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Gegen-Eigentlichkeit Haltung – Indifferenz – Einsamkeit

Aus der Antike treten unter dem Begriff der hexis zwei Anwendungsfälle zum Vorschein, die noch heute das Nachdenken über Haltung informieren können. Der erste betrifft die (moralische) Beurteilbarkeit von Personen, der andere den Umgang mit der eigenen Affektivität, das heißt den aktiven Vollzug dieser Affektivität. Beide sind, was nicht überraschen dürfte, miteinander verknüpft: Der Umgang mit den Affekten selbst ist es, der als Haltung in der Antike zum Kohärenzkriterium des moralischen Charakters wird. Indifferenz und Einsamkeit werden hier als Versuch verstanden, sich dieser Kohärenz subversiv zu entziehen.

Gegen-Eigentlichkeit Haltung – Indifferenz – Einsamkeit Philipp Wüschner Aus der Antike treten unter dem Begriff der hexis zwei Anwendungsfälle zum Vorschein, die noch heute das Nachdenken über Haltung informieren können. Der erste betrifft die (moralische) Beurteilbarkeit von Personen, der andere den Umgang mit der eigenen Affektivität, das heißt den aktiven Vollzug dieser Affektivität. Beide sind, was nicht überraschen dürfte, miteinander verknüpft: Der Umgang mit den Affekten selbst ist es, der als Haltung in der Antike zum Kriterium des moralischen Charakters wird. 1 Die Art dieser Verknüpfung, die ich im Folgenden als eine Art existenziale Kohärenz verstehen möchte, ist jedoch ist alles andere als unproblematisch. Diese Pflicht zur Kohärenz dient in ihrem Konfliktpotenzial als Ausgangspunkt dieser Untersuchung, die sich daran anschließend zwei Extremwerten von Haltung – Indifferenz und Einsamkeit – zuwendet. Sie werden hier als Versuch verstanden, sich dieser Kohärenz subversiv zu entziehen. So wird die Antike zur Echokammer moderner Befindlichkeiten. Anders als im Gros der (post-)modernen und psychoanalytischen Literatur allerdings, mit ihrem Hang zum Ereignishaften, sollen die Krisenmomente von Haltung hier aus dieser selbst entfaltet werden und nicht aus der Konfrontationen mit einem traumatischen Außen. Es bedarf keiner Lebenskatastrophe, um an den Rand der eigenen Haltung getrieben zu werden. Das Ergebnis dieser Betrachtung ist eine gewisse Spannung zwischen Bezüglichkeit und Individuierung, von der ich behaupte, dass sie den Kern jeder Haltung ausmacht. I. Das double-bind von Haltung Zunächst sind Haltungen Medien des sozialen Miteinanders. Sie, nicht Handlungen, sind in der Antike die eigentlichen Objekte der öffentlichen Kritik. Nicht eine Entscheidung (prohairesis) steht auf dem Prüfstand, sondern die Haltung, aus der heraus sie getroffen wurde (hexis prohairetikê),2 und die Frage, ob sie – fest und ohne Schwanken (ametakinêtos, d.h. ohne zusätzliche Bewegung) – überhaupt aus einer Haltung heraus 1 Zu einer ausführlichen Darstellung dieses Haltungsbegriffs siehe: Philipp Wüschner: Eine aristotelische Theorie der Haltung. Hexis und Euexia in der Antike, Hamburg 2016. 2 Vgl. Frauke Kurbacher: „Was ist Haltung“, 2008. DGPhil2008.de/programm/ kurbacher.pdf 109 vollzogen wurde.3 Die grundlegende Öffentlichkeit dieser Haltungen, ihre bis ins Physiognomische greifende Sichtbarkeit, die auch eine „absolute Öffentlichkeit des Gewissens“ 4 umfasst, zeitigt eine wichtige Konsequenz, die für Aristoteles’ Ethik (und für daran anknüpfende Tugendethiken) bislang noch kaum in den Vordergrund gerückt wurde: Insofern alle Haltungen in den Bereich des öffentlich Sichtbaren rücken, unterstehen moralische Urteile dem Primat der aisthêsis (1109b 22–24). Diesem aisthetischen Zugriff auf Personen, der sich an ihren Oberflächen abarbeitet, eignet, wie der gesamten Antike, ein antipsychologistischer Zug. Als soziale Medien werden Haltungen einer Person zur Erklärung ihres Verhaltens immer schon unterstellt, und im Gegenzug der Rekurs auf einen Willen, Begehren oder Zwang als externe Erklärungsalternativen (als metakinêseis) diskreditiert. Dort, wo ein Begehren sich Bahn schlägt, oder ein Zwang wirksam wird, erscheint beides unter dem Vorzeichen einer unzureichenden Haltung oder Haltungsschwäche, wird also als Erklärungsmoment nicht nur nicht beachtet, sondern darüberhinaus diskreditiert. Will sagen, Haltung funktioniert als Erklärungsmodell für Benehmen als totalisierender Begriff ohne Außen – beziehungsweise, präziser formuliert, ohne Innen. Das Urteil über Haltungen ersetzt Funktionen der Psychologie durch die Ästhetik. Dieser Tatbestand ist in sich bereits ambivalent: Es bedeutet einerseits eine systematische Verkennung alternativer Motive des Handelns und identifiziert eine Person mit ihrer Haltung, als deren Ausdruck ihre Handlung sinnvoll erscheint, andererseits ermöglicht diese Verkennung es jedoch, genau diese Motive und Kräfte (Trieb, Willen, Begehren, Zwang) den Zugriffen der sozialen Beurteilung zu entziehen, sie bleiben anonyme Größen und werden in der Antike kaum je zu den individuellen Persönlichkeitsmerkmalen, die sie in der Moderne sind. Als unfeine Banalitäten werden sie dem öffentlichen Diskurs entzogen und der internen Zwiesprache des Menschen mit seinem bellenden Herzen überantwortet.5 Gerade weil es keinen Diskurs der Privatheit gibt, ist Privatheit möglich. Gerade indem sich das antike Haltungsdenken psychologischen Erklärungen verschließt, überlässt sie das Ringen mit dem eigenen Herzen jedem Ein- 3 Aristoteles: Nikomachische Ethik (EN), Olof Gigon (übers.), München 2000, 1105a 33; fortan im Text zitiert. 4 Werner Jaeger: Paideia, Die Formung des griechischen Menschen, Berlin 1973, S. 32. 5 Zum bellenden Herzen Odysseus’ siehe: Franz Dirlmeier: „Vom Monolog der Dichtung zum ‚inneren‘ Logos bei Platon und Aristoteles“, in: ders., Ausgewählte Schriften zu Dichtung und Philosophie der Griechen, Heidelberg 1970. 110 zelnen, wo es vom Monolog der Tragödie zum ‚inneren‘ logos werden darf.6 Somit ergibt sich eine doppelte Kohärenz: Erstens eine geforderte ‚externe‘ Kohärenz der eigenen Lebensführung mit demjenigen Repertoire an Haltungen, das im Rahmen der sozialen Epistemologie einer Gesellschaft normativ akzeptiert ist (ethos), und dessen Überschreitung entweder als pathologisch betrachtet oder mit Ausgrenzung und Scham sanktioniert wird. Zweitens aber eine interne Kohärenz des eigenen Verhaltens über die Zeit. Den Zusammenfall beider Kohärenzverhältnisse sollte durch Vernunft und Erziehung ermöglicht, durch das gemeinsame Streiten darüber politische annähernd verwirklicht und durch eudaimonia individuell entlohnt werden – wobei vor allem der realitätsnahe Aristoteles, der versucht dieses Zusammenfallen in seinem meson-Begriff zu theoretisieren, sich tolerant gegen geringfügige Abschweifungen zeigt.7 Mit der europäischen Geständnis- und Bekenntniskultur seit Augustinus, die ein erhöhtes Interesse für die unfeinen Triebe und Begehren zeigt und bereits eine gewisse Psychologie vorwegnimmt, wird diese Bemühung um Kohärenz nun als Modell der christlichen Sittlichkeit und Zwei-Naturen, ja: Zwei-Reiche-Lehre gedacht und büßt auf diese Weise gehörig an Offenheit, Eigenverantwortung und Diesseitigkeit ein. 8 Der Preis, den es fortan bedeutet, beiden Formen der Kohärenz in einem Leben genügen und in einer sittlich-christlichen Haltung zum Ausdruck bringen zu müssen, wird von Nietzsche und im Anschluss an ihn mit Foucaults Kritik an Normalisierung für die Moderne bezifferbar gemacht: Die Vereinbarkeit beider Formen von Kohärenz in Form eines gelungenen (bürgerlichen) Lebens als Individuum in Gesellschaft wird durch den Imperativ Haltung anzunehmen zwar behauptet und verlangt, – ihre Möglichkeit beziehungsweise Unmöglichkeit aber nicht näher betrachtet. Allein deswegen kann Haltung, wenn sie an dieser Spannung nicht krank werden soll, nur kritisch sein, die ihre eigene Inkohärenz immer wieder ästhetisch und politisch artikuliert und offenlegt. Sie ist dann Haltung genau im Sinne Foucaults, der in seinem Vortrag Was ist Kritik? zunächst festhält: „Es gibt etwas in der Kritik, das sich mit der Tugend verschwägert“, und anschließend diese „kritische Haltung als Tugend im allgemeinen“ bezeichnet.9 6 Dirlmeier: „Vom Monolog der Dichtung zum ‚inneren‘ Logos.“ Siehe auch: Philipp Wüschner: Eine aristotelische Theorie der Haltung. Hexis und Euexia in der Antike, Hamburg 2016; Kap. 7. 7 Zur Interpretation dieser Kohärenz als Menschenwürde siehe Eva Weber-Guskar in diesem Band. 8 Ein gegenläufiges Modell von Moral, dass auf eine Zwei-Naturen-Ethik verzichtet, findet sich bei David Hume. Siehe dazu: Landweer/Wüschner in diesem Band. 9 Michel Foucault: Was ist Kritik?, Berlin 1992, S. 9. 111 Der zweite Anwendungsfall des antiken wie zeitgenössischen Haltungsbegriffs kommt scheinbar aus einem ganz anderen Register, nämlich der Affektkontrolle. Haltung – diesmal im emphatischen Singular – dient der Konfrontation mit dem Schicksal, mit den eigenen Leidenschaften, aber auch mit den Versuchungen des eigenen Lustempfindens. Es bedarf keines Foucault-Seminars, um den Anspruch der sozialen Kohärenz auf diesen affektiven Haltungsbegriff zu übertragen und beide Anwendungsfälle zu einer Synthese zu führen: Nicht nur die Haltung, aus der wir handeln, auch die Haltung, mit der wir ertragen, begehren und leiden, ist den Ansprüchen sozialer Intelligibilität und damit den Verkennungen, die sie begleiten, unterworfen. Diese Übertragung der Kohärenz-Forderung auf die Affektivität nimmt die Form eines Imperativs an, der fordert, dass in jedem Einzelnen, in seiner Körper, Geist, Gefühl und Handlung umfassenden Ganzheit, die Welt sich wie in einem Prisma bricht und mitteilbar wird. Nicht nur Handlungsgründe, sondern auch Leidenschaften werden als Haltung sichtbar, sie zeigen jedoch nichts Inneres, sondern verbergen es gerade auf charakteristische Weise hinter einem Spiegel, in dem die Welt in verzerrter, differenzierter Form, die sie mit Individualität verwechselt, stets auf sich selbst trifft. Die oben angesprochenen alternativen Handlungsgründe, wie Wille und Begehren, werden im selben Atemzug in die Dimension des Affektiven abgeschoben und als fremde Beweggründe im Personalen eingeschlossen, sodass der Kern dieser Privatheit selbst etwas Anonymes und Fremdes aus einem dunklen Raum hinter den Spiegeln ist. Hierin liegt ein Tatbestand, den klassische Haltungstheorien – wie Tugendethiken oder auch Bourdieus Habitus-Theorie – gerne übersehen: Haltungen sind gar keine Mittel der Synthese, mittels derer der Rohstoff der Affektivität, gewonnen aus einer ungezähmten ersten Natur, den Prägestempel der zweiten Natur aufgedrückt bekommen, sondern ein Mittel der Analyse und der Spaltung, in dem beide Dimensionen, das Ungezähmte und das Gezähmte erst auseinandertreten. Diese These steht am Anfang alles Folgenden: Das Individuum mit seiner Haltung ist nicht der Ort einer Versöhnung von Dichotomien, wie es der Humanismus will, sondern Schauplatz ihres weiteren Auseinandertreibens. Vermittlung findet in diesem Bild nur als Verpflichtung zur Kohärenz statt, die ihrerseits das Auseinanderklaffens weiter befördert. Man kann dies mit Recht das double-bind der Haltung nennen. Einerseits verlangen Haltungen als soziale Medien eine bis an ihre Grenzen objektivierte Subjektivität, andererseits sollen Haltungen emotional vollzogen und durch die entsprechenden Empfindungen an die Person zurückgebunden, gleichsam re-subjektiviert werden. Allein, die kritische Haltung, von der Foucault sprach, hat – mit Ausnahme des sexuellen Begehrens – diese affektive Seite der Kontrolle noch nicht gänzlich im Blick. Es ist auch nicht klar, wie die politische 112 Form der Kritik im Affektiven überhaupt wirken soll, solange jede Artikulation von Affektivität, jedes Sprechen über Gefühle den Modus des Gestehens und Bekennens nicht loswird.10 Vor diesem Hintergrund möchte dieser Beitrag auf zwei Formen von Haltung hinweisen, die so extrem sind, dass sie als (scheiternde) Versuche verstanden werden müssen, das double-bind der Haltung zu überwinden oder abzulegen: Indifferenz und Einsamkeit. II. Von Pathosfähigkeit zu Indifferenz Nun handelt es sich bei Einsamkeit und Indifferenz zunächst um sehr verschiedene Phänomene und es ist gar nicht klar, warum beide überhaupt demselben Haltungsbegriff entspringen sollten: Das Phänomen der Indifferenz schwankt zwischen der gleichgültigen Hinnahme von Ereignissen ungeachtet ihrer wahrnehmbaren Unterschiede und schließlich der (philosophischen) Negierung dieser Unterschiede selbst. Oszilliert also unentwegt von einem Urteil über die Gleichgültigkeit von Differenzen und einer nivellierenden Wahrnehmung, die dieses Urteil mit Evidenz versorgt. Einsamkeit auf der anderen Seite bezeichnet das Resultat entweder einer Unfähigkeit oder eines Unwillen oder aber eines Verbots, sich innerhalb der sozialen Bezüge, in die man gleichwohl eingebettet ist, wirklich aufgehoben zu finden. Wie könnte ihr systematischer Zusammenhang aussehen? a) Wollen, was einem zustößt Alle pathê nehmen bei Aristoteles die Form einer Qualifizierung von Schmerz und Lust an: „Ein Schmerz, der …“, oder „eine Lust, die …“ Und weil sie somit mannigfaltige Differenzierungen einer grundlegenden Beschaffenheit (nämlich Affizierbarkeit selbst) sind, werden sie zumeist als „überhaupt alles, was mit Lust und Schmerz verbunden ist“ definiert (EN 1105b 21–23). Differenz tritt in diese polare Affektontologie aus Lust und Schmerz erst mit den hexeis. Martin Heidegger spricht daher mit einigem Recht davon, dass die aristotelische hexis das ‚Wie‘ des pathos ist.11 Haltung differenziert das, was uns zustößt in einzelne Emotionen und macht es handhabbar. Das heißt aber nicht, dass die Affekte von Lust und Schmerz in der Regel ungebunden und gleichsam roh auftreten, im 10 Zu den diesbezüglichen Schwierigkeiten siehe Wüschner: „Über Gefühle sprechen mit Ludwig Wittgenstein“, in: Räuchle, Viktoria/Röhmer, Maria (Hg.), Gefühle. Sprechen. Emotionen in den Anfängen und Grenzen von Sprache, Würzburg 2014. 11 Martin Heidegger: Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie (1924), Gesamtausgabe Bd. 18, Frankfurt/M. 2002, S. 148. 113 Gegenteil. Diese Krux des Sinnlichen,12 dass Affekte, aus Situationen geboren, bereits mit Bedeutung affizieren wird gerne übersehen. Schon mit der polaren Valenz aus Lust und Schmerz tritt bereits minimale Bedeutung in das Affektive Geschehen. Eine Bedeutung, die von der hexis des empfindenden Subjekts zwar qualifiziert wird, aber dadurch nicht vollständig subjektiv wird. Das heißt, auch der umgekehrte Fall ist richtig, pathos tritt auch als das ‚Wie‘ der hexis auf. Affizierung qualifiziert die Haltung, die dadurch situiert wird. Im selben Maße, wie eine hexis das Wie des pathos bestimmt, sind auch die pathê „Index (semeion) unserer hexeis.“ (EN 1104b 4–5.) Die Bedeutsamkeit der (sozialen) Welt ist selbst affizierend, weshalb wir diesen Teil der aristotelischen Emotionstheorie in der Rhetorik finden: Affekte werden dort als soziale Gepräge und voller Bedeutung vorgestellt, als weltlich und praktisch eingebundene Phänomene. Das Objekt der Furcht beispielsweise ist selbst bereits etwas Komplexes, nämlich „die Feindschaft und der Haß derer, die etwas auszurichten vermögen […]“ oder „Ungerechtigkeit, die Gewalt besitzt.“ (Rhet., 1382a f.)13 Haltung und Affekt treten also zusammen auf und eines aktualisiert das andere – ein Effekt, den Deleuze Gegenverwirklichung nennen wird. Diese Möglichkeit zur Gegenverwirklichung beinhaltet ein interessantes ethisches Programm: Im Anschluss an die aristotelischen Haltungstheorie kann noch in jedem Unglück etwas vermutet werden, was mit Lust angenommen und in den Grund der eigenen Handlungen aufgenommen werden kann. Der Stoff, aus dem unser Leben ist, ist im höchsten Maße lustempfänglich und diese Lustempfinden kann aus ihm nicht rausgewaschen werden (EN 1105b 1–3). Ein Mensch ist daher tapfer, wenn er Gefahren mit Lust begegnet. (1104b 5–7.) In genau dieser (lustvollen) Aneignung von Beweggründen, besteht die eigentliche Verbindung von hexis und Moralität. Es liegt eine Lust im tapferen Bestehen von Gefahr, eine Lust im Erzielen von Gerechtigkeit und sogar eine Lust im Widerstand gegen die Lust. Mit diesem Gedanken hexialer Aneignung adressiert Aristoteles den Umschlagspunkt von pathê zu praxis als eine verkörperte Fähigkeit zur Lust, die keinen Umweg über die theoretische Reflexion bedarf. Durch unsere Haltungen sind wir bereits in der Lage, angesichts der eigenen Affizierung zu handeln. Unser Zynismus ist bereits eine Handlungs-Lösung in Anbetracht einer deprimierenden und überbordenden Affizierung durch das Weltgeschehen, unsere Tapferkeit ist es bereits, die es uns erlaubt, unser Wohl riskierend einzuschreiten, nicht indem sie die im Raum stehende Angst mit einem Gefühl des Mutes über12 Mirjam Schaub: „Die Krux des Sinnlichen aus philosophischer Sicht – und die Folgen für die Ästhetik“, in: Philosophisches Jahrbuch, 2015/2, S. 387–404. 13 Die Interpretation von aristotelischen pathê als soziale Phänomene verdanke ich Thomas Bulka. 114 blendet, sondern indem Tapferkeit selbst zur Form der Angst wird. Tapferkeit ist also einerseits sehr wohl mit Schmerz verbunden (1117a 34– 35). Aber wenn Aristoteles anhand der Tapferkeit zwar die Aussage, die Ausübung der Tugendhaltung sei immer mit Lust verbunden relativiert, so präzisiert er sie dann aber doch dahingehend, dass er das Moment der Lust mit dem Ziel der Handlung (telos) in die Zukunft verlegt. (1117b 15– 16). Lust ist damit zwar nicht Zweck der Handlung, aber doch Zeichen ihrer Zweckmäßigkeit, die von den Umständen verdeckt sein mag (1117b 1f.) und ist gerade daher der gelassenen Besonnenheit (sophrosynê) unterworfen, mittels derer man die rechte Lust erkennt. Die richtige Lust im Angesicht der plötzlichen Gefahr überhaupt erkennen zu können, ist nicht Sache von Kalkulation und Deduktion (logismou kai logou), sondern einer hexis der Gelassenheit. Die Gefahr bleibt schmerzhaft, aber Tapferkeit besiegt Angst, insofern sie gelassen in diesem Schmerz etwas erkennt, was Lust bereiten kann – und sei es nur der Rausch des Möglichen, der im Handeln selbst liegt.14 Man könnte dieses gelassene Sich-Hineindrehen in Lust und Schmerz die Pathosfähigkeit der hexis nennen und in ihr die funktionale Bestimmung von Haltung erkennen, deren Erfolgskriterium das glückliche Leben selbst ist. b) Pathosfähigkeit und das Doppelgesetz der Haltung15 Das Problem, sich den Affekten würdig zu erweisen, steht am Anfang des ethischen Nachdenkens. Schon Demokrit versuchte den Zufall (tychê), also die Gesamtheit dessen, was einem passieren kann, in die Gewalt des Denkens zu bringen. Er schuf damit erstens eine Unterscheidung zwischen dem durch menschliches Sinnen Bewältigbaren und Unbewältigbaren und zweitens mit der phronêsis das dazugehörige intellektuelle Instrument zur Differenzierung zwischen beidem. Damit war dem Menschen erstmals die intellektuelle Fähigkeit zur Bewältigung von Ereignissen zugesprochen. Wenn Aristoteles neben der dianoetischen Tugend der Klugheit auch die ethische – und das heißt körperlich verwirklichte – Tugend der sophrosynê als Form der Zufallsbewältigung etabliert, die die Zweckmäßigkeit einer Situation instantan an ihrem Lustpotenzial erkennt, so begründet er damit eine Vorstellung von Körperlichkeit als Dif- 14 Jan Slaby/Philipp Wüschner: „Emotion and Agency“, in: Roeser, S.; Todd, C. (Hg.): Emotion and Value, Oxford 2014, S. 212–228. 15 „Le double-loi de l’habitude“ ist ein Ausdruck Maine de Birans, an den ich hier anschließe. Pierre Maine de Biran: Influence de l’habitude sur la faculté de penser, Paris 1831, S. 14. 115 ferenzierungsmaschine, die der intellektuellen Fähigkeit nicht nachsteht.16 Eine trainierbare Maschine, die kontinuierlich Lust im Schmerz, Sinn im Sinnlosen entdeckt und damit den Kreis des Erträglichen kontinuierlich gegen das Unerträgliche ausweitet. Ziel dieser Maschine, die durch moralische, physische und ästhetische Erziehung und Übung stets optimiert und verfeinert wird, ist ein Automatismus der Seele, mit dem möglichst präzise, möglichst schnell und möglichst dauerhaft Unerträgliches in Erträgliches gewandelt wird. Die Gewöhnungseffekte, denen Haltung unterworfen ist (1103a 14–26), ist dabei nur eine Hälfte des gesamten Vorgangs. Die Automatisierung der Seele vollzieht vielmehr eine Doppelbewegung, die einerseits eine Unempfindlichkeit gegen schon abgegoltene Schmerzen und das alltägliche Erträgliche ausbildet, gleichzeitig aber die Aufmerksamkeit für das Nicht-Alltägliche erhöht, indem alles Unerträgliche auf sein intensivstes und nachhaltigstes Lustpotenzial hin untersucht wird. Natürlich heißt ‚Haltung bewahren‘, gegen die meisten alltäglichen Affizierungen unbeeindruckt zu bleiben und sie jenseits von Lust und Schmerz abzuhandeln, aber das Ziel dieser Unbeeindruckbarkeit ist gerade eine erhöhte Aufmerksamkeit für das gegenwärtige Besondere sowie die ständige Bereitschaft für die zukünftigen Möglichkeit des Neuen – und für die Lust, die in beidem liegt. Prototyp dieses Doppelgesetz aus Empfindsamkeit und Unempfindlichkeit ist die aristotelische Sinnesphysiologie. An Sinnesorganen ist leicht zu zeigen, wie ihre hexis die Empfindsamkeit für eine bestimmte Art von Reiz maximiert, indem sie gleichzeitig die Empfindlichkeit für alle anderen Reize minimiert: Jedes Auge ist taub, damit es sehen kann, jedes Ohr blind, um zu hören.17 Wie alle Organe sind sie Produkt einer Spezialisierung, die Unempfindlichkeit und Empfindlichkeit in ein bestimmtes Verhältnis zueinander setzt. Mit Blick auf dieses Doppelgesetz lässt sich auch ein weitverbreitetes Missverständnis gegenüber Tugendethiken aus dem Weg räumen: Sie sind keineswegs Abrichtungsethiken, die die Freiheitsgrade des Menschen reduzieren, sondern im Gegenteil eine Erziehung zur Freiheit, wie auch das Einüben von Fingersätze beim Klavierspiel, die Bewegung der Hände nur in einem vereinfachenden Sinn einschränken, aber gerade dadurch und nur dadurch die Freiheit zur in- 16 Zwar geht Aristoteles explizit von einer Vorrangstellung der dianoetischen vor den ethischen Tugenden aus, aber aus seinen Ausführung scheint implizit die Aufwertung des Körperlichen zu folgen. Es gibt starke Hinweise auf die Körperlichkeit von phronêsis. In der Metaphysik (1009b) bemerkt Aristoteles, dass diejenigen, die ihre körperliche hexis ändern, auch ihre phronêsis ändern. Richard Bodéüs hat den Streit, ob die phronêsis von den ethischen Tugenden informiert wird, oder umgekehrt, zusammengefasst: Bodéüs, Le philosophe et la cité: Recherches sur les rapports entre morale et politique dans la pensee d’Aristote, Paris 1982. 17 Vgl. Schaub: „Krux des Sinnlichen“, S. 393 f. 116 terpretativen Differenzierung eröffnen. Wie kann es nun angesichts einer, wie es scheint, sogar physiologisch tief verankerten Anlage zur lustvollen Differenzierung überhaupt zu einem Phänomen wie Indifferenz kommen? c) Indifferenz als maximale Differenzierung Drei Fälle sind zu unterscheiden: Indifferenz kann zum einen das Ergebnis eines Zusammenbruchs oder einer traumatischen Zerstörung von Haltung sein. Auch ein Sinnesorgan kann phänomenologisch betrachtet an die Grenze seiner Differenzierungsleistung getrieben werden, die gleichzeitig seine Schmerzgrenze ist: Ab einer gewissen Intensität wandelt sich zuviel Licht, zu lauter Schall zu fester Druck in Schmerz, bevor schließlich die Fähigkeit, aus diesem Schmerz noch Lust zu generieren und Impulse in Tätigkeiten zu verwandeln, gänzlich erliegt.18 Ein verwandter Fall zur abrupten, traumatischen Zerstörung ist, zweitens, die langsame Abnützung und Korrosion von Pathosfähigkeit. Ihr ist, das hat Xavier Bichat in seinen Recherches physiologique sur la vie et la mort festgestellt, jedes Leben, das habitualisiert, das heißt hexis ausbildet, unterworfen. Sie steht hier ebenfalls nicht im Vordergrund.19 Bleibt eine dritte, etwas anders gelagerte Möglichkeit: Verlust von Pathosfähigkeit durch ÜberSpezialisierung. Man stelle sich ein Instrument vor, das nur auf einen einzigen Reiz reagiert, allem anderen aber gänzlich indifferent gegenübersteht – und man stelle sich dann vor, dass dieser einzige Reiz, aus Gründen, die in der Maschine selbst liegen, für immer ausbleibt. Temporal ausgedrückt bedeutet diese Indifferenz die Fähigkeit zum unendlichen Aufschub und in gemäßigter Form liegt darin durchaus ein moralischer Wert: nicht dauernd und nicht aus jedem Grund, sondern im richtigen Moment (kairos) entschlossen zur Tat zu schreiten. Ein solches Haltungsbild hat für die Zeitlichkeit eines Daseins eine entscheidende Konsequenz: Je differenzierter eine Haltung ist, desto seltener werden gleichzeitig jene richtigen Momente ihrer Aktualisierung, bis zu dem Punkt, da die Vorstellung eines richtigen Moments, in dem Lust und Zweckmäßigkeit ihre Allianz eingehen, mit der eigenen Existenz dauerhaft unvereinbar scheint. Anders als in der lacanschen Psychoanalyse, nach der das Begehren aus einem Mangel heraus ein unerreichbares Objekt konstituiert, das sich allein in der unmöglich endenden Suche nach ihm manifestiert, sei für diese Maschine nicht die Unmöglichkeit des Objekts, sondern die Nicht-Existenz 18 Vgl. Schaub: „Die Krux des Sinnlichen“. Siehe zu diesem Fall der attrition Jan Slaby in diesem Band sowie Lauren Berlant, Cruel Optimism, Durham (North Carolina) 2012. 19 117 des Begehrens, die Kapitulation vor der Zwecklosigkeit, die dennoch keine Verzweiflung ist, genießbar. Anders als bei Freuds Todestrieb, entstehe daraus auch keine Aggression oder Auto-Aggression, sondern eine Form der Freiheit, die von Indifferenz freilich nicht zu unterscheiden sei. Was als Funktion einer Melde-Maschine (Bewegungsmelder, Wärmemelder, Rauchmelder, etc.) denkbar ist, ist als organisches Prinzip oder als Charaktereigenschaft erklärungsbedürftig. Physiologisch vielleicht nicht ganz korrekt, phänomenologisch jedoch interessant, verlegt Bichat dieses Inversions-Prinzip (manière inverse) der Überspezialisierung in das Zusammenspiel von Sinnesorganen, Nervensystem und Gehirn. 20 Der Weg von den Sinnesorganen zum Gehirn ist ein Weg in die maximale Indifferenz, die jedoch mit maximaler Urteilsfähigkeit in eins fällt. Gerade die notorische Schmerzunfähigkeit des Gehirns, seine organische Indifferenz, wird bei Bichat zur Bedingung seines Denkvermögens. Was, wenn die sinnliche wahrgenommene Welt im schmerzlosen Gehirn eines reinen Bewusstseins einfach versickerte? Still betrachtet vom inneren Auge vor diesem versänke? Dort auf nichts stieße, was aus den unendlichen Differenzierungen die eine, handlungsrelevante herausgriffe und einen Unterschied herbeiführte, indem es sie in Handlung aktualisierte? Dann hätten wir jene Form von Indifferenz, um die es hier geht. Die Herstellung einer hochelaborierten Gleichgültigkeit, die nicht das Ergebnis eines Desengagements von Welt wäre, sondern dessen Grund. Sie erkennt die Welt zurecht als vorrübergehend zwecklos und jeder Handlungsimpuls wird daher von der Freiheit nichts zu tun suspendiert. Diese Indifferenz wäre nicht ausdruckslos. Im Gegenteil: Allen Affekten könnte und würde nun automatisch eine Oberfläche gegeben werden, aber kein Affekt ginge mehr tief, nichts wäre mehr überraschend, jeder Schmerz wäre ausgeschaltet, jede Lust auf einen späteren, unmöglichen Zeitpunkt verschoben. So entstünde eine Person ohne Psychologie, ohne Motive, ohne Idiosynkrasien. Ein generischer aber interessanterweise nicht charakterloser Mensch, Verkörperung des ‚Man‘, aber nicht der Masse, ein vollendeter Dienstleister, wie ihn die aktuellen Formen der Arbeit benötigen und hervorbringen, aber ein ebenso vollendeter Dissident, dessen Widerstand gegen die Gegenwart darin läge, für kein Begehren mehr ansprechbar zu sein, keine Versprechen mehr glauben zu müssen. Seine Indifferenz wäre ein Schmerz (oder eine Lust?), der allein darin bestünde, am empfundenen Leid nicht mehr zu leiden, und in ihm nichts mehr zu suchen (oder suchen zu müssen). Kann am Ende, ganz unaristotelisch, auch in dieser Leidlosigkeit ein Glück liegen? Wir kommen darauf zurück, wenden uns aber zunächst dem anderen Grenzwert von Haltung zu. 20 Xavier Bichat: Recherches physiologique sur la vie et la mort, Paris 1805, S. 45ff. 118 III. Von Relationalität zur Einsamkeit a) Haltung als Zeitorgan Haltung favorisiert das Zwischen vor den Polen, ist eher Ausdruck einer Ökonomie komplexer Habens-Relationen als Ontologie von SeinsVerhältnissen. Daher wird hexis von Aristoteles im Buch Delta der Metaphysik folgerichtig mit Bezug auf das ihr zugrundeliegende Verb echein (haben, halten) bestimmt als die „Wirklichkeit des Habens“ (Met 1022b 24), deren Bestimmung derjenigen des Habenden und des Gehabten vorrangig ist. So geht in Aristoteles’ Beispiel die hexis als das Tragen von Kleidung Träger wie Getragenem voraus und konstituiert beides aus ihrer Relation heraus. Dasselbe gilt für das (Er-) Tragen von Affekten durch Tugendhaltungen: Der Tapfere ist nur qua Tapferkeit er selbst und die Angst ist nur als tapfer ertragene, überwundene, durchstandene objektiv fassbar. Haltungen werden ihrerseits nicht wieder gehabt, sondern sind stets als Wirklichkeit dessen realisiert, wie wir einen Affekt ertragen. Dies wirft dann doch die Frage nach ihrem ontologischen Status auf: Auf welche Weise sind Haltungen? Möglich oder realisiert? Zuständlich oder prozessual? Einerseits werden sie als Wirklichkeit (energeia) beschrieben, andererseits ist es gerade der Clou von Haltungen, dass sie als Potenzialität im Fluss der Zeit einen Aufschub erzeugen und damit Taktiken des Wartens, Zögerns, Ereilens, Kreuzens und Hinderns ermöglichen. Möglichkeit und Realisation, Prozessualität und Zuständlichkeit scheinen bei Haltungen auf unauflösbare Weise miteinander verstrickt. Es ist eine der folgenschwersten Thesen der Philosophie, mit der Aristoteles die tatsächliche (körperliche) Realisation der hexeis und ihre Potenzialität zusammendenkt. Hexeis sind – dies wird vor allem in De Anima deutlich – gerade als Potenz realisiert. Wenn man bestimmte bereits ausgebildete Fähigkeiten (wie das Beherrschen einer Sprache) als Beispiele für Haltungen nimmt, wird es einsichtiger: Sie sind wirklich oder realisiert im Verhältnis zur unbestimmten materia prima aber gleichzeitig möglich oder potenziell im Verhältnis zu ihrer Aktualisierung. Wie überträgt sich aber diese Hybridität auf die Rede von Relationalität? Was heißt es für Relationalität, dass sie als Haltung verwirklicht wird, die gleichzeitig potenziell und aktual, zuständlich und prozessual ist? Zunächst nimmt Relationalität in diesem Bild erstaunlicherweise selbst die Rolle einer materia prima ein, oder erscheint wenigstens als deren wichtigste (und vielleicht einzige) Qualifizierung: Material sein heißt 119 In-Beziehung sein.21 Allerdings in Beziehung zu potenziell allem und damit zunächst zu nichts im Besonderen. Wo Haltungen entstehen, wandelt sich diese grundlegende Relationalität zu einer bestimmten Möglichkeit von Offenheit, die auf ihre Aktualisierung wartet. Aus der unendlichen Mannigfaltigkeit an möglichen Relationen, werden gewisse Verbindungen hervorgehoben und bevorzugt, nicht, indem sie intensiviert werden, sondern indem sie organisiert werden. Die, in allen Facetten des Wortes verstandene, Organisierung des Auges durch die Evolution, die an vielen Orten unterschiedlich und doch ähnlich vonstatten gegangen ist, ist Fall einer solchen Bevorzugung einer bestimmten Relation zwischen der Lichtempfindlichkeit einiger Organismen und dem vorhandenen Sonnenlicht als Energiequelle. Hexeis spannen einen (körperlich) realisierten Möglichkeitsbereich auf, in dem sich eine Relationaliät ereignen kann, die ihrer eigenen Ermöglichung genealogisch (evolutionär) dennoch vorausgegangen ist. (Das Sehen schafft sich das Auge.) Durch diese Auszeichnung einer Relation tritt die Zeitlichkeit in die Materie als Unterscheidung zwischen Phasen des Lichtes und Phasen der Dunkelheit. Haltungen sind damit das Instrument der Zeitlichkeit des Daseins schlechthin. So sucht die hexis meiner Augen im Dunkeln das Licht, die hexis meiner Ohren in der Stille die Stimme, die hexis meines Mundes wartet darauf im rechten Moment das Richtige zu sagen. Die grundlegende Relationalität des Daseins wandelt sich in diesem Momenten des Aufschubs als Haltung in die realisierte, zum Organ gewordene Möglichkeit, Beziehungen einzugehen, ist damit aber andererseits auch ihre Negation auf Zeit. Wenn man diesen Punkt vom Organischen ins Soziale zurückübersetzt, tritt ein bestimmtes prekäres Moment in der Konstruktion des aristotelischen Haltungsdenken zutage: Es ist und bleibt in seinem Kern ein aristokratisches Unterfangen. Haltung ist eine Sache der Wenigen und Seltenen. Nicht in dem Sinn, dass einige Haltung haben und andere nicht, sondern insofern Haltung für ihn ein Mittel der Distinktion bis hin zur Vereinzelung ist – wie Aristoteles es anhand der Tugend der megalopsychia, die er – unbewusst oder selbstironisch? – in die Nähe des Eitlen und Verschrobenen rückt. Megalopsychia markiert in ihrer Tendenz ein asymmetrisches Verhältnis zwischen den wenigen Edlen und den vielen Niederen. 22 Denjenigen, die in allen Bindungen stehen wollen und denjenigen, die einige Bindungen bevorzugen. Zwischen denjenigen schließlich, denen jeder Anlass Grund genug zum Handeln ist, und den Zurück-Haltenden, für deren höheren Geschmack die rechten Momente rarer gesät sind, die feinere Organe ausgebildet und eine filigranere, bis ins Ewige reichende 21 Vgl. Karen Barads Vorstellung von Intra-Aktion: Dies.: Agentieller Realismus. Über die Bedeutung materiell-diskursiver Praktiken, Berlin 2012. 22 Dazu: Wüschner, Eine aristotelische Theorie der Haltung, Kap. 4. 120 Form des Wartens erlernt haben. Aus diesem exponierten Selbstverständnis hinaus repräsentieren Haltungen ihre Träger niemals nur positiv als Wartende auf Etwas, sondern immer auch negativ durch ihre Indifferenz gegenüber den Gegenwärtigen. b) Zwischen Relation und Qualität: Das Umkippen in Verhältnisse Aus der Perspektive der Relationalität betrachtet, kreisen Haltungen also um das, was in Sein und Zeit als das Problem der Abständigkeit umrissen ist: „Im Besorgen dessen, was man mit, für und gegen die Anderen ergriffen hat, ruht ständig die Sorge um einen Unterschied gegen die Anderen, sei es auch nur, um den Unterschied gegen sie auszugleichen, sei es, daß das eigene Dasein – gegen die Anderen zurückbleibend – im Verhältnis zu ihnen aufholen will, sei es, daß das Dasein im Vorrang über die Anderen darauf aus ist, sie niederzuhalten. Das Miteinandersein ist – ihm selbst verborgen – von der Sorge um diesen Abstand beunruhigt. […] In dieser zum Mitsein gehörigen Abständigkeit liegt aber: das Dasein steht als alltägliches Miteinandersein in der Botmäßigkeit der Anderen.“23 Heidegger fasst in der Abständigkeit ein existenziales Problem: Ohne dass die Relationalität zu den Anderen je ganz gekappt werden könnte, muss der Sorge um Unterschied gegen die Anderen genüge getan werden. Dies geschieht durch die Etablierung von Verhältnissen. Die grundlegende soziale Relationalität wird in Verhältnisse organisiert und diese Verhältnisse werden in den Körpern als Organe sozialer Relationen abgelegt. Zwar gibt es Momente, in denen diese Verhältnisse aktualisiert werden, aber der Weg zurück in den Zustand ursprünglicher, unterschiedsloser Relationalität ist durch sie gerade verschlossen. Wo sich Verhältnisse aktualisieren, wird die ursprüngliche Relationalität vielmehr zu Beziehungen verdoppelt und zueinander verschoben:24 Ursprünglich dyadische Relationen, wie das Verhältnis von Mutter und Kind, spalten sich in die Beziehung des jeweils einen zum jeweils anderen. Aber diese Doppelbeziehung – obwohl ihrem Ursprung so nah – ist doch unendlich von der ursprünglichen Relationalität zwischen beiden getrennt. Mutter und Kind werden sich fremd, indem sie eine Beziehung zueinander aufbauen. Dieses verschieben von Verhältnissen in Beziehungen gilt, folgt man einer der 23 Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen 1927, S. 126. Die Unterscheidung von Verhältnissen und Beziehungen verdanke ich einer einsichtsreichen Diskussion mit Hermann Schmitz, im Rahmen eines Meisterkurses an der Freien Universtität Berlin im Jahr 2013. Für Schmitz sind Verhältnisse ungerichtet, Bezhiehungen aber gerichtet. Alle Beziehungen sind daher aufgespaltene Verhältnisse. 24 121 bemerkenswertesten Stellen bei Aristoteles, auch für das Selbstverhältnis: Der Arzt, der sich selbst heilt, zerspringt innerlich in die Rolle des Mediziners und des Patienten und selbst der Tänzer verdoppelt sich mit seiner Kunst und erschafft eine Version seiner selbst, die ihn einerseits entlastet, andererseits aber auch ein Eigenleben entwickeln kann, das zu ihm zurückkehrt und ihn mit den Fixierungen einer von ihm abverlangten Selbstähnlichkeit belastet. (Phys. 199b 30–32.) Das ursprüngliche Selbstverhältnis ist zu einer Eigenschaft geworden, an der man den Einzelnen erkennt, der aber mit Rousseau ausruft: „Nichts ist mir so unähnlich wie ich selbst, darum wäre es müssig, mich anders definieren zu wollen, als durch diese einzigartige Mannigfaltigkeit.“25 Haltung ist also gerade nicht der Ort, an dem das obengenannte double-bind aus einer äußeren und einer inneren Kohärenz zusammenfinden, sondern das Moment ihres unwiderruflichen Auseinandertretens. Und dennoch ermöglicht dieses Auseinandertreten die Freiheit, hinter die eigene Haltung zurückfallen zu können. Diese Ambivalenz von Haltung spiegelt sich in der Unentschiedenheit, mit der Aristoteles die hexeis kategorial bestimmt. In den Kategorien tauchen hexeis zunächst in der Kategorie der Relationen auf (Cat. VII 6b 2–3). Relation nennt Aristoteles das, was es selbst nur in Bezug auf etwas anderes ist. Eine hexis, so heißt es weiter, sei immer eine hexis von etwas. Dieser Befund passt sehr gut zur Erklärung der hexis als der Wirklichkeit einer Habens-Relation aus der Metaphysik. Der Begriff taucht jedoch gleichzeitig in der Kategorie der Qualitäten auf (Cat. VIII 8b 25–29). In dieser Kategorie wird den Haltungen nicht nur Stabilität gegen Veränderung zugesprochen, sie sind auch eindeutig zuzuordnen zu einem Individuum, denn mit Qualität meint Aristoteles „das aufgrund dessen jemand so oder so genannt wird.“ (Cat. VIII 8b 25–26). Als Eigenschaften tragen sie damit zur Autonomisierung, zur Abgrenzung, zur Unbezüglichkeit oder Unabhängigkeit des Individuums bei. Dieser Befund zwingt die Ambivalenz von Relation und Qualität als ein Spektrum zu betrachten: Es gibt eine Dimension von Haltung, deren Nähe zur grundlegenden Relationalität des Daseins nicht infrage steht. Sie ist nicht nur entwicklungspsychologisch gut bestätigt, sondern als die Fähigkeit überhaupt in Beziehungen einzutreten für das Dasein existenzial.26 Gleichzeitig gibt es Haltungen, die sind – wie die Spuren eines Liebeskummers – eingegrabene Verkörperungen einer Beziehung, wo diese Beziehungen längst aufgelöst und unmöglich geworden ist. Sie sind zu Qua25 Jean-Jacques Rousseau: Bekenntnisse, Zürich/Düsseldorf 1996, S. 129. Siehe Kurbacher in diesem Band sowie dies.: „Haltung als eine Theorie der Bezüglichkeit im Spannungsfeld zwischen Öffentlichkeit, Privatsphäre und Intimität. Eine Erkundung“ in: Inversion. Öffentlichkeit und Privatsphäre im Umbruch, hrsg. v. Frauke A. Kurbacher, Agnieszka Igiel u. Felix von Boehm. Würzburg 2012, S. 95–107. 26 122 litäten geworden, die eine Person nicht länger in Beziehung zur Welt setzen, sondern dieser gerade entheben und sie selbst werden lassen. Wie ein Bauchnabel sind sie gleichzeitig Spur einer Verbindung und Zeichen ihrer Trennung. Ein Missverständnis muss dabei jedoch aus dem Weg geräumt werden: Die Reduktion von Relationen zu Qualitäten muss phänotypisch nicht zwangsläufig als Vertrocknung von Bindungsfähigkeit wahrgenommen werden. Ganz im Gegenteil – wie schon Indifferenz als Umschlag einer maximalen Differenzierung verstanden werden kann, so kann auch die Qualifizierung von Relationen als Teil eines für Haltung spezifischen Chiasmus verstanden werden, innerhalb dessen sich der Unterschied zwischen Relationen und Qualitäten vermittelt: Der markante Unterschied zwischen Relationen und Qualitäten liegt aber nicht in ihrer Lebendigkeit, sondern darin, dass die Aktualisierung einer Relation zum konstitutiven Moment ihrer Pole wird; zum Beispiel das Verhältnis von Mutter und Kind, aber auch die Begegnung zwischen Menschen, die sich wechselseitig ein Schicksal sind. Eine wirkliche Begegnung wird diese Menschen neu hervorbringen. Verwirklicht sich eine Qualität (zum Beispiel die Disposition bei Scham zu erröten), so bestätigt sie sich lediglich selbst, wird zur Charaktereigenschaft einer Schamhaftigkeit, die ihren relationalen Kontext zwar noch andeutet, aber doch längst hinter sich gelassen hat, wie das eingefrorene Lächeln auf manchen Fotografien zwar noch Zeichen eines sozialen Benehmens ist, und dennoch niemandem mehr gilt. Es gibt eine Einsamkeit, die ganz in der Reduktion jeglicher möglicher Relation zur Qualität besteht. Ein auf diese Weise einsamer Mensch ist nicht selten eine Person der Gesellschaft, ein beflissener und gerngesehener Gast – der gleichwohl, wenn der Abend spät geworden ist, und er sich einen Moment der Blöße gibt, von einer seltsamen Form von Traurigkeit umgeben ist, die ihn nicht unbedingt stören muss. Diese Traurigkeit, die mit dem, was die Philosophie ein Subjekt nennt – beinahe, aber eben nicht ganz – zusammenfällt, ist nichts als die maximale Konsequenz, mit der man dem Imperativ der Haltung folgen und ihn damit gleichzeitig unterwandern kann. Sie ist vielleicht nicht die einzig mögliche, aber doch eine spezifische Form, der geforderten Kohärenz des Charakters, eine Kohärenz, die sich zur dauerhaften Unähnlichkeit zu sich selbst gnadenlos bekennt und gerade in diesem Bekenntnis zu Unähnlichkeit und Uneigentlichkeit ein Selbst hervorbringt. Es liegt in der Logik der Haltung, die Relationalität eines Menschen über Verhältnisse und Beziehungen zu Qualitäten zu reduzieren, wie es in ihrer Logik liegt, ihre Differenzierungsfähigkeit in die maximale Indifferenz zu lenken. Und wie der Indifferente nicht mit dem Tumben und Langweiler verwechselt werden darf, sondern im Gegenteil über eine ei- 123 gene Form von Intellektualität verfügt, so ist auch der Einsame phänotypisch weltgewandt und eloquent, und die Beschreibung seiner Charaktereigenschaften ist mit Fug und Recht Beschreibung von Bezüglichkeit, die sich gleichwohl nie aktualisiert und keinerlei Veränderung erzeugt. Richard Sennett hat diese Einsamkeit in einer Bemerkung über seinen Austausch mit Foucault einmal so beschrieben: „Wir kennen eine Einsamkeit, die von der Macht aufgezwungen ist. Das ist die Einsamkeit der Isolation, der Anomie. Wir kennen eine Einsamkeit, die bei den Mächtigen Furcht auslöst. Das ist die Einsamkeit des Träumers, des homme revolté, die Einsamkeit der Rebellion. Und schließlich gibt es eine Einsamkeit, die mit der Macht nichts zu tun hat. […] Diese dritte Einsamkeit ist das Gespür, unter vielen einer zu sein, ein inneres Leben zu haben, das mehr ist als eine Spiegelung der Leben der anderen. Es ist die Einsamkeit der Differenz.“27 Es ist die Einsamkeit einer Differenz, die nie zum Zuge kommt, und daher ganz und gar innerlich wird. An diesem Punkt hängen Einsamkeit und Indifferenz also miteinander zusammen. Beides sind Funktionen der Differenzierungsleistung von Haltung, beide stoßen sie den Menschen – in einer Epoche, die philosophisch jede Innerlichkeit verabschiedet hat – vor die Entdeckung eines inneren Lebens. IV. Gegen-Eigentlichkeit Zum Schluss sei endlich auf die verborgenen Vorzüge eines einsamen und indifferenten Lebens verwiesen, die man vielleicht als Gegen-Eigentlichkeit fassen könnte. Heideggers Denken nach Sein und Zeit steht unter der Prämisse, dass wir schicksalslos geworden sind. Das Schicksal könne dem Menschen nur zurückgegeben werden, wenn seine Schicksalslosigkeit ihm selbst zur Krise und damit ihrerseits schicksalhaft geworden ist. So zurückhaltend Heidegger mit positiven Bestimmungen der Eigentlichkeit des Daseins ist, kann man in ihm (und Teilen des Existenzialismus) doch den Wegbereiter eines Schicksals- oder Krisen-Essenzialismus sehen, dessen – heute nicht mehr zu leugnender – zugrundeliegender Antisemitismus28 zur großen Katastrophe seines Denkens wurde, an deren Eingeständnis er letztlich gescheitert ist. 27 Richard Sennett/Michel Foucault: „Sexualität und Einsamkeit“, in: Foucault: Von der Freundschaft als Lebensweise. Michel Foucault im Gespräch, Berlin 1984, S. 25–53; hier: S. 27. 28 Peter Trawny: Heidegger und der Mythos der Jüdischen Weltverschwörung, Frankfurt/M. 2014. 124 Demgegenüber zeigt sich der Einsame in seiner Indifferenz auf dankbare Weise unbeeindruckt. Jeder Krise, sei sie persönlich oder metaphysisch, historisch oder politisch, gibt er im Rahmen des gesellschaftlich Angemessenen eine Oberfläche, empfängt sie, dreht sich in sie hinein, bildet sie ab wie in einem Hologramm, jedoch ohne sich von ihr in seiner Tiefe berühren zu lassen. Mit einer beeindruckenden Vehemenz glaubt er nicht an die Wirklichkeit der Krise. An dieser Stelle mag der Hinweis umso interessanter sein, dass Heidegger vor Sein und Zeit den Begriff der Eigentlichkeit gerade aus dem aristotelischen Konzept der hexis entwickelt hat und mit dem Gedanken des pathetischen Ergriffenseins in Verbindung bringt: „Hexis ist die Bestimmung der Eigentlichkeit des Daseins in einem Moment des Gefaßtseins für etwas: […] Die hexis also als eine Seinsmöglichkeit, die in sich selbst auf eine andere Möglichkeit bezogen ist, auf die Möglichkeit meines Seins, daß innerhalb meines Seins etwas über mich kommt, das mich aus der Fassung bringt.“29 Und für Aristoteles zeichnet sich das Leben ja in der Tat dadurch aus, dass es gegenüber dem Druck des Möglichen – das, was als Fremdes in mir zum Eigenen wird – empfindlich ist. Nur unter diesem Druck ist Organisation, aber auch Transformation und auch Evolution möglich. Wie gezeigt, ist aber nur Relationen allein, gestiftet durch das Ereignis einer Begegnung, die Kraft zur Veränderung geben, die den gesamten Möglichkeitsraum (eines Körpers) neu figuriert. Haltung, in dieser letzten Reformulierung, leistet eine lose, flexible Bindung des Möglichen ans Wirkliche und erlaubt dadurch kontrollierte Veränderung, die man vielleicht am besten unter dem mehrdeutigen Begriff der Bildung zusammenfasst.30 Haltung als Mittel zur (Selbst-)Bildung ist das eigentliche Thema der Nikomachischen Ethik. Sie gibt sich dem Möglichen nicht gänzlich hin, sonst würde jede Kontinuität in den Lebensvollzügen verlustig gehen, aber sie ist für das Mögliche soweit offen, dass sie den Raum ihrer eigenen Wirklichkeit stets anpassen kann. Haltung als Bildung bedeutet dann auch, all das, was darauf aus ist, uns zu vernichten, in uns aufzunehmen, noch bevor es uns überhaupt geschieht. Damit kommt Haltung mit jener berühmten Definition von Xavier Bichat in Berührung, der im Leben nichts anderes sah als die Summe der Kräfte, die dem Tod widerstehen, und der damit das vitalistische Gegenmodell zu Heideggers Vorlauf in den Tod beschrieb. Haltung 29 Heidegger: Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie (1924), GA Bd. 18, Frankfurt/M. 2002, S. 174. 30 Thomas Buchheim, „Vergängliches Werden und sich bildende Form. Überlegungen zum frühgriechischen Naturbegriff“, in: Archiv für Begriffsgeschichte, Bd. 41, Bonn 1999, S. 7–34. 125 ist der längstmögliche Aufschub des Todes durch seine Integration ins Leben, eine Habitualisierung des Todes selbst. Einsamkeit und Indifferenz werden nun verständlich als die radikale Ausblendung des Todes durch seine Vorwegnahme als Automatismus. In dieser Beziehung zum Tod lebt das humanistische Verständnis von Bildung fort. Gerade indem der Humanismus Ewigkeit predigte und so das Wesentliche am Menschen – dass er stirbt – ausblendete, ermöglichte er Veränderung durch Askese. Erst als eine solche rigide, von aller Eigentlichkeit absehende Askese erfüllt auch Foucaults Rede von einer Ästhetik der Existenz das, wovon sie spricht. In einer Zeit aber, in der die Praxis der Askese unwahrscheinlich geworden und durch asketische Praktiken ersetzt worden ist, und in der die Arbeit an einem selbst nicht jenseits, sondern innerhalb der Kontrollgesellschaft und als ihr Mittel fungiert, erscheinen Einsamkeit und Indifferenz als so naheliegende wie übersehene asketische Substitute: Einsamkeit als ein Schatten dessen, was einmal Emanzipation war und Indifferenz als letzter Widerstand gegen eine allgegenwärtige Macht. In ihnen wird das Haltungannehmen zur immunologischen Praxis, „mit deren Hilfe es den Menschen von alters her gelingt, ihre Verwundbarkeit durch das Schicksal, die Sterblichkeit inbegriffen, in Form von imaginären Vorwegnahmen und mentalen Rüstungen mehr oder weniger gut zu bewältigen.“ 31 Wenn Einsamkeit und Indifferenz die maximale Vorwegnahmen des Todes sind, dann drängt sich nun umso stärker die Frage auf, wo für Aristoteles sich hier noch ein Raum für Gegen-Eigentlichkeit öffnet. Die Antwort ist so erwartbar wie überraschend: in einem spekulativen Denken, das auf seine eigene Unverwirklichbarkeit baut. Am Ende der Nikomachischen Ethik zerfällt der Text auf oft diskutierte Weise in die Empfehlung zweier gleichermaßen angeratener und doch widersprüchlicher Lebensformen: bios theôrêtikos und bios politikos. Der Theoretiker lebt hart auf Kosten seines Körpers und in beinahe absoluter Isolation – beides Punkte, die Aristoteles durchaus kritisch anmerkt. Dennoch hat kein Philosoph so vehement auf der Aufrechterhaltung der Trennung zwischen bios politikos und bios theôrêtikos beharrt wie er. Adorno vermutet darin das Zeichen einer „Resignation des hellenistischen Privatmanns, der der Einwirkung auf die öffentlichen Dinge aus Angst sich entziehen muß und nach Rechtfertigung dafür sucht.“32 Dies habe jedoch im Vergleich zu Platon unfreiwillig zu einer humaneren Politik geführt, insofern bestimmte Unfälle bei der Verweltlichung der Theorie vermieden wurden. Der Vor31 Peter Sloterdijk: Du mußt dein Leben ändern, Frankfurt/M. 2009, S. 22. Für diesen Gedanken und das dazugehörige Sloterdijk-Zitat bin ich Ruben Pfitzenmaier und seiner unveröffentlichten Arbeit über das Üben zu Dank verpflichtet. 32 T. W. Adorno, „Marginalien zu Theorie und Praxis“, in: ders. Kulturkritik und Gesellschaft II. Eingriffe. Stichworte. Anhang, in: Gesammelte Schriften 10.2, Frankfurt/M. 1977, S. 759–782, hier: S. 769. 126 sprung der Idee vor der Welt, wie es Baudrillard ausdrücken würde, den alle Radikalen gerade beseitigen wollen,33 bleibt als radikales Denken gerade gewahrt.34 Es ist der Vorsprung der Lust, die aus einer schmerzhaften Welt in das Denken gehoben wurde. Ist Haltung am Ende gar nicht das Instrument zur Verbindung von Theorie und Praxis, Geist und Körper, ethischen und dianoetischen Tugenden, als das wir es in der Regel verstehen, sondern im Gegenteil das Mittel beides von einander geschieden zu halten?35 Bibliographie Adorno, Theodor W.: „Marginalien zu Theorie und Praxis“, in: ders. Kulturkritik und Gesellschaft II. Eingriffe. Stichworte. Anhang, in: Gesammelte Schriften 10.2, Frankfurt/M. 1977, S. 759–782. Aristoteles: Nikomachische Ethik, übers. von Franz Dirlmeier, Werke, Bd. 6, Berlin 1999. Barads, Karen: Vorstellung von Intra-Aktion: Dies.: Agentieller Realismus. 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Baudrillard, Das radikale Denken, Berlin 2013. 35 „Das theoretische Ideal wäre es, solche Thesen aufzustellen, die durch die Realität widerlegt werden können, und zwar so, dass der Realität kein anderer Ausweg mehr bliebe, als sich ihnen vehement entgegenzustellen und sich dadurch zu demaskieren.“ Ebd., S. 14. 34 127 Schaub, Mirjam: „Die Krux des Sinnlichen aus philosophischer Sicht – und die Folgen für die Ästhetik“, in: Philosophisches Jahrbuch, 2015/2, S. 387–404. Sennett, Richard/Foucault, Michel: „Sexualität und Einsamkeit“, in: Foucault, M.: Von der Freundschaft als Lebensweise. Michel Foucault im Gespräch, Berlin 1984, S. 25– 53. Slaby, Jan/Wüschner, Philipp: „Emotion and Agency“, in: Roeser, S.; Todd, C. (Hg.): Emotion and Value, Oxford 2014, S. 212–228. Sloterdijk, Peter: Du mußt dein Leben ändern, Frankfurt/M. 2009. Trawny, Peter: Heidegger und der Mythos der Jüdischen Weltverschwörung, Frankfurt/M. 2014. 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