens, W. 1997, Collected Poetry and Prose, hrsg. von F. Kermode, New York: The Library of
America.
Stich, S. 1978, „Autonomous Psychology and the Belief-Desire Psychology“, The Monist 61, 573–
591.
Stich, S. 1988, „Reflective Equilibrium, Analytic Epistemology and the Problem of Cognitive
Diversity“, Synthese 74, 391–413.
Stohr, K. und C. H. Wellman 2002, „Recent Work on Virtue Ethics“, American Philosophical
Quarterly 39, 49–72.
Strawson, P. F. 1959, Individuals. An Essay in Descriptive Metaphysics, London: Methuen.
Strawson, P. F. 1979, „Perception and its Objects“, Perceptual Knowledge, hrsg. von J. Dancy,
Oxford: Oxford University Press, 92–112.
Stroud, B. 2004, „The Charm of Naturalism“, Naturalism in Question, hrsg. von D. Macarthur und
M. de Caro, Cambridge: Harvard University Press, 21–35.
Stuart-Fox, D. et al. 2007, „Natural Selection on Social Signals. Signal Efficacy and the Evolution of
Chameleon Display Coloration“, American Naturalist 170, 916–930.
Sukopp, T. 2007 (Hg.), Naturalismus. Positionen, Perspektiven, Probleme, Tübingen: Mohr
Siebeck.
Swanton, C. 2003, Virtue Ethics. A Pluralistic View, Oxford University Press.
Tauber, A. 1994, The Immune Self, Theory or Metaphor?, Cambridge: Cambridge University Press.
Thomas Keprta, K. L. et al. 2000, „Elongated Prismatic Magnetite Crystals in ALH84001
Carbonate Globules: Potential Martian Magnetofossils“, Geochim. Cosmochim. Acta 64,
4049–4081.
Thompson, E. 1995, Colour Vision. A Study in Cognitive Science and the Philosophy of
Perception, London: Routledge.
Thompson, M. 1995, „The Representation of Life“, Virtues and Reasons. Philippa Foot and Moral
Theory. Essays in Honour of Philippa Foot, hrsg. von R. Hursthouse et al., Oxford:
Clarendon Press, 247–296.
547
Thompson, M. 2004, „Apprehending Human Form“, Modern Moral Philosophy, hrsg. A. O’Hear,
Cambridge: Cambridge University Press, 47–74.
Thompson, M. 2008, Life and Action. Elementary Structures of Practice and Practical Thought,
Cambridge: Harvard University Press.
Thomson, J. J. 1996, „Moral Objectivity“, dies. und G. Harman, Moral Relativism and Moral
Objectivity, Oxford/ Malden: Blackwell, 65–154.
Thomson, J. J. 2007, „Normativity“, Oxford Studies in Metaethics 2, 240–266.
Thomson, J. J. 2008, Normativity, Chicago: Open Court.
Tinbergen, N. 1963, „On Aims and Methods in Ethology“, Zeitschrift für Tierpsychologie 20, 410–
433.
Toepfer, G. 2004, Zweckbegriff und Organismus. Über die teleologische Beurteilung biologischer
Systeme, Würzburg: Königshausen & Neumann.
Travis, C. 2004, „The Silence of the Senses“, The Monist 113, 57–94.
Tugendhat, E. 1979, Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung. Sprachanalytische Interpretationen,
Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Tye, M. 1995, Ten Problems of Consciousness, Cambridge: MIT Press.
Tye, M. 2000, Consciousness, Color, and Content, Cambridge: MIT Press.
Tye, M. 2005, „Nonconceptual Content, Richness, and Fineness of Grain“, Perceptual Experience,
hrsg. von T. Gendler und J. Hawthorne, Oxford: Oxford University Press, 504–529.
Valberg, J. J. 1992, The Puzzle of Experience, Oxford: Clarendon.
Valéry, P. 1957, Oeuvres t. 1, hrsg. von J. Hytier, Paris: Gallimard.
Van Inwagen, P. 1990, Material Beings, Ithaca/ London: Cornell University Press.
Van Cleve, J. 2004, „Reid’s Theory of Perception“, The Cambridge Companion to Reid, hrsg. von
T. Cuneo und R. van Woudenberg, Cambridge: Cambridge University Press, 101–133.
Van Inwagen, P. 2002, „What Do We Refer to When We Say’I’?“, The Blackwell Guide to
Metaphysics, hrsg. von R. M. Gale, Oxford/ Malden: Blackwell, 175–189.
van Loon, A. J. 2005, „The Needless Search for Extraterrestrial Fossils on Earth“, Earth-Science
Review 68, 335–346.
van Schaik, C. 2007, „Culture in Primates and Other Animals“, Oxford Handbook of Evolutionary
Psychology, hrsg. von R. I. M. Dunbar und L. Barrett, Oxford: Oxford University Press,
103–114.
Vermaas P. E. und W. Houkes 2003, „Ascribing Functions to Technical Artefacts. A Challenge to
Etiological Accounts of Function“, British Journal for the Philosophy of Science, 261–289.
Virilio, P. 1989, Der negative Horizont. Bewegung, Geschwindigkeit, Beschleunigung, München:
Carl Hanser.
Vision, G. 1997, Problems of Vision. Rethinking the Causal Theory of Perception, New York:
Oxford University Press.
548
von Frisch, K. 1923, Über die ‚Sprache’ der Bienen. Eine tierpsychologische Untersuchung
(Sonderabdruck aus ‚Zoologische Jahrbücher’. Abteilung für Allgemeine Zoologie und
Physiologie, Bd. 40, 1–186).
von Wright, G. H. 1963, Norm and Action, London: Routledge & Kegan Paul.
Walsh, D. M. 2002, „Brentano’s Chestnuts“, Functions. New Readings in the Philosophy of
Biology and Psychology, hrsg. von A. Ariew, Oxford: Oxford University Press, 314–337.
Walton, K. 1984 „Transparent Pictures: On the Nature of Photographic Realism“, ders. Marvelous
Images. On Values and the Arts, Oxford University Press 2008, 79–132.
Weber, M. 2005, „Genes, Causation and Intentionality“, History and Philosophy of the Life
Sciences 27, 399–411.
Weber, M. 2008, „Critical Notice: Alex Rosenberg, Darwinian Reductionism“, Biology and
Philosophy 23, 143–152.
Weinberg, J., S. Nichols und S. Stich 2001, „Normativity and Epistemic Intuitions“, Philosophical
Topics 29, 429–460.
Whiten, A. et al. 1999, „Cultures in Chimpanzees“, Nature 399, 682–685.
Wiggins, D. 1998, Need, Values, Truths, Oxford: Oxford University Press.
Wild, M. 2005, „Begrifflicher und nichtbegrifflicher Gehalt der Wahrnehmung“, Stoffe. Zur
Geschichte und Theorie der Materialität, hrsg. von U. Naumann et al., Freiburg: Breisgau
2005, 245–262.
Wild, M. 2006, Die anthropologische Differenz. Der Geist der Tiere in der Frühen Neuzeit bei
Montaigne, Descartes und Hume, Berlin: de Gruyter.
Wild, M. 2008a, „Critical Reflections on Affective Epistemology“, Epistemology and Emotions,
hrsg. von G. Brun et al., London: Ashgate, 125–148.
Wild, M. 2008b, Tierphilosophie, Hamburg: Junius.
Willaschek, M. 2003, Der mentale Zugang zur Welt. Realismus, Skeptizismus, Intentionalität,
Frankfurt a. M.: Klostermann.
Williams, G. C. 1996, Adaptation and Natural Selection. A Critique of some Current Evolutionary
Thought, Princeton: Princeton University Press.
Wilson, D. S. 2005, „Evolutionary Social Constructivism“, The Literary Animal. Evolution and the
Nature of Narrative, hrsg. von J. Gottschall und D. S. Wilson, Evanston: Northwestern
University Press, 20–37.
Wittgenstein, L. 1984, Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Wolf, U. 2004, Das Tier in der Moral, Frankfurt a.M.: Klostermann.
Wollheim, R. 1980, Objekte der Kunst, Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Wolterstorff, N. 1980, Works and Worlds of Art, Oxford: Clarendon Press.
Wolterstorff, N. 2001, Thomas Reid and the Story of Epistemology, Cambridge: Cambridge
University Press.
549
Wolterstorff, N. 2001, „Thomas Reid and the Story of Epistemology“, Cambridge: Cambridge
University Press 2001.
Woodward, J. 2003, Making Things Happen. A Theory of Causal Explanation, Oxford: Oxford
University Press.
Wright, E. 2008 (Hg.), The Case for Qualia, Cambridge: MIT Press.
Wright, L. 1973, „Functions“, Philosophical Review 82, 139–168.
Wright, L. 1976, Teleological Explanations, Berkeley: University of California Press.
Yantis, S. 2001 (Hg.), Visual Perception. Essential Readings, Philadelphia: Taylor & Francis.
Young, J. 1987, Willing and Unwilling. A Study on the Philosophy of Arthur Schopenhauer,
Dordrecht: Martinus Nijhoff.
Zangwill, N. 2007, Aesthetic Creation, New York: Oxford University Press.
550