In W. Homolka und A. Heidegger (ed.), Heidegger und der Antisemitismus. Positionen im
Widerstreit, Freiburg/München, Herder Verlag, 2016, 232-241.
Warum ich Heidegger in schwieriger Zeit treu bleibe
Jean Grondin
Abstract: Heidegger’s political views and antisemitic pronouncements are
unbearable. It is easy to condem them from the privileged vantage point of our time
and those who know what national-socialism has become. i.e., the epitome of evil. It is
more difficult to try to understand, historically, how a thinker of Heidegger’s stature
could be attracted by the nazi movement. The publication of his Black Notebooks and
the correspondence with his brother Fritz help us to see what fascinated him in this
movement, most notably the political possibility of a rebirth of Germany and even
Europe, and, perhaps more importantly for Heidegger, the philosophical possibility of a
new beginning for thinking itself and humankind. Heidegger was not politically wise
and perhaps naive on both counts, but this paper argues that he was also massively
influenced by the propaganda of the Nazis. One has to bear in mind that it was not
uncommon for a thinker who was justly preoccupied with the future of his nation to
express his support for this very one-sided propaganda in a time of war and imminent
peril. To understand Heidegger historically means that one can remain faithful to his
more philosophical work.
Heidegger war ein überragender und genialer Denker, sein philosophisches Werk
und dessen weltweite Wirkungsgeschichte bestätigen es reichlich, aber er war politisch
vollkommen unbegabt (zugegebenemaßen das understatement des Jahrhunderts). Er
besaß und demonstrierte eine solide philosophische Bildung, aber nie eine politische,
ganz im Gegenteil. Er war ein bahnbrechender Theoretiker unseres „In-der-Weltseins“, verfügte indes über eine recht limitierte Welterfahrung. Er hatte das Unglück,
in einer Zeit aufzuwachsen und philosophisch bedeutsam zu werden, in der
Deutschland einen Weltkrieg verlor und an den politischen, geistigen und
wirtschaftlichen Konsequenzen dieser Niederlage schwer litt. Sie führten zum
2
Aufblühen von revanchistischen Parolen, die die Nazis in Umlauf brachten und für die
Heidegger als Patriot anfällig wurde.
Es ist sehr schwer, ja unmöglich, uns in die damalige Situation zu versetzen. Das
Gute an den Nazis, natürlich das einzig Gute an ihnen, ist eben, daß sie eine rassischethnisch unterbaute Weltanschauung wie die ihrige für die Nachwelt intellektuell
vollkommen unglaubwürdig und unnachvollziehbar gemacht haben (zumindest darf
man es hoffen). Wenn man Heideggers politische Äusserungen heute liest, wo wie
selbstverständlich vom „Schicksal“ des deutschen Volkes, vom „geheimen“ Wesen der
Geschichte und erst recht von den „entwurzelten“ Juden und „ihrer betont
rechnerischen Begabung“ (GA 96, 56) liest, fühlt man sich von ihnen wie durch einen
Graben getrennt. Heideggers politische Deklamationen klingen für uns ebenso fremd
wie hohl.
Politisch, würde ich sagen, ist von ihm nichts zu lernen. An ihm wird man
höchstens des Abstandes gewahr, der uns von seinem Weltbild trennt. Wir haben das
Glück – ich habe es zumindest – in einer erfolgreichen liberalen, weltoffenen und
multiethnischen Demokratie zu leben, deren kosmopolitische Werte ich mit Fug und
Recht verteidigen würde. Heidegger waren sie fremd. Er kritisierte nicht selten den
Liberalismus, die Demokratie und den Westen überhaupt, von denen er wohl keine
rechte Erfahrung noch Kenntnis hatte. Antisemitische Vorurteile, die zu seiner Zeit
und nicht nur in Deutschland gang und gäbe waren, hegte er auch und vermutlich von
Hause aus. Über sie kann man nur den Kopf schütteln. Dennoch möchte ich dem
Philosophen Heidegger die Treue halten und hier in wenigen Schritten rechtfertigen,
warum ich es tue. Ich fange mit einem trivialen Grund an:
1. Jemand muss es tun. Das Geschrei über Heideggers Antisemitismus ist so
betäubend und selbstgefällig, daß es vergessen machen kann, daß und warum
Heidegger ein so hervorragender Philosoph war. Er hat ein Buch wie Sein und Zeit
geschrieben, das seinesgleichen in der Philosophie des 20. Jahrhunderts sucht. Es
3
erinnerte die Philosophie kraftvoll an ihre Hauptfragen, die des Seins und des Sinnes
des menschlichen Daseins, und fand die Bewunderung (auch die Kritik) von
Generationen von begabten Lesern, zu denen einsichtige jüdische Denker wie
Emmanuel Lévinas, Karl Löwith und Herbert Marcuse gehören. Die Versuche,
detektivistisch in diesem Buch antisemitische Spuren auffinden zu wollen, überzeugen
mich nicht. Seine jüdischen Leser haben auch keine in ihm gefunden. Seine sog.
„zweite“ Philosophie, die nach dem 2. Weltkrieg bekannt wurde, stellte ihrerseits die
Grundfragen der Philosophie in den weiteren Rahmen einer Seinsgeschichte und
mündete in eine kritische Perspektive über die Neuzeit und das von ihr geförderte
technische Denken, die auch enormen Widerfall fand. Es war Heideggers These, daß
die technische Denkweise unserer Zeit ihre entfernte Wurzel in der abendländischen
Metaphysik und ihrer Seinsvergessenheit hatte. Man darf hier Heideggers Vision etwas
einseitig finden (ich würde es jedenfalls tun), aber ihr ist zugutezuhalten, daß sie mutig
zu einer anderen Stellung vor dem Sein ermunterte, die zu mehr Besinnung,
Gelassenheit und Verhaltenheit mahnte. Er hat damit der ökologischen Denkart der
letzten Jahrzehnte vorausgedacht und uns geholfen, Phänomene wie die Sprache, die
Kunst, die Geschichte des Denkens und den Nihilismus völlig neu zu verstehen. In all
dem vernehme ich auch keine Spur von Antisemitismus. Heidegger ist ein
weitblickender Denker, und es lohnt sich, sich mit seiner Philosophie, auch kritisch
natürlich, zu beschäftigen. Er gehört, wie Platon, Aristoteles, Descartes, Kant oder
Hegel, dessen schwarze Hefte und Privatvorurteile man glücklicherweise nicht kennt,
zu den ganz großen Gestalten der Philosophiegeschichte.
2. Man muß zu seinen „Freunden“ besonders in schwierigen Zweiten treu bleiben. Cicero hat
es schöner formuliert (De amicitia, 17, 64): amicus certus in re incerta cernitur. Die raren
antisemitischen Texte, die sich in seinen Schwarzen Heften und anderswo finden, sind
tatsächlich haarsträubend und leicht, ja zu leicht anzuprangern, besonders von der
überlegenen Warte unserer Zeit aus. In dieser Situation erscheint die Versuchung groß,
4
Heidegger die Treue zu kündigen. Man ist in der Tat versucht, ihr zu verfallen, wenn
man seine antisemitischen Entgleisungen liest: warum zeigte der Husserl- und
Rickertschüler, der Lehrer von Karl Löwith oder Hans Jonas, der Liebhaber von
Hannah Arendt so wenig Verständnis für die Situation der Juden, als er für die Nazis
Partei ergriff? Warum scheint er nicht die Befreiung von Mai 1945 als Befreiung
empfunden zu haben? Über all das und vieles andere habe ich mehr Fragen als
Antworten. Ist es aber nicht erlaubt, Fragen zu stellen (etwas, was man auch bei
Heidegger lernen kann) und insbesondere die: wie und warum konnte einer in den
trüben 30er Jahren so denken? Die Debatten über Heideggers Antisemitismus
erscheinen mir nämlich viel zu leidenschaftlich, wenig sachlich und vor allem wenig
geschichtlich. Ich glaube, daß es im Namen der geschichtlichen Gerechtigkeit möglich
ist, die damalige Lage von Heideggers zugegeben beschränkter Perspektive aus zu
betrachten. Ich widerstehe also der Versuchung, das angeblich sinkende Schiff der
Heideggerschen Philosophie zu verlassen (oder, wie man auf Englisch sagt, to rush for
the exits). So sehr sie uns heute schokieren müssen, lassen sich Heideggers
antisemitische Texte auch aus ihrer Zeit heraus ein Stück weit „verstehen“, d.h. aus
ihrem Kontext erklären, selbst wenn man Heideggers Sicht überhaupt nicht teilt.
3. Heidegger wurde als Patriot von Hitler total verblendet. Heidegger stammte aus einem
bescheidenen, erzkatholischen und provinziellen Milieu. Wie viele dieses Milieus,
denen die uns selbstverständliche liberale, westliche Demokratie fremd war, wurde er
von den Nazis und speziell von der Gestalt Hitlers sehr angezogen. Es fällt dabei auf,
daß Heidegger selber seine Begeisterung mit nahezu erotischen Worten beschrieb. So
schrieb er an seinen Bruder im April 1933: „Die Welt unseres Volkes und des Reiches
ist in der Umbildung begriffen, und jeder, der noch Augen hat zu sehen, und Ohren
zu hören und ein Herz zum Handeln wird mitgerissen und in eine tiefe Erregung
versetzt“1. Als Jaspers Heidegger 1933 mit der Frage provozierte: „wie soll ein so
1
Brief Nr. 48 an Fritz Heidegger (= FH) vom 13. April 1933.
5
ungebildeter Mensch wie Hitler Deutschland regieren?“, antwortete der Hitlerverehrer:
„Bildung ist ganz gleichgültig. Sehen sie nur seine wunderbaren Hände!“ 2. Wer so
redet, ist heillos von seiner Leidenschaft verblendet. Angetan von Hitler wurde
Heidegger vor der Machtergreifung. Am 18. Dezember 1931 schickte er seinem noch
zögernden Bruder ein Hitlerbuch mit der Bemerkung: „Daß dieser Mensch einen
ungewöhnlichen und sicheren, politischen Instinkt hat und eben schon gehabt hat, wo
wir alle noch benebelt waren, das darf kein Einsichtiger mehr bestreiten. (...) Es geht
nicht um kleine Parteipolitik mehr – sondern um Rettung oder Untergang Europas
und der abendländischen Kultur. Wer das auch jetzt noch nicht begreift, der ist wert,
im Chaos zerrieben zu werden“3. Später schicke er ihm Reden Hitlers, so überzeugt
war er, daß ausgerechnet Hitler der Heilbringer des deutschen Volkes und sogar des
Abendlandes sei.
So überwältigt wurde Heidegger von der heilenden Kraft des Führers, daß er
leider wenig Geduld mit Andersmeinenden zeigte: sie waren es wohl wert, „im Chaos
zerrieben zu werden“. Daß Heidegger in seiner Begeisterung seine maßgeblichen
jüdischen Lehrer und begabten jüdischen Schüler wie Löwith, Arendt, Jonas und
zahlreiche andere „vergaß“, gehört zu seiner für uns unnachvollziehbaren politischen
Verblendung. Es ehrt ihn nicht, daß er hier bereitwilliges Opfer der massiven
Nazipropaganda wurde. Falsche Propaganda diagnostizierte er nur bei den
„Feinden“ Deutschlands. Noch 1941 verteidigte er die Verlässlichkeit der
Berichterstattung der deutschen Wehrmacht: „Gegenüber der feindlichen Propaganda
sind unsere OKW [Oberkommando der Wehrmacht] Berichte unbedingt wahr. Mit
unbedingter Zuverlässikeit werden die durch die Lage gegebenen und je bedingten
2
K. Jaspers, Philosophische Autobiographie, München 1978, 101.
Brief Nr. 37 an FH vom 18. Dezember 1931. Vgl. auch den Brief vom 4. Mai 1933 : „Du darfst
die Bewegung nicht von unten her betrachten, sondern vom Führer und seinen grossen Zielen“.
3
6
Tatsachen in jeweils bestimmten und das heißt bedingten Hinsichten richtig
wiedergegeben. Diese unbedingte Bedingtheit gibt eine riesige Richtigkeit“4.
Die Briefäußerung belegt Heideggers politische Naivität und Anfälligkeit für die
Nazikriegspropaganda, auf die zurückzukommen sein wird. Wer von seiner
Leidenschaft nie verblendet wurde, möge ihm den ersten Stein werfen. Ferner: wie
kann man so sicher sein, daß man in derselben Situation anders gehandelt hätte?
Niemand kann es wissen. Heidegger hat sich natürlich geirrt und er hat das bald
anerkannt, aber das soll nicht darüber hinwegtäuschen, daß er aus größter Sorge um
sein „Volk“ und sogar das Abendland Nazi wurde. Er hielt es für eine patriotische
Pflicht, für Hitler Partei zu ergreifen.
4. So sehr Heidegger von den Nazis verführt wurde, so schien er in seinen öffentlichen
politischen Reden antisemitische Parolen zu meiden. Er schrieb beispielsweise keine
antisemitischen Pamphlete und hielt sich von antisemitischen Äußerungen in seinen
Publikationen und Stellungnahmen ab. Texte dieser Art finden sich bekanntlich bei
Autoren wie Paul de Man und Blanchot, von Céline und vielen anderen ganz zu
schweigen. Bei Heidegger findet man keine, auch nicht zu der Zeit, als er sich während
seines kurzen Rektorats als eifriger Nazi präsentierte. So konnte lange der Eindruck
entstehen, Heidegger sei Nazi gewesen, ohne antisemit gewesen zu sein. Es war naiv,
das zu glauben. Die „Schwarzen Hefte“ haben uns hier eines anderen belehrt. Sie
enthalten einige Texte, die man nur als antisemit einstufen kann, die Heidegger aber
für sich behielt. Vielleicht empfand er wegen seiner vielen Kontakte mit jüdischen
Lehrern und Schülern eine gewisse Scheu, sich als Antisemit zu gebärden? Das ist
nicht unmöglich. Naheliegender erscheint mir die Vermutung, Heidegger sah nicht im
Antisemitismus ein wesentliches Merkmal der Nazis.
Zwei Arten von Gründen lassen sich nämlich für seine politische Parteinahme
namhaft machen: politisch-nationale und philosophische. 1/ Nazi wurde er zunächst
4
Brief Nr. 144. an FH vom 9. August 1941.
7
als „Patriot“, der nach dem in seinen Augen „Räuberwesen und Banditentum“ von
Versailles (GA 96, 40) in Hitler einen Retter für Deutschland sehen wollte. Diese
politische Einschätzung war in Deutschland verbreitet und lässt sich aus dem Kontext
der damaligen Situation weitgehend nachvollziehen, so schwer das uns heute fallen
mag. 2/ Philosophisch fühlte er sich auch von der „NS-Bewegung“ und ihrem
Versprechen eines Neuanfangs angezogen. Heidegger hat selber betont, daß er „in den
Jahren 1930-1934 den Nationalsozialismus für die Möglichkeit des Übergangs in einen
anderen Anfang“ hielt und ihm diese philosophische Deutung gegeben hat5. Es trifft sich,
und das ist ein tragischer Zufall, daß seine ganze Philosophie seit Anfang der 30er
Jahre an einem grundlegenden philosophischen „Übergang“ arbeitete, der aus dem
Weiterdenken und der Umwandlung seines Ansatzes in Sein und Zeit hervorging6. Er
fand seinen Ausdruck in einem großen Manuskript, das er in den Jahren 1936-1938
verfasste, aber nie veröffentlichte, den Beiträgen zur Philosophie (jetzt in GA 65). Es geht
Heidegger dort, vereinfachend gesagt, um die Anbahnung eines anderen Seinsdenkens,
das von der vergegenständlichen Einstellung zum Sein, die unsere metaphysische
Tradition dominiert hätte, Abschied nehmen möchte zugunsten einer Auffassung des
Seins als Ereignis. In diesem Manuskript sowie in seinen weiteren philosophischen
Abhandlungen aus dieser Zeit spielt der Antisemitismus keine Rolle und die
Bezugnahmen auf die Nazis fallen durchaus kritisch aus.
Es steht dennoch fest, daß Heidegger eine Zeit lang (nach eigenem Erkunden in
den Jahren 1930-1934) selber eine Affinität zwischen seinem neuen, erhofften
Seinsdenken und der NS-Bewegung erblicken wollte. Es mag sein, daß er sich über die
Dauer seiner Faszination irrte, aber spätestens im Jahre 1938, also vor Beginn des 2.
5
GA 95, 408. Noch nach dem Krieg hielt Heidegger an Elementen dieser Rechtfertigung fest.
Vgl. GA 97, 148: der „Irrtum von 1933“ (Heideggers Worte) bestand nicht darin, einen Übergang
über die Metaphysik hinaus zu erhoffen, sondern in der Meinung, „solches könne im Augenblick
unmittelbar eingerichtet und befördert werden“.
6
Vgl. vom Vf., The Critique and Rethinking of Being and Time in the First Black Notebooks, in I.
Farin/J. Malpas (Hrsg.), Reading Heidegger’s Blackbooks 1931-1941, Cambridge 2016, 95-107.
8
Weltkrieges, beschrieb er diese Hoffnung als eine „Täuschung über das Wesen und die
geschichtliche Wesenskraft des Nationalsozialismus“. Er hätte damit diese
„’Bewegung’ in ihren eigentlichen Kräften und inneren Notwendigkeit [...] verkannt
und unterschätzt“ (GA 95, 408).
In all dem deutet jedoch nichts darauf hin, daß Heidegger je im Antisemitismus
ein entscheidendes Element der nationalsozialistischen Bewegung gesehen hat, zumindest
wie er sie sich vorstellte (man kann ihn hier der Naivität bezichtigen, aber andere, wie
wir sehen werden, waren auch dieser Auffassung). Seine „wesentliche Bejahung“ galt
allein der „Bewegung“, die er in den Nazis hatte ahnen wollen und die nach ihm
„unabhängig von der je zeitgenössischen Gestalt und Dauer dieser gerade sichtbaren
Formen“ des Nationalsozialismus blieb (ebd.). An dieser Vision eines Neuanfangs
würde er sogar über 1945 hinaus festhalten.
Die heikle und berechtigte Frage nach dem Verhältnis zwischen Heideggers
politischen Engagement und seinem Denken beantwortet sich damit von selbst. Er hat
selber unterstrichen, daß er „aus denkerischen Gründen“ (ebd.) große Hoffnungen in
die Nazibewegung setzte, nämlich weil er in ihr Züge der philosophischen Revolution
glaubte erkennen zu sollen, die nach seiner Überzeugung das Abendland zu seiner
eigenen Rettung nötig hatte. Er hat das mit klaren Worten während der Nazizeit und
sogar nach ihr betont, auch wenn schließlich, und das gehört zur Tragik Heideggers,
die ihm vorschwebende Wende mit derjenigen der Nazis nicht viel zu tun hatte. Was
für eine politische Wende er selber im Sinne hatte, hat Heidegger freilich nicht selber
sehr deutlich ausgemalt, und das ist, wenn man will, die zweite Tragödie seiner
politisch-philosophischen Illusion. Sie war wirklichkeitsfern im doppelten Sinne des
Wortes: sie hatte wenig mit der Naziwirklichkeit zu tun und kümmerte sich nicht
besonders um ihre eigene Verwirklichung. In dieser Hinsicht bestätigt sich, daß
Heidegger politisch sehr unbegabt war.
9
5. Heidegger wurde insbesondere Opfer der antijüdischen Kriegspropaganda der Nazis. Wer
die „Schwarzen Hefte“ nicht gelesen hat und sich auf das Gerede über sie verläßt,
könnte leicht der Meinung verfallen, diese Hefte wimmelten von antisemitischen
Parolen. Die antisemitischen Texte sind schlimm genug, aber sie sind tatsächlich
selten7 und relativ späteren Datums. Es ist lehrreich, daß sie im ersten Band (GA 94)
aus den Jahren 1931-38 vollkommen fehlen. In ihnen bemüht sich Heidegger, seine
Parteinahme für die Nazis ausführlich zu rechtfertigen, aber er tut es, ohne ein
einziges Mal auf den Antisemitismus oder die Juden anzuspielen. Das scheint mir zu
bestätigen, daß der Antisemitismus für ihn keine ausschlaggebende Rolle spielte.
Anders ausgedrückt: wäre Heidegger ein rabiater Antisemit gewesen, hätte er es in
diesen Jahren bekannt gegeben. Wie der scharfsinnige Beobachter Raymond Aron, der
sich 1933 in Berlin aufhielt, schrieb, haben damals viele den Antisemitismus als billige
Wahlkampfpropaganda der Nazis abgetan (worin sie sich natürlich geirrt haben)8. Der
Antisemitismus tritt erst in Erscheinung in den Heften ab 1938 und 1939. Was
Heidegger dann über die Juden schreibt, strotzt von Klischees, die die Nazis
propagandistisch verstärkten: die Juden seien „berechnend“ und vor allem intrigant
mit ihren versteckten Machenschaften. Warum tauchen sie auf einmal auf in
Heideggers Notizen? Man muß hier sehen, daß die unmittelbaren Vorkriegs- und
Kriegsjahre eine Zeit waren, in der die Nazis ihre antijüdische Propaganda
intensivierten. In dieser Hinsicht ist viel zu lernen aus dem neueren sorgfältigen Buch
des Historikers Nicholas Stargardt, The German War. A Nation under Arms, 1939-45. Er
ruft in Erinnerung, daß die Nazis die Deutschen davon überzeugen wollten und zum
Teil überzeugt hatten, das „Weltjudentum“ hätte die Allierten dazu angestachelt, Krieg
7
Quantität ist anscheinend nicht wichtig, aber es gibt viel mehr « antichristliche » Äußerungen in
seinen Heften. Niemand hat aber, glaube ich, von Heideggers « seinsgeschichtlichen
Antichristianismus » gesprochen.
8
R. Aron, Mémoires, Paris 1983, 76 : « Que l’antisémitisme fût plus qu’une arme de propagande,
plus qu’une idéologie à usage électoral, tous les observateurs auraient dû s’en convaincre. Mais la
radicalité de l’antisémitisme qui s’exprima à partir de 1942 dans la ‘solution finale’, personne,
me semble-t-il, ne la soupçonna immédiatement ».
10
gegen Deutschland zu führen. Diese schaudererregende Sicht hatte Goebbels in einem
Artikel bekräftigt, der am 16. November 1941 unter dem Titel „Die Juden sind
schuld!“ in Das Reich erschien und grosse Resonanz fand9. Diese Kriegspropaganda,
die nicht ohne Wirkung auf Heidegger blieb (GA 96, 262), präsentierte ständig
(fälschlicherweise selbstverständlich) Hitler als einen, der stets um Frieden bemüht war,
deren „wohlwollende“ Friedensangebote aber systematisch von den Allierten
ausgeschlagen wurden. Wer war also schuld am Krieg und an den ständigen
„Angriffen“ gegen Deutschland? Antwort: die Juden und das „Weltjudentum“. Das
galt selbst für die Ostfront. Wer dort den Krieg „begonnen“ hatte, war für die
Nazipropaganda der Judeo-Bolschewismus. Wie Stargardt ausführt, haben selbst die
katholischen Bischöfe diesen angeblichen Verteidigungskrieg gegen den „JudeoBolschewismus“ öffentlich unterstützt10. Heidegger hat diese Propaganda, die er als
solche, wie wir gesehen haben, nicht durchschauen konnte, offenbar auch in sich
aufgenommen. Trotz seiner Kritik am Nationalsozialismus war es ihm natürlich, sich
mit seinem Land in Kriegszeiten zu solidarisieren. Es ist dabei zu bedenken, daß er
damals zwei Söhne im kriegerischen Einsatz hatte. Warum mussten sie Krieg führen
und ihr Leben aufs Spiel setzen? Antwort: wegen des „Weltjudentums“, von dem
Heidegger in seinen Heften sagte, es sei „überall unfassbar und sich bei aller
Machtenfaltung nirgend an kriegerischen Handlungen zu beteiligen [brauche],
wogegen uns nur bleibt, das beste Blut der Besten des eigenen Volkes zu opfern“ (GA
96, 262). Die berüchtigte Stelle ist durchaus auch persönlich zu verstehen.
Selbstverständlich stellte die Nazipropaganda die Tatsachen vollkommen auf den
9
Vgl. N. Stargardt, The German War, London 2015, 197, 242. Erinnert sei an die ersten Sätze
dieser furchtbaren Rede : « Die historische Schuld des Weltjudentums am Ausbruch [!] und der
Ausweitung [!] dieses Krieges ist so hinreichend erwiesen, daß darüber keine Worte mehr zu
verlieren sind ».
10
Stargardt, The German War, 162. Ein weiteres Indiz für Heideggers Anfälligkeit für die
Kriegspropaganda liegt darin, daß seine antiwestlichen Ausfälle (1943 : « Alles Westliche ist das
Ende », Brief Nr. 199 an FH vom 13. August 1943) nach dem amerikanischen Kriegseintritt
erheblich zunehmen.
11
Kopf. Es ist jedoch die einzige Sicht der Dinge, zu der Heidegger Zugang hatte. Er
lebte in einer extrem totalitären Gesellschaft, die alle Informationsmittel kontrollierte,
und wurde Opfer ihrer gewaltigen Propaganda. Dessen muss man eingedenk sein,
wenn man Heideggers damalige Äußerungen ankreidet von der Bequemlichkeit
unserer heutigen Computerschirme aus, von denen wir dankbarerweise Zugang zu
vielfältigen Informationsquellen geniessen. Heidegger verfügte nicht über dieses
Privileg. Von Heidegger bleibt wahrlich viel zu lernen.