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Mathias Spahlingers Zumutungen

On the work of Mathias Spahlinger in general.

Mathias Spahlingers Zumutungen Gegen Unendlich und gegen Krieg Oktober 2011 Erschienen in: Musik-Konzepte 155 (Januar 2012) Politische Kunst, selbst die noch so sperrige und szeneinterne, hat Relevanz und Einfluss, wie ja auch bei demokratischen Wahlen jede abgegebene Stimme in die Waagschale fällt. Niemand kann widerlegen, dass Anton Weberns Quartett Opus 22 zum Fall der Mauer beigetragen hat. Das Risiko politischer Kunst ist die Utopie, die Vorstellung einer anderen Welt zu einem unbestimmten Zeitpunkt in der Zukunft. »künstlerische arbeit kann gelegentlich eine ahnung davon geben, was nicht entfremdete arbeit wäre« schreibt Mathias Spahlinger im Programmtext zu seinen Orchesteretüden doppelt bejaht, was jeden zynisch Disponierten umgehend zum Konter anhält, dies sei Träumerei – es gäbe kein richtiges Leben im Falschen, wenn nicht postmoderne Zweifler die Wörter »richtig« und »falsch« überhaupt ablehnen. Aber jenseits der Alltagspragmatik und Legislaturperioden ist gerade jetzt, wo die alten Ideologien begraben sind, die Frage dringlich, in welcher Welt wir in Zukunft leben wollen. Irgendeine Vorstellung von Fortschritt, von etwas Besserem, Richtigerem muss es geben, solange Mißstände in dieser Welt unleugbar sind und weder eine messianische noch technische Apokalypse zu erwarten ist. Dass die Vorstellungen vom »Besseren« kommunikativ immer neu austariert werden müssen, stimmt; dazu sollen sie aber nicht abgelehnt, sondern konstruktiv hinterfragt werden. Letztlich wird die Zukunft nicht so aussehen, wie wir sie uns jetzt ausmalen; eine »ahnung, was nicht entfremdete arbeit wäre«, ist ja nicht Resultat, sondern Denkanstoß für alle Beteiligten, ein Provokationsprovisorium. Es ist ein Vorschlag zur Verflüssigung und zur Verüberflüssigung fester Strukturen, damit fängt es immer wieder auf’s Neue an; die ästhetischen Medien geben hierfür die besten Möglichkeiten ab. Die festen Strukturen schlechthin in der Musik sind die Tonalität, die Instrumente und die Institutionen. Alle drei hängen miteinander zusammen. Eine Haupt-Gegenstrategie Mathias Spahlingers ist der Prozess, die Bewegung. Schon die Werktitel sprechen von Bewegung, Tendenz, Weg und Übergang: akt, eine treppe herabsteigend, gegen unendlich, verlorener weg, passage/paysage. Klanglich sind das dann beispielsweise Accelerandi, Glissandi, 1 rhythmische Modulationen, Klangbänder. Eine rhythmische Modulation sprengt jeden eindeutigen metrischen Rahmen; ein Glissando durchkreuzt die temperierte Stimmung; die inkommensurable Klangfarbenvielfalt ist das Gegenteil eines instrumentierbaren Tonsatzes und forderte mit überhöhtem Bogendruck und Luftgeräuschen jahrzehntelang Geiger und Flötisten, sprich: den Klassikbetrieb heraus. Spahlingers Prozesse sind unabgeschlossene, sie gehen ins Offene. gegen unendlich heißt ein Ensemblestück, ein Schlüsselwerk, ein klingender Essay über systembefreites Wahrnehmen. Intervalle in immer kleineren Abständen, bis hin zur Ununterscheidbarkeit, teilen den Tonhöhenraum, im zweiten Teil splitten Rhythmen die Zeit, bis hin dass das gleichzeitig-dasgleiche-Spielen, das angebliche »Unisono«, auch als ein Hinter- und Übereinander erkannt wird. Ohne ein Bezugssystem für Tonhöhen und Rhythmen, wie die diatonische Tonleiter und das Metrum es darstellen, gibt es keine zwei gleichen Ereignisse, keine zwei gleichen Tonhöhen und keine zwei gleichen Dauern. Glaube ist gerade hier nötig, wo kein Raster verfügbar ist, welches die kleinsten und allerfeinsten Differenzen einordnet. Unfassbar ist nicht Gott, sondern eine Welt ohne Bibel, ohne prästabilierte Harmonie. Sinn ist, wie jeder Begriff, stets Unterstellung. Die eigentliche Unendlichkeit dabei ist der Prozess der Autoreflexion. Ab wann sagen wir, dass es sich um zwei verschiedene, ab wann entscheiden wir, dass es sich um zwei gleiche Tonhöhen handelt? Der Komponist überbringt keine klare Botschaft, sondern ein Angebot an die Wahrnehmung des Hörers, keine Information, sondern Stimulantien zur sinnlichen Erkenntnis. Es ist die Sprache, unser Verstehens- und Kommunikationswerkzeug auf Gedeih und Verderb, die zu Begriffen stutzt, was tatsächlich – vermutlich – ein einziges Kontinuum ist. Jeder Begriff ist ein Begriff des Unvermögens, das Unendliche zu sehen. Den Tonhöhen selbst ist es gleich, ob sie gleich oder verschieden sind. Die Wahrnehmung, verunsichert, nimmt ihre eigene Verunsicherung wahr, also sich selbst. Hier beginnt ein unendlicher Prozess; das Ich kann nicht unmittelbarer Gegenstand seiner selbst sein, »weil, sofern unsere Seele erkennbar wäre, eine zweite Seele zum Erkennen der ersten erforderlich wäre, und eine dritte zum Erkennen der zweiten« (Paul Deussen). Man steigt nicht zwei mal in denselben Fluss, da man selbst ein Fluss ist. Die unzähligen Subjekte, die sich da aneinander abarbeiten, sind nach Schopenhauer nicht im Raum, aber in der Zeit verteilt. Die Zeitkunst Musik, wie sie Schopenhauer folgerichtig favorisierte, gibt Zeugnis. Und doch, nach Leibniz, ist es einfach: »Wenn der Geist sein Denken wiederdenken müsste, so brauchte er nur ein Gefühl zu empfinden, um daran zu denken und sodann an sein Darandenken zu denken, sowie fernerhin an sein Denken des Darandenkens des Darandenkens und so ins Unendliche«. 2 gegen unendlich geht nicht nur die Zahl der Tonhöhen und Dauern, sondern auch unsere Selbsterkenntnis – wir selbst sind unendlich. Ist dies eine »schlechte Unendlichkeit«? Hegel bezeichnet mit diesem Ausdruck eine Aktion, die fortlaufend sein will, sich stattdessen jedoch gleichbleibend wiederholt, leere Spektakel ohne Qualitäten. Die Unendlichkeit der Autoreflexion hat aber, um die Floskel zu bemühen, ein Ziel, den Weg. Oder anders beschrieben: Sie ist vergleichbar mit Zenon von Eleas Bild der uneinholbaren Schildkröte. Im Wettlauf zwischen Schildkröte und Achilles, wobei die Schildkröte einen Meter Vorsprung hat, wird Achilles sie niemals einholen, denn während er den einen Meter zurücklegt, schafft die Schildkröte erneut einen kleinen Vorsprung, und wenn auch diesen Punkt Achilles erreicht hat, ist die Kröte zwischenzeitlich wieder ein Winziges weitergerückt, ad infinitum. Der Vorsprung des Tiers wird zwar immer kleiner, aber es behält einen Abstand. Wie wir jedoch wissen, können Menschen Schildkröten überholen. Zenons Irrtum ist, dass er eine Strecke in unendlich viele Teile teilt, dennoch diese unendlichen Teile eine endliche Summe haben. Der Irrtum der Quantifizierung! So kann auch das Erkennen sich selbst einholen, selbst wenn es unendlich viele Subjekte sein mögen, die da in einem Fort einander beobachten; andernfalls hätten wir das Wort ›Bewusstsein‹ nicht. Das Programm der Verflüssigung ist kein politisches Programm, sondern prä-politisch, die Verflüssigung vor der neuen Kristallisation; keine rote Fahne, sondern »Farben der Frühe«. Und doch, im Bewusstsein des »prä-«, des Frühen, des noch viel zu Erledigenden, steckt die politische Haltung. Wenn zu erwarten ist, dass die Menschheit noch 500 Millionen Jahre die Erde bewohnen wird, sind wir beileibe früh dran. Immer wieder betont Spahlinger, wie unerforscht und undurchschaut das Klingende noch ist, wiewohl es nun seit 1910 vom tonalen System befreit ist. In der Überzeugung, dass die inhärenten Probleme der Musik mit den gesellschaftlichen korrelieren, stehen die Mammutaufgaben erst bevor, es ist noch früh; wenn auf Erden auch im Jahr 2011 Sklavenarbeit praktiziert wird, ist es höchste Zeit, das Altertum zu verlassen! Und so gibt es denn auch das Feste, das Pointierte, das Entschiedene bei Mathias Spahlinger. »pobre por culpa de los ricos« – arm durch die Schuld der Reichen, dieser Satz wird dutzende Male in musica impura musikalisiert. »verflucht sei krieg! verflucht das werk der waffen!« skandieren die Sänger in verfluchung die ganze halbe Stunde des Stücks über. Wo, wenn nicht hier, hat die Wiederholung, Urelement der Musik, ihren Sinn? Es kann gar nicht oft genug gerufen werden: Verflucht sei Krieg! Anders als Kurt Tucholsky einst unkte, hat die Revolution wegen schlechten Wetters nicht einmal in der Kunst wirklich stattgefunden. Tonale Musik erstrahlt nach wie vor im Pop wie im Konzertsaal. Nach Stockhausens Avantgarde-Projekt – die Musik mit jedem Musikstück 3 neu zu erfinden, in Struktur, Notation, Instrumentation und Aufführungsweise –, ein Projekt, das allmählich in den Weltraum enthob, war es ab Mitte der 1960er progressiver, weil gesellschaftsnäher, sich mit den alten Formen und Instrumenten der immer noch herrschenden Tonalität auseinanderzusetzen. Darum der dialektische Bezug Neuer Musik auf die Tradition, etwa in Form italienischer Spielanweisungen als Titel: morendo, sotto voce, inter-mezzo, furioso heißen Werke Spahlingers bis in die 1990er hinein (bei Helmut Lachenmann heißen die Stücke Echo Andante oder Allegro sostenuto, bei Cornelius Schwehr poco a poco subito, da capo, attacca oder parlando); ähnlich definierte Beuys den Skulpturbegriff um zur Sozialen Plastik. Klavierkonzert und Streichquartett waren gesellschaftlich relevanter als die elektronische Musik, die als Science-Fiction-Bastelei im Elfenbeinstudio galt (was sich mit der Digitalisierung nun umdreht). Doch seit den 1990ern ist Spahlinger abgekehrt von der Musique concrète instrumentale, die sich den alten Instrumenten und Formen durch Verweigerung widmete. Der Widerstand der Instrumente ist geschwunden, da sich eigene Institutionen herausgebildet haben und der Klassikbetrieb sich aufzulösen beginnt. Die Erfahrung von doppelt bejaht 2009 bei den Donaueschinger Musiktagen war deutlich: Schmerzhafter als das Kratzen hinterm Steg ist für den Orchestermusiker heute die Selbstbestimmung. Nicht die durchstrukturierten kleinen Sekunden und großen Septen sind die heutigen unaufgelösten Dissonanzen, sondern die ›Menschenintervalle‹ zwischen Instrumentalisten, Dirigent, Komponist und Publikum. Neben dem Prozess ist ein bei Spahlinger öfter anzutreffendes formales Mittel die Überlänge, die falsche Proportion, das Detail, das unerwartet zum Großen mutiert. Minutenlang erklingt in farben der frühe nur das große Des; mit einem Mal bilden die sieben Klaviere eine Klanginstallation. Über 80 mal in langsamem Tempo schlägt der Schlagzeuger in éphémère solo einen Rim Shot. Der zweite Teil von nah, getrennt ist eine nahezu endlose Gebirgskette von winzigen Sechzehntelton-Intervallen. (Selten habe ich eine solche Aufführung erlebt, die das Publikum – Fachpublikum bei den Darmstädter Ferienkursen! – im Jahr 2004 derart provoziert, geärgert und begeistert hat.) Das letzte der vier stücke ist viel länger als die drei anderen – das Gegenteil der ausgewogenen Mehrsätzigkeit traditioneller Musik (mit Ausnahme der zweiten Violinpartita Bachs mit der finalen, überbordenden Ciaconna). Die Überlänge ist der Fehler, der heute stimmt. Richtig ist falsch, und falsch ist richtig: Wer Wagner heute richtig spielt, spielt ihn falsch. Was das Regietheater an Aktualisierung anstrengt, kassiert in Bayreuth die heilige Musik, die nur Nuancen an interpretatorischem Spielraum gewährt, wieder ein. Warum spielt man nicht den zweiten Akt der Meistersinger 4 eine Oktav höher? Die Musik wird nur verschieden interpretiert; es kömmt drauf an, sie zu verändern. Ein fester Bestandteil von Mathias Spahlingers Arbeit ist das Engagement als SaxofonImprovisator. Das freie, nicht-schriftliche Musikmachen wurzelt in seiner Jugend im Frankfurter Jazzkeller (»Jatzkeller«), aber ebenso in den Initiativen Erhard Karkoschkas, seinem Stuttgarter Lehrer, und in den Bestrebungen einer linken Musikpraxis seit den 1960er Jahren, gegen das Diktat der fixierten und fixierenden Noten vorzugehen. Die Hegel’sche Bewegung soll nicht nur logische Aktion, sondern Tat und Veränderung sein. Obwohl ein schmales Büchlein, gehören die vorschläge. konzepte zur ver(über)flüssigung der funktion des komponisten zum Hauptwerk, gerade weil Spahlinger nur solche Konzepte aufschrieb, an deren Realisierung er entgegen der Besserwisserei des Cheftheoretikers (Brecht hieß der Nachwelt auf seinen Grabstein schreiben: „Er hat Vorschläge gemacht – wir haben sie angenommen“) selbst gerne mitarbeiten würde; wohlgemerkt geht es um Konzepte, deren Ausgang offen ist, die den »freieren und innigeren zusammenhang« anstreben, wie er Hölderlin gern zitiert. Die konzepte wurden an der Akademie der Künste ebenso gespielt wie in Schulklassen, von Laptopmusikern wie von Streichquartetten, und in doppelt bejaht haben sie eine Orchesterfassung. Es ist zu wünschen, dass der vergriffene Band der konzepte wieder aufgelegt oder für das Internet freigegeben wird. Konzeptualität reicht bei Spahlinger aber auch weit in die Partituren hinein. Im Unterricht fragte ich ihn einmal, da ich mich gerade mit seinem Klavierkonzert inter-mezzo beschäftigte, ob ich in die zugrundliegenden Skizzen einsehen dürfte. Zu meiner Überraschung händigte er mir in der folgenden Woche einen nur schmalen Ordner aus – das also sind sämtliche Skizzen für ein halbstündiges Werk mit großem Orchester! Sie begannen mit circa fünfzehn eng beschriebenen Blättern, nur Text. Der Rest waren wenige strukturelle, oft grafische Notate. Offenbar hat sich der Komponist zu Beginn über seine Absichten verbal Klarheit verschafft, danach konnte er praktisch gleich mit der Partitur in Reinschrift beginnen. Musik seit dem Ende Tonalität, seit der Aufkündigung des Konzepts der Tonalität – denn das ist sie, ein menschengemachtes Konzept – erfordert neue, individuelle Konzepte. Niemand kann mehr ein Leben lang Fugen schreiben. Spahlinger war die Lehre nicht nur Beruf, sondern Anliegen. Jeder Schüler erhielt wöchentlich zwei Stunden Einzelunterricht, selbst an Feiertagen, außerdem gab er jede Woche mindestens zwei Seminare, die noch in der Kneipe fortgesetzt wurden. Nach Eislers Bonmot könnte man sagen: Wer nur Musik macht, macht auch da nichts. Zu Spahlingers Programm gehört auch das Lehren, das Kommunizieren, ja, auch das Streiten. Mit Hegel: 5 »Die denkende Vernunft aber spitzt den abgestumpften Unterschied des Verschiedenen zum wesentlichen Unterschiede, zum Gegensatze zu.« Kunst und Leben sind nicht getrennt, »in den musikalischen denkweisen und kompositionsmethoden kehren die denkweisen und arbeitsweisen der zeit wieder oder werden in ihnen weitergetrieben.« Folglich gelten auch in der Kunst Regeln und Moral, wie im wirklichen Leben, und so wie es im wirklichen Leben Verbote gibt, darf auch die Kunst nicht alles, etwa zurückfallen ins Korsett der Tonalität. Darum kommen tonale Akkorde bei Spahlinger aus Prinzip nicht vor; sie würden das Hören auf feste Gleise stellen, das Unendliche des Akustischen auf Harmonie reduzieren – tonale Akkorde sind darum verboten, weil sie verbieten. Er vergleicht dies damit, dass in der Demokratie auch nicht per Volksentscheid die Demokratie abgeschafft werden darf. Dennoch mißtraut Spahlinger jedem Verbot, und so gibt es auch hiervon Ausnahmen, etwa bei deutlichen Zitaten wie dem Tristan-Akkord in den vier stücken oder den unter extremsten Spieltechniken hervorscheinenden modalen Verbindungen Dufays in adieu m’amour. Das Duo für Violine und Klavier extension endet mit einer großen Collage (es ist der andere Essay neben gegen unendlich, und demselben Thema gewidmet, aber nicht nach innen, wie im späteren Stück, sondern nach außen, sogar ganz wörtlich, wenn einer der Musiker am Ende vor dem Saal spielt). Auch das Hörspiel wozu noch musik? versammelt eine Unmenge an historischem musikalischen Material, wie auch ein Text über Theodor W. Adorno mit Zitaten gespickt ist. Pluralismus, betont Spahlinger immer, ist nicht erst Motiv der Postmoderne, sondern ureigenes Wesen der Moderne. Noch einmal: »in den musikalischen denkweisen und kompositionsmethoden kehren die denkweisen und arbeitsweisen der zeit wieder oder werden in ihnen weitergetrieben.« Bestes Beispiel hierfür gibt der akt, eine treppe herabsteigend: In dem Konzert für Bassklarinette, Posaune und Orchester von 1998 geht es um die Aufteilung eines Kontinuums in diskrete Zustände, konkret um Glissandi, die in einzelne Tonhöhenpunkte aufgelöst werden. Damit befasst sich Spahlinger anhand strukturalistisch-orchestraler Mittel mit: der Digitalisierung! Einerseits ist sie ein uraltes Verfahren, denn schon der Kalender ist die Einteilung der kontinuierlichen Rotationen der Erde in diskrete Werte, nämlich in Tage, Monate und Jahre; andererseits ist sie das technologische Innovationspotenzial schlechthin seit Mitte der 1990er Jahre und verantwortlich für den größten medialen Umbruch seit Jahrhunderten. Noch viel grundsätzlicher, als wenn andere am Computer Streichquartette komponieren, befasst sich Spahlinger im akt mit algorithmischer Komposition: Das Wesen von Algorithmen selbst wird musikalisch beleuchtet. 6 Im September 2011 postete jemand auf Facebook Spahlingers Satz »die idee der autonomen musik sinkt zur schalheit herab und wird ideologie, wenn sie freiraum und spielwiese ist, wenn sie nichts mehr zu erobern hat, sondern nur noch zu verteidigen.« und veranlasste daselbst die Diskussion. Steht der Avantgarde-Trupp zur Eroberung bereit? Wohl meist nicht – seine Gegner jedoch immer. Eins ums andere Mal findet sich die Kultur in der Defensive. Will man sich aber nur noch auf einem absteigenden Ast aufhalten? Was hat die Musikausübung für einen Sinn, wenn man sie immerzu entschuldigen muss? Und was nutzt die subventionierte grüne Insel, wenn drumherum Atommeiler stehen? Man sollte nicht froh sein, dass man überhaupt noch Musik machen darf; die Freiheit, die nur gewährt wird, ist keine. Und jene Musikpraxis, die der Pflege bedarf, weil sie selbst nur Tradition pflegt und sich daraus legitimiert, merkt allmählich, dass es für sie keine Pflegeversicherung gibt. Der philharmonische Schönklang muss nicht mehr kritisiert werden, er erledigt sich von selbst. Wo aber eine neue Musik angestrebt wird, da finden sich auch über die Fachgrenzen hinaus die, die fühlen, dass diese Anliegen auch die ihrigen sind. Musik ist das Grundsätzliche, und im heutigen System stimmt etwas grundsätzlich nicht, darauf pocht der Marxist Spahlinger ohne Überdruss, nicht unbeirrbar, denn ohne Selbstkorrektur entstünde blinder Aktionismus, aber doch mit der Überzeugung und der Bildung von Jemandem, der Zehntausende Bücher besitzt und gelesen hat, und noch weiß, wie man unter Nazis, die nach 1945 weiterhin Lehrer, Richter und Industrielle blieben, leben musste. Nur zu gut verständlich ist, was Spahlinger Beethoven, Hegel und Hölderlin bedeuten, die alle 1770 geboren wurden und mit Anfang 20 die Französische Revolution erlebten (nicht von Ungefähr trägt er blau, weiß und rot als Kleidungsfarben), der er selber 23 Jahre alt war, als die 68er-Revolte losging. Aber nicht zu vergessen: Verflucht sei Krieg!, Spahlinger verurteilt jede physische Gewalt. Wenn in éphémère die Zuschauer beworfen werden, entpuppen sich die Geschosse sogleich als Bonbons – zur Versöhnung. Angreifbar macht er sich selbst. Mathias Spahlinger hat den Mut zur Zumutung. Er traut dem Hörer zu, Bewegung zu erleben, zu erfahren und selbst zu vollziehen. Die Musik klingt, um das Expressive nicht auszulassen, oft emphatisch, vergleichbar Hegels Sprache, sosehr das Subjekt auch einen »Weg der Verzweiflung« geht. Fanfarenhaft schmettert es zwischendurch in passage/paysage, wie schon die zwei Anfangsakkorde des Stücks auf Beethovens Eroica verweisen; die mechanischen Wiederholungen in morendo sind inspiriert von der Eisengießerei, einem Stück aus dem frühsowjetischen, aufbruchsoptimistischen (unvollendeten) Ballett Stahl von Alexander Mossolow. Daneben gibt es spröde, ätzende Passagen, mürbe Klanglichkeiten, diffizile Konzepte und unspielbar, zum Scheitern verurteilt Schweres. Die Überlängen, wie 7 die mechanischen Wiederholungen im verlorenen weg, sind bisweilen Geduldsspiele; für eine Aufführung des Chorstücks in dem ganzen ocean von empfindungen eine welle absondern, sie anhalten müsste man erst mit hohem Studioaufwand Tonbandmaterial jedes einzelnen Sängers produzieren – das Stück hat darum seit 1985 nur zwei Aufführungen erlebt; das geplante Musiktheater suoni reali scheiterte gänzlich an Institutionen. Das alles muss wohl so sein. Gleichfalls gibt es das extrem Feine, den goldenen Riecher fürs Richtig-Falsche, Originalität allenthalben – dass in jedem Stück wenigstens ein Mal etwas passieren sollte, was der Hörer nie mehr vergisst, ist ihm Maxime: Zu Beginn von inter-mezzo wirft der Schlagzeuger einen vollbehangenen Schlagzeugständer um; der regelmäßig-sture Rim Shot in éphémère wird plötzlich in ein Plakat mit der Aufschrift »Peng!« uminstrumentiert; die schneidenden Bartók-Pizzicato-Anhäufungen am Ende von passage/paysage haben fast schon Erkennungsmelodie-Charakter für die Neue Musik. Dabei ist jedes kleinste Detail durchdacht: Beispielhaft für den Anspruch, den er an sich selber hat, ist die berühmte Analyse der ersten vier Takte von Lachenmanns Orchesterwerk Kontrakadenz, für die Spahlinger in den MusikKonzepten zehn Druckseiten braucht, überakribisch, vergleichbar Derridas Dekonstruktionstexten. Tatsächlich hat er die gesamte Lachenmann-Partitur auf diese extrem minutiöse Weise auseinandergenommen, oder im Unterricht auch Werke wie Olivier Messiaens Mode de valeurs et d’intensités, Anton Weberns Bagatellen Opus 9 und eigene Partituren. Dabei war und ist kein Detail ein nur immanentes, denn es gibt keine Werkimmanenz, sondern nur die Weltimmanenz, so wie die Probleme heute global vernetzte sind und wir mit »Weltinnenpolitik« (Ulrich Beck) befasst sein müssen. Das schließt Intimität keineswegs aus. Mit übertriebenem technischen Aufwand spielen Geiger und Cellist Guillaume Dufays Rondeau adieu m’amour im gleichnamigen Stück Spahlingers. Tatsächlich ist die Vorlage fast nicht mehr erkennbar, so sehr ziehen die ungewöhnlichen Spielarten, wie Bogenstrich oberhalb der Griffhand oder Mehrklänge durch Streichen auf dem Schwingungsknoten die Aufmerksamkeit auf sich. Und dennoch geht es hier nicht um die Lachenmann’sche Geräuschenergetik, schon gar nicht um den Klang-ansich, den Cage zu erreichen gedachte. Unter der extrem geräuschhaften, zugleich meist sehr leisen und extrem fragilen, außerdem noch in den Raum gezogenen Klangoberfläche (das Cello steht hinter dem Publikum) schimmert etwas hervor, das alte Lied vom Abschied, das von uns Abschied nimmt, wenn wir es haben wollen. Spahlinger komponiert die flüchtige Schönheit, den verlorenen Weg, denn nur das ist eine Neue Musik, so sein Leitsatz, die vor die Frage stellt, ob das überhaupt noch Musik ist. In dieser Zumutung der Ungewissheit liegt der Mut des Komponisten, Erkenntnisse mit klingenden Mitteln schaffen zu können. 8