INDIVIDUALISIERTE MEDIZIN
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Die neue
Medizin
und ihre
Versprechen
Die individualisierte Medizin birgt Potenziale, aber auch Gefahren,
die erkannt werden müssen. Sie muss sich ihrer Verantwortung
gegenüber dem einzelnen Patienten bewusst werden.
ersonalisierte oder individualisierte Medizin ist in aller
Munde. Die beiden, in der Regel
synonym verwendeten Bezeichnungen stehen für einen stärker gewordenen Trend in der Medizin.
Groß angelegte Forschungsverbünde (etwa der „Greifswald Approach
to Individualized Medicine“ –
GANI_MED), die zunehmende Anzahl von Publikationen, öffentliche
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Veranstaltungen zum Thema und
offizielle Stellungnahmen (zum
Beispiel vom Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen
Bundestag) bestätigen diesen Eindruck (1). Dabei haftet dem Begriff,
so wird allseits festgestellt, eine
terminologische Unsicherheit an.
Ja, der Verweis auf das Individuum
beziehungsweise die Person führt
geradewegs in die Irre, handelt es
sich doch gerade nicht um eine Medizin, die sich an den individuellen
Bedürfnissen des einzelnen Patienten orientiert.
Wofür individualisierte Medizin
steht, variiert tatsächlich von Kontext zu Kontext und von Redner zu
Redner. Ob damit eine pharmakogenetische Forschungsrichtung gemeint ist, die genetische und biochemische Unterschiede und Varianten
im menschlichen Körper zu erfassen
versucht, ob es sich um individuell
maßgeschneiderte Therapieansätze,
um die prognostische Ermittlung eines individuellen Risikoprofils oder
um eine stärkere Patientenorientierung im Gesundheitswesen handelt –
eines scheint jedenfalls festzustehen:
Individualisierte Medizin weckt bei
Forschungsinstitutionen, Leistungsanbietern und Patienten gleichermaßen hohe Erwartungen. Selbst die
Politik verspricht sich von der personalisierten Medizin Einsparungen
im Gesundheitswesen. Längst bieten
auch internistische und allgemeinmedizinische Praxen die Erstellung
eines individuellen Risikoprofils an
und nennen dieses Verfahren „personalisierte Medizin“. Es ist nur eine
Frage der Zeit, wann sich dieser Begriff auch in einer breiteren Öffentlichkeit etablieren wird.
Patientenverbände reagieren bereits jetzt auf die neue Medizin und
geben sich durchaus hoffnungsfroh.
So setzt der Vorsitzende des Landesverbandes Nordrhein-Westfalen
des Deutschen Diabetikerbundes,
Martin Hadder, seine Hoffnungen
auf die erst kürzlich ins Leben gerufene Gesellschaft für Personalisierte Medizin in Europa (www.epma
net.eu): Ein personalisierter Therapieansatz, so Hadder auf der Homepage der Gesellschaft, sei lebenswichtig für Diabetiker, die allzu
oft nach einem Standardverfahren,
aber nicht individuell angepasst
therapiert würden.
Welche Erwartungen suggeriert
eine Medizin, die sich als personalisierend und individualisierend bezeichnet, und entsprechen diese Erwartungen den tatsächlichen Zielen
in diesem zukunftsorientierten Forschungsbereich? Man wird zunächst gut daran tun, die Begriffe
wie Individualität, Individualisie-
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THEMEN DER ZEIT
rung und Personalisierung in ihren
aktuellen wie historischen Verwendungen näher zu betrachten.
Der individuelle Faktor
in der Medizin
Im Zeitalter der Globalisierung, in
dem Massenanfertigung sogar den
Luxuskonsumbereich erreicht hat,
gehört es zu den kleinen Auswegen,
Objekte – etwa Autos, Handys,
Laptops – „personalisieren“ zu lassen. Und vielleicht ist die provokativ anmutende Parallele zwischen
personalisierter Medizin und dem
kommerziellen Bestreben nicht allzu abwegig. Offenbar scheint den
zwei Bereichen die Motivation gemeinsam zu sein, der Standardisierung von Produkten (Autos wie
auch Medikamenten) einen individuellen Bedarf entgegensetzen zu
wollen, welcher der Ausdifferenzierung von Wünschen und Ansprüchen entspricht.
Medizinhistorisch betrachtet ist
dies kein neues Phänomen. In der
Medizin besteht eine viel ältere Tradition, in der die Auseinandersetzung mit der Person des Patienten,
mit seiner ganz individuellen Situation im Kranksein, wesentlich ist.
Es ist der Duktus der hippokratischen Medizin, in der das Individuum, seine Krankheit und die Umwelt drei konstitutive Varianten darstellen, durch die der Arzt immer
von Neuem herausgefordert wird.
Generationen von Medizinern haben um diesen individuellen Faktor
gerungen und darin sowohl die Essenz einer praktisch orientierten
Medizin als auch eine Bedrohung
für den wissenschaftlichen Anspruch der Disziplin erkannt. Als
sich im 19. Jahrhundert die Medizin
als exakte Wissenschaft zu profilieren begann, hat sie sich umso entschiedener vom individuellen Faktor zu distanzieren versucht. Die
Quantifizierungsbestrebungen und
die Suche nach aussagekräftigen,
sicheren Durchschnitts-, Normalund Abweichungswerten begleiteten
den anstrengenden Kampf gegen
die Willkür der Variation. Die naturwissenschaftlich-exakte Medizin – so
sehr sie sich in mancherlei Hinsicht
auch als Erfolgsmodell entpuppte –
blieb allerdings nicht unwiderspro-
chen. Immer wieder traten Ärzte
mit dem Anspruch hervor, die Medizin müsse stärker am Individuum
ausgerichtet sein. Im 20. Jahrhundert wurden diese Forderungen immer dann besonders laut, wenn sich
die Medizin und der Medizinbetrieb
in einer Krise befanden. Beispielsweise in den 1920er Jahren, als sich
unter den Medizinern eine Gegenbewegung zur naturwissenschaftlichen Medizin des ausgehenden
19. Jahrhunderts formierte. Den Patienten wieder in den Mittelpunkt
rücken, lautete die damalige Devise.
Der Arzt behandele nicht Bakterien
oder defekte Organe, sondern kranke Menschen, so etwa einer der berühmtesten Vertreter der anthropologischen Medizin, Viktor von
Weizsäcker (2). Dieser ganzheitliche Ansatz, der nicht zuletzt die
Psychosomatik entscheidend voranbrachte, war jedoch nicht die einzige Strömung, die von diesem neuen Anliegen der Individualisierung
profitierte. Die Konstitutionsforschung der 20er und 30er Jahre des
letzten Jahrhunderts ist der heutigen
Forschung über Gen- und Biomarker in mancherlei Hinsicht verblüffend ähnlich (3). Sie wandte sich ebenso Patienten- und
Probandenkohorten zu, um
sie nach morphologischen
und biopsychischen Merkmalen weniger zu individualisieren als zu stratifizieren und zu typisieren – eine
Methode, die heute mit der
neuesten Informationstechnologie
sicherlich eine ganz neue Dimension gewinnt. Zumindest den Anspruch, dabei individualisierend
vorzugehen beziehungsweise die
Individualität eigentlich erst erfassen zu können, um sie in einem
zweiten Schritt zurück zum Typus
zu führen, teilt die damalige Konstitutionsforschung mit einigen der
aktuellen Forschungsanliegen.
Potenziale und Gefahren
der neuen Medizin
Ist also die aktuelle Tendenz der
Medizin, sich mit individuellen
Varianten auseinanderzusetzen und
diese in Therapie- und Präventionsprogrammen zu berücksichtigen,
gar nicht so neu? Sicherlich nicht,
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denn sie wurzelt in einer Tradition,
die zwar keineswegs linear verlief,
sich jedoch in den jeweiligen kulturellen Kontexten ausdifferenzieren
konnte. Die Ziele der gesundheitsfördernden Medizin lassen sich mit
denen vergleichen, nach denen die
in der Antike entstandene Hygiene
immer schon strebte. Und im Grunde genommen steht auch der personalisierte Ansatz als der Königsweg, der dem individuellen Faktor
in der Medizin gerecht werden soll,
damals wie heute im Zentrum
gesundheitsfördernden Bestrebens.
Doch die Daten, die die Medizin
heute vom Patienten/Probanden erhebt, in Datenbanken bewahrt und
für die Forschung, auch der künftigen, verfügbar macht, erweisen sich
als „offene“ Informationsquelle und
erhalten dadurch eine entschieden
neue Valenz (4).
Auch wenn die klinische Anwendung der individualisierten Medizin
noch in den Kinderschuhen steckt,
lassen es die durch IT-Technologie
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Pharma
erweiterten
Möglichkeiten der Informationsgewinnung trotz alledem
angebracht erscheinen, von einer
Wende mit epistemologischer und
ethischer Tragweite zu reden. Eine
Wende, der sicherlich ein großes
Potenzial innewohnt. Doch für die
Entfaltung dieses Potenzials sind
eine kontextbezogene Reflexion
und moralische Vergewisserung
notwendig. Vor allem muss sich die
personalisierte Medizin der Verantwortung bewusst sein, die sie dem
individuellen Patienten gegenüber
in Zukunft zu erbringen hat.
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THEMEN DER ZEIT
Die individualisierte Medizin
weckt Hoffnungen, die schwer zu
befriedigen sind. Laien stellen sich
darunter eine Medizin vor, die sich
dem Patienten als Individuum mit
spezifischen Vorstellungen und
Wünschen widmet. Sie erwarten
von einem Arzt, der diese Leistung
anbietet, dass er sich Zeit für die
Patienten nimmt, sie sorgfältig untersucht und die für sie zutreffende
Therapie oder den guten Rat zur angemessenen gesundheitsfördernden
Lebensführung erteilen kann.
Wie sie heute angelegt ist, kann
die individualisierte Medizin diese
Erwartungen nur beschränkt erfüllen.
Sie bietet präzisere, individuell abgestimmte Therapien an, und der Patient, der in den Genuss eines solchen medizinischen Angebots kommt,
geht von einer deutlich höheren
Wahrscheinlichkeit des therapeutischen Erfolgs aus. Sie lässt Versprechungen eines effektiveren Gesundheitssystem zu, in dem die Behandlungskosten chronischer Krankheiten
(Diabetes mellitus, Herz-KreislaufErkrankungen, Krebserkrankungen)
dank der Verwendung effektiverer
Medikamente gesenkt werden könnten. Hier drängt sich allerdings die
Frage auf, ob die Ausdifferenzierung
des pharmazeutischen Angebots weg
vom Breitspektrum-Medikament hin
zum individualisierten Pharmakon
ein exklusives, nur wenigen Patienten zugängliches Angebot nach sich
ziehen wird. Damit ist aber eine Reihe anderer Fragen medizinethischer
Tragweite verknüpft, die die individualisierte Medizin generiert und mit
denen wir uns ernsthaft auseinandersetzen müssen:
● Ist es statthaft, angesichts der
finanziell prekären Lage des deutschen Gesundheitssystems die individualisierte Medizin zur Medizin
der Zukunft zu deklarieren?
● Wie lässt sich garantieren,
dass ein individualisiertes, medizinisches Angebot für alle zur Verfügung gestellt werden kann?
● Stehen die Investitionen, die
derzeit für diesen Trend in der Medizin mobilisiert werden, in einem
nachvollziehbaren Verhältnis zu
den erwarteten Ergebnissen?
Gerechtigkeits-, Allokations- und
Nachhaltigkeitsprobleme tauchen
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in diesem Zusammenhang auf und
erhalten ein neues Gewicht dadurch, dass sie von den Fragen
nach dem sich wandelnden Sinn
und Zweck der Medizin nicht zu
trennen sind. Denn die individualisierte Medizin beschränkt sich
den, in denen immer gesündere
Menschen dank der Medizin immer älter werden und ganz gesund
sterben könnten. Die Geschichte
der individualisierenden Bestrebungen in der Medizin zeigt, welche gegensätzlichen Zielsetzungen
Vor allem muss sich die personalisierte Medizin der
Verantwortung bewusst sein, die sie dem individuellen
Patienten gegenüber in Zukunft zu erbringen hat.
nicht auf die präzisere Bestimmung von Therapien durch eine
Individualisierung von Medikamenten. Sie belegt zunehmend den
prädiktiven Bereich, stellt Risikoprofile her, macht „noch gesunde“
Menschen auf ihre Prädispositionen aufmerksam, um vor dem Eintreten von Erkrankungen vorbeugende Maßnahmen für sie zu entwickeln. In diesem Sinne besetzt
die individualisierte Medizin nach
und nach einen Bereich, der bisher
privates Eigentum war: die Zeit
vor der Erkrankung, die Zeit des
noch gesunden Lebens.
Warnung vor allzu
optimistischen Visionen
Die Verantwortung der Medizin
wird sehr groß sein, allein schon
aufgrund der existenziellen Tragweite der Informationen, die sie
dem Individuum zur Verfügung
stellt. Künftig wird die Herausforderung darin bestehen, solche
Informationen zu deuten, zu „übersetzen“, ihrem Wahrscheinlichkeitsgehalt gemäß zu gewichten,
um sie als Grundlage für einen
kompetenten Umgang mit Gesundheitserhaltung und Krankheitsvorbeugung zu nutzen. Kurzum: In
der Medizin muss eine hermeneutische Praxis etabliert werden (5).
Medizinethische und kommunikative Soft Skills gehören zu den
zentralen Voraussetzungen jener
Ärzte, die in Zukunft einen bewusst individualisierten medizinischen Ansatz anbieten werden.
Das unverkennbare Potenzial dieses medizinischen Trends kann
und sollte entfaltet werden, doch
muss vor allzu optimistischen visionären Szenarien gewarnt wer-
im Namen des individuellen Patienten verfolgt wurden, wenn dieser zum Typus standardisiert und
dementsprechend in seiner Einzigartigkeit geradezu verkannt wurde.
Sie zeigt aber auch, wie die Medizin dank ihrer zutiefst anthropologischen Dimension der ernsthaften
Auseinandersetzung mit dem individuellen Faktor gerecht werden
kann. Sollte es der individualisierten Medizin gelingen, die quantitativ und qualitativ immens werdende Informationsmenge von/über
Patienten und Probanden mit kulturellem und moralischem Bewusstsein zu flankieren, wären die
Chancen und Aussichten, ihre Versprechen zu halten, noch größer als
bisher erhofft.
■
Prof. Dr. phil. Dr. rer. med. Mariacarla
Gadebusch Bondio, Dr. Susanne Michl,
Institut für Geschichte der Medizin
Ernst-Moritz-Arndt Universität Greifswald
LITERATUR
1. Siehe hierzu auch Hempel U: Personalisierte Medizin I: Keine Heilkunst mehr, sondern
rationale, molekulare Wissenschaft. Dtsch
Arztebl 2009; 106(42): A 2068; und Krüger-Brand H: Personalisierte Medizin II: Die
Komplexität ist ohne IT nicht beherrschbar.
Dtsch Arztebl 2009; 106(42): A 2072.
2. von Weizsäcker V: Der kranke Mensch. Eine
Einführung in die medizinische Anthropologie, Stuttgart: Koehler 1951; ders.: Arzt und
Kranker, Stuttgart: Koehler 1949.
3. Siehe stellvertretend für zahlreiche Werke
Kretschmer E: Körperbau und Charakter.
Untersuchungen zum Konstitutionsproblem
und zu der Lehre von den Temperamenten,
Berlin: Springer 1942.
4. Breidbach O: Neue Wissensordnungen. Wie
aus Informationen und Nachrichten kulturelles Wissen entsteht, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2008.
5. MacIntyre A: Der Verlust der Tugend. Zur
moralischen Krise der Gegenwart. (aus dem
Englischen von Wolfgang Rhiel), Frankfurt
am Main 1995: Suhrkamp.
Diese Publikation
ist im Rahmen des
Forschungsverbundes
Greifswald Approach
to Individualized
Medicine (GANI_MED)
entstanden. Das
GANI_MED-Konsortium
wird finanziert von
dem Bundesministerium für Bildung und
Forschung und der
Landesregierung von
Mecklenburg-Vorpommern (03IS2061A).
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