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Warum ich Heidegger in schwieriger Zeit treu bleibe

Heidegger’s political views and antisemitic pronouncements are unbearable. It is easy to condem them from the privileged vantage point of our time and those who know what national-socialism has become. i.e., the epitome of evil. It is more difficult to try to understand, historically, how a thinker of Heidegger’s stature could be attracted by the nazi movement. The publication of his Black Notebooks and the correspondence with his brother Fritz help us to see what fascinated him in this movement, most notably the political possibility of a rebirth of Germany and even Europe, and, perhaps more importantly for Heidegger, the philosophical possibility of a new beginning for thinking itself and humankind. Heidegger was not politically wise and perhaps naive on both counts, but this paper argues that he was also massively influenced by the propaganda of the Nazis. One has to bear in mind that it was not uncommon for a thinker who was justly preoccupied with the future of his nation to express his support for this very one-sided propaganda in a time of war and imminent peril. To understand Heidegger historically means that one can remain faithful to his more philosophical work.

In W. Homolka und A. Heidegger (ed.), Heidegger und der Antisemitismus. Positionen im Widerstreit, Freiburg/München, Herder Verlag, 2016, 232-241. Warum ich Heidegger in schwieriger Zeit treu bleibe Jean Grondin Abstract: Heidegger’s political views and antisemitic pronouncements are unbearable. It is easy to condem them from the privileged vantage point of our time and those who know what national-socialism has become. i.e., the epitome of evil. It is more difficult to try to understand, historically, how a thinker of Heidegger’s stature could be attracted by the nazi movement. The publication of his Black Notebooks and the correspondence with his brother Fritz help us to see what fascinated him in this movement, most notably the political possibility of a rebirth of Germany and even Europe, and, perhaps more importantly for Heidegger, the philosophical possibility of a new beginning for thinking itself and humankind. Heidegger was not politically wise and perhaps naive on both counts, but this paper argues that he was also massively influenced by the propaganda of the Nazis. One has to bear in mind that it was not uncommon for a thinker who was justly preoccupied with the future of his nation to express his support for this very one-sided propaganda in a time of war and imminent peril. To understand Heidegger historically means that one can remain faithful to his more philosophical work. Heidegger war ein überragender und genialer Denker, sein philosophisches Werk und dessen weltweite Wirkungsgeschichte bestätigen es reichlich, aber er war politisch vollkommen unbegabt (zugegebenemaßen das understatement des Jahrhunderts). Er besaß und demonstrierte eine solide philosophische Bildung, aber nie eine politische, ganz im Gegenteil. Er war ein bahnbrechender Theoretiker unseres „In-der-Weltseins“, verfügte indes über eine recht limitierte Welterfahrung. Er hatte das Unglück, in einer Zeit aufzuwachsen und philosophisch bedeutsam zu werden, in der Deutschland einen Weltkrieg verlor und an den politischen, geistigen und wirtschaftlichen Konsequenzen dieser Niederlage schwer litt. Sie führten zum 2 Aufblühen von revanchistischen Parolen, die die Nazis in Umlauf brachten und für die Heidegger als Patriot anfällig wurde. Es ist sehr schwer, ja unmöglich, uns in die damalige Situation zu versetzen. Das Gute an den Nazis, natürlich das einzig Gute an ihnen, ist eben, daß sie eine rassischethnisch unterbaute Weltanschauung wie die ihrige für die Nachwelt intellektuell vollkommen unglaubwürdig und unnachvollziehbar gemacht haben (zumindest darf man es hoffen). Wenn man Heideggers politische Äusserungen heute liest, wo wie selbstverständlich vom „Schicksal“ des deutschen Volkes, vom „geheimen“ Wesen der Geschichte und erst recht von den „entwurzelten“ Juden und „ihrer betont rechnerischen Begabung“ (GA 96, 56) liest, fühlt man sich von ihnen wie durch einen Graben getrennt. Heideggers politische Deklamationen klingen für uns ebenso fremd wie hohl. Politisch, würde ich sagen, ist von ihm nichts zu lernen. An ihm wird man höchstens des Abstandes gewahr, der uns von seinem Weltbild trennt. Wir haben das Glück – ich habe es zumindest – in einer erfolgreichen liberalen, weltoffenen und multiethnischen Demokratie zu leben, deren kosmopolitische Werte ich mit Fug und Recht verteidigen würde. Heidegger waren sie fremd. Er kritisierte nicht selten den Liberalismus, die Demokratie und den Westen überhaupt, von denen er wohl keine rechte Erfahrung noch Kenntnis hatte. Antisemitische Vorurteile, die zu seiner Zeit und nicht nur in Deutschland gang und gäbe waren, hegte er auch und vermutlich von Hause aus. Über sie kann man nur den Kopf schütteln. Dennoch möchte ich dem Philosophen Heidegger die Treue halten und hier in wenigen Schritten rechtfertigen, warum ich es tue. Ich fange mit einem trivialen Grund an: 1. Jemand muss es tun. Das Geschrei über Heideggers Antisemitismus ist so betäubend und selbstgefällig, daß es vergessen machen kann, daß und warum Heidegger ein so hervorragender Philosoph war. Er hat ein Buch wie Sein und Zeit geschrieben, das seinesgleichen in der Philosophie des 20. Jahrhunderts sucht. Es 3 erinnerte die Philosophie kraftvoll an ihre Hauptfragen, die des Seins und des Sinnes des menschlichen Daseins, und fand die Bewunderung (auch die Kritik) von Generationen von begabten Lesern, zu denen einsichtige jüdische Denker wie Emmanuel Lévinas, Karl Löwith und Herbert Marcuse gehören. Die Versuche, detektivistisch in diesem Buch antisemitische Spuren auffinden zu wollen, überzeugen mich nicht. Seine jüdischen Leser haben auch keine in ihm gefunden. Seine sog. „zweite“ Philosophie, die nach dem 2. Weltkrieg bekannt wurde, stellte ihrerseits die Grundfragen der Philosophie in den weiteren Rahmen einer Seinsgeschichte und mündete in eine kritische Perspektive über die Neuzeit und das von ihr geförderte technische Denken, die auch enormen Widerfall fand. Es war Heideggers These, daß die technische Denkweise unserer Zeit ihre entfernte Wurzel in der abendländischen Metaphysik und ihrer Seinsvergessenheit hatte. Man darf hier Heideggers Vision etwas einseitig finden (ich würde es jedenfalls tun), aber ihr ist zugutezuhalten, daß sie mutig zu einer anderen Stellung vor dem Sein ermunterte, die zu mehr Besinnung, Gelassenheit und Verhaltenheit mahnte. Er hat damit der ökologischen Denkart der letzten Jahrzehnte vorausgedacht und uns geholfen, Phänomene wie die Sprache, die Kunst, die Geschichte des Denkens und den Nihilismus völlig neu zu verstehen. In all dem vernehme ich auch keine Spur von Antisemitismus. Heidegger ist ein weitblickender Denker, und es lohnt sich, sich mit seiner Philosophie, auch kritisch natürlich, zu beschäftigen. Er gehört, wie Platon, Aristoteles, Descartes, Kant oder Hegel, dessen schwarze Hefte und Privatvorurteile man glücklicherweise nicht kennt, zu den ganz großen Gestalten der Philosophiegeschichte. 2. Man muß zu seinen „Freunden“ besonders in schwierigen Zweiten treu bleiben. Cicero hat es schöner formuliert (De amicitia, 17, 64): amicus certus in re incerta cernitur. Die raren antisemitischen Texte, die sich in seinen Schwarzen Heften und anderswo finden, sind tatsächlich haarsträubend und leicht, ja zu leicht anzuprangern, besonders von der überlegenen Warte unserer Zeit aus. In dieser Situation erscheint die Versuchung groß, 4 Heidegger die Treue zu kündigen. Man ist in der Tat versucht, ihr zu verfallen, wenn man seine antisemitischen Entgleisungen liest: warum zeigte der Husserl- und Rickertschüler, der Lehrer von Karl Löwith oder Hans Jonas, der Liebhaber von Hannah Arendt so wenig Verständnis für die Situation der Juden, als er für die Nazis Partei ergriff? Warum scheint er nicht die Befreiung von Mai 1945 als Befreiung empfunden zu haben? Über all das und vieles andere habe ich mehr Fragen als Antworten. Ist es aber nicht erlaubt, Fragen zu stellen (etwas, was man auch bei Heidegger lernen kann) und insbesondere die: wie und warum konnte einer in den trüben 30er Jahren so denken? Die Debatten über Heideggers Antisemitismus erscheinen mir nämlich viel zu leidenschaftlich, wenig sachlich und vor allem wenig geschichtlich. Ich glaube, daß es im Namen der geschichtlichen Gerechtigkeit möglich ist, die damalige Lage von Heideggers zugegeben beschränkter Perspektive aus zu betrachten. Ich widerstehe also der Versuchung, das angeblich sinkende Schiff der Heideggerschen Philosophie zu verlassen (oder, wie man auf Englisch sagt, to rush for the exits). So sehr sie uns heute schokieren müssen, lassen sich Heideggers antisemitische Texte auch aus ihrer Zeit heraus ein Stück weit „verstehen“, d.h. aus ihrem Kontext erklären, selbst wenn man Heideggers Sicht überhaupt nicht teilt. 3. Heidegger wurde als Patriot von Hitler total verblendet. Heidegger stammte aus einem bescheidenen, erzkatholischen und provinziellen Milieu. Wie viele dieses Milieus, denen die uns selbstverständliche liberale, westliche Demokratie fremd war, wurde er von den Nazis und speziell von der Gestalt Hitlers sehr angezogen. Es fällt dabei auf, daß Heidegger selber seine Begeisterung mit nahezu erotischen Worten beschrieb. So schrieb er an seinen Bruder im April 1933: „Die Welt unseres Volkes und des Reiches ist in der Umbildung begriffen, und jeder, der noch Augen hat zu sehen, und Ohren zu hören und ein Herz zum Handeln wird mitgerissen und in eine tiefe Erregung versetzt“1. Als Jaspers Heidegger 1933 mit der Frage provozierte: „wie soll ein so 1 Brief Nr. 48 an Fritz Heidegger (= FH) vom 13. April 1933. 5 ungebildeter Mensch wie Hitler Deutschland regieren?“, antwortete der Hitlerverehrer: „Bildung ist ganz gleichgültig. Sehen sie nur seine wunderbaren Hände!“ 2. Wer so redet, ist heillos von seiner Leidenschaft verblendet. Angetan von Hitler wurde Heidegger vor der Machtergreifung. Am 18. Dezember 1931 schickte er seinem noch zögernden Bruder ein Hitlerbuch mit der Bemerkung: „Daß dieser Mensch einen ungewöhnlichen und sicheren, politischen Instinkt hat und eben schon gehabt hat, wo wir alle noch benebelt waren, das darf kein Einsichtiger mehr bestreiten. (...) Es geht nicht um kleine Parteipolitik mehr – sondern um Rettung oder Untergang Europas und der abendländischen Kultur. Wer das auch jetzt noch nicht begreift, der ist wert, im Chaos zerrieben zu werden“3. Später schicke er ihm Reden Hitlers, so überzeugt war er, daß ausgerechnet Hitler der Heilbringer des deutschen Volkes und sogar des Abendlandes sei. So überwältigt wurde Heidegger von der heilenden Kraft des Führers, daß er leider wenig Geduld mit Andersmeinenden zeigte: sie waren es wohl wert, „im Chaos zerrieben zu werden“. Daß Heidegger in seiner Begeisterung seine maßgeblichen jüdischen Lehrer und begabten jüdischen Schüler wie Löwith, Arendt, Jonas und zahlreiche andere „vergaß“, gehört zu seiner für uns unnachvollziehbaren politischen Verblendung. Es ehrt ihn nicht, daß er hier bereitwilliges Opfer der massiven Nazipropaganda wurde. Falsche Propaganda diagnostizierte er nur bei den „Feinden“ Deutschlands. Noch 1941 verteidigte er die Verlässlichkeit der Berichterstattung der deutschen Wehrmacht: „Gegenüber der feindlichen Propaganda sind unsere OKW [Oberkommando der Wehrmacht] Berichte unbedingt wahr. Mit unbedingter Zuverlässikeit werden die durch die Lage gegebenen und je bedingten 2 K. Jaspers, Philosophische Autobiographie, München 1978, 101. Brief Nr. 37 an FH vom 18. Dezember 1931. Vgl. auch den Brief vom 4. Mai 1933 : „Du darfst die Bewegung nicht von unten her betrachten, sondern vom Führer und seinen grossen Zielen“. 3 6 Tatsachen in jeweils bestimmten und das heißt bedingten Hinsichten richtig wiedergegeben. Diese unbedingte Bedingtheit gibt eine riesige Richtigkeit“4. Die Briefäußerung belegt Heideggers politische Naivität und Anfälligkeit für die Nazikriegspropaganda, auf die zurückzukommen sein wird. Wer von seiner Leidenschaft nie verblendet wurde, möge ihm den ersten Stein werfen. Ferner: wie kann man so sicher sein, daß man in derselben Situation anders gehandelt hätte? Niemand kann es wissen. Heidegger hat sich natürlich geirrt und er hat das bald anerkannt, aber das soll nicht darüber hinwegtäuschen, daß er aus größter Sorge um sein „Volk“ und sogar das Abendland Nazi wurde. Er hielt es für eine patriotische Pflicht, für Hitler Partei zu ergreifen. 4. So sehr Heidegger von den Nazis verführt wurde, so schien er in seinen öffentlichen politischen Reden antisemitische Parolen zu meiden. Er schrieb beispielsweise keine antisemitischen Pamphlete und hielt sich von antisemitischen Äußerungen in seinen Publikationen und Stellungnahmen ab. Texte dieser Art finden sich bekanntlich bei Autoren wie Paul de Man und Blanchot, von Céline und vielen anderen ganz zu schweigen. Bei Heidegger findet man keine, auch nicht zu der Zeit, als er sich während seines kurzen Rektorats als eifriger Nazi präsentierte. So konnte lange der Eindruck entstehen, Heidegger sei Nazi gewesen, ohne antisemit gewesen zu sein. Es war naiv, das zu glauben. Die „Schwarzen Hefte“ haben uns hier eines anderen belehrt. Sie enthalten einige Texte, die man nur als antisemit einstufen kann, die Heidegger aber für sich behielt. Vielleicht empfand er wegen seiner vielen Kontakte mit jüdischen Lehrern und Schülern eine gewisse Scheu, sich als Antisemit zu gebärden? Das ist nicht unmöglich. Naheliegender erscheint mir die Vermutung, Heidegger sah nicht im Antisemitismus ein wesentliches Merkmal der Nazis. Zwei Arten von Gründen lassen sich nämlich für seine politische Parteinahme namhaft machen: politisch-nationale und philosophische. 1/ Nazi wurde er zunächst 4 Brief Nr. 144. an FH vom 9. August 1941. 7 als „Patriot“, der nach dem in seinen Augen „Räuberwesen und Banditentum“ von Versailles (GA 96, 40) in Hitler einen Retter für Deutschland sehen wollte. Diese politische Einschätzung war in Deutschland verbreitet und lässt sich aus dem Kontext der damaligen Situation weitgehend nachvollziehen, so schwer das uns heute fallen mag. 2/ Philosophisch fühlte er sich auch von der „NS-Bewegung“ und ihrem Versprechen eines Neuanfangs angezogen. Heidegger hat selber betont, daß er „in den Jahren 1930-1934 den Nationalsozialismus für die Möglichkeit des Übergangs in einen anderen Anfang“ hielt und ihm diese philosophische Deutung gegeben hat5. Es trifft sich, und das ist ein tragischer Zufall, daß seine ganze Philosophie seit Anfang der 30er Jahre an einem grundlegenden philosophischen „Übergang“ arbeitete, der aus dem Weiterdenken und der Umwandlung seines Ansatzes in Sein und Zeit hervorging6. Er fand seinen Ausdruck in einem großen Manuskript, das er in den Jahren 1936-1938 verfasste, aber nie veröffentlichte, den Beiträgen zur Philosophie (jetzt in GA 65). Es geht Heidegger dort, vereinfachend gesagt, um die Anbahnung eines anderen Seinsdenkens, das von der vergegenständlichen Einstellung zum Sein, die unsere metaphysische Tradition dominiert hätte, Abschied nehmen möchte zugunsten einer Auffassung des Seins als Ereignis. In diesem Manuskript sowie in seinen weiteren philosophischen Abhandlungen aus dieser Zeit spielt der Antisemitismus keine Rolle und die Bezugnahmen auf die Nazis fallen durchaus kritisch aus. Es steht dennoch fest, daß Heidegger eine Zeit lang (nach eigenem Erkunden in den Jahren 1930-1934) selber eine Affinität zwischen seinem neuen, erhofften Seinsdenken und der NS-Bewegung erblicken wollte. Es mag sein, daß er sich über die Dauer seiner Faszination irrte, aber spätestens im Jahre 1938, also vor Beginn des 2. 5 GA 95, 408. Noch nach dem Krieg hielt Heidegger an Elementen dieser Rechtfertigung fest. Vgl. GA 97, 148: der „Irrtum von 1933“ (Heideggers Worte) bestand nicht darin, einen Übergang über die Metaphysik hinaus zu erhoffen, sondern in der Meinung, „solches könne im Augenblick unmittelbar eingerichtet und befördert werden“. 6 Vgl. vom Vf., The Critique and Rethinking of Being and Time in the First Black Notebooks, in I. Farin/J. Malpas (Hrsg.), Reading Heidegger’s Blackbooks 1931-1941, Cambridge 2016, 95-107. 8 Weltkrieges, beschrieb er diese Hoffnung als eine „Täuschung über das Wesen und die geschichtliche Wesenskraft des Nationalsozialismus“. Er hätte damit diese „’Bewegung’ in ihren eigentlichen Kräften und inneren Notwendigkeit [...] verkannt und unterschätzt“ (GA 95, 408). In all dem deutet jedoch nichts darauf hin, daß Heidegger je im Antisemitismus ein entscheidendes Element der nationalsozialistischen Bewegung gesehen hat, zumindest wie er sie sich vorstellte (man kann ihn hier der Naivität bezichtigen, aber andere, wie wir sehen werden, waren auch dieser Auffassung). Seine „wesentliche Bejahung“ galt allein der „Bewegung“, die er in den Nazis hatte ahnen wollen und die nach ihm „unabhängig von der je zeitgenössischen Gestalt und Dauer dieser gerade sichtbaren Formen“ des Nationalsozialismus blieb (ebd.). An dieser Vision eines Neuanfangs würde er sogar über 1945 hinaus festhalten. Die heikle und berechtigte Frage nach dem Verhältnis zwischen Heideggers politischen Engagement und seinem Denken beantwortet sich damit von selbst. Er hat selber unterstrichen, daß er „aus denkerischen Gründen“ (ebd.) große Hoffnungen in die Nazibewegung setzte, nämlich weil er in ihr Züge der philosophischen Revolution glaubte erkennen zu sollen, die nach seiner Überzeugung das Abendland zu seiner eigenen Rettung nötig hatte. Er hat das mit klaren Worten während der Nazizeit und sogar nach ihr betont, auch wenn schließlich, und das gehört zur Tragik Heideggers, die ihm vorschwebende Wende mit derjenigen der Nazis nicht viel zu tun hatte. Was für eine politische Wende er selber im Sinne hatte, hat Heidegger freilich nicht selber sehr deutlich ausgemalt, und das ist, wenn man will, die zweite Tragödie seiner politisch-philosophischen Illusion. Sie war wirklichkeitsfern im doppelten Sinne des Wortes: sie hatte wenig mit der Naziwirklichkeit zu tun und kümmerte sich nicht besonders um ihre eigene Verwirklichung. In dieser Hinsicht bestätigt sich, daß Heidegger politisch sehr unbegabt war. 9 5. Heidegger wurde insbesondere Opfer der antijüdischen Kriegspropaganda der Nazis. Wer die „Schwarzen Hefte“ nicht gelesen hat und sich auf das Gerede über sie verläßt, könnte leicht der Meinung verfallen, diese Hefte wimmelten von antisemitischen Parolen. Die antisemitischen Texte sind schlimm genug, aber sie sind tatsächlich selten7 und relativ späteren Datums. Es ist lehrreich, daß sie im ersten Band (GA 94) aus den Jahren 1931-38 vollkommen fehlen. In ihnen bemüht sich Heidegger, seine Parteinahme für die Nazis ausführlich zu rechtfertigen, aber er tut es, ohne ein einziges Mal auf den Antisemitismus oder die Juden anzuspielen. Das scheint mir zu bestätigen, daß der Antisemitismus für ihn keine ausschlaggebende Rolle spielte. Anders ausgedrückt: wäre Heidegger ein rabiater Antisemit gewesen, hätte er es in diesen Jahren bekannt gegeben. Wie der scharfsinnige Beobachter Raymond Aron, der sich 1933 in Berlin aufhielt, schrieb, haben damals viele den Antisemitismus als billige Wahlkampfpropaganda der Nazis abgetan (worin sie sich natürlich geirrt haben)8. Der Antisemitismus tritt erst in Erscheinung in den Heften ab 1938 und 1939. Was Heidegger dann über die Juden schreibt, strotzt von Klischees, die die Nazis propagandistisch verstärkten: die Juden seien „berechnend“ und vor allem intrigant mit ihren versteckten Machenschaften. Warum tauchen sie auf einmal auf in Heideggers Notizen? Man muß hier sehen, daß die unmittelbaren Vorkriegs- und Kriegsjahre eine Zeit waren, in der die Nazis ihre antijüdische Propaganda intensivierten. In dieser Hinsicht ist viel zu lernen aus dem neueren sorgfältigen Buch des Historikers Nicholas Stargardt, The German War. A Nation under Arms, 1939-45. Er ruft in Erinnerung, daß die Nazis die Deutschen davon überzeugen wollten und zum Teil überzeugt hatten, das „Weltjudentum“ hätte die Allierten dazu angestachelt, Krieg 7 Quantität ist anscheinend nicht wichtig, aber es gibt viel mehr « antichristliche » Äußerungen in seinen Heften. Niemand hat aber, glaube ich, von Heideggers « seinsgeschichtlichen Antichristianismus » gesprochen. 8 R. Aron, Mémoires, Paris 1983, 76 : « Que l’antisémitisme fût plus qu’une arme de propagande, plus qu’une idéologie à usage électoral, tous les observateurs auraient dû s’en convaincre. Mais la radicalité de l’antisémitisme qui s’exprima à partir de 1942 dans la ‘solution finale’, personne, me semble-t-il, ne la soupçonna immédiatement ». 10 gegen Deutschland zu führen. Diese schaudererregende Sicht hatte Goebbels in einem Artikel bekräftigt, der am 16. November 1941 unter dem Titel „Die Juden sind schuld!“ in Das Reich erschien und grosse Resonanz fand9. Diese Kriegspropaganda, die nicht ohne Wirkung auf Heidegger blieb (GA 96, 262), präsentierte ständig (fälschlicherweise selbstverständlich) Hitler als einen, der stets um Frieden bemüht war, deren „wohlwollende“ Friedensangebote aber systematisch von den Allierten ausgeschlagen wurden. Wer war also schuld am Krieg und an den ständigen „Angriffen“ gegen Deutschland? Antwort: die Juden und das „Weltjudentum“. Das galt selbst für die Ostfront. Wer dort den Krieg „begonnen“ hatte, war für die Nazipropaganda der Judeo-Bolschewismus. Wie Stargardt ausführt, haben selbst die katholischen Bischöfe diesen angeblichen Verteidigungskrieg gegen den „JudeoBolschewismus“ öffentlich unterstützt10. Heidegger hat diese Propaganda, die er als solche, wie wir gesehen haben, nicht durchschauen konnte, offenbar auch in sich aufgenommen. Trotz seiner Kritik am Nationalsozialismus war es ihm natürlich, sich mit seinem Land in Kriegszeiten zu solidarisieren. Es ist dabei zu bedenken, daß er damals zwei Söhne im kriegerischen Einsatz hatte. Warum mussten sie Krieg führen und ihr Leben aufs Spiel setzen? Antwort: wegen des „Weltjudentums“, von dem Heidegger in seinen Heften sagte, es sei „überall unfassbar und sich bei aller Machtenfaltung nirgend an kriegerischen Handlungen zu beteiligen [brauche], wogegen uns nur bleibt, das beste Blut der Besten des eigenen Volkes zu opfern“ (GA 96, 262). Die berüchtigte Stelle ist durchaus auch persönlich zu verstehen. Selbstverständlich stellte die Nazipropaganda die Tatsachen vollkommen auf den 9 Vgl. N. Stargardt, The German War, London 2015, 197, 242. Erinnert sei an die ersten Sätze dieser furchtbaren Rede : « Die historische Schuld des Weltjudentums am Ausbruch [!] und der Ausweitung [!] dieses Krieges ist so hinreichend erwiesen, daß darüber keine Worte mehr zu verlieren sind ». 10 Stargardt, The German War, 162. Ein weiteres Indiz für Heideggers Anfälligkeit für die Kriegspropaganda liegt darin, daß seine antiwestlichen Ausfälle (1943 : « Alles Westliche ist das Ende », Brief Nr. 199 an FH vom 13. August 1943) nach dem amerikanischen Kriegseintritt erheblich zunehmen. 11 Kopf. Es ist jedoch die einzige Sicht der Dinge, zu der Heidegger Zugang hatte. Er lebte in einer extrem totalitären Gesellschaft, die alle Informationsmittel kontrollierte, und wurde Opfer ihrer gewaltigen Propaganda. Dessen muss man eingedenk sein, wenn man Heideggers damalige Äußerungen ankreidet von der Bequemlichkeit unserer heutigen Computerschirme aus, von denen wir dankbarerweise Zugang zu vielfältigen Informationsquellen geniessen. Heidegger verfügte nicht über dieses Privileg. Von Heidegger bleibt wahrlich viel zu lernen.