Religiöses Erleben als Motiv in der frühen Rezeption des ZenBuddhisten Dōgen
Von Ralf Müller
1. Über religiöses Erleben im Buddhismus
Buddhismus sei eine Religion des Erlebens1, erklärt 1903 der japanische Mönch und
Buddhist SASAKI Gesshō. Er betont damit die subjektive Qualität und
Subjektbezogenheit von Religion. Das Wesen des Buddhismus erschließe sich nicht
durch eine Beschreibung von Ritualen, festgelegten Glaubensgrundsätzen oder durch
Kenntnis scholastischer Texte, sondern nur durch die erlebnishafte, erfahrungsgesättigte
Innenperspektive, also durch den je eigenen Nachvollzug eines buddhistisch
ausgerichteten Lebens. Sasaki trifft damit ein Motiv, das dem westlichen Leser durch
William JAMES’ Vorlesungen zum Thema The Varieties of religious experience 2
bekannt scheint.
Auf den folgenden Seiten wird gezeigt, wie sehr das Motiv des Erlebens auch in der
frühen Rezeption des Zen-Buddhisten DŌGEN Kigen wirkt. Unter diesem Motiv werden
hier verschiedensprachige Wörter wie Erfahren, Erleben, experience oder jap. taiken,
jikken u.a. zusammengefasst, die in drei Schriften zu Dōgen aus den Jahren 1903, 1912
und 1922 eine zentrale Funktion übernehmen. Ein unmittelbarer Zusammenhang mit
James’ Varieties, die 1902 erscheinen, lässt sich aus den Texten nicht ablesen, da sie
unter den spärlich zitierten Büchern europäischsprachiger Herkunft nicht vorkommen.
Betrachtet man aber den Buddhismus, wie es gemeinhin getan wird, als
erfahrungsbasierte Religion, scheint eine Empfänglichkeit für James’ Motiv
naheliegend. Umgekehrt lässt sich auch die Frage, der hier nicht nachgegangen wird,
aufwerfen, inwieweit James für seine Vorlesungen über religiöse Erfahrungen Impulse
aus einer sich zum Ende des 19. Jahrhunderts hin intensivierenden Beschäftigung mit
asiatischen Religionen empfängt. Das Interesse an diesen Traditionen unter den
Transzendentalisten Neuenglands, deren Lektüre sich auch in den Varieties zeigt, ist
bereits diskutiert worden.3
Unabhängig von bestimmten historischen Konstellationen der Rezeption weist
Richard GOMBRICH in seinem Beitrag Religious Experience in Early Buddhism? auf
zwei interessante Parallelen zwischen der Lehre Buddhas und James’
Religionsphilosophie hin:
„The first similarity that strikes me between the views of William James and the Buddha
is set out in a letter that James wrote about his aim in writing the book: 'The problem I
have set myself is a hard one: first, to defend ... >experience< against philosophy as being
1
2
3
SASAKI 1903, 8.
Im Folgenden wird der Text als Varities abgekürzt und nach JAMES 1997 zitiert.
Vgl. exemplarisch RUDY 2001; für den weiteren Horizont der amerikanischen BuddhismusRezeption vgl. TWEED 1992.
1
the real backbone of the world's religious life ...' [...] With this we may compare, for
example, the Buddha's answer to the monk Mâlunkya-putta, who wanted him to solve
such metaphysical problems as whether the world was eternal. The Buddha replied that
anyone who refused to lead a religious life till those questions were answered would be
like a man wounded by an arrow who refused to have it removed till he knew the name
and the caste of the man who had shot it [...] A second important similarity between
William James and the Buddha lies in the emphasis on results as the criterion by which to
judge experiences. 'By their fruits ye shall know them, not by their roots,' says James, and
calls this an 'empiricist criterion'. Regardless to their neurological origin, says James, for
the value of 'religious opinions' 'immediate luminousness,... philosophical reasonableness,
and moral helpfulness are the only available criteria'. In his famous sermon to the
Kalamas the Buddha urges them to test whatever they are told on the touchstone of their
own experience.“4
Beide Momente der Übereinstimmung, die Zentralität der eigenen Erfahrung und das
empiristische Kriterium, kehren bei James auf einer neuen Ebene zurück. Denn der
offensichtliche Unterschied zwischen Buddha und James liegt darin, dass letzterer
keine, auf der eigenen Erfahrung aufbauende, religiöse Lehre vertritt, sondern zu der
Vielfalt religiöser Erfahrungen anderer sich theoretisierend verhält und versucht in der
Folge eine Theorie religiöser Erfahrungen aufzustellen.
Nach der sich nun anschließenden Betrachtung James’ und Suzukis, werden im
zweiten Abschnitt die drei japanischen Werke zu Dōgen vorgestellt und im dritten kurz
mit zwei deutschen Beiträgen zum Buddhismus, die ebenfalls in dieser Zeit auf Dōgen
eingehen, kontrastiert. Steht im Mittelpunkt des hiesigen Artikels die historische
Darstellung eines in der japanischen Geistesgeschichte wirksamen Motivs, treten in
dieser Darstellung zugleich Schwierigkeiten einer systematischen Klärung hervor. Im
letzten Abschnitt werden einige dieser Schwierigkeiten aufgegriffen und an Dōgen
selbst verdeutlicht.
1.1 Indische Religiosität in James Vorlesungen
James’ Varieties kulminieren im Kapitel zur Mystik5, die er als „Wurzel“6 von
Religion und Religiosität betrachtet. 7 In eben diesem Kapitel kommt er auch auf
außereuropäische Religionen zu sprechen8 und das Christentum ist nur eine unter den
vielen spirituellen Lebensformen, die spezifische Übungsweisen mystischer
Erfahrungen entwickelt haben:
„Von der spontan auftretenden Form dieses kosmischen oder mystischen Bewußseins
haben wir nun gehört. Als nächstes müssen wir uns seiner methodischen Pflege als einem
4
5
6
7
8
GOMBRICH 1996, 1-2.
JAMES 1997, 383-424.
JAMES 1997, 383.
Ebd.: „Ich denke, es ist richtig zu sagen, daß die persönliche religiöse Erfahrung ihre Wurzel und
ihr Zentrum in mystischen Bewußtseinszuständen hat; daher sollten für uns […] diese
Bewußtseinszustände das wesentliche Kapitel bilden, das alle anderen Kapitel erhellt.“
Zu Buddhismus und Hinduismus äußert sich James vor allem auf den Seiten 293, 350, 398-400,
413, 415-417, 539 und 555.
2
Element religiösen Daseins zuwenden. Hindus, Buddhisten, Mohammedaner und
Christen haben es alle methodisch kultiviert.“9
Frühste Zeugnisse dieser methodischen Kultivierung finden sich auf dem asiatischen
Kontinent: „In Indien ist das Einüben mystischer Einsichten seit undenklichen Zeiten
unter dem Namen Yoga bekannt.“ 10 Vermutlich bereits urgeschichtlich verbreitet,
finden sich in den Upanishaden erste schriftliche Zeugnisse zur Praxis des Yoga, deren
erfahrungshafte Momente im Sanskrit unter den Namen dhyana und samadhi vor gut
2000 Jahren von PATANJALI aphoristisch behandelt worden sind.
Diese Sammlung von Sprüchen ist auch als Yogasutra bekannt und findet sich einer
der von James benutzten Quellen 11 zum Yoga: Er bezieht sich auf Swami
VIVEKANANDAS New Yorker Vorlesungen zum Raja Yoga, die 1896 zusammen mit
einer Übersetzung des Yoga-Sutras erscheinen.12 Im Vorwort schreibt Vivekananda,
ein wichtiger Vertreter des Hinduismus: „Surface scientists, unable to explain the
various extraordinary mental phenomena, strive to ignore their very existence.“13 Damit
spricht er ein Problem an, mit dem sich auch James konfrontiert sieht. Aus seiner Sicht
sind westliche Wissenschaften für diesen Bereich der Welt schlicht blind.
Gleichzeitig hält er wie James an der Möglichkeit einer wissenschaftlichen
Betrachtung religiöser Phänomene fest, wenn man das Verständnis von Wissenschaft
ändert:
„For thousands of years such phenomena have been investigated, studied and generalised,
the whole ground of the religious faculties of man has been analysed, and the practical
result is the science of Râja Yoga.”14
Wenngleich vermittelt über einen weiten Begriff von Erfahrung, der sich nicht auf
naturwissenschaftliche Empirizität reduzieren lässt und dem deutschen Wort Erleben
durchaus nahekommt, bietet sich in der Übung des Yoga ein Zugang zur Welt, dem es
an Realitätsgehalt scheinbar nicht mangelt. Dieses Bedürfnis nach einem authentischen
Zugang zur Welt, findet sich in den unten vorgestellten Interpretationen zu Dōgen in
vergleichbarer Weise formuliert.
1.2 Frühe Quellen zum Buddhismus
James Kenntnisse zum Buddhismus stützten sich vor allem auf Die Religion des
Buddha von C. F. KOEPPEN aus dem Jahre 1857, in dem nur der Beginn des
Buddhismus in Indien abgehandelt wird.15 Koeppen erwähnt zwar im Vorwort auch
9
JAMES 1997, 398.
Ebd.
11
Zum Yoga informiert er sich außerdem in VALMIKI 1891-1899 und KELLNER 1896. Zur
hinduistischen Religion zitiert er außerdem Ramakrishna PARAMAHANSA nach MÜLLER 1899
und die Upanishaden ebenfalls in der Übersetzung nach MÜLLER 1879/1884.
12
Vgl. VIVEVAKANANDA 1899.
13
VIVEVAKANANDA 1899, vii.
14
VIVEKANANDA 1899, viii.
15
Vgl. außerdem OLDENBERG 1881 und WARREN 1896 als Sekundärliteratur in JAMES 1997.
10
3
Vasilij Pavlovic VASIL'EVS Werk 16 , das sich ausführlich mit der chinesischen
Überlieferung und der Entwicklung des Mahayana beschäftigt, aber zur damaligen Zeit
nur auf Russisch zur Verfügung steht. Da sich James selbst nicht um andere Studien
kümmert, hat er kein Bild von den Verzweigungen und Eigenarten des Buddhismus mit
seiner Entwicklung bis zum zeitgenössischen Zen in Japan. Aber er trifft eine
Unterscheidung und greift einen Wort auf, das für die Gründung des Zen zentral ist:
„Die Buddhisten benutzen das Wort ‚Samâdhi’ wie die Hindus; aber ihr eigentliches
Wort für höhere Zustände der Kontemplation ist ‚Dhyâna’“.17
Zwischen dhyana und samadhi gibt es keine für alle Schulen des Buddhismus
verbindliche Unterscheidung. Bisweilen werden sie in sich stark differenziert oder
überlagern einander. Auch neue historische wie philologische Untersuchungen haben
die Begriffe nicht vereindeutigen können und es gilt weiterhin, was Koeppen
konstatiert:
„Die Worte, mit welchen im Buddhismus die abgezogene, tiefe Meditation am
gewöhnlichsten benannt wird, sind Samâdhi, dem das deutsche ‚Sammlung’ am nächsten
kommen möchte, und Dhyâna, ‚Beschauung’. Beide bezeichnen sowohl den Act, wie das
Resultat der Contemplation, sowohl Betrachtung, Versenkung, wie Geistesstille,
ekstastisches Schauen, Verzückung; beide werden wechselseitig oft einander
untergeordnet und bisweilen mit einander verbunden.“18
In jedem Fall laufen sie auf das zu oder umfassen gar das, was als sanskr. bodhi
benannt und geläufig mit Erleuchtung oder Erwachen übersetzt wird. Das buddhistische
Erwachen wird vielmals als ein Moment religiöser Erfahrung oder als mystisches
Erleben interpretiert. Bekannter als bodhi ist heute das durch das Zen geprägte Wort jap.
satori, wobei Zen schon von seinem Namen her ebenso viel Bedeutung dem dhyana
beizumessen pflegt. Diese Tradition, chin. auch ch'an genannt, leitet sich sprachlich von
dhyana ab und geht wohl auf Praktiken des Yoga zurück. Über die Jahrhunderte hat
sich, gelöst von scholastischen Diskussionen, eine strenge Kultivierungform religiösen
Erlebens, die im Westen auch unter den Begriffen jap. zazen und kōan firmieren,
entwickelt.
Zur Bekanntheit des Zen hat bis in die Nachkriegszeit der buddhologische Gelehrte
SUZUKI Daisetsu Teitaro maßgeblich beitragen. Wie auch Vivekananda besuchte er
zusammen mit seinem Lehrer SŌEN Shaku 1893 das World Parliament of Religions, wo
ein langjähriger Kontakt zu Paul CARUS beginnt. In der Folge verbringt Suzuki ab 1897
gut zwölf Jahre bei Carus in den USA und erarbeitet mit ihm eine ganze Reihe von
Übersetzungen wichtiger klassischer Texte der chinesischen Antike, zu denen Carus
anmerkt: „I have gone over some of the translations of Mr. Suzukis and my only fear is
that I impressed him too much with my own philosophical conceptions [...].“19 Carus
16
17
18
19
WASSILLIEW 1860.
JAMES 1997, 399.
KOEPPEN 1857, 586.
VERHOEVEN 1998, 219.
4
selbst ist stark durch nachkantianische Systeme des Idealismus geprägt, die er zu einer
Art Monismus weiterentwickelt.
1.3 Religiöse Erfahrung in Japan
Offensichtlich mit großem Interesse liest Suzuki auch andere Schriften als die Carus’
wie z.B. James’ Varieties. So antwortet ihm sein Jugendfreund und Philosoph NISHIDA
Kitarō bereits im Herbst 1902 in einem Brief aus Japan:
„Mein lieber Daisetsu, [...] das Buch, das Du erwähntest, Varieties of Religious
Experience von Professor [William] James, scheint sehr interessant, und ich würde es
gerne einmal lesen. [...] Im letzten Jahr las ich die bekannte [Arbeit zur]
Religionsphilosophie von Otto Pfleiderer, aber es handelt sich bei ihr nur um ein von
Anfang bis Ende logisch durchstrukturiertes Buch; ich halte ihn nicht für jemanden, der
den Geschmack des ‚religious life’ [engl. im Original] kennt.“20
Als er die Gelegenheit zur Lektüre der Varieties bekommt, ist Nishida sehr
begeistert.
Einige Jahre später empfiehlt er seinem Schüler TANABE Hajime, der damals eine
persönliche Krise durchlebt, zum Trost die Lektüre von Autoren wie Maurice
MAETERLINCK, KIYOZAWA Manshis oder auch TSUNASHIMA Ryōsen. 21 Letzterer
veröffentlicht 1905 „Aufzeichnungen [meiner] Krankenzeit“ 22 , in denen er von
„meinem Erleben [jap. jikken] des Gottsehens“23 berichtet. Selbst ein Laie in Sachen
Religion, befindet er sich im Jahre 1904 dreimal in einem psychischen Zustand, den er
als mystisch-religiös beschreibt. Auch wenn er keinen Wahrheitsanspruch mit dieser
Erfahrung aufstellt, gibt die Veröffentlichung in intellektuellen Kreisen Anlass zu
erregter Diskussion über die Geltung des Erlebens.
1.4 James’ und Suzukis Darstellung eines indischen Begriffs religiösen Erlebens
Ohne auf die von Tsunashima gegebenen Merkmale seiner Erfahrung einzugehen, da
sie eher synkretistisch sind, sei hier noch einmal James und dann Suzuki das Wort
gegeben: In den Varieties werden von Flüchtigkeit und Passivität24 abgesehen, vor
allem die Unaussprechbarkeit und noetische Qualität25 einer Erfahrung als Momente
angesehen, die sie hinreichend als mystische bestimmen. Von daher beschreibt James
dhyana wieder im Anschluss an Koeppen folgendermaßen:
„Im Dhyâna scheint man vier Stufen zu kennen. Die erste Stufe wird durch Konzentration
des Geistes auf einen Punkt erreicht. Auf der zweiten Stufe fallen die intellektuellen
Funktionen weg; es bleibt ein befriedigendes Gefühl von Einheit. Auf der dritten Stufe
weicht das Befriedigtsein einer Unbekümmertheit, die mit Erinnerungen und SelbstBewußtsein einhergehen. Auf der vierten Stufe vervollkommnen sich die
Unbekümmertheit, die Erinnerungen und das Selbst-Bewußtsein. […] Noch höhere
20
21
22
23
24
25
NISHIDA 1987-1989, Bd. 18, 59.
Vgl. NISHIDA 1987-1989, Bd. 19, 530-31.
TSUNASHIMA 1995, Bd. 5, 1-240.
TSUNASHIMA 1995, Bd. 5, 208-219.
Vgl. JAMES 1997, 385.
Vgl. JAMES 1997, 384.
5
Zustände der Kontemplation werden erwähnt – ein Bereich, in dem nichts existiert, in
dem der Meditierende sagt: ‚Es gibt absolut nichts’, und verstummt. Dann gibt es einen
weiteren Bereich, in dem er sagt: ‚Es gibt weder Vorstellungen noch die Abwesenheit
von Vorstellungen’, und wiederum verstummt. Dann noch einen weiteren Bereich, in
dem der Meditierende, nachdem er am Ende der Vorstellungen und Wahrnehmungen
angekommen ist, endgültig verstummt’. Dies scheint noch nicht das Nirwana zu sein,
aber die nächstmögliche Annäherung daran, die dieses Leben bereithält.“26
Hingegen in einer Beschreibung Suzukis, der an dieser Stelle seinen Lehrer Sōen
zitiert, wird dhyana als Mittel gesehen, um das Ziel des samadhi zu erreichen, das als
höchster Zustand der buddhistischen Übung des zazen anzusehen ist:
„What is dhyâna? Dhyâna literally means, in Sanskrit, pacification, equilibration, or
tranquillization, but as religious discipline it is rather self-examination or introspection.
[...] Samâdhi is a perfect absorption, voluntary or involuntary, of thought in the object of
contemplation. A mind is sometimes said to be in a state of samâdhi when it identifies
itself with the ultimate reason of existence and is only conscious of the unification. In this
case, dhyâna is the method or process that brings us finally to samâdhi.“27
In einer späteren Arbeit zum Buddhismus von 1930 löst Suzuki die Betrachtung aus
dem engeren Kontext buddhistischer Literatur heraus und spricht von religiöser
Erfahrung in einem Sinne, wie sie James doch sehr nahe kommt:
„However this may be, the main point we must never forget in the study of the
Lankavatra is that it is not written as a philosophical treatise to establish a definite system
of thought, but is to discourse on a certain religious experience. What philosophy or
speculation it offers is only incidental as an introduction or as an intellectual
interpretation necessitated by the rational nature of humanity. This latter phase of
religious experience may be more predominant in Buddhism than in some other religions,
but it is for us not to overlook the essence of the matter for the sake of its more or less
unimportant accessories, however inevitable they may be in the understanding of it.“28
Von den Unterschieden in der Systematisierung der Begriffe indischen Ursprungs
abgesehen, fällt bei beiden Autoren, Suzuki wie James, auf, dass sie ohne Vorbehalt ein
Konzept religiöser Erfahrung auf alle Religionen übertragen, ohne eigens ihr Vokabular
systematisch zu reflektieren und auf Kompatibilität zu befragen. Dabei fällt noch heute
die Bewertung zentraler Begriffe des Buddhismus sehr verschieden aus, wie sich am
folgenden Beispiel zeigt: Nach Heinrich DUMOULIN liegt das zentrale, auch für Dōgen
gültige Prinzip des Zen darin, dass „from generation to generation [...] the enlightment
experience“ 29 tradiert wird, während in einer buddhologisch sehr informierten
Monografie zu Dōgen zu lesen ist, dass
„the Buddha-dharma that was rightly transmitted was neither the body of creeds [nor] the
content of certain experiences [...]; it was the symbolic expression of the spirit of
Sakyamuni the Buddha [...].“30
26
27
28
29
30
Vgl. JAMES 1997, 399-400.
SUZUKI 1907, 36-37.
SUZUKI 1999, 170-171.
DUMOULIN 1994, 7.
KIM 2004, 52.
6
2. Die Rede von Erleben zur Zeit der frühen Dōgen-Rezeption
Die moderne Wiederentdeckung Dōgens wird gewöhnlich in die 1920er Jahre datiert.
Erste Druckerzeugnisse zu Dōgen finden sich aber bereits ab 1877. Es handelt sich
dabei um erläuternde Kommentare zu Was beim Üben des Weges zu beachten ist31,
einer der Praxis gewidmeten Schrift Dōgens, in der er die Grundlage des buddhistischen
Weges darlegt. Vom Beginn wissenschaftlich ausgerichteter Aufsätze ab 1896
abgesehen, ist die erste selbstständige Betrachtung zu Dōgen in einer Vorlesungsreihe
zu finden, die sich an ein breites Publikum wendet und ihn zusammen mit den übrigen
Schulgründern des japanischen Buddhismus einleitend vorstellt. Bezugspunkt bleibt
dabei die Praxis der Religion, die sich den Zuhörern aus der Innenperspektive her
erschließen soll. Diese Vorlesungsreihe wird 1903 unter dem Titel Die Religion des
Erlebens32 veröffentlicht.
Das Wort Erleben dient als deutsches Äquivalent für jikken im japanischen Original.
Die Teile des Binoms haben zur Grundbedeutung „Wirklichkeit“ oder „Wahrheit“ und
„Überprüfen“ oder „Wirken“. Zusammen lassen sie sich verstehen als „die Wahrheit
[eines Sachverhalts] überprüfen“ oder „tatsächlich wirken“. Drei repräsentative
Verwendungsweisen finden sich im Großen Wörterbuch der japanischen Sprache33
durch Belege dokumentiert: Zunächst wird es als „tatsächlich erfahren“, „in
Wirklichkeit begegnen“, „erleben“ erklärt, bezogen auf zwei Texte aus der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts. Eine dritte Belegstelle findet sich in dem Werk eines
chinesischen Autors, das bereits Anfang des 7. Jahrhunderts entstanden ist.
Alle anderen Belege stammen aus der Neuzeit und weisen als weitere Bedeutungen
von jikken folgende auf: zum einen „Experiment“, u.a. nachgewiesen in einem Werk
des Philosophen NISHI Amane, und zum andern „Überprüfung“ oder „Inspektion“,
belegt in einem Heft von 1815 über den Beginn Westlichen Lernens in Japan. Auf den
engen Kontext europäischen Denkens bleibt der Gebrauch aber nicht lange beschränkt.
Einer der ersten, die sich dieses Begriffs bedienen, ist ein Mönch aus der von Dōgen
begründeten Sōtō-Schule des Zen-Buddhismus, HARA Tanzan mit einem Heft von
1873: Aufzeichnungen des geistigen Erlebens [jap. jikken].34 Dabei beschränkt er sich
nicht auf „westliche“ Phänomene des Geistes, wenn er 1907 ein weiteres Werk über
Zen mit dem Titel Aufzeichnungen des geistigen Erlebens [jap. jikken] [in] der
Zenlehre35 veröffentlicht.
Zu Beginn der japanischen Moderne, in der Meiji-Zeit von 1868 bis 1912, überwiegt
der Gebrauch von jikken bei weitem den verwandter Ausdrücke. Die drei genannten
Verwendungsweisen „Erleben“, „Experiment“, „Überprüfung“ lassen sich allerdings
31
32
33
34
35
(Jap.) Gakudō yōjin shū; vgl. KAWAMURA 1988-1991, Bd. 5, 14-39.
Vgl. SASAKI 1903.
Vgl. (jap.) Nihon kokugo daijiten.
Vgl. HARA 1873.
Vgl. HARA 1907.
7
nicht immer voneinander abgrenzen. Schon für Religion des Erlebens ist als Erläuterung
anzuschließen, dass ein Ausprobieren, Versuchen mitgemeint ist: In dem „sich an etwas
versuchen“, kann sich im eigenen „Erleben“ etwas als „wirklich“ erweisen. Nach
diesem Verständnis ist jikken vielleicht dem biblisch-empiristischen Wahrheitskriterium
James im Sinne des „an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen“ verwandt.
Ab den zwanziger Jahren beschränkt sich die Verwendung von jikken allmählich auf
„Experiment“. Gleichzeitig etabliert sich ein neues Wort: MORI Ōgai prägt für eine
Übersetzung aus dem Deutschen taiken als Äquivalent von „Erleben“, das der
Grundbedeutung des ersten Elements tai nach ein mit und durch den Körper Prüfen oder
Probieren anzeigt. Vor 1912 stellt die Verwendung von taiken eine selten
nachzuweisende Ausnahme da. In einem Buchtitel findet es sich wohl erstmals 1915 mit
Nishidas Denken und Erleben.36
Ein drittes, verwandtes Wort ist keiken. Anders als taiken kommt es kurz vor Beginn
der Meiji-Zeit in Umlauf, erreicht bis zur Jahrhundertwende aber längst nicht die
Verbreitung von jikken. Es gereicht keiken zu Ehren, dass es 1914 als Übersetzungswort
für experience in James Varieties 37 gewählt wird. Während es schon 1866 bei
FUKAZAWA Yukichi auftaucht, ist der Begriff zunächst auf den Kontext westlicher
Psychologie beschränkt, bevor es zum heutigen Allgemeinbegriff „Erfahrung“ wird.
Versuchsweise lässt sich jikken und keiken in folgender Weise unterscheiden: Jikken
bezieht sich auf einen gegenwärtigen Zustand, auf ein jetziges Widerfahrnis, auf die
momentane Präsenz einfacher sinnlicher Qualitäten, während keiken einen Prozess oder
das Ergebnis eines Prozesses im Sinne „von Erfahrungen sammeln“ oder „erfahren
sein“ bezeichnet und eine komplexe Wechselwirkung zwischen sensitiven, kognitiven,
voluntativen und emotionalen Funktionen des Menschen miteinschließt. Insofern ist
keiken für die Übersetzung der Varieties weniger geeignet als jikken oder taiken.
36
37
Jap. Shisaku to taiken; Vgl. NISHIDA 1987-1989, Bd. 1, 200-420.
Vgl. JAMES 1914.
8
2.1 Die Vergänglichkeit schmecken
Wie erwähnt, erscheint gleich zu Beginn des 20. Jahrhunderts, ein Jahr nach der
Veröffentlichung der Varieties und ein Jahr vor Tsunashimas „Erleben des Gottsehens“,
eine Monografie unter dem Titel Religion des Erlebens. Verfasser ist der Buddhist und
Mönch SASAKI Gesshō. Er widmet darin den Gründungsvätern der acht buddhistischen
Schulen Japans je ein eigenes Kapitel, verfolgt dabei aber kein buddhologisch
differenziertes Projekt, sondern wendet sich zur Propagierung des Buddhismus in all
seinen Strömungen mit dem Schlagwort des Erlebens an ein allgemeines Publikum.
Er lehnt zwar theoretisch ausgerichtete Studien zum Buddhismus und zu
prominenten Vertretern nicht ab. Doch bahnt sich über solche Studien selten ein Weg in
eine religiöse Haltung zur Welt. Um jenseits der Klostermauern wie auch jenseits der
der sich langsam etablierenden Akademie das Publikum in den Bann zu ziehen, bedarf
es der Anschaulichkeit, um zur Übung des Weges Buddhas zu motivieren. Aber auch
die Religion selbst trägt sich nur durch eine lebendige, vom Individuum verkörperte
Religiosität. Und um diese Lebendigkeit zu erhalten, gelte es zunächst, einen
objektivierenden Zugang zur Religion klar vom gelebten Glauben zu unterscheiden.
Sasaki diagnostiziert also einen Zeitgeist, geprägt von religionswissenschaftlichen
und buddhologischen Studien, die durch ihre Einseitigkeit als Wissenschaft in einer
Situation der Konkurrenz zum Christentum, der buddhistischen Religion mehr schade,
als ihre Lebendigkeit zu fördern. Er zieht folgenden Vergleich: Die Wissenschaft
behandele die Religion wie einen Fisch, den sie aus dem Wasser fange, um ihn zu
sezieren. Am Ende wundere sie sich, dass der Fisch verende, dass die Religion also
ihrer Lebendigkeit beraubt sei, ohne zu reflektieren, dass sie selbst ursächlich dafür
verantwortlich sei.38 Im Gegenzug formuliert Sasaki programmatisch:
„Daher ist Buddhismus keine Religion der Wissenschaft, sondern eine Religion der
tatsächlichen Tat. Buddhismus ist keine Religion der Forschung, sondern eine des
Glaubens. Buddhismus ist keine Religion des Dogmas, sondern eine des lebendigen
Gefühls. Buddhismus ist keine Religion des Prinzips, sondern eine Religion der
Erlebens.“39
Die Distanz zu jeder Form objektivierter Religiosität in Form von Wissenschaft oder
Dogma schafft dem Einzelnen den nötigen Spielraum, um sich einen eigenständigen
Zugang, einen natürlichen Zugang zur Religion zu eröffnen. Einen natürlichen, jedem
Menschen gegebenen Zugang scheint es zu geben, wenn Sasaki Gefühl und Erleben so
stark hervorhebt. Das Erleben erschließt Religion in all ihrer Sinnlichkeit. So schreibt
Sasaki auch wiederholt, im lebendigen Glauben ließe sich die Essenz der Religion
schmecken. Nur wer Buddha berühre, erfahre als Mensch, was Buddhismus sei.40
Der individuelle Vollzug von Religion geht aber in der Sinnlichkeit nicht auf. Über
die Sinnlichkeit öffnen sich ebenso sehr Sinnbezüge mit kognitiven Charakter: Sasaki
38
39
40
Vgl. SASAKI 1903, 1.
SASAKI 1903, 7-8.
Vgl. SASAKI 1903, 7.
9
zitiert dazu Sokrates Aufforderung „Erkenne dich selbst!“.41 Das japanische Verb für
„erkennen“ konnotiert allerdings ein Moment von Erfahrung, das dem Erkennen
zugrundeliegt: Selbsterkenntnis basiert auf Selbsterfahrung und rückt dadurch wieder in
die Nähe zum Erleben.
Die zentrale Einsicht Buddhas in das Wesen unseres Lebens in dieser Welt speist
sich eben aus seinem eigenen Leben und Erleben. Welche Einsicht das ist, erläutert
Sasaki im Beginn seiner Ausführungen zu Dōgen unter dem Titel Der große Weg der
Natur. Diese Natur, eben das Wesen der Welt, besteht im fortwährende Werden und
Vergehen alles Seienden, alles in dieser Welt Existierende ist durch und durch der
Flüchtigkeit des Hier und Jetzt ausgeliefert. Das Elend beginnt nun nicht damit, dass der
Menschen aus dieser Ordnung nicht ausgenommen ist. Die privilegierte Stellung, die er
gegenüber den übrigen Dingen einnimmt, besteht darin, seiner Vergänglichkeit
zwangsläufig gewahr zu werden und darauf zu reagieren. Sasaki beschreibt zunächst die
angemessene Weise zu reagieren und überträgt in einem zweiten Schritt ein beiläufiges
Beispiel auf die ganze Existenz des Menschen:
„Je mehr man den Ausdruck ‚Das Kommende nicht abweisen, dem Vergehenden nicht
nachhängen’ schmeckt, desto tiefer wird sein Sinn. Wenn ein Spiegel Liebliches zeigt,
spiegelt er auch Hässliches; man weise das Kommen eines Verhassten nicht ab und hänge
dem Vergehen eines Geliebten nicht nach.“42
„Ich denke, Sie [wissen] aus Ihrer Erfahrung [keiken], dass eine Krankheit unserem
Gemüt außergewöhnliches Leiden bereitet. Aber ist es nicht, wenn man es recht bedenkt,
das gleiche Prinzip wie zuvor: [Wir leiden], weil wir das Kommende abweisen und dem
Vergehenden nachhängen? […] Geburt, Alter, Krankheit und Tod sind die vier Zeiten des
menschlichen Lebens. [...] Wird ein Mensch geboren, muss es auch Alter, Krankheit und
Tod geben.“43
Dōgen führt er beispielhaft als jemanden an, der dieses Prinzip des menschlichen
Lebens bereits in früher Jugend erfasst. Nach dem Ableben seiner Mutter betrachtet der
Siebenjährige – so berichten Biografen – beim ihrem Begräbniszeremoniell den
aufsteigenden Weihrauch und fühlt bei diesem Anblick die radikale Vergänglichkeit
menschlichen Lebens.44 In diesem Erleben der Verbundenheit mit allen Dingen, von
denen sich der Mensch in seiner Endlichkeit nur durch das Vermögen, diese zu
verinnerlichen, unterscheidet, ist Dōgen so stark geprägt, dass sein Herz bei der
Rückkehr nach Japan aus China an nichts Äußerlichem hängt. Anders als die meisten
Mönche nach ihrem Studium der buddhistischen Lehre im Nachbarland, verzichtet
Dōgen auf Devotionalien aller Art und kommt „mit leeren Händen“ heim. Nur eine
konsequente Haltung zur Endlichkeit dieser Welt, vielfach erprobt und durch lange
Übung in China vertieft, bringt er mit.
Unmittelbar nach seiner Rückkehr verfasst Dōgen das Fukan zazen gi, eine kurze
41
42
43
44
SASAKI 1903, 11.
SASAKI 1903, 82.
SASAKI 1903, 83.
Vgl. SASAKI 1903, 86.
10
Schrift, in der er diese Haltung beschreibt. Sie besteht zunächst nicht in der Ausprägung
bestimmter psychischer Dispositionen, moralischer Tugenden oder ähnlichem. Was er
beschreibt ist eine bestimmte Sitzhaltung, und nur auf dieser körperlichen Ebene kann
man ansetzen, um das Wesen des Buddhismus zu erfassen: Alles, was er bei seinem
Lehrer in China erlebt, verstärkt seine Auffassung, dass in dieser Welt nichts als die
Übung des zazen, die meditative Sitzhaltung, die angemessene Übung und
Verwirklichung der Buddhalehre ist. Sasaki erläutert es so, als spiegele man in dieser
Haltung die Welt, wie das Wasser den Mond spiegelt, ohne ihn mit seiner Feuchtigkeit
zu benetzen, und auch der Mond lässt sich in dem Wasser spiegeln, ohne es
aufzuwühlen: „Das ist tatsächlich die wunderbare Welt der großen Einsicht, in der man
den Grund des Undenkbaren denkt.“45
45
SASAKI 1903, 87.
11
2.2 Das Erleben des eigenen Körpers
1912 veröffentlicht der Schriftsteller und Kampfkunstmeister ITŌ Gingetsu ein Buch,
in dem aus Dōgen der Begründer einer auch säkular brauchbaren Praktik zur
ganzheitlichen Selbstkultivierung gemacht wird: Die Lehre des Atmens- und ruhigen
Sitzens [im] Okadastil und [ihr] Erleben. Itō betrachtet diese Lehre als eine spezifische
Entwicklung in der japanischen Geschichte und sieht in Dōgens Anleitung zum zazen,
das eben zitierte Fukan zazen gi, den Beginn dieser Körpertechnik. Wie der Titel
informiert, wird in der Lehre dieser Technik etwas propagiert, das im eigenen Erleben
geprüft werden kann. Konkret geht es um Wirkungen, die der körperlichen Gesundheit
des Menschen förderlich sein sollen.
Die dem Text vorausgehende Bebilderung fordert indirekt dazu, die Möglichkeit des
prüfenden Nachvollzugs zu ergreifen. Es wird ein gut 40-jähriger Herr dargestellt, der,
mit weißem Hemd, spitzem Kragen und Krawatte gekleidet, die Beine zum Lotussitz
verschränkt, auf einem Kissen ruht und dabei, aufrecht sitzend, die Augen halb
geschlossen und die Hände ineinander gelegt hat. Die Pose gleicht damit äußerlich der
von Dōgen propagierten Haltung eines Buddha, in Meditation versenkt. Ob es sich bei
dem Posierenden um den Autor selbst handelt, ist nicht vermerkt. Aber es scheint
möglich, davon auszugehen, da in der Abhandlung selbst überwiegend von „meinem
Erleben“46 gesprochen wird.
Zunächst berichtet der Autor von seiner körperlichen Gebrechlichkeit, die er mit
Hilfe seines Lehrers Okada endgültig zu überwinden weiß. Als in Japan kultivierte
Technik, zeichnet sich die Übung der rechten Atmung und des ruhigen Sitzens in
vierfacher Weise aus: sie sei „vergleichsweise“ einfach, den Gewohnheiten der Japaner
„vergleichsweise“ adäquat, gegenüber später erwähnten Methoden wie kalte Bäder
„vergleichsweise“ effektiv und zeige ihre Resultate durch den Körper, es handele sich
bei dieser Methode also um kein bloßes Räsonnieren.47
Ein für den Zeitgeist typischer Aspekt folgt aus dem letzten Punkt: Nach Itō ist es für
den damaligen Japaner besonders wichtig, eine körperliche und geistige Harmonie
herzustellen. Diese ergebe sich nicht aus komplizierter Theorie und verzweifeltem
Grübeln. Aber auch das Reisen, was er als Therapeutikum erwähnt, führt selten zu
innerer Harmonie und Ausgeglichenheit. Vom „eigenen Erleben her“ hat sich für ihn als
gesund erwiesen, was er als Übung in diesem Buch seinen Lesern empfiehlt. Da diese
im Nachvollzug einer einfachen körperlichen Haltung bestehe, bedürfe die Praxis kaum
der Worte. So bleibe, und das scheint ihm besonders wichtig, „dem modernen
Menschen, der ein unbändiges Bedürfnis nach Wissen habe, ein Spielraum zum
Erforschen“48 des eigenen Körpers. So ist es auch ganz die Absicht seines Lehrers
gewesen, selbst keine Schriften wie die vorliegende zu verfassen. Es hinterließ nur ein:
46
47
48
Vgl. vor allem den 4. Abschnitt in ITŌ 1912.
Vgl. ITŌ 1912, 8.
ITŌ 1912, 9.
12
Sieh selbst!
Die Rückbesinnung auf Dōgen ergibt sich für Itō aus dem Bemühen Wesen und Wert
der Übung wirklich zu verstehen; sie wirklich zu verstehen, erzwingt seiner Meinung
nach den Rückgang auf ihren geschichtlichen Beginn. Bevor er die vollständige
Anleitung Dōgens zu zazen wiedergibt,49 setzt er folgendermaßen ein:
„[Der in der Meiji-Zeit als] Jōyō Daishi [bekannte Mönch] ist Dōgen, der Gründer der
Sōtō-Schule, und wie ich zuvor wiederholt erklärte, ist die Methode des zazen dieses
Mönchs […] in der Zielsetzung von treffender Übereinstimmung mit der Lehre des
Atmens im Okadastil und darüber hinaus besteht ganz allgemein eine Beziehung zu
[Dōgens] Kultivierungmethode [als einer], in der Geist und Körper verbunden sind,
[…].“50
Diese leibliche Einheit von Körper und Geist scheint ihm in der modernen Welt
verloren zu sein. Der Geist erlebt sich in der wissenschaftlichen Erschließung der Welt
aller Grenzen entledigt und verliert das Gefühl seiner körperlichen Gebundenheit. Nur
über ein Gewahren des Körpers kann der Geist das Moment innerer Harmonie wieder
herstellen. Im Fukan zazen gi findet sich dazu eine Andeutung, die Itō am Ende seiner
Ausführungen zu Dōgen aufgreift:
„Denke in der Weise des Nicht-Denkens. Wie denkt man in der Weise des NichtDenkens? Durch Un-Denken. Diese ist die essenzielle Technik des zazen. Dieses zazen
besteht nicht in der dhyana-Übung. Es ist einfach der Dharma-Zugang von Ruhe und
Freude.”51
Diese bisweilen mystizistisch ausgelegte Textstelle besagt Itōs Verständnis nach das
gleiche wie die Aufforderung seines Lehrers: „Strebe nach nichts, sitze schlicht ruhig
da.“52
49
50
51
52
Vgl. ITŌ 1912, 75-79; im jap. Original, Fukan zazen gi, in KAWAMURA 1988-1991, Bd. 5, 4-9.
ITŌ 1912, 74.
ITŌ 1912, 79.
Ebd.
13
2.3 Das Erleben der Realität
Als drittes Beispiel der frühen Dōgen-Rezeption erscheint 1922 in erster Auflage ein
für das nicht konfessionell gebundene, aber akademisch geschulte Publikum verfasste
Buch Religion des Erlebens, das also dem von 1903 vorgestellten Werk der
Übersetzung nach gleichlautend ist. Im japanischen Titel und Text findet sich allerdings
der Neologismus taiken. Selbst universitär gebildet, gehört der Autor KANEKO Hakumu
der von Dōgen begründeten Gemeinde von Zen-Buddhisten an. Wie er im Vorwort
schreibt, hat er über Jahrzehnte heilige Schriften asiatischer und europäischer
Traditionen studiert und betrachtet das vorliegende Buch als Frucht seines Lebens,
genauer gesagt, „es ist der seelische Günstling, [geboren] in dem Wirken meines
Denkens und Erlebens, es ist Leben.”53 Ein solche, existenzielle Haltung zur Religion
grenzt er, wie zuvor auch Sasaki, von einer streng wissenschaftlich kritischen
Untersuchung religiöser Phänomene ab.
Die existenzielle Bindung eröffnet ihm, wohl aus einer als universell unterstellten
Religiosität quasi von „innen“ heraus das Christentum ebenso sehr wie den
Buddhismus, mitsamt ihren mystischen Verzweigungen. Daher stellt er in diesem Buch
Aufsätze zu Emerson, Meister Eckhart, Zen oder Christentum zusammen, um ihnen im
Topos des Erlebens einen gemeinsamen Ort zu geben. Seine Offenheit für nicht
buddhistische Traditionen geht einher mit einem Interesse für die Schriften
konkurrierender Gruppierungen wie die der Rinzai- oder Ōbaku-Schule des Zen, die auf
ihre Weise Zeugnisse innerer „Erfahrung“, „unmittelbare Anschauung“ oder geistigen
„Erlebens“ darstellen und als gemeinsames Erbe für die moderne Zeit anzusehen sind.
Diese wird von einer „Welle der Wiederbelebung des ostasiatischen Denkens“ 54
erfasst. Weiter führt er aus:
„Meine Grundhaltung gegenüber Religion ist das Versenktsein des Subjekts in die
unendliche Essenz. Ich glaube, von dort neues Leben zu fassen und in diesem meinem
Dasein konkretisieren zu müssen. Eine solche Haltung hat meine religiöse Existenz ganz
unmittelbar auf den Weg geführt, auf dem ich die wahre Erscheinung der universellen
Realität erlebnishaft begreife. Und der von mir beschrittene Weg ist ein Pfad der
‚Mystik’. Ich habe ihn in der Religionsgeschichte alter und neuer Zeit in Ost und West
entdeckt und versuche den reinen Spuren der vergangenen Heiligen zu folgen.“55
Vom Erleben geleitet, hat er seine Texte in „gänzlich freier Stimmung
geschrieben“, 56 „ohne von einer bestimmten Lehre, Schule, Gewohnheit o.ä.
beherrscht“57 zu sein. Dem Kosten und Schmecken heiliger Schriften gemäß, sind seine
Eindrücke weitgehend unter Verzicht des „Stils der gesprochenen Sprachen“ 58
geschrieben. Er hat sich der altertümlichen Schreibweise bedient, da sie für das „Mittel
53
54
55
56
57
58
KANEKO 1927, 3.
Ebd.
KANEKO 1927, 5.
KANEKO 1927, 6.
Ebd.
KANEKO 1927, 7.
14
der Assoziation“ eher „geeignet ist“.59 Dazu scheint nicht im Widerspruch zu stehen,
dass er einen Neologismus für den Buchtitel wählt. Dies erklärt sich folgendermaßen:
„Das Erfassen aller religiösen Wahrheit muss, auf die Realität des Universums gerichtet
und im Selbstgewahren der unmittelbaren Erfahrung (jap. chokusetsu keiken) gegründet,
das Antlitz des Ursprungs enthüllen. [Das Erfassen] ist wohl eher das Erleben [jap. taiken
mit Angabe des dt. Wortes im jap. Original] der Realität selbst, denn als das, was man
Erfahren [jap. keiken mit dt. im jap. Original] nennt. Das deutsche Wort „erleben“
bedeutet „in [etwas] leben“. Wenn wir nicht „in“ [der Realität] selbst „leben“, haben wir
kein wirkliches Wissen [von ihr], ist es keine wirkliche Eröffnung von Einsicht [jap.
gonyū].”60
Die westlichen Begriffe zeigen an dieser Stelle ihren großen Einfluss, auch wenn ihre
Wirkung durch eine systematische Auswahl und Übersetzungsweise auf japanischer
Seite reguliert wird. Die Rede vom Erfassen von Wahrheit als unmittelbares Erleben der
Realität verbindet sich außerdem ohne Schwierigkeit mit dem Gehalt buddhistischer
Ausdrücke, da Kaneko taiken auch für Paraphrasierungen in seinen Erläuterungen zu
Dōgen unter dem Stichwort „Einheit von Übung und Erweisung [des Erwachens]“
gebraucht: Er zitiert zunächst aus dem Anfang einer propädeutischen Schrift Dōgens,
wo von einem „wundersamen Mittel“ „zur Übertragung des wunderbaren dharmas [die
Lehre Buddhas] und Verwirklichung des vollsten Erwachens“ die Rede ist: „[…] das
sich selbst erfüllende und aus sich wirkende samadhi ist das Kriterium [der
Übertragung].“61
Samadhi ist hier, herausgelöst aus buddhologisch zu klärenden Verzweigungen, das
religiöse Erleben der Wirklichkeit, wie sie sich als solche zeigt. Kanekos Erläuterung
setzen bei diesem Begriff, der für ihn zugleich die Grenze des Artikulierbaren darstellt,
an:
„Dōgen erwies das Herz des religiösen Erlebens [jap. jikken], betrat den königlichen Sitz
des sich selbst erfüllenden und aus sich wirkenden samadhis und durchschaute […] alle
zehntausend Dinge.“62
Weiter reformulierend, fährt Kaneko fort:
„Um in diesem samadhi spielerisch zu verweilen und das eigentliche Antlitz der
Wahrheit zu erschauen (jap. chokkan), muss man geradewegs das strenge Sitzen zu
seinem Eingang machen.“63
D.h. es gibt kein rein geistiges Versenktsein in jenseitige Spähren. Seine körperliche
Existenz hält den Menschen so stark an diese Welt gebunden, dass alles religiöse
Erleben nur durch den Körper hindurch möglich ist. Im weiteren bezieht sich Kaneko
weniger auf die buddhistisch und philosophisch komplexen, sondern vor allem auf die
propädeutischen Schriften Dōgens und versucht, den engen Zusammenhang zwischen
59
60
61
62
63
Ebd.
KANEKO 1927, 262.
KANEKO 1927, 222; vgl. auch KAWAMURA 1988-1991, Bd. 2, 460 und in der engl. Übersetzung
WADDELL/ABE 2002, 8.
KANEKO 1927, 222.
KANEKO S. 222-223.
15
Übung und Erleben genauer zu klären. Dabei befindet er sich in einem Dilemma, da
seiner Ansicht nach alle Texte das Wesen der Lehre Dōgens und damit die Realität
verfehlen. Nur Dōgens eigenen Texten gelingt es, einen Geschmack religiöser Realität
zu vermitteln. Der Grund dafür liegt in der von Kaneko unterstellten Tatsache, dass
anders als er selbst Dōgen im religiösen Sinne erwacht ist. Daher bezeichnet er Dōgens
Schriften auch als „Aufzeichnungen des Erlebens“64 (jap. jikkenroku).
64
KANEKO S. 223.
16
3. Anmerkungen zur deutschen Dōgen-Rezeption
Anders als in Japan ist im Deutschland der Jahrhundertwende bei der Diskussion des
Verhältnisses des Subjekts zur Religion der Begriff der Erfahrung stärker verbreitet als
die Rede vom Erleben. Von Arbeiten zu Schleiermacher abgesehen, beschäftigt hiesige
Autoren vor allem James, dessen Varieties65 bereits 1907 übersetzt werden. 1913 findet
sich eine erste Dissertation mit dem programmatischen Titel William James'
Religionsphilosophie, begründet auf persönlicher Erfahrung.66 Durch die Hinzufügung
des Adjektivs wird „Erfahrung“ einem naturwissenschaftlich geprägten Diskurs
entrückt und in die Nähe zum „Erleben“ gestellt.
In den ersten zwanzig Jahren des letzten Jahrhunderts finden sich auch eine Reihe
von einleitenden Studien zu ostasiatischen, vor allem japanischen Religionen: Der
Pfarrer und promovierte Theologe Hans HAAS veröffentlicht 1904 einen geschichtlichen
Abriss über Die kontemplativen Schulen des Zen-Buddhismus, die
„mit größerem Recht als […] die meisten anderen Sekten […] den Stifter der
buddhistischen Religion für ihre Sonderlehre in Anspruch nehmen [können], insofern
nämlich als dieser, alle Zugänge abschneidend, durch welche andere Gedanken als seine
eigenen den Weg in sein Inneres hätten finden können, in einsamer Meditation auf das
Licht der Erkenntnis wartete, bis es seinem eigenen Geiste von selbst aufging.“67
In dieser einleitenden Charakterisierung des Zen, findet sich eine gegenläufige
Tendenz zur Rede über religiöses Erleben und Erfahren: Hier wie im Folgenden wird
die geistige, kognitive Seite der Meditation betont. Zwar bezeichnet Haas die Lehre
selbst als „mystisch-mysteriös“. 68 Doch in der Versenkung werden keine
außerordentlichen Erfahrungen gemacht, sondern, wie es zunächst heißt, die
Aufmerksamkeit auf die rechten Gedanken gelenkt. In einer späteren Arbeit von 1914
zitiert Haas ausführlich aus Dōgens Anleitung zu zazen, um die Zielgerichtetheit auf
bodhi, auf das Erwachen von einer selbstgefälligen Versenkung zu unterscheiden, in der
es sich Übende schlicht wohl ergehen lässt. Daher misst Haas dem bereits zuvor von Itō
und Kaneko zitierten Ende der Anleitung eine solch große Bedeutung zu, die aus dem
körperlichen Aspekt der Übung ein Mittel zum Ziel macht. Dieses Ziel bleibt –
wenigstens negativ – bezogen auf den Geist:
„Die körperliche Regelung ist aber nicht das Wichtigste. Fasten und leiblich sich bereiten
ist nur die feine äußerliche Zucht. Mehr kommt darauf an, dass der Geist in die richtige
Verfassung gebracht wird. […] ‚Und so mag man dann an Nichtdenken denken. Wie das
zu tun wohl: an Nichtdenken denken? Nicht denken überhaupt, will das besagen. Beim
Sitzen in Dhyâna ist die Hauptkunst dies. Kein Meditieren ist, was Zazen heißt, nur eine
Schule der Beruhigung ist’s, der Bodhi-Forschung Mittel und auch Ziel.“69
3.1 Die Übung des Zen als mystische Psychotechnik
65
66
67
68
69
JAMES 1907.
HARBERTS 1913.
HAAS 1906, 158.
Ebd.
HAAS 1914, 201.
17
Von katholischer Seite wird das Interesse am Buddhismus geteilt, auch wenn im
Mittelpunkt der indische Ursprung steht. Friedrich HEILER versucht zu zeigen, dass „der
Buddhismus nicht Philosophie, weder Metaphysik noch Ethik, sondern mystische
Erlösungsreligion ist“. 70 Als Kennzeichen von Religion gilt ihm dabei das Gebet,
welches sich in anderer als im Westen bekannter Form auch im Buddhismus findet. Er
folgt darin Hermann BECKH, den er mit den Worten zitiert:
„Wie für andere Religionen das Gebet der Nerv des religiösen Lebens bildet, so ist für
den Buddhisten dieser Nerv des religiösen Lebens die Meditation, die meditative
Versenkung in das Geistige, Übersinnliche, in dasjenige, was dem modernen
abendländischen Empfinden zunächst als ein Nichts erscheint.“71
Für eine genauere Bestimmung dieser meditativen Versenkung beginnt Heiler eine
Analyse der Begriffe dhyana und samadhi; der Begriff bodhi taucht in diesem
Zusammenhang nicht auf. Bedeutsam ist jedenfalls, dass Heiler für die Beschreibung
der verschiedenen Versenkungsstufen auf Ausdrücke wie Erfahrung oder Erleben
gänzlich verzichtet. Auch in der von zitierte Beckh verbindet mit Meditation das Reich
des Geistes, gar das „Übersinnliche“.
Heiler kann nur negativ eine „Reduktion der Gefühlserlebnisse zur Indifferenz“72
feststellen und bezeichnet das „Erkennen der vier heiligen Wahrheiten [als] ein rein
geistiges Kontemplieren, ein übersinnliches Wissen“. 73 Von diesem Moment tiefer
Religiösität unterscheidet er strikt „das Bestreben, durch körperliche und geistige
Methoden der Konzentration zu höheren Bewußtseinszuständen zu gelangen“,74 dabei
handele es sich schlicht um „eine mystische Psychotechnik.“75 Als herausragendes
Beispiel bezieht er sich auf die bereits von Haas zitierte Stelle aus Dōgens Fukan zazen
gi und kommentiert sie mit den Worten:
„Im japanischen Zen-Buddhismus, der sich merkwürdigerweise nach dem Worte dhyâna
bezeichnet, wird die Meditation zum Nichtdenken […] die zeitweilige Gedanken- und
Gefühlslosigkeit gilt ihm als nervenstärkendes, psychotherapeutisches Mittel.“76
70
71
72
73
74
75
76
HEILER 1918, 1.
HEILER 1918, 3.
HEILER 1918, 31.
Ebd.
HEILER 1918, 32.
HEILER 1918, 44.
HEILER 1918, 50.
18
4. Einige Schwieirigkeiten in der Konzeptualisierung religiösen Erlebens
An den vorgestellten Autoren aus Deutschland und Japan deutet sich die
Schwierigkeit an, die sich bei dem Versuch auftut, buddhistische Autoren in ihrem
Denken angemessen zu reformulieren. Jikken, keiken oder taiken mit ihren
Äquivalenten „Erleben/Experiment/Inspektion“, „Erfahrung“ und „Erleben“ fordern
nach begrifflichen Präzisierungen, wenn sie zur Rekonstruktion buddhistischer
Ausdrücke wie samadhi, dhyana oder bodhi dienen sollen. Dabei zögern Haas und
Heiler grundsätzlich, sich des gleichen Vokabulars zu bedienen, wie die Japaner.
Bedenken gegen die Rede von religious experience regt sich dabei auch von anderer
Seite. Es ist an die Rolle Suzukis zu erinnern, der die Fantasien westlicher ZenInterpreten mit der Fixierung auf das Moment des Erwachens (jap. satori) lange Zeit auf
das flüchtige Moment religiösen Erlebens, Lebens und Erfahrens hin orientiert, um
religious experience nur in diesem engen Sinne zu gebrauchen. Wiederholt wird diese
Verengung kritisiert. Explizit geht Robert E. BUSWELL auf Suzuki ein und stellt
„dessen“ satori die eigene The Zen monastic experience 77 entgegen, indem er
ausführlich über den Alltag in einem koreanischen Kloster berichtet. Seine Gewichtung
des Alltags fällt dabei so schwer aus, dass dieses nicht nur als notwendige Vorbereitung
auf das große Erlebnis des Erwachens dient, sondern eine eigenständige Bedeutung
erhält. Andere Arbeiten sind von dieser kritischen Haltung gegenüber Suzuki mittelbar
oder unmittelbar inspiriert: Eine Publikation wie beispielsweise The experience of
Buddhism: sources and interpretation 78 von 1995 fächert den Begriff einer
„buddhistischen“ Erfahrung auf in die verschiedenen Lebensstationen des historischen
Buddhas auf, ohne aber eine zugrunde liegende Einheit in all diesen Stationen zu
suggerieren. Außerdem finden sich in den letzten Jahren häufiger Abhandlungen, die
von experience in einem empirisch-soziologischen Sinne Gebrauch machen und von Sri
Lankan experience79 oder American Buddhist experience80 sprechen.
4.1 Das buddhistische Erwachen als religiöses Erlebnis?
Bleiben wir bei der von Suzuki zugespitzten Idee religiösen Erlebens und Erfahrens,
bleibt es aller Kritik zum trotz auffällig, dass von buddhologischer Seite wenig
Versuche einer theoretischen Plausibilisierung oder kritischen Rekonstruktion
unternommen worden sind. Daher weist Michel MOHR zurecht darauf hin: „This subject
of ‚experience’ has been widely scrutinized by both philosophers and theologians (most
of them Christians, some belonging to the history of religions), but it has been relatively
neglected by specialists of Buddhism.“81 Der zentrale Grund scheint, so Mohr, eine
77
78
79
80
81
Vgl. BUSWELL 1992.
Vgl. STRONG 1995.
Vgl. ARIYARATNE 1996.
Vgl. CAPPER 2002.
MOHR 1992, 13.
19
„non-dualistic perspective“82 auf die Welt zu sein, in der eine Unterscheidung zwischen
Subjekt und Objekt des Erfahrung, wohl auch des Erlebens, nicht möglich sei. Daher
erhebe sich grundsätzlicher Zweifel an einer solchen Begrifflichkeit: „Is it appropriate
to describe Buddhist ‚awakening’ in terms of ‚experience’?“83 Seinerseits klärt Mohr
das Mysterium nicht, wie man eine „nicht-dualistische“ Philosophie widerspruchsfrei
konzeptionalisieren kann.
Sehr reich ist immerhin das Vokabular, das er aus den verschiedenen Sprachen des
Buddhismus zusammenträgt und als Kandidaten für eine religious experience aufstellt.
Zugleich nennt er eine Reihe basaler Begriffe, die als Metasprache indischer Herkunft
für die Reflexion religiöser Erfahrung dienen könnten: Dazu gehört anubhava als
feeling, new impression, anubhavana im Sinne von awareness [derived from sensation],
außerdem vedana in der Bedeutung von sensation wie auch pratyaksa als visble
experience.84 Eine gewisse Nähe zum Empirismus deutet sich in dieser Sammlung
durchaus an und spricht eher gegen eine „vergeistigte“ Interpretation der Begriffe wie
samadhi. Als spezifisch religiöse Erfahrung hebt er paravrtti hervor, das wörtlich so
viel wie turning back experience heißt und eine Transformation des Subjekts andeutet.
Das darauf abhebende Sprachfeld umfasst im Chinesischen und Japanischen eine Reihe
von Ausdrücken, die vom Gesichtssinn ausgehen: Dazu gehören jap. kenshô, „das
eigene Wesen sehen“, jap. myōken im Sinne von „klar sehen“ oder jap. genzen , was so
viel wie „vor Augen treten“ heißt.
4.2 Philologische Ansatzpunkte bei Dōgen
Um zu klären, was bei Dōgen unter religiösem Erleben zu verstehen sein könnte,
muss u.a. sein Verhältnis zur Tradition betrachtet werden. Er besinnt sich auf die Figur
des Shakyamuni Buddha und orientiert sich so notwendig am Begriff bodhi.
Gleichzeitig hebt er sich von der Tradition ab, wenn er einen Begriff wie kenshō ablehnt
und implizit als dualistische Fehlkonzeption kritisiert. In anderer Hinsicht vertieft er die
Eigenart des Zen, wenn er mit großer Strenge die Praxis des Sitzens lehrt. Schenken wir
dem transformativen Charakter des Erlebens Beachtung, dann lässt sich ein inhaltlicher
Bezug zwischen paravrtti und Dōgens Begriff des „Abfallens von Leib und Herz“ (jap.
shinjin datsuraku) herstellen. „Abfallen von Leib und Herz“ meint dabei keinen
Zustand undifferenzierter Einheit des Menschen mit einem Absoluten.
Im Gegenteil mag man in einer ersten Charakterisierung von einer durch Körper wie
Geist indirekt vermittelte Offenheit des Menschen für die Welt sprechen, in der er sich
zugleich als different erfährt. Beachtenswert ist, dass sich diese Offenheit durch Leib
und Herz, d.h. durch die Ganzheit des Menschen konstituiert. Wenn es nun allerdings so
klingt als sei das Abfallen ein einmaliges, von der Übung des Sitzens losgelöstes
Moment, dann tritt nur die Komplexität des dōgenschen Denkens zutage. Denn er
82
83
84
Ebd.
Ebd.
Vgl. MOHR 1992, 17-21.
20
fordert zugleich nach einem dauerhaften Üben, das ganz an das Hier und Jetzt gebunden
ist. Der Ausdruck „Einheit von Übung und Erweisung [des Erwachens]“ (jap. shushō
ittō) formuliert diese Forderung eingedenk der fortwährenden und universellen
Vergänglichkeit alles Seienden. Schließlich steht eine Betrachtung des übrigen
Vokabulars in Dōgens Hauptwerk Shōbōgenzō aus, wenn man diese wagen
Andeutungen präzisieren möchte.
Geht man von der wörtlichen Bedeutung des Wortes „erfahren“ aus, kommen alle
Ausdrücke in den Blick, die eine Passage von einem Ort oder Zustand zu einem anderen
bezeichnen wie z.B. jap. tsū suru. Schließlich bietet das Wort jap. keireki oder kyōraku
einen Ansatzpunkt für eine Beantwortung unserer Frage. Während er sich im
alltäglichen Gebrauch als japanisches Wort auf die Lebensgeschichte des einzelnen
Menschen bezieht, benutzt Dōgen ihn im Kontext einer philosophisch komplexen
Konzeption von Zeit und stellt den einzelnen Menschen in einen Erfahrungsbezug zur
Zeitlichkeit eines allumfassenden Geschehens. Erfahrung wird an dieser Stelle
vermutlich als ein Spannungsverhältnis zwischen unmittelbarer Präsenz eines Hier und
Jetzt und einem umfassenden Zeitlauf, der sich in Gegenwart, Vergangenheit und
Zukunft erstreckt, gedacht.
Die befriedigende Klärung eines Konzepts religiösen Erlebens und – vielleicht als
sachliche Unterscheidung dazu – Erfahrens bei Dōgen wäre also auf eine sichere
philologische Basis zu stellen, müsste historisches Material der Buddhologie und
japanischen Geistesgeschichte der Moderne heranziehen sowie eine systematische
Reflexion leisten.
21
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