Herbert Marcuse
Der eindimensionale
Mensch
Studien zur Ideologie der
fortgeschrittenen
Industriegesellschaft
Herbert Marcuse konstatiert einen lückenlosen Zusammenhang von Manipulation und Konformismus, der das in sich
widerspruchsvolle kapitalistische Gesellschaftssystem stabilisiert und nur noch Randgruppen, Außenseiter, Unterprivilegierte und Intellektuelle zu subversivem Bewußtsein
kommen läßt. Er hat nicht nur das Manifest der Großen
Weigerung dieser verzweifelt ausbrechenden Minderheiten
geschrieben, auch die Alternative, die Aufklärung der Ausgebeuteten und Manipulierten dennoch zu organisieren, ist
selten illusionsloser verdeutlicht worden. Mit diesem Buch,
das 1964 erstmals in den USA erschien, hat Marcuse einen tiefen Einfluß auf das kritische Bewußtsein einer ganzen Generation der westlichen Welt ausgeübt.
Herbert Marcuse, geboren 1898 in Berlin, gestorben 1979 in
Starnberg, als Vertreter der Frankfurter Schule wesentlich
an der philosophischen Neuentdeckung des Marxismus beteiligt, emigrierte 1933 und lehrte ab 1934 in den USA, zuletzt
an der University of California.
Werke u. a.: »Hegels Ontologie und die Grundlegung einer
Theorie der Geschichtlichkeit« (1932); »Triebstruktur und
Gesellschaft« (1954); »Sowjetmarxismus« (1958); »Kultur
und Gesellschaft« (1965); »Psychoanalyse und Politik«
(1968); »Revolution oder Reform?« (1971); »Schriften«
(10 Bände).
Herbert Marcuse
Der eindimensionale Mensch
Studien zur Ideologie der
fortgeschrittenen Industriegesellschaft
Deutsch von Alfred Schmidt
Deutscher Taschenbuch Verlag
Die Originalausgabe »The One-Dimensional Man. Studies in the
Ideology of Advanced Industrial Society« erschien 1964 in der Beacon Press, Boston, Mass., die deutsche Ausgabe 1967 im Hermann
Luchterhand Verlag, Neuwied, später als Band 4 der »Sammlung
Luchterhand«.
April 1994
3. Auflage November 1998
Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG,
München
© Luchterhand Literaturverlag GmbH,
Hamburg 1967, 1988
© Beacon Press, Boston, Mass. 1964 für die Originalausgabe
Umschlagkonzept: Balk & Brumshagen
Umschlagfoto: © Ullstein Bilderdienst, Berlin
Druck und Bindung: C. H. Beck'sche Buchdruckerei,
Nördlingen
Gedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier
Printed in Germany · ISBN 3-423-30133-3
Für Inge
Danksagungen
Meine Frau ist zumindest teilweise verantwortlich für die in
diesem Buche ausgedrückten Ansichten. Ich bin ihr unendlich
dankbar.
Mein Freund Barrington Moore, Jr., hat mir durch seine
kritischen Bemerkungen sehr geholfen; in jahrelangen Diskussionen hat er mich gezwungen, meine Gedanken zu klären.
Robert S. Cohen, Arno J. Mayer, Hans J. Meyerhoff und
David Ober lasen das Manuskript auf verschiedenen Stufen
seiner Fertigstellung und boten wertvolle Anregungen.
Der American Council of Learned Societies, die Louis
M. Rabinowitz Foundation, die Rockefeller Foundation und der
Social Science Research Council haben mir Unterstützungen
gewährt, die den Abschluß dieser Studien sehr erleichterten.
Inhalt
Vorrede:
Die Paralyse der Kritik: eine Gesellschaft ohne Opposition
11
Die eindimensionale Gesellschaft
21
1 Die neuen Formen der Kontrolle
2 Die Abriegelung des Politischen
3 Der Sieg über das unglückliche Bewußtsein:
repressive Entsublimierung
4 Die Absperrung des Universums der Rede
Das eindimensionale Denken
5 Negatives Denken: die besiegte Logik des Protests
6 Vom negativen zum positiven Denken:
technologische Rationalität und die Logik der
Herrschaft
7 Der Triumph des positiven Denkens:
eindimensionale Philosophie
Die Chance der Alternativen
8 Das geschichtliche Engagement der Philosophie
9 Die Katastrophe der Befreiung
10 Beschluß
Verzeichnisse
21
39
76
103
139
139
159
184
215
215
236
258
269
Vorrede
Die Paralyse der Kritik: eine Gesellschaft ohne Opposition
Dient nicht die Bedrohung durch eine atomare Katastrophe, die
das Menschengeschlecht auslöschen könnte, ebensosehr dazu,
gerade diejenigen Kräfte zu schützen, die diese Gefahr verewigen? Die Anstrengungen, eine solche Katastrophe zu verhindern, überschatten die Suche nach ihren etwaigen Ursachen
in der gegenwärtigen Industriegesellschaft. Diese Ursachen werden von der Öffentlichkeit nicht festgestellt, bloßgelegt und
angegriffen, weil sie gegenüber der nur zu offenkundigen Bedrohung von außen zurücktreten — für den Westen vom Osten,
für den Osten vom Westen. Gleich offenkundig ist das Bedürfnis,
vorbereitet zu sein, sich am Rande des Abgrundes zu bewegen,
der Herausforderung ins Auge zu sehen. Wir unterwerfen uns
der friedlichen Produktion von Destruktionsmitteln, der zur
Perfektion getriebenen Verschwendung und dem Umstand, daß
wir zu einer Verteidigung erzogen werden, welche gleichermaßen die Verteidiger verunstaltet wie das, was sie verteidigen.
Wenn wir versuchen, die Ursachen der Gefahr darauf zu
beziehen, wie die Gesellschaft organisiert ist und ihre Mitglieder
organisiert, dann stehen wir sofort der Tatsache gegenüber,
daß die fortgeschrittene Industriegesellschaft reicher, größer und
besser wird, indem sie die Gefahr verewigt. Die Verteidigungsstruktur erleichtert das Leben einer größeren Anzahl von Menschen und erweitert die Herrschaft des Menschen über die Natur.
Unter diesen Umständen fällt es unseren Massenmedien nicht
schwer, partikulare Interessen als die aller einsichtigen Leute zu
verkaufen. Die politischen Bedürfnisse der Gesellschaft werden
zu industriellen Bedürfnissen und Wünschen, ihre Befriedigung
fördert das Geschäft und das Gemeinwohl, und das Ganze
erscheint als die reine Verkörperung der Vernunft.
Und doch ist diese Gesellschaft als Ganzes irrational. Ihre
Produktivität zerstört die freie Entwicklung der menschlichen
Bedürfnisse und Anlagen, ihr Friede wird durch die beständige
II
Kriegsdrohung aufrecht erhalten, ihr Wachstum hängt ab von
der Unterdrückung der realen Möglichkeiten, den Kampf ums
Dasein zu befrieden — individuell, national und international.
Diese Unterdrückung, höchst verschieden von derjenigen, die für
die vorangehenden, weniger entwickelten Stufen unserer Gesellschaft charakteristisch war, macht sich heute nicht aus einer
Position natürlicher und technischer Unreife heraus geltend,
sondern aus einer Position der Stärke. Die (geistigen und materiellen) Fähigkeiten der gegenwärtigen Gesellschaft sind unermeßlich größer als je zuvor — was bedeutet, daß die Reichweite
der gesellschaftlichen Herrschaft über das Individuum unermeßlich größer ist als je zuvor. Unsere Gesellschaft ist dadurch ausgezeichnet, daß sie die zentrifugalen Kräfte mehr auf technischem Wege besiegt als mit Terror: auf der doppelten Basis
einer überwältigenden Leistungsfähigkeit und eines sich erhöhenden Lebensstandards.
Es gehört zur Absicht einer kritischen Theorie der gegenwärtigen Gesellschaft, die Wurzeln dieser Entwicklungen zu
erforschen und ihre geschichtlichen Alternativen zu untersuchen —
einer Theorie, die die Gesellschaft analysiert im Licht ihrer genutzten und ungenutzten oder mißbrauchten Kapazitäten zur
Verbesserung der menschlichen Lage. Was aber sind die Maßstäbe einer solchen Kritik?
Sicher spielen Werturteile eine Rolle. Die etablierte Weise, die
Gesellschaft zu organisieren, wird an anderen möglichen Weisen
gemessen, Weisen, von denen angenommen wird, daß sie der
Erleichterung des menschlichen Kampfes ums Dasein bessere
Chancen bieten; eine bestimmte historische Praxis wird an ihren
eigenen geschichtlichen Alternativen gemessen. Von Anbeginn
steht damit jede kritische Theorie der Gesellschaft dem Problem
historischer Objektivität gegenüber, einem Problem, das an den
beiden Stellen aufkommt, an denen die Analyse Werturteile
einschließt:
1. das Urteil, daß das menschliche Leben lebenswert ist oder
vielmehr lebenswert gemacht werden kann oder sollte. Dieses
Urteil liegt aller geistigen Anstrengung zu Grunde; es ist das
Apriori der Gesellschaftstheorie, und seine Ablehnung (die
durchaus logisch ist) lehnt die Theorie selbst ab;
12
2. das Urteil, daß in einer gegebenen Gesellschaft spezifische
Möglichkeiten zur Verbesserung des menschlichen Lebens bestehen sowie spezifische Mittel und Wege, diese Möglichkeiten
zu verwirklichen. Die kritische Analyse hat die objektive Gültigkeit dieser Urteile zu beweisen, und der Beweis muß auf empirischem Boden geführt werden. Der etablierten Gesellschaft steht
eine nachweisbare Quantität und Qualität geistiger und materieller Ressourcen zur Verfügung. Wie können diese Ressourcen
für die optimale Entwicklung und Befriedigung individueller
Bedürfnisse und Anlagen bei einem Minimum an schwerer
Arbeit und Elend ausgenutzt werden? Die Gesellschaftstheorie
ist eine historische Theorie, und die Geschichte ist das Reich der
Notwendigkeit. Daher ist zu fragen: welche unter den verschiedenen möglichen und wirklichen Weisen, die verfügbaren Ressourcen zu organisieren und nutzbar zu machen, bieten die
größte Chance einer optimalen Entwicklung?
Der Versuch, diese Fragen zu beantworten, erfordert zunächst
eine Reihe von Abstraktionen. Um die Möglichkeiten einer optimalen Entwicklung anzugeben und zu bestimmen, muß die
kritische Theorie von der tatsächlichen Organisation und Anwendung der gesellschaftlichen Ressourcen abstrahieren sowie
von den Ergebnissen dieser Organisation und Anwendung. Eine
solche Abstraktion, die sich weigert, das gegebene Universum
der Tatsachen als den endgültigen Zusammenhang hinzunehmen,
in dem etwas zwingende Kraft erhält, eine solche »transzendierende« Analyse der Tatsachen im Licht ihrer gehemmten und
geleugneten Möglichkeiten gehört wesentlich zur Struktur von
Gesellschaftstheorie. Sie ist aller Metaphysik entgegengesetzt
aufgrund des streng geschichtlichen Charakters der Transzendenz1. Die »Möglichkeiten« müssen sich innerhalb der Reichweite
der jeweiligen Gesellschaft befinden; sie müssen bestimmbare
Ziele der Praxis sein. Dementsprechend muß die Abstraktion
l Die Ausdrücke »transzendieren« und »Transzendenz« werden durchweg im empirischen, kritischen Sinne verwandt: sie bezeichnen Tendenzen in Theorie und Praxis,
die in einer gegebenen Gesellschaft über das etablierte Universum von Sprechen und
Handeln in Richtung auf seine geschichtlichen Alternativen (realen Möglichkeiten)
»hinausschießen«.
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von den bestehenden Institutionen eine tatsächliche Tendenz
ausdrücken — das heißt, ihre Veränderung muß das reale Bedürfnis der vorhandenen Bevölkerung sein. Die Gesellschaftstheorie hat es mit den geschichtlichen Alternativen zu tun, die
in der etablierten Gesellschaft als subversive Tendenzen und
Kräfte umgehen. Die mit den Alternativen verbundenen Werte
werden durchaus zu Tatsachen, wenn sie vermittels historischer
Praxis in Wirklichkeit übersetzt werden. Die theoretischen Begriffe verlieren mit der gesellschaftlichen Veränderung ihre Gültigkeit.
Hier aber konfrontiert die fortgeschrittene Industriegesellschaft die Kritik mit einer Lage, die sie ihrer ganzen Basis zu
berauben scheint. Ausgeweitet zu einem ganzen System von
Herrschaft und Gleichschaltung, bringt der technische Fortschritt
Lebensformen (und solche der Macht) hervor, welche die Kräfte,
die das System bekämpfen, zu besänftigen und allen Protest
im Namen der historischen Aussichten auf Freiheit von schwerer
Arbeit und Herrschaft zu besiegen oder zu widerlegen scheinen.
Die gegenwärtige Gesellschaft scheint imstande, einen sozialen
Wandel zu unterbinden — eine qualitative Veränderung, die
wesentlich andere Institutionen durchsetzen würde, eine neue
Richtung des Produktionsprozesses, neue Weisen menschlichen
Daseins. Die Unterbindung sozialen Wandels ist vielleicht die
hervorstechendste Leistung der fortgeschrittenen Industriegesellschaft; die allgemeine Hinnahme des »nationalen Anliegens«,
das Zwei-Parteien-System, der Niedergang des Pluralismus, das
betrügerische Einverständnis von Kapital und organisierter
Arbeiterschaft in einem starken Staat bezeugen die Integration
der Gegensätze, die das Ergebnis wie die Vorbedingung dieser
Leistung ist.
Ein kurzer Vergleich zwischen dem Stadium, in dem die
Theorie der Industriegesellschaft sich bildete, und ihrer gegenwärtigen Lage kann zeigen helfen, wie die Grundlage der Kritik
sich gewandelt hat. Als sie in der ersten Hälfte des neunzehnten
Jahrhunderts aufkam und die ersten Begriffe von Alternativen
ausarbeitete, gewann die kritische Theorie der Industriegesellschaft Konkretion in einer geschichtlichen Vermittlung zwischen
Theorie und Praxis, Werten und Tatsachen, Bedürfnissen und
14
Zielen. Diese geschichtliche Vermittlung spielte sich ab im Bewußtsein und in der politischen Aktion der beiden großen Klassen, die sich in der Gesellschaft gegenüberstanden: Bourgeoisie
und Proletariat. In der kapitalistischen Welt sind sie noch immer
die grundlegenden Klassen. Die kapitalistische Entwicklung hat
jedoch die Struktur und Funktion dieser beiden Klassen derart
verändert, daß sie nicht mehr die Träger historischer Umgestaltung zu sein scheinen. Ein sich über alles hinwegsetzendes Interesse an der Erhaltung und Verbesserung des institutionellen
Status quo vereinigt die früheren Antagonisten in den fortgeschrittensten Bereichen der gegenwärtigen Gesellschaft. Und in
dem Maße, wie der technische Fortschritt Wachstum und Zusammenhalt der kommunistischen Gesellschaft gewährleistet,
weicht gerade die Idee der qualitativen Änderung den realistischen Begriffen einer nichtexplosiven Evolution. Da es an nachweisbaren Trägern und Triebkräften gesellschaftlichen Wandels
fehlt, wird die Kritik auf ein hohes Abstraktionsniveau zurückgeworfen. Es gibt keinen Boden, auf dem Theorie und Praxis,
Denken und Handeln zusammenkommen. Selbst die empirischste
Analyse geschichtlicher Alternativen erscheint als unrealistische
Spekulation, das Eintreten für sie als eine Sache persönlichen
(oder gruppenspezifischen) Beliebens.
Und dennoch: widerlegt dieses Fehlen einer Vermittlung die
Theorie? Angesichts offenkundig widersprüchlicher Tatsachen
besteht die kritische Analyse weiterhin darauf, daß das Bedürfnis nach qualitativer Änderung so dringend ist wie je zuvor.
Wer verlangt nach ihr? Die Antwort ist weiterhin dieselbe:
die Gesamtgesellschaft für jedes ihrer Mitglieder. Die Vereinigung von anwachsender Produktivität und anwachsender Zerstörung, das Hasardspiel mit der Vernichtung, die Auslieferung
des Denkens, Hoffens und Fürchtens an die Entscheidungen der
bestehenden Mächte, die Erhaltung des Elends angesichts eines
beispiellosen Reichtums enthalten in sich die unparteiischste Anklage — auch wenn sie nicht die raison d'être dieser Gesellschaft
sind, sondern nur ihr Nebenprodukt: ihre durchgreifende Rationalität, die Leistungsfähigkeit und Wachstum befördert, ist
selbst irrational.
Die Tatsache, daß die große Mehrheit der Bevölkerung diese
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Gesellschaft hinnimmt und dazu gebracht wird, sie hinzunehmen, macht sie nicht weniger irrational und verwerflich. Die
Unterscheidung zwischen wahrem und falschem Bewußtsein,
wirklichem und unmittelbarem Interesse ist immer noch sinnvoll.
Aber diese Unterscheidung selbst muß bestätigt werden. Die
Menschen müssen dazu gelangen, sie zu sehen, und müssen vom
falschen zum wahren Bewußtsein finden, von ihrem unmittelbaren zu ihrem wirklichen Interesse. Das können sie nur, wenn
sie unter dem Bedürfnis stehen, ihre Lebensweise zu ändern, das
Positive zu verneinen, sich ihm zu verweigern. Eben dieses Bedürfnis vermag die etablierte Gesellschaft in dem Maße zu
unterdrücken, wie sie imstande ist, »die Güter« auf erweiterter
Stufenleiter »zu liefern«, und die wissenschaftliche Unterwerfung der Natur zur wissenschaftlichen Unterwerfung des Menschen zu benutzen.
Gegenüber dem totalen Charakter der Errungenschaften der
fortgeschrittenen Industriegesellschaft gebricht es der kritischen
Theorie an einer rationalen Grundlage zum Transzendieren
dieser Gesellschaft. Dieses Vakuum entleert die theoretische
Struktur selbst, weil die Kategorien einer kritischen Theorie
der Gesellschaft während einer Periode entwickelt wurden, in
der sich das Bedürfnis nach Weigerung und Subversion im Handeln wirksamer sozialer Kräfte verkörperte. Diese Kategorien
waren wesentlich negative und oppositionelle Begriffe, welche
die realen Widersprüche der europäischen Gesellschaft des neunzehnten Jahrhunderts bestimmten. Die Kategorie »Gesellschaft«
selbst drückte den akuten Konflikt zwischen der sozialen und
politischen Sphäre aus — die Gesellschaft als antagonistisch gegenüber dem Staat. Entsprechend bezeichneten Begriffe wie »Individuum«, »Klasse«, »privat«, »Familie« Sphären und Kräfte,
die in die etablierten Verhältnisse noch nicht integriert waren Sphären von Spannung und Widerspruch. Mit der zunehmenden
Integration der Industriegesellschaft verlieren diese Kategorien
ihren kritischen Inhalt und tendieren dazu, deskriptive, trügerische oder operationelle Termini zu werden.
Ein Versuch, die kritische Intention dieser Kategorien wiederzuerlangen und zu verstehen, wie diese Intention durch die gesellschaftliche Wirklichkeit entwertet wurde, erscheint von An16
beginn als Rückfall von einer mit der geschichtlichen Praxis
verbundenen Theorie in abstraktes, spekulatives Denken: von
der Kritik der politischen Ökonomie zur Philosophie. Dieser
ideologische Charakter der Kritik ergibt sich aus der Tatsache,
daß die Analyse gezwungen ist, von einer Position »außerhalb«
der positiven wie der negativen, der produktiven wie der destruktiven Tendenzen in der Gesellschaft auszugehen. Die moderne Industriegesellschaft ist die durchgehende Identität dieser
Gegensätze — es geht ums Ganze. Zugleich kann die Stellung
der Theorie nicht eine bloßer Spekulation sein. Sie muß insofern
eine historische Stellung sein, als sie in den Fähigkeiten der
gegebenen Gesellschaft begründet sein muß.
Diese zweideutige Situation schließt eine noch grundlegendere
Zweideutigkeit ein. Der Eindimensionale Mensch wird durchweg zwischen zwei einander widersprechenden Hypothesen
schwanken: 1. daß die fortgeschrittene Industriegesellschaft imstande ist, eine qualitative Änderung für die absehbare Zukunft
zu unterbinden; 2. daß Kräfte und Tendenzen vorhanden sind,
die diese Eindämmung durchbrechen und die Gesellschaft sprengen können. Ich glaube nicht, daß eine klare Antwort gegeben
werden kann. Beide Tendenzen bestehen nebeneinander - und
sogar die eine in der anderen. Die erste Tendenz ist die herrschende, und alle Vorbedingungen eines Umschwungs, die es
geben mag, werden benutzt, ihn zu verhindern. Vielleicht kann
ein Unglück die Lage ändern, aber solange nicht die Anerkennung dessen, was getan und was verhindert wird, das Bewußtsein und Verhalten des Menschen umwälzt, wird nicht einmal
eine Katastrophe die Änderung herbeiführen.
Im Brennpunkt der Analyse steht die fortgeschrittene Industriegesellschaft, in der der technische Produktions- und Verteilungsapparat (bei einem zunehmenden automatisierten Sektor)
nicht als eine Gesamtsumme bloßer Instrumente funktioniert,
die von ihren gesellschaftlichen und politischen Wirkungen
isoliert werden können, sondern vielmehr als ein System, von
dem das Produkt des Apparats wie die Operationen, ihn zu
bedienen und zu erweitern, a priori bestimmt werden. In dieser
Gesellschaft tendiert der Produktionsapparat dazu, in dem Maße
totalitär zu werden, wie er nicht nur die gesellschaftlich notwen17
digen Betätigungen, Fertigkeiten und Haltungen bestimmt,
sondern auch die individuellen Bedürfnisse und Wünsche. Er
ebnet so den Gegensatz zwischen privater und öffentlicher
Existenz, zwischen individuellen und gesellschaftlichen Bedürfnissen ein. Die Technik dient dazu, neue, wirksamere und angenehmere Formen sozialer Kontrolle und sozialen Zusammenhalts einzuführen. Die totalitäre Tendenz dieser Kontrollen
scheint sich noch in einem anderen Sinne durchzusetzen - dadurch, daß sie sich auf die weniger entwickelten, selbst vorindustriellen Gebiete der Welt ausbreitet und dadurch, daß sie Ähnlichkeiten in der Entwicklung von Kapitalismus und Kommunismus hervorbringt.
Angesichts der totalitären Züge dieser Gesellschaft läßt sich
der traditionelle Begriff der »Neutralität« der Technik nicht
mehr aufrechterhalten. Technik als solche kann nicht von dem
Gebrauch abgelöst werden, der von ihr gemacht wird; die technologische Gesellschaft ist ein Herrschaftssystem, das bereits im
Begriff und Aufbau der Techniken am Werke ist.
Die Weise, in der eine Gesellschaft das Leben ihrer Mitglieder
organisiert, schließt eine ursprüngliche Wahl zwischen geschichtlichen Alternativen ein, die vom überkommenen Niveau der
materiellen und geistigen Kultur bestimmt sind. Die Wahl selbst
ergibt sich aus dem Spiel der herrschenden Interessen. Sie antizipiert besondere Weisen, Mensch und Natur zu verändern und
nutzbar zu machen und verwirft andere. Sie ist ein »Entwurf«
von Verwirklichung unter anderen2. Aber ist der Entwurf einmal in den grundlegenden Institutionen und Verhältnissen wirksam geworden, so tendiert er dazu, exklusiv zu werden und die
Entwicklung der Gesellschaft als Ganzes zu bestimmen. Als ein
technologisches Universum ist die fortgeschrittene Industriegesellschaft ein politisches Universum — die späteste Stufe der
Verwirklichung eines spezifischen geschichtlichen Entwurfs nämlich die Erfahrung, Umgestaltung und Organisation der
Natur als des bloßen Stoffs von Herrschaft.
2 Der Terminus »Entwurf« (Projekt) hebt das Element von Freiheit und Verantwortung in der geschichtlichen Determination hervor: er verknüpft Autonomie und
Kontingenz. In diesem Sinne wird er im Werk von Jean-Paul Sartre verwandt. Zur
weiteren Diskussion cf. Kapitel 8.
18
Indem der Entwurf sich entfaltet, modelt er das gesamte Universum von Sprache und Handeln, von geistiger und materieller
Kultur. Im Medium der Technik verschmelzen Kultur, Politik
und Wirtschaft zu einem allgegenwärtigen System, das alle Alternativen in sich aufnimmt oder abstößt. Produktivität und Wachstumspotential dieses Systems stabilisieren die Gesellschaft und
halten den technischen Fortschritt im Rahmen von Herrschaft.
Technologische Rationalität ist zu politischer Rationalität geworden.
Bei der Erörterung der bekannten Tendenzen der fortgeschrittenen industriellen Zivilisation habe ich selten besondere Belege
gegeben. Das Material ist in der umfassenden soziologischen und
psychologischen Literatur über Technik und sozialen Wandel,
wissenschaftliche Betriebsführung, korporative Unternehmen,
Veränderungen des Charakters industrieller Arbeit und der Arbeitskraft etc. zusammengestellt und beschrieben. Es gibt viele
unideologische Analysen der Tatsachen - wie Berle und Means,
The Modern Corporation and Private Property, die Berichte des
76. Kongresses des Temporary National Economic Committee
über Concentration of Economic Power, die Veröffentlichungen
der AFL-CIO über Automation and Major Technological
Change, aber auch die von News and Letters und Correspondence in Detroit. Ich möchte auch die hohe Bedeutung des Werks
von C. Wright Mills und von Studien hervorheben, die häufig
wegen Vereinfachung, Übertreibung oder journalistischer Unbekümmertheit scheel angesehen werden — Vance Packards Bücher
The Hidden Persuaders, The Status Seekers und The Waste
Makers, das Buch von William H. Whyte The Organisation Man,
das von Fred J. Cook The Warfare State gehören zu dieser Kategorie3. Freilich bleiben in diesen Werken mangels theoretischer
Analyse die Wurzeln der beschriebenen Verhältnisse unaufgedeckt und geschützt; aber dazu gebracht, für sich selbst zu sprechen, reden die Verhältnisse eine deutliche Sprache. Vielleicht
3 Deutsche Ausgaben: Vance Packard, Die geheimen Verführer, Der Griff nach dem
Unbewußten in Jedermann, Econ-Verlag, Düsseldorf 1958 (Ullstein-Buch Nr. 402);
Die Pyramidenkletterer, Econ-Verlag, Düsseldorf 1963; Die große Verschwendung,
Econ-Verlag, Düsseldorf 1961; William H. Whyte, Herr und Opfer der Organisation, Düsseldorf 1958.
19
verschafft man sich das durchschlagendste Beweismaterial dadurch, daß man einfach ein paar Tage lang jeweils eine Stunde
das Fernsehprogramm verfolgt oder sich das Programm von
AM-Radio anhört, dabei die Reklamesendungen nicht abstellt
und hin und wieder den Sender wechselt.
Im Brennpunkt meiner Analyse stehen Tendenzen in den
höchstentwickelten gegenwärtigen Gesellschaften. Es gibt weite
Bereiche innerhalb und außerhalb dieser Gesellschaften, wo die
beschriebenen Tendenzen nicht herrschen — ich würde sagen: noch
nicht herrschen. Ich entwerfe diese Tendenzen und biete einige
Hypothesen, nichts weiter.
20
Die eindimensionale Gesellschaft
1 Die neuen Formen der Kontrolle
Eine komfortable, reibungslose, vernünftige, demokratische Unfreiheit herrscht in der fortgeschrittenen industriellen Zivilisation,
ein Zeichen technischen Fortschritts. In der Tat, was könnte rationaler sein als die Unterdrückung der Individualität bei der
Mechanisierung gesellschaftlich notwendiger, aber mühevoller
Veranstaltungen; die Konzentration individueller Unternehmen
zu wirksameren, produktiveren Verbänden; die Regulierung der
freien Konkurrenz zwischen verschieden gut ausgestatteten ökonomischen Subjekten; die Beschneidung von Prärogativen und
nationalen Hoheitsrechten, welche die internationale Organisation der Ressourcen behindern. Daß diese technische Ordnung
eine politische und geistige Gleichschaltung mit sich bringt, mag
eine bedauerliche und doch vielversprechende Entwicklung sein.
Die Rechte und Freiheiten, die zu Beginn und auf früheren
Stufen der Industriegesellschaft einmal lebenswichtige Faktoren
waren, weichen einer höheren Stufe dieser Gesellschaft: sie sind
dabei, ihre traditionelle Vernunftbasis und ihren Inhalt zu verlieren. Denk-, Rede- und Gewissensfreiheit waren — ganz wie die
freie Wirtschaft, deren Förderung und Schutz sie dienten - wesentlich kritische Ideen, bestimmt, eine veraltete materielle und
geistige Kultur durch eine produktivere und rationalere zu ersetzen. Einmal institutionalisiert, teilten diese Rechte und Freiheiten das Schicksal der Gesellschaft, zu deren integralem Bestandteil sie geworden waren. Der Erfolg hebt seine Voraussetzungen auf.
In dem Maße, wie Freiheit von Mangel, die konkrete Substanz
aller Freiheit, zur realen Möglichkeit wird, verlieren die Freiheiten, die einer niedereren Stufe der Produktivität angehören,
ihren früheren Inhalt. Unabhängigkeit des Denkens, Autonomie,
das Recht auf politische Opposition werden gegenwärtig ihrer
grundlegenden kritischen Funktion beraubt in einer Gesellschaft,
die immer mehr imstande scheint, die Bedürfnisse der Individuen
21
vermittels der Weise zu befriedigen, in der sie organisiert ist.
Eine solche Gesellschaft kann mit Recht verlangen, daß ihre Prinzipien und Institutionen hingenommen werden, und kann die
Opposition auf die Diskussion und Förderung alternativer politischer Praktiken innerhalb des Status quo einschränken. In dieser Hinsicht scheint es wenig auszumachen, ob die zunehmende
Befriedigung der Bedürfnisse durch ein autoritäres oder ein nichtautoritäres System erreicht wird. Unter den Bedingungen eines
steigenden Lebensstandards erscheint die Nichtübereinstimmung
mit dem System als solchem als gesellschaftlich sinnlos, und das
umsomehr, wenn sie fühlbare wirtschaftliche und politische Nachteile im Gefolge hat und den glatten Ablauf des Ganzen bedroht. Wenigstens soweit es um die Lebensbedürfnisse geht,
scheint keinerlei Grund vorhanden, weshalb die Produktion und
Verteilung von Gütern und Dienstleistungen im wettbewerblichen Aufeinanderprallen individueller Freiheiten vonstatten
gehen sollte.
Von Anbeginn war die Freiheit des Unternehmens keineswegs
ein Segen. Als die Freiheit zu arbeiten oder zu verhungern bedeutete sie für die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung
Plackerei, Unsicherheit und Angst. Wäre das Individuum nicht
mehr gezwungen, sich auf dem Markt als freies ökonomisches
Subjekt zu bewähren, so wäre das Verschwinden dieser Art von
Freiheit eine der größten Errungenschaften der Zivilisation. Die
technologischen Prozesse der Mechanisierung und Standardisierung könnten individuelle Energie für ein noch unbekanntes
Reich der Freiheit jenseits der Notwendigkeit freigeben. Die
innere Struktur des menschlichen Daseins würde geändert; das
Individuum würde von den fremden Bedürfnissen und Möglichkeiten befreit, die die Arbeitswelt ihm auferlegt. Das Individuum wäre frei, Autonomie über ein Leben auszuüben, das sein
eigenes wäre. Könnte der Produktionsapparat im Hinblick auf
die Befriedigung der notwendigen Bedürfnisse organisiert und
dirigiert werden, so könnte er durchaus zentralisiert sein; eine
derartige Kontrolle würde individuelle Autonomie nicht verhindern, sondern ermöglichen.
Das ist ein Ziel im Rahmen dessen, wozu die fortgeschrittene
industrielle Zivilisation imstande ist, der »Zweck« technologischer
22
Rationalität. Tatsächlich jedoch macht sich die entgegengesetzte
Tendenz geltend: der Apparat erlegt der Arbeitszeit und der
Freizeit, der materiellen und der geistigen Kultur die ökonomischen wie politischen Erfordernisse seiner Verteidigung und Expansion auf. Infolge der Art, wie sie ihre technische Basis organisiert hat, tendiert die gegenwärtige Industriegesellschaft zum
Totalitären. Denn »totalitär« ist nicht nur eine terroristische politische Gleichschaltung der Gesellschaft, sondern auch eine nichtterroristische ökonomisch-technische Gleichschaltung, die sich in
der Manipulation von Bedürfnissen durch althergebrachte Interessen geltend macht. Sie beugt so dem Aufkommen einer wirksamen Opposition gegen das Ganze vor. Nicht nur eine besondere Regierungsform oder Parteiherrschaft bewirkt Totalitarismus, sondern auch ein besonderes Produktions- und Verteilungssystem, das sich mit einem »Pluralismus« von Parteien, Zeitungen,
»ausgleichenden Mächten« etc. durchaus verträgt1.
Politische Macht setzt sich heute durch vermittels ihrer Gewalt
über den maschinellen Prozeß und die technische Organisation
des Apparats. Die Regierung fortgeschrittener und fortschreitender Industriegesellschaften kann sich nur dann behaupten und
sichern, wenn es ihr gelingt, die der industriellen Zivilisation verfügbare technische, wissenschaftliche und mechanische Produktivität zu mobilisieren, zu organisieren und auszubeuten. Und diese
Produktivität mobilisiert die Gesellschaft als Ganzes über allen
partikulären oder Gruppeninteressen und jenseits von ihnen. Das
rohe Faktum, daß die physische (nur physische?) Gewalt der Maschine die des Individuums und jeder besonderen Gruppe von
Individuen übertrifft, macht die Maschine in jeder Gesellschaft,
deren grundlegende Organisation die des maschinellen Prozesses
ist, zum wirksamsten politischen Instrument. Aber die politische
Tendenz läßt sich umkehren; im wesentlichen ist die Macht der
Maschine nur die aufgespeicherte und projektierte Macht des
Menschen. In dem Maße, wie die Arbeitswelt als eine Maschine
verstanden und entsprechend mechanisiert wird, wird sie zur
potentiellen Basis einer neuen Freiheit für den Menschen.
Die gegenwärtige industrielle Zivilisation beweist, daß sie die
1 Cf. S. 71.
23
Stufe erreicht hat, auf der »die freie Gesellschaft« in den traditionellen Begriffen ökonomischer, politischer und geistiger Freiheiten nicht mehr angemessen bestimmt werden kann; nicht weil
diese Freiheiten bedeutungslos geworden sind, sondern weil sie
zu bedeutsam sind, um auf die traditionellen Formen begrenzt
zu bleiben. Entsprechend den neuen Fähigkeiten der Gesellschaft
bedarf es neuer Weisen der Verwirklichung.
Solche neuen Weisen lassen sich nur in negativen Begriffen
andeuten, weil sie auf die Negation der herrschenden hinausliefen. So würde ökonomische Freiheit Freiheit von der Wirtschaft bedeuten — von Kontrolle durch ökonomische Kräfte und
Verhältnisse; Freiheit vom täglichen Kampf ums Dasein, davon,
sich seinen Lebensunterhalt verdienen zu müssen. Politische Freiheit würde die Befreiung der Individuen von der Politik bedeuten, über die sie keine wirksame Kontrolle ausüben. Entsprechend würde geistige Freiheit die Wiederherstellung des individuellen Denkens bedeuten, das jetzt durch Massenkommunikation und -Schulung aufgesogen wird, die Abschaffung der »öffentlichen Meinung« mitsamt ihren Herstellern. Der unrealistische
Klang dieser Behauptungen deutet nicht auf ihren utopischen
Charakter hin, sondern auf die Gewalt der Kräfte, die ihrer
Verwirklichung im Wege stehen. Die wirksamste und zäheste
Form des Kampfes gegen die Befreiung besteht darin, den Menschen materielle und geistige Bedürfnisse einzuimpfen, welche
die veralteten Formen des Kampfes ums Dasein verewigen.
Die Intensität, die Befriedigung und selbst der Charakter
menschlicher Bedürfnisse, die über das biologische Niveau hinausgehen, sind stets im voraus festgelegt gewesen. Ob die Möglichkeit, etwas zu tun oder zu lassen, zu genießen oder zu zerstören, zu besitzen oder zurückzuweisen als ein Bedürfnis erfaßt
wird oder nicht, hängt davon ab, ob sie für die herrschenden
gesamtgesellschaftlichen Institutionen und Interessen als wünschenswert und notwendig angesehen werden kann oder nicht.
In diesem Sinne sind menschliche Bedürfnisse historische Bedürfnisse, und in dem Maße, wie die Gesellschaft die repressive Entwicklung des Individuums erfordert, unterliegen dessen Bedürfnisse selbst und ihr Verlangen, befriedigt zu werden, kritischen
Maßstäben, die sich über sie hinwegsetzen.
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Wir können wahre und falsche Bedürfnisse unterscheiden.
»Falsch« sind diejenigen, die dem Individuum durch partikuläre
gesellschaftliche Mächte, die an seiner Unterdrückung interessiert
sind, auferlegt werden: diejenigen Bedürfnisse, die harte Arbeit,
Aggressivität, Elend und Ungerechtigkeit verewigen. Ihre Befriedigung mag für das Individuum höchst erfreulich sein, aber
dieses Glück ist kein Zustand, der aufrecht erhalten und geschützt werden muß, wenn es dazu dient, die Entwicklung derjenigen Fähigkeit (seine eigene und die anderer) zu hemmen, die
Krankheit des Ganzen zu erkennen und die Chancen zu ergreifen, diese Krankheit zu heilen. Das Ergebnis ist dann Euphorie
im Unglück. Die meisten der herrschenden Bedürfnisse, sich im
Einklang mit der Reklame zu entspannen, zu vergnügen, zu
benehmen und zu konsumieren, zu hassen und zu lieben, was
andere hassen und lieben, gehören in diese Kategorie falscher
Bedürfnisse.
Solche Bedürfnisse haben einen gesellschaftlichen Inhalt und
eine gesellschaftliche Funktion, die durch äußere Mächte determiniert sind, über die das Individuum keine Kontrolle hat; die
Entwicklung und Befriedigung dieser Bedürfnisse sind heteronom. Ganz gleich, wie sehr solche Bedürfnisse zu denen des Individuums selbst geworden sind und durch seine Existenzbedingungen reproduziert und befestigt werden; ganz gleich, wie
sehr es sich mit ihnen identifiziert und sich in ihrer Befriedigung
wiederfindet, sie bleiben, was sie seit Anbeginn waren — Produkte einer Gesellschaft, deren herrschendes Interesse Unterdrükkung erheischt.
Das Vorherrschen repressiver Bedürfnisse ist eine vollendete
Tatsache, die in Unwissenheit und Niedergeschlagenheit hingenommen wird, aber eine Tatsache, die im Interesse des glücklichen
Individuums sowie aller derjenigen beseitigt werden muß, deren
Elend der Preis seiner Befriedigung ist. Die einzigen Bedürfnisse,
die einen uneingeschränkten Anspruch auf Befriedigung haben,
sind die vitalen — Nahrung, Kleidung und Wohnung auf dem
erreichbaren Kulturniveau. Die Befriedigung dieser Bedürfnisse
ist die Vorbedingung für die Verwirklichung aller Bedürfnisse,
der unsublimierten wie der sublimierten.
Für jedes Bewußtsein und Gewissen, für jede Erfahrung, die
25
das herrschende gesellschaftliche Interesse nicht als das oberste
Gesetz des Denkens und Verhaltens hinnimmt, ist das eingeschliffene Universum von Bedürfnissen und Befriedigungen eine
in Frage zu stellende Tatsache - im Hinblick auf Wahrheit und
Falschheit. Diese Begriffe sind durch und durch historisch, auch
ihre Objektivität ist historisch. Das Urteil über Bedürfnisse und
ihre Befriedigung schließt unter den gegebenen Bedingungen
Maßstäbe des Vorrangs ein — Maßstäbe, die sich auf die optimale
Entwicklung des Individuums, aller Individuen, beziehen unter
optimaler Ausnutzung der materiellen und geistigen Ressourcen,
über die der Mensch verfügt. Diese Ressourcen sind berechenbar.
»Wahrheit« und »Falschheit« der Bedürfnisse bezeichnen in dem
Maße objektive Bedingungen, wie die allgemeine Befriedigung
von Lebensbedürfnissen und darüberhinaus die fortschreitende
Linderung von harter Arbeit und Armut allgemeingültige Maßstäbe sind. Aber als historische Maßstäbe variieren sie nicht nur
nach Bereich und Stufe der Entwicklung, sie lassen sich auch nur
im (größeren oder geringeren) Widerspruch zu den herrschenden
bestimmen. Welches Tribunal kann für sich die Autorität der
Entscheidung beanspruchen?
In letzter Instanz muß die Frage, was wahre und was falsche
Bedürfnisse sind, von den Individuen selbst beantwortet werden,
das heißt sofern und wenn sie frei sind, ihre eigene Antwort zu
geben. Solange sie davon abgehalten werden, autonom zu sein,
solange sie (bis in ihre Triebe hinein) geschult und manipuliert
werden, kann ihre Antwort auf diese Frage nicht als ihre eigene
verstanden werden. Deshalb kann sich auch kein Tribunal legitimerweise das Recht anmaßen, darüber zu befinden, welche Bedürfnisse entwickelt und befriedigt werden sollten. Jedes derartige Tribunal ist zu verwerfen, obgleich dadurch die Frage
nicht aus der Welt geschafft wird: wie können die Menschen, die
das Objekt wirksamer und produktiver Herrschaft gewesen sind,
von sich aus die Bedingungen der Freiheit herbeiführen? 2
Je rationaler, produktiver, technischer und totaler die repressive Verwaltung der Gesellschaft wird, desto unvorstellbarer sind
die Mittel und Wege, vermöge derer die verwalteten Individuen
2 Cf. S. 60.
26
ihre Knechtschaft brechen und ihre Befreiung selbst in die Hand
nehmen könnten. Freilich ist es ein paradoxer und Anstoß erregender Gedanke, einer ganzen Gesellschaft Vernunft auferlegen
zu wollen — obgleich sich die Rechtschaffenheit einer Gesellschaft
bestreiten ließe, die diesen Gedanken lächerlich macht, während
sie ihre eigene Bevölkerung in Objekte totaler Verwaltung überführt. Alle Befreiung hängt vom Bewußtsein der Knechtschaft
ab, und das Entstehen dieses Bewußtseins wird stets durch das
Vorherrschen von Bedürfnissen und Befriedigungen behindert,
die in hohem Maße die des Individuums geworden sind. Der
Prozeß ersetzt immer ein System der Präformierung durch ein
anderes; das optimale Ziel ist die Ersetzung der falschen Bedürfnisse durch wahre, der Verzicht auf repressive Befriedigung.
Es ist der kennzeichnende Zug der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, daß sie diejenigen Bedürfnisse wirksam drunten hält,
die nach Befreiung verlangen - eine Befreiung auch von dem,
was erträglich, lohnend und bequem ist - während sie die zerstörerische Macht und unterdrückende Funktion der Gesellschaft
»im Überfluß« unterstützt und freispricht. Hierbei erzwingen
die sozialen Kontrollen das überwältigende Bedürfnis nach Produktion und Konsumtion von unnützen Dingen; das Bedürfnis
nach abstumpfender Arbeit, wo sie nicht mehr wirklich notwendig ist; das Bedürfnis nach Arten der Entspannung, die diese
Abstumpfung mildern und verlängern; das Bedürfnis, solche
trügerischen Freiheiten wie freien Wettbewerb bei verordneten
Preisen zu erhalten, eine freie Presse, die sich selbst zensiert,
freie Auswahl zwischen gleichwertigen Marken und nichtigem
Zubehör bei grundsätzlichem Konsumzwang.
Unter der Herrschaft eines repressiven Ganzen läßt Freiheit
sich in ein mächtiges Herrschaftsinstrument verwandeln. Der
Spielraum, in dem das Individuum seine Auswahl treffen kann,
ist für die Bestimmung des Grades menschlicher Freiheit nicht
entscheidend, sondern was gewählt werden kann und was vom
Individuum gewählt wird. Das Kriterium für freie Auswahl
kann niemals ein absolutes sein, aber es ist auch nicht völlig
relativ. Die freie Wahl der Herren schafft die Herren oder die
Sklaven nicht ab. Freie Auswahl unter einer breiten Mannigfaltigkeit von Gütern und Dienstleistungen bedeutet keine Freiheit,
27
wenn diese Güter und Dienstleistungen die soziale Kontrolle
über ein Leben von Mühe und Angst aufrechterhalten — das
heißt die Entfremdung. Und die spontane Reproduktion aufgenötigter Bedürfnisse durch das Individuum stellt keine Autonomie her; sie bezeugt nur die Wirksamkeit der Kontrolle.
Wenn wir auf der Tiefe und Wirksamkeit dieser Kontrolle
bestehen, setzen wir uns dem Einwand aus, daß wir die prägende
Macht der »Massenmedien« sehr überschätzen und daß die
Menschen ganz von selbst die Bedürfnisse verspüren und befriedigen würden, die ihnen jetzt aufgenötigt werden. Der Einwand
greift fehl. Die Präformierung beginnt nicht mit der Massenproduktion von Rundfunk und Fernsehen und mit der Zentralisierung ihrer Kontrolle. Die Menschen treten in dieses Stadium
als langjährig präparierte Empfänger ein; der entscheidende Unterschied besteht in der Einebnung des Gegensatzes (oder Konflikts) zwischen dem Gegebenen und dem Möglichen, zwischen
den befriedigten und den nicht befriedigten Bedürfnissen. Hier
zeigt die sogenannte Ausgleichung der Klassenunterschiede ihre
ideologische Funktion. Wenn der Arbeiter und sein Chef sich am
selben Fernsehprogramm vergnügen und dieselben Erholungsorte
besuchen, wenn die Stenotypistin ebenso attraktiv hergerichtet
ist wie die Tochter ihres Arbeitgebers, wenn der Neger einen
Cadillac besitzt, wenn sie alle dieselbe Zeitung lesen, dann deutet diese Angleichung nicht auf das Verschwinden der Klassen
hin, sondern auf das Ausmaß, in dem die unterworfene Bevölkerung an den Bedürfnissen und Befriedigungen teil hat, die der
Erhaltung des Bestehenden dienen.
Allerdings ist in den am höchsten entwickelten Bereichen der
gegenwärtigen Gesellschaft die Umsetzung gesellschaftlicher in
individuelle Bedürfnisse derart wirksam, daß der Unterschied
zwischen ihnen rein theoretisch erscheint. Kann man wirklich
zwischen den Massenmedien als Instrumenten der Information
und Unterhaltung und als Agenturen der Manipulation und
Schulung unterscheiden? Zwischen dem Auto als etwas Lästigem
und als bequemer Einrichtung? Zwischen dem Graus und der Behaglichkeit funktionaler Architektur? Zwischen der Arbeit für
nationale Verteidigung und der Arbeit für den Gewinn des Konzerns? Zwischen der privaten Lust und der kommerziellen und
28
politischen Nützlichkeit einer Erhöhung der Geburtenziffer?
Wiederum stehen wir einem der beunruhigendsten Aspekte der
fortgeschrittenen industriellen Zivilisation gegenüber: dem rationalen Charakter ihrer Irrationalität. Ihre Produktivität und
Leistungsfähigkeit, ihr Vermögen, Bequemlichkeiten zu erhöhen
und zu verbreiten, Verschwendung in Bedürfnis zu verwandeln
und Zerstörung in Aufbau, das Ausmaß, in dem diese Zivilisation die Objektwelt in eine Verlängerung von Geist und Körper
des Menschen überführt, macht selbst den Begriff der Entfremdung fragwürdig. Die Menschen erkennen sich in ihren Waren
wieder; sie finden ihre Seele in ihrem Auto, ihrem Hi-FiEmpfänger, ihrem Küchengerät. Der Mechanismus selbst, der das
Individuum an seine Gesellschaft fesselt, hat sich geändert, und
die soziale Kontrolle ist in den neuen Bedürfnissen verankert,
die sie hervorgebracht hat.
Die herrschenden Formen sozialer Kontrolle sind technologisch
in einem neuen Sinne. Zwar ist die technische Struktur und
Wirksamkeit des produktiven und destruktiven Apparats die
ganze Neuzeit hindurch ein Hauptmittel gewesen, die Bevölkerung der etablierten gesellschaftlichen Arbeitsteilung zu unterwerfen. Ferner war solche Integration stets von handgreiflicheren Formen des Zwangs begleitet: Verlust des Lebensunterhalts,
gerichtliche Sanktionen, Polizei, bewaffnete Streitkräfte. Das ist
noch der Fall. Aber in der gegenwärtigen Periode erscheinen die
technologischen Kontrollen als die Verkörperung der Vernunft
selbst zugunsten aller sozialen Gruppen und Interessen - in solchem Maße, daß aller Widerspruch irrational scheint und aller
Widerstand unmöglich.
Es ist daher kein Wunder, daß die sozialen Kontrollen in den
fortgeschrittensten Bereichen dieser Zivilisation derart introjiziert
worden sind, daß selbst individueller Protest in seinen Wurzeln
beeinträchtigt wird. Die geistige und gefühlsmäßige Weigerung
»mitzumachen« erscheint als neurotisch und ohnmächtig. Das ist
der sozialpsychologische Aspekt des politischen Ereignisses, von
dem die gegenwärtige Periode gekennzeichnet ist: das Dahinschwinden der historischen Kräfte, die auf der vorhergehenden
Stufe der Industriegesellschaft die Möglichkeit neuer Daseinsformen zu vertreten schienen.
29
Aber vielleicht beschreibt der Terminus »Introjektion« nicht
mehr die Weise, in der das Individuum von sich aus die von seiner Gesellschaft ausgeübten äußeren Kontrollen reproduziert und
verewigt. Introjektion unterstellt eine Reihe relativ spontaner
Prozesse, vermittels derer ein Selbst (Ich) das »Äußere« ins »Innere« umsetzt. Damit schließt Introjektion das Bestehen einer
inneren Dimension ein, die von äußeren Erfordernissen verschieden und ihnen gegenüber sogar antagonistisch ist — ein individuelles Bewußtsein und ein individuelles Unbewußtes, unabhängig von der öffentlichen Meinung und dem öffentlichen Verhalten3. Die Idee der »inneren Freiheit« hat hier ihre Realität: sie
bezeichnet den privaten Raum, worin der Mensch »er selbst«
werden und bleiben kann.
Heute wird dieser private Raum durch die technologische
Wirklichkeit angegriffen und beschnitten. Massenproduktion und
-distribution beanspruchen das ganze Individuum, und Industriepsychologie ist längst nicht mehr auf die Fabrik beschränkt. Die
mannigfachen Introjektionsprozesse scheinen zu fast mechanischen Reaktionen verknöchert. Das Ergebnis ist nicht Anpassung,
sondern Mimesis: eine unmittelbare Identifikation des Individuums mit seiner Gesellschaft und dadurch mit der Gesellschaft als
einem Ganzen.
Diese unmittelbare, automatische Identifikation (die für primitive Formen der Vergesellschaftung charakteristisch gewesen
sein mag) erscheint aufs neue in der hochindustriellen Zivilisation; ihre neue »Unmittelbarkeit« ist jedoch das Produkt einer
ausgetüftelten, wissenschaftlichen Betriebsführung und Organisation. In diesem Prozeß wird die »innere« Dimension des Geistes beschnitten, in der eine Opposition gegen den Status quo
Wurzeln schlagen kann. Der Verlust dieser Dimension, in der die
Macht negativen Denkens - die kritische Macht der Vernunft ihre Stätte hat, ist das ideologische Gegenstück zu dem sehr
materiellen Prozeß, in dem die fortgeschrittene Industriegesellschaft die Opposition zum Schweigen und mit sich in Einklang
3 Der Funktionswandel der Familie spielt hier eine entscheidende Rolle; ihre »sozialisierenden« Funktionen werden immer mehr von äußeren Gruppen und Medien
übernommen. Cf. mein Buch Eros and Civilization, Boston 1955, S. 96 ff.; dt.
Triebstruktur und Gesellschaft, Frankfurt am Main 1965, S. 97 ff.
30
bringt. Die Gewalt des Fortschritts verwandelt Vernunft in Unterwerfung unter die Lebenstatsachen und unter das dynamische
Vermögen, mehr und größere Tatsachen derselben Lebensweise
herzustellen. Die Leistungsfähigkeit des Systems macht die Individuen untauglich für die Erkenntnis, daß es keine Tatsachen
enthält, die nicht die repressive Macht des Ganzen übermitteln.
Wenn die Individuen sich in den Dingen wiederfinden, die ihr
Leben gestalten, dann geschieht das nicht, indem sie den Dingen
das Gesetz geben, sondern indem sie es hinnehmen - nicht das
Gesetz der Physik, sondern das ihrer Gesellschaft.
Ich habe soeben darauf verwiesen, daß der Begriff der Entfremdung fraglich zu werden scheint, wenn sich die Individuen
mit dem Dasein identifizieren, das ihnen auferlegt wird, und an
ihm ihre eigene Entwicklung und Befriedigung haben. Diese
Identifikation ist kein Schein, sondern Wirklichkeit. Die Wirklichkeit bildet jedoch eine fortgeschrittenere Stufe der Entfremdung aus. Diese ist gänzlich objektiv geworden; das Subjekt, das
entfremdet ist, wird seinem entfremdeten Dasein einverleibt. Es
gibt nur eine Dimension, und sie ist überall und tritt in allen
Formen auf. Die Errungenschaften des Fortschritts spotten ebenso ideologischer Anklage wie Rechtfertigung; vor ihrem Tribunal
wird das »falsche Bewußtsein« ihrer Rationalität zum wahren
Bewußtsein.
Dieses Aufgehen der Ideologie in der Wirklichkeit bedeutet
jedoch nicht das »Ende der Ideologie«. Im Gegenteil, in einem
bestimmten Sinne ist die fortgeschrittene industrielle Kultur
ideologischer als ihre Vorgängerin, insofern nämlich, als heute
die Ideologie im Produktionsprozeß selbst steckt4. In provokativer Form offenbart dieser Satz die politischen Aspekte der
herrschenden technologischen Rationalität. Der Produktionsapparat und die Güter und Dienstleistungen, die er hervorbringt, »verkaufen« das soziale System als Ganzes oder setzen
es durch. Die Mittel des Massentransports und der Massenkommunikation, die Gebrauchsgüter Wohnung, Nahrung, Kleidung,
die unwiderstehliche Leistung der Unterhaltungs- und Nachrichtenindustrie gehen mit verordneten Einstellungen und Ge4 Theodor W. Adorno, Prismen, Kulturkritik und Gesellschaft, Frankfurt 1955, S. 24 f.
31
wohnheiten, mit geistigen und gefühlsmäßigen Reaktionen
einher, die die Konsumenten mehr oder weniger angenehm
an die Produzenten binden und vermittels dieser ans Ganze.
Die Erzeugnisse durchdringen und manipulieren die Menschen;
sie befördern ein falsches Bewußtsein, das gegen seine Falschheit
immun ist. Und indem diese vorteilhaften Erzeugnisse mehr Individuen in mehr gesellschaftlichen Klassen zugänglich werden,
hört die mit ihnen einhergehende Indoktrination auf, Reklame
zu sein; sie wird ein Lebensstil, und zwar ein guter - viel besser
als früher -, und als ein guter Lebensstil widersetzt er sich qualitativer Änderung. So entsteht ein Muster eindimensionalen Denkens und Verhaltens, worin Ideen, Bestrebungen und Ziele, die
ihrem Inhalt nach das bestehende Universum von Sprache und
Handeln transzendieren, entweder abgewehrt oder zu Begriffen
dieses Universums herabgesetzt werden. Sie werden neubestimmt
von der Rationalität des gegebenen Systems und seiner quantitativen Ausweitung.
Diese Tendenz kann mit einer Entwicklung der wissenschaftlichen Methode zusammengebracht werden: mit dem Operationalismus in den Naturwissenschaften, dem Behaviorismus in den
Sozialwissenschaften. Ihr gemeinsamer Zug ist ein totaler Empirismus, was die Behandlung der Begriffe angeht; ihr Sinn wird
auf die Darstellung partikularer Operationen und partikularen
Verhaltens eingeengt. Der operationelle Gesichtspunkt wird von
P. W. Bridgmans Analyse des Begriffs der Länge gut verdeutlicht:
»Wir wissen eindeutig, was wir unter Länge verstehen, wenn
wir sagen können, wie lang jedes beliebige Objekt ist; und für
den Physiker ist außerdem nichts erforderlich. Um die Länge
eines Objekts herauszufinden, müssen wir bestimmte physikalische Operationen durchführen. Der Begriff der Länge ist daher festgelegt, wenn die Operationen festgelegt sind, wodurch
die Länge gemessen wird: das heißt, der Begriff der Länge
enthält nur so viel wie die Reihe von Operationen, wodurch
die Länge bestimmt wird. Im allgemeinen verstehen wir unter
irgendeinem Begriff nichts als eine Reihe von Operationen;
der Begriff ist gleichbedeutend mit der entsprechenden Reihe
von Operationen.«5
32
Bridgman hat die weitreichenden Implikationen dieser Denkweise für die Gesellschaft insgesamt gesehen:
»Den operationellen Gesichtspunkt zu übernehmen, involviert
weit mehr als die bloße Einschränkung des Sinnes, in dem wir
den >Begriff< verstehen, es liegt vielmehr eine weitreichende
Änderung aller unserer Denkgewohnheiten darin, daß wir es
uns künftig versagen, Begriffe als Werkzeuge unseres Denkens
zu gebrauchen, von denen wir uns nicht hinreichend als Operationen Rechenschaft ablegen können.«6
Bridgmans Voraussage hat sich bewahrheitet. Die neue Denkweise ist die heute in Philosophie, Psychologie, Soziologie und
anderen Bereichen vorherrschende Tendenz. Viele der allerlästigsten Begriffe werden durch den Nachweis »eliminiert«, daß man
sich über sie im Sinne von Operationen oder des Verhaltens nicht
hinreichend Rechenschaft ablegen kann. Der radikale empiristische Angriff (ich werde später in den Kapiteln 7 und 8 seinen
Anspruch, empiristisch zu sein, untersuchen) liefert so die methodologische Rechtfertigung für die Herabminderung des Geistes
durch die Intellektuellen — ein Positivismus, der damit, daß er
die transzendierenden Elemente der Vernunft leugnet, das akademische Gegenstück bildet zum gesellschaftlich erforderten Verhalten.
Außerhalb der akademischen Sphäre ist die »weitreichende
Änderung aller unserer Denkgewohnheiten« ernster. Sie dient
dazu, die Gedanken und Ziele denjenigen gleichzuordnen, die
das herrschende System erzwingt, und diejenigen abzuwehren,
die mit dem System unversöhnbar sind. Die Herrschaft einer
solchen eindimensionalen Realität bedeutet nicht, daß der Materialismus herrscht und es mit geistigen, metaphysischen und
5 P. W. Bridgman, The Logic of Modern Physics, New York, Macmillan, 1928, S. 5.
Die operationelle Lehre ist seitdem verfeinert und abgewandelt worden. Bridgman
selbst hat den Begriff der »Operation« dahingehend erweitert, daß er auch die
Operationen des Theoretikers mit »Papier und Bleistift« einschließt (in: Philipp
J. Frank, The Validation of Scientific Theories, Boston, Beacon Press, 1954, Kapitel II), Der Hauptimpuls bleibt derselbe: es ist »wünschenswert«, daß die Operationen mit Papier und Bleistift »eines schließlichen Kontaktes, obzwar vielleicht
indirekt, mit instrumentellen Operationen fähig seien«.
6 The Logic of Modern Physics, loc. cit., S. 3 f.
33
künstlerischen Beschäftigungen zu Ende geht. Im Gegenteil, es
gibt allerhand im Stil von »Gemeinsamer Gottesdienst diese
Woche«, »Warum es nicht einmal mit Gott versuchen«, Zen,
Existentialismus und Beatniks usf. Aber solche Arten von Protest und Transzendenz stehen nicht mehr im Widerspruch zum
Status quo und sind nicht mehr negativ. Sie sind vielmehr der
feierliche Teil des praktischen Behaviorismus, seine harmlose
Negation, und werden vom Status quo als Teil seiner gesunden
Kost rasch verdaut.
Das eindimensionale Denken wird von den Technikern der
Politik und ihren Lieferanten von Masseninformation systematisch gefördert. Ihr sprachliches Universum ist voller Hypothesen,
die sich selbst bestätigen und die, unaufhörlich und monopolistisch wiederholt, zu hypnotischen Definitionen oder Diktaten
werden. »Frei« zum Beispiel sind die Institutionen, die sich in
den Ländern der Freien Welt betätigen (und mit denen operiert
wird); andere transzendierende Arten von Freiheit sind ex definitione entweder Anarchismus, Kommunismus oder Propaganda.
»Sozialistisch« sind alle Eingriffe in private Unternehmen, die
nicht seitens der freien Wirtschaft selbst (oder durch Regierungsverträge) erfolgen, wie allgemeine und umfassende Krankenversicherung oder der Schutz der Natur vor allzu durchgreifender
Kommerzialisierung oder die Einrichtung öffentlicher Dienste,
die dem privaten Profit schaden können. Diese totalitäre Logik
der vollendeten Tatsachen hat ihr östliches Gegenstück. Dort ist
Freiheit die von einem kommunistischen Regime eingeführte Lebensweise, und alle anderen, transzendierenden Arten von Freiheit sind entweder kapitalistisch oder revisionistisch oder linkes
Sektierertum. In beiden Lagern sind nichtoperationelle Gedanken nicht aufs Verhalten abgestellt und subversiv. Die Denkbewegung wird vor Schranken angehalten, die als die Grenzen
der Vernunft selbst erscheinen.
Solche Beschränkung des Denkens ist sicher nichts Neues. Der
aufsteigende moderne Rationalismus zeigt in seiner spekulativen
wie in seiner empiristischen Form einen auffallenden Gegensatz
zwischen extremem, kritischem Radikalismus in der wissenschaftlichen und philosophischen Methode auf der einen Seite und
einem unkritischen Quietismus in der Haltung gegenüber den
34
etablierten und funktionierenden gesellschaftlichen Institutionen
auf der anderen. So sollte Descartes' ego cogitans die »großen
öffentlichen Körper« unberührt lassen, und Hobbes war der
Ansicht, daß »das Gegenwärtige stets vorgezogen, erhalten und
für am besten erachtet werden sollte«. Kant stimmte mit Locke
darin überein, daß die Revolution dann zu rechtfertigen sei,
falls und wenn es ihr gelungen ist, das Ganze zu organisieren
und einen Umsturz zu verhindern.
Diesen sich anpassenden Vernunftbegriffen widersprachen jedoch stets das offenkundige Elend und die Ungerechtigkeit der
»großen politischen Körper« und die wirksame, mehr oder minder bewußte Rebellion gegen sie. Es bestanden gesellschaftliche
Verhältnisse, die eine wirkliche Absage an den gegebenen Zustand hervorriefen und gestatteten; es gab eine private wie politische Dimension, worin diese Absage sich zu wirksamer Opposition entwickeln konnte, die ihre Kraft erprobte und die Gültigkeit ihrer Ziele.
Mit der allmählichen Absperrung dieser Dimension durch die
Gesellschaft nimmt die Selbstbeschränkung des Denkens eine umfassendere Bedeutung an. Die Wechselbeziehung zwischen wissenschaftlich-philosophischen und gesellschaftlichen Prozessen,
zwischen theoretischer und praktischer Vernunft setzt sich »hinter dem Rücken« der Wissenschaftler und Philosophen durch.
Die Gesellschaft behindert einen ganzen Typ oppositionellen
Verhaltens; damit werden die ihm zugehörigen Begriffe illusorisch gemacht oder sinnlos. Geschichtliche Transzendenz erscheint
als metaphysische Transzendenz, unannehmbar für die Wissenschaft und wissenschaftliches Denken. Im großen als »Denkgewohnheit« praktiziert, wird der operationelle und behavioristische Gesichtspunkt zu dem des etablierten Universums von
Sprache und Handeln, von Bedürfnissen und Bestrebungen. Die
»List der Vernunft« arbeitet, wie so oft, im Interesse der bestehenden Mächte. Die Insistenz auf operationellen und behavioristischen Begriffen richtet sich gegen die Anstrengungen, Denken und Verhalten von der gegebenen Wirklichkeit und für
die unterdrückten Alternativen zu befreien. Theoretische und
praktische Vernunft, akademischer und sozialer Behaviorismus
begegnen sich auf gemeinsamem Boden: auf dem einer fortge35
schrittenen Gesellschaft, die den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt in ein Herschaftsinstrument verwandelt.
»Fortschritt« ist kein neutraler Begriff, er bewegt sich auf bestimmte Ziele zu, und diese Ziele sind von den Möglichkeiten
bestimmt, die menschliche Lage zu verbessern. Die fortgeschrittene Industriegesellschaft nähert sich dem Stadium, wo
weiterer Fortschritt den radikalen Umsturz der herrschenden
Richtung und Organisation des Fortschritts erfordern würde.
Dieses Stadium wäre erreicht, wenn die materielle Produktion
(einschließlich der notwendigen Dienstleistungen) dermaßen
automatisiert wird, daß alle Lebensbedürfnisse befriedigt werden und sich die notwendige Arbeitszeit zu einem Bruchteil der
Gesamtzeit verringert. Von diesem Punkt an würde der technische Fortschritt das Reich der Notwendigkeit transzendieren,
in dem er als Herrschafts- und Ausbeutungsinstrument diente,
was wiederum seine Rationalität eingeschränkt hat; die Technik
würde dem freien Spiel der Anlagen im Kampf um die Befriedung von Natur und Gesellschaft unterworfen.
Ein solcher Zustand ist in dem Marxschen Begriff der »Aufhebung der Arbeit« ins Auge gefaßt. Der Ausdruck »Befriedung
des Daseins« scheint besser geeignet, die geschichtliche Alternative
zu einer Welt zu bezeichnen, die - infolge eines internationalen
Konflikts, der die Widersprüche innerhalb der etablierten Gesellschaft umformt und suspendiert - am Rande eines erdumspannenden Krieges fortschreitet. »Befriedung des Daseins« bedeutet, daß sich der Kampf des Menschen mit dem Menschen und
der Natur unter Bedingungen entfaltet, worin die miteinander
wetteifernden Bedürfnisse, Wünsche und Bestrebungen nicht mehr
von hergebrachten Mächten organisiert werden, die an Herrschaft
und Knappheit interessiert sind — eine Organisation, welche die
zerstörerischen Formen dieses Kampfes verewigt.
Der heutige Kampf gegen diese geschichtliche Alternative findet eine feste Massenbasis in der unterworfenen Bevölkerung und
seine Ideologie in der strengen Orientierung von Denken und
Verhalten am gegebenen Universum von Tatsachen. Bestärkt
durch die Leistungen von Wissenschaft und Technik, gerechtfertigt durch seine anwachsende Produktivität, spottet der Status
quo aller Transzendenz. Der Möglichkeit einer Befriedung auf36
grund ihrer technischen und geistigen Leistungen gegenübergestellt, sperrt sich die reife Industriegesellschaft gegen diese Alternative. Operationalismus in Theorie und Praxis wird zur Theorie
und Praxis der Eindämmung. Unter ihrer handgreiflichen Dynamik ist diese Gesellschaft ein völlig statisches System des Lebens: sie reproduziert sich stets aufs neue in ihrer unterdrückenden
Produktivität und vorteilhaften Gleichschaltung. Die Eindämmung des technischen Fortschritts geht Hand in Hand mit seinem
Anwachsen in der festgelegten Richtung. Ganz abgesehen von
den politischen Fesseln, die der Status quo dem Menschen auferlegt, wird dieser an Leib und Seele gegen die Alternative
organisiert, und dies umsomehr, je mehr die Technik imstande
scheint, die Bedingungen für die Befriedung hervorzubringen.
Die fortgeschrittensten Bereiche der Industriegesellschaft weisen durchweg diese beiden Züge auf: eine Tendenz zur Vollendung der technologischen Rationalität und intensive Bestrebungen, diese Tendenz im Rahmen der bestehenden Institutionen
zu halten. Darin besteht der innere Widerspruch dieser Zivilisation: das irrationale Element ihrer Rationalität. Es ist der Beweis
ihrer Leistungen. Die Industriegesellschaft, die sich Technik und
Wissenschaft zu eigen macht, wird für die stets wirksamer werdende Herrschaft über Mensch und Natur organisiert, für die
stets wirksamer werdende Ausnutzung ihrer Ressourcen. Sie wird
irrational zu einem Zeitpunkt, wo der Erfolg dieser Anstrengungen neue Dimensionen menschlicher Verwirklichung eröffnet.
Die Organisation für den Frieden ist von der für den Krieg
verschieden; die Institutionen, die dem Kampf ums Dasein dienten, können nicht der Befriedung des Daseins dienen. Das Leben
als Zweck ist qualitativ verschieden vom Leben als Mittel.
Solch eine qualitativ neue Daseinsweise kann niemals als das
bloße Nebenprodukt ökonomischer und politischer Veränderungen angesehen werden, als mehr oder weniger spontane Auswirkung der neuen Institutionen, welche die notwendige Vorbedingung bilden. Qualitative Änderung schließt auch eine
Änderung der technischen Basis ein, auf der diese Gesellschaft
beruht — eine Basis, die die ökonomischen und politischen Institutionen fortbestehen läßt, vermittels derer die »zweite Natur«
des Menschen als eines aggressiven Verwaltungsobjekts gefestigt
37
wird. Die Techniken der Industrialisierung sind politische Techniken; als solche entscheiden sie im vorhinein über die Möglichkeiten von Vernunft und Freiheit.
Freilich muß Arbeit der Reduktion der Arbeit vorausgehen
und Industrialisierung der Entwicklung menschlicher Bedürfnisse
und Befriedigungen. Da aber alle Freiheit von der Bewältigung
fremder Notwendigkeit abhängt, hängt die Verwirklichung der
Freiheit von den Techniken dieser Bewältigung ab. Die höchste
Arbeitsproduktivität läßt sich zur Verewigung der Arbeit verwenden, und die leistungsstärkste Industrialisierung kann der
Beschränkung und Manipulation der Bedürfnisse dienen.
Wenn dieser Punkt erreicht ist, erstreckt sich Herrschaft - in
der Maske von Überfluß und Freiheit - auf alle Bereiche des
privaten und öffentlichen Daseins, integriert alle wirkliche
Opposition und verleibt sich alle Alternativen ein. Die technologische Rationalität offenbart ihren politischen Charakter, indem
sie zum großen Vehikel besserer Herrschaft wird und ein wahrhaft totalitäres Universum hervorbringt, in dem Gesellschaft und
Natur, Geist und Körper in einem Zustand unaufhörlicher Mobilisation zur Verteidigung dieses Universums gehalten werden.
38
2 Die Abriegelung des Politischen
Die auf den fortgeschrittensten Gebieten der industriellen Zivilisation Gestalt annehmende Gesellschaft der totalen Mobilisierung verbindet in produktiver Einheit die Züge des Wohlfahrtsmit denen des Kriegsführungsstaates (Warfare State). Verglichen
mit ihren Vorgängerinnen, ist sie in der Tat eine »neue Gesellschaft«. Traditionelle Unruheherde werden jetzt beseitigt oder
isoliert, auflösende Elemente gebändigt. Die Haupttendenzen
sind bekannt: Konzentration der Volkswirtschaft auf die Bedürfnisse der großen Konzerne, wobei die Regierung sich als
anregende, unterstützende und manchmal sogar kontrollierende
Kraft betätigt; Verflechtung dieser Wirtschaft mit einem weltweiten System von militärischen Bündnissen, monetären Übereinkünften, technischer Hilfe und Entwicklungsplänen; allmähliche Angleichung der Arbeiter- an die Angestelltenbevölkerung,
der Führungstypen bei den Unternehmer- und Arbeitnehmerorganisationen, der Freizeitbeschäftigungen und Wünsche der
verschiedenen sozialen Klassen; Förderung einer prästabilierten
Harmonie zwischen Wissenschaft und nationalem Anliegen; Angriff auf die Privatsphäre durch die Allgegenwart der öffentlichen Meinung, Auslieferung des Schlafzimmers an die Kommunikation der Massenmedien.
Im politischen Bereich offenbart sich diese Tendenz in einer
auffälligen Vereinigung oder Konvergenz der Gegensätze. Das
Zwei-Parteien-System in der Außenpolitik setzt sich unter der
Bedrohung durch den internationalen Kommunismus über konkurrierende Gruppeninteressen hinweg und dehnt sich auf die
Innenpolitik aus, in der die Programme der großen Parteien
selbst im Grad der Heuchelei und im Geruch der Clichés immer
ununterscheidbarer werden. Diese Vereinigung der Gegensätze
wirkt sich gerade dort auf die Möglichkeiten einer gesellschaftlichen Änderung aus, wo sie diejenigen Schichten umfaßt, auf
deren Rücken das System fortschreitet — das heißt gerade die
Klassen, deren Existenz einmal die Opposition gegen das System
als Ganzes verkörperte.
In den Vereinigten Staaten stellt man das abgekartete Spiel
und die Allianz von Geschäftswelt und organisierter Arbeiter39
schaft fest; in Labor Looks at Labor: A Conversation, 1963 vom
Center for the Study of Democratic Institutions veröffentlicht,
wird uns folgendes mitgeteilt:
»Inzwischen ist die Gewerkschaft in ihren eigenen Augen von
dem Konzern fast ununterscheidbar geworden. Wir stehen
heute dem Phänomen gegenüber, daß Gewerkschaften und
Konzerne gemeinsam als Lobbyisten auftreten. Die Gewerkschaft wird nicht imstande sein, die Arbeiter in der Raketenproduktion davon zu überzeugen, daß die Unternehmung, für
die sie arbeiten, ihr Gegner ist, wenn es der Gewerkschaft wie
dem Konzern darum geht, größere Raketenverträge zu erhandeln, und beide versuchen, andere Verteidigungsindustrien in
das Gebiet zu bekommen, oder wenn sie gemeinsam vor dem
Kongreß erscheinen und gemeinsam verlangen, daß Raketengeschosse statt Bomber gebaut werden oder Bomben statt
Raketengeschosse, je nach dem Vertrag, den sie gerade haben«.
Die britische Labour Party, deren Führer mit ihrer konservativen Gegenseite wetteifern in der Beförderung nationaler
Interessen, hat alle Mühe, auch nur ein bescheidenes Programm
teilweiser Nationalisierung zu retten. In Westdeutschland, das
die Kommunistische Partei geächtet hat, beweist die Sozialdemokratische Partei in überzeugender Weise ihre Respektabilität, nachdem sie sich offiziell von ihren marxistischen Programmen losgesagt hat. So steht es in den führenden Industrieländern des Westens. Im Osten bezeugt die allmähliche Abnahme direkter politischer Kontrollen, daß man sich zunehmend
auf die Wirksamkeit technischer Kontrollen als Herrschaftsinstrumente verläßt. Was die starken kommunistischen Parteien
in Frankreich und Italien angeht, so bestätigen sie den allgemeinen Trend der Umstände, indem sie einem Minimalprogramm anhängen, das die revolutionäre Machtergreifung ad
acta legt und den Regeln des parlamentarischen Spiels genügt.
Während es jedoch falsch ist, die französische und die italienische Partei in dem Sinne als »fremd« zu betrachten, daß sie
von einer auswärtigen Macht gestützt werden, ist in dieser
Propaganda ein unbeabsichtigter Wahrheitskern enthalten: sie
sind insofern fremd, als sie Zeugen einer vergangenen (oder
40
künftigen?) Geschichte in der gegenwärtigen Wirklichkeit sind.
Wenn sie sich bereitgefunden haben, im Rahmen des bestehenden
Systems zu arbeiten, so nicht nur aus taktischen Gründen und
im Sinne kurzfristiger Strategie, sondern weil ihre gesellschaftliche Basis infolge der Umformung des kapitalistischen Systems
geschwächt und ihre Ziele geändert wurden (ganz wie die Ziele
der Sowjetunion, die diese Änderung der Politik bekräftigt hat).
Diese nationalen kommunistischen Parteien spielen die historische Rolle legaler Oppositionsparteien, die zur Nichtradikalität »verdammt« sind. Sie zeugen von der Tiefe und Reichweite
der kapitalistischen Integration und von Verhältnissen, die die
qualitative Differenz widerstreitender Interessen als quantitative
Differenzen innerhalb der etablierten Gesellschaft erscheinen
lassen.
Keine tiefgehende Analyse scheint notwendig, um die Gründe
für diese Entwicklungen zu finden. Was den Westen angeht: die
früheren Konflikte in der Gesellschaft werden unter der doppelten (und auf Wechselseitigkeit beruhenden) Einwirkung von
technischem Fortschritt und internationalem Kommunismus modifiziert und geschlichtet. Die Klassenkämpfe werden abgeschwächt, und die »imperialistischen Widersprüche« bleiben
angesichts der Bedrohung von außen unausgetragen. Mobilisiert
gegen diese Bedrohung, zeigt die kapitalistische Gesellschaft eine
innere Einheit und Kohärenz, wie sie auf früheren Stufen der
industriellen Zivilisation unbekannt war. Es handelt sich um eine
Kohärenz, die sehr materielle Gründe hat; die Mobilisierung
gegen den Feind wirkt als mächtiger Antrieb zu Produktion und
Beschäftigung und erhält so den hohen Lebensstandard.
Auf diesem Boden erhebt sich ein Universum von Verwaltungsakten, worin wirtschaftliche Flauten kontrolliert und Konflikte stabilisiert werden durch die heilsamen Auswirkungen
wachsender Produktivität und eines drohenden nuklearen
Krieges. Ist diese Stabilisierung in dem Sinne »zeitlich befristet«,
daß sie die Wurzeln der Konflikte unberührt läßt, die Marx in
der kapitalistischen Produktionsweise fand (Widerspruch zwischen Privateigentum an den Produktionsmitteln und gesellschaftlicher Produktivität), oder ist sie eine Umformung der
antagonistischen Struktur selbst, welche die Konflikte löst
41
indem sie sie erträglich macht? Und falls die zweite Alternative
zutrifft, wie ändert sie das Verhältnis von Kapitalismus und
Sozialismus, das diesen als historische Negation von jenem
erscheinen ließ?
Die Unterbindung des gesellschaftlichen Wandels
Die klassische Marxsche Theorie stellt sich den Übergang vom
Kapitalismus zum Sozialismus als eine Revolution vor: das Proletariat zerstört den politischen Apparat des Kapitalismus, behält aber den technischen Apparat bei und unterwirft ihn der Sozialisierung. In der Revolution gibt es eine Kontinuität: befreit
von irrationalen Schranken und Zerstörungen, erhält und vollendet sich die technologische Rationalität in der neuen Gesellschaft. Es ist interessant, eine sowjetmarxistische Äußerung zu
dieser Kontinuität zu lesen, die für den Begriff des Sozialismus
als der bestimmten Negation des Kapitalismus von solch großer
Wichtigkeit ist:
»1. Obgleich die Entwicklung der Technik den ökonomischen
Gesetzen einer jeden Gesellschaftsformation unterliegt, endet
sie nicht, wie andere ökonomische Faktoren, mit dem UngültigWerden der Gesetze der Formation. Wenn im Prozeß der Revolution die alten Produktionsverhältnisse gesprengt werden,
bleibt die Technik erhalten und entwickelt sich - den ökonomischen Gesetzen der neuen ökonomischen Formation unterworfen - weiter, und zwar mit erhöhtem Tempo. 2. Im Gegensatz zur Entwicklung der ökonomischen Basis in antagonistischen Gesellschaften entwickelt sich die Technik nicht sprunghaft, sondern durch eine allmähliche Anhäufung von Elementen einer neuen Qualität, während die Elemente der alten
Qualität verschwinden. 3. [unwichtig in diesem Zusammenhang].«1
l A. Zworikine, »The History of Technology as a Science and as a Branch of Learning; a Soviet view«, in: Technology and Culture, Detroit, Wayne University
Press, Winter 1961, S. 2.
42
Im fortgeschrittenen Kapitalismus ist technische Rationalität
trotz ihrer irrationalen Anwendung im Produktionsapparat verkörpert. Das gilt nicht nur für mechanisierte Fabriken, Werkzeuge und die Erschließung von Ressourcen, sondern auch für die
Arbeitsweise als Anpassung an den maschinellen Prozeß und
seine Lenkung, wie sie im »wissenschaftlichen Management« erfolgen. Weder Verstaatlichung noch Sozialisierung ändern von
sich aus diese materielle Verkörperung technologischer Rationalität; im Gegenteil, letztere bleibt eine Vorbedingung für die
sozialistische Entwicklung aller Produktivkräfte.
Freilich war Marx der Ansicht, daß die Organisation und
Leitung des Produktionsapparats durch die »unmittelbaren Produzenten« eine qualitative Änderung in die technische Kontinuität einführen würde: nämlich Produktion zur Befriedigung sich
frei entfaltender individueller Bedürfnisse. In dem Maße jedoch,
wie der bestehende technische Apparat das öffentliche und private Dasein in allen Bereichen der Gesellschaft verschlingt - das
heißt zum Medium von Kontrolle und Zusammenhalt in einem
politischen Universum wird, das sich die arbeitenden Klassen
einverleibt - in dem Maße würde die qualitative Änderung eine
solche in der technologischen Struktur selbst nach sich ziehen. Und
eine derartige Änderung würde voraussetzen, daß die arbeitenden Klassen ihrer ganzen Existenz nach diesem Universum entfremdet sind, daß ihr Bewußtsein das der totalen Unmöglichkeit
ist, in diesem Universum fortzubestehen, so daß es bei dem Bedürfnis nach qualitativer Änderung um Leben und Tod geht.
Daher besteht die Negation vor der Änderung selbst; die Vorstellung, daß die befreienden historischen Kräfte sich innerhalb
der etablierten Gesellschaft entwickeln, ist ein Eckstein der
Marxschen Theorie2.
Nun wird gerade dieses neue Bewußtsein, dieser »Innenraum«,
der Raum für die transzendierende geschichtliche Praxis von
einer Gesellschaft abgeriegelt, in der die Subjekte wie die Objekte
Mittel in einem Ganzen sind, das seine raison d' être in den vielfältigen Leistungen seiner überwältigenden Produktivität hat.
2 Cf. S. 61.
43
Sein höchstes Versprechen ist ein stets bequemer werdendes Leben
für eine stets zunehmende Anzahl von Menschen, die sich - in
einem strengen Sinne - kein qualitativ anderes Universum von
Sprache und Handeln vorstellen können; denn die Fähigkeit,
subversive Vorstellungen und Bestrebungen einzudämmen und
zu manipulieren, ist ein wesentlicher Teil der bestehenden Gesellschaft. Jene, die in der Hölle der Gesellschaft im Überfluß
leben müssen, werden mit einer Brutalität bei der Stange gehalten, die mittelalterliche Praktiken und solche der frühen
Neuzeit wiederbelebt. Bei den anderen, weniger benachteiligten
Menschen nimmt sich die Gesellschaft des Bedürfnisses nach
Befreiung an, indem sie die Bedürfnisse befriedigt, die die
Sklaverei schmackhaft und vielleicht sogar unbemerkbar machen,
und sie erreicht diese Tatsache im Produktionsprozeß selbst.
Unter seiner Einwirkung unterliegen die arbeitenden Klassen in
den fortgeschrittenen Bereichen der industriellen Zivilisation einer
entscheidenden Transformation, die zum Gegenstand einer umfassenden soziologischen Forschung geworden ist. Ich werde die
Hauptfaktoren dieser Transformation aufzählen:
1. Die Mechanisierung setzt die bei der Arbeit verausgabte
Quantität und Intensität körperlicher Energie immer mehr herab.
Diese Entwicklung ist für den Marxschen Begriff des Arbeiters
(Proletariers) von großer Tragweite. Für Marx ist der Proletarier
in erster Linie der Handarbeiter, der seine körperliche Energie
im Arbeitsprozeß verausgabt und erschöpft, selbst wenn er mit
Maschinen arbeitet. Der Kauf und Gebrauch dieser körperlichen
Energie unter unmenschlichen Verhältnissen zur privaten Aneignung von Mehrwert zog die empörenden, unmenschlichen
Aspekte der Ausbeutung nach sich; der Marxsche Begriff denunziert die körperliche Pein und das Elend der Arbeit. Das ist das
materielle, greifbare Element der Lohnsklaverei und Entfremdung — die physiologische und biologische Dimension des klassischen Kapitalismus.
»Pendant les siècles passés, une cause importante d'aliénation
résidait dans le fait que l'être humain prêtait son individualité
biologique à l'organisation technique: il était porteur d'outils;
les ensembles techniques ne pouvaient se constituer qu'en incorporant l'homme comme porteur d'outils. Le caractère
44
déformant de la profession était à la fois psychique et
somatique.«3
Jetzt modifiziert die stets vollkommener werdende Mechanisierung der Arbeit im fortgeschrittenen Kapitalismus bei beibehaltener Ausbeutung die Einstellung und den Status der Ausgebeuteten. Innerhalb des technologischen Ganzen bleibt die mechanisierte Arbeit, bei der automatische und halbautomatische
Reaktionen den größeren Teil der Arbeitszeit (wenn nicht die
ganze) erfüllen, als lebenslängliche Tätigkeit eine anstrengende,
abstumpfende, unmenschliche Sklaverei — die sogar anstrengender ist wegen der erhöhten Beschleunigung und Kontrolle der
mehr an der Maschine (als am Produkt) Tätigen und der Isolierung der Arbeiter voneinander4. Freilich drückt sich in dieser
Art Plackerei gehemmte, teilweise Automation aus, das Nebeneinander von automatisierten, halbautomatisierten und nichtautomatisierten Abteilungen in derselben Fabrik, aber selbst unter diesen Verhältnissen »hat die Technik die Ermüdung der
Muskeln durch Angespanntheit und (oder) geistige Anstrengung
ersetzt«5. Was die fortgeschritteneren automatischen Fabriken
angeht, so wird die Umwandlung von körperlicher Energie in
technische und geistige Fertigkeiten hervorgehoben:
» . . . Fertigkeiten des Kopfes eher als solche der Hand, des
Logikers eher als des Handwerkers, der Nerven eher als der
Muskeln, des Lenkers eher als des manuell Tätigen, des Instandhalters eher als des Bedieners.«6
Diese Art meisterhafter Versklavung ist nicht wesentlich verschieden von der des Maschinenschreibers, Bankkassierers, des
3 »Während der vergangenen Jahrhunderte bestand eine wichtige Ursache der Entfremdung darin, daß der Mensch seine biologische Individualität an die technische
Organisation auslieferte: er war der Träger der Werkzeuge; die technischen Einheiten konnten sich nur so ausbilden, daß sie sich den Menschen als Träger der
Werkzeuge einverleibten. Der deformierende Charakter der Tätigkeit war ein zugleich seelischer und körperlicher.« Gilbert Simondon, Du mode d'existence des
objets techniques, Paris 1958, S, 103, Fußnote.
4 Cf. Charles Denby, »Workers Battle Automation«, in: News and Letters, Detroit
1960.
5 Charles R. Walker, Toward the Automatic Factory, New Haven, Yale University
Press, 1957, S. XIX.
6 Ibid., S. 195.
45
unter Hochdruck arbeitenden Verkäufers oder der Verkäuferin
und des Fernsehansagers. Standardisierung und Routine gleichen
produktive und unproduktive Tätigkeiten einander an. Der Proletarier auf früheren Stufen des Kapitalismus war zwar das
Lasttier, das durch die Arbeit seines Körpers für die Lebens- und
Luxusbedürfnisse sorgte, während er in Dreck und Armut lebte.
Damit aber war er die lebendige Absage an diese Gesellschaft7.
Demgegenüber verkörpert der organisierte Arbeiter in den fortgeschrittenen Bereichen der technologischen Gesellschaft diese Absage weniger deutlich und wird gegenwärtig, wie die anderen
menschlichen Objekte der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, der
technischen Gemeinschaft der verwalteten Bevölkerung einverleibt. Überhaupt scheint in den erfolgreichsten Bereichen der
Automation eine Art technischer Gemeinschaft die Menschenatome bei der Arbeit zu integrieren. Die Maschine scheint denen,
die sie bedienen, einen betäubenden Rhythmus beizubringen:
»Es besteht allgemeine Übereinkunft darüber, daß wechselseitige Bewegungen, die von einer Gruppe von Personen ausgeführt werden, die einem rhythmischen Schema folgen, Befriedigung gewähren — ganz abgesehen davon, was durch die
Bewegungen hervorgebracht wird.«8
Und der soziologische Beobachter sieht darin einen Grund für
die allmähliche Entwicklung eines »allgemeinen Betriebsklimas«,
das für die Produktion wie für bestimmte wichtige Arten
menschlicher Befriedigung günstig ist«. Er spricht vom »Wachsen
eines starken Gruppen-Gefühls bei jedem Arbeitsteam« und
führt einen Arbeiter an: »Alles in allem schwingen wir mit den
Dingen mit...« (...we are in the swing of things)9. Dieser Satz
7 Man muß auf dem inneren Zusammenhang zwischen den Marxschen Begriffen der
Ausbeutung und der Verelendung trotz späterer Neubestimmungen bestehen, bei denen die Verelendung entweder ein kultureller Aspekt oder derart relativ wird, daß
er auch auf ein Vorstadthaus mit Auto, Fernsehgerät usw. zutrifft. »Verelendung«
bedeutet das absolute Bedürfnis und die absolute Notwendigkeit, unerträgliche
Existenzbedingungen umzuwälzen, und ein solches absolutes Bedürfnis erscheint in
den Anfängen aller Revolution gegen die grundlegenden gesellschaftlichen Institutionen.
8 Charles R. Walker, loc. cit., S. 104.
9 Ibid., S. 104 f.
46
drückt in bewundernswerter Weise den in der mechanisierten
Versklavung eingetretenen Wandel aus: die Dinge schwingen
mehr, als daß sie unterdrücken, und sie schwingen das menschliche Instrument — nicht nur seinen Körper, sondern auch seinen
Geist und sogar seine Seele. Eine Bemerkung Sartres erläutert,
wie tief dieser Prozeß geht:
»Aux premiers temps des machines semi-automatiques, des
enquêtes ont montré que les ouvrières spécialisées se laissaient
aller, en travaillant, à une rêverie d'ordre sexuel, elles se rappelaient la chambre, le lit, la nuit, tout ce qui ne concerne que
la personne dans la solitude du couple fermé sur soi. Mais c'est
la machine en elle qui rêvait de caresses...« 10
Der maschinelle Prozeß im technologischen Universum zerstört
die innerste Privatsphäre der Freiheit und vereinigt Sexualität
und Arbeit in einem unbewußten, rhythmischen Automatismus
— ein Prozeß, der dazu parallel läuft, daß die Beschäftigungen
einander ähnlich werden.
2. Dieser Trend zur Angleichung läßt sich dartun an der berufsmäßigen Schichtung. In den Schlüsselindustrien geht die Tätigkeit von Arbeitern im Verhältnis zu der von Angestellten zurück; die Zahl nicht in der Produktion tätiger Arbeiter erhöht
sich11. Diese quantitative Änderung weist auf eine Änderung des
Charakters der grundlegenden Produktionsinstrumente zurück12.
Auf der fortgeschrittenen Stufe der Mechanisierung ist die Maschine als Teil der technologischen Wirklichkeit keine
»unité absolue, mais seulement une réalité technique individualisée, ouverte selon deux voies: celle de la relation aux
10 »Umfragen haben gezeigt, daß kurz nachdem halbautomatische Maschinen eingeführt worden waren, die gelernten Arbeiterinnen sich bei der Arbeit Träumereien
sexueller Art überließen; sie erinnerten sich an das Schlafzimmer, das Bett, die
Nacht, an alles, was nur die Person in der Einsamkeit des mit sich beschäftigten
Paares angeht. Aber es war die Maschine in ihnen, die von Zärtlichkeiten
träumte . . .« Jean-Paul Sartre, Critique de la raison dialectique, Bd. I, Paris
1960, S. 290.
11 Automation and Major Technological Change: Impact on Union Size, Structure
and Function, Industrial Union Dept. AFL-CIO, Washington 1958, S. 5 f f . Solomon Barkin, The Decline of the Labor Movement, Santa Barbara, Center for the
Study of Democratic Institutions, 1961, S. 10 ff.
12 Cf. S. 43.
47
éléments, et celle des relations interindividuelles dans l'ensemble technique.«13
In dem Maße, wie die Maschine selbst zu einem System mechanischer Werkzeuge und Beziehungen wird und damit weit über
den individuellen Arbeitsprozeß hinausgeht, setzt sie ihre umfassendere Herrschaft durch, indem sie die »berufliche Autonomie« des Arbeiters abbaut und ihn mit anderen Berufen zusammenfaßt, die unter dem technischen Ganzen leiden und es dirigieren. Freilich war die frühere »berufliche« Autonomie des Arbeiters eher seine berufliche Versklavung. Aber die spezifische
Art von Versklavung war zugleich die Quelle seiner spezifischen,
beruflichen Macht der Negation — die Macht, einen Prozeß aufzuhalten, der ihn mit der Vernichtung als menschliches Wesen
bedrohte. Jetzt verliert der Arbeiter seine berufliche Autonomie,
die ihn zum Glied einer von anderen Berufsgruppen abgehobenen Klasse machte, weil sie die Widerlegung der etablierten
Gesellschaft verkörperte.
Der technologische Wandel, der dazu tendiert, die Maschine
als individuelles Produktionsinstrument zu beseitigen, als »absolute Einheit«, scheint den Marxschen Begriff der »organischen
Zusammensetzung des Kapitals« und mit ihm die Theorie der
Mehrwertbildung ungültig zu machen. Nach Marx erzeugt die
Maschine niemals Wert, sondern überträgt lediglich ihren eigenen
auf das Produkt, während der Mehrwert das Ergebnis der Ausbeutung lebendiger Arbeit bleibt. Die Maschine ist die Verkörperung menschlicher Arbeitskraft, und vermittels ihrer erhält
sich die vergangene (tote) Arbeit und bestimmt die lebendige.
Nun scheint die Automation das Verhältnis von toter und lebendiger Arbeit qualitativ zu ändern; sie strebt dem Punkt zu,
wo die Produktivität »durch die Maschinen« bestimmt wird und
nicht durch die individuelle Arbeitsleistung14. Überdies wird gerade deren Messung unmöglich.
»Automation im weitesten Sinne bedeutet im Effekt das Ende
13 »absolute Einheit, sondern nur eine individualisierte technische Realität, die nach
zwei Richtungen hin offen ist: nach der der Beziehung der Elemente und nach der
der Beziehung zwischen den Individuen im technischen Ganzen.« Gilbert Simondon, loc. cit., S. 164.
14 Serge Mallet, in: Arguments, Nr. 12—13, Paris 1958, S. 18.
48
der Messung von Arbeit. ... Bei der Automation kann man
die Arbeitsleistung eines einzelnen Menschen nicht messen;
man muß jetzt einfach die Nutzung der Anlage messen. Wird
das als eine Art Konzept verallgemeinert..., so besteht beispielsweise keinerlei Grund mehr, einen Mann nach Stück oder
Stunde zu entlohnen«, das heißt, es besteht kein Grund mehr,
das »doppelte Zahlungssystem« von Gehältern und Löhnen
aufrechtzuerhalten15.
Daniel Bell, der Verfasser dieses Berichts, geht weiter; er verknüpft diese technologische Änderung mit dem historischen
System der Industrialisierung selbst: die Bedeutung der Industrialisierung entstand nicht mit der Einführung von Fabriken,
sie »entstand aus der Messung der Arbeit. Erst wenn die Arbeit
gemessen werden kann, wenn man einen Menschen an seine
Tätigkeit binden kann, wenn man ihm ein Geschirr anlegen
und seine Arbeitsleistung am einzelnen Stück messen und ihn
nach Stück oder Stunde bezahlen kann, erst dann liegt moderne
Industrialisierung vor«16.
Worum es bei diesen technologischen Veränderungen geht, ist
weit mehr als ein Zahlungssystem, die Beziehung des Arbeiters
zu anderen Klassen und die Organisation der Arbeit. Worum es
geht, ist die Vereinbarkeit des technischen Fortschritts mit gerade
denjenigen Institutionen, in denen die Industrialisierung sich
entwickelte.
3. Diese Veränderungen im Charakter der Arbeit und der
Produktionsinstrumente verändern die Haltung und das Bewußtsein des Arbeiters, was in der ausführlich diskutierten »sozialen und kulturellen Integration« der Arbeiterklasse in die
kapitalistische Gesellschaft deutlich wurde. Handelt es sich hierbei nur um eine Änderung des Bewußtseins? Die bejahende Antwort, die häufig von Marxisten gegeben wird, scheint merkwürdig inkonsequent. Ist eine solch grundlegende Änderung im
Bewußtsein verständlich, ohne daß man eine entsprechende Änderung im »gesellschaftlichen Sein« annimmt? Selbst wenn ein
hoher Grad ideologischer Unabhängigkeit unterstellt wird, wider15 Automation and Major Technological Change, loc. cit., S. 8.
16 Ibid.
49
setzen sich die Glieder, die diese Änderung mit der Umgestaltung
des Produktionsprozesses verknüpfen, einer solchen Interpretation. Angleichung von Bedürfnissen und Wünschen, im Lebensstandard, in der Freizeitgestaltung, in der Politik, leitet sich
her von einer Integration in der Fabrik selbst, im materiellen
Produktionsprozeß. Es ist sicher fraglich, ob man von einer
»freiwilligen Integration« (Serge Mallet) in einem anderen als
ironischen Sinne sprechen kann. In der gegenwärtigen Lage herrschen die negativen Züge der Automation vor: Antreiberei,
technologische Arbeitslosigkeit, Stärkung der Position der Betriebsführung, zunehmende Ohnmacht und Resignation auf Seiten der Arbeiter. Die Aufstiegschancen nehmen ab, da die Betriebsführung Ingenieure und Hochschulabsolventen vorzieht17.
Es gibt jedoch auch andere Tendenzen. Dieselbe technische Organisation, die eine mechanische Gemeinschaft bei der Arbeit hervorbringt, erzeugt auch eine umfassendere wechselseitige Abhängigkeit, die18 den Arbeiter in die Fabrik eingliedert. Man stellt
einen »Eifer« seitens der Arbeiter fest, »an der Lösung von
Produktionsproblemen teilzunehmen«, einen »Wunsch, aktiv
mitzumachen, indem sie selbst über technische und Produktionsprobleme nachdenken, die eindeutig zur Technologie gehörten«19.
In einigen der technisch fortgeschrittensten Betriebe zeigen die
Arbeiter sogar ein ernsthaftes Interesse am Betrieb - eine häufig
beobachtete Wirkung der »Mitbeteiligung der Arbeiter« am kapitalistischen Unternehmen. Eine provokatorische Beschreibung,
die sich auf die weitgehend amerikanisierten Raffinerien von
Caltex in Ambès, Frankreich, beziehen, kann dazu dienen, diesen
Trend zu charakterisieren. Die Arbeiter des Werks sind sich der
Bande bewußt, die sie an das Unternehmen fesseln:
»Liens professionnels, liens sociaux, liens matériels: le métier
appris dans la raffinerie, l'habitude des rapports de production qui s'y sont établis, les multiples avantages sociaux qui,
en cas de mort subite, de maladie grave, d'incapacité de tra17 Charles R. Walker, loc. cit., S. 97 ff. Cf. auch Ely Chinoy, Automobile Workers
and the American Dream, Garden City, Doubleday, 1955, passim.
18 Floyd C. Mann und L. Richard Hoffmann, Automation and the Worker. A Study
of Social Change in Power Plants, New York, Henry Holt, 1960, S. 189.
19 Charles R. Walker, loc. cit., S. 213 f.
50
vail, de vieillesse enfin, lui sont assurés par sa seule appartenance à la firme, prolongeant au-delà de la période productive
de leur vie la sûreté des lendemains. Ainsi, la notion de ce
contrat vivant et indestructible avec la <Caltex> les amène à
se préoccuper, avec une attention et une lucidité inattendue,
de la gestion financière de l'entreprise. Les délégués aux Comités d'entreprise épluchent la comptabilité de la société avec
le soin jaloux qu'y accorderaient des actionnaires consciencieux.
La direction de la Caltex peut certes se frotter les mains lorsque les syndicats acceptent de surseoir à leurs revendications
de salaires en présence des besoins d'investissements nouveaux.
Mais elle commence à manifester les plus <légitimes> inquiétudes lorsque, prenant au mot les bilans truqués de la filiale
française, ils s'inquiètent des marchés <désavantageux> passés
par celles-ci et poussent l'audace jusqu'à contester les prix de
revient et suggérer des propositions économiques!«20
20 »Berufliche, soziale, materielle Bindungen: das in der Raffinerie erlernte Handwerk, die Gewöhnung an Produktionsverhältnisse, die sich dort gebildet haben, die
mannigfachen sozialen Vergünstigungen im Falle eines plötzlichen Todes, ernstlicher Erkrankung, bei Arbeitsunfähigkeit und im Alter, mit denen sie rechnen
können, nur weil sie der Firma angehören, womit sich ihre Sicherheit über die produktive Periode ihres Lebens hinaus erstreckt. So veranlaßt sie die Vorstellung
eines lebendigen und unzerstörbaren Vertrags mit Caltex dazu, sich mit unerwarteter Aufmerksamkeit und Klarheit um die Finanzverwaltung des Unternehmens
zu kümmern. Die zu den >Comités d'entreprise< Delegierten überprüfen die Buchführung der Gesellschaft mit derselben eifersüchtigen Sorgfalt, die gewissenhafte
Aktionäre ihr widmen würden. Die Direktion der Caltex kann sich sicherlich die
Hände reiben, wenn die Gewerkschaften sich bereitfinden, angesichts des Bedarfs
an neuen Investitionen mit Lohnforderungen auszusetzen. Aber sie fängt an, Zeichen >legitimer< Besorgnis zu zeigen, wenn die Delegierten die verschleierten
Bilanzen der französischen Filiale ernstnehmen und so weit gehen, die Produktionskosten anzuzweifeln und Sparmaßnahmen vorschlagen!« (Serge Mallet, La
Nouvelle Classe Ouvrière, Paris 1963, S. 172). Hier die erstaunliche Feststellung
des Gewerkschaftsführers der United Automobile Workers, die den Trend zur
Integration in den Vereinigten Staaten belegt: »Oft . . . kamen wir in einem
Gewerkschaftshaus zusammen und sprachen über die Beschwerden, die die Arbeiter
vorgebracht hatten, und darüber, was wir tun wollten. Bis ich mit der Werksleitung am nächsten Tage eine Zusammenkunft vereinbart hatte, war das Problem
beseitigt, und daß Abhilfe geschaffen wurde, ging nicht auf das Konto der
Gewerkschaft . . . Alles, wofür wir kämpften, gibt der Konzern jetzt den Arbeitern. Was wir finden müssen, sind andere Dinge, die der Arbeiter wünscht und der
Unternehmer ihm nicht zu geben bereit ist ... Wir sind auf der Suche. Wir sind
auf der Suche.« (Labor Looks at Labor: A Conversation, Santa Barbara, Center
for the Study of Democratic Institutions, 1963, S. 16 f.).
51
4. Die neue technische Arbeitswelt erzwingt so eine Schwächung
der negativen Position der arbeitenden Klasse: letztere erscheint
nicht mehr als der lebendige Widerspruch zur bestehenden Gesellschaft. Dieser Trend verstärkt sich durch die Auswirkung der
technologischen Organisation der Produktion auf die Gegenseite:
auf die Betriebsführung und die Direktion. Herrschaft wird in
Verwaltung überführt21. Die kapitalistischen Herren und Eigentümer verlieren ihre Identität als verantwortliche Kräfte; sie
nehmen die Funktion von Bürokraten in einer körperschaftlichen
Maschine an. In der umfassenden Hierarchie geschäftsführender
und managerieller Ausschüsse, die sich weit über das Einzelunternehmen hinaus auf das wissenschaftliche Laboratorium und
Forschungsinstitut, die nationale Regierung und das nationale
Interesse erstrecken, verschwindet die reale Quelle der Ausbeutung hinter der Fassade objektiver Rationalität. Haß und Enttäuschung werden ihres spezifischen Ziels beraubt, und der technologische Schleier verhüllt die Reproduktion von Ungleichheit
und Versklavung22. Mit dem technischen Fortschritt als ihrem
Instrument wird Unfreiheit - im Sinne der Unterwerfung des
Menschen unter seinen Produktionsapparat - in Gestalt vieler
Freiheiten und Bequemlichkeiten verewigt und intensiviert. Der
neuartige Zug ist die überwältigende Rationalität in diesem
irrationalen Unternehmen und das Ausmaß der Präformation,
die die Triebe und Bestrebungen der Individuen modelt und den
Unterschied zwischen wahren und falschen Bedürfnissen verdunkelt. Denn in Wirklichkeit wiegt weder die Anwendung
eher administrativer als physischer Kontrollen (Hunger, persönliche Abhängigkeit, Gewalt) noch die Änderung des Charakters
schwerer Arbeit, noch die Angleichung der Berufsgruppen, noch
die Gleichstellung im Konsumbereich die Tatsache auf, daß die
Entscheidungen über Leben und Tod, über persönliche und na21 Ist es immer noch erforderlich, die Ideologie der »Revolution der Manager« zu
denunzieren? Die kapitalistische Produktion vollzieht sich durch die Investition
von privatem Kapital zwecks privater Gewinnung und Aneignung von Mehrwert,
und Kapital ist ein gesellschaftliches Instrument der Herrschaft des Menschen über
den Menschen. Die wesentlichen Züge dieses Prozesses werden durch die Streuung
der Aktien, die Trennung des Eigentums von der Betriebsleitung etc. in keiner
Weise geändert.
22 Cf. S. 29.
52
tionale Sicherheit von Stellen aus getroffen werden, über welche
die Individuen keine Kontrolle haben. Die Sklaven der entwickelten industriellen Zivilisation sind sublimierte Sklaven,
aber sie sind Sklaven; denn den Sklaven erkennt man
»pas pour l'obéissance, ni par la rudesse des labeurs, mais par
le statu d'instrument et la réduction de l'homme à l'état de
chose.«23
Darin besteht die reine Form von Knechtschaft: als ein Instrument, als ein Ding zu existieren. Und diese Existenzweise ist
nicht aufgehoben, wenn das Ding belebt ist und seine materielle
und geistige Nahrung auswählt, wenn es sein Ding-Sein nicht
empfindet, wenn es ein hübsches, sauberes, mobiles Ding ist. Da
die Verdinglichung vermöge ihrer technologischen Form die Tendenz hat, totalitär zu werden, werden umgekehrt die Organisatoren und Verwalter selbst immer abhängiger von der Maschinerie, die sie organisieren und handhaben. Und diese wechselseitige Abhängigkeit ist nicht mehr das dialektische Verhältnis
von Herr und Knecht, das im Kampf um wechselseitige Anerkennung durchbrochen worden ist, sondern eher ein circulus
vitiosus, der beide einschließt, den Herrn und den Knecht. Herrschen die Techniker oder ist ihre Herrschaft die von anderen, die
sich auf die Techniker als ihre Planer und Vollzugsorgane verlassen?
»Der Druck des gegenwärtigen hochtechnisierten Rüstungswettlaufs hat die Initiative und Macht, kritische Entscheidungen
zu treffen, den verantwortlichen Regierungsbeamten aus den
Händen genommen und in die von Technikern, Planern und
Wissenschaftlern gelegt, die im Dienst großer Industriekonzerne
stehen und die Verantwortung für die Interessen ihrer Arbeitgeber tragen. Ihre Aufgabe ist es, neue Waffensysteme auszudenken und die Militärs zu überzeugen, daß die Zukunft ihres militärischen Berufs ebenso wie die des Landes davon abhängt, daß
gekauft wird, was sie sich ausgedacht haben.«24
23 »nicht an seinem Gehorsam und nicht an der Härte seiner Arbeit, sondern an seiner Erniedrigung zum Werkzeug und an seiner Verwandlung von einem Menschen
in eine Sache«. (François Perroux, La Coexistence pacifique, Paris 1958, zit. nach
der dt. Übersetzung Feindliche Koexistenz?, Stuttgart 1961, S. 579).
24 Stewart Meacham, Labor and the Cold War, American Friends Service Committee, Philadelphia 1959, S. 9.
53
Wie die erzeugenden Firmen sich auf die Militärs verlassen, um
sich selbst und wirtschaftliches Wachstum zu erhalten, so verlassen sich die Militärs auf die Konzerne »nicht nur deren Waffen
wegen, sondern auch, weil sie wissen, welche Art von Waffen
sie brauchen, wieviel sie kosten werden und wie lange es dauern
wird, sie zu bekommen«.25 Ein circulus vitiosus scheint in der
Tat das wahre Bild einer Gesellschaft, die sich in ihrer vorher
festgelegten Richtung von selbst erweitert und perpetuiert — getrieben von den zunehmenden Bedürfnissen, die sie erzeugt und
zugleich eindämmt.
Aussichten dieser Eindämmung
Besteht irgendeine Aussicht, daß diese Kette anwachsender Produktivität und Repression zerbrochen werden kann? Eine Antwort würde den Versuch erfordern, gegenwärtige Entwicklungen
in die Zukunft zu projizieren und dabei eine relativ normale
Entwicklung anzunehmen, das heißt die sehr reale Möglichkeit
eines nuklearen Krieges außer acht zu lassen. Unter dieser Annahme bliebe der Feind »permanent« — das heißt, der Kommunismus würde weiterhin mit dem Kapitalismus koexistieren.
Dieser wäre zugleich weiterhin imstande, den Lebensstandard
für einen zunehmenden Bevölkerungsanteil aufrechtzuerhalten
und sogar zu erhöhen — trotz und aufgrund intensivierter Produktion von Destruktionsmitteln und methodischer Verschwendung von Ressourcen und Kräften. Diese Fähigkeit hat sich
trotz und aufgrund zweier Weltkriege und der unermeßlichen
physischen und geistigen Regression durchgesetzt, wie die faschistischen Systeme sie bewirkt haben.
Die materielle Basis für diese Fähigkeit stünde weiterhin zur
Verfügung in
a) der wachsenden Arbeitsproduktivität (technischer Fortschritt);
b) der sich erhöhenden Geburtenziffer der vorhandenen Bevölkerung;
c) der permanenten Verteidigungswirtschaft;
25 Ibid.
54
d) der ökonomisch-politischen Integration der kapitalistischen
Länder und im Aufbau ihrer Beziehungen zu den unterentwickelten Gebieten.
Aber der anhaltende Konflikt zwischen den produktiven Fähigkeiten der Gesellschaft und ihrer zerstörerischen und unterdrükkenden Anwendung würde verstärkte Anstrengungen notwendig
machen, der Bevölkerung die Erfordernisse des Apparats aufzuerlegen — überschüssige Kapazität loszuwerden, das Bedürfnis
zu erzeugen, die Güter zu kaufen, die mit Gewinn verkauft
werden müssen, und den Wunsch, für ihre Produktion und Propagierung zu arbeiten. Das System tendiert so zu totaler Verwaltung und totaler Abhängigkeit der Verwaltung von den
öffentlichen und privaten »Führungskräften« und festigt die
prästabilierte Harmonie zwischen dem Interesse der großen
öffentlichen und privaten Körperschaften und dem ihrer Kunden
und Diener. Weder teilweise Verstaatlichung noch erweiterte
Teilhabe der Arbeiterschaft an Betriebsführung und Gewinn
würden von sich aus dieses Herrschaftssystem ändern — solange
die Arbeiterschaft selbst dessen Stütze und affirmative Kraft
bleibt.
Es gibt zentrifugale Tendenzen, im Inneren und außerhalb.
Eine von ihnen ist dem technischen Fortschritt selbst immanent,
nämlich die Automation. Ich gab zu verstehen, daß sich erweiternde Automation mehr ist als ein quantitatives Anwachsen der
Mechanisierung — daß sie ein Wandel im Charakter der grundlegenden Produktivkräfte ist26. Es scheint, daß die bis zu den
Grenzen des technisch Möglichen getriebene Automation mit einer
Gesellschaft unvereinbar ist, die auf der privaten Ausbeutung
menschlicher Arbeitskraft im Produktionsprozeß beruht. Fast ein
Jahrhundert vor der Verwirklichung der Automation faßte Marx
ihre sprengenden Aussichten ins Auge:
»In dem Maße ..., wie die große Industrie sich entwickelt,
wird die Schöpfung des wirklichen Reichtums abhängig weniger von der Arbeitszeit und dem Quantum angewandter
Arbeit, als von der Macht der Agentien, die während der
Arbeitszeit in Bewegung gesetzt werden . . . und deren power26 Cf. S. 47.
55
ful effectiveness selbst wieder in keinem Verhältnis steht zur
unmittelbaren Arbeitszeit, die ihre Produktion kostet, sondern vielmehr abhängt vom allgemeinen Stand der Wissenschaft und dem Fortschritt der Technologie oder der Anwendung dieser Wissenschaft auf die Produktion ... Die Arbeit
erscheint nicht mehr so sehr als in den Produktionsprozeß
eingeschlossen, als sich der Mensch vielmehr als Wächter und
Regulator zum Produktionsprozeß selbst verhält. ... Er tritt
neben den Produktionsprozeß, statt sein Hauptagent zu sein.
In dieser Umwandlung ist es weder die unmittelbare Arbeit,
die der Mensch selbst verrichtet, noch die Zeit, die er arbeitet,
sondern die Aneignung seiner eigenen allgemeinen Produktivkraft, sein Verständnis der Natur und die Beherrschung
derselben durch sein Dasein als Gesellschaftskörper — in einem
Wort die Entwicklung des gesellschaftlichen Individuums, die
als der große Grundpfeiler der Produktion und des Reichtums
erscheint. Der Diebstahl an fremder Arbeitszeit, worauf der
jetzige Reichtum beruht, erscheint miserable Grundlage gegen
diese neuentwickelte, durch die große Industrie selbst geschaffne. Sobald die Arbeit in unmittelbarer Form aufgehört
hat, die große Quelle des Reichtums zu sein, hört und muß
aufhören die Arbeitszeit sein Maß zu sein und daher der
Tauschwert (das Maß) des Gebrauchswerts. Die Surplusarbeit
der Masse hat aufgehört, Bedingung für die Entwicklung des
allgemeinen Reichtums zu sein, ebenso wie die Nichtarbeit der
Wenigen für die Entwicklung der allgemeinen Mächte des
menschlichen Kopfes. Damit bricht die auf dem Tauschwert
ruhende Produktion zusammen...« 27 .
Die Automation scheint in der Tat der große Katalysator der
fortgeschrittenen Industriegesellschaft. Sie ist ein sprengender
oder nichtsprengender Katalysator in der materiellen Basis der
qualitativen Änderung, das technische Instrument des Umschlags
von Quantität in Qualität; denn der gesellschaftliche Automationsprozeß drückt die Transformation oder vielmehr Trans27 Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 1953, S. 592 f.
Cf. auch S. 596.
56
substantiation der Arbeitskraft aus, bei der diese, vom Individuum getrennt, zu einem unabhängigen, produzierenden Objekt
und damit selbst zu einem Subjekt wird.
Einmal zum materiellen Produktionsprozeß schlechthin geworden, würde Automation die ganze Gesellschaft revolutionieren. Zur Perfektion getrieben, würde die Verdinglichung der
menschlichen Arbeitskraft die verdinglichte Form dadurch zerstören, daß sie die Kette durchschnitte, die das Individuum an
die Maschinerie bindet — den Mechanismus, wodurch seine eigene
Arbeit es versklavt. Vollständige Automation im Reich der Notwendigkeit würde die Dimension freier Zeit als diejenige eröffnen, in der das private und gesellschaftliche Dasein sich ausbilden
würde. Das wäre die geschichtliche Transzendenz zu einer neuen
Zivilisation.
Auf der gegenwärtigen Stufe des fortgeschrittenen Kapitalismus widersetzt sich die organisierte Arbeiterschaft mit Recht der
Automation ohne Ausgleichsbeschäftigung. Sie besteht auf der
extensiven Nutzung menschlicher Arbeitskraft in der materiellen
Produktion und widersetzt sich so dem technischen Fortschritt.
Indem sie dies tut, widersetzt sie sich jedoch auch der ergiebigeren Nutzung des Kapitals. Mit anderen Worten, ein weiterer
Aufschub der Automation kann die nationale und internationale
Konkurrenzfähigkeit des Kapitals schwächen, eine langfristige
Depression verursachen und folglich den Konflikt der Klasseninteressen wiederaufleben lassen.
Diese Möglichkeit wird realistischer mit der Verlagerung des
Wettbewerbs zwischen Kapitalismus und Kommunismus vom
militärischen auf das gesellschaftliche und ökonomische Gebiet.
Dank der Macht totaler Verwaltung kann die Automation im
Sowjetsystem rascher vonstatten gehen, sobald ein gewisses
technisches Niveau erreicht ist. Diese Bedrohung ihrer Position
im internationalen Konkurrenzkampf würde die westliche Welt
zwingen, die Rationalisierung des Produktionsprozesses zu beschleunigen. Eine solche Rationalisierung stößt auf den zähen
Widerstand der Arbeiterschaft, ein Widerstand, der nicht von
politischer Radikalisierung begleitet ist. Zumindest in den Vereinigten Staaten geht die Führung der Arbeiterschaft in ihren
Zielen und Mitteln nicht über den üblichen Rahmen des natio57
nalen und Gruppeninteresses hinaus, wobei dieses sich jenem
unterwirft oder unterworfen wird. Mit diesen zentrifugalen
Kräften läßt sich daher leicht fertig werden.
Auch hier bedeutet der abnehmende Anteil menschlicher
Arbeitskraft am Produktionsprozeß ein Abnehmen der politischen Macht der Opposition. In Anbetracht des zunehmenden
Gewichts des Angestelltenelements in diesem Prozeß müßte
politische Radikalisierung vom Aufkommen eines unabhängigen
Bewußtseins und Handelns unter den Angestelltengruppen begleitet sein — eine ziemlich unwahrscheinliche Entwicklung in
der fortgeschrittenen Industriegesellschaft. Das verstärkte Bemühen, das zunehmende Angestelltenelement in den Industriegewerkschaften28 zu organisieren, kann, sofern es überhaupt
Erfolg hat, dazu führen, daß das gewerkschaftliche Bewußtsein
dieser Gruppen sich entwickelt, aber kaum zu ihrer politischen
Radikalisierung.
»Politisch wird die wachsende Zahl von Angestellten, die den
Arbeitergewerkschaften beitreten, den Wortführern der Linken die Möglichkeit geben, mit größerer Berechtigung die
>Interessen der Arbeiterschaft mit denen der Allgemeinheit
zu identifizieren ... Aber die tiefere Bedeutung der Gewerkschaften berührt die Frage ..., ob sie zu einer echten Bewegung werden oder nur eine weitere Interessengruppe, eine
Stelle für politische Regelung um wirtschaftlichen Preis ...
sind.«29
Unter diesen Umständen hängen die Aussichten einer ultramodernen Eindämmung der zentrifugalen Tendenzen in erster
Linie von der Fähigkeit der althergebrachten Interessen ab, sich
und ihre Wirtschaft den Erfordernissen des Wohlfahrtsstaates
anzupassen. Beträchtlich erhöhter Geldaufwand und Lenkung
seitens der Regierung, Planung im nationalen und internationalen Maßstab, ein erweitertes Auslandshilfeprogramm, umfassende soziale Sicherheit, öffentliche Arbeiten großen Stils, vielleicht sogar teilweise Verstaatlichung gehören zu diesen Erfor28 Automation and Major Technological Change, loc. cit., S. 11 f.
29 C. Wright Mills, dt.: Menschen im Büro, Köln 1955, S. 429 f.
58
dernissen30. Ich glaube, daß die herrschenden Interessen allmählich und zögernd diese Erfordernisse akzeptieren und ihre Vorrechte einer wirksameren Macht anvertrauen werden.
Wenn wir uns jetzt den Aussichten für die Eindämmung gesellschaftlichen Wandels in dem anderen System der industriellen
Zivilisation, der Sowjetgesellschaft31, zuwenden, so steht die
Diskussion von Anbeginn einer im doppelten Sinne unvergleichbaren Lage gegenüber: a) chronologisch: die Sowjetgesellschaft
befindet sich auf einer früheren Stufe der Industrialisierung,
wobei weite Sektoren sich noch auf vortechnischer Stufe befinden, und b) strukturell: ihre wirtschaftlichen und politischen
Institutionen sind wesentlich anders (totale Verstaatlichung und
Diktatur).
Die wechselseitige Verbundenheit der beiden Aspekte verschärft die Schwierigkeiten der Analyse. Die historische Rückständigkeit setzt die sowjetische Industrialisierung nicht nur in
den Stand, sondern zwingt sie, ohne geplante Verschwendung
und vorzeitigen Verschleiß fortzuschreiten, ohne die Beschränkungen, die der Produktivität durch die privaten Profitinteressen auferlegt werden, und die Befriedigung noch unerfüllter
Grundbedürfnisse zu planen, nachdem die vorrangigen militärischen und politischen Bedürfnisse befriedigt sind, vielleicht
sogar gleichzeitig mit diesen.
Ist diese größere Rationalität der Industrialisierung nur das
Zeichen und der Vorteil historischer Rückständigkeit, eine Rationalität, die wahrscheinlich verschwindet, wenn das fortgeschrittene Niveau einmal erreicht ist? Ist es dieselbe historische
Rückständigkeit, die auf der anderen Seite - unter den Bedingungen der wettbewerblichen Koexistenz mit dem fortgeschrit30 In den weniger fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern, wo noch starke Segmente der kämpferischen Arbeiterbewegung lebendig sind (Frankreich, Italien),
steht ihre Kraft derjenigen beschleunigter technischer und politischer Rationalisierung in autoritäter Form feindlich gegenüber. Die Erfordernisse des internationalen Wettbewerbs werden wohl die letztere stärken und eine Übernahme der
herrschenden Tendenzen in den fortgeschrittensten industriellen Bereichen sowie
ein Bündnis mit ihnen bewirken.
31 Zum folgenden cf. mein Buch Soviet Marxism, New York, Columbia University
Press, 1958; dt. Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus, Neuwied und
Berlin 1964.
59
tenen Kapitalismus - die totale Entwicklung und Kontrolle aller
Ressourcen durch ein diktatorisches Regime erzwingt? Und wäre
die Sowjetgesellschaft, nachdem sie das Ziel, »einzuholen und zu
überholen«, erreicht hat, imstande, die totalitären Kontrollen
bis zu dem Punkt zu liberalisieren, daß eine qualitative Änderung stattfinden könnte?
Das Argument, das sich auf die historische Rückständigkeit
beruft - demzufolge unter den herrschenden Bedingungen materieller und geistiger Unreife Befreiung notwendigerweise das
Werk von Gewalt und Verwaltung sein muß - bildet nicht nur
den Kern des Sowjetmarxismus, sondern ist auch von den Theoretikern der »erzieherischen Diktatur«, von Platon bis Rousseau
verfochten worden. Es ist leicht lächerlich zu machen, aber
schwer zu widerlegen, weil es das Verdienst hat, ohne viel Heuchelei die (materiellen und geistigen) Bedingungen anzuerkennen, die dazu dienen, wahrhafte und vernünftige Selbstbestimmung zu verhindern.
Außerdem entlarvt das Argument die repressive Freiheitsideologie, wonach menschliche Freiheit in einem Leben von
Mühe, Armut und Dummheit aufblühen kann. Allerdings muß
die Gesellschaft erst die materiellen Vorbedingungen der Freiheit für alle ihre Glieder schaffen, ehe sie eine freie Gesellschaft
sein kann; sie muß zunächst den Reichtum hervorbringen, ehe
sie imstande ist, ihn gemäß den sich frei entwickelnden Bedürfnissen des Individuums zu verteilen; sie muß erst ihre Sklaven
befähigen zu lernen, zu sehen und zu denken, ehe sie wissen,
was vor sich geht und was sie selbst tun können, um es zu
ändern. Und in dem Maße, wie die Sklaven vorgeformt sind,
als Sklaven zu existieren und mit dieser Rolle zufrieden zu sein,
scheint ihre Befreiung notwendigerweise von außen und von
oben zu kommen. Sie müssen »gezwungen« werden, »frei zu
sein«. Man muß ihnen die Dinge »so vor Augen stellen, wie sie
sind«, und »manchmal wie sie ... erscheinen sollen«; man muß
ihnen den »guten Weg« zeigen, den sie suchen32.
Aber bei all seiner Wahrheit kann das Argument die altehr32 Jean-Jacques Rousseau, Contrat social, Buch I, Kap. VII, Buch II, Kap. VI.
Staat und Gesellschaft, München 1959, cf. S. 36 f.
60
würdige Frage nicht beantworten: wer erzieht die Erzieher und
was beweist, daß sie im Besitz »des Guten« sind? Die Frage
wird nicht durch den Einwand entkräftet, daß sie gleichermaßen
für bestimmte demokratische Regierungsformen gilt, bei denen
die schicksalsschweren Entscheidungen über das, was für die
Nation gut ist, von gewählten Abgeordneten getroffen (oder
vielmehr gutgeheißen) werden — gewählt unter Bedingungen
wirksamer und bereitwillig entgegengenommener Indoktrination. Und doch besteht die einzig mögliche Entschuldigung (sie
ist schwach genug!) der »Erziehungsdiktatur« darin, daß das
schreckliche Risiko, das sie einschließt, nicht schrecklicher als
dasjenige sein kann, das die großen liberalen wie autoritären
Gesellschaften jetzt eingehen, und daß die Kosten nicht viel
höher sein können.
Gegen die Sprache der brutalen Fakten und Ideologie besteht
jedoch die dialektische Logik darauf, daß die Sklaven frei für
ihre Befreiung sein müssen, ehe sie frei werden können, und daß
der Zweck in den Mitteln, ihn zu erreichen, wirksam sein muß.
Marx' Satz, daß die Befreiung der Arbeiterklasse das Werk der
Arbeiterklasse selbst sein muß, stellt dieses Apriori fest. Der
Sozialismus muß mit dem ersten Akt der Revolution zur Wirklichkeit werden, da er bereits im Bewußtsein und Handeln jener
vorliegen muß, die die Träger der Revolution waren.
Zwar gibt es eine »erste Phase« des sozialistischen Aufbaus,
während
die neue Gesellschaft »noch behaftet ist mit den
Muttermalen der alten Gesellschaft, aus deren Schoß sie herkommt«33, aber der qualitative Umschlag von der alten zur
neuen Gesellschaft fand mit dem Beginn dieser Phase statt. Nach
Marx gründet die »zweite Phase« buchstäblich in der ersten. Die
von der neuen Produktionsweise hervorgebrachte qualitativ
neue Lebensweise erscheint in der sozialistischen Revolution, die
das Ende des kapitalistischen Systems ist und an seinem Ende
steht. Der sozialistische Aufbau beginnt mit der ersten Phase
der Revolution.
Ebenso ist der Übergang von dem Prinzip »Jedem nach seiner
Arbeit« zu »Jedem nach seinen Bedürfnissen« von der ersten
33 Karl Marx, Kritik des Gothaer Programms, Berlin 1955, S. 23.
61
Phase bestimmt — nicht nur durch die Schaffung der technischen
und materiellen Basis, sondern auch (und das ist entscheidend!)
durch die Weise, in der sie geschaffen wird. Die Kontrolle des
Produktionsprozesses durch die »unmittelbaren Produzenten«
soll eine Entwicklung einleiten, die die Geschichte freier Menschen von der Vorgeschichte des Menschen unterscheidet. Das ist
eine Gesellschaft, bei der die seitherigen Objekte der Produktivität zum ersten Mal menschliche Individuen werden, die die
Produktionsinstrumente zur Verwirklichung ihrer eigenen, humanen Bedürfnisse und Anlagen planen und benutzen. Zum
ersten Mal in der Geschichte würden die Menschen frei und
kollektiv unter der Notwendigkeit und gegen sie handeln, eine
Notwendigkeit, die ihre Freiheit und Menschlichkeit beschränkt.
Deshalb wäre alle von der Notwendigkeit erzwungene Unterdrückung wirklich selbstauferlegte Notwendigkeit. Im Gegensatz zu dieser Konzeption schiebt die tatsächliche Entwicklung
der gegenwärtigen kommunistischen Gesellschaft den qualitativen Umschlag zur zweiten Phase hinaus (oder ist dazu durch
die internationale Lage gezwungen), und der Übergang vom
Kapitalismus zum Sozialismus erscheint, trotz der Revolution,
noch als quantitative Änderung. Die Versklavung des Menschen durch seine Arbeitsmittel besteht fort in einer hochrationalisierten, umfassend wirksamen und vielversprechenden Form.
Die Lage feindlicher Koexistenz mag die terroristischen Züge
der stalinistischen Industrialisierung erklären, aber sie setzte
auch diejenigen Kräfte in Bewegung, die dazu tendieren, den
technischen Fortschritt als Herrschaftsinstrument zu verewigen;
die Mittel beeinträchtigen den Zweck. Wiederum angenommen,
daß keine nukleare Kriegsführung oder eine andere Katastrophe
seine Entwicklung abschneidet, so würde der technische Fortschritt eine stetige Erhöhung des Lebensstandards und eine
stetige Liberalisierung der Kontrollen bewirken. Die verstaatlichte Wirtschaft könnte die Produktivität von Arbeit und Kapital ohne strukturellen Widerstand34 ausnutzen und dabei die
Arbeitsstunden beträchtlich verringern und die Bequemlichkeiten
34 Zum Unterschied zwischen eingebautem und behebbarem Widerstand cf. mein Buch
Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus, loc. cit., S. 112 ff.
62
des Lebens vermehren. Und sie könnte all dies erreichen, ohne
die Macht totaler Verwaltung über das Volk aufzugeben. Es
besteht kein Grund zu der Annahme, daß technischer Fortschritt
plus Verstaatlichung eine »automatische« Freisetzung der negierenden Kräfte bewirkt. Im Gegenteil, der Widerspruch zwischen
den wachsenden Produktivkräften und ihrer versklavenden
Organisation - selbst von Stalin35 offen als ein Zug der
sowjetisch-sozialistischen Entwicklung zugegeben - wird sich
wohl eher einebnen als verschärfen. Je mehr die Herrschenden
in der Lage sind, Konsumgüter zu liefern, desto fester wird die
Bevölkerung an die verschiedenen herrschenden Bürokratien
gekettet werden.
Aber während diese Aussichten für eine Unterbindung qualitativen Wandels im Sowjetsystem zu denen in der fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaft parallel zu laufen scheinen,
führt die sozialistische Produktionsbasis einen entscheidenden
Unterschied ein. Im Sowjetsystem trennt die Organisation des
Produktionsprozesses unzweifelhaft die »unmittelbaren Produzenten« (die Arbeiter) von der Kontrolle über die Produktionsmittel und bewirkt so Klassenunterschiede gerade an der Basis
des Systems. Diese Trennung wurde durch politische Entscheidung und Macht nach der kurzen »heroischen Periode« der bolschewistischen Revolution eingeführt und ist seitdem beibehalten
worden. Und doch ist sie nicht der Motor des Produktionsprozesses selbst; sie ist in diesen Prozeß nicht als die im Privateigentum an den Produktionsmitteln gründende Spaltung von
Kapital und Arbeit eingebaut. Folglich sind die herrschenden
Schichten selbst vom Produktionsprozeß trennbar — das heißt,
sie sind ersetzbar, ohne daß die grundlegenden Institutionen der
Gesellschaft gesprengt werden.
Darin besteht die Halbwahrheit der sowjetmarxistischen
These, daß die herrschenden Widersprüche zwischen den
»zurückbleibenden Produktionsverhältnissen« und den »Charakter der Produktivkräfte« ohne Explosion gelöst werden
können und daß »Übereinstimmung« zwischen den beiden Faktoren durch »allmähliche Umwandlung« eintreten kann 36 . Die
35 Ökonomische Probleme des Sozialismus in der UdSSR, Berlin 1953, S. 7, 52, 68 f.
36 Ibid., S. 52, 69.
63
andere Hälfte der Wahrheit ist, daß sich quantitative Änderung
immer noch in qualitative zu verwandeln hätte, in das Verschwinden des Staates, der Partei, des Plans usw. als unabhängige, den Individuen aufgenötigte Mächte. Soweit diese
Änderung die materielle Basis der Gesellschaft (den verstaatlichten Produktionsprozeß) unberührt ließe, wäre sie auf eine
politische Revolution eingeschränkt. Wenn sie zur Selbstbestimmung gerade an der Basis der menschlichen Existenz, nämlich
in der Dimension notwendiger Arbeit, führen könnte, wäre sie
die radikalste und vollständigste Revolution in der Geschichte.
Verteilung lebenswichtiger Güter ohne Rücksicht auf Arbeitsleistung, Reduktion der Arbeitszeit auf ein Minimum, umfassende, allseitige Erziehung zur Austauschbarkeit der Funktionen — darin bestehen die Vorbedingungen, nicht die Inhalte
der Selbstbestimmung. Während das Schaffen dieser Vorbedingungen noch der herrschenden Verwaltung entspringen kann,
würde ihre Etablierung das Ende dieser Verwaltung bedeuten.
Freilich hinge eine reife und freie Industriegesellschaft weiterhin
von einer Arbeitsteilung ab, die ungleiche Funktionen mit sich
bringt. Solche Ungleichheit ergibt sich notwendig aus wirklichen
gesellschaftlichen, technischen Erfordernissen und aus den körperlichen und geistigen Unterschieden zwischen den Individuen.
Die ausführenden und Überwachungsfunktionen gingen jedoch
nicht mehr mit dem Vorrecht einher, das Leben anderer in
irgendeinem partikulären Interesse zu beherrschen. Der Übergang zu einem solchen Zustand ist eher ein revolutionärer als
ein evolutionärer Prozeß, selbst auf der Grundlage einer vollverstaatlichten und geplanten Wirtschaft.
Läßt sich annehmen, daß das kommunistische System in seiner
bestehenden Form die Bedingungen, die einen solchen Übergang
bewirkten, entwickeln (oder vielmehr aufgrund des internationalen Wettbewerbs zu entwickeln gezwungen) würde? Es gibt
starke Argumente gegen diese Annahme. Man betont den mächtigen Widerstand, den die verschanzte Bürokratie leisten würde ein Widerstand, der seine raison d'être in genau denselben Gründen findet, welche die Triebkraft dafür sind, die Vorbedingungen zur Befreiung zu schaffen, nämlich die Konkurrenz auf
Leben und Tod mit der kapitalistischen Welt.
64
Auf den Begriff eines angeborenen »Machttriebs« in der Menschennatur kann man verzichten. Es ist dies ein höchst zweifelhafter psychologischer Begriff und in hohem Maße unzureichend
für die Analyse gesellschaftlicher Entwicklungen. Die Frage ist
nicht, ob die kommunistischen Bürokratien ihre bevorrechtete
Stellung »aufgeben« würden, wenn einmal das Niveau einer
möglichen qualitativen Änderung erreicht ist, sondern ob sie
imstande sein werden, das Erreichen dieses Niveaus zu verhindern. Um dies zu tun, hätten sie das materielle und geistige
Wachstum an einem Punkt aufzuhalten, wo Herrschaft noch
rational und einträglich ist, wo die Bevölkerung noch an den
Beruf, das Staatsinteresse oder andere bestehende Institutionen
gebunden werden kann. Wiederum scheint hier der entscheidende Faktor die Weltlage der Koexistenz, die seit langem zu
einem Faktor der inneren Lage der beiden entgegengesetzten
Gesellschaften geworden ist. Das Bedürfnis nach totaler Ausnutzung des technischen Fortschritts sowie das, aufgrund eines
höheren Lebensstandards zu überleben, kann sich als stärker
erweisen als der Widerstand der überkommenen Bürokratien.
Ich möchte dem einige Bemerkungen hinzufügen zu der oft
gehörten Meinung, daß die neue Entwicklung der rückständigen
Länder nicht nur die Aussichten der fortgeschrittenen Industrieländer ändern, sondern auch eine »dritte Kraft« hervorbringen
könnte, die zu einer relativ unabhängigen Macht werden kann.
Im Sinne der vorangehenden Diskussion: Gibt es irgendeinen
Beweis dafür, daß die ehemaligen kolonialen oder halbkolonialen Räume einen Weg der Industrialisierung einschlagen
könnten, der von dem des Kapitalismus und des heutigen Kommunismus wesentlich verschieden ist? Gibt es in der einheimischen
Kultur und Tradition dieser Gebiete etwas, das auf eine solche
Alternative hindeuten könnte? Ich werde meine Bemerkungen
auf solche Modelle der Rückständigkeit beschränken, die sich bereits im Prozeß der Industrialisierung befinden — das heißt auf
Länder, in denen Industrialisierung mit einer ungebrochenen
vor- und antiindustriellen Kultur koexistiert (Indien, Ägypten).
Diese Länder treten in den Industrialisierungsprozeß mit einer
Bevölkerung ein, die im Hinblick auf die Werte sich selbst erweiternder Produktivität, Leistungsfähigkeit und technologischer
65
Rationalität ungeschult ist. Mit anderen Worten, mit einer
überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung, die noch nicht in eine
von den Produktionsmitteln getrennte Arbeitskraft umgeformt
ist. Begünstigen diese Bedingungen, daß Industrialisierung und
Befreiung auf neue Weise zusammenkommen, eine wesentlich
andere Art von Industrialisierung, die den Produktionsapparat
nicht nur gemäß den Lebensbedürfnissen der Bevölkerung, sondern auch mit dem Ziel aufbauen würde, den Kampf ums Dasein zu befrieden?
Die Industrialisierung in diesen rückständigen Gebieten findet
nicht in einem luftleeren Raum statt. Sie ereignet sich in einer
geschichtlichen Situation, in der das für die ursprüngliche Akkumulation erforderliche gesellschaftliche Kapital in hohem Maße
von außen entgegengenommen werden muß, vom kapitalistischen oder kommunistischen Block — oder von beiden. Ferner
besteht weithin die Annahme, ein Unabhängig-Bleiben erfordere, rasch zu industrialisieren und ein Produktivitätsniveau zu
erreichen, das in der Konkurrenz mit den beiden Riesen zumindest relative Autonomie sicherstellen würde.
Unter diesen Umständen muß die Überführung unterentwickelter in Industriegesellschaften so schnell wie möglich die
vortechnischen Formen beseitigen. Besonders in Ländern, wo
selbst die lebensnotwendigsten Bedürfnisse der Bevölkerung weit
davon entfernt sind, befriedigt zu sein, wo der erschreckende
Lebensstandard vor allem nach Quantitäten en masse verlangt,
nach mechanisierter und standardisierter Massenproduktion und
-distribution. Und in eben diesen Ländern setzt das tote Gewicht
vortechnischer und sogar vor»bürgerlicher« Sitten und Verhältnisse einer solchen von oben aufgenötigten Entwicklung starken
Widerstand entgegen. Der maschinelle Prozeß (als sozialer Prozeß) erheischt Gehorsam gegenüber einem System anonymer
Mächte — totale Säkularisierung und Zerstörung von Werten
und Institutionen, deren Entweihung kaum begonnen hat. Läßt
sich vernünftigerweise annehmen, daß sich unter der Einwirkung
der beiden großen Systeme totaler technischer Verwaltung die
Beseitigung dieses Widerstands in liberalen und demokratischen
Formen vollziehen wird? Daß die unterentwickelten Länder den
historischen Sprung von der vortechnischen zur nachtechnischen
66
Gesellschaft machen können, in der der beherrschte technische
Apparat die Basis für eine wahrhafte Demokratie abgeben kann?
Im Gegenteil, es scheint vielmehr, daß die diesen Ländern aufgenötigte Entwicklung eine Periode totaler Verwaltung hervorbringen wird, gewaltsamer und strenger als die von den fortgeschrittenen Gesellschaften durchlaufene, die auf den Errungenschaften des liberalistischen Zeitalters aufbauen kann. Fassen wir
zusammen: die rückständigen Gebiete werden wahrscheinlich
entweder einer der verschiedenen Formen des Neokolonialismus
unterliegen oder einem mehr oder weniger terroristischen System
ursprünglicher Akkumulation.
Es scheint jedoch noch eine Alternative möglich37. Wenn die
Industrialisierung und die Einführung der Technik in den rückständigen Ländern auf starken Widerstand seitens der einheimischen und traditionellen Lebens- und Arbeitsweisen stoßen ein Widerstand, der nicht einmal bei der sehr handgreiflichen
Aussicht auf ein besseres und leichteres Leben aufgegeben wird könnte diese vortechnische Tradition selbst zur Quelle von Fortschritt und Industrialisierung werden?
Ein solcher einheimischer Fortschritt würde eine geplante
Politik erfordern, die, anstatt die Technik den traditionellen
Lebens- und Arbeitsweisen von oben aufzuerlegen, diese auf
ihrem eigenem Boden erweitern und verbessern und dabei die
unterdrückenden und ausbeuterischen (materiellen und religiösen) Kräfte beseitigen würde, die sie unfähig machten, die Entwicklung einer menschlichen Existenz sicherzustellen. Soziale
Revolution, Agrarreform und eine Abnahme der Übervölkerung
wären Vorbedingungen, nicht aber Industrialisierung nach dem
Muster der fortgeschrittenen Gesellschaften. Einheimischer Fortschritt scheint in der Tat in Gebieten möglich, wo die natürlichen
Hilfsquellen, befreit von unterdrückendem Eingriff, noch ausreichend sind nicht nur für den Lebensunterhalt, sondern auch
für ein menschliches Leben. Und wo sie es nicht sind, könnten
sie nicht durch die allmähliche und stückweise Hilfe der Technik
dazu gebracht werden — im Rahmen der traditionellen Formen?
Wenn das der Fall ist, dann würden Bedingungen herrschen,
37 Cf. zum folgenden die großartigen Bücher von René Dumont, besonders Terres
vivantes, Plon, Paris 1961.
67
die in den alten und fortgeschrittenen Industriegesellschaften
nicht existieren (und niemals existiert haben) — nämlich die
»unmittelbaren Produzenten« selbst hätten die Chance, ihren
eigenen Fortschritt durch eigene Arbeit und Muße hervorzubringen und seinen Grad und seine Richtung zu bestimmen.
Selbstbestimmung ginge von der Basis aus, und Arbeit für das
Lebensnotwendige könnte übergehen in Arbeit für den Genuß.
Aber selbst unter diesen abstrakten Annahmen müssen die
brutalen Grenzen der Selbstbestimmung anerkannt werden. Die
am Anfang stehende Revolution, die durch die Abschaffung der
geistigen und materiellen Ausbeutung die Vorbedingungen für
die neue Entwicklung herstellen soll, ist kaum als spontane
Aktion denkbar. Außerdem würde einheimischer Fortschritt
einen Wechsel in der Politik der beiden großen industriellen
Machtblöcke voraussetzen, die heute der Welt das Gepräge
geben - Aufgabe des Neokolonialismus in allen seinen Formen.
Gegenwärtig deutet nichts auf einen solchen Wechsel hin.
Der Wohlfahrts- und Kriegsführungsstaat
Zusammenfassend läßt sich sagen: die Aussichten, eine Änderung zu unterbinden, wie die Politik der technologischen Rationalität sie bietet, hängen ab von den Aussichten des Wohlfahrtsstaats. Ein solcher Staat scheint imstande, den Standard
des verwalteten Lebens zu heben, ein Vermögen, das allen fortgeschrittenen Industriegesellschaften innewohnt, bei denen das
Funktionieren des hochmodernen technischen Apparats - als getrennte Macht gegenüber den Individuen aufgerichtet - von der
intensivierten Entwicklung und Expansion der Produktivität
abhängt. Unter solchen Bedingungen hat die Abnahme von Freiheit und Opposition nichts mit moralischem oder intellektuellem
Verfall oder Korrruption zu tun. Sie ist vielmehr insofern ein
objektiver gesellschaftlicher Prozeß, als die Produktion und Verteilung einer größer werdenden Menge von Gütern und Dienstleistungen Willfährigkeit zu einer rationalen technischen Einstellung machen.
Bei all seiner Rationalität ist der Wohlfahrtsstaat jedoch ein
68
Staat der Unfreiheit, weil seine totale Verwaltung eine systematische Beschränkung a) der »technisch« verfügbaren freien
Zeit ist38; b) der Quantität und Qualität »technisch« für lebenswichtige individuelle Bedürfnisse verfügbarer Güter und Dienstleistungen; c) der (bewußten und unbewußten) Einsicht, die
imstande wäre, die Möglichkeiten der Selbstbestimmung zu begreifen und zu verwirklichen.
Die späte Industriegesellschaft hat das Bedürfnis nach parasitären und entfremdeten Funktionen (für die Gesamtgesellschaft, wenn auch nicht für das Individuum) eher erhöht als
verringert. Reklame, Öffentlichkeitsarbeit, »Schulung«, geplanter Verschleiß der Güter sind keine unproduktiven, zusätzlichen
Kosten mehr, sondern vielmehr Elemente der grundlegenden
Produktionskosten. Um wirksam zu sein, erfordert eine derartige Produktion gesellschaftlich notwendiger Verschwendung
eine unaufhörliche Rationalisierung — die rücksichtslose Anwendung fortgeschrittener Techniken und der Wissenschaft. Folglich
ist ein sich erhöhender Lebensstandard das nahezu unvermeidliche Nebenprodukt der politisch manipulierten Industriegesellschaft, ist einmal eine bestimmte Stufe der Rückständigkeit überwunden. Die wachsende Arbeitsproduktivität schafft ein zunehmendes Mehrprodukt, das - ob privat oder zentral angeeignet
und verteilt - erhöhten Konsum gestattet — ungeachtet der vermehrten Mannigfaltigkeit der Produktivität. Solange diese Konstellation herrscht, schmälert sie den Gebrauchswert der Freiheit;
es besteht kein Grund, auf Selbstbestimmung zu dringen, wenn
das verwaltete Leben das bequeme und sogar »gute« Leben ist.
Das ist der rationale und materielle Grund für die Vereinigung
der Gegensätze, für eindimensionales politisches Verhalten. Auf
diesem Boden werden die transzendierenden politischen Kräfte
innerhalb der Gesellschaft gehemmt, und qualitative Änderung
scheint möglich nur als eine von außen.
Die Ablehnung des Wohlfahrtsstaates zugunsten abstrakter
Freiheitsideen ist kaum überzeugend. Der Verlust der ökonomischen und politischen Freiheiten, worin die wirkliche Errun38 »Freie« Zeit, keine »Freizeit«. Letztere gedeiht in der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, aber ist in dem Maße unfrei, wie sie durch Geschäft und Politik verwaltet wird.
69
genschaft der letzten beiden Jahrhunderte bestand, mag in einem
Zustand, der das verwaltete Leben sicher und bequem machen
kann, als geringfügiger Schaden erscheinen39. Wenn die Individuen - und das macht sogar ihr Glück aus - mit den Gütern
und Dienstleistungen zufrieden sind, die ihnen von der Verwaltung heruntergereicht werden, warum sollten sie auf anderen
Einrichtungen um einer anderen Produktion anderer Güter und
Dienstleistungen willen bestehen? Und wenn die Individuen
derart präformiert sind, daß zu den befriedigenden Gütern auch
Gedanken, Gefühle und Wünsche gehören, warum sollten sie
selbst denken, fühlen und sich etwas vorstellen? Zwar mögen
die angebotenen materiellen und geistigen Waren schlecht, verschwenderisch, Schund sein — aber Geist und Erkenntnis sind
keine durchschlagenden Argumente gegen die Befriedigung von
Bedürfnissen.
Die Kritik des Wohlfahrtsstaates im Sinne des Liberalismus
und Konservativismus (ob mit dem Präfix »Neo-« oder nicht)
stützt sich in ihrer Gültigkeit auf das Vorhandensein eben der
Bedingungen, über die der Wohlfahrtsstaat hinausgegangen ist nämlich auf eine niederere Stufe des gesellschaftlichen Reichtums
und der Technik. Die finsteren Aspekte dieser Kritik treten offen
zutage im Kampf gegen eine umfassende Sozialgesetzgebung und
angemessene Regierungsausgaben für andere Zwecke als solche
militärischer Verteidigung.
So dient die Denunziation der unterdrückenden Fähigkeiten
des Wohlfahrtsstaates dazu, die unterdrückenden Fähigkeiten
der Gesellschaft vor dem Wohlfahrtsstaat zu schützen. Auf der
fortgeschrittensten Stufe des Kapitalismus ist diese Gesellschaft
ein System des unterworfenen Pluralismus, in dem konkurrierende Institutionen darum wetteifern, die Macht des Ganzen
über das Individuum zu festigen. Und doch ist pluralistische
Verwaltung für das verwaltete Individuum weit besser als
totale. Eine Institution könnte vor der anderen schützen, eine
Organisation die Einwirkung der anderen abschwächen; Möglichkeiten des Entkommens und der Abhilfe sind berechenbar.
Die Herrschaft des Gesetzes, ganz gleich wie beschränkt, ist
39 Cf. S. 21 f.
70
immer noch unendlich sicherer als eine Herrschaft über dem Gesetz oder ohne Gesetz.
Im Hinblick auf die herrschenden Tendenzen ist jedoch die
Frage aufzuwerfen, ob nicht diese Form von Pluralismus die
Zerstörung des Pluralismus beschleunigt. Die fortgeschrittene
Industriegesellschaft ist zwar ein System von Mächten, die einander ausgleichen. Aber diese Kräfte heben sich gegenseitig in
einer höheren Einheit auf — im gemeinsamen Interesse, die
erreichte Stellung zu verteidigen und auszubauen, die historischen Alternativen zu bekämpfen, qualitative Änderung zu
hintertreiben. Den sich ausgleichenden Mächten gehören diejenigen nicht an, die dem Ganzen zuwiderlaufen40. Jene haben
die Tendenz, das Ganze gegen Negation von innen wie von
außen zu immunisieren; die Außenpolitik der Eindämmung
erscheint als eine erweiterte Innenpolitik der Eindämmung.
Die Realität des Pluralismus wird ideologisch, trügerisch. Sie
scheint Manipulation und Gleichschaltung eher zu erweitern als
zu verringern, die verhängnisvolle Integration eher zu befördern als ihr entgegenzuwirken. Freie Institutionen wetteifern
mit autoritären darum, den Feind zu einer tödlichen Kraft innerhalb des Systems zu machen. Und diese tödliche Kraft regt
Wachstum und Initiative an — nicht infolge der Größe und ökonomischen Auswirkung des Verteidigungs»sektors«, sondern der
Tatsache, daß die Gesellschaft als Ganzes zu einer Verteidigungsgesellschaft wird. Denn der Feind ist permanent. Er existiert
nicht in einer Notsituation, sondern im Normalzustand. Er
droht im Frieden wie im Krieg (und vielleicht mehr noch im
Frieden); er wird so ins System als eine Bindekraft eingebaut.
Weder die wachsende Produktivität noch der hohe Lebensstandard hängen von der äußeren Bedrohung ab, wohl aber der
Umstand, daß sie benutzt werden, gesellschaftlichen Wandel einzudämmen und die Knechtschaft zu verewigen. Der Feind ist der
gemeinsame Nenner alles Tuns und Lassens. Und der Feind ist
nicht identisch mit dem gegenwärtigen Kommunismus oder
40 Zur kritischen und realistischen Bewertung von Galbraith' ideologischem Begriff
der »countervailing powers« cf. Earl Latham, »The Body Politic of the Corporation«, in: E. S. Mason, The Corporation in Modern Society, Cambridge,
Havard University Press, 1959, S. 223, 235 f.
71
gegenwärtigen Kapitalismus — er ist in beiden Fällen das reale
Gespenst der Befreiung.
Noch einmal: der Wahnsinn des Ganzen spricht die einzelnen
Wahnsinnstaten frei und verkehrt die Verbrechen gegen die
Menschheit in ein rationales Unternehmen. Wenn die Menschen,
entsprechend stimuliert durch die öffentlichen und privaten Behörden, sich auf ein Leben totaler Mobilisierung vorbereiten,
dann handeln sie vernünftig nicht nur wegen des vorhandenen
Feindes, sondern ebenso wegen der Investitions- und Arbeitsmöglichkeiten in Industrie und Unterhaltung. Selbst die wahnsinnigsten Berechnungen sind rational: die Vernichtung von fünf
Millionen Menschen ist der von zehn Millionen, zwanzig Millionen usw. vorzuziehen. Es ist hoffnungslos einzuwenden, daß
eine Kultur, die ihre Verteidigung mit einem solchen Kalkül
rechtfertigt, ihr eigenes Ende verkündet.
Unter diesen Umständen kommen selbst die bestehenden Freiheiten und Fluchtmöglichkeiten mit dem organisierten Ganzen
ohne Schwierigkeiten zurecht. Bremst oder intensiviert die
Konkurrenz auf dieser Stufe des reglementierten Marktes die
Jagd nach größerem und rascherem Umschlag und Verschleiß der
Güter? Konkurrieren die politischen Parteien um Befriedung
oder um eine stärkere und kostspieligere Rüstungsindustrie?
Fördert oder verzögert die Produktion von »Überfluß« die Befriedigung noch unerfüllter Lebensbedürfnisse? Sind die ersteren
Alternativen wahr, so würde die gegenwärtige Form des Pluralismus das Potential zum Eindämmen einer qualitativen Änderung stärken und damit die »Katastrophe« der Selbstbestimmung eher verhindern als erzwingen. Demokratie erwiese sich
als das leistungsfähigste Herrschaftssystem.
Das in den vorangehenden Abschnitten entworfene Bild des
Wohlfahrtsstaates ist das einer historischen Mißgeburt zwischen
organisiertem Kapitalismus und Sozialismus, Knechtschaft und
Freiheit, Totalitarismus und Glück. Seine Möglichkeit geht hinreichend aus den herrschenden Tendenzen des technischen Fortschritts hervor und ist hinreichend bedroht durch explosive
Kräfte. Die stärkste ist natürlich die Gefahr, daß die Vorbereitung auf den totalen nuklearen Krieg sich in seine Verwirklichung verwandeln kann: das Abschreckmittel dient auch dazu,
72
Bemühungen abzuschrecken, das Bedürfnis nach dem Abschreckmittel zu beseitigen. Andere Faktoren sind im Spiel, die das
angenehme Zusammentreffen von Totalitarismus und Glück,
Manipulation und Demokratie, Heteronomie und Autonomie
durchkreuzen können — kurzum, die Verewigung der prästabilierten Harmonie von organisiertem und spontanem Verhalten,
präformiertem und freiem Denken, Zweckmäßigkeit und Überzeugung.
Selbst im höchstorganisierten Kapitalismus bleibt das gesellschaftliche Bedürfnis nach privater Aneignung und Verteilung
des Profits als Regulator der Wirtschaft erhalten. Das heißt, er
verknüpft weiterhin die Verwirklichung des allgemeinen Interesses mit der partikulärer, althergebrachter Interessen. Indem er
so verfährt, steht er weiterhin dem Konflikt gegenüber zwischen
dem anwachsenden Potential, den Kampf ums Dasein zu befrieden, und dem Bedürfnis, diesen Kampf zu intensivieren;
zwischen der fortschreitenden »Aufhebung der Arbeit« und dem
Bedürfnis, die Arbeit als Profitquelle zu erhalten. Dieser Konflikt verewigt die unmenschliche Existenz derer, die die menschliche Basis der sozialen Pyramide bilden — die Außenseiter und
die Armen, die Arbeitslosen und Arbeitsunfähigen, die verfolgten farbigen Rassen, die Insassen von Strafanstalten und Irrenhäusern.
In den gegenwärtigen kommunistischen Gesellschaften verewigen der äußere Feind, Rückständigkeit und das Vermächtnis
des Terrors die unterdrückenden Züge des »Einholens und Überholens« der Errungenschaften des Kapitalismus. Dadurch verschärft sich der Vorrang des Mittels vor dem Zweck - ein Vorrang, der nur gebrochen werden könnte, wenn eine Befriedung
erreicht wird - und Kapitalismus und Kommunismus weiterhin
ohne militärische Gewalt miteinander konkurrieren im Weltmaßstab und vermittels weltumspannender Institutionen. Diese
Befriedung würde das Aufkommen einer wahrhaften Weltwirtschaft bedeuten — das Ableben des Nationalstaats, nationalen
Interesses und nationalen Geschäfts mitsamt ihren internationalen Bündnissen. Und gerade gegen diese Möglichkeit wird die
gegenwärtige Welt mobilisiert:
L'ignorance et l'inconscience sont telles que les nationalismes
73
demeurent florissants. Ni l'armement ni l'industrie du XXe
siècle ne permettent aux patries d'assurer leur sécurité et leur
vie sinon en ensembles organisés de poids mondial, dans
l'ordre militaire et économique. Mais à l'Ouest non plus qu'à
l'Est, les croyances collectives n'assimilent les changements
réels. Les Grands forment leurs empires, ou en réparent
les architectures sans accepter les changements de régime
économique et politique qui donneraient efficacité et sens à
l'une et à l'autre coalitions.
Und:
Dupes de la nation et dupes de la classe, les masses souffrantes
sont partout engagées dans les duretés de conflits où leurs
seuls ennemis sont des maîtres qui emploient sciemment les
mystifications de l'industrie et du pouvoir.
La collusion de l'industrie moderne et du pouvoir territorialisé
est un vice dont la réalité est plus pronfonde que les institutions et les structures capitalistes et communistes et qu'aucune
dialectique nécessaire ne doit nécessairement extirper41.
Die verhängnisvolle wechselseitige Abhängigkeit der einzigen
beiden »souveränen« Gesellschaftssysteme in der gegenwärtigen
41 »Die Gewissenlosigkeit und die Unkenntnis sind so groß, daß die Nationalismen
weiter gedeihen. Weder die Rüstung noch die Industrie des zwanzigsten Jahrhunderts gestatten es den >Vaterländern<, ihre Sicherheit und ihr Dasein zu verbürgen, es sei denn durch organisierte Einheiten, die in militärischer und ökonomischer Hinsicht im Weltmaßstab ins Gewicht fallen. Und weder im Westen noch
im Osten vermag ein kollektiv eingedrillter Glaube die Verwandlungen der Wirklichkeit zu sehen. Die Großen bilden ihre Imperien oder reparieren deren Architektur, ohne die Veränderungen im ökonomischen und politischen System zu akzeptieren, was der einen oder anderen Koalition erst Wirksamkeit und Sinn verliehe.«
(Und:)
Ȇberall sind die leidenden Massen durch Vaterlandsideologien betrogen, durch
die Klassenideologien genarrt. Nur der Härte des Konflikts sind sie überall unterworfen, und ihre einzigen Feinde sind jene Meister, die wissentlich die Industrialisierung und die Macht mißbrauchen.
Das Einverständnis zwischen der modernen Industrie und der territorialen Macht
ist ein Laster, das folgenreicher ist als die Institutionen und Strukturen des
Kapitalismus und des Kommunismus, und keine zwangsläufige Dialektik muß es
zwangsläufig ausmerzen.« François Perroux, loc. cit., Band III, S. 631 f.; 633;
dt. Ausgabe, loc. cit., S. 606 f. (und, soweit in dieser nicht enthalten, eigene
Übersetzung, A. d. Ü.).
74
Welt drückt die Tatsache aus, daß der Konflikt zwischen Fortschritt und Politik, zwischen dem Menschen und seinen Herren
total geworden ist. Wenn der Kapitalismus sich der Herausforderung des Kommunismus stellt, so stellt er sich seinen eigenen
Möglichkeiten: eine beachtliche Entwicklung aller Produktivkräfte, nachdem die privaten Profitinteressen zurückgestellt
wurden, die eine solche Entwicklung hemmen. Wenn der Kommunismus sich der Herausforderung des Kapitalismus stellt,
so stellt auch er sich seinen eigenen Möglichkeiten: ein beachtlicher Komfort, Freiheiten und eine Erleichterung der Lebenslast. Beide Systeme enthalten diese Möglichkeiten bis zur Unkenntlichkeit entstellt, und in beiden Fällen ist der Grund dafür
in letzter Instanz derselbe — der Kampf gegen eine Lebensform,
die die Grundlage der Herrschaft auflösen würde.
75
3 Der Sieg über das unglückliche Bewußtsein:
repressive Entsublimierung
Nachdem wir die politische Integration der fortgeschrittenen
Industriegesellschaft erörtert haben - eine Leistung, die durch
die anwachsende technische Produktivität und die sich erweiternde Unterwerfung von Mensch und Natur ermöglicht wird -,
wollen wir uns jetzt einer entsprechenden Integration im kulturellen Bereich zuwenden. In diesem Kapitel werden bestimmte
Schlüsselbegriffe und Bilder der Literatur und ihr Schicksal verdeutlichen, wie der Fortschritt technologischer Rationalität dabei
ist, die oppositionellen und transzendierenden Elemente in der
»höheren Kultur« zu beseitigen. Sie fallen praktisch dem Prozeß
der Entsublimierung zum Opfer, der in den fortgeschrittenen
Bereichen der gegenwärtigen Gesellschaft die Oberhand gewinnt.
Die Errungenschaften und Mißerfolge dieser Gesellschaft entwerten ihre höhere Kultur. Die Feier des autonomen Charakters, des Humanismus, tragischer und romantischer Liebe erscheint als das Ideal einer rückständigen Entwicklungsstufe. Was
heute geschieht, ist nicht die Herabsetzung der höheren Kultur
zur Massenkultur, sondern die Widerlegung dieser Kultur durch
die Wirklichkeit. Diese übertrifft ihre Kultur. Der Mensch vermag heute mehr als die Helden der Kultur und die Halbgötter;
er hat viele unlösbare Probleme gelöst. Aber er hat auch die
Hoffnung verraten und die Wahrheit zerstört, die in den Sublimationen der höheren Kultur aufgehoben waren. Freilich befand
die höhere Kultur sich stets im Widerspruch mit der gesellschaftlichen Realität, und nur eine privilegierte Minderheit erfreute
sich ihrer Segnungen und vertrat ihre Ideale. Die beiden antagonistischen Sphären der Gesellschaft haben immer nebeneinander
bestanden; die höhere Kultur paßte sich stets an, während die
Wirklichkeit durch ihre Ideale und ihre Wahrheit selten gestört
wurde.
Als neues Merkmal kommt hinzu, daß der Antagonismus
zwischen Kultur und gesellschaftlicher Wirklichkeit dadurch eingeebnet wird, daß die oppositionellen, fremden und transzendenten Elemente der höheren Kultur getilgt werden, kraft deren
sie eine andere Dimension der Wirklichkeit bildete. Diese Liqui76
dation der zweidimensionalen Kultur findet nicht so statt, daß
die »Kulturwerte« geleugnet und verworfen werden, sondern so,
daß sie der etablierten Ordnung unterschiedslos einverleibt und
in massivem Ausmaß reproduziert und zur Schau gestellt
werden.
Praktisch dienen sie als Instrumente gesellschaftlichen Zusammenhalts. Die Größe einer freien Literatur und Kunst, die Ideale
des Humanismus, die Sorgen und Freuden des Individuums, die
Erfüllung der Persönlichkeit sind wichtige Punkte im Konkurrenzkampf zwischen Ost und West. Sie sprechen schwerwiegend
gegen die heutigen Formen des Kommunismus, und sie werden
täglich verordnet und verkauft. Die Tatsache, daß sie der Gesellschaft widersprechen, die sie verkauft, zählt nicht. Ebenso
wie die Menschen wissen oder fühlen, daß Reklame und Parteiprogramme nicht notwendig wahr oder gerechtfertigt sein müssen, und sie sich doch anhören, sie lesen und sich sogar von
ihnen leiten lassen, so akzeptieren sie die traditionellen Werte
und machen sie zum Bestandteil ihres geistigen Rüstzeugs.
Wenn die Massenkommunikationsmittel Kunst, Politik, Religion und Philosophie harmonisch und oft unmerklich mit kommerziellen Mitteilungen vermischen, so bringen sie diese Kulturbereiche auf ihren gemeinsamen Nenner — die Warenform. Die
Musik der Seele ist auch die der Verkaufstüchtigkeit. Der
Tauschwert zählt, nicht der Wahrheitswert. In ihm faßt sich
die Rationalität des Status quo zusammen, und alle andersartige
Rationalität wird ihr unterworfen.
Indem die großen Worte über Freiheit und Erfüllung von
Führern und Politikern bei Wahlkampagnen verkündet werden,
in den Kinos, im Radio und Fernsehen, verkehren sie sich in
sinnlose Laute, die nur im Zusammenhang mit Propaganda, Geschäft, Disziplin und Zerstreuung einen Sinn erhalten. Diese
Angleichung des Ideals an die Realität bezeugt, wie sehr das
Ideal überboten worden ist. Es wird dem sublimierten Bereich
der Seele oder des Geistes oder des inneren Menschen entzogen
und in operationelle Begriffe und Probleme übersetzt. Hierin
bestehen die fortschrittlichen Elemente der Massenkultur. Die
Abkehr von der Innerlichkeit deutet auf die Tatsache hin, daß
die fortgeschrittene Industriegesellschaft der Möglichkeit einer
77
Materialisierung der Ideale gegenübersteht. Die Kapazitäten
dieser Gesellschaft verringern immer mehr den sublimierten Bereich, in dem die Lage des Menschen dargestellt, idealisiert und
angeklagt wurde. Die höhere Kultur wird ein Teil der materiellen und büßt bei dieser Umformung ihre Wahrheit weitgehend ein.
Die höhere Kultur des Westens - zu deren moralischen, ästhetischen und gedanklichen Werten sich die Industriegesellschaft
immer noch bekennt - war im funktionellen wie historischen
Sinne eine vortechnische Kultur. Ihre Verbindlichkeit ging hervor aus der Erfahrung einer Welt, die nicht mehr besteht und
nicht wiedererlangt werden kann, weil sie von der technischen
Gesellschaft in einem strengen Sinne außer Kraft gesetzt wird.
Zudem blieb sie weitgehend eine feudale Kultur, auch wenn es
während der bürgerlichen Periode zu einigen ihrer nachhaltigsten Formulierungen kam. Sie war nicht nur feudal, weil sie
auf privilegierte Minderheiten begrenzt blieb, und nicht nur, weil
ihr ein romantisches Element innewohnte (das sogleich erörtert
werden soll), sondern auch deshalb, weil ihre authentischen
Werke eine bewußte, methodische Entfremdung von der ganzen
Geschäfts- und Industriesphäre und ihrer kalkulierbaren und
einträglichen Ordnung ausdrückten.
Obwohl diese bürgerliche Ordnung ihre reiche - und sogar
affirmative - Darstellung in Kunst und Literatur fand (wie bei
den holländischen Malern des siebzehnten Jahrhunderts, in
Goethes Wilhelm Meister, im englischen Roman des neunzehnten
Jahrhunderts, bei Thomas Mann), blieb sie eine Ordnung, die
von einer anderen Dimension überschattet, durchbrochen und
widerlegt wurde, welche der Ordnung des Geschäfts unversöhnlich antagonistisch gegenüberstand, sie anklagte und verneinte.
Und in der Literatur wird diese andere Dimension nicht durch
die religiösen, geistigen und moralischen Helden dargestellt (die
oft die herrschende Ordnung stützen), sondern vielmehr durch
solche auflösenden Charaktere wie den Künstler, die Prostituierte, die Ehebrecherin, den großen Verbrecher und Geächteten, den Räuber, den rebellischen Dichter, den Schelm, den
Narren — jene, die sich ihren Lebensunterhalt nicht verdienen,
zumindest nicht auf ordentliche und normale Weise.
78
Freilich sind diese Charaktere nicht aus der Literatur der
fortgeschrittenen Industriegesellschaft verschwunden, aber sie
überleben wesentlich verändert. Der Vamp, der Nationalheld,
der Beatnik, die neurotische Hausfrau, der Gangster, der Star,
der charismatische Industriekapitän üben eine Funktion aus, die
von der ihrer kulturellen Vorläufer sehr verschieden ist, ja im
Gegensatz zu ihr steht. Sie sind keine Bilder einer anderen
Lebensweise mehr, sondern eher Launen oder Typen desselben
Lebens, die mehr als Affirmation denn als Negation der bestehenden Ordnung dienen.
Die Welt ihrer Vorläufer war gewiß eine rückständige, vortechnische Welt, eine Welt, die angesichts von Ungleichheit und
Plackerei ein gutes Gewissen hatte und in der die Arbeit noch
ein vom Schicksal verhängtes Unglück war — aber eine Welt, in
der Mensch und Natur noch nicht als Dinge und Mittel organisiert waren. Mit ihrem Formen- und Sittenkodex, mit dem Stil
und Vokabular ihrer Literatur und Philosophie drückte diese
vergangene Kultur den Rhythmus und Inhalt eines Universums
aus, in dem Täler und Wälder, Dörfer und Schenken, Edelleute
und Leibeigene, Salons und Höfe zur erfahrenen Wirklichkeit
gehörten. In der Lyrik und Prosa dieser vortechnischen Kultur
ist der Rhythmus von Menschen enthalten, die wandern oder in
Kutschen fahren und die Zeit und Lust haben, nachzudenken,
etwas zu betrachten, zu fühlen und zu erzählen.
Es ist eine altmodische und überholte Kultur, und nur Träume
und kindliche Regressionen können sie wieder einfangen. Aber
diese Kultur ist in einigen ihrer entscheidenden Elemente zugleich eine nachtechnische. Ihre fortgeschrittensten Bilder und
Positionen scheinen ihr Aufgehen in verordnetem Trost und in
Reizmitteln zu überleben; sie verfolgen das Bewußtsein noch
immer mit der Möglichkeit ihrer Wiedergeburt in der Vollendung des technischen Fortschritts. Sie sind der Ausdruck jener
freien und bewußten Entfremdung von den herrschenden Lebensformen, mit der Literatur und Kunst sich diesen Formen selbst
dort widersetzten, wo sie sie ausschmückten.
In Gegensatz zu dem Marxschen Begriff, der das Verhältnis
des Menschen zu sich und seiner Arbeit in der kapitalistischen
Gesellschaft bezeichnet, ist die künstlerische Entfremdung das
79
bewußte Transzendieren der entfremdeten Existenz - ein
»höheres Niveau« oder vermittelte Entfremdung. Der Konflikt
mit der Welt des Fortschritts, die Negation der Ordnung des
Geschäfts, die antibürgerlichen Elemente in der bürgerlichen
Literatur und Kunst gehen weder auf den ästhetischen Tiefstand
dieser Ordnung zurück noch auf romantische Reaktion — die
sehnsuchtsvolle Weihe einer verschwindenden Zivilisationsstufe.
»Romantisch« ist ein Begriff herablassender Diffamierung, schnell
zur Hand, um avantgardistische Positionen zu verunglimpfen,
wie auch der Begriff »dekadent« weit häufiger die wahrhaft
fortschrittlichen Züge einer sterbenden Kultur denunziert als die
wirklichen Faktoren des Verfalls. Die traditionellen Bilder
künstlerischer Entfremdung sind in der Tat insofern romantisch,
als sie mit der sich entwickelnden Gesellschaft ästhetisch unvereinbar sind. Diese Unvereinbarkeit ist das Zeichen ihrer Wahrheit. Woran sie erinnern und was sie im Gedächtnis aufbewahren, erstreckt sich auf die Zukunft: Bilder einer Erfüllung,
welche die Gesellschaft auflösen würde, die sie unterdrückt.
Die große surrealistische Kunst der zwanziger und dreißiger
Jahre hat sie in ihrer subversiven und befreienden Funktion noch
einmal eingefangen. Aufs Geratewohl herausgegriffene Beispiele
aus dem literarischen Grundvokabular mögen die Reichweite
und Verwandtschaft dieser Bilder andeuten sowie die von ihnen
offenbarte Dimension: Seele und Geist und Herz; la recherche
de l'absolu, Les fleurs du mal, la femme-enfant; das Königreich
am Meer; Le bateau ivre und The Long-legged Bait; Ferne und
Heimat; aber auch Dämon Alkohol, Dämon Maschine und
Dämon Geld; Don Juan und Romeo; Baumeister Solneß und
Wenn wir Toten erwachen.
Ihre bloße Aufzählung zeigt, daß sie einer verlorenen Dimension angehören. Sie haben nicht nur deshalb ihre Kraft eingebüßt, weil sie literarisch veraltet sind. Einige dieser Bilder
gehören zur zeitgenössischen Literatur und überleben in ihren
avanciertesten Schöpfungen. Entkräftet wurde ihre subversive
Gewalt, ihr zerstörerischer Inhalt — ihre Wahrheit. Derart umgeformt, finden sie im Alltagsleben ihre Stätte. Die fremden und
entfremdenden Werke der geistigen Kultur werden zu vertrauten Gütern und Dienstleistungen. Bedeutet ihre massive
80
Reproduktion und Konsumtion nur einen quantitativen Wandel,
das heißt zunehmende Wertschätzung, zunehmendes Verständnis, eine Demokratisierung der Kultur?
Die Wahrheit von Literatur und Kunst war stets nur (wenn
überhaupt) zugelassen als die einer »höheren« Ordnung, welche
die Ordnung des Geschäfts nicht stören sollte und auch nicht
störte. Was sich in der gegenwärtigen Periode geändert hat, ist
die Differenz zwischen den beiden Ordnungen und ihren Wahrheiten. Die absorbierende Macht der Gesellschaft höhlt die
künstlerische Dimension aus, indem sie sich ihre antagonistischen
Inhalte angleicht. Im Bereich der Kultur manifestiert sich der
neue Totalitarismus gerade in einem harmonisierenden Pluralismus, worin die einander widersprechendsten Werke und Wahrheiten friedlich nebeneinander koexistieren.
Vor dieser kulturellen Versöhnung waren Literatur und Kunst
wesentlich Entfremdung, hielten den Widerspruch aus und bewahrten ihn — das unglückliche Bewußtsein der gespaltenen
Welt, der vereitelten Möglichkeiten, der unerfüllten Hoffnungen, der verratenen Versprechen. Sie waren eine rationale, eine
Kraft der Erkenntnis, die eine Dimension von Mensch und
Natur bloßlegte, die in der Wirklichkeit unterdrückt und verstoßen wurde. Ihre Wahrheit bestand im beschworenen Schein,
im Bestehen darauf, eine Welt zu schaffen, worin der Schrecken
des Lebens wachgerufen und suspendiert wurde — gemeistert
durch Anerkennung. Das ist die Wunderkraft des chef-d'oeuvre;
die bis zum Letzten ertragene Tragödie und das Ende der Tragödie — ihre unmögliche Lösung. Seiner Liebe und seinem Haß
zu leben, so zu leben, wie man ist, bedeutet Niederlage, Resignation und Tod. Die Verbrechen der Gesellschaft, die Hölle,
die der Mensch dem Menschen bereitet hat, werden zu unbesiegbaren kosmischen Mächten.
Die Spannung zwischen dem Wirklichen und dem Möglichen
wird zu einem unlösbaren Konflikt verklärt, in dem Versöhnung
kraft des Oeuvres als Form besteht: Schönheit als »promesse de
bonheur«. In der Form des Oeuvres werden die tatsächlichen
Umstände in eine andere Dimension versetzt, worin die gegebene Wirklichkeit sich als das erweist, was sie ist. Sie berichtet
so die Wahrheit über sich; ihre Sprache hört auf, die von Täu81
schung, Unwissenheit und Unterwerfung zu sein. Der Roman
nennt die Tatsachen beim Namen, und ihre Herrschaft bricht
zusammen; er untergräbt die Alltagserfahrung und zeigt, daß
sie verstümmelt und falsch ist. Kunst hat jedoch diese magische
Kraft nur als die Kraft der Negation. Sie kann ihre eigene
Sprache nur so lange sprechen, wie die Bilder lebendig sind,
welche die etablierte Ordnung ablehnen und widerlegen.
Flauberts Madame Bovary unterscheidet sich von ebenso traurigen Liebesgeschichten der zeitgenössischen Literatur durch die
Tatsache, daß das bescheidene Vokabular ihres Gegenstücks im
wirklichen Leben noch die Bilder der Heldin enthielt — dort las
man Geschichten, die solche Bilder noch enthielten. Ihre Angst
war verhängnisvoll, weil es keinen Psychoanalytiker gab, und
es gab keinen Psychoanalytiker, weil er in ihrer Welt außerstande gewesen wäre, sie zu heilen. Sie hätte ihn als einen Teil
der Ordnung von Yonville zurückgewiesen, die sie zerstörte.
Ihre Geschichte war »tragisch«, weil sie sich in einer rückständigen Gesellschaft abspielte mit einer noch nicht liberalisierten
Geschlechtsmoral und einer noch nicht institutionalisierten
Psychologie. Die Gesellschaft, die ihr Problem »gelöst« hat,
indem sie es unterdrückte, sollte erst noch kommen. Sicher wäre
es Unsinn zu sagen, daß ihre Tragödie oder die von Romeo und
Julia in der modernen Demokratie gelöst sei, aber es wäre
ebenso Unsinn, das geschichtliche Wesen der Tragödie zu leugnen. Die sich entwickelnde technologische Realität untergräbt
nicht nur die traditionellen Formen, sondern auch die gesamte
Grundlage der künstlerischen Entfremdung — das heißt, sie tendiert dazu, nicht nur bestimmte »Stile« zu entwerten, sondern
auch die Substanz der Kunst selbst.
Freilich ist Entfremdung nicht das einzige Charakteristikum
der Kunst. Eine Analyse oder auch nur Darlegung des Problems
geht über den Rahmen dieses Werks hinaus, aber einige Hinweise zur Klärung lassen sich geben. Während ganzer Perioden
der Zivilisation erscheint die Kunst als völlig in ihre Gesellschaft
integriert. Die ägyptische, griechische und gotische Kunst sind
bekannte Beispiele; auch werden Bach und Mozart gewöhnlich
als Belege für die »positive« Seite der Kunst angeführt. Der Ort
des Kunstwerks in einer vortechnischen und zweidimensionalen
82
Kultur ist sehr verschieden von dem in einer eindimensionalen
Zivilisation, aber Entfremdung charakterisiert affirmative
ebenso wie negative Kunst.
Der entscheidende Unterschied ist nicht der psychologische
zwischen Kunst, die in Freude und Kunst, die in Trauer geschaffen wurde, zwischen Gesundheit und Neurose, sondern der
zwischen der künstlerischen und der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Der Bruch mit der letzteren, ihr magisches oder rationales
Überschreiten, ist eine wesentliche Qualität selbst der affirmativsten Kunst; sie ist ferner gerade jener Öffentlichkeit entfremdet, der sie sich zuwendet. Ganz gleich, wie nahe und vertraut der Tempel oder die Kathedrale den Menschen waren, die
um sie herum lebten, sie verblieben in erschreckendem oder
erhebendem Gegensatz zum täglichen Leben des Sklaven, des
Bauern und des Handwerkers — und vielleicht sogar zu dem
ihrer Herren.
Ob ritualisiert oder nicht, enthält Kunst die Rationalität der
Negation. In ihren fortgeschrittenen Positionen ist sie die Große
Weigerung — der Protest gegen das, was ist. Die Weisen, in
denen die Menschen und Dinge dazu gebracht werden, zu
erscheinen, zu singen, zu tönen und zu sprechen, sind Weisen,
ihre tatsächliche Existenz zu widerlegen, zu durchbrechen und
neuzuschaffen. Aber diese Weisen der Negation zahlen der antagonistischen Gesellschaft Tribut, mit der sie verbunden sind.
Getrennt von der Sphäre der Arbeit, worin die Gesellschaft sich
und ihr Elend reproduziert, bleibt die von ihnen geschaffene
Welt der Kunst bei all ihrer Wahrheit ein Privileg und ein
Schein.
Trotz aller Demokratisierung und Popularisierung besteht sie
in dieser Form fort während des neunzehnten Jahrhunderts und
bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein. Die »hohe Kultur«, in
der diese Entfremdung gefeiert wird, hat ihre eigenen Riten und
ihren eigenen Stil. Der Salon, das Konzert, Oper und Theater
sind dazu bestimmt, eine andere Dimension der Wirklichkeit zu
schaffen und zu beschwören. Ihr Besuch erfordert feiertägliche
Vorbereitung; sie unterbrechen die Alltagserfahrung und transzendieren sie.
Jetzt wird diese wesentliche Kluft zwischen den Künsten und
83
der Forderung des Tages, die in der künstlerischen Entfremdung
offen gehalten wurde, durch die fortschreitende technologische
Gesellschaft immer mehr geschlossen. Und indem sie geschlossen
wird, wird die Große Weigerung ihrerseits verweigert; die
»Dimension des Anderen« wird vom herrschenden Zustand aufgesogen. Die Werke der Entfremdung werden selbst dieser Gesellschaft einverleibt und zirkulieren als wesentlicher Bestandteil
der Ausstattung, die den herrschenden Zustand ausschmückt und
psychoanalysiert. Sie werden so zu Reklameartikeln — sie lassen
sich verkaufen, sie trösten oder erregen.
Die neokonservativen Kritiker der linken Kritik an der
Massenkultur bespötteln, daß gegen Bach als Hintergrundmusik
in der Küche protestiert wird, gegen Platon und Hegel, Shelley
und Baudelaire, Marx und Freud im Kaufhaus. Stattdessen bestehen sie auf der Anerkennung der Tatsache, daß die Klassiker
das Mausoleum verlassen haben und wieder lebendig wurden,
daß die Menschen eben sehr viel gebildeter sind. Das stimmt,
aber indem sie als Klassiker lebendig werden, werden sie als
etwas anderes lebendig als sie waren; sie werden ihrer antagonistischen Kraft beraubt, der Entfremdung, worin gerade die
Substanz ihrer Wahrheit bestand. Absicht und Funktion dieser
Werke haben sich daher grundlegend geändert. Wenn sie einmal
zum Status quo in Widerspruch standen, so wird dieser Widerspruch jetzt eingeebnet.
Solche Angleichung ist jedoch historisch verfrüht; sie stellt
kulturelle Gleichheit her und behält die Herrschaft bei. Die Gesellschaft beseitigt die Vor- und Sonderrechte der feudal-aristokratischen Kultur mitsamt ihrem Inhalt. Die Tatsache, daß die
transzendierenden Wahrheiten der schönen Künste, die Ästhetik
von Leben und Denken nur den wenigen Wohlhabenden und
Gebildeten zugänglich waren, war der Mangel einer repressiven
Gesellschaft. Aber dieser Mangel wird nicht durch Paperbacks,
Allgemeinbildung, Langspielplatten und das Abschaffen feiertäglicher Kleidung in Theater und Konzertsaal behoben1. Die
kulturellen Privilegien drückten die Ungerechtigkeit der Freiheit
1 Kein Mißverständnis: an und für sich sind Paperbacks, Allgemeinbildung und
Langspielplatten durchaus erfreulich.
84
aus, den Widerspruch zwischen Ideologie und Wirklichkeit, die
Trennung geistiger von materieller Produktivität; sie gewährten
aber auch einen umhegten Bereich, in dem die tabuierten Wahrheiten in abstrakter Integrität überleben konnten — der Gesellschaft enthoben, die sie unterdrückte.
Jetzt ist diese Distanziertheit beseitigt — und mit ihr Transzendenz und Anklage. Text und Ton sind noch vorhanden,
aber die Distanz ist bewältigt, die sie zur »Luft von anderen
Planeten« machte2. Die künstlerische Entfremdung ist so funktional wie die Architektur der neuen Theater und Konzerthallen
geworden, in denen sie dargeboten wird. Und auch hier sind
Rationales und Schlechtes nicht zu trennen. Fraglos ist die neue
Architektur besser, das heißt schöner und praktischer als die
Monstrositäten der viktorianischen Ära. Aber sie ist auch »integrierter« — das Kulturzentrum wird zu einem geeigneten Teil
des Einkaufs-, Stadt- oder Regierungszentrums. Herrschaft hat
ihre eigene Ästhetik, und demokratische Herrschaft hat ihre
demokratische Ästhetik. Es ist gut, daß heute fast jeder die
schönen Künste in den Fingerspitzen haben kann, indem er einfach an einem Knopf seines Radios dreht oder ins nächste Kaufhaus geht. Bei dieser Verbreitung werden sie jedoch zu Zahnrädern einer Kulturmaschine, die ihren Inhalt ummodelt.
Die künstlerische Entfremdung erliegt mit den anderen Weisen der Negation dem Prozeß technologischer Rationalität. Der
Wandel offenbart seine Tiefe und das Maß, indem er unwiderruflich ist, wenn er als Ergebnis des technischen Fortschritts
angesehen wird. Die gegenwärtige Stufe bestimmt die Möglichkeiten von Mensch und Natur neu, gemäß den neuen Mitteln,
die ihrer Verwirklichung zu Gebote stehen, und in ihrem Licht
verlieren die vortechnischen Bilder ihre Macht.
Ihr Wahrheitswert hing weitgehend von einer unbegriffenen
und unbewältigten Dimension von Mensch und Natur ab, von
den engen Grenzen, die der Organisation und Manipulation
gesteckt waren, von dem »unauflöslichen Kern«, der sich der
Integration widersetzte. In der vollentwickelten Industriegesell2 Stefan George, in Arnold Schönbergs Quartett in fis-MolI. Cf. Th. W. Adorno,
Philosophie der neuen Musik, Tübingen 1949, S. 19 ff.
85
schaft wird dieser unauflösliche Kern immer mehr geschmälert.
Offenkundig hat die materielle Umgestaltung der Welt die geistige Umgestaltung ihrer Symbole, Bilder und Ideen im Gefolge.
Wenn Städte, Autobahnen und Naturschutzgebiete die Dörfer,
Täler und Wälder ersetzen, wenn Motorboote über die Seen
rasen und Flugzeuge den Himmel durchstoßen — dann verlieren
diese Bereiche offenkundig ihren Charakter als eine qualitativ
andere Wirklichkeit, als Gebiete des Widerspruchs.
Und da Widerspruch das Werk des Logos ist - die rationale
Konfrontation dessen, »was nicht ist«, mit dem, »was ist« -, muß
er ein Medium haben, worin er sich mitteilt. Der Kampf um
dieses Medium oder vielmehr der Kampf dagegen, daß es von
der herrschenden Eindimensionalität aufgesogen wird, tritt hervor in den avangardistischen Versuchen, eine Verfremdung zu
schaffen, welche die künstlerische Wahrheit wieder kommunizierbar machen soll.
Bertolt Brecht hat die theoretischen Grundlagen für diese
Anstrengungen skizziert. Der totale Charakter der bestehenden
Gesellschaft stellt den Dramatiker vor die Frage, »ob die heutige
Welt durch Theater überhaupt noch wiedergegeben werden
kann« — das heißt so, daß der Zuschauer die Wahrheit anerkennt, die das Stück übermitteln soll. Brecht antwortet, daß die
heutige Welt nur dann in dieser Weise wiedergegeben werden
kann, wenn sie als veränderbar wiedergegeben wird3 — als der
Zustand zu negierender Negativität. Das ist die Lehre, die gelernt, begriffen und nach der gehandelt werden muß; aber das
Theater ist Unterhaltung, Vergnügen, und das sollte es sein.
Unterhaltung und Lernen sind jedoch keine Gegensätze; Unterhaltung kann die wirksamste Art des Lernens sein. Um zu
lehren, was die heutige Welt hinter dem ideologischen und
materiellen Schleier wirklich ist und wie sie geändert werden
kann, muß das Theater die Identifikation des Zuschauers mit
den Ereignissen auf der Bühne durchbrechen. Nicht Einfühlung
und Empfindung, sondern Distanz und Reflexion sind erforderlich. Der »Verfremdungseffekt« soll diese Dissoziation bewirken,
in der die Welt als das anerkannt werden kann, was sie ist.
3 Bertolt Brecht, Schriften zum Theater, Berlin und Frankfurt, S. 7, 9.
86
»Alltägliche Dinge werden ... aus dem Bereich des Selbstverständlichen gehoben ...«.4 »Das >Natürliche< muß das Moment
des Auffälligen bekommen. Nur so können die Gesetze von
Ursache und Wirkung zu Tage treten.«5 Der »Verfremdungseffekt« wird der Literatur nicht von außen aufgenötigt. Er ist
vielmehr die Antwort der Literatur selbst auf ihre Bedrohung
durch den totalen Behaviorismus — der Versuch, die Rationalität
des Negativen zu retten. In diesem Versuch schließt sich der
große »Konservative« der Literatur dem radikalen Aktivisten
an. Paul Valéry besteht auf der unvermeidlichen Gebundenheit
der poetischen Sprache an die Negation. Die Verse dieser Sprache
»ne parlent jamais que de choses absentes«.6 Sie sprechen von
dem, was - wenn auch abwesend - das bestehende Universum
von Sprache und Verhalten als dessen tabuierteste Möglichkeit
heimsucht — weder Himmel noch Hölle, weder Gut noch Böse,
sondern einfach »le bonheur«. Damit spricht die dichterische
Sprache von dem, was von dieser Welt ist, was in Mensch und
Natur sichtbar, fühlbar, hörbar ist — und von dem, was nicht
gesehen, nicht berührt, nicht gehört wird.
Indem sie ein Medium schafft und sich in ihm bewegt, worin
das Abwesende dargestellt wird, ist die dichterische Sprache eine
der Erkenntnis — aber einer Erkenntnis, die das Positive unterhöhlt. In ihrer Erkenntnisfunktion kommt Dichtung der großen
Aufgabe des Denkens nach: »le travail qui fait vivre en nous ce
qui n'existe pas«.7
Die »abwesenden Dinge« nennen, heißt den Bann der seienden Dinge brechen; es liegt darin ferner, daß eine andere Ordnung der Dinge in die bestehende eindringt — »le commencement
d'un monde«.8
Weil sie diese andere Ordnung ausdrückt - Transzendenz
innerhalb der einen Welt -, hängt die dichterische Sprache von
den transzendenten Elementen der Alltagssprache ab9. Die totale
4
5
6
7
8
9
Ibid., S. 76 f.
Ibid., S. 63.
Paul Valéry, »Poésie et pensée abstraite«, in: Oeuvres, Band l, Paris 1957, S. 1324.
»die Anstrengung, die in uns leben macht, was nicht existiert«. Ibid., S. 1333.
Ibid., S. 1327 (mit Bezug auf die Sprache der Musik).
Cf. Kapitel 7.
87
Mobilisation aller Medien zur Verteidigung der bestehenden
Wirklichkeit hat jedoch die Ausdrucksmittel derart gleichgeschaltet, daß die Mitteilung transzendierender Inhalte technisch unmöglich wird. Das Gespenst, von dem das künstlerische
Bewußtsein seit Mallarmé heimgesucht worden ist — die Unmöglichkeit, eine nichtverdinglichte Sprache zu sprechen, das Negative mitzuteilen, hat aufgehört, ein Gespenst zu sein. Es hat
Gestalt angenommen.
Die wahrhaft avantgardistischen Werke der Literatur kommunizieren den Bruch mit der Kommunikation. Mit Rimbaud und
dann im Dadaismus und Surrealismus weist die Literatur gerade
jene Struktur der Rede zurück, die während der gesamten Kulturgeschichte künstlerische und Alltagssprache verbunden hat.
Das Satzsystem10 (mit dem Satz als seiner Bedeutungseinheit)
war das Medium, worin die beiden Dimensionen der Wirklichkeit sich treffen, kommunizieren und kommuniziert werden
konnten. Die erhabenste Dichtung und die gemeinste Prosa hatten teil an diesem Ausdrucksmedium. Die moderne Dichtung
jedoch »détruisait les rapports du langage et ramenait le discours
à des stations de mots«.11
Das Wort verweigert sich der vereinheitlichenden, vernünftigen Herrschaft des Satzes. Es sprengt die im voraus festgelegte
Struktur der Bedeutung und bezeichnet, indem es ein »absolutes
Objekt« wird, ein unerträgliches, sich selbst zunichte machendes
Universum — ein Diskontinuum. Diese Umwälzung der sprachlichen Struktur schließt eine Umwälzung der Erfahrung von
Natur ein:
»La nature devient un discontinu d'objets solitaires et terribles,
parce qu'ils n'ont que des liaisons virtuelles; personne ne choisit
pour eux un sens privilégié ou un emploi ou un service, personne ne les réduit à la signification d'un comportement mental ou d'une intention, c'est-à-dire finalement d'une tendresse.
... Ces mots-objets sans liaison, parés de toute la violence de
leur éclatement ... ces mots poétiques excluent les hommes;
10 Cf. Kapitel 5.
11 »zerstörte die Beziehungen in der Sprache und führte die Rede auf Wortstationen
zurück.« Roland Barthes, Le Degré Zéro de l'Ecriture, Paris 1953; dt.: Am Nullpunkt der Literatur, Hamburg 1959, S. 50 (Hervorhebung vom Verfasser).
88
il n'y a pas d'humanisme poétique de la modernité: ce discours
debout est un discours plein de terreur, c'est-à-dire qu'il met
l'homme en liaison non pas avec les autres hommes, mais avec
les images les plus inhumaines de la nature; le ciel, l'enfer, le
sacré, l'enfance, la folie, la matière pure, etc«.12
Der traditionelle Stoff der Kunst (Bilder, Harmonien, Farben)
kehrt nur wieder in »Zitaten«, Überbleibseln eines vergangenen
Sinnes in einem Zusammenhang von Verweigerung. So sind die
surrealistischen Gemälde
»der Inbegriff dessen, was die Sachlichkeit mit einem Tabu zudeckt, weil es sie an ihr eigenes dinghaftes Wesen gemahnt und
daran, daß sie nicht damit fertig wird, daß ihre Rationalität
irrational bleibt. Der Surrealismus sammelt ein, was die Sachlichkeit den Menschen versagt; die Entstellungen bezeugen,
was das Verbot dem Begehrten antat. Durch sie errettete er
das Veraltete, ein Album von Idiosynkrasien, in denen der
Glückanspruch verraucht, den die Menschen in ihrer eigenen
technifizierten Welt verweigert finden«.13
Oder das Werk von Bertolt Brecht bewahrt die in Romanze und
Kitsch (Mondschein und das blaue Meer; Melodie und süße Heimat; Treue und Liebe) enthaltene »promesse de bonheur«, indem
es sie in ein politisches Ferment überführt. Seine Gestalten singen
von verlorenen Paradiesen und unvergeßlicher Hoffnung (»Siehst
du den Mond über Soho, Geliebter?«, »Jedoch eines Tages, und
der Tag war blau«, »Zuerst war es immer Sonntag«, »Und ein
Schiff mit acht Segeln«, »Alter Bilbao Mond, Da wo noch Liebe
12 Die Natur wird . . . ein Nichtzusammenhängendes von Objekten, die einsam und
furchtbar sind, weil sie nur mögliche Verbindungen besitzen; niemand wählt für
sie einen bestimmten Sinn, einen vor anderen privilegierten Gebrauch oder Dienst,
. . . niemand reduziert sie auf das Bedeuten eines geistigen Verhaltens oder einer
Absicht, das heißt letztlich einer Zärtlichkeit . . . Diese Objektworte ohne Verbindung, die mit der ganzen Gewalt ihres Zerspringens geschmückt sind . . . ,
diese lyrischen Worte schließen die Menschen aus: es gibt keinen lyrischen Humanismus der Modernität ; dieser Diskurs ist voller Schrecken, das heißt, daß er den
Menschen nicht in Verbindung mit den anderen Menschen setzt, sondern mit den
unmenschlichsten Bildern der Natur: dem Himmel, der Hölle, dem Heiligen, der
Kindheit, dem Wahnsinn, der reinen Materie etc. Ibid.
13 Th. W. Adorno, Noten zur Literatur, Berlin und Frankfurt 1958, S. 160.
89
lohnt«) — und das Lied ist eines von Grausamkeit und Gier,
Ausbeutung, Betrug und Lüge. Die Getäuschten singen von
ihrer Täuschung, aber sie erfahren deren Ursachen (oder haben
sie erfahren), und nur, indem sie die Ursachen erfahren (und wie
sie zu bewältigen sind), gelangen sie wieder zur Wahrheit ihres
Traums.
Die Anstrengungen, die Große Weigerung in der Sprache der
Literatur wiederzugewinnen, erleiden das Schicksal, von dem
absorbiert zu werden, was sie widerlegen. Als moderne Klassiker
haben die Avantgardisten und Beatniks an der Funktion teil zu
unterhalten, ohne das gute Gewissen der Menschen guten Willens
zu gefährden. Diese Absorption wird durch den technischen Fortschritt gerechtfertigt und die Weigerung widerlegt durch die Linderung des Elends in der fortgeschrittenen Industriegesellschaft.
Die Liquidation der hohen Kultur ist ein Nebenprodukt des
Sieges über die Natur und der fortschreitenden Bewältigung des
Mangels.
Indem diese Gesellschaft die festgehaltenen Bilder der Transzendenz dadurch entkräftet, daß sie sie ihrer allgegenwärtigen
täglichen Realität einverleibt, bezeugt sie das Ausmaß, in dem
unlösbare Konflikte behandelt werden können — in dem Tragödie und Romanze, archetypische Träume und Ängste für eine
technische Lösung und Auflösung empfänglich gemacht werden.
Der Psychiater kümmert sich um die Don Juans, Romeos, Hamlets und Fauste, indem er sich um Oedipus kümmert — er heilt sie.
Die Herren der Welt verlieren ihre metaphysischen Züge. Ihr
Auftreten im Fernsehen, auf Pressekonferenzen, im Parlament
und bei öffentlichen Kundgebungen ist kaum für ein Drama geeignet, das über das der Reklame14 hinausgeht, während die
Konsequenzen ihres Handelns den Rahmen des Dramas überschreiten.
Die Rezepte zur Unmenschlichkeit und Ungerechtigkeit werden von einer rationell organisierten Bürokratie verabfolgt, die
jedoch in ihrem eigentlichen Zentrum unsichtbar ist. Die Seele
enthält wenige Geheimnisse und Sehnsüchte, die nicht vernünftig
14 Der sagenhafte revolutionäre Held, der selbst Fernsehen und Presse trotzen kann,
existiert noch - seine Welt ist die der »unterentwickelten« Länder.
90
diskutiert und analysiert werden können, über die man nicht abstimmen kann. Einsamkeit, diejenige Bedingung, die dem Individuum gegen seine Gesellschaft und jenseits ihrer Stärke verlieh,
ist technisch unmöglich geworden. Logische und sprachliche Analyse beweisen, daß die alten metaphysischen Probleme Scheinprobleme sind; das Verlangen nach dem »Sinn« der Dinge läßt
sich als das nach dem Sinn von Wörtern neuformulieren, und das
bestehende Universum von Sprache und Verhalten kann der
Antwort völlig hinreichende Kriterien bieten.
Es handelt sich um ein rationales Universum, das aufgrund des
bloßen Gewichts und der Leistungsfähigkeit seines Apparats jedes
Entrinnen vereitelt. In ihrer Beziehung zur Realität des täglichen
Lebens bestand die hohe Kultur der Vergangenheit in mancherlei
— in Opposition und Ausschmückung, in Aufschrei und Resignation. Aber sie war auch die Erscheinung des Reichs der Freiheit:
die Weigerung, sich zusammen zu nehmen. Einer solchen Weigerung läßt sich kein Riegel vorschieben, ohne daß ein Ersatz
gewährt würde, der befriedigender scheint als die Weigerung.
Die Bewältigung und Vereinigung der Gegensätze, die in der
Transformation von höherer in populäre Kultur ideologisch verklärt wird, findet statt auf einem materiellen Boden erhöhter
Befriedigung. Dieser ist es denn auch, der eine durchgreifende
Entsublimierung gestattet.
Künstlerische Entfremdung ist Sublimierung. Sie bringt die
Bilder von Zuständen hervor, die mit dem bestehenden Realitätsprinzip unvereinbar sind, die aber als Bilder der Kultur erträglich, ja erhebend und nützlich werden. Jetzt wird diese Bilderwelt außer Kraft gesetzt. Ihre Einverleibung in die Küche, das
Büro und den Laden, ihre kommerzielle Freigabe an Geschäft
und Vergnügen ist in gewissem Sinne eine Entsublimierung —
vermittelter Genuß wird durch unmittelbaren ersetzt. Aber es ist
eine Entsublimierung, die von einer »Position der Stärke« seitens
der Gesellschaft ausgeübt wird, die es sich leisten kann, mehr als
früher zu gewähren, weil ihre Interessen zu den innersten Trieben ihrer Bürger geworden sind und weil die von ihr gewährten
Freuden sozialen Zusammenhalt und Zufriedenheit befördern.
Das Lustprinzip absorbiert das Realitätsprinzip; die Sexualität wird in gesellschaftlich aufbauenden Formen befreit (oder
91
vielmehr liberalisiert). Dieser Gedanke schließt ein, daß es
repressive Weisen von Entsublimierung gibt15, im Vergleich zu
denen die sublimierten Triebe und Ziele mehr Abweichung, mehr
Freiheit und mehr Weigerung enthalten, die gesellschaftlichen
Tabus zu beachten. Es scheint, daß eine solche repressive Entsublimierung in der sexuellen Sphäre tatsächlich vor sich geht, und
hier erscheint sie, wie bei der Entsublimierung der höheren Kultur, als das Nebenprodukt der gesellschaftlichen Kontrollen über
die technologische Wirklichkeit, welche die Freiheit erweitern
und dabei die Herrschaft intensivieren. Die Verbindung von
Entsublimierung und technologischer Gesellschaft läßt sich vielleicht dadurch am besten verdeutlichen, daß man den Wechsel
im gesellschaftlichen Gebrauch von Triebenergie erörtert.
In dieser Gesellschaft ist nicht die gesamte auf Mechanismen
verwandte und mit ihnen verbrachte Zeit Arbeitszeit (das heißt
unangenehme, aber notwendige Mühe), und nicht die gesamte
durch die Maschine eingesparte Energie ist Arbeitskraft. Die Mechanisation hat auch Libido »eingespart«, die Energie der Lebenstriebe — das heißt, sie hat sie von früheren Weisen ihrer Verwirklichung abgesperrt. Darin besteht der Wahrheitskern des romantischen Gegensatzes zwischen dem modernen Reisenden und
dem wandernden Dichter oder Handwerker, zwischen Fließband
und Kunsthandwerk, Stadt und Land, Brot, das in der Fabrik
produziert wurde, und dem selbstgebackenen Laib, dem Segelboot und dem Außenbordmotor usw. Sicher war diese romantische, vortechnische Welt durchdrungen von Elend, harter Arbeit
und Schmutz, die wiederum den Hintergrund alles Vergnügens
und aller Freude abgaben. Und doch gab es eine »Landschaft«,
ein Medium lustbetonter Erfahrung, das nicht mehr existiert.
Mit seinem Verschwinden (das selbst eine historische Voraussetzung des Fortschritts ist) wurde eine ganze Dimension menschlicher Aktivität und Passivität enterotisiert. Die Umgebung, von
der das Individuum Lust empfangen konnte - die es als Genuß
gewährende fast wie erweiterte Körperzonen besetzen konnte wurde streng beschnitten. Damit reduziert sich gleichermaßen
15 Cf. mein Buch Eros and Zivilisation, Boston 1954, dt. Triebstruktur und Gesellschaft, Frankfurt 1965, besonders Kapitel X.
92
das »Universum« libidinöser Besetzung. Die Folge ist eine Lokalisierung und Kontraktion der Libido, die Reduktion erotischer
auf sexuelle Erfahrung und Befriedigung16.
Man vergleiche zum Beispiel das verliebte Treiben auf einer
Wiese und in einem Auto, bei einem Spaziergang der sich Liebenden außerhalb der Stadtmauern oder auf einer Straße von
Manhattan. In den erstgenannten Fällen hat die Umgebung teil
an der libidinösen Besetzung, kommt ihr entgegen und tendiert
dazu, erotisiert zu werden. Die Libido geht über die unmittelbar
erogenen Zonen hinaus — ein Vorgang nichtrepressiver Sublimierung. Demgegenüber scheint eine mechanisierte Umgebung ein
solches Selbstüberschreiten der Libido zu unterbinden. Bedrängt
in ihrem Bestreben, den Bereich erotischen Genusses zu erweitern, wird die Libido weniger »polymorph«, weniger der Erotik
jenseits lokalisierter Sexualität fähig, und diese wird gesteigert.
Indem sie derart die erotische Energie herabmindert und die
sexuelle intensiviert, beschränkt die technologische Wirklichkeit
die Reichweite der Sublimierung. Sie verringert ebenso das Bedürfnis nach Sublimierung. Im seelischen Apparat scheint die
Spannung zwischen dem Ersehnten und dem Erlaubten beträchtlich herabgesetzt, und das Realitätsprinzip scheint keine durchgreifende und schmerzhafte Umgestaltung der Triebbedürfnisse
mehr zu erfordern. Das Individuum muß sich einer Welt anpassen, die die Verleugnung seiner innersten Bedürfnisse nicht zu
verlangen scheint — eine Welt, die nicht wesentlich feindlich ist.
Der Organismus wird so präpariert, das Gebotene spontan
hinzunehmen. Insofern, als die größere Freiheit eher eine Kontraktion als eine Erweiterung und Entwicklung der Triebbedürfnisse mit sich bringt, arbeitet sie eher für als gegen den Status
quo allgemeiner Repression — man könnte von »institutionalisierter Entsublimierung« sprechen. Letztere scheint ein sehr wichtiger Faktor beim Entstehen des autoritären Charakters unserer
Zeit.
Es ist oft festgestellt worden, daß die fortgeschrittene industrielle Zivilisation mit einem höheren Grad an sexueller Freiheit
16 Gemäß der in den Spätwerken Freuds benutzten Terminologie: Sexualität als
»spezialisierter« Partialtrieb, Eros als der des Gesamtorganismus.
93
operiert — in dem Sinne »operiert«, daß letztere ein Marktwert
und ein Faktor gesellschaftlicher mores wird. Ohne daß er aufhört, ein Arbeitsinstrument zu sein, wird es dem Körper gestattet,
seine sexuellen Züge in der alltäglichen Arbeitswelt und in den
Arbeitsbeziehungen zur Schau zu stellen. Darin besteht eine der
einzigartigen Leistungen der Industriegesellschaft — ermöglicht
durch die Abnahme von schmutziger und schwerer körperlicher
Arbeit; dadurch, daß billige, attraktive Kleidung, Kosmetik und
Körperhygiene vorhanden sind; durch die Erfordernisse der Anzeigenindustrie usw. »Sexy« Büro- und Ladenmädchen, der
ansprechende, virile Juniorchef und der Verkäufer, sind höchst
marktgängige Waren, und der Besitz geeigneter Mätressen - einmal das Vorrecht von Königen, Fürsten und Lords - erleichtert
die Karriere selbst der weniger hochstehenden Ränge in der
Geschäftswelt.
Der sich künstlerisch gebende Funktionalismus befördert diesen Trend. Geschäfte und Büros gewähren Einblick durch riesige
Glasfenster und stellen ihr Personal aus; im Innern zeigen sich
hohe Kassenschalter und undurchsichtige Scheidewände. Die Zerstörung der Privatsphäre in Appartementhäusern und Vorstadtheimen hebt die Schranken auf, die das Individuum früher vom
öffentlichen Dasein trennten, und stellt die attraktiven Qualitäten anderer Ehefrauen und Ehemänner leichter zur Schau.
Diese Sozialisierung widerspricht der Enterotisierung der Umwelt nicht, sondern ergänzt sie. Das Sexuelle wird in die Arbeitsbeziehungen und die Werbetätigkeit eingegliedert und so
(kontrollierter) Befriedigung zugänglich gemacht. Technischer
Fortschritt und ein bequemeres Leben gestatten, die libidinösen
Komponenten in den Bereich von Warenproduktion und -austausch systematisch aufzunehmen. Aber wie kontrolliert die Mobilisierung der Triebenergie auch sein mag (sie läuft mitunter auf
ein wissenschaftliches Management der Libido hinaus), wie sehr
sie auch als Stütze des Status quo dienen mag — sie verschafft
den manipulierten Individuen auch einen Genuß, ganz wie es
Spaß macht, im Motorboot davonzurasen, einen elektrischen
Rasenmäher zu schieben, ein Auto auf Touren zu bringen.
Auf diese Mobilisierung und Verwaltung der Libido mag die
freiwillige Unterwürfigkeit, das Fehlen von Terror und die
94
prästabilierte Harmonie zwischen individuellen und gesellschaftlich erforderlichen Bedürfnissen, Zielen und Bestrebungen in hohem Maße zurückzuführen sein. Die technische und politische
Bewältigung der transzendierenden Faktoren im menschlichen
Dasein, die für die fortgeschrittene industrielle Zivilisation so
charakteristisch ist, setzt sich hier in der Triebsphäre durch: Befriedigung auf eine Weise, die Unterwerfung hervorbringt und
die Rationalität des Protestes schwächt.
Die Reichweite gesellschaftlich statthafter und wünschenswerter
Befriedigung nimmt erheblich zu; aber auf dem Wege dieser
Befriedigung wird das Lustprinzip reduziert — seiner Ansprüche
beraubt, die mit der bestehenden Gesellschaft unvereinbar sind.
Derart angepaßt, erzeugt Lust Unterwerfung.
Im Gegensatz zu den Vergnügungen der angepaßten Entsublimierung bewahrt die Sublimierung das Bewußtsein der Versagungen, die die repressive Gesellschaft dem Individuum auferlegt, und hält damit an dem Bedürfnis nach Befreiung fest.
Freilich wird alle Sublimierung durch die Macht der Gesellschaft
erzwungen, aber das unglückliche Bewußtsein dieser Macht
durchbricht bereits die Entfremdung. Freilich nimmt alle Sublimierung die gesellschaftliche Schranke der Triebbefriedigung hin,
aber sie überschreitet diese Schranke auch.
Indem das Über-Ich das Unbewußte zensiert und dem Individuum ein Gewissen einimpft, zensiert es auch den Zensor, weil
das entwickelte Gewissen den verbotenen bösen Akt nicht nur
im Individuum selbst, sondern auch in seiner Gesellschaft registriert. Umgekehrt bewirkt der Verlust des Gewissens infolge
zufriedenstellender Freiheiten, die eine unfreie Gesellschaft gewährt, ein glückliches Bewußtsein (happy consciousness), was die
Hinnahme der Untaten dieser Gesellschaft erleichtert. Er ist ein
Zeichen schwindender Autonomie und Einsicht. Sublimierung erfordert ein hohes Maß an Autonomie und Einsicht; sie vermittelt
zwischen Bewußtem und Unbewußtem, zwischen primären und
sekundären Vorgängen, zwischen Intellekt und Trieb, Versagung
und Rebellion. In ihren vollendetsten Weisen, wie im Kunstwerk,
wird Sublimierung zur Erkenntniskraft, welche die Unterdrükkung besiegt, indem sie sich ihr beugt.
Im Licht der Erkenntnisfunktion dieser Weise von Sublimie95
rung enthüllt die in der fortgeschrittenen Industriegesellschaft
um sich greifende Entsublimierung ihre wahrhaft konformistische
Funktion. Diese Befreiung der Sexualität (und Aggressivität)
befreit die Triebe weitgehend von dem Unglück und Unbehagen,
welche die repressive Gewalt der bestehenden Welt der Befriedigung erhellen. Freilich gibt es Unglück, das durchdringt,
und das glückliche Bewußtsein ist brüchig genug — eine dünne
Oberfläche über Angst, Frustration und Ekel. Dieses Unglück
gibt sich leicht politischer Mobilisierung her; ohne Raum zu bewußter Entwicklung, kann es zum Triebreservoir für eine neue
faschistische Weise zu leben und zu sterben werden. Aber es gibt
viele Wege, auf denen das unter dem glücklichen Bewußtsein
schwelende Unglück in eine Quelle von Stärke und Zusammenhalt für die gesellschaftliche Ordnung verwandelt werden kann.
Die Konflikte des unglücklichen Individuums scheinen jetzt einer
Heilung weitaus zugänglicher als jene, die Freuds »Unbehagen
in der Kultur« bewirkten, und sie scheinen unter dem Aspekt
der »neurotischen Persönlichkeit unserer Zeit« (K. Horney)
angemessener bestimmt als unter dem des ewigen Kampfes
zwischen Eros und Thanatos.
Die Weise, in der kontrollierte Entsublimierung die Triebrevolte gegen das bestehende Realitätsprinzip schwächen kann,
läßt sich erhellen an dem Gegensatz zwischen der Darstellung
der Sexualität in der klassischen und romantischen Literatur und
in unserer Gegenwartsliteratur. Wählt man unter den vielen
Werken, die ihrer ganzen Substanz und inneren Form nach vom
erotischen Engagement bestimmt sind, solche wesentlich verschiedenen Beispiele aus wie Racines Phädra, Goethes Wahlverwandtschaften, Baudelaires Blumen des Bösen, Tolstois Anna Karenina,
so erscheint die Sexualität übereinstimmend in hochsublimierter,
»vermittelter«, reflektierter Form - aber in dieser Form ist sie
absolut, kompromißlos, bedingungslos. Der Herrschaftsbereich
des Eros ist seit Anbeginn ebenso der des Thanatos. Erfüllung
ist Zerstörung, nicht in einem moralischen oder soziologischen,
sondern in einem ontologischen Sinne. Sie ist jenseits von Gut
und Böse, jenseits gesellschaftlicher Moral und bleibt so jenseits
der Reichweite des bestehenden Realitätsprinzips, das von diesem Eros abgelehnt und gesprengt wird.
96
Demgegenüber greift entsublimierte Sexualität bei O'Neills
Alkoholikern und den Losgelassenen Faulkners um sich, in der
Endstation Sehnsucht und unter dem Heißen Blechdach, in Lolita,
in all den Geschichten von Orgien in Hollywood und New York
und den Abenteuern vorstädtischer Hausfrauen. Das ist unendlich realistischer, gewagter, hemmungsloser. Es ist fester Bestandteil der Gesellschaft, in der es sich ereignet, aber nirgendwo ihre
Negation. Was geschieht, ist sicherlich wild und obszön, männlich und deftig, ganz unmoralisch — und eben deshalb völlig
harmlos.
Befreit von der sublimierten Form, die gerade das Zeichen
ihrer unversöhnlichen Träume war - eine Form, die im Stil, in
der Sprache sich ausprägt, in der die Geschichte erzählt wird -,
verwandelt Sexualität sich in ein Vehikel der Bestseller der Unterdrückung. Von keiner der »sexy« Frauen in der zeitgenössischen Literatur ließe sich sagen, was Balzac von der Hure Esther
sagt: daß sie von einer Zartheit war, die nur in der Unendlichkeit blüht. Diese Gesellschaft verwandelt alles, was sie berührt,
in eine potentielle Quelle von Fortschritt und Ausbeutung, von
schwerer Arbeit und Befriedigung, von Freiheit und Unterdrükkung. Die Sexualität bildet keine Ausnahme.
Die Vorstellung kontrollierter Entsublimierung würde die
Möglichkeit einschließen, daß gleichzeitig unterdrückte Sexualität
und Aggressivität freigesetzt werden, eine Möglichkeit, die mit
Freuds Begriff des festen Quantums an Triebenergie unvereinbar
scheint, die zur Verteilung auf die beiden Primärtriebe verfügbar ist. Nach Freud würde die Stärkung der Sexualität (Libido)
notwendig eine Schwächung der Aggressivität nach sich ziehen
und umgekehrt. Wäre jedoch die gesellschaftlich erlaubte und
ermutigte Freisetzung der Libido die von partieller und lokalisierter Sexualität, so liefe sie faktisch darauf hinaus, die erotische Energie zu komprimieren, und diese Entsublimierung wäre
mit dem Anwachsen unsublimierter wie sublimierter Formen
der Aggressivität vereinbar. Letztere greift in der gegenwärtigen
Industriegesellschaft um sich.
Hat sie einen Grad von Normalisierung erreicht, bei dem sich
die Individuen an das Risiko ihrer eigenen Auflösung und Vernichtung im Sinne normaler nationaler Bereitschaft gewöhnt ha97
ben? Oder geht diese Fügsamkeit gänzlich auf ihre Ohnmacht
zurück, viel auszurichten? Auf jeden Fall ist das Risiko vermeidbarer, von Menschen herbeigeführter Zerstörung zum normalen Rüstzeug im seelischen wie materiellen Haushalt der Menschen geworden, so daß es nicht mehr dazu dienen kann, das
bestehende Gesellschaftssystem anzuklagen oder zu widerlegen.
Mehr noch, als Teil ihres täglichen Haushalts kann es sie sogar
an dieses System binden. Der ökonomische und politische Zusammenhang zwischen dem absoluten Feind und dem hohen
Lebensstandard (und dem gewünschten Beschäftigungsstand!) ist
durchsichtig genug, aber auch rational genug, um akzeptiert zu
werden.
Angenommen, daß der Destruktionstrieb (in letzter Instanz:
der Todestrieb) eine große Komponente der Energie bildet,
welche die technische Unterjochung von Mensch und Natur speist,
dann scheint es, daß die zunehmende Kapazität der Gesellschaft,
den technischen Fortschritt zu manipulieren, auch ihre Kapazität
erhöht, diesen Trieb zu manipulieren und zu kontrollieren, das
heißt »produktiv« zu befriedigen. Damit würde der soziale Zusammenhalt an den tiefsten Triebwurzeln gestärkt. Das höchste
Risiko und selbst die Tatsache des Krieges träfe nicht nur mit
hilfloser Hinnahme, sondern auch mit triebmäßiger Billigung
seitens der Opfer zusammen. Auch hier hätten wir kontrollierte
Entsublimierung.
Institutionalisierte Entsublimierung erscheint so als ein Aspekt
der »Bewältigung der Transzendenz«, wie die eindimensionale
Gesellschaft sie erreicht hat. Ganz wie diese Gesellschaft im Bereich
der Politik und höheren Kultur dazu tendiert, die Opposition
(die qualitative Differenz!) abzubauen, ja aufzusaugen, so auch
in der Triebsphäre. Das Ergebnis ist ein Absterben der geistigen
Organe, die Widersprüche und Alternativen zu erfassen, und in
der einen verbleibenden Dimension technologischer Rationalität
gelangt das Glückliche Bewußtsein zur Vorherrschaft.
Es reflektiert den Glauben, daß das Wirkliche vernünftig ist
und daß das bestehende System trotz allem die Güter liefert.
Die Menschen werden dazu gebracht, im Produktionsapparat
das wirksame Subjekt von Denken und Handeln zu finden, dem
ihr persönliches Denken und Handeln sich ausliefern kann und
98
muß. Und bei dieser Übertragung nimmt der Apparat die Rolle
einer moralischen Instanz an. Das Gewissen wird durch die Verdinglichung freigesprochen, durch die allgemeine Notwendigkeit
der Dinge.
In dieser allgemeinen Notwendigkeit hat Schuld keine Stätte.
Ein Mensch kann das Zeichen geben, das hunderte und tausende
von Menschen liquidiert, sich danach von allen Gewissensbissen
frei erklären und glücklich weiter leben. Die antifaschistischen
Mächte, die den Faschismus auf den Schlachtfeldern besiegten,
holen die Ernte der Errungenschaften nazistischer Wissenschaftler, Generäle und Ingenieure ein; sie haben den historischen
Vorteil der später Kommenden. Was als der Schrecken der Konzentrationslager begann, verwandelt sich in die Praxis, Menschen für abnorme Bedingungen zu trainieren — ein unterirdisches Dasein und tägliches Einnehmen radioaktiver Nahrung.
Ein Geistlicher erklärt, daß es christlichen Prinzipien nicht zuwiderläuft, seinen Nachbarn mit allen verfügbaren Mitteln daran
zu hindern, den eigenen Luftschutzbunker zu betreten. Ein anderer Geistlicher widerspricht seinem Kollegen und sagt, daß ein
solches Handeln christlichen Prinzipien doch zuwiderläuft. Wer
hat recht? Wiederum gibt sich die Neutralität technologischer
Rationalität gegenüber aller Politik zu erkennen und wiederum
als unecht; denn in beiden Fällen dient sie der Politik der
Herrschaft.
»Die Welt der Konzentrationslager . . . war keine besonders
entsetzliche Gesellschaft. Was wir dort sahen, war das Bild, in
gewissem Sinne die Quintessenz der höllischen Gesellschaft, in
der wir jeden Tag stecken«.17
Es scheint, daß selbst die scheußlichsten Vergehen sich derart
verdrängen lassen, daß sie, was alle praktischen Zwecke angeht,
aufgehört haben, eine Gefahr für die Gesellschaft zu bilden.
17 E. Ionesco, in: Nouvelle Revue Française, Juli 1956, zitiert in: London Times
Literary Supplement, 4. März 1960. Herman Kahn schlägt in einer RAND-Studie
von 1959 (RM-2206-RC) vor, es »sollte eine Studie hinsichtlich des Überlebens von
Bevölkerungen durchgeführt werden, die sich in Umgebungen befinden, die denen
überfüllter Bunker ähnlich sind (Konzentrationslager, die russische und deutsche
Verwendung überfüllter Güterwagen, überfüllte Strafanstalten . . . usw.). Einige
nützliche, richtungweisende Prinzipien könnten gefunden und dem Bunkerprogramm angepaßt werden«.
99
Oder wenn ihr Hervorbrechen im Individuum zu funktionellen
Störungen führt (wie im Fall des einen Piloten von Hiroshima),
stört es nicht das Funktionieren der Gesellschaft. Ein Irrenhaus
nimmt sich der Störung an.
Das Glückliche Bewußtsein ist schrankenlos — es arrangiert
Spiele mit Tod und Verstümmelung, bei denen Vergnügen,
»teamwork« und strategische Bedeutung sich zu einer lohnenden
gesellschaftlichen Harmonie vermischen. Die RAND Corporation,
die Gelehrsamkeit, Forschung, Militär, Klima und gutes Leben
verbindet, berichtet über solche Spiele in einem Stil von allem
freisprechender Klugheit in ihren »RANDom News«, Band 9,
Nr l, unter dem Titel BESSER SICHER ALS UNGLÜCKLICH. Die
Raketen sausen, die H-Bombe wartet, und die Raumflüge werden
durchgeführt, und das Problem ist, »wie die Nation und die
freie Welt zu schützen seien«. Bei alledem sind die militärischen
Planer beunruhigt; »denn die Kosten, wenn man's drauf ankommen läßt, experimentiert und einen Fehler macht, können furchtbar hoch sein«. Aber hier kommt RAND zum Zuge; RAND schafft
Abhilfe, und »Devisen wie RAND GEHT AUF SICHER kommen ins
Bild«. Das Bild, in das sie kommen, wird nicht klassifiziert. Es
ist ein Bild, auf dem »die Welt eine Landkarte wird, Raketengeschosse zu bloßen Symbolen werden [lang lebe die besänftigende Kraft des Symbolismus!], und Kriege nur [nur!] Pläne
und Berechnungen auf dem Papier sind . . .« Mit diesem Bild hat
RAND die Welt in ein interessantes technologisches Spiel überführt, und man kann sich entspannen - die »militärischen Planer
können wertvolle >synthetische< Erfahrung ohne Risiko gewinnen«.
BEIM SPIEL
Um das Spiel zu verstehen, sollte man an ihm teilnehmen;
denn Verstehen liegt »in der Erfahrung«.
Weil SICHERE Spieler fast aus jeder Abteilung bei RAND wie
auch aus der Luftwaffe hervorgegangen sind, könnten wir bei
der Blauen Mannschaft einen Physiker, einen Ingenieur und
einen Wirtschaftler antreffen. Die Rote Mannschaft wird einen
ähnlichen Querschnitt darstellen.
Der erste Tag wird mit einer gemeinsamen Besprechung darüber zugebracht, worum es sich bei dem Spiel handelt, sowie
IOO
mit dem Erlernen der Regeln. Wenn die Mannschaften schließlich um die Karten in ihren jeweiligen Räumen Platz genommen haben, beginnt das Spiel. Jede Mannschaft nimmt ihren
politischen Bericht vom Spielleiter entgegen. Diese Berichte,
gewöhnlich von einem Mitglied der Kontrollgruppe vorbereitet, geben eine Einschätzung der Weltlage zur Zeit des Spiels,
einige Informationen über die Politik der gegnerischen Mannschaft sowie die von der Mannschaft zu verfolgenden Ziele
und das Budget der Mannschaft. (Die Politik wird bei jedem
Spiel gewechselt, um eine große Variationsbreite strategischer
Möglichkeiten zu untersuchen.)
Bei unserem hypothetischen Spiel besteht das Ziel von Blau
darin, sich während des Spiels eine abschreckende Fähigkeit
zu erhalten — das heißt eine Kraft, die auf Rot zurückzuschlagen vermag, so daß Rot nicht gewillt ist, einen Angriff
zu riskieren. (Blau wird auch ein wenig über die Politik von
Rot informiert.)
Die Politik von Rot besteht darin, gegenüber Blau eine Überlegenheit an Kräften zu erlangen.
Die Budgets von Blau und Rot lassen sich mit den gegenwärtigen Verteidigungsbudgets vergleichen . . .
Es ist tröstlich zu hören, daß das Spiel bei RAND seit 1961
gespielt worden ist, »unten in unserem labyrinthischen Erdgeschoß — irgendwo unter der Imbißhalle« und daß »Verzeichnisse
an den Wänden der Roten und Blauen Räume die verfügbaren
Waffen und Eisenwaren aufführen, die von den Mannschaften
gekauft werden . . . Ungefähr siebzig Gegenstände insgesamt.«
Es gibt einen Spielleiter, der die Regeln auslegt; denn obgleich
»das komplette, die Regeln enthaltende Buch mit Diagrammen
und Illustrationen 66 Seiten aufweist«, ergeben sich während
des Spiels unvermeidlich Probleme. Der Spielleiter hat noch eine
wichtige Funktion: »Ohne vorher die Spieler davon in Kenntnis
zu setzen, eröffnet er den Krieg, um sich ein Bild von der Wirksamkeit der tatsächlich vorhandenen Streitkräfte zu machen«.
Aber dann kündigt der Bildtext »Kaffee, Kuchen und Ideen« an.
Man entspanne sich! Das »Spiel geht die übrigen Etappen hindurch weiter — bis 1972, wo es aufhört. Dann begraben die
101
Blauen und die Roten Mannschaften die Raketengeschosse und
kommen bei Kaffee und Kuchen zur Sitzung >post mortem< zusammen«. Aber man entspanne sich nicht zu sehr: es gibt »eine
Situation in der wirklichen Welt, die auf SICHER nicht wirksam
übertragen werden kann«, und das ist — »Verhandlung«. Dafür
sind wir dankbar: die eine Hoffnung, die bei der realen Weltlage
verbleibt, liegt jenseits der Reichweite von RAND.
Offenbar hat Schuldgefühl im Reich des Glücklichen Bewußtseins keine Stätte, und der Kalkül nimmt sich des Gewissens an.
Wenn das Ganze auf dem Spiel steht, gibt es kein Verbrechen
außer dem, das Ganze abzulehnen oder nicht zu verteidigen.
Verbrechen, Schuld und Schuldgefühl sind zu einer Privatangelegenheit geworden. Freud deckte in der Psyche des Individuums
die Verbrechen der Menschheit auf, in der individuellen Krankengeschichte die Geschichte des Ganzen. Dieses unheilvolle Bindeglied wird erfolgreich unterdrückt. Jene, die sich mit dem
Ganzen identifizieren, die als die Führer und Verteidiger des
Ganzen eingesetzt sind, können Fehler machen, aber kein Unrecht tun - sie sind nicht schuldig. Sie können wieder schuldig
werden, wenn diese Identifikation nicht mehr hält, wenn sie
dahin sind.
102
4 Die Absperrung des Universums der Rede
»Dans l'état présent de l'Histoire, toute écriture politique ne
peut que confirmer un univers policier, de même toute écriture
intellectuelle ne peut qu'instituer une para-littérature, qui n'ose
plus dire son nom.«
»Aber wie bei dem augenblicklichen Stand der Geschichte jede
politische Schreibweise nur eine Welt der Polizeiherrschaft bestätigen kann, genauso kann jede intellektuelle Schreibweise
nur eine Para-Literatur stiften, die nicht wagt, ihren Namen zu
bekennen.«
Roland Barthes
Das Glückliche Bewußtsein - der Glaube, daß das Wirkliche
vernünftig ist und das System die Güter liefert - reflektiert den
neuen Konformismus, der eine Facette der in gesellschaftliches
Verhalten übersetzten technologischen Rationalität ist. Er ist
neu, weil er in noch nie dagewesenem Maße rational ist. Er
bestätigt eine Gesellschaft, welche die primitivere Irrationalität
der vorangehenden Stufen verringert und - in ihren fortgeschrittensten Bereichen - beseitigt hat, die das Leben planmäßiger als früher verlängert und verbessert. Der Vernichtungskrieg hat noch nicht stattgefunden, die nazistischen Ausrottungslager wurden abgeschafft. Das Glückliche Bewußtsein verdrängt den Zusammenhang. Die Folter ist als normale Angelegenheit wieder eingeführt worden, aber in einem Kolonialkrieg, der sich am Rande der zivilisierten Welt abspielt. Und
dort wird sie mit gutem Gewissen praktiziert; denn Krieg ist
Krieg. Und dieser Krieg ist höchst peripher — er verwüstet nur
die »unterentwickelten« Länder. Sonst herrscht Frieden.
Der Macht, die diese Gesellschaft über den Menschen gewonnen hat, wird durch ihre Leistungsfähigkeit und Produktivität
täglich Absolution erteilt. Wenn sie sich alles anähnelt, was
sie berührt, wenn sie sich die Opposition einverleibt, wenn sie
mit dem Widerspruch spielt, dann beweist sie ihre kulturelle
Überlegenheit. Und ebenso beweisen die Zerstörung von Res103
sourcen und die üppige Verschwendung ihre Fülle und den
»hohen Stand des Wohlergehens«; »weil es uns eben so gut geht,
daß das alles keine Rolle spielt!«1
Die Sprache der totalen Verwaltung
Diese Art des Wohlergehens, der produktive Überbau über der
unglücklichen Basis der Gesellschaft, durchdringt die »Medien«,
die zwischen den Herren und ihren Dienern vermitteln. Ihre
Reklameagenten modeln das Universum der Kommunikation,
in dem das eindimensionale Verhalten sich ausdrückt. Ihre
Sprache zeugt von Identifikation und Vereinigung, von systematischer Förderung positiven Denkens und Handelns, von dem
planmäßigen Angriff auf transzendente, kritische Begriffe. In
den herrschenden Sprechweisen erscheint der Gegensatz zwischen zweidimensionalen, dialektischen Denkweisen und technologischem Verhalten oder gesellschaftlichen »Denkgewohnheiten«.
Im Ausdruck dieser Denkgewohnheiten verschwindet allmählich die Spannung zwischen Erscheinung und Wirklichkeit, Faktum und Faktor, Substanz und Attribut. Die Elemente der
Autonomie und Entdeckung, des Beweises und der Kritik weichen der Bezeichnung, Behauptung und Imitation. Magische,
autoritäre und rituelle Elemente durchdringen das Sprechen
und die Sprache. Die Rede wird der Vermittlungen beraubt,
die die Stufen des Erkenntnisprozesses und der erkennenden
Bewertung sind. Die Begriffe, in denen die Tatsachen erfaßt
und damit transzendiert werden, verlieren ihre authentische
sprachliche Repräsentanz. Ohne diese Vermittlungen tendiert die
Sprache dazu, die unmittelbare Identifikation von Vernunft
und Faktum, Wahrheit und etablierter Wahrheit, Essenz und
Existenz, des Dings mit seiner Funktion auszudrücken und zu
befördern.
Diese Identifikationen, die als ein Zug des Operationalismus
erschienen2, kehren als Züge des Sprechens im gesellschaftlichen
l John K. Galbraith, American Capitalism (Houghton Mifflin, Boston I956), S. 96,
dt.: Der amerikanische Kapitalismus, Stuttgart 1956, S. 111.
104
Verhalten wieder. Dabei hilft die Funktionalisierung der Sprache,
nonkonformistische Elemente aus der Struktur und Bewegung
des Sprechens zu verdrängen. Vokabular und Syntax werden
gleichermaßen beeinträchtigt. Die Gesellschaft drückt ihre Bedürfnisse direkt im sprachlichen Material aus, wenn auch nicht
ohne Opposition; die Volkssprache trifft die offizielle und
halboffizielle Redeweise mit boshaftem und herausforderndem
Humor. Slang und Umgangssprache sind selten so schöpferisch
gewesen. Es ist, als setzte der einfache Mann (oder sein anonymer Wortführer) in seiner Sprechweise seine Humanität gegen die bestehenden Mächte durch, als brächen Ablehnung und
Revolte, niedergehalten im politischen Bereich, in einem Vokabular hervor, das die Dinge bei ihrem Namen nennt: »head
shrinker« (Kopfschrumpfer, für den Psychoanalytiker) und »egghead« (Eierkopf), »boob tube« (blöder Zylinder), »think tank«
(Denk-Tank, für den Intellektuellen), »beat it« (mach daß du
wegkommst) und »dig it« (kapier doch endlich) und »gone, man,
gone« (ich bin ganz weg).
Die Verteidigungslaboratorien und Vollzugsämter, die Regierungen und Maschinen, die Aufseher und Manager, die Leistungsexperten und die politischen Schönheitssalons (die die
Führer mit dem passenden Make-up ausstatten) reden jedoch
eine andere Sprache, und vorläufig scheinen sie das letzte Wort
zu haben. Es ist das Wort, das Befehle erteilt und organisiert,
das die Menschen veranlaßt, etwas zu tun, zu kaufen und hinzunehmen. Es wird in einem Stil übermittelt, der eine wahre
Sprachschöpfung ist, in einer Syntax, bei der die Struktur des
Satzes derart abgekürzt und zusammengedrängt wird, daß
zwischen den Satzteilen keine Spannung, kein »Raum« mehr
verbleibt. Diese sprachliche Form widersetzt sich einer Entwicklung des Sinnes. Ich versuche nun diesen Stil zu erläutern.
Der Grundzug des Operationalismus - den Begriff gleichbedeutend zu machen mit der entsprechenden Reihe von Operationen 3 - kehrt in der sprachlichen Tendenz wieder, »die Namen
der Dinge als zugleich hindeutend auf ihre Funktionsweise zu
2 cf. s. 32.
105
betrachten und die Namen von Eigenschaften und Prozessen als
symbolisch für den Apparat, der gebraucht wird, sie zu ermitteln oder herzustellen4.« Das ist ein technologisches Denken,
das geneigt ist, »Dinge und ihre Funktionen gleichzusetzen5.«
Als eine Denkgewohnheit außerhalb der wissenschaftlichen
und technischen Sprache bildet solches Denken den Ausdruck
eines spezifischen gesellschaftlichen und politischen Behaviorismus. In diesem behavioristischen Universum tendieren Wörter
und Begriffe dazu, zusammenzufallen oder vielmehr der Begriff
wird tendenziell durch das Wort absorbiert. Jener hat keinen
anderen Inhalt als den, den das Wort im öffentlichen und genormten Gebrauch hat, und das Wort soll nichts über das
öffentliche und genormte Verhalten (Reaktion) hinaus bewirken.
Das Wort wird zum Cliché und beherrscht als Cliché die gesprochene oder geschriebene Sprache; die Kommunikation beugt
so einer wirklichen Entwicklung des Sinnes vor.
Freilich enthält jede Sprache zahllose Ausdrücke, bei denen
es nicht erforderlich ist, ihren Sinn zu entwickeln, diejenigen
etwa, welche die Gegenstände und Geräte des täglichen Lebens
bezeichnen, die sichtbare Natur, vitale Bedürfnisse und Wünsche. Diese Ausdrücke werden allgemein verstanden, so daß ihr
bloßes Auftreten eine (sprachliche oder operationelle) Reaktion
hervorruft, die dem pragmatischen Zusammenhang genügt, in
dem sie benutzt werden.
Völlig anders ist es mit Ausdrücken bestellt, die Dinge oder
Ereignisse jenseits dieses nichtkontroversen Zusammenhangs
bezeichnen. Hier drückt die Funktionalisierung der Sprache eine
Verkürzung des Sinnes aus, die zugleich eine politische Bedeutung hat. Die Namen der Dinge sind nicht nur »hindeutend auf
ihre Funktionsweise«, sondern ihre (tatsächliche) Funktionsweise bestimmt und »umschließt« den Sinn des Dings, indem sie
andere Funktionsweisen ausschließt. Das Substantiv regiert den
Satz in einer autoritären und totalitären Art, und der Satz
wird eine zu akzeptierende Erklärung - er sträubt sich gegen
3 Cf. S. 33.
4 Stanley Gerr, »Language and Science«, in: Philosophy of Science, April 1942,
S. 156.
5 Ibid.
106
einen Beweis, gegen die Einschränkung und Negation seines
kodifizierten und erklärten Sinnes.
An den Knotenpunkten des Universums der öffentlichen
Sprache treten Sätze auf, die sich selbst bestätigen, die analytisch
sind und gleich magisch-rituellen Formen funktionieren. Indem
sie dem Geiste des Empfängers immer wieder eingehämmert werden, bringen sie die Wirkung hervor, ihn einzuschließen in den
von der Formel verordneten Umkreis von Bedingungen.
Ich habe bereits auf die sich selbst bestätigende Hypothese
als der Satzform im Universum der politischen Sprache verwiesen6. Substantive wie »Freiheit«, »Gleichheit«, »Demokratie«
und »Frieden« implizieren, analytisch, eine bestimmte Reihe
von Attributen, die immer dann auftreten, wenn das Substantiv
ausgesprochen oder geschrieben wird. Im Westen besteht die
analytische Prädikation in Ausdrücken wie freie Wirtschaft,
Initiative, Wahlen, Individuum; im Osten sind es Ausdrücke
wie Arbeiter und Bauern, Aufbau des Kommunismus oder Sozialismus, Abschaffung feindlicher Klassen. Auf beiden Seiten
ist das Hinausgehen der Sprache über die geschlossene analytische Struktur ungehörig oder Propaganda, obgleich die Mittel,
die Wahrheit durchzusetzen, und das Strafmaß sehr verschieden
sind. In diesem Universum der öffentlichen Sprache bewegt sich
das Sprechen in Synonymen und Tautologien; auf die qualitative Differenz bewegt es sich praktisch niemals zu. Die analytische Struktur isoliert das regierende Substantiv von denjenigen seiner Inhalte, die den akzeptierten Gebrauch des Substantivs in Äußerungen der Politik und öffentlichen Meinung
ungültig machen oder zumindest stören würden. Der ritualisierte Begriff wird gegen Widerspruch immunisiert.
Damit wird die Tatsache, daß die herrschende Art der Freiheit Knechtschaft ist und die herrschende Art der Gleichheit von
außen auferlegte Ungleichheit durch die abgeschlossene Definition dieser Begriffe im Sinne der Mächte, die das jeweilige Universum der Rede modeln, daran gehindert, Ausdruck zu finden.
Das Ergebnis ist die bekannte Orwellsche Sprache (»Frieden ist
Krieg« und »Krieg ist Frieden« usw.), die keineswegs nur die
6 Cf. S. 34.
des terroristischen Totalitarismus ist. Nicht weniger Orwellsch
ist es, wenn der Widerspruch nicht im Satz expliziert, sondern
aufs Substantiv begrenzt wird. Daß eine politische Partei, die
für die Verteidigung und das Wachstum des Kapitalismus arbeitet, »sozialistisch« genannt wird, eine despotische Regierung
»demokratisch« und eine farcenhafte Wahl »frei«, sind vertraute sprachliche - und politische - Merkmale, die es lange vor
Orwell gab.
Relativ neu ist, daß die öffentliche und private Meinung
diese Lügen allgemein akzeptiert und ihren ungeheuerlichen
Inhalt vertuscht. Verbreitung und Wirksamkeit dieser Sprache
bezeugen den Triumph der Gesellschaft über die Widersprüche,
die sie enthält; sie werden reproduziert, ohne das soziale
System zu sprengen. Und gerade der ausgesprochene, schreiende
Widerspruch wird zu einem Rede- und Reklamemittel gemacht. Die Syntax der Abkürzung verkündet die Versöhnung
der Gegensätze, indem sie diese zu einer festen und vertrauten
Struktur zusammenschweißt. Ich werde zu zeigen versuchen, daß
die »saubere Bombe« und der »harmlose atomare Niederschlag«
nur die extremen Schöpfungen eines normalen Stils sind. Einmal
als Hauptverstoß gegen die Logik betrachtet, erscheint der
Widerspruch jetzt als ein Prinzip der Logik der Manipulation —
als die realistische Karikatur der Dialektik. Es ist die Logik einer
Gesellschaft, die es sich leisten kann, auf Logik zu verzichten
und mit der Zerstörung zu spielen, eine Gesellschaft mit technologischer Macht über Geist und Materie.
Das Universum der Sprache, in dem die Gegensätze versöhnt
werden, hat eine feste Basis für eine solche Vereinigung — seine
vorteilhafte Destruktivität. Die totale Kommerzialisierung
bringt ehedem antagonistische Lebensbereiche zusammen, und
diese Verbindung tritt darin zutage, daß einander widerstreitende Bestandteile einer Rede sprachlich bruchlos verknüpft
werden. Einem, der noch nicht hinlänglich »konditioniert« ist,
erscheint vieles von dem, was öffentlich gesagt und gedruckt
wird, äußerst surrealistisch zu sein. Überschriften wie »Die
Arbeiterschaft sucht Harmonie mit den Raketengeschossen«7 und
Annoncen wie ein »Luxusbunker gegen atomaren Niederschlag«8
mögen immer noch die naive Reaktion hervorrufen, daß »Ar108
beiterschaft«, »Raketengeschoß« und »Harmonie« unversöhnliche Widersprüche sind und daß keine Logik und keine Sprache
imstande sein sollten, Luxus und atomaren Niederschlag zusammenzubringen. Logik und Sprache werden jedoch völlig
rational, wenn wir erfahren, daß ein »mit Atomkraft betriebenes, ballistische Raketen feuerndes Unterseeboot« »ein Preisschild mit der Aufschrift 120 000 000 $ trägt« und daß die Ausführung des Bunkers zu 1000 $ mit »Bodenbelag, Gesellschaftsspielen und einem Fernsehgerät« versehen ist. Der affirmative
Charakter dieser Sprache liegt nicht in erster Linie darin, daß
sie die unmittelbare Identifikation des besonderen mit dem allgemeinen Interesse, des Geschäfts mit nationaler Stärke, der
Prosperität mit dem Vernichtungspotential verkauft (das Geschäft mit dem atomaren Niederschlag war anscheinend nicht
so gut), sondern daß sie diese Identifikation fördert. Es ist nur
ein Ausgleiten in die Wahrheit, wenn ein Theater als »Sonderabendveranstaltung zu den Wahlen« Strindbergs Totentanz
ankündigt. Die Ankündigung offenbart den Zusammenhang in
einer weniger ideologischen Form als dies normalerweise gestattet wird.
Die Vereinigung der Gegensätze, die den kommerziellen und
politischen Stil charakterisiert, ist eine der vielen Weisen, in
der Sprache und Kommunikation sich gegen den Ausdruck von
Protest und Weigerung immunisieren. Wie können ein solcher
Protest und eine solche Weigerung das rechte Wort finden, wenn
die Organe der bestehenden Ordnung zugeben und in der Reklame verkünden, daß der Frieden in der Tat am Rande des
Krieges gedeiht, daß die ärgsten Waffen ihre von Profit zeugenden Preisschilder tragen und der Luftschutzbunker Gemütlichkeit bedeuten kann? Indem es seine Widersprüche zur Schau
stellt, dichtet dieses Universum der Sprache sich gegen jede
andere Sprechweise ab, die sich seiner Ausdrücke nicht bedient.
Und in seiner Fähigkeit, alle anderen Ausdrücke seinen eigenen
anzuähneln, bietet es die Aussicht, größtmögliche Toleranz mit
größtmöglicher Einheit zu verbinden. Nichtsdestoweniger be7 New York Times vom 1. Dezember 1960.
8 Ibid., Ausgabe vom 2. November 1960.
109
zeugt seine Sprache den repressiven Charakter dieser Einheit.
Diese Sprache spricht in Konstruktionen, die dem Empfänger
einen schiefen und abgekürzten Sinn aufnötigen, die blockierte
Entfaltung des Inhalts, die Hinnahme des Gebotenen in der
Form, in der es geboten wird.
Die analytische Aussage ist eine solche repressive Konstruktion. Die Tatsache, daß ein besonderes Substantiv fast immer
mit denselben »erläuternden« Adjektiven und Attributen verbunden wird, verwandelt den Satz in eine hypnotische Formel,
die, endlos wiederholt, auch die Bedeutung im Bewußtsein des
Empfängers befestigt. Er denkt nicht an wesentlich andere (und
möglicherweise wahre) Erläuterungen des Substantivs. Später
werden wir andere Konstruktionen untersuchen, bei denen der
autoritäre Charakter dieser Sprache zutage tritt. Gemeinsam ist
ihnen ein Zusammendrängen und Verkürzen der Syntax, welches Verfahren die Entwicklung des Sinnes abschneidet, indem
es starre »Bilder« hervorbringt, die sich mit überwältigender
und versteinerter Konkretheit aufdrängen. Es handelt sich dabei
um die bekannte Technik der Reklameindustrie, in der es methodisch benutzt wird, »ein Image aufzubauen«, das im Bewußtsein
und am Produkt haften bleibt und dazu beiträgt, Menschen und
Güter zu verkaufen. Sprechen und Schreiben sind um »gezielte
Schlagzeilen« und »publikumswirksame Sätze« gruppiert, die
das Image übermittelt. Dieses »Image« kann »Freiheit« oder
»Frieden« sein, der »nette Kerl« oder der »Kommunist« oder
»Miss Rheingold«. Vom Leser oder Zuhörer wird erwartet, daß
er sie mit einer fixierten Struktur von Institutionen, Haltungen
und Bestrebungen zusammenbringt, er soll in einer fixierten
spezifischen Weise reagieren — und er tut es auch.
Sieht man von der relativ harmlosen Sphäre des Warenverkaufs ab, dann sind die Folgen recht ernst; denn eine solche
Sprache ist zugleich »Einschüchterung und Glorifizierung«.10 Die
Sätze nehmen die Form suggestiver Befehle an — sie sind eher
evokativ als demonstrativ. Die Aussage wird zur Vorschrift; die
gesamte Kommunikation hat einen hypnotischen Charakter und
gleichzeitig einen Anstrich von falscher Vertraulichkeit - das
Ergebnis beständiger Wiederholung und geschickt gelenkter, ans
Volk gerichteter Unmittelbarkeit der Kommunikation. Diese
110
wendet sich direkt an den Empfänger - ohne die durch Status,
Bildung und Amt gesetzte Distanz - und findet ihn oder sie in
der zwanglosen Atmosphäre von Wohnzimmer, Küche und
Schlafzimmer vor.
Dieselbe Vertraulichkeit wird durch die personalisierte Sprache
hergestellt, die in der fortgeschrittenen Kommunikation eine
erhebliche Rolle spielt11. Es ist die Rede von »Ihrem« Kongreßabgeordneten, »Ihrer« Autobahn, »Ihrem« bevorzugten
Drugstore, »Ihrer« Zeitung; »Ihnen« wird sie gebracht, »Sie«
werden eingeladen usw. Auf diese Weise werden aufgenötigte,
genormte und allgemeine Dinge und Funktionen als »speziell für Sie« dargeboten. Es verschlägt wenig, ob die so angesprochenen Individuen daran glauben oder nicht. Der Erfolg
deutet darauf hin, daß die Selbstidentifikation der Individuen
mit den Funktionen befördert wird, die sie und andere ausführen.
In den fortgeschrittensten Bereichen der funktionalen und
manipulierten Kommunikation setzt die Sprache in wahrhaft
schlagenden Konstruktionen die autoritäre Identifikation von
Person und Funktion durch. Das Nachrichtenmagazin Time
kann als extremes Beispiel für diese Tendenz dienen. Sein Gebrauch des flektierten Genetivs läßt Individuen als bloße Anhängsel oder Eigenschaften ihres Ortes, ihrer Tätigkeit, ihres
Arbeitgebers oder Unternehmens erscheinen. Sie werden eingeführt als »Virginia's Byrd, U. S. Steel's Blough, Egypt's Nasser«. Eine mit Bindestrichen versehene attributive Konstruktion
erzeugt ein starres Syndrom:
»Georgia's high-handed, low-browed governor ... had the
stage all set for one of his wild political rallies last week.«
»Georgias autoritärer, ungebildeter Gouverneur hatte letzte
Woche alles für seine wilden politischen Kundgebungen vorbereitet.«
10 Roland Barthes, Am Nullpunkt der Literatur, 1. c., S. 23.
11 Cf. Leo Lowenthal, Literature, Popular Culture, and Society, Prentice-Hall
Englewood Cliffs, N.J. 1961, S. 109 ff., dt.: Literatur und Gesellschaft, Neuwied
1964, S. 196 ff., und Richard Hoggart, The Uses of Literacy, Boston, Beacon
Press, 1961, S. 161 ff.
111
Der Gouverneur12, seine Funktion, sein äußerer Habitus und
seine politischen Praktiken verschmelzen zu einer unteilbaren
und unveränderlichen Struktur, die in ihrer natürlichen Unschuld und Unmittelbarkeit den Geist des Lesers überwältigt.
Diese Struktur läßt keinen Raum für Unterscheidung, Entwicklung und Differenzierung des Sinnes; sie bewegt sich und lebt
nur als ein Ganzes. Von solchen personalisierten und hypnotischen »Images« beherrscht, kann der Artikel im weiteren dazu
übergehen, sogar wesentliche Information zu liefern. Der Bericht bleibt wohlbehütet im gutaufgemachten Rahmen einer
mehr oder weniger menschliches Interesse erweckenden Geschichte, wie die Politik des Herausgebers ihn festlegt.
Der Gebrauch von Abkürzungen durch Bindestriche ist weitverbreitet. Zum Beispiel »brush-browed« (bürstenbrauige) Teller, der »Vater der H-Bombe«, »>bull-shouldered< (stiernackig)
Rakentenmann von Braun«, »science-military dinner 13 « und das
»nuclear-powered, ballistic-missile-firing« (atomkraftgetriebenes, raketenfeuerndes) Unterseeboot. Solche Konstruktionen sind,
vielleicht nicht zufällig, besonders häufig in Sätzen, die Technik,
Politik und Militärisches vereinigen. Begriffe, die ganz verschiedene Bereiche oder Qualitäten bezeichnen, werden zu einem
festen, überwältigenden Ganzen zusammengezwungen.
Die Wirkung ist wiederum eine magische und hypnotische die Projektion von Bildern, die eine unwiderstehliche Einheit
und Harmonie von Widersprüchen übermitteln. So bringt der
geliebte und gefürchtete Vater, der Spender des Lebens, die
Wasserstoffbombe zur Vernichtung des Lebens hervor; »sciencemilitary« vereinigt die Anstrengungen, Angst und Leiden zu
verringern, mit der Tätigkeit, die Angst und Leiden hervorruft. Oder, ohne Bindestrich, die »Freedom Academy« von
Spezialisten für Kalten Krieg14 und die »saubere Bombe« — eine
Formulierung, die der Zerstörung moralische und körperliche
Integrität zuspricht. Menschen, die eine solche Sprache sprechen
und hinnehmen, scheinen gegenüber allem immun — und emp12 Der Satz bezieht sich nicht auf den gegenwärtigen Gouverneur, sondern auf Mr.
Talmadge.
13 Die letzten drei Formulierungen fanden sich in The Nation, Ausgabe vom 22. Feb.
1958112
fänglich für alles. Das Verwenden von Bindestrichen (ob explizit oder nicht) versöhnt das Unversöhnliche nicht immer; oft ist
die Verbindung ganz schwach - wie im Falle des »bull-shouldered« Raketenmannes - oder sie übermittelt Drohung oder
beflügelnde Dynamik. Aber die Wirkung ist ähnlich. Die
imponierende Struktur vereinigt in einem jähen Aufblitzen die
Akteure und Aktionen von Gewalt, Macht, Schutz und Propaganda. Wir sehen den Menschen oder die Sache in Operation
und nur in Operation — anders kann es nicht sein.
Notiz über Abkürzungen. NATO, SEATO, UN, AFL - CIO,
AEC, aber auch UdSSR, DDR usw. Die meisten dieser Abkürzungen sind durchaus vernünftig und durch die Länge der unabgekürzten Namen gerechtfertigt. Man könnte jedoch versucht
sein, in einigen von ihnen eine »List der Vernunft« zu erblicken
— die Abkürzung kann helfen, unerwünschte Fragen zu unterdrücken. NATO läßt nicht an das denken, was »North Atlantic
Treaty Organization« besagt, nämlich an einen Vertrag zwischen den Nationen im Nordatlantik — in welchem Falle man
über die Mitgliedschaft von Griechenland und der Türkei Fragen stellen könnte. UdSSR kürzt Sozialismus und Sowjet ab,
DDR demokratisch. UN verzichtet auf eine übermäßige Hervorhebung von »united«, SEATO auf diejenigen südostasiatischen
Länder, die nicht zu ihr gehören. AFL - CIO begräbt die radikalen politischen Differenzen, die die beiden Organisationen
einmal trennten, und AEC ist eben nur eine Verwaltungsagentur unter vielen anderen. Die Abkürzungen bezeichnen das und
nur das, was derart institutionalisiert ist, daß die transzendierende Nebenbedeutung abgeschnitten wird. Die Bedeutung ist
fixiert, zurechtgestutzt, verfälscht. Nachdem sie einmal zur
offiziellen Vokabel geworden ist, die im allgemeinen Sprachgebrauch beständig wiederholt und von den Intellektuellen
»sanktioniert« wird, hat sie allen Erkenntniswert verloren und
dient lediglich dazu, eine unbestreitbare Tatsache anzuerkennen.
14 Ein Vorschlag der Illustrierten Life, zitiert in The Nation vom 20. August 1960.
Nach David Sarnoff liegt dem Kongreß ein Antrag vor, eine solche Akademie
zu errichten. Cf. John K. Jessup, Adlai Stevenson und andere, The National
Purpose (hergestellt unter der Leitung und mit Hilfe des Redaktionsstabes von
Life, New York, Holt, Rinehart und Winston, 1960), S. 58.
113
Dieser Stil ist von einer überwältigenden Konkretheit. Das
»mit seiner Funktion identifizierte Ding« ist realer als das
von seiner Funktion unterschiedene, und der sprachliche Ausdruck dieser Identifikation (im funktionalen Substantiv und
in den vielen Formen syntaktischer Abkürzung) schärft ein
grundlegendes Vokabular und eine Syntax, die einer Differenzierung, Trennung und Unterscheidung im Wege stehen. Diese
Sprache, die den Menschen unausgesetzt Bilder aufnötigt, widersetzt sich der Entwicklung und dem Ausdruck von Begriffen. In
ihrer Unmittelbarkeit und Direktheit behindert sie begriffliches
Denken und damit das Denken selbst. Denn der Begriff identifiziert das Ding und seine Funktion nicht. Eine solche Identifikation kann durchaus die legitime und vielleicht sogar einzige Bedeutung des Operationellen und technologischen Begriffs
sein, aber operationelle und technologische Definitionen sind
spezifische Anwendungen von Begriffen zu spezifischen Zwekken. Mehr noch, sie lösen Begriffe in Operationen auf und
schließen die begriffliche Intention aus, die sich einer solchen
Auflösung widersetzt. Bevor er operationell gebraucht wurde,
verneinte der Begriff die Identifikation des Dings mit seiner
Funktion; er unterschied, was das Ding ist, von den zufälligen
Funktionen des Dings in der bestehenden Wirklichkeit.
Die herrschenden sprachlichen Tendenzen, die diese Unterscheidungen nicht aufkommen lassen, sind Ausdruck der in den
vorangehenden Kapiteln erörterten Veränderungen der Denkweisen - die funktionalisierte, abgekürzte und vereinheitlichte
Sprache ist die Sprache des eindimensionalen Denkens. Um das
Neue an ihr zu belegen, werde ich sie kurz einer klassischen
Philosophie der Grammatik gegenüberstellen, die über die gegebene Realität des Verhaltens hinausgeht und sprachliche mit
ontologischen Kategorien verbindet.
Dieser Philosophie zufolge ist das grammatische Subjekt eines
Satzes zunächst eine »Substanz« und bleibt eine solche in den
verschiedenen Zuständen, Funktionen und Qualitäten, die der
Satz vom Subjekt prädiziert. Es ist aktiv oder passiv auf seine
Prädikate bezogen, bleibt aber von ihnen verschieden. Wenn es
kein Eigenname ist, so ist das Subjekt mehr als ein Substantiv:
es nennt den Begriff eines Dings, ein Allgemeines, das der Satz,
114
als in einem besonderen Zustand oder in einer Funktion befindlich bestimmt. Das grammatische Subjekt besitzt so eine Bedeutung, die mehr als die im Satz ausgedrückte enthält.
Mit den Worten Wilhelm von Humboldts: das Nomen
als grammatisches Subjekt bezeichnet etwas, das »Beziehungen
eingehen kann15«, aber nicht mit diesen Beziehungen identisch
ist. Mehr noch, es bleibt in diesen Beziehungen und »gegen«
sie, was es ist; es ist ihr »allgemeiner« und wesentlicher Kern.
Die Synthese des Satzes verknüpft die Handlung (oder den
Zustand) in einer solchen Weise mit dem Subjekt, daß dieses als
tätiges (oder Träger) bezeichnet und damit von dem Zustand
oder der Funktion unterschieden wird, worin es sich gerade
befindet. Wenn wir sagen: »Der Blitz schlägt ein«, so »denkt
man nicht nur an das Einschlagen des Blitzes, sondern an den
Blitz selbst, der einschlägt«, an ein Subjekt, das »in Handlung
überging«. Und wenn ein Satz eine Definition seines Subjekts
liefert, so löst er es nicht in seine Zustände und Funktionen auf,
sondern definiert es als etwas, das sich in diesem Zustand befindet oder diese Funktion ausübt. Sofern es weder in seinen
Prädikaten verschwindet noch als eine Wesenheit vor seinen
Prädikaten und außerhalb ihrer besteht, konstituiert sich das
Subjekt in seinen Prädikaten — das Resultat eines Vermittlungsprozesses, der sich im Satz ausdrückt16.
Ich habe von der Philosophie der Grammatik gesprochen, um
das Ausmaß zu verdeutlichen, in dem die sprachlichen Abkürzungen auf eine Verkürzung des Denkens hindeuten, die sie
ihrerseits bekräftigen und fördern. Das Bestehen auf den philosophischen Elementen der Grammatik, auf der Verbindung von
grammatischem, logischem und ontologischem »Subjekt« verweist auf die Inhalte, die in der funktionalen Sprache unterdrückt und von Ausdruck und Kommunikation abgesperrt werden. Verkürzung des Begriffs in fixierten Bildern, gehemmte
Entwicklung in hypnotischen Formeln, die sich selbst für gültig
15 W. V. Humboldt, Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues, Nachdruck Berlin 1935, S. 254.
16 Cf. zu dieser Philosophie der Grammatik in der dialektischen Logik Hegels den
Begriff der »Substanz als Subjekt« sowie den des »spekulativen Satzes« in der
Vorrede zur Phänomenologie des Geistes.
115
erklären, Immunität gegen Widerspruch, Identifikation des
Dings (und der Person) mit seiner Funktion — diese Tendenzen
offenbaren den eindimensionalen Geist in der Sprache, die er
spricht.
Wenn das sprachliche Verhalten die begriffliche Entfaltung
blockiert, wenn es sich gegen Abstraktion und Vermittlung
sträubt, wenn es vor den unmittelbaren Tatsachen kapituliert,
so wehrt es die Anerkennung der Faktoren hinter den Fakten
ab und damit die Anerkennung der Tatsachen und ihres historischen Inhalts. In der Gesellschaft und für sie ist diese Organisation funktionalen Sprechens von höchster Wichtigkeit; sie
dient als Vehikel von Gleichschaltung und Unterordnung. Die
vereinheitlichte, funktionale Sprache ist eine unversöhnlich antikritische und antidialektische Sprache. In ihr verschlingt die
operationelle und verhaltensmäßige Rationalität die transzendenten, negativen und oppositionellen Elemente der Vernunft.
Ich werde diese Elemente unter dem Aspekt der Spannung
von »Sein« und »Sollen«, Wesen und Erscheinung, Potentialität und Aktualität erörtern17 — dem Einbruch des Negativen
in die positiven Bestimmungen der Logik. Diese aufrechterhaltene Spannung durchdringt das zweidimensionale sprachliche Universum, das des kritischen, abstrakten Denkens. Die
beiden Dimensionen stehen in einem antagonistischen Verhältnis; die Realität hat an beiden teil, und die dialektischen Begriffe entfalten die realen Widersprüche. In seiner eigenen Entwicklung gelangte das dialektische Denken dazu, den geschichtlichen Charakter dieser Widersprüche und den Prozeß ihrer Vermittlung als einen geschichtlichen zu begreifen. So erwies sich
die »andere« Dimension des Denkens als geschichtliche Dimension - die Potentialität als geschichtliche Möglichkeit, ihre Verwirklichung als geschichtliches Ereignis.
Die Unterdrückung dieser Dimension im gesellschaftlichen
Universum operationeller Rationalität ist eine Unterdrückung
der Geschichte, und das ist keine akademische, sondern eine
politische Angelegenheit. Sie ist eine Unterdrückung der eigenen
Vergangenheit der Gesellschaft - und ihrer Zukunft insoweit,
17 Im 5. Kapitel.
116
als diese Zukunft an die qualitative Änderung, die Negation
der Gegenwart appelliert. Ein Universum der Sprache, worin
die Kategorien der Freiheit mit ihrem Gegenteil austauschbar,
ja identisch geworden sind, praktiziert nicht nur eine Orwellsche oder Äsopische Sprache, sondern verdrängt und vergißt die
geschichtliche Realität, den Schrecken des Faschismus, die Idee
des Sozialismus, die Vorbedingungen der Demokratie, den Inhalt
der Freiheit. Wenn eine bürokratische Diktatur die kommunistische Gesellschaft beherrscht und bestimmt, wenn faschistische
Regime als Partner der Freien Welt fungieren, wenn das Wohlfahrtsprogramm des aufgeklärten Kapitalismus erfolgreich vereitelt wird, indem man es mit dem Etikett »Sozialismus» versieht, wenn die Grundlagen der Demokratie reibungslos in der
Demokratie abgeschafft werden, dann werden die alten geschichtlichen Begriffe durch hochmoderne operationelle Neubestimmungen außer Kraft gesetzt. Diese Neubestimmungen sind
Verfälschungen, die dadurch, daß sie von den bestehenden und
faktischen Mächten durchgesetzt werden, dazu dienen, das
Falsche in Wahrheit zu verwandeln.
Die funktionale Sprache ist eine radikal antihistorische Sprache: die operationelle Rationalität hat für historische Vernunft
wenig Raum und Verwendung18. Gehört dieser Kampf gegen
die Geschichte dem Kampf gegen eine Dimension des Geistes
an, in der sich zentrifugale Anlagen und Kräfte entwickeln
könnten - Anlagen und Kräfte, welche die totale Gleichschaltung des Individuums mit der Gesellschaft verhindern könnten?
Die Erinnerung an die Vergangenheit kann gefährliche Einsichten aufkommen lassen, und die etablierte Gesellschaft scheint
die subversiven Inhalte des Gedächtnisses zu fürchten. Das
Erinnern ist eine Weise, sich von den gegebenen Tatsachen abzulösen, eine Weise der »Vermittlung«, die für kurze Augenblicke
die allgegenwärtige Macht der gegebenen Tatsachen durchbricht.
Das Gedächtnis ruft vergangenen Schrecken wie vergangene
Hoffnung in die Erinnerung zurück. Beide werden wieder lebendig, aber während jener in der Wirklichkeit in stets neuen Formen wiederkehrt, bleibt diese eine Hoffnung. Und in den persönlichen Begebenheiten, die im individuellen Gedächtnis neu
erstehen, setzen sich die Ängste und Sehnsüchte der Menschheit
117
durch — das Allgemeine im Besonderen. Die Geschichte ist es, die
die Erinnerung bewahrt, aber auch sie unterliegt der totalitären
Gewalt des verhaltensmäßigen Universums.
Das »Schreckbild einer Menschheit ohne Erinnerung ... ist
kein bloßes Verfallsprodukt ... sondern es ist mit der Fortschrittlichkeit des bürgerlichen Prinzips notwendig verknüpft«.
»Ökonomen und Soziologen wie Werner Sombart und Max
Weber haben das Prinzip des Traditionalismus den feudalen
Gesellschaftsformen zugeordnet und das der Rationalität den
bürgerlichen. Das sagt aber nicht weniger, als daß Erinnerung,
Zeit, Gedächtnis von der fortschreitenden bürgerlichen Gesellschaft selber als eine Art irrationaler Rest liquidiert wird ...«19
Wenn die fortschreitende Rationalität der avancierten Industriegesellschaft dazu tendiert, die störenden Elemente von Zeit
und Gedächtnis als »irrationalen Rest« zu liquidieren, dann
tendiert sie auch dazu, die störende Rationalität in diesem irrationalen Rest zu liquidieren. Die Anerkennung der Vergangenheit und die Beziehung zu ihr als einem Gegenwärtigen wirkt
der Funktionalisierung des Denkens durch die bestehende Realität und in ihr entgegen. Sie widersetzt sich der Abriegelung
des Universums von Sprache und Verhalten; sie ermöglicht die
Entfaltung von Begriffen, die das geschlossene Universum aus
seiner Festigkeit lösen und überschreiten, indem sie es als geschichtliches Universum begreifen. Der gegebenen Gesellschaft als
dem Gegenstand seiner Reflexion gegenübergestellt, wird das
kritische Denken geschichtliches Bewußtsein und ist als solches
wesentlich Urteil20. Weit davon entfernt, einen gleichgültigen
Relativismus zu erfordern, forscht es in der wirklichen Ge18 Das bedeutet nicht, daß die private oder allgemeine Geschichte aus dem Universum der Sprache verschwindet. Die Vergangenheit wird oft genug beschworen: sei
es, daß an die »Founding Fathers« erinnert wird oder an Marx-Engels-Lenin
oder an die bescheidene Herkunft eines Präsidentschaftskandidaten. Aber auch dies
sind ritualisierte Beschwörungen, die keine Entfaltung des erinnerten Inhalts zulassen; häufig dient die bloße Beschwörung dazu, eine solche Entfaltung zu unterbinden, die ihre historische Unangemessenheit zeigen würde.
19 Th. W. Adorno, »Was bedeutet Aufarbeitung der Vergangenheit?«, in: Bericht
über die Erzieherkonferenz am 6. und 7. November in Wiesbaden, Frankfurt a. M.
1960, S. 14. Der Kampf gegen die Geschichte wird im 7. Kapitel weiter diskutiert.
118
schichte des Menschen nach den Kriterien von Wahrheit und
Falschheit, Fortschritt und Regression21. Die Vermittlung der
Vergangenheit mit der Gegenwart entdeckt die Faktoren, welche die Fakten hervorbrachten, die die Lebensweise determinierten und Herren und Knechte einführten; sie entwirft die Grenzen
und die Alternativen. Wenn dieses kritische Bewußtsein spricht,
so spricht es »die Sprache der Erkenntnis« (Roland Barthes),
die das geschlossene Universum der Sprache und seine versteinerte Struktur aufbricht. Die Schlüsselbegriffe dieser Sprache sind
keine hypnotischen Nomina, die endlos dieselben eingefrorenen
Prädikate beschwören. Sie gestatten vielmehr eine offene Entwicklung; sie entfalten ihren Inhalt selbst in Prädikaten, die
einander widersprechen.
Das Kommunistische Manifest ist dafür ein klassisches Beispiel. Hier »regieren« die beiden Schlüsselbegriffe, Bourgeoisie
und Proletariat, jeweils entgegengesetzte Prädikate. Die »Bourgeoisie« ist das Subjekt des technischen Fortschritts, der Befreiung, des Sieges über die Natur, der Schaffung gesellschaftlichen
Reichtums und der Entstellung und Zerstörung dieser Errungenschaften. Entsprechend hat das »Proletariat« die Attribute
totaler Unterdrückung und totaler Aufhebung der Unterdrükkung.
Eine solche dialektische Beziehung von Gegensätzen im Satz
und durch ihn wird dadurch ermöglicht, daß das Subjekt als ein
geschichtliches Agens anerkannt wird, dessen Identität sich in
seiner geschichtlichen Praxis und gegen sie konstituiert, in seiner
gesellschaftlichen Wirklichkeit und gegen sie. Die Rede entfaltet
und erklärt den Konflikt zwischen dem Ding und seiner Funktion,
und dieser Konflikt drückt sich sprachlich in Sätzen aus, die
einander widersprechende Prädikate zu einer logischen Einheit
verbinden - begriffliches Gegenstück zur objektiven Realität. Im
Gegensatz zu aller Orwellschen Sprache wird der Widerspruch
dargelegt, expliziert, begründet und denunziert.
Ich habe den Gegensatz der beiden Sprachen veranschaulicht,
indem ich mich auf den Stil der Marxschen Theorie bezog, aber
20 Cf. S. 12 und Kapitel 5.
21 Zur weiteren Diskussion dieser Kriterien cf. Kapitel 8.
119
die kritischen, erkenntnismäßigen Qualitäten sind nicht ausschließlich für den Marxschen Stil charakteristisch. Sie finden
sich auch (wenngleich auf andere Weise) im Stil der großen
konservativen und liberalen Kritik der sich entfaltenden bürgerlichen Gesellschaft. Zum Beispiel ist die Sprache von Burke
und Tocqueville auf der einen Seite, von John Stuart Mill auf
der anderen eine höchst beweiskräftige, begriffliche, »offene«
Sprache, die den hypnotisch-rituellen Formeln des gegenwärtigen Neokonservativismus und Neoliberalismus noch nicht erlegen ist.
Die autoritäre Ritualisierung der Rede fällt jedoch dort besonders auf, wo sie die dialektische Sprache selbst in Mitleidenschaft
zieht. Die Erfordernisse der auf Konkurrenz abgestellten Industrialisierung und die totale Unterwerfung des Menschen unter
den Produktionsapparat erscheinen in der autoritären Umwandlung der marxistischen in die stalinistische und nachstalinistische
Sprache. Diese Erfordernisse, wie sie von der Führung interpretiert werden, die den Apparat kontrolliert, befinden darüber, was Recht und Unrecht, wahr und falsch ist. Sie lassen
keine Zeit und keinen Raum für eine Diskussion, die auflösend
wirkende Alternativen entwerfen würde. Diese Sprache gibt
sich überhaupt zu keiner »Rede« mehr her. Sie spricht Tatsachen aus und setzt Tatsachen ein aufgrund der Macht des
Apparats - sie ist Kundgebung, die sich selbst für gültig erklärt.
Hier22 muß es genügen, den Abschnitt anzuführen und zu paraphrasieren, in dem Roland Barthes ihre magisch-autoritären
Züge beschreibt:
II n'y a plus aucun sursis entre la dénomination et le jugement, et la clôture du langage est parfaite ... 23
Die geschlossene Sprache beweist und begründet nicht — sie
teilt Entscheidung, Diktum und Kommando mit. Wo sie definiert, wird die Definition zur »Trennung von Gut und Böse«;
sie stellt unbezweifelbares Recht und Unrecht her und den einen
Wert zur Rechtfertigung eines anderen. Sie bewegt sich in Tautologien, aber die Tautologien sind erschreckend wirksame »Ur22 Cf. mein Buch Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus, 1. c., S. 94 ff.
23 »Es gibt keinen Aufschub mehr zwischen Benennung und Urteil, die Geschlossenheit der Sprache ist vollkommen . . .«, 1. c., S. 26.
I2O
teile«. Sie fällen Urteile in einer bereits vorentschiedenen Form;
sie sprechen Verdammung aus. Zum Beispiel ist der »objektive
Gehalt«, das heißt die Definition solcher Ausdrücke wie »Abweichler«, »Revisionist« der des Strafgesetzbuches, und diese
Art von Bekräftigung befördert ein Bewußtsein, für das die
Sprache der bestehenden Mächte die Sprache der Wahrheit ist24.
Das ist leider noch nicht alles. Das produktive Wachstum der
etablierten kommunistischen Gesellschaft verdammt auch die
freiheitliche kommunistische Opposition; die Sprache, die versucht, die ursprüngliche Wahrheit ins Gedächtnis zurückzurufen
und zu erhalten, unterliegt deren Ritualisierung. Die Orientierung des Sprechens (und Handelns) an Ausdrücken wie »das
Proletariat«, »Arbeiterräte«, die »Diktatur des stalinistischen
Apparats« wird dort zur Orientierung an rituellen Formeln,
wo das »Proletariat« nicht mehr oder noch nicht existiert, wo
direkte Kontrolle »von unten« störend auf den Fortschritt der
Massenproduktion wirken und der Kampf gegen die Bürokratie
die Wirksamkeit der einzigen realen Kraft schwächen würde,
die in internationalem Maßstab gegen den Kapitalismus mobilisiert werden kann. Hier wird streng an der Vergangenheit
festgehalten, diese aber nicht mit der Gegenwart vermittelt. Man
widersetzt sich den Begriffen, die eine historische Lage erfaßten, ohne sie bis zur gegenwärtigen fortzuentwickeln — man stellt
ihre Dialektik still.
Die rituell-autoritäre Sprache verbreitet sich über die heutige Welt, über demokratische und nichtdemokratische, kapitalistische und nichtkapitalistische Länder25. Nach Roland Barthes
ist sie die Sprache, die allen autoritären Regimen eigen ist, aber
gibt es heute im Umkreis der fortgeschrittenen industriellen
Zivilisation eine Gesellschaft, die nicht einem autoritären Regime untersteht? Da die Substanz der verschiedenen Regime
nicht mehr in alternativen Lebensweisen erscheint, besteht sie
25 Was Westdeutschland angeht cf. die gründlichen Studien des Frankfurter Instituts für Sozialforschung aus den Jahren 1950/51: Gruppenexperiment, herausgegeben von F. Pollock, Frankfurt a. M. 1955, besonders S. 545 f. Cf. zu beiden
Teilen Deutschlands auch Karl Korn, Sprache in der verwalteten Welt, Frankfurt
a. M. 1958.
24 Roland Barthes, 1. c., S. 26 f.
121
nurmehr in den alternativen Techniken der Manipulation und
Kontrolle. Nicht nur reflektiert die Sprache diese Kontrolle,
sondern sie wird selbst dort zu einem Kontrollinstrument, wo
sie nicht Befehle, sondern Information übermittelt; wo sie nicht
Gehorsam, sondern Wahl, keine Unterwerfung, sondern Freiheit
erfordert.
Diese Sprache übt Kontrolle aus, indem sie die sprachlichen
Formen und Symbole der Reflexion, Abstraktion, der Entwicklung und des Widerspruchs reduziert; indem sie Bilder an die
Stelle von Begriffen setzt. Sie leugnet oder absorbiert den
transzendierenden Wortschatz; sie sucht nicht nach Wahrheit
und Falschheit, sondern setzt sie ein und durch. Dabei ist diese
Art des Sprechens nicht terroristisch. Es scheint nicht berechtigt
anzunehmen, daß die Zuhörer glauben oder zu glauben veranlaßt werden, was man ihnen sagt. Die neue Note der magischrituellen Sprache besteht vielmehr darin, daß die Menschen
nicht daran glauben oder nichts darauf geben und doch entsprechend handeln. Man »glaubt« der Aussage eines operationellen Begriffs nicht, aber sie rechtfertigt sich selbst im Handeln
— dadurch, daß die Arbeit verrichtet, daß verkauft und gekauft
wird, in der Weigerung, anderen zuzuhören usw.
Wenn die Sprache der Politik dazu tendiert, die der Reklame zu werden und dadurch den Bruch zwischen zwei früher
sehr verschiedenen Bereichen der Gesellschaft schließt, dann
scheint diese Tendenz den Grad auszudrücken, in dem Herrschaft und Verwaltung aufgehört haben, getrennte und unabhängige Funktionen in der technologischen Gesellschaft zu sein.
Das bedeutet nicht, daß die Macht der Berufspolitiker abgenommen hat. Das Gegenteil ist der Fall. Je globaler die Herausforderung ist, die sie aufbauen, um ihr zu begegnen, je normaler die Nachbarschaft totaler Zerstörung, desto größer ist
ihre Freiheit von wirksamer Volkssouveränität. Ihre Herrschaft
ist indessen in die täglichen Verrichtungen und in die Erholung
der Bürger eingewandert, und die »Symbole« der Politik sind
zugleich die von Geschäft, Kommerz und Vergnügen.
Was der Sprache widerfuhr, hat seine Parallele in den Wandlungen des politischen Verhaltens. Im Verlauf von Artikeln zur
entspannenden Unterhaltung in Luftschutzkellern, in der Fern122
sehsendung von Kandidaten, die um die Führung der Nation
konkurrieren, ist die Verbindung von Politik, Geschäft und Vergnügen vollkommen. Aber diese Verbindung ist trügerisch und
hängnisvoll verfrüht — Geschäft und Vergnügen unterstehen immer noch der Politik der Herrschaft. Es geht hier nicht um das
satirische Stück nach der Tragödie, nicht um finis tragoediae — die
Tragödie kann jetzt beginnen. Und wiederum wird nicht der
Held das rituelle Opfer sein, sondern das Volk.
Die Forschung der totalen Verwaltung
Die funktionale Kommunikation ist nur die Außenschicht des
eindimensionalen Universums, in dem der Mensch gedrillt wird,
daß er vergessen lernt, das Negative ins Positive zu übersetzen,
so daß er weiterfunktionieren kann — reduziert, aber tauglich
und einigermaßen gut. Die Institutionen der Rede- und Denkfreiheit behindern die geistige Gleichschaltung mit der etablierten
Wirklichkeit nicht. Was stattfindet, ist eine durchgreifende Neubestimmung des Denkens selbst, seiner Funktion und seines Inhalts. Die Gleichschaltung des Individuums mit seiner Gesellschaft
reicht in jene Schichten des Geistes hinein, in denen gerade diejenigen Begriffe ausgearbeitet werden, die bestimmt sind, die
etablierte Wirklichkeit zu erfassen. Die Begriffe werden der geistigen Tradition entnommen und in operationelle Termini übersetzt — eine Übersetzung, bei der die Spannung zwischen Denken
und Wirklichkeit dadurch vermindert wird, daß sie die negative
Macht des Denkens schwächt.
Das ist eine philosophische Entwicklung, und um das Ausmaß
zu erhellen, in dem sie mit der Tradition bricht, wird die Analyse zunehmend abstrakt und ideologisch werden müssen. Es
handelt sich um die von der Konkretion der Gesellschaft am
weitesten entfernte Sphäre, die am deutlichsten zeigen kann,
wie sehr die Gesellschaft sich das Denken unterworfen hat.
Ferner wird die Analyse in die Geschichte der philosophischen
Tradition zurückgehen und versuchen müssen, die Tendenzen
ausfindig zu machen, die zu jenem Bruch führten.
Ehe wir jedoch in die philosophische Analyse eintreten, werde
123
ich - zugleich als Übergang in den abstrakteren und theoretischeren Bereich - kurz zwei (nach meiner Ansicht repräsentative)
Beispiele aus dem dazwischen liegenden Gebiet, nämlich der empirischen Sozialforschung erörtern, die es unmittelbar mit bestimmten für die fortgeschrittene Industriegesellschaft charakteristischen Verhältnissen zu tun hat. Ob es hierbei um Fragen der
Sprache oder des Denkens, der Worte oder der Begriffe geht, um
eine sprachliche oder eine erkenntnistheoretische Analyse — die zu
diskutierende Sache widerstrebt solchen sauberen akademischen
Unterscheidungen. Die Trennung einer rein sprachlichen von
einer begrifflichen Analyse ist selbst ein Ausdruck der Umorientierung des Denkens, die zu erklären die nächsten Kapitel versuchen werden. Da die folgende Kritik der empirischen Sozialforschung unternommen wird, um auf die anschließende philosophische Analyse vorzubereiten und auch in deren Licht steht,
mag eine vorläufige Darlegung über den Gebrauch des Termins
»Begriff«, von dem die Kritik sich leiten läßt, zur Einführung
dienen.
»Begriff« soll die geistige Vorstellung von etwas bezeichnen,
das als Ergebnis eines Reflexionsprozesses verstanden, erfaßt
und gewußt wird. Dieses Etwas kann ein Gegenstand der täglichen Praxis oder eine Situation sein, eine Gesellschaft, ein
Roman. Wenn sie begriffen, auf ihren Begriff gebracht sind,
sind sie auf jeden Fall Gegenstände des Denkens geworden,
und damit sind ihr Inhalt und ihre Bedeutung identisch mit den
realen Gegenständen der unmittelbaren Erfahrung und doch
von diesen verschieden. »Identisch« insofern, als der Begriff
dasselbe Ding bezeichnet, »verschieden« insofern, als er das
Ergebnis einer Reflexion ist, die das Ding im Zusammenhang
(und im Licht) anderer Dinge verstanden hat, die in der unmittelbaren Erfahrung nicht erschienen und die das Ding »erklären« (Vermittlung).
Wenn der Begriff niemals ein besonderes, konkretes Ding
bezeichnet, wenn er stets abstrakt und allgemein ist, so deshalb,
weil er mehr und anderes begreift als ein besonderes Ding —
eine allgemeine, dem besonderen Ding wesentliche Beschaffenheit oder Beziehung, welche die Form bestimmt, unter der es
als konkreter Gegenstand der Erfahrung erscheint. Wenn der
124
Begriff von etwas Konkretem das Produkt geistiger Klassifikation, Organisation und Abstraktion ist, so führen diese geistigen Prozesse doch nur insoweit zum Begreifen, als sie das besondere Ding in seiner allgemeinen Beschaffenheit und Beziehung
wiederherstellen und dabei seine unmittelbare Erscheinung in
Richtung auf seine Wirklichkeit transzendieren.
Dementsprechend bedeuten alle Begriffe der Erkenntnis ein
Übergehen: sie gehen über die deskriptive Bezogenheit auf besondere Tatsachen hinaus. Und wenn die Tatsachen solche der
Gesellschaft sind, dann gehen die Begriffe der Erkenntnis auch
über jeden besonderen Zusammenhang von Tatsachen hinaus in die Prozesse und Verhältnisse hinein, auf denen die jeweilige
Gesellschaft beruht und die in alle besonderen Tatsachen eingehen und dabei diese Gesellschaft konstituieren, erhalten und
zerstören. Aufgrund ihrer Beziehung zu dieser historischen Totalität transzendieren die Begriffe der Erkenntnis allen operationellen Zusammenhang, aber ihre Transzendenz ist empirisch,
weil sie die Tatsachen als das erkennbar macht, was sie wirklich
sind.
Das »Mehr« an Bedeutung gegenüber dem operationellen Begriff wirft Licht auf die beschränkte, ja trügerische Form, unter
der es den Tatsachen gestattet ist, erfahren zu werden. Daher
die Spannung, die Diskrepanz, der Konflikt zwischen dem Begriff und der unmittelbaren Tatsache — dem konkreten Ding;
zwischen dem Wort, das sich auf den Begriff bezieht und dem,
das sich auf die Dinge bezieht. Daher der Begriff der »Wirklichkeit des Allgemeinen«. Daher auch der unkritische, sich anpassende Charakter jener Denkweisen, die Begriffe als geistige
Instrumente behandeln und allgemeine Begriffe in Termini mit
partikularen, objektiven Merkmalen übersetzen.
Wo diese reduzierten Begriffe die Analyse der menschlichen,
individuellen oder gesellschaftlichen, geistigen oder materiellen
Wirklichkeit leiten, gelangen sie zu einer falschen Konkretheit
— einer Konkretheit, die von den Bedingungen, die ihre Wirklichkeit ausmachen, isoliert ist. In diesem Zusammenhang nimmt
die operationelle Behandlung des Begriffs eine politische Funktion an. Das Individuum und sein Verhalten werden in einem
therapeutischen Sinne analysiert: Anpassung an seine Gesell125
schaft. Denken und Ausdruck, Theorie und Praxis sollen mit
den Tatsachen seiner Existenz in Übereinstimmung gebracht
werden, ohne daß für die begriffliche Kritik dieser Tatsachen
Raum bleibt.
Der therapeutische Charakter des operationellen Begriffs tritt
am klarsten dort zutage, wo das begriffliche Denken methodisch
in den Dienst der Erforschung und Verbesserung der bestehenden sozialen Verhältnisse innerhalb der bestehenden gesellschaftlichen Institutionen gestellt wird — in der Industriesoziologie, in der Motivforschung und in den Studien über den Markt
und die öffentliche Meinung.
Wenn die gegebene Gesellschaftsform das oberste Bezugssystem für Theorie und Praxis ist und bleibt, dann ist an dieser
Art Soziologie und Psychologie nichts falsch. Es ist menschlicher
und produktiver, gute Beziehungen zwischen Belegschaft und
Betriebsleitung zu haben als schlechte; angenehme Arbeitsbedingungen anstatt unangenehmer; Harmonie anstatt Konflikt zwischen den Kundenwünschen und den Bedürfnissen von Geschäft
und Politik.
Aber die Rationalität dieser Art von Sozialwissenschaft erscheint in einem anderen Licht, wenn die gegebene Gesellschaft,
die dabei das Bezugssystem bildet, zum Gegenstand einer kritischen Theorie wird, die gerade auf die Struktur dieser Gesellschaft abzielt, die in allen besonderen Tatsachen und Bedingungen präsent ist und deren Ort und Funktion bestimmt. Dann
wird ihr ideologischer und politischer Charakter offenkundig,
und die Ausarbeitung angemessener Begriffe der Erkenntnis
macht es erforderlich, über die trügerische Konkretheit des positivistischen Empirismus hinauszugehen. Der therapeutische und
operationelle Begriff wird in dem Maße falsch, wie er die Tatsachen isoliert, atomisiert und innerhalb des repressiven Ganzen befestigt und dabei die Termini dieses Ganzen als die der
Analyse hinnimmt. Die methodologisch geforderte Übersetzung
des Allgemeinen in den operationellen Begriff wird dann zur
repressiven Einschränkung des Denkens26.
26 In der Theorie des Funktionalismus tritt der therapeutische und ideologische
Charakter der Analyse nicht hervor; er wird durch die abstrakte Allgemeinheit
der Begriffe (»System«, »Teil«, »Einheit«, »Einzeltatbestand«, »mehrfache Kon126
Ich wähle als Beispiel ein »klassisches« Werk der Industriesoziologie: die Studie über die Arbeitsverhältnisse in den Hawthorne Betrieben der Western Electric Company27. Es handelt
sich um eine alte Studie, die ungefähr vor einem Vierteljahrhundert angestellt wurde, und die Methoden sind seitdem sehr verfeinert worden. Nach meiner Ansicht sind jedoch Substanz
und Funktion dieselben geblieben. Außerdem ist diese Denkweise inzwischen nicht nur in andere Zweige der Sozialwissenschaft und in die Philosophie vorgedrungen, sondern hat auch
dazu beigetragen, die menschlichen Subjekte zu formen, mit
denen sie es zu tun hat. Die operationellen Begriffe münden in
Methoden verbesserter sozialer Kontrolle ein: sie werden Teil
der Wissenschaft von der Betriebsführung, Abteilung Menschliche Beziehungen. In Labor Looks at Labor stehen diese Worte
eines Automobilarbeiters: »Die Betriebsleitung konnte unseren
Streiks nicht beikommen, sie konnte uns mit der Taktik der
direkten Gewalt nicht zum Halten bringen, deshalb haben sie
>Beziehungen< auf ökonomischem, gesellschaftlichem und politischem Gebiet studiert, um herauszubekommen, wie man die
Gewerkschaften zum Halten bringt«.
Bei der Untersuchung der Beschwerden von Arbeitern über
Arbeitsbedingungen und Löhne stießen die Forscher auf die Tatsache, daß die meisten dieser Beschwerden in Sätzen formuliert
waren, die »vage, unbestimmte Ausdrücke« enthielten, denen es
an »objektivem Bezug« zu solchen »Maßstäben« fehlte, »die allsequenzen«, »Funktion«) verdeckt. Sie sind im Prinzip auf jedes »System« anwendbar, das der Soziologe zum Gegenstand seiner Analyse wählt — von der
kleinsten Gruppe bis zur Gesellschaft als solcher. Die funktionale Analyse bleibt
auf das gewählte System begrenzt, das selbst kein Gegenstand einer kritischen
Analyse ist, welche die Schranken des Systems in Richtung auf das geschichtliche
Kontinuum überschreitet, in dem seine Funktionen und Dysfunktionen zu dem
werden, was sie sind. Damit entfaltet sich in der funktionalen Theorie der Irrtum
einer unangebrachten Abstraktheit. Die Allgemeinheit ihrer Begriffe wird dadurch erreicht, daß gerade von den Qualitäten abstrahiert wird, die das System
zu einem historischen machen und seinen Funktionen und Dysfunktionen eine
kritisch-transzendente Bedeutung verleihen.
27 Die Zitate stammen von Roethlisberger und Dickson, Management and the Worker, Cambridge, Harvard University Press, 1947. Cf. die vorzügliche Diskussion
in: Loren Baritz, The Servants of Power. Λ History of the Use of Social Science
in American Industry, Middletown, Wesleyan University Press, 1960, Kapitel 5
und 6.
127
gemein akzeptiert werden«, und daß sie Charakteristika aufwiesen, »die von den Eigenschaften, die im allgemeinen mit gewöhnlichen Tatsachen zusammengebracht werden, wesentlich
verschieden waren«28. Mit anderen Worten, die Beschwerden
waren in allgemeinen Feststellungen formuliert wie »die Waschräume sind unhygienisch«, »die Arbeit ist gefährlich«, »die Tarife
sind zu niedrig«.
Geleitet vom Prinzip des operationellen Denkens, machten
sich die Forscher daran, diese Feststellungen derart zu übersetzen
oder neuzuformulieren, daß ihre vage Allgemeinheit auf besondere Merkmale reduziert werden konnte, auf Termini, die die
besondere Situation bezeichneten, in der die Beschwerde entstanden war, und schilderten so »genau die Verhältnisse bei der Company«. Die allgemeine Form wurde in Feststellungen aufgelöst,
die die besonderen Vorgänge und Bedingungen ausfindig machten, welche die Beschwerde veranlaßten, und man nahm sich der
Beschwerde an, indem man diese besonderen Vorgänge und Bedingungen änderte.
Zum Beispiel wurde die Feststellung »die Waschräume sind
unhygienisch« übersetzt in »bei der und der Gelegenheit ging ich
in diesen Waschraum, und das Waschbecken war etwas schmutzig«. Nachfragen ermittelten dann, daß dies »in hohem Maße auf
die Unachtsamkeit einiger Angestellter zurückzuführen« war;
eine Kampagne gegen das Wegwerfen von Abfallpapier, das
Spucken auf den Boden und ähnliches wurde ins Leben gerufen,
und ein Wärter wurde zum ständigen Dienst in den Waschräumen bestellt. »Auf diese Weise wurden viele der Beschwerden
uminterpretiert und zum Anlaß genommen, Verbesserungen
durchzuführen«29.
Ein anderes Beispiel: ein Arbeiter B trifft die allgemeine Feststellung, daß die Stücktarife für seine Arbeit zu niedrig sind.
Das Interview ergibt, daß »seine Frau im Krankenhaus liegt und
er sich Sorgen macht wegen der Arztrechnungen, die auf ihn zukommen. In diesem Fall besteht der latente Inhalt der Beschwerde
in der Tatsache, daß B's gegenwärtiger Verdienst infolge der
28 Roethlisberger und Dickson, l. c., S. 255 f.
29 Ibid., S. 256.
128
Krankheit seiner Frau nicht zureicht, seinen laufenden finanziellen Verpflichtungen nachzukommen«30.
Eine solche Übersetzung ändert den Sinn des tatsächlichen
Satzes in bedeutsamer Weise. Die unübersetzte Feststellung formuliert einen allgemeinen Umstand in seiner Allgemeinheit (»die
Löhne sind zu niedrig«). Sie geht über die besonderen Zustände
in der besonderen Fabrik und über die besondere Lage des Arbeiters hinaus. In dieser Allgemeinheit, und nur in dieser Allgemeinheit, drückt die Feststellung eine weittragende Anklage aus,
die den besonderen Fall als die Manifestation eines allgemeinen
Zustands ansieht und zu verstehen gibt, daß dieser nicht dadurch
geändert werden kann, daß in jenem Abhilfe geschaffen wird.
So stellte die unübersetzte Aussage eine konkrete Beziehung
zwischen dem besonderen Fall und dem Ganzen her, dessen Fall
er ist — und dieses Ganze schließt die Verhältnisse außerhalb der
jeweiligen Arbeit, der jeweiligen Fabrik, der jeweiligen persönlichen Lage ein. Dieses Ganze wird in der Übersetzung beseitigt,
und eben diese Operation macht die Heilung möglich. Der Arbeiter mag sich dessen nicht bewußt sein, für ihn mag seine
Beschwerde in der Tat jenen partikularen und persönlichen Sinn
haben, den die Übersetzung als ihren »latenten Inhalt« herausfindet. Aber dann setzt die von ihm benutzte Sprache ihre objektive Gültigkeit gegen sein Bewußtsein durch — sie drückt Verhältnisse aus, die sind, obgleich nicht »für ihn«. Die von der
Übersetzung erreichte Konkretheit des besonderen Falles ist das
Ergebnis einer Reihe von Abstraktionen von seiner wirklichen
Konkretheit, die im allgemeinen Charakter des Falles besteht.
Die Übersetzung bezieht die allgemeine Aussage auf die persönliche Erfahrung des Arbeiters, der sie macht, hört aber an
dem Punkt auf, wo der individuelle Arbeiter sich als «den Arbeiter« erfahren würde und seine Beschäftigung als »die Beschäftigung« der arbeitenden Klasse erschiene. Ist es notwendig, darauf aufmerksam zu machen, daß der operationelle Forscher bei
seinen Übersetzungen bloß dem Prozeß der Wirklichkeit folgt
und wahrscheinlich sogar den Übersetzungen des Arbeiters selbst?
Die unterbrochene Erfahrung ist nicht sein Werk, und es ist nicht
30 Ibid., S. 167.
129
seine Aufgabe, im Sinne einer kritischen Theorie zu denken, sondern Aufseher »in menschlicheren und wirksameren Methoden«
zu schulen, »mit ihren Arbeitern umzugehen«31 (nur der Ausdruck »menschlich« scheint nichtoperationell und einer Analyse
bedürftig).
Da aber diese managerhafte Denk- und Forschungsweise sich
auf andere Dimensionen geistigen Bemühens ausbreitet, werden
die von ihr geleisteten Dienste immer weniger von ihrer wissenschaftlichen Gültigkeit trennbar. In diesem Zusammenhang hat die
Funktionalisierung einen wahrhaft therapeutischen Effekt. Ist die
persönliche Unzufriedenheit einmal vom allgemeinen Unglück
isoliert, sind die allgemeinen Begriffe, die sich ihrer Funktionalisierung widersetzen, einmal in partikulare Merkmale aufgelöst,
dann wird der Fall zu einem heilbaren, leicht zu handhabenden
Vorkommnis.
Zwar bleibt der Fall der eines Allgemeinen - kein Denken
kann ohne Universalien auskommen - aber auf eine Weise, die
von der in der unübersetzten Aussage gemeinten sehr verschieden ist. Hat man sich erst seiner Arztrechnungen angenommen,
so wird der Arbeiter B anerkennen, daß - allgemein gesprochen der Lohn nicht zu niedrig ist und nur in seiner individuellen Lage
(die anderen individuellen Lagen ähnlich sein kann) eine Härte
bedeutete. Sein Fall ist unter eine andere Gattung subsumiert
worden — unter die der persönlichen Härtefälle. Er ist kein
»Arbeiter« oder »Angestellter« (Angehöriger einer Klasse) mehr,
sondern der Arbeiter oder Angestellte B im Hawthornewerk der
Western Electric Company.
Die Verfasser von Management and the Worker waren sich
dieser Implikation durchaus bewußt. Sie sagen, daß eine der
grundlegenden Funktionen, die in einer industriellen Organisation ausgeübt werden muß, »die spezifische Funktion der Personalarbeit« ist, und diese Funktion erfordert, daß man bei der
Behandlung von Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern »an das denken muß, was sich ein besonderer Arbeitnehmer vorstellt, als ein Arbeiter, der eine besondere persönliche
Geschichte gehabt hat«, oder als ein Angestellter, der einen be3l Loc. cit., S. VIII.
130
sonderen Arbeitsplatz in der Fabrik einnimmt, der ihn mit
besonderen Personen und Personengruppen in Verbindung
bringt...« Demgegenüber weisen die Verfasser eine Haltung als
mit der »spezifischen Funktion der Personalarbeit« unverträglich
zurück, die sich an den »durchschnittlichen« oder »typischen«
Arbeitnehmer oder an das richtet, »was sich der Arbeiter im
allgemeinen vorstellt«32.
Wir können diese Beispiele zusammenfassen, indem wir den
ursprünglichen Aussagen die funktionale Form ihrer Übersetzung
gegenüberstellen. Wir nehmen die Aussagen in beiden Formen
für bare Münze und lassen das Problem ihrer Verifikation beiseite.
1) »Der Lohn ist zu niedrig«. Das Subjekt des Satzes ist »Lohn«,
nicht die besondere Vergütung eines mit einer besonderen Tätigkeit befaßten besonderen Arbeiters. Es könnte sein, daß der
Mann, der diese Aussage macht, nur an seine individuelle Erfahrung denkt, in der Form aber, in der er seine Aussage vorbringt,
geht er über diese individuelle Erfahrung hinaus. Das Prädikat
»zu niedrig« ist ein relationales Adjektiv, das einen Bezug
erfordert, der in dem Satz nicht genannt ist - zu niedrig für wen
oder wofür? Dieser Bezug könnte wiederum das Individuum
sein, das die Aussage macht, oder seine Arbeitskollegen, aber das
allgemeine Substantiv (Lohn) trägt die ganze, durch den Satz
ausgedrückte Denkbewegung und läßt die anderen Satzteile an
diesem allgemeinen Charakter teilhaben. Der Bezug bleibt
unbestimmt - »zu niedrig im allgemeinen« oder »zu niedrig für
jeden, der, wie der Sprecher, ein Lohnempfänger ist«. Der Satz
ist abstrakt. Er bezieht sich auf umfassende Verhältnisse, die
durch keinen besonderen Fall ersetzbar sind; sein Sinn ist »transitiv« gegenüber jedem individuellen Fall. Der Satz verlangt in
der Tat, daß er in einen konkreteren Zusammenhang »übersetzt«
wird, aber in einen, worin die allgemeinen Begriffe nicht durch
irgendeine besondere Reihe von Operationen (wie die persönliche
Geschichte des Arbeiters B und seine spezielle Funktion im Werk
W) bestimmt werden können. Der Begriff »Lohn« bezieht sich
auf die Gruppe »Lohnempfänger« und integriert alle persön32 Ibid., S. 591.
131
lichen Geschichten und speziellen Arbeiten zu einem KonkretAllgemeinen.
2) »Infolge der Krankheit seiner Frau sind die augenblicklichen Einkünfte von B unzureichend, um seinen laufenden Verpflichtungen nachzukommen«. Man beachte, daß in dieser Übersetzung von (1) das Subjektiv verlagert worden ist. Der allgemeine Begriff »Lohn« wird durch die »augenblicklichen Einkünfte von B« ersetzt, ein Ausdruck, dessen Sinn durch die besondere Reihe von Operationen voll bestimmt wird, die B auszuführen hat, um für seine Familie Lebensmittel, Kleidung, Wohnung, Medikamente usw. zu besorgen. Der »transitive« Charakter des Sinns ist abgeschafft; die Einstufung »Lohnempfänger«
ist mit dem Subjekt »Lohn« verschwunden, und was übrig bleibt,
ist ein besonderer Fall, der, seines transitiven Sinnes beraubt,
den akzeptierten Behandlungsmaßstäben der Company zugänglich wird, deren Fall er ist.
Was ist daran falsch? Nichts. Die Übersetzung der Begriffe und
des Satzes als eines Ganzen wird durch die Gesellschaft bestätigt,
an die der Forscher sich wendet. Die Therapie wirkt, weil das
Werk oder die Regierung es sich leisten kann, zumindest einen
beträchtlichen Teil der Kosten zu tragen, weil sie bereit sind, es
zu tun, und weil der Patient gewillt ist, sich in einer Erfolg
versprechenden Weise behandeln zu lassen. Die vagen, unbestimmten, allgemeinen Begriffe, die in der unübersetzten Beschwerde auftraten, waren in der Tat Überbleibsel der Vergangenheit; ihr Fortbestehen im Sprechen und Denken war in der
Tat ein (wenn auch geringfügiges) Hemmnis für Verständnis und
Zusammenarbeit. Soweit operationelle Soziologie und Psychologie dazu beigetragen haben, unmenschliche Verhältnisse zu mildern, gehören sie zum geistigen wie materiellen Fortschritt. Aber
sie zeugen auch von der ambivalenten Rationalität des Fortschritts, der in seiner repressiven Macht zufrieden stellt und in
den Befriedigungen, die er gewährt, repressiv ist.
Die Beseitigung des transitiven Sinnes ist ein Zug der empirischen Soziologie geblieben. Sie charakterisiert sogar eine große
Anzahl von Studien, die nicht dazu bestimmt sind, eine therapeutische Funktion in irgendeinem partikularen Interesse zu erfüllen. Das Ergebnis: ist einmal das »unrealistische« Mehr an
132
Sinn abgeschafft, dann ist die Untersuchung in die umfassenden
Grenzen eingeschlossen, innerhalb derer die bestehende Gesellschaft Sätze bestätigt oder für ungültig erklärt. Aufgrund seiner
Methodologie ist dieser Empirismus ideologisch. Um seinen ideologischen Charakter zu verdeutlichen, wollen wir eine Studie über
die politische Aktivität in den Vereinigten Staaten betrachten.
In ihrem Aufsatz »Konkurrenzdruck und demokratische Zustimmung« wollen Morris Janowitz und Dwaine Marvick »das
Maß abschätzen, in dem eine Wahl tatsächlich Ausdruck des demokratischen Prozesses ist«. Eine solche Bewertung schließt ein, daß
der Wahlvorgang »im Hinblick auf die Erfordernisse, eine demokratische Gesellschaft aufrechtzuerhalten«, beurteilt wird, und
dies wiederum erfordert eine Definition von »demokratisch«.
Die Verfasser stellen zwei alternative Definitionen zur Auswahl,
die »Mandats«theorie und die »Konkurrenz«theorie der Demokratie: »Die >Mandats<theorien, die ihren Ursprung in den klassischen Konzeptionen der Demokratie haben, fordern, daß der
Prozeß der Repräsentation aus einer klar umrissenen Anzahl von
Direktiven hervorgeht, die die Wählerschaft ihren Vertretern
auferlegt. Eine Wahl ist eine bequeme Arbeitsweise und Methode,
sicherzustellen, daß die Vertreter den von den Wählern stammenden Direktiven Genüge tun 33 .«
Nun wurde diese »vorgefaßte Meinung von vornherein als
unrealistisch abgelehnt, weil sie ein Niveau von artikulierter
Meinung und Ideologie hinsichtlich der den Wahlkampf betreffenden Tatbestände voraussetzt, das in den Vereinigten Staaten höchstwahrscheinlich nicht zu finden ist«. Diese recht offene
Feststellung der Tatsachen wird zwar durch den tröstenden Zweifel gemildert, ob denn »ein derartiges Niveau artikulierter Meinung in irgendeiner demokratischen Wählerschaft seit der Erweiterung des Stimmrechts im neunzehnten Jahrhundert bestanden«
habe. Auf jeden Fall akzeptieren die Verfasser statt der abgelehnten vorgefaßten Meinung die »Konkurrenz«theorie der Demokratie, derzufolge eine demokratische Wahl ein Prozeß ist,
33 H. Eulau, S. J. Eldersveld, M. Janowitz (Herausgeber), Political Behavior (Glencoe Free Press, 1956), S. 275.
133
»in dem Kandidaten gewählt und abgelehnt werden«, die »um
ein öffentliches Amt konkurrieren«. Um wirklich operationell
zu sein, erfordert diese Definition »Kriterien«, aufgrund deren
der Charakter politischer Konkurrenz zu veranschlagen ist.
Wann bringt politische Konkurrenz einen »Prozeß der Zustimmung« und wann einen »Prozeß der Manipulation« hervor?
Angeboten werden drei Kriterien:
1)
Eine demokratische Wahl erfordert eine Konkurrenz zwischen
entgegengesetzten Kandidaten, die den gesamten Wahlbezirk
durchherrscht. Die Wählerschaft gewinnt Macht aus ihrer Fähigkeit, zwischen wenigstens zwei konkurrierenden Kandidaten eine Wahl zu treffen, von denen einem eine vernünftige
Gewinnchance zugesprochen wird.
2)
Eine demokratische Wahl erfordert, daß beide [!] Parteien
gleichermaßen bemüht sind, sich etablierte Wahlbezirke zu erhalten, unabhängige Wähler sowie Überläufer von den Oppositionsparteien zu gewinnen.
3)
Eine demokratische Wahl erfordert, daß beide [!] Parteien
energisch darauf aus sind, die laufende Wahl zu gewinnen;
aber, ob sie nun gewinnen oder verlieren, beide Parteien müssen ebenso bestrebt sein, ihre Erfolgschancen in den nächsten
und folgenden Wahlen zu erhöhen . . .34
Ich glaube, diese Definitionen beschreiben ziemlich genau die
tatsächliche Lage der Dinge bei der amerikanischen Wahl von
1952, die Gegenstand der Analyse ist. Mit anderen Worten, die
Kriterien zur Beurteilung eines gegebenen Zustands sind die vom
gegebenen Zustand angebotenen (oder, da sie die eines wohlfunktionierenden und fest etablierten Gesellschaftssystems sind,
die durchgesetzten) Kriterien. Die Analyse ist »abgeriegelt«; die
Reichweite des Urteils ist auf einen Zusammenhang von Tatsachen begrenzt, der ausschließt, daß der Zusammenhang beurteilt wird, in dem Tatsachen gemacht, von Menschen gemacht, und
nach Bedeutung, Funktion und Entwicklung bestimmt werden.
34 Ibid., S. 276.
134
Aufgrund dieses Bezugsrahmens bewegt sich die Untersuchung
im Kreise und bestätigt sich selbst. Wenn »demokratisch« in den
beschränkenden, aber realistischen Begriffen des tatsächlichen
Wahlvorgangs definiert wird, dann ist dieser Vorgang demokratisch, was immer die Untersuchung ergeben mag. Zwar gestattet
der operationelle Bezugsrahmen noch die Unterscheidung zwischen Zustimmung und Manipulation (er verlangt sie sogar); die
Wahl kann mehr oder weniger demokratisch sein, je nach dem
ermittelten Grad von Zustimmung und Manipulation. Die Verfasser kommen zu dem Schluß, daß die Wahl von 1952 »in höherem Maße durch einen Prozeß genuiner Zustimmung charakterisiert war als impressionistische Schätzungen hätten unterstellen
können«35 — obgleich es ein »schwerwiegender Irrtum« wäre, die
»Schranken« der Zustimmung zu übersehen und zu leugnen, daß
»manipulativer Druck vorlag«36. Über diese kaum erhellende
Feststellung kann die operationelle Analyse nicht hinausgehen.
Mit anderen Worten, sie kann die entscheidende Frage nicht aufwerfen, ob nicht die Zustimmung selbst das Werk von Manipulation war — eine Frage, die durch den tatsächlichen Zustand der
Dinge in hohem Maße gerechtfertigt ist. Die Analyse kann sie
nicht aufwerfen, weil das ihre Begriffe in Richtung auf einen
transitiven Sinn überschritte — in Richtung auf einen Begriff von
Demokratie, der die demokratische Wahl als einen ziemlich beschränkten »demokratischen Prozeß« erwiese.
Ein solcher nichtoperationeller Begriff ist gerade der, den die
Autoren als »unrealistisch« ablehnen, weil er Demokratie auf
einem allzu artikulierten Niveau als die festumrissene Kontrolle
der Repräsentanz durch die Wählerschaft definiert - Kontrolle
durch das Volk als Kennzeichen der Volkssouveränität. Und dieser nichtoperationelle Begriff kommt keineswegs von außen. Er
ist keineswegs der Einbildung oder Spekulation verdankt, sondern bestimmt vielmehr die geschichtliche Intention der Demokratie, die Verhältnisse, für die der Kampf um Demokratie
ausgefochten wurde und die immer noch herzustellen sind.
Außerdem ist dieser Begriff in seiner semantischen Exakt35 Ibid., S. 284.
36 Ibid., S. 285.
135
heit unfehlbar, weil er genau das meint, was er sagt - daß es
nämlich wirklich die Wählerschaft ist, die den Vertretern ihre
Direktiven erteilt und daß nicht die Vertreter ihre Direktiven
einer Wählerschaft erteilen, die dann die Vertreter wählt und
wiederwählt. Eine autonome Wählerschaft, die frei ist, weil sie
von »Schulung« und Manipulation frei ist, befände sich in der Tat
auf einem »Niveau artikulierter Meinung und Ideologie«, von
dem unwahrscheinlich ist, daß es angetroffen wird. Deshalb muß
der Begriff als »unrealistisch« abgelehnt werden - und zwar
dann, wenn man das tatsächlich vorherrschende Niveau von
Meinung und Ideologie als dasjenige gelten läßt, was der soziologischen Analyse gültige Kriterien vorschreibt. Und wenn
»Schulung« und Manipulation die Stufe erreicht haben, auf der
das herrschende Meinungsniveau ein Niveau der Unwahrheit
geworden ist und der tatsächliche Zustand nicht mehr als das
erkannt wird, was er ist, dann bindet sich eine Analyse,
die methodologisch verpflichtet ist, transitive Begriffe abzulehnen, an ein falsches Bewußtsein. Gerade ihr Empirimus ist ideologisch.
Die Verfasser sind sich des Problems durchaus bewußt. »Ideologische Strenge« stellt eine »ernst zu nehmende Implikation«
beim Einschätzen einer demokratischen Zustimmung dar. Allerdings, aber wem wird zugestimmt? Natürlich den politischen
Kandidaten und ihrer Politik. Aber das genügt nicht; denn dann
wäre auch die Zustimmung zu einem faschistischen Regime (und
man kann durchaus von einer genuinen Zustimmung zu einem
solchen Regime sprechen) ein »demokratischer Prozeß«. Mithin
muß die Zustimmung selbst eingeschätzt werden - hinsichtlich
ihres Inhalts, ihrer Zielsetzungen, ihrer »Werte« - und dieser
Schritt scheint den transitiven Charakter des Sinnes einzuschließen. Ein solcher »unwissenschaftlicher« Schritt läßt sich jedoch
vermeiden, wenn die einzuschätzende ideologische Orientierung
keine andere als die der bestehenden und »effektiv« miteinander
konkurrierenden beiden Parteien ist, zu der die »ambivalentneutralisierte« Orientierung der Wähler hinzutritt37.
Die Tabelle, auf der die Ergebnisse der Abstimmung hinsicht37 Ibid., S. 280.
136
lich der ideologischen Orientierung verzeichnet sind, zeigt drei
Grade der Verbundenheit mit den Republikanischen und Demokratischen Parteiideologien sowie die »ambivalenten und neutralisierten« Meinungen38. Die bestehenden Parteien selbst, ihre
politischen Praktiken und Machinationen werden nicht in Frage
gestellt, ebensowenig wie ihr tatsächlicher Unterschied hinsichtlich höchst wichtiger Tatbestände (solche der Atompolitik und
der totalen Kriegsbereitschaft), Fragen, die für die Einschätzung
der Demokratie wesentlich scheinen, sofern die Analyse nicht
mit einem Begriff von Demokratie operiert, der bloß die
Züge der etablierten Form von Demokratie zusammenstellt.
Solch ein operationeller Begriff ist dem Gegenstand der Untersuchung nicht gänzlich unangemessen. Er verweist klar genug
auf die Qualitäten, die in der gegenwärtigen Periode demokratische und nichtdemokratische Systeme voneinander unterscheiden (zum Beispiel wirksame Konkurrenz zwischen Kandidaten,
die verschiedene Parteien vertreten; Freiheit der Wählerschaft,
sich zwischen diesen Kandidaten zu entscheiden), aber diese Angemessenheit reicht nicht aus, wenn die Aufgabe der theoretischen
Analyse mehr und etwas anderes als eine deskriptive sein soll —
wenn sie darin besteht, die Tatsachen zu begreifen, zu erkennen als
das, was sie sind, was sie für diejenigen bedeuten, denen man sie
als Tatsachen gegeben hat und die mit ihnen leben müssen. In
der Gesellschaftstheorie ist die Anerkennung der Tatsachen die
Kritik der Tatsachen.
Dabei genügen die operationellen Begriffe nicht einmal zur Beschreibung der Tatsachen. Sie erreichen gewisse Aspekte und
Segmente der Tatsachen, die, wenn sie fürs Ganze gehalten werden, die Beschreibung ihres objektiven, empirischen Charakters
berauben. Als Beispiel hierfür wollen wir den Begriff der »politischen Aktivität« in der Studie von Julian L. Woodward und
Elmo Roper über »Die politische Aktivität amerikanischer Bürger« betrachten39. Die Verfasser liefern eine »operationelle Definition des Ausdrucks >politische Aktivität<«, die aus »fünf Verhaltensweisen« besteht: 1) Wahlbeteiligung; 2) Unterstützung
möglicher »pressure groups« ... 3) persönliche, direkte Kontakt38 Ibid., S. 138 ff.
39 Ibid., S. 133.
137
aufnahme mit Gesetzgebern; 4) Teilnahme an parteipolitischer
Tätigkeit... 5) Gewohnheitsmäßiges Verbreiten politischer Meinungen im Gespräch . . .
Sicherlich handelt es sich hierbei um »Kanäle möglichen Einflusses auf Gesetzgeber und Regierungsbeamte«, aber kann ihre
Messung wirklich »eine Methode« liefern, »diejenigen Leute,
die in politischen Fragen der Nation verhältnismäßig aktiv
sind, von denen zu unterscheiden, die verhältnismäßig inaktiv
sind«? Sind hierin solche entscheidenden Tätigkeiten »in den
Fragen der Nation« wie die technischen und ökonomischen Kontakte zwischen Konzernleitungen und Regierung und zwischen
den führenden Konzernen selbst enthalten? Sind die Formulierung und Verbreitung von »unpolitischer« Meinung, Information und Unterhaltung seitens der großen Reklamemedien
hierin enthalten? Trägt man dem sehr verschiedenen politischen
Gewicht der verschiedenen Organisationen Rechnung, die zu
öffentlichen Gegenständen Stellung nehmen?
Wenn die Antwort negativ ist (wie ich glaube), dann werden
die Tatsachen der politischen Tätigkeit nicht angemessen beschrieben und ermittelt. Viele, und wie ich meine, die bestimmenden,
konstitutiven Tatsachen bleiben außerhalb der Reichweite des
operationellen Begriffs. Und aufgrund dieser Beschränkung - dieses methodologischen Verbots transitiver Begriffe, welche die
Tatsachen in ihrem wahren Licht zeigen und bei ihrem wahren
Namen nennen könnten - hemmt die deskriptive Analyse
der Tatsachen deren Erfassung und wird zu einem Element der
Ideologie, die die Tatsachen stützt. Indem sie die bestehende gesellschaftliche Wirklichkeit als ihre eigene Norm proklamiert,
befestigt diese Soziologie in den Individuen den »glaubenslosen
Glauben« an die Wirklichkeit, deren Opfer sie sind: »Nichts
bleibt als Ideologie zurück denn die Anerkennung des Bestehenden selber, Modelle eines Verhaltens, das der Übermacht der Verhältnisse sich fügt«40. Gegen diesen ideologischen Empirismus
macht sich der einfache Widerspruch erneut geltend: »Das, was
ist, kann nicht wahr sein«41.
40 Theodor W. Adorno, »Ideologie«, in: Kurt Lenk (Herausgeber) Ideologie, Neuwied 1961, S. 262, 263.
41 Ernst Bloch, Philosophische Grundfragen 1, Frankfurt 1961, S. 65.
138
Das eindimensionale Denken
5 Negatives Denken: die besiegte Logik des Protests
»Das was ist, kann nicht wahr sein«. Für unsere wohltrainierten Ohren und Augen ist diese Behauptung leichtfertig und
lächerlich oder so unerhört wie jene andere, die das Gegenteil zu
sagen scheint: »Was wirklich ist, das ist vernünftig«. Und doch
offenbaren beide, in der Tradition des abendländischen Denkens
gesehen, in provokatorisch abgekürzter Form die Idee der Vernunft, von der die Logik jener Tradition sich leiten ließ. Mehr
noch, beide drücken denselben Begriff aus, nämlich die antagonistische Struktur der Wirklichkeit und des Denkens, das diese
zu verstehen sucht. Die Welt der unmittelbaren Erfahrung - die
Welt, in der lebend wir uns vorfinden - muß begriffen, verändert, sogar umgestürzt werden, um zu dem zu werden, was sie
wirklich ist.
In der Gleichung Vernunft = Wahrheit = Wirklichkeit, welche die subjektive und objektive Welt zu einer antagonistischen
Einheit verbindet, ist die Vernunft die umstürzende Macht, die
»Macht des Negativen«, die als theoretische und praktische Vernunft die Wahrheit für die Menschen und Dinge darlegt — das
heißt die Bedingungen, unter denen die Menschen und Dinge zu
dem werden, was sie wirklich sind. Der Versuch zu zeigen, daß
diese Wahrheit von Theorie und Praxis keine subjektive, sondern
eine objektive Beschaffenheit ist, war das ursprüngliche Interesse
des abendländischen Denkens und der Ursprung seiner Logik —
Logik nicht im Sinne einer Sonderdisziplin der Philosophie, sondern als die Denkweise, die geeignet war, das Wirkliche als vernünftig zu begreifen.
Das totalitäre Ganze technologischer Rationalität ist die letzte
Umbildung der Idee der Vernunft. In diesem und dem folgenden
Kapitel werde ich versuchen, einige der Hauptstufen der Entwicklung dieser Idee zu bestimmen — den Prozeß, wodurch Logik
zur Logik der Herrschaft wurde. Eine solche ideologische Analyse kann zum Verständnis der realen Entwicklung insofern bei139
tragen, als sie sich auf die Vereinigung (und Trennung) von
Theorie und Praxis, Denken und Handeln im geschichtlichen
Prozeß - einer Entfaltung von theoretischer und praktischer
Vernunft zugleich - konzentriert.
Das geschlossene operationelle Universum der fortgeschrittenen industriellen Zivilisation mit ihrer bestürzenden Harmonie
von Freiheit und Unterdrückung, Produktivität und Zerstörung,
Wachstum und Regression ist in dieser Idee der Vernunft als
eines spezifischen geschichtlichen Entwurfs bereits vorgezeichnet.
Die technischen und die vortechnischen Stufen haben gewisse gemeinsame Grundbegriffe von Mensch und Natur, in denen die
Kontinuität der abendländischen Tradition sich ausdrückt. Innerhalb dieses Kontinuums stoßen verschiedene Denkweisen aufeinander; sie gehören zu verschiedenen Weisen, Gesellschaft und
Natur zu erfassen, zu organisieren und zu verändern. Die stabilisierenden Tendenzen widerstreiten den zerstörenden Elementen
der Vernunft, die Macht des positiven der des negativen Denkens, bis schließlich die Errungenschaften der fortgeschrittenen
industriellen Zivilisation zum Triumph der eindimensionalen
Wirklichkeit über allen Widerspruch führen.
Dieser Konflikt geht bis auf die Ursprünge des philosophischen
Denkens selbst zurück und kommt im Gegensatz zwischen Platons dialektischer Logik und der formalen Logik des Aristotelischen Organon schlagend zum Ausdruck. Der folgende Umriß
des klassischen Modells dialektischen Denkens mag einer Analyse
der einander entgegengesetzten Züge technologischer Rationalität
den Boden bereiten.
In der klassischen griechischen Philosophie ist Vernunft insofern das Erkenntnisvermögen, zu unterscheiden, was wahr und
was falsch ist, als Wahrheit (und Falschheit) in erster Linie eine
Beschaffenheit des Seins, der Wirklichkeit ist — und nur aus diesem Grund eine Eigenschaft von Sätzen. Die wahre Rede, die
Logik, enthüllt und drückt aus, was wirklich ist — als unterschieden von dem, was (wirklich) zu sein scheint. Und vermöge dieser
Gleichung von Wahrheit und (wirklichem) Sein ist Wahrheit ein
Wert; denn Sein ist besser als Nichtsein. Dieses ist nicht einfach
Nichts; es ist Potentialität und Bedrohung des Seins — Zerstörung. Der Kampf um Wahrheit ist ein Kampf gegen Zerstörung,
140
für die »Rettung« (σώζειν) des Seins (ein Bemühen, das selbst
zerstörerisch scheint, wenn es die bestehende Wirklichkeit als
»unwahr« angreift: Sokrates gegenüber dem athenischen Stadtstaat). Sofern der Kampf um Wahrheit die Wirklichkeit vor Zerstörung »bewahrt«, verpflichtet und engagiert die Wahrheit die
menschliche Existenz. Sie ist der wesentlich menschliche Entwurf.
Wenn der Mensch gelernt hat, zu sehen und zu wissen, was wirklich ist, wird er im Einklang mit der Wahrheit handeln. Erkenntnistheorie ist an sich Ethik, und Ethik ist Erkenntnistheorie.
Diese Konzeption spiegelt die Erfahrung einer in sich antagonistischen Welt — einer Welt, die an Mangel und Negativität
krankt und beständig von Zerstörung bedroht ist, aber auch eine
Welt, die ein Kosmos ist, strukturiert im Einklang mit Endursachen. In dem Maße, wie die Erfahrung einer antagonistischen
Welt die Entwicklung der philosophischen Kategorien leitet, bewegt sich die Philosophie in einem Universum, das in sich entzweit ist (déchirement ontologique) — zweidimensional ist. Erscheinung und Wirklichkeit, Unwahrheit und Wahrheit (und, wie
wir sehen werden, Unfreiheit und Freiheit) sind ontologische
Verhältnisse.
Diese Unterscheidung gründet nicht im abstrakten Denken,
nicht in dessen Fehlbarkeit; sie ist vielmehr in der Erfahrung
des Universums verwurzelt, an dem das Denken in Theorie und
Praxis teil hat. In diesem Universum gibt es Seinsweisen, in denen die Menschen und Dinge »durch sich« und als »sie selbst«
sind, und andere, in denen sie es nicht sind — das heißt unter Verzerrung, Beschränkung oder Verneinung ihrer Natur (ihres Wesens) existieren. Die Überwindung dieser negativen Beschaffenheiten ist der Prozeß des Seins und des Denkens. Philosophie hat
ihren Ursprung in der Dialektik; das Ganze, worin ihre Rede
sich bewegt, antwortet auf die Tatsachen einer antagonistischen
Wirklichkeit.
Was sind die Kriterien für diese Unterscheidung? Auf welcher
Grundlage wird der Status der »Wahrheit« eher der einen Weise
oder Beschaffenheit zugesprochen denn der anderen? Die klassische griechische Philosophie vertraut in hohem Maße dem, was
später (in einem ziemlich abschätzigen Sinne) »Intuition« genannt wurde, das heißt einer Erkenntnisform, unter der das
141
Objekt des Denkens klar als das erscheint, was es wirklich (in
seinen wesentlichen Qualitäten) ist und das in antagonistischer
Beziehung zu seinem kontingenten unmittelbaren Zustand steht.
Freilich ist dieser Aufweis aus Intuition vom Cartesianischen
nicht allzu verschieden. Sie ist kein geheimnisvolles Vermögen
des Geistes, keine eigenartige unmittelbare Erfahrung, noch ist
sie von der begrifflichen Analyse abgespalten. Intuition ist vielmehr der (vorläufige) Endpunkt einer solchen Analyse - das
Ergebnis methodischer geistiger Vermittlung. Als solche ist sie
die Vermittlung konkreter Erfahrung.
Der Begriff des Wesens des Menschen mag das erläutern. Analysiert man den Menschen in der Lage, in der er sich in seinem
Universum befindet, so scheint er bestimmte Vermögen und
Kräfte zu besitzen, die ihn befähigen würden, ein »gutes Leben«
zu führen, das heißt ein Leben, das so weit als möglich frei ist
von harter Arbeit, Abhängigkeit und Häßlichkeit. Ein solches
Leben erreichen, heißt das »beste Leben« erreichen: dem Wesen
der Natur oder des Menschen gemäß leben.
Freilich ist dies noch das Diktum des Philosophen; er ist es, der
die menschliche Situation analysiert. Er unterwirft die Erfahrung
seinem kritischen Urteil, und dieses enthält ein Werturteil: daß
Freiheit von harter Arbeit harter Arbeit vorzuziehen ist und ein
intelligentes Leben einem dummen. So wurde die Philosophie
mit diesen Werten geboren. Das wissenschaftliche Denken mußte
diese Einheit von Werturteil und Analyse zerbrechen; denn es
wurde immer klarer, daß die philosophischen Werte weder für
die Organisation der Gesellschaft noch für die Umgestaltung der
Natur richtungweisend waren. Sie waren unwirksam, unwirklich.
Bereits die griechische Konzeption enthält das geschichtliche Element — das Wesen des Menschen ist anders im Sklaven als im
freien Bürger, anders im Griechen als im Barbaren. Die Zivilisation hat die ontologische Stabilisierung dieses Unterschieds (zumindest in der Theorie) überwunden. Aber diese Entwicklung
stößt die Unterscheidung zwischen wesentlicher und kontingenter
Natur, zwischen wahren und falschen Daseinsweisen noch nicht
um — vorausgesetzt nur, daß die Unterscheidung aus einer logischen Analyse der empirischen Situation hervorgeht und deren
Potential wie Kontingenz versteht.
142
Für den Platon der späteren Dialoge und für Aristoteles sind
die Seinsweisen Weisen der Bewegung — Übergang von Potentialität in Aktualität, Verwirklichung. Endliches Sein ist unvollkommene Verwirklichung, dem Wandel unterworfen. Sein Entstehen ist Verfall; es ist von Negativität durchdrungen. Daher
ist es keine wahre Wirklichkeit — keine Wahrheit. Das philosophische Forschen schreitet von der endlichen Welt fort zur Konstruktion einer Wirklichkeit, die der schmerzhaften Differenz
von Potentialität und Aktualität nicht unterworfen ist, ihre
Negativität bezwungen hat und vollkommen und unabhängig
in sich ist - frei.
Diese Entdeckung ist das Werk von Logos und Eros. Diese beiden Schlüsselbegriffe bezeichnen zwei Weisen der Negation; die
erotische wie die logische Erkenntnis durchbrechen die Gewalt
der bestehenden, kontingenten Wirklichkeit und streben nach
einer mit ihr unvereinbaren Wahrheit. Logos und Eros sind subjektiv und objektiv zugleich. Der Aufstieg von den »niederen«
zu den »höheren« Formen der Wirklichkeit ist ebenso Bewegung
der Materie wie des Geistes. Nach Aristoteles zieht die vollkommene Wirklichkeit, Gott, die Welt unten ώς έρώµενον an;
er ist die Endursache allen Seins. Logos und Eros sind in sich die
Einheit des Positiven und Negativen, Schöpfung und Zerstörung.
In der Strenge des Denkens und in der Narrheit der Liebe liegt
die zerstörerische Absage an die bestehenden Lebensformen. Die
Wahrheit gestaltet die Weisen des Denkens und Daseins um.
Vernunft und Freiheit konvergieren.
Diese Dynamik hat jedoch insofern ihre immanenten Schranken, als der antagonistische Charakter der Wirklichkeit, ihr Auseinanderbrechen in wahre und unwahre Daseinsweisen, ein
unwandelbarer ontologischer Sachverhalt zu sein scheint. Es gibt
Daseinsweisen, die niemals »wahr« sein können, weil sie niemals
in der Verwirklichung ihrer Potentialitäten, in der Seligkeit des
Seins zur Ruhe gelangen können. In der menschlichen Wirklichkeit ist damit alle Existenz, die sich darin erschöpft, die Vorbedingungen des Daseins herbeizuschaffen, ein »unwahres« und
unfreies Dasein. Offenkundig reflektiert dies den keineswegs
ontologischen Sachverhalt einer Gesellschaft, die auf der Behauptung beruht, daß Freiheit mit der Tätigkeit, das Lebens143
notwendige herbeizuschaffen, unverträglich ist, daß diese Tätigkeit die »natürliche« Funktion einer besonderen Klasse ist und
daß Erkenntnis der Wahrheit und wahres Dasein die Freiheit
von der gesamten Dimension einer solchen Tätigkeit einschließen. Das ist allerdings die vor- und antitechnische Konstellation
par excellence.
Die wirkliche Trennungslinie zwischen vortechnischer und
technischer Rationalität ist indessen nicht die zwischen einer auf
Unfreiheit und einer auf Freiheit beruhenden Gesellschaft. Die
Gesellschaft ist immer noch derart organisiert, daß das Herbeischaffen des Lebensnotwendigen die gesamte Zeit und lebenslängliche Beschäftigung besonderer sozialer Klassen ausmacht,
die infolgedessen unfrei und an einem menschlichen Dasein gehindert sind. In diesem Sinne gilt die klassische Behauptung,
nach der Wahrheit mit Versklavung an gesellschaftlich notwendige Arbeit unvereinbar ist, noch immer.
Das klassische Konzept schließt die Behauptung ein, daß
Denk- und Redefreiheit ein Klassenvorrecht bleiben müssen, solange diese Versklavung herrscht. Denn Denken und Sprache
sind die eines denkenden und sprechenden Subjekts, und wenn
dessen Leben vom Verrichten einer auferlegten Funktion abhängt, hängt es davon ab, daß es den Erfordernissen dieser
Funktion nachkommt — und damit von denen, die diese Erfordernisse kontrollieren. Die Demarkationslinie zwischen dem vortechnischen und dem technischen Entwurf besteht vielmehr in
der Art, wie die Unterordnung unter die Lebensnotwendigkeiten - die, »seinen Lebensunterhalt zu verdienen« - organisiert ist sowie in den neuen Weisen von Freiheit und Unfreiheit,
Wahrheit und Falschheit, die dieser Organisation entsprechen.
Wer ist nach der klassischen Konzeption das Subjekt, das die
ontologische Beschaffenheit von Wahrheit und Unwahrheit begreift? Es ist der Herr der reinen Kontemplation (theoria) und
der Herr einer von Theorie geleiteten Praxis, das heißt der
Philosoph als Staatsmann. Zwar ist die Wahrheit, die er kennt
und auslegt, potentiell jedermann zugänglich. Vom Philosophen
geführt, ist der Sklave in Platons Menon imstande, die Wahrheit
eines geometrischen Axioms zu erfassen, das heißt eine Wahrheit
jenseits von Wandel und Verfall. Aber da Wahrheit ebenso ein
144
Zustand des Seins wie des Denkens ist und sich in diesem jenes
ausdrückt und manifestiert, bleibt der Zugang zur Wahrheit
bloße Potentialität, solange der Mensch nicht in und mit der
Wahrheit lebt. Diese Daseinsweise aber ist dem Sklaven verschlossen — und jedem, der sein Leben damit zubringen muß,
für das Lebensnotwendige zu sorgen. Deshalb wäre Wahrheit
und ein wahres menschliches Dasein in einem strengen und
realen Sinne allgemein, wenn die Menschen ihr Leben nicht mehr
im Reich der Notwendigkeit zuzubringen hätten. Philosophie
faßt die Gleichheit der Menschen ins Auge, unterwirft sich aber
zur selben Zeit der faktischen Verweigerung der Gleichheit;
denn in der gegebenen Wirklichkeit ist das Besorgen des Notwendigen die lebenslängliche Beschäftigung der Mehrheit, und
das Notwendige muß besorgt und befriedigt werden, damit
Wahrheit (die Freiheit von materiellen Notwendigkeiten ist)
sein kann.
Hier hemmt und verzerrt die historische Schranke das Suchen
nach Wahrheit; die gesellschaftliche Arbeitsteilung erlangt die
Würde einer ontologischen Beschaffenheit. Wenn Wahrheit Freiheit von harter Arbeit voraussetzt und wenn diese Freiheit in
der gesellschaftlichen Realität das Vorrecht einer Minderheit ist,
dann gestattet die Realität eine solche Wahrheit nur annähernd
und nur einer privilegierten Gruppe. Dieser Zustand widerspricht
dem allgemeinen Charakter der Wahrheit, die nicht nur ein
theoretisches Ziel festlegt und »vorschreibt«, sondern das beste
Leben des Menschen qua Mensch, im Hinblick auf das Wesen
des Menschen. Für die Philosophie ist der Widerspruch unlösbar
oder erscheint deshalb nicht als Widerspruch, weil diese Philosophie über die Struktur der Sklaven- oder Leibeigenengesellschaft nicht hinausgeht. Damit läßt sie die Geschichte hinter sich,
unbeherrscht, und erhebt die Wahrheit unversehrt über die geschichtliche Wirklichkeit. Dort bleibt die Wahrheit intakt, nicht
als Leistung des Himmels oder im Himmel, sondern als Leistung
des Denkens — intakt, weil sie ihrem ganzen Begriff nach die
Einsicht ausdrückt, daß jene, die ihr Leben dem Broterwerb hingeben, außerstande sind, ein menschliches Dasein zu führen.
Der ontologische Begriff der Wahrheit steht im Zentrum einer
Logik, die als ein Modell für vortechnische Rationalität dienen
145
kann. Es ist die Rationalität eines zweidimensionalen Universums der Sprache, das im Gegensatz zu den eindimensionalen
Denk- und Verhaltensweisen steht, die sich mit der Ausgestaltung des technischen Entwurfs entwickeln.
Aristoteles gebraucht den Terminus »apophantischer Logos«,
um einen besonderen Typ von Logos (Sprache, Mitteilung) hervorzuheben — den, der Wahrheit und Falschheit aufdeckt und in
seiner Entwicklung durch den Unterschied zwischen Wahrheit
und Falschheit bestimmt wird (De Interpretatione, 16b-17a). Er
ist die Logik des Urteils, aber im emphatischen Sinne eines (richterlichen) Rechtsspruchs: p wird S zugesprochen, weil und sofern
es zu S gehört, als eine Eigenschaft von S; oder p wird S abgesprochen, weil und sofern es nicht zu S gehört; usw. Von dieser
ontologischen Basis schreitet die Aristotelische Philosophie fort
zur Begründung der »reinen Formen« aller möglichen wahren
(und falschen) Aussagen; sie wird die formale Logik der Urteile.
Als Husserl die Idee einer Aussagenlogik wiederbelebte, betonte er ihre ursprünglich kritische Intention. Und er sah diese
eben in der Idee einer Logik der Urteile — das heißt in der Tatsache, daß das Denken es nicht direkt mit dem Seienden selbst,
sondern vielmehr mit »Prätentionen«1, mit Aussagen über das
Seiende zu tun hat.
Husserl sieht in dieser Orientierung an Urteilen eine Beschränkung und ein Vorurteil hinsichtlich der Aufgabe und Reichweite
der Logik.
Die klassische Idee der Logik zeigt allerdings ein ontologisches
Vorurteil - die Struktur des Urteils (des Satzes) bezieht sich auf
eine gespaltene Wirklichkeit. Die Rede bewegt sich zwischen der
Erfahrung von Sein und Nichtsein, Wesen und Tatsache, Entstehen und Vergehen, Potentialität und Aktualität. Das Aristotelische Organon abstrahiert von dieser Einheit von Gegensätzen
die allgemeinen Satzformen und ihre (richtigen oder unrichtigen)
Verbindungen; dennoch bleiben entscheidende Teile dieser formalen Logik der Aristotelischen Metaphysik verpflichtet2.
Vor dieser Formalisierung fand die Erfahrung der gespalte1 Husserl, Formale und Transzendentale Logik, Halle 1929, bes. S. 42 f. und 115 f.
2 Carl Prantl, Geschichte der Logik im Abendlande, Darmstadt 1957, Band I, S. 135,
211. Zum Argument gegen diese Interpretation cf. S. 152.
146
nen Welt ihre Logik in der Platonischen Dialektik. Hier werden
die Begriffe »Sein«, »Nichtsein«, »Bewegung«, »das Eine und
das Viele«, »Identität« und »Widerspruch« methodisch offengehalten, bleiben zweideutig und werden nicht völlig definiert.
Sie haben einen offenen Horizont, ein ganzes Universum von
Bedeutung, das sich im Prozeß der Kommunikation selbst allmählich strukturiert, das aber nie geschlossen wird. Die Sätze
werden in einem Dialog vorgetragen, entwickelt und untersucht,
in dem der Partner dazu gebracht wird, das normalerweise unbefragt hingenommene Universum des Erfahrens und Sprechens
in Frage zu stellen und in eine neue Dimension der Rede einzutreten — wenn anders er frei ist und die Rede sich an seine
Freiheit wendet. Er soll über das hinausgehen, was ihm gegeben
ist — ganz wie der Sprecher in seinem Satz über die Ausgangskonstellation der Begriffe hinausgeht. Diese Begriffe haben viele
Bedeutungen, weil die Verhältnisse, auf die sie sich beziehen,
viele Seiten, Implikationen und Wirkungen haben, die nicht abgesondert und festgelegt werden können. Ihre logische Entwicklung entspricht dem Prozeß der Wirklichkeit oder der Sache
selbst. Die Gesetze des Denkens sind Gesetze der Wirklichkeit
oder werden vielmehr zu diesen, sobald das Denken die Wahrheit der unmittelbaren Erfahrung als die Erscheinung einer anderen Wahrheit versteht, welche die der wahren Formen der
Wirklichkeit ist — der Ideen. So besteht eher Widerspruch als
Entsprechung zwischen dem dialektischen Denken und der gegebenen Wirklichkeit; das wahre Urteil beurteilt diese Wirklichkeit nicht nach ihren eigenen Begriffen, sondern nach Begriffen,
die auf die Vernichtung jener Wirklichkeit abzielen. Und in dieser Vernichtung gelangt die Wirklichkeit zu ihrer eigenen Wahrheit.
In der klassischen Logik wurde das Urteil, das den ursprünglichen Kern des dialektischen Denkens ausmachte, in der Form
des Satzes »S ist p« formalisiert. Aber diese Form verbirgt mehr
den grundlegenden dialektischen Satz, der den negativen Charakter der empirischen Wirklichkeit feststellt, als daß sie ihn
offenbart. Im Licht ihres Wesens und ihrer Idee beurteilt, existieren die Menschen und Dinge als etwas anderes als was sie sind;
folglich widerspricht das Denken dem, was (gegeben) ist und
147
setzt seine Wahrheit der der gegebenen Wirklichkeit entgegen.
Die vom Denken geschaute Wahrheit ist die Idee. Als solche ist
sie, im Sinne der gegebenen Wirklichkeit, »bloße« Idee, »bloßes«
Wesen — Potentialität.
Die wesentliche Potentialität aber ist nicht gleich den vielen
Möglichkeiten, die im gegebenen Universum von Sprache und
Handeln enthalten sind; die wesentliche Potentialität ist von einer
völlig anderen Ordnung. Ihre Verwirklichung macht die Vernichtung der bestehenden Ordnung notwendig; denn Denken
im Einklang mit der Wahrheit ist die Verpflichtung, im Einklang
mit der Wahrheit zu existieren. (Bei Platon sind die extremen
Vorstellungen, die diese Vernichtung veranschaulichen, der Tod
als Anfang des Lebens des Philosophen und die gewaltsame Befreiung aus der Höhle.) So erlegt der umstürzende Charakter
der Wahrheit dem Denken eine imperativische Qualität auf. Die
Logik ist um Urteile zentriert, die als beweiskräftige Sätze Imperative sind — die Kopula »ist« impliziert ein »Sollen».
Dieser widerspruchsvolle, zweidimensionale Denkstil ist die
innere Form nicht nur der dialektischen Logik, sondern aller
Philosophie, die die Wirklichkeit in den Griff bekommt. Die
Sätze, welche die Wirklichkeit bestimmen, behaupten etwas als
wahr, das nicht (unmittelbar) der Fall ist; damit widersprechen
sie dem, was der Fall ist und leugnen dessen Wahrheit. Das
affirmative Urteil enthält eine Negation, die in der Form des
Satzes verschwindet (S ist p). Zum Beispiel, »Tugend ist Erkenntnis«; »Gerechtigkeit ist derjenige Zustand, in dem ein jeder
die Funktion ausübt, für die seine Natur am besten geeignet ist«;
»das vollkommen Wirkliche ist das vollkommen Wißbare« ; »verum est id, quod est«; »der Mensch ist frei«; »der Staat ist die
Wirklichkeit der Vernunft«.
Wenn diese Sätze wahr sein sollen, dann stellt die Kopula
»ist« ein »Sollen«, ein Desiderat fest. Sie verurteilt Verhältnisse,
unter denen Tugend keine Erkenntnis ist, unter denen die Menschen nicht die Funktion ausüben, für die ihre Natur sie am
besten ausgestattet hat, in denen sie nicht frei sind usw. Anders
gesagt: die kategorische S-p-Form stellt fest, daß S nicht S ist;
S ist bestimmt als ein anderes als es selbst. Die Verifikation des
Satzes macht ebenso einen faktischen wie einen gedanklichen
148
Prozeß notwendig: S muß zu dem werden, was es ist. Die kategorische Feststellung verkehrt sich so in einen kategorischen
Imperativ; sie stellt keine Tatsache fest, sondern die Notwendigkeit, eine Tatsache zu schaffen. Zum Beispiel könnte sie so
lauten: der Mensch ist (in Wirklichkeit) nicht frei, nicht ausgestattet mit unveräußerlichen Rechten usw., aber er sollte es sein,
weil er frei ist in den Augen Gottes, seiner Natur nach usw.3.
Das dialektische Denken versteht die kritische Spannung zwischen »ist« und »sollte sein« zunächst als einen ontologischen
Sachverhalt, der der Struktur des Seins selbst zukommt. Die
Erkenntnis dieses Seinszustandes - seine Theorie - intendiert
jedoch von Anfang an eine konkrete Praxis. Im Licht einer
Wahrheit gesehen, die in ihnen verfälscht oder negiert erscheint,
erscheinen die gegebenen Tatsachen selbst als falsch und negativ.
Das Denken wird folglich durch die Situation seiner Objekte
dazu geführt, deren Wahrheit in den Begriffen einer anderen
Logik, eines anderen Universums der Sprache zu beurteilen. Und
diese Logik entwirft eine andere Daseinsweise: die Verwirklichung der Wahrheit in den Worten und Taten der Menschen.
Und insofern, als dieser Entwurf den Menschen als »gesellschaftliches Wesen« einschließt, die Polis, hat die Denkbewegung einen
politischen Inhalt. Damit ist die Sokratische Rede insofern politische Rede, als sie den bestehenden politischen Institutionen
widerspricht. Die Suche nach der richtigen Definition, nach dem
»Begriff« der Tugend, Gerechtigkeit, Frömmigkeit und Erkenntnis wird zu einem umstürzlerischen Unternehmen; denn der Begriff intendiert eine neue Polis.
Das Denken hat keine Macht, einen solchen Wandel herbeizuführen, wenn es nicht in Praxis übergeht, und gerade die
3 Aber warum sagt der Satz nicht »sollte sein«, wenn er »sollte sein« meint? Warum
verschwindet die Negation in der A f f i r m a t i o n ? Bestimmten die metaphysischen
Ursprünge der Logik vielleicht die Form des Satzes? Das vorsokratische wie das
Sokratische Denken geht der Trennung der Logik von der Ethik voraus. Wenn
nur das, was wahr ist (der Logos, die Idee) wirklich ist, dann hat die Wirklichkeit der unmittelbaren E r f a h r u n g teil am
, an dem, was nicht ist.. Und
doch ist dieses
, und für die unmittelbare Erfahrung (die für die große
Mehrheit der Menschen die einzige Wirklichkeit ist) ist es die einzige Wirklichkeit, die ist. Die zweifache Bedeutung von »ist« würde so die zweidimensionale
Struktur der einen Welt ausdrücken.
149
Abspaltung von der materiellen Praxis, in der die Philosophie
ihren Ursprung hat, verleiht dem philosophischen Denken seine
abstrakte und ideologische Qualität. Aufgrund dieser Abspaltung
ist das kritische philosophische Denken notwendig transzendent
und abstrakt. Philosophie teilt diese Abstraktheit mit allem genuinen Denken; denn niemand denkt wirklich, der nicht von
dem abstrahiert, was gegeben ist, der nicht die Fakten auf die
Faktoren bezieht, die sie hervorgebracht haben, der nicht - in
seinem Geiste - die Fakten auflöst. Abstraktheit ist das innerste
Leben des Denkens, das Wahrzeichen seiner Authentizität.
Aber es gibt falsche und wahre Abstraktionen. Abstraktion ist
ein geschichtliches Ereignis in einem geschichtlichen Kontinuum.
Sie spielt sich auf geschichtlichem Boden ab, und sie bleibt mit
eben der Basis verbunden, von der sie sich wegbewegt: das bestehende gesellschaftliche Universum. Selbst wo die kritische Abstraktion zur Negation des bestehenden Universums der Sprache
gelangt, überlebt die Basis in der Negation (Zerstörung) und
schränkt die Möglichkeiten der neuen Position ein.
An den klassischen Ursprüngen des philosophischen Denkens
blieben die transzendierenden Begriffe der herrschenden Trennung von geistiger und manueller Arbeit verhaftet — der bestehenden Sklavenhaltergesellschaft. Platons »Ideal«staat behält
die Sklaverei bei und gestaltet sie um, wobei er sie im Einklang
mit einer ewigen Wahrheit organisiert. Und in Aristoteles weicht
der Philosophenkönig (in dem Theorie und Praxis noch verbunden waren) dem Vorrang des bios theoretikos, der kaum eine
umstürzlerische Funktion und einen umstürzlerischen Inhalt beanspruchen kann. Jene, die der Gewalt der unwahren Wirklichkeit ausgesetzt waren und deshalb höchst bedürftig schienen,
diese umzustürzen, gingen die Philosophie nichts an. Sie abstrahierte von ihnen und abstrahierte auch in der Folge von ihnen.
In diesem Sinne gehört der »Idealismus« wesentlich zum philosophischen Denken; denn der Begriff des Vorrangs des Denkens
(Bewußtseins) spricht auch die Ohnmacht des Denkens in einer
empirischen Welt aus, die von der Philosophie transzendiert
und berichtigt wird — im Denken. Die Rationalität, in deren
Name Philosophie ihre Urteile aussprach, nahm jene abstrakte
und allgemeine »Reinheit« an, die sie gegen die Welt immuni150
sierte, in der man leben mußte. Mit Ausnahme der materialistischen »Häretiker« wurde das philosophische Denken selten
von den Heimsuchungen des menschlichen Daseins heimgesucht.
Paradoxerweise ist es gerade die kritische Intention im philosophischen Denken, die zur idealistischen Reinigung führt — eine
kritische Intention, die auf die empirische Welt als Ganzes abzielt und nicht nur auf bestimmte Denk- und Verhaltensweisen
innerhalb ihrer. Indem sie ihre Begriffe im Hinblick auf Potentialitäten bestimmt, die von einer wesentlich anderen Ordnung
des Denkens und Seins sind, findet die philosophische Kritik sich
durch die Wirklichkeit behindert, von der sie sich ablöst, und
geht dazu über, ein Reich der Vernunft zu konstruieren, das von
empirischer Kontingenz gereinigt ist. Die beiden Dimensionen
des Denkens - die der wesentlichen und die der erscheinenden
Wahrheiten - wirken nicht mehr aufeinander ein, und ihre konkrete dialektische Beziehung wird zu einer abstrakten erkenntnistheoretischen oder ontologischen. An die Stelle der über die
gegebene Wirklichkeit ausgesprochenen Urteile treten Sätze, die
die allgemeinen Formen des Denkens, die Gegenstände des
Denkens und die Beziehungen zwischen dem Denken und seinen
Gegenständen bestimmen. Das Subjekt des Denkens wird zur
reinen und allgemeinen Form der Subjektivität, aus der alle Besonderheiten entfernt sind.
Für ein derartig formales Subjekt ist die Beziehung zwischen
und
, Wechsel und Dauer, Potentialität und Aktualität, Wahrheit und Falschheit keine existentielle Beunruhigung mehr4; sie ist vielmehr eine Sache reiner Philosophie. Der
Gegensatz zwischen Platons dialektischer und Aristoteles' formaler Logik ist auffällig.
Im Aristotelischen Organon ist der syllogistische »Terminus«
(horos) »so leer an substantieller Bedeutung, daß ein Buchstabe
4 Um ein Mißverständnis zu vermeiden: ich glaube nicht, daß die Frage nach dem
Sein und ähnliche Fragen von einem existentiellen Interesse sind oder sein sollten.
Was an den Ursprüngen des philosophischen Denkens bedeutsam war, kann an
seinem Ende durchaus bedeutungslos geworden sein, und der Verlust an Bedeutung muß nicht auf denkerisches Unvermögen zurückzuführen sein. Die Geschichte
der Menschheit hat auf die »Seinsfrage« bestimmte Antworten gegeben, und zwar
in sehr konkreten Begriffen, die ihre Wirksamkeit bewiesen haben. Das technologische Universum ist eine von ihnen. Zur weiteren Diskussion cf. Kapitel 6.
151
des Alphabets einen völlig gleichwertigen Ersatz abgibt«. Er ist
so gänzlich verschieden vom »metaphysischen« Terminus (auch
horos), der das Ergebnis der Wesensdefinition bezeichnet, die
Antwort auf die Frage: »τί εστίν;« 5 . Kapp behauptet gegen
über Prantl, daß die »beiden verschiedenen Bezeichnungen gänzlich unabhängig voneinander sind und von Aristoteles selbst niemals vermengt wurden«. Auf jeden Fall ist das Denken in der
formalen Logik in einer Weise organisiert, die von der des Platonischen Dialogs sehr verschieden ist.
In dieser formalen Logik ist das Denken gegenüber seinen
Gegenständen indifferent. Ob sie geistig oder körperlich sind, ob
sie die Gesellschaft oder die Natur betreffen, sie werden denselben allgemeinen Gesetzen der Organisation, Kalkulation und
Schlußfolgerung unterworfen — aber als fungible Zeichen oder
Symbole, unter Abstraktion von ihrer besonderen »Substanz«.
Diese allgemeine Qualität (quantitative Qualität) ist die Vorbedingung von Gesetz und Ordnung - in der Logik wie in der
Gesellschaft - der Preis umfassender Kontrolle. »Die Allgemeinheit der Gedanken, wie die diskursive Logik sie entwickelt, erhebt sich auf dem Fundament der Herrschaft in der Wirklichkeit«6.
Die Metaphysik des Aristoteles stellt den Zusammenhang zwischen Begriff und Herrschaft fest: die Erkenntnis der »ersten Ursachen« ist - als Erkenntnis des Allgemeinen - die wirksamste
und sicherste Erkenntnis; denn über die Ursachen verfügen heißt
über ihre Wirkungen verfügen. Vermöge des Allgemeinbegriffs
gelangt das Denken zur Herrschaft über die besonderen Fälle.
Jedoch bezieht sich noch das formalisierteste Universum der
Logik auf die allgemeinste Struktur der gegebenen, erfahrenen
Welt; die reine Form ist immer noch die des Inhalts, den sie
formalisiert. Die Idee der formalen Logik selbst ist ein historisches Ereignis in der Entwicklung der geistigen und physischen
Instrumente zur umfassenden Kontrolle und Kalkulierbarkeit.
Bei diesem Unternehmen mußte der Mensch aus tatsächlicher
5 Ernst Kapp, Greek Foundations of Traditional Logic, New York: Columbia University Press 1942, S. 29.
6 M. Horkheimer und Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Amsterdam 1947,
S. 25.
152
Dissonanz theoretische Harmonie erzeugen, das Denken von
Widersprüchen reinigen und feststellbare und fungible Einheiten
im komplexen Prozeß von Gesellschaft und Natur hypostasieren.
Unter der Herrschaft der formalen Logik ist der Begriff des
Konflikts von Wesen und Erscheinung entbehrlich, wo nicht sinnlos; »der materiale Inhalt ist neutralisiert«; das Prinzip der
Identität wird vom Prinzip des Widerspruchs getrennt (Widersprüche sind unrichtigem Denken zuzuschreiben); Endursachen
werden aus der logischen Ordnung entfernt. Wohldefiniert in
ihrer Reichweite und Funktion, werden die Begriffe zu Instrumenten der Voraussage und Kontrolle. Die formale Logik ist so
der erste Schritt auf dem langen Wege zum wissenschaftlichen
Denken — nur der erste Schritt; denn es ist ein noch viel höherer
Grad von Abstraktion und Mathematisierung erforderlich, um
die Denkweisen der technologischen Rationalität anzupassen.
Die Methoden des logischen Vorgehens sind in der antiken und
modernen Logik sehr verschieden, aber hinter allem Unterschied
steht der Aufbau einer allgemeingültigen Ordnung des Denkens,
die hinsichtlich des materialen Inhalts neutral ist. Lange bevor
der technische Mensch und die technische Natur als Objekte rationaler Kontrolle und Kalkulation aufkamen, wurde der Geist
für abstrakte Verallgemeinerung empfänglich gemacht. Die Begriffe, die zu einem kohärenten logischen System, widerspruchsfrei oder mit leicht zu handhabendem Widerspruch, organisiert
werden konnten, wurden von jenen abgesondert, bei denen das
nicht der Fall war. Unterschieden wurde zwischen der allgemeinen, kalkulierbaren »objektiven« und der besonderen, nichtkalkulierbaren, subjektiven Dimension des Denkens; diese ging in
die Wissenschaft nur durch eine Reihe von Reduktionen ein.
Die formale Logik nimmt die Reduktion der sekundären auf
primäre Qualitäten vorweg, bei der jene zu den meß- und kontrollierbaren Eigenschaften der Physik werden. Die Elemente
des Denkens lassen sich dann wissenschaftlich organisieren — wie
sich die menschlichen Elemente in der gesellschaftlichen Realität
organisieren lassen. Vortechnische und technische Herrschaftsweisen sind der Grundlage nach verschieden — so verschieden wie
Sklaverei von freier Lohnarbeit, Heidentum von Christentum,
der Stadtstaat von der Nation, das Gemetzel an der Bevölkerung
153
einer eroberten Stadt von den nationalsozialistischen Konzentrationslagern. Jedoch ist die Geschichte immer noch die der Herrschaft, und die Logik des Denkens bleibt die Logik der Herrschaft.
Die formale Logik war auf Allgemeingültigkeit der Denkgesetze aus. Und in der Tat wäre das Denken ohne Allgemeinheit
eine private, unverbindliche Angelegenheit, außerstande, auch
nur den schmalsten Teil des Daseins zu verstehen. Denken ist
stets mehr und etwas anderes als individuelles Denken; wenn ich
mir vornehme, an individuelle Personen in einer spezifischen
Lage zu denken, finde ich sie in einem überindividuellen Zusammenhang, an dem sie teilhaben, und ich denke in allgemeinen
Begriffen. Alle Gegenstände des Denkens sind Allgemeinheiten.
Ebenso wahr aber ist, daß die überindividuelle Bedeutung, die
Allgemeinheit des Begriffs, niemals eine bloß formale ist; sie
konstituiert sich in der Wechselbeziehung zwischen den (denkenden und handelnden) Subjekten und ihrer Welt7. Logische Abstraktion ist ebenso soziologische Abstraktion. Es gibt eine logische Mimesis, die die Gesetze des Denkens in vorsorglicher
Übereinstimmung mit den Gesetzen der Gesellschaft formuliert,
aber das ist nur eine Denkweise unter anderen.
Die Unfruchtbarkeit der Aristotelischen formalen Logik ist
oft hervorgehoben worden. Das philosophische Denken entwickelte sich neben und selbst außerhalb dieser Logik. In ihren
Hauptbestrebungen scheinen ihr weder die idealistische noch
die materialistische, weder die rationalistische noch die empiristische Schule etwas zu verdanken. Die formale Logik war
ihrer ganzen Struktur nach nichttranszendent. Sie kanonisierte
und organisierte das Denken innerhalb eines starren Rahmens,
den kein Syllogismus überschreiten kann — sie blieb »Analytik«.
Die Logik bestand als eine Sonderdisziplin neben der wirklichen Entwicklung des philosophischen Denkens fort, ohne sich
trotz der neuen Begriffe und Inhalte, die diese Entwicklung
kennzeichneten, wesentlich zu ändern.
Freilich hatten weder die Scholastiker noch der Rationalismus
und Empirismus der frühen Neuzeit irgendeinen Grund, gegen
7 Cf. Th. W. Adorno, Zur Metakritik der Erkenntnistheorie, Stuttgart 1956, Kapitel I, Kritik des logischen Absolutismus.
154
die Denkweise Einwand zu erheben, die ihre allgemeinen Formen in der Aristotelischen Logik kanonisiert hatte. Ihre Intention stimmte zumindest mit wissenschaftlicher Gültigkeit und
Exaktheit überein, und das Übrige störte die begriffliche Ausarbeitung der neuen Erfahrung und der neuen Tatsachen nicht.
Die gegenwärtige mathematische und symbolische Logik ist
sicher von ihrer klassischen Vorläuferin sehr verschieden, aber
der radikale Gegensatz zur dialektischen Logik ist ihnen gemeinsam. Hinsichtlich dieses Gegensatzes drücken die alte und
die neue formale Logik dieselbe Denkweise aus. Sie ist von
jenem »Negativen« gereinigt, das an den Anfängen der Logik
und des philosophischen Denkens von so großer Bedeutung
erschien — die Erfahrung der verneinenden, trügerischen, die
Hoffnung vereitelnden Macht der bestehenden Wirklichkeit.
Und mit dem Ausschalten dieser Erfahrung wird zugleich die
begriffliche Anstrengung, die Spannung zwischen »Sein« und
»Sollen« auszuhalten und das bestehende Universum der Sprache
im Namen seiner eigenen Wahrheit umzustülpen, aus allem
Denken ausgeschaltet, das objektiv, exakt und wissenschaftlich
sein soll. Denn die wissenschaftliche Zerstörung der unmittelbaren Erfahrung, die die Wahrheit der Wissenschaft gegenüber
der der unmittelbaren Erfahrung etabliert, entwickelt nicht die
Begriffe, die den Protest und die Ablehnung in sich tragen.
Die neue wissenschaftliche Wahrheit, die man der bloß hingenommenen entgegensetzt, enthält in sich nicht das Urteil, das
die bestehende Wirklichkeit verdammt.
Demgegenüber ist und bleibt das dialektische Denken in dem
Maße unwissenschaftlich, wie es ein solches Urteil ist, und dieses Urteil wird dem dialektischen Denken durch die Natur
seines Objekts auferlegt — durch seine Objektivität. Dieses Objekt ist die Wirklichkeit in ihrer wahren Konkretion; die dialektische Logik schließt alle Abstraktion aus, die den konkreten
Inhalt isoliert und unbegriffen hinter sich läßt. Hegel weist
der kritischen Philosophie seiner Zeit »Angst vor dem Objekt«
nach, und er fordert, daß ein wahrhaft wissenschaftliches Denken diesen ängstlichen Standpunkt überwinden und das Logische, das Rein-Vernünftige, in der ganzen Konkretheit seiner
Gegenstände begreifen möge.8 Die dialektische Logik kann
155
nicht formal sein, weil sie bestimmt ist durch das Wirkliche,
das konkret ist. Und weit davon entfernt, sich einem System
allgemeiner Prinzipien und Begriffe zu widersetzen, erfordert
diese Konkretheit ein solches System der Logik, weil sie sich nach
allgemeinen Gesetzen bewegt, die die Vernünftigkeit des Wirklichen ausmachen. Es ist die Vernünftigkeit des Widerspruchs,
des Gegensatzes von Kräften, Tendenzen und Elementen, welche
die Bewegung des Wirklichen konstituiert und, sofern es begriffen ist, den Begriff des Wirklichen.
Indem sie als der lebendige Widerspruch von Wesen und Erscheinung existieren, sind die Gegenstände des Denkens von
jener »inneren Negativität«9, die die spezifische Qualität ihres
Begriffs ist. Die dialektische Definition definiert die Bewegung
der Dinge, indem sie von dem, was sie nicht sind, übergeht zu
dem, was sie sind. Die Entwicklung einander widersprechender
Elemente, die die Struktur ihres Objekts bestimmt, bestimmt
auch die Struktur des dialektischen Denkens. Der Gegenstand
der dialektischen Logik ist weder die abstrakte, allgemeine Form
der Objektivität noch die abstrakte, allgemeine Form des Denkens — noch die Daten der unmittelbaren Erfahrung. Die dialektische Logik löst die Abstraktionen der formalen Logik und
der Transzendentalphilosophie auf, aber sie verneint ebenso
die Konkretheit unmittelbarer Erfahrung. In dem Maße, wie
diese Erfahrung sich bei den Dingen beruhigt, wie sie erscheinen
und zufällig sind, ist sie eine beschränkte und sogar falsche
Erfahrung. Sie erlangt ihre Wahrheit, wenn sie sich von der
täuschenden Objektivität befreit hat, welche die Faktoren hinter
den Fakten verbirgt — das heißt, wenn sie ihre Welt als ein
geschichtliches Universum versteht, worin die bestehenden Tatsachen das Werk der geschichtlichen Praxis des Menschen sind.
Diese (intellektuelle und materielle) Praxis ist die Wirklichkeit
in den Daten der Erfahrung; sie ist auch die Wirklichkeit, die
von der dialektischen Logik begriffen wird.
Wenn der geschichtliche Inhalt in den dialektischen Begriff eingeht und dessen Entwicklung und Funktion methodologisch be8 Wissenschaft der Logik, ed. Lasson (Leipzig, Meiner, 1923), Band I, S. 32.
9 Ibid., S. 38.
156
stimmt, dann gelangt das dialektische Denken zu derjenigen Konkretheit, welche die Struktur des Denkens mit der der Wirklichkeit verknüpft. Logische Wahrheit wird zu geschichtlicher
Wahrheit. Die ontologische Spannung zwischen Wesen und Erscheinung, zwischen »Sein« und »Sollen« wird zur geschichtlichen, und die »innere Negativität« der Objektwelt wird verstanden als das Werk des geschichtlichen Subjekts — der Mensch
in seinem Kampf mit Natur und Gesellschaft. Vernunft wird
geschichtliche Vernunft. Sie widerspricht der bestehenden Ordnung der Menschen und Dinge im Interesse bestehender gesellschaftlicher Kräfte, die den irrationalen Charakter dieser Ordnung offenbaren — denn »rational« ist eine Denk- und Handlungsweise, die darauf abzielt, Unwissenheit, Zerstörung, Brutalität und Unterdrückung zu verringern.
Die Überführung der ontologischen in eine historische Dialektik
hält an der Zweidimensionalität des philosophischen als eines
kritischen, negativen Denkens fest. Jetzt aber stehen Wesen und
Erscheinung, »Sein« und »Sollen« einander gegenüber im Konflikt zwischen den vorliegenden Kräften und Fähigkeiten der
Gesellschaft. Und sie stehen einander nicht wie Vernunft und
Unvernunft, Recht und Unrecht gegenüber — denn beide sind
innerer Bestandteil des nämlichen bestehenden Universums, und
beide haben teil an Vernunft, Recht und Unrecht. Der Sklave ist
imstande, die Herren abzuschaffen und mit ihnen zusammenzuarbeiten; die Herren sind imstande, das Leben des Sklaven und
seine Ausbeutung zu verbessern. Die Idee der Vernunft erstreckt
sich auf die Bewegung des Denkens und des Handelns. Sie ist
ein theoretisches und ein praktisches Bedürfnis.
Wenn die dialektische Logik den Widerspruch als »Notwendigkeit« versteht, die zur »Natur der Denkbestimmungen« 10 gehört, so deshalb, weil der Widerspruch zur Natur des Denkobjekts
selbst, zu einer Wirklichkeit gehört, in der Vernunft noch Unvernunft und das Irrationale noch das Rationale ist. Umgekehrt rebelliert alle bestehende Wirklichkeit gegen die Logik der Widersprüche — sie begünstigt die Denkweisen, welche die bestehenden
Lebensformen und die Verhaltensweisen stützen, die sie reprodu10 Ibid.
157
zieren und verbessern. Die gegebene Wirklichkeit hat ihre eigene
Wahrheit; die Anstrengung, sie als solche zu begreifen und über
sie hinauszugehen, setzt eine andere Logik, eine widersprechende
Wahrheit voraus. Sie gehören Denkweisen an, die ihrer ganzen
Struktur nach nichtoperationell sind; sie sind dem wissenschaftlichen Operationalismus ebenso fremd wie dem gesunden
Menschenverstand. Ihre geschichtliche Konkretheit widersetzt
sich der Quantifizierung und Mathematisierung auf der einen
Seite, dem Positivismus und Empirismus auf der anderen. So erscheinen diese Denkweisen als ein Überbleibsel der Vergangenheit wie alle nichtwissenschaftliche und nichtempirische Philosophie. Sie weichen einer wirksameren Theorie und Praxis der
Vernunft.
158
6 Vom negativen zum positiven Denken: technologische Rationalität und die Logik der Herrschaft
Bei allem Wechsel ist die Herrschaft des Menschen über den
Menschen in der gesellschaftlichen Wirklichkeit noch immer das
geschichtliche Kontinuum, das vortechnische und technische Vernunft verbindet. Jedoch ändert die Gesellschaft, welche die technische Umgestaltung der Natur entwirft und ausführt, die Basis
der Herrschaft, indem sie allmählich die persönliche Abhängigkeit (des Sklaven vom Herrn, des Leibeigenen vom Grundherrn, des Herrn vom Lehnsherrn usw.) durch die Abhängigkeit
von der »objektiven Ordnung der Dinge« (von ökonomischen
Gesetzen, vom Markt usw.) ersetzt. Freilich ist die »objektive
Ordnung der Dinge« selbst ein Resultat der Herrschaft, aber
bei alledem ist wahr, daß die Herrschaft jetzt eine höhere Rationalität hervorbringt — die einer Gesellschaft, die ihre hierarchische Struktur beibehält, während sie die natürlichen und
geistigen Ressourcen stets wirksamer ausbeutet und die Erträge
dieser Ausbeutung in stets wachsendem Größenverhältnis verteilt. Die Grenzen dieser Rationalität und ihre unheilvolle Kraft
erscheinen in der fortschreitenden Versklavung des Menschen
durch einen Produktionsapparat, der den Kampf ums Dasein
verewigt und zu einem totalen, internationalen Kampf ausweitet,
der das Leben jener zugrunde richtet, die diesen Apparat aufbauen und benutzen.
Auf dieser Stufe wird klar, daß etwas mit der Rationalität
des Systems selbst nicht stimmen muß. Was nicht stimmt, ist die
Weise, wie die Menschen ihre gesellschaftliche Arbeit organisiert
haben. Das steht heute nicht mehr in Frage, wo auf der einen
Seite die großen Unternehmer selbst gewillt sind, die Segnungen
der freien Wirtschaft und der »freien« Konkurrenz den Segnungen von Regierungsaufträgen und -regulierungen zu opfern,
während auf der anderen Seite der sozialistische Aufbau weiterhin auf dem Wege fortschreitender Herrschaft vor sich geht.
Dennoch muß man die Frage weiterverfolgen. Die falsche Organisation der Gesellschaft verlangt eine nähere Erklärung über
die Lage der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, in der die
Integration der einst negativen und transzendierenden gesell159
schaftlichen Kräfte in das bestehende System eine neue Sozialstruktur herbeizuführen scheint.
Die Umwandlung der negativen in positive Opposition verweist auf das Problem: indem sie aus inneren Gründen totalitär
wird, sperrt die »falsche« Organisation sich gegen Alternativen.
Gewiß ist es natürlich und bedarf wohl keiner tiefgehenderen
Erklärung, daß die handgreiflichen Vorteile des Systems einer
Verteidigung für wert gehalten werden — besonders im Hinblick
auf die abstoßende Gewalt, die der heutige Kommunismus darstellt, der die geschichtliche Alternative zu sein scheint. Aber das
ist nur für eine Denk- und Verhaltensweise natürlich, die nicht
gewillt und vielleicht sogar außerstande ist zu begreifen, was
geschieht und warum es geschieht, eine Denk- und Verhaltensweise, die gegen jede andere als die bestehende Rationalität
immun ist. In dem Maße, wie sie der gegebenen Wirklichkeit entsprechen, drücken Denken und Verhalten ein falsches Bewußtsein aus, das einer falschen Ordnung der Tatsachen genügt und
zu ihr beiträgt. Und dieses falsche Bewußtsein hat sich im herrschenden technischen Apparat verkörpert, der es wiederum reproduziert.
Wir leben und sterben rational und produktiv. Wir wissen,
daß Zerstörung der Preis des Fortschritts ist wie der Tod der
Preis des Lebens, daß Versagung und Mühe die Vorbedingungen
für Genuß und Freude sind, daß die Geschäfte weiter gehen
müssen und die Alternativen utopisch sind. Diese Ideologie gehört zum bestehenden Gesellschaftsapparat; sie ist für sein beständiges Funktionieren erforderlich und ein Teil seiner Rationalität.
Der Apparat vereitelt jedoch seinen eigenen Zweck, sofern es
sein Zweck ist, ein humanes Dasein auf der Basis einer humanisierten Natur herbeizuführen. Und ist dies nicht sein Zweck,
dann ist seine Rationalität umso verdächtiger. Aber auch konsequenter; denn seit Anbeginn ist das Negative im Positiven enthalten, das Inhumane in der Humanisierung, Versklavung in der
Befreiung. Diese Dynamik ist die der Wirklichkeit und nicht des
Geistes, aber einer Wirklichkeit, worin der szientifische Geist
beim Verbinden von theoretischer und praktischer Vernunft eine
entscheidende Rolle spielte.
160
Die Gesellschaft reproduzierte sich in einem wachsenden technischen Ensemble von Dingen und Beziehungen, das die technische Nutzbarmachung der Menschen einschloß — mit anderen
Worten, der Kampf ums Dasein und die Ausbeutung von Mensch
und Natur wurden immer wissenschaftlicher und rationaler. Die
doppelte Bedeutung von »Rationalisierung« ist in diesem Zusammenhang von Belang. Wissenschaftliche Betriebsführung und
wissenschaftliche Arbeitsteilung erhöhten in starkem Maße die
Produktivität des ökonomischen, politischen und kulturellen Unternehmens. Das Ergebnis war der höhere Lebensstandard. Gleichzeitig und aus demselben Grunde produzierte dieses rationale
Unternehmen ein Denk- und Verhaltensschema, das die zerstörerischsten und grausamsten Züge dieses Unternehmens rechtfertigte und sogar freisprach. Wissenschaftlich-technische Rationalität und Manipulationen werden zu neuen Formen sozialer Kontrolle zusammengeschweißt. Kann man bei der Annahme stehenbleiben, daß diese nichtwissenschaftliche Folge das Ergebnis einer
spezifischen gesellschaftlichen Anwendung der Wissenschaft ist?
Ich bin der Ansicht, daß die allgemeine Richtung, in der sie angewandt wurde, der reinen Wissenschaft bereits innewohnte, als
noch keine praktischen Zwecke beabsichtigt waren, und daß der
Punkt festgestellt werden kann, an dem theoretische Vernunft
in gesellschaftliche Praxis übergeht. Indem ich versuche, ihn zu
bezeichnen, will ich kurz an die methodologischen Ursprünge
der neuen Rationalität erinnern und sie dabei mit den Zügen
des im vorigen Kapitel diskutierten vortechnischen Modells vergleichen.
Die Quantifizierung der Natur, die zu ihrer Erklärung in
mathematischen Strukturen führte, löste die Wirklichkeit von
allen immanenten Zwecken ab und trennte folglich das Wahre
vom Guten, die Wissenschaft von der Ethik. Wie immer die
Wissenschaft die Objektivität der Natur und die Wechselbeziehungen ihrer Teile bestimmen mag, sie kann sie wissenschaftlich
nicht unter »Zweckursachen« begreifen. Und wie konstitutiv
auch die Rolle des Subjekts als Ort von Beobachtung, Messung
und Berechnung sein mag — dieses Subjekt kann seine Rolle nicht
als ethisch, ästhetisch oder politisch handelndes spielen. Die Spannung zwischen der Vernunft auf der einen Seite und den Bedürf161
nissen und Wünschen der Völker (die das Objekt, kaum aber
das Subjekt der Vernunft gewesen sind) auf der anderen hat
seit dem Beginn des philosophischen und wissenschaftlichen Denkens bestanden. Die »Natur der Dinge«, einschließlich der Natur
der Gesellschaft, wurde so definiert, daß sie Verdrängung und
selbst Unterdrückung als völlig rational rechtfertigte. Wahre
Erkenntnis und Vernunft verlangen Herrschaft über die Sinne —
wenn nicht Befreiung von ihnen. Die Einheit von Logos und
Eros führte schon bei Platon zum Vorrang des Logos; bei Aristoteles ist die Beziehung zwischen dem Gott und der von ihm
bewegten Welt nur im Sinne einer Analogie »erotisch«. In der
Folge wird das prekäre ontologische Bindeglied zwischen Logos
und Eros zerbrochen, und die wissenschaftliche Rationalität entsteht als wesentlich neutral. Wonach die Natur (einschließlich
des Menschen) streben mag, ist wissenschaftlich rational nur in
der Form der allgemeinen - physikalischen, chemischen oder
biologischen - Bewegungsgesetze.
Außerhalb dieser Rationalität lebt man in einer Welt von
Werten, und Werte, die aus der objektiven Realität herausgelöst
sind, werden subjektiv. Der einzige Weg, einige abstrakte und
harmlose Gültigkeit für sie zu retten, scheint eine metaphysische
Sanktionierung (göttliches und Naturrecht) zu sein. Aber solche
Sanktionierung ist nicht verifizierbar und daher nicht wirklich
objektiv. Werte mögen (moralisch und geistig) eine höhere Dignität haben, sind aber nicht wirklich und zählen deshalb weniger
im wirklichen Lebensvollzug — und zwar umso weniger, je mehr
sie über die Wirklichkeit erhoben werden.
Dieselbe Entwirklichung ergreift alle Ideen, die ihrer ganzen
Natur nach von der wissenschaftlichen Methode nicht verifiziert
werden können. Ganz gleich, wie sehr sie anerkannt, respektiert
und geheiligt sein mögen, sie leiden von Hause aus darunter, daß
sie nicht-objektiv sind. Aber gerade ihr Mangel an Objektivität
macht sie zu Faktoren des sozialen Zusammenhalts. Humanitäre,
religiöse und moralische Ideen sind nur »ideell«; sie stören die
bestehende Lebensweise nicht allzusehr und werden durch die
Tatsache, daß ihnen ein Verhalten widerspricht, das durch die
täglichen Notwendigkeiten von Geschäft und Politik diktiert ist,
nicht umgestoßen.
162
Wenn das Gute und das Schöne, Frieden und Gerechtigkeit
weder aus ontologischen noch aus wissenschaftlich-rationalen Bedingungen abgeleitet werden können, dann können sie logisch
keine Allgemeingültigkeit und Verwirklichung beanspruchen. Im
Sinne wissenschaftlicher Vernunft bleiben sie eine Sache des Beliebens, und keine Wiedererweckung irgendeiner Aristotelischen
oder Thomistischen Philosophie kann die Lage retten; denn sie
ist a priori durch die wissenschaftliche Vernunft widerlegt. Der
unwissenschaftliche Charakter dieser Ideen schwächt in verhängnisvoller Weise die Opposition gegenüber der bestehenden Wirklichkeit; die Ideen werden zu bloßen Idealen, und ihr konkreter,
kritischer Inhalt verflüchtigt sich in die ethische oder metaphysische Atmosphäre.
Paradoxerweise wird jedoch die objektive Welt, von der nur
quantifizierbare Qualitäten bestehen bleiben, in ihrer Objektivität mehr und mehr abhängig vom Subjekt. Dieser lange Prozeß
beginnt mit der Algebraisierung der Geometrie, die die »sichtbaren« geometrischen Figuren durch rein geistige Operationen
ersetzt. Er nimmt extreme Gestalt an in einigen Konzeptionen
der gegenwärtigen Wissenschaftlichen Philosophie, denen zufolge
alle Materie der physikalischen Wissenschaft dazu tendiert, sich
in mathematische oder logische Beziehungen aufzulösen. Selbst
der Begriff einer objektiven Substanz, die sich gegen das Subjekt
abhebt, scheint zu zerfallen. Aus sehr verschiedenen Richtungen
gelangen Wissenschaftler und Wissenschaftsphilosophen zu ähnlichen Hypothesen darüber, daß so etwas wie besondere Arten
von Entitäten auszuschließen sei.
Zum Beispiel »mißt« die Physik »die objektiven Qualitäten
der äußeren und materiellen Welt nicht — diese sind nur die Resultate, die im Vollzug solcher Operationen gewonnen werden«1.
Objekte bestehen nur als »bequeme Vermittler« fort, als veraltete
»kulturelle Setzungen«2. Die Dichte und Undurchdringlichkeit
1 Herbert Dingler, in: Nature, Band 168 (1951), S. 630.
2 W. V. O. Quine, From a Logical Point of View, Cambridge, Harvard University
Press I953. S. 44. Quine spricht vom »Mythos physikalischer Objekte« und sagt,
daß »hinsichtlich der erkenntnistheoretischen Fundierung die physikalischen Objekte
und die Götter [Homers] nur dem Grad, nicht der Art nach verschieden sind«
(ibid.). Aber der Mythos physikalischer Objekte ist »insofern« erkenntnistheoretisch überlegen, »wie er sich als wirksamer als andere Mythen erwiesen hat, als
I63
der Dinge verdunsten: die objektive Welt verliert ihren »anstößigen« Charakter, ihren Gegensatz zum Subjekt. Kaum weniger
als in ihrer Interpretation im Sinne der Pythagoreisch-Platonischen Metaphysik erscheint die mathematische Natur, die wissenschaftliche Wirklichkeit, als ideelle Wirklichkeit.
Dies sind extreme Behauptungen, und sie werden von konservativeren Interpretationen abgelehnt, die darauf bestehen, daß
sich die Sätze in der zeitgenössischen Physik immer noch auf
»körperliche Dinge«3 beziehen. Aber diese erweisen sich als
»physikalische Ereignisse«, und dann beziehen sich die Sätze
(und zwar ausschließlich) auf Attribute und Beziehungen, die
verschiedene Arten körperlicher Dinge und Prozesse charakterisieren4. Max Born stellt fest:
»... the theory of relativity ... has never abandoned all attemps
to assign properties to matter«. But »often a measurable quantity
is not a property of a thing, but a property of its relation to
other things . . . Most measurements in physics are not directly
concerned with the things which interest us, but with some kind
of projection, the word taken in the widest possible sense«5.
Und W. Heisenberg: »Was wir mathematisch festlegen, ist nur
zum kleinen Teil ein >objektives Faktum<, zum größeren Teil
eine Übersicht über Möglichkeiten«6.
Nun können »Ereignisse«, »Beziehungen«, »Projektionen«,
»Möglichkeiten« nur für ein Subjekt objektiv bedeutsam werden — nicht nur im Hinblick auf Beobachtbarkeit und Meßbarkeit, sondern auch im Hinblick auf die Struktur des Ereignisses
3
4
5
6
Mittel, eine praktikable Struktur in den Fluß der Erfahrung hineinzuarbeiten«.
Die Einschätzung des wissenschaftlichen Begriffs im Sinne von »wirksam«, »Mittel«, »praktikabel« offenbart seine manipulativ-technologischen Elemente.
H. Reichenbach, in: Philipp G. Frank (ed.) The Validation of Scientific Theories,
Boston: Beacon Press 1954, S. 85 f. (Zitiert von Adolf Grünbaum).
Adolf Grünbaum, ibid. S. 87 f.
» . . . die Relativitätstheorie hat niemals alle Versuche aufgegeben, der Materie
Eigenschaften beizulegen«. Aber »oft ist eine meßbare Quantität keine Eigenschaft
eines Dings, sondern eine Eigenschaft seiner Beziehung zu anderen Dingen . . . Die
meisten Messungen in der Physik haben es nicht direkt mit den uns interessierenden
Dingen zu tun, sondern mit einer Art von Projektion, das Wort im weitest möglichen Sinne genommen.«. Max Born, Physical Reality, in: Philosophical Quarterly,
3, 143 (1953). (Hervorhebung von mir).
»Über den Begriff >Abgeschlossene Theorie<«, in: Dialectica, Bd. VI, Nr. 1, S. 333.
164
oder der Beziehung selbst. Mit anderen Worten, das hier geforderte Subjekt ist ein konstitutives — das heißt ein mögliches Subjekt, für das einige Daten denkbar sein müssen oder können —
als Ereignis oder als Beziehung. Wenn dem so ist, würde Reichenbachs Feststellung weiter gelten, daß Sätze in der Physik
ohne Beziehung auf einen tatsächlichen Beobachter formuliert
werden können und die »Störung vermittels der Beobachtung«
nicht dem menschlichen Beobachter, sondern dem Instrument als
einem »physikalischen Ding« zuzuschreiben ist7.
Freilich können wir annehmen, daß die von der mathematischen Physik aufgestellten Gleichungen die tatsächliche Konstellation der Atome ausdrücken (formulieren), das heißt die
objektive Struktur der Materie. Abgesehen von jedem beobachtenden und messenden »äußeren« Subjekt kann das Subjekt A
B »einschließen«, B »vorhergehen«, B »zum Ergebnis haben«;
B kann »unter« C »fallen«, »größer als« C sein usw. — dennoch
bliebe wahr, daß diese Beziehungen Lage, Unterscheidung und
Identität in der Differenz von A, B und C implizieren. Sie
implizieren so das Vermögen, in der Differenz identisch zu sein,
bezogen zu sein auf ... in einer bestimmten Weise, anderen
Beziehungen gegenüber widerstandsfähig zu sein usw. Nur dieses Vermögen käme der Materie selbst zu, und dann wäre die
Materie selbst objektiv von der Struktur des Geistes — eine
Interpretation, die ein stark idealistisches Element enthält:
»... die Dinge der unbelebten Natur ... integrieren die Gleichungen, von denen sie nichts wissen, ohne Zögern und fehlerlos, durch ihr bloßes Sein. Die Natur ist nicht subjektiv geistig;
sie denkt nicht mathematisch. Aber sie ist objektiv geistig; sie
kann mathematisch gedacht werden«.8
Eine weniger idealistische Interpretation wird von Karl Popper9 geboten, der der Ansicht ist, daß die Naturwissenschaft in
ihrer historischen Entwicklung verschiedene Schichten ein und
derselben objektiven Realität aufdeckt und bestimmt. In diesem
7 Philipp G. Frank, 10C. cit., S. 85.
8 C. F. von Weizsäcker, Die Geschichte der Natur, Göttingen 1962, S. 17 f.
9 In: British Philosophy in the Mid-Century, New York: Macmillan 1957, ed. C. A.
Mace, S. 155 ff. Ähnlich: Mario Bunge, Metascientific Queries, Springfield, Ill.:
Charles C. Thomas 1959, S. 108 ff.
I65
Prozeß werden die geschichtlich überholten Begriffe aufgehoben
und ihre Bedeutung den nachfolgenden einverleibt — eine Interpretation, die einen Fortschritt zum wirklichen Kern der Realität, das heißt zur absoluten Wahrheit einzuschließen scheint.
Oder aber die Realität kann sich als Zwiebel ohne Kern erweisen, und der Begriff der wissenschaftlichen Wahrheit selbst kann
in Frage gestellt werden.
Damit will ich nicht behaupten, daß die Philosophie der heutigen Physik die Realität der Außenwelt leugnet oder auch nur
in Frage stellt, sondern daß sie auf die eine oder andere Art das
Urteil darüber suspendiert, was die Realität selbst sein mag
und schon die Frage als sinnlos und unbeantwortbar betrachtet.
Wird diese Suspension zu einem methodologischen Prinzip gemacht, so hat sie eine doppelte Folge: a) fördert sie die Verlagerung des theoretischen Akzents vom metaphysischen »Was
i s t . . . ?« (τί εστίν) aufs funktionale » W i e . . . ?« und b) stellt
sie eine praktische (obgleich keineswegs absolute) Gewißheit her, die bei ihren Operationen mit der Materie guten Gewissens frei ist von der Bindung an irgendeine Substanz außerhalb des operationellen Zusammenhangs. Mit anderen Worten:
theoretisch hat die Umformung von Mensch und Natur keine
anderen objektiven Schranken als solche wie sie von der rohen
Faktizität der Materie und ihrem noch unbeherrschten Widerstand gegenüber Erkenntnis und Kontrolle gesetzt werden. In
dem Maße, wie diese Auffassung in der Realität anwendbar
und wirksam wird, tritt man an diese als an ein (hypothetisches)
System von Mitteln heran; das metaphysische »Sein als solches«
weicht einem »Instrument-Sein«. In ihrer Wirksamkeit erprobt,
wirkt diese Auffassung überdies als Apriori — sie legt die Erfahrung im vorhinein fest, sie entwirft die Richtung, in der die
Natur umgeformt wird, sie organisiert das Ganze.
Wir sahen soeben, daß die gegenwärtige Philosophie der Naturwissenschaft gegen ein idealistisches Element zu kämpfen und
in ihren extremen Formulierungen einem idealistischen Naturbegriff gefährlich nahe zu kommen schien. Die neue Denkweise
stellt jedoch den Idealismus wieder »auf seine Füße«. Hegel umriß die idealistische Ontologie so: wenn die Vernunft der gemeinsame Nenner von Subjekt und Objekt ist, so ist sie das als
166
Synthesis von Gegensätzen. Mit dieser Idee begriff Ontologie
die Spannung zwischen Subjekt und Objekt; sie war mit Konkretheit gesättigt. Die Wirklichkeit der Vernunft bestand im
Austragen dieser Spannung in Natur, Geschichte und Philosophie. Selbst das extrem monistische System hielt derart an der
Idee einer Substanz fest, die sich in Subjekt und Objekt entfaltet — die Idee einer antagonistischen Wirklichkeit. Der
szientifische Geist hat diesen Antagonismus zunehmend abgeschwächt. Die moderne wissenschaftliche Philosophie kann wohl
mit dem Begriff der beiden Substanzen, res cogitans und res
extensa, beginnen — aber indem die ausgedehnte Materie in
mathematischen Gleichungen begreifbar ist, die, in Technik
übersetzt, diese Materie »wiederherstellen«, verliert die res
extensa ihren Charakter als unabhängige Substanz. »Die alte
Einteilung der Welt in einen objektiven Ablauf in Raum und
Zeit auf der einen Seite und die Seele, in der sich dieser Ablauf
spiegelt, auf der anderen, also die Descartes'sche Unterscheidung
von res cogitans und res extensa, eignet sich nicht mehr als
Ausgangspunkt zum Verständnis der modernen Naturwissenschaft«.10
Die Cartesianische Aufteilung der Welt ist auch von ihren
eigenen Grundlagen aus in Zweifel gezogen worden. Husserl
legt dar, daß das Cartesianische Ego letztlich keine wirklich unabhängige Substanz war, sondern vielmehr das »Residuum« oder
die Grenze der Quantifizierung; es scheint, daß Galileis Idee
der Welt als einer »universalen und absolut puren« res extensa
die Cartesianische Konzeption a priori beherrschte.11 In diesem
Falle wäre der Cartesianische Dualismus trügerisch, und Descartes' denkende Ichsubstanz wäre der res extensa verwandt
und nähme das wissenschaftliche Subjekt quantifizierbarer Beobachtung und Messung vorweg. Descartes' Dualismus enthielte bereits in sich seine Negation; er würde den Weg zur
10 W. Heisenberg, Das Naturbild der heutigen Physik, Hamburg 1963, S. 21. In
seinem Buch Physik und Philosophie, Frankfurt/Main-Berlin 1959, S. 70, schreibt
Heisenberg: »Für den Atomphysiker ist das >Ding an sich<, sofern er diesen Begriff überhaupt gebraucht, schließlich eine mathematische Struktur. Aber diese
Struktur wird, im Gegensatz zu Kant, indirekt aus der Erfahrung erschlossen«.
11 Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, ed. W. Biemel, Den Haag: Nijhoff 1954, S. 81.
I67
Errichtung des eindimensionalen wissenschaftlichen Universums,
in dem Natur »objektiv geistig«, das heißt Subjekt ist, eher
ebnen als versperren. Und dieses Subjekt ist mit seiner Welt
auf eine sehr spezielle Weise verbunden:
». . . la nature est mise sous le signe de l'homme actif, de
l'homme inscrivant la technique dans la nature.«12
Die Wissenschaft von der Natur entwickelt sich unter dem
technologischen Apriori, das die Natur als potentielles Mittel,
als Stoff für Kontrolle und Organisation entwirft. Und das Erfassen der Natur als (hypothetisches) Mittel geht der Entwicklung aller besonderen technischen Organisation voraus:
»Der neuzeitliche Mensch stellt sich ... als den heraus, der ...
als der sich durchsetzende Hersteller aufsteht ... Das Ganze
des gegenständlichen Bestandes ist dem sich durchsetzenden
Herstellen anheimgestellt, an-befohlen ... und wird im vorhinein ... zum Material«. »Denn überhaupt ist die Benutzung
von Maschinerien und die Fabrikation von Maschinen nicht
schon die Technik selbst, sondern nur ein ihr gemäßes Instrument der Einrichtung ihres Wesens im Gegenständlichen ihrer
Rohstoffe«.13
Das technologische Apriori ist insofern ein politisches Apriori,
als die Umgestaltung der Natur die des Menschen zur Folge
hat und als die »vom Menschen hervorgebrachten Schöpfungen«
aus einem gesellschaftlichen Ganzen hervor- und in es zurückgehen. Dennoch kann man darauf bestehen, daß die Maschinerie
des technologischen Universums »als solche« politischen Zwecken
gegenüber indifferent ist — sie kann eine Gesellschaft nur beschleunigen oder hemmen. Eine elektronische Rechenmaschine
kann einem kapitalistischen wie einem sozialistischen Regime
dienen; ein Zyklotron kann für eine Kriegs- wie für eine Friedenspartei ein gleich gutes Werkzeug sein. Diese Neutralität
wird in Marx' polemischer Behauptung angefochten, daß die
12 »Die Natur wird unter das Zeichen des tätigen Menschen gestellt, des Menschen,
der die Technik der Natur eingräbt.« Gaston Bachelard, L'Activité rationaliste de
la physique contemporaine (Paris, Presses Universitaires, 1951), S. 7 unter Bezugnahme auf Marx/Engels, Die deutsche Ideologie, Berlin 1953, S. 40 ff.
13 Martin Heidegger, Holzwege, Frankfurt 1950, S. 166 ff. Cf. auch seine Vorträge
und Aufsätze, Pfullingen 1954, S. 22, 29.
168
»Handmühle eine Gesellschaft mit Feudalherren ergibt, die
Dampfmühle eine Gesellschaft mit industriellen Kapitalisten«.14
Nun wird diese Behauptung in der Marxschen Theorie selbst
eingeschränkt: die gesellschaftliche Produktionsweise, nicht die
Technik, ist der grundlegende historische Faktor. Wird die
Technik jedoch zur umfassenden Form der materiellen Produktion, so umschreibt sie eine ganze Kultur; sie entwirft eine geschichtliche Totalität — eine »Welt«.
Können wir sagen, daß die Entwicklung der naturwissenschaftlichen Methode die Umgestaltung der natürlichen in eine
technische Realität im Prozeß der industriellen Zivilisation bloß
»widerspiegelt«? Das Verhältnis von Naturwissenschaft und Gesellschaft auf diese Weise formulieren heißt zwei getrennte Bereiche und Ereignisse annehmen, die zusammentreffen, nämlich
1. die Naturwissenschaft und das naturwissenschaftliche Denken mit ihren immanenten Begriffen und ihrer immanenten
Wahrheit und 2. der Gebrauch und die Anwendung der Naturwissenschaft in der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Mit anderen
Worten, wie eng auch der Zusammenhang zwischen den beiden
Entwicklungen sein mag, sie implizieren und bestimmen einander nicht. Reine Wissenschaft ist keine angewandte Wissenschaft; sie behält ihre Identität und Gültigkeit auch unabhängig von ihrer Nutzbarmachung. Außerdem wird diese Vorstellung von der wesentlichen Neutralität der Naturwissenschaft
auch auf die Technik ausgedehnt. Die Maschine ist indifferent
gegenüber den gesellschaftlichen Anwendungen, denen sie unterworfen wird, vorausgesetzt, diese Anwendungen verbleiben im
Rahmen ihres technischen Vermögens.
In Anbetracht des zuinnerst instrumentalistischen Charakters
der naturwissenschaftlichen Methode erscheint diese Interpretation unangemessen. Zwischen dem naturwissenschaftlichen Denken und seiner Anwendung, zwischen dem Universum der naturwissenschaftlichen Sprache und dem des alltäglichen Sprechens
und Verhaltens scheint eine engere Beziehung zu herrschen —
eine Beziehung, worin sich beide unter derselben Logik und
Rationalität von Herrschaft bewegen.
14 Das Elend der Philosophie, Berlin 1952, S. 130.
169
In einer paradoxen Entwicklung führten die wissenschaftlichen Anstrengungen, die strenge Objektivität der Natur zu
statuieren, zu einer fortschreitenden Entstofflichung der Natur:
»Die Vorstellung der an sich seienden unendlichen Natur, auf
die wir verzichten müssen, ist der Mythos der neuzeitlichen
Wissenschaft. Die Wissenschaft begann damit, den Mythos des
Mittelalters zu zerstören; jetzt zwingt ihre eigene Konsequenz
sie zu der Einsicht, daß sie einen anderen Mythos an seine Stelle
gesetzt hatte«.15
Der Prozeß, der mit der Beseitigung unabhängiger Substanzen
und Endursachen beginnt, führt zur Vergeistigung der Objektivität. Aber es handelt sich um eine sehr spezifische Vergeistigung, bei der das Objekt sich in einer durchaus praktischen Beziehung zum Subjekt konstituiert:
»Was ist denn Materie? In der Atomphysik definieren wir die
Materie durch ihre möglichen Reaktionen auf Experimente des
Menschen und durch die mathematischen - also geistigen - Gesetze, denen sie genügt. Wir definieren Materie als einen möglichen Gegenstand des Menschen«.16
Wenn dem so ist, dann ist Wissenschaft in sich technologisch
geworden: »Die pragmatische Wissenschaft hat das Bild von der
Natur, das einem technischen Zeitalter gemäß ist«.17 In dem
Maße, wie der Operationalismus ins Zentrum des wissenschaftlichen Unternehmens tritt, nimmt die Rationalität die Form
methodischer Konstitution, Organisation und Handhabung der
Materie als bloßen Stoffs der Kontrolle an, als Mittel, das sich
für alle Ziele und Zwecke eignet — Mittel per se, »an sich«.
Die »richtige« Einstellung zum Mittel ist der technische Ansatz, der richtige Logos ist Techno-logie, die eine technologische
Wirklichkeit entwirft und eine Antwort auf sie ist.18 In dieser
Wirklichkeit ist die Materie ebenso »neutral« wie die Wissenschaft; die Objektivität trägt weder ein Telos in sich noch ist
sie auf ein Telos hingeordnet. Aber es ist gerade ihr neutraler
15
16
17
18
C. F. von Weizsäcker, Die Geschichte der Natur, l. c., S. 51.
Ibid., S. 95 (Hervorhebung von mir).
Ibid., S. 51.
Ich hoffe, nicht so mißverstanden zu werden, als wollte ich sagen, daß die Begriffe der mathematischen Physik von vornherein als »Werkzeuge« vorgesehen
sind, daß sie eine technische, praktische Zielsetzung haben. Technologisch ist viel170
Charakter, der die Objektivität mit einem spezifischen geschichtlichen Subjekt verbindet — nämlich mit dem Bewußtsein,
das in der Gesellschaft herrscht, durch und für welche diese
Neutralität eingeführt wird. Es ist gerade in den Abstraktionen
wirksam, die die neue Rationalität ausmachen — mehr als innerer denn als äußerer Faktor. Reiner und angewandter Operationalismus, theoretische und praktische Vernunft, das wissenschaftliche und das Geschäftsunternehmen vollziehen die Reduktion von sekundären auf primäre Qualitäten, die Quantifizierung und Abstraktion von »besonderen Arten von Entitäten«.
Zwar ist die Rationalität reiner Wissenschaft wertfrei und
setzt keinerlei praktische Zwecke fest; sie ist allen von außen
kommenden Werten gegenüber »neutral«, die an sie herangetragen werden können. Aber diese Neutralität ist ein positives
Merkmal. Wissenschaftliche Rationalität bewirkt eben deshalb
eine spezifische gesellschaftliche Organisation, weil sie die bloße
Form (oder bloße Materie — hier konvergieren die sonst entgegengesetzten Begriffe) entwirft, die praktisch allen Zwecken
unterworfen werden kann. Formalisierung und Funktionalisierung sind vor aller Anwendung die »reine Form« einer konkret-gesellschaftlichen Praxis. Während die Wissenschaft die
Natur von allen immanenten Zwecken befreite und die Materie
aller Qualitäten, mit Ausnahme quantifizierbarer, entkleidete,
befreite die Gesellschaft die Menschen von der »natürlichen«
Hierarchie persönlicher Abhängigkeit und verband sie miteinander nach quantifizierbaren Qualitäten — nämlich als Einheiten
abstrakter Arbeitskraft, berechenbar in Zeiteinheiten. »Die Eliminierung der Qualitäten, ihre Umrechnung in Funktionen überträgt sich von der Wissenschaft vermöge der rationalisierten
Arbeitsweisen auf die Erfahrungswelt«.19
Besteht zwischen den beiden Prozessen wissenschaftlicher und
mehr die apriorische »Intuition« oder Auffassung des Universums, in dem die
Wissenschaft sich bewegt und sich als reine Wissenschaft konstituiert. Reine Wissenschaft bleibt dem Apriori verpflichtet, von dem sie abstrahiert. Vielleicht ist
es klarer, von dem instrumentalistischen Horizont der mathematischen Physik zu
sprechen. Cf. Suzanne Bachelard, La conscience de rationalité (Paris, Presses Universitaires, 1958), S. 31.
19 M. Horkheimer und Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, l. c., S. 50.
171
gesellschaftlicher Quantifizierung Parallelität und Ursächlichkeit oder entspringt ihr Zusammenhang einfach einer nachträglichen soziologischen Sicht? Die vorangehende Diskussion nahm
an, daß die neue wissenschaftliche Rationalität an sich, gerade
in ihrer Abstraktheit und Reinheit, insofern operationell war,
als sie sich unter einem instrumentalistischen Horizont entwickelte. Beobachtung und Experiment, die methodische Organisation und Zusammenfassung der Daten, Sätze und Schlußfolgerungen gehen niemals in einem unstrukturierten, neutralen,
theoretischen Raum vonstatten. Als Entwurf umfaßt Erkenntnis Einwirkungen auf Objekte oder Abstraktionen von Objekten, was sich in einem gegebenen Universum von Sprache und
Handeln abspielt. Die Wissenschaft beobachtet, berechnet und
theoretisiert, indem sie von einer Position in diesem Univerversum ausgeht. Die von Galilei beobachteten Sterne waren dieselben im klassischen Altertum, aber das andere Universum von
Sprache und Handeln - kurzum, die andere gesellschaftliche
Realität - eröffnete die neue Richtung und Reichweite des Beobachtens sowie die Möglichkeiten, die beobachteten Daten zu
ordnen. Ich beschäftige mich hier nicht mit dem historischen Verhältnis von wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Rationalität
zu Beginn der Neuzeit. Ich möchte den zuinnerst instrumentalistischen Charakter dieser wissenschaftlichen Rationalität darlegen, kraft dessen sie a priori Technologie ist und das Apriori
einer spezifischen Technologie — nämlich Technologie als Form
sozialer Kontrolle und Herrschaft.
Als reines Denken entwirft das moderne wissenschaftliche
Denken weder besondere praktische Ziele noch besondere Herrschaftsformen. So etwas wie Herrschaft per se gibt es jedoch
nicht. Indem die Theorie fortschreitet, abstrahiert sie von einem
tatsächlichen teleologischen Zusammenhang oder verwirft ihn
— den des gegebenen, konkreten Universums von Sprache und
Handeln. Innerhalb dieses Universums selbst findet nun der
wissenschaftliche Entwurf statt oder nicht, begreift die Theorie
die möglichen Alternativen oder nicht, stoßen die Hypothesen
die vorgegebene Realität um oder erweitern sie.
Die Prinzipien der modernen Wissenschaft waren a priori
so strukturiert, daß sie als begriffliche Instrumente einem Uni172
versum sich automatisch vollziehender, produktiver Kontrolle
dienen konnten; der theoretische Operationalismus entsprach
schließlich dem praktischen. Die wissenschaftliche Methode, die
zur stets wirksamer werdenden Naturbeherrschung führte,
lieferte dann auch die reinen Begriffe wie die Instrumente zur
stets wirksamer werdenden Herrschaft des Menschen über den
Menschen vermittels der Naturbeherrschung. Theoretische Vernunft trat in den Dienst praktischer Vernunft und blieb dabei
stets rein und neutral. Die Verschmelzung erwies sich als vorteilhaft für beide. Heute verewigt und erweitert sich die Herrschaft nicht nur vermittels der Technologie, sondern als Technologie, und diese liefert der expansiven politischen Macht, die
alle Kulturbereiche in sich aufnimmt, die große Legitimation.
In diesem Universum liefert die Technologie auch die große
Rationalisierung der Unfreiheit des Menschen und beweist die
»technische« Unmöglichkeit, autonom zu sein, sein Leben selbst
zu bestimmen. Denn diese Unfreiheit erscheint weder als irrational noch als politisch, sondern vielmehr als Unterwerfung
unter den technischen Apparat, der die Bequemlichkeiten des
Lebens erweitert und die Arbeitsproduktivität erhöht. Technologische Rationalität schützt auf diese Weise eher die Rechtmäßigkeit von Herrschaft, als daß sie sie abschafft, und der instrumentalistische Horizont der Vernunft eröffnet sich zu einer
auf rationale Art totalitären Gesellschaft:
»On pourrait nommer philosophie autocratique des techniques
celle qui prend l'ensemble technique comme un lieu où l'on utilise
les machines pour obtenir de la puissance. La machine est seulement un moyen; la fin est la conquête de la nature, la domestication des forces naturelles au moyen d'un premier asservissement: la machine est un esclave qui sert à faire d'autres
esclaves. Une pareille inspiration dominatrice et esclavagiste
peut se rencontrer avec une requête de liberté pour l'homme.
Mais il est difficile de se libérer en transférant l'esclavage sur
d'autres êtres, hommes, animaux ou machines; régner sur un
peuple de machines asservissant le monde entier, c'est encore
régner, et tout règne suppose l'acceptation des schèmes d'asservissement.«20
Die unaufhörliche Dynamik des technischen Fortschritts wurde
173
von politischem Inhalt durchdrungen und der Logos der Technik in den Logos fortgesetzter Herrschaft überführt. Die befreiende Kraft der Technologie - die Instrumentalisierung der
Dinge - verkehrt sich in eine Fessel der Befreiung, sie wird
zur Instrumentalisierung des Menschen.
Diese Interpretation würde vor aller Anwendung und Nutzbarmachung den wissenschaftlichen Entwurf (Methode und
Theorie) mit einem spezifischen gesellschaftlichen Entwurf verknüpfen und sähe das Band gerade in der inneren Form wissenschaftlicher Rationalität, will sagen im funktionalen Charakter ihrer Begriffe. Mit anderen Worten, das wissenschaftliche
Universum (das heißt nicht die besonderen Sätze über die
Struktur der Materie, Energie, deren Wechselwirkung usw., sondern die Darstellung der Natur als quantifizierbare Materie,
von der die hypothetische Annäherung an die Objektivität und deren mathematisch-logischer Ausdruck - sich leiten läßt)
wäre der Horizont einer konkreten gesellschaftlichen Praxis,
die in der Entwicklung des wissenschaftlichen Entwurfs aufbewahrt wäre.
Aber selbst wenn man den inneren Instrumentalismus der
wissenschaftlichen Rationalität zugibt, würde diese Annahme
nicht die sozio-logische Gültigkeit des wissenschaftlichen Entwurfs begründen. Angenommen, daß noch die Bildung der abstraktesten wissenschaftlichen Begriffe die Wechselbeziehung von
Subjekt und Objekt in einem gegebenen Universum von Sprache
und Handeln enthält, so kann das Bindeglied zwischen theoretischer und praktischer Vernunft auch auf ganz andere Weisen
verstanden werden.
20 »Man könte diejenige Philosophie der Technik autokratisch nennen, die das technische Ganze als einen Ort versteht, wo Maschinen benutzt werden, um Macht
zu erlangen. Die Maschine ist nur ein Mittel; der Zweck ist die Eroberung der
Natur, die Dienstbarmachung der Naturkräfte vermittels einer ersten Versklavung: die Maschine ist ein Sklave, der dazu dient, weitere Sklaven zu
machen. Ein derartiges Streben nach Herrschaft und Versklavung kann einhergehen mit einem Verlangen nach menschlicher Freiheit. Aber es ist schwierig, sich
zu befreien, wenn man die Sklaverei auf andere Wesen, Menschen, Tiere oder
Maschinen überträgt; über einen Haufen Maschinen herrschen, die die ganze
Welt unterwerfen, heißt immer noch herrschen; und alle Herrschaft setzt voraus, daß Schemata der Unterwerfung hingenommen werden«. Gilbert Simondon,
Du mode d'existence des objets techniques, Paris: Aubier, 1958, S. 127.
174
Eine solche andere Interpretation bietet Piaget in seiner
»genetischen Erkenntnistheorie«. Piaget deutet die Bildung wissenschaftlicher Begriffe im Sinne verschieden gearteter Abstraktionen aus einer allgemeinen Wechselbeziehung von Subjekt und
Objekt. Abstraktion geht weder aus dem bloßen Objekt hervor,
wobei das Subjekt nur als neutraler Punkt fungiert, von dem
aus beobachtet und gemessen wird, noch aus dem Subjekt als dem
Vehikel reiner, erkennender Vernunft. Piaget unterscheidet den
Erkenntnisprozeß in der Mathematik von dem in der Physik.
Ersterer ist Abstraktion »à l'intérieur de l'action comme telle« :
»Contrairement à ce que l'on dit souvent, les êtres mathématiques ne résultent donc pas d'une abstraction à partir des
objets, mais bien d'une abstraction effectuée au sein des actions
comme telles. Réunir, ordonner, déplacer, etc. sont des actions
plus générales que penser, pousser, etc. parce qu'elles tiennent à
la coordination même de toutes les actions particulières et entrent en chacune d'elles à titre de facteur coordinateur...«21
Mathematische Sätze drücken so »une accomodation générale
à l'objet« aus — im Gegensatz zu den besonderen Adaptationen,
die für wahre Sätze in der Physik charakteristisch sind. Logik
und mathematische Logik sind »une action sur l'objet quelconque, c'est-à-dire une action accomodée de façon générale«;22
und diese »action« ist insofern allgemeingültig, als »cette
abstraction ou différenciation porte jusqu'au sein des coordinations héréditaires, puisque les mécanismes coordinateurs de
l'action tiennent toujours, en leur source, à des coordinations
réflexes et instinctives.«23
21 »Im Gegensatz zu dem, was oft gesagt wird, sind die mathematischen Wesenheiten
kein Ergebnis einer Abstraktion, die von den Objekten ausgeht, sondern vielmehr
das einer im Innern der Aktionen als solcher bewirkten Abstraktion. Vereinigen,
Ordnen, Bewegen usw. sind allgemeinere Aktionen als Denken, Stoßen usw.,
weil sie gerade in der Koordination aller besonderen Aktionen gründen und in
jede von ihnen als koordinierender Faktor eingehen.« Introduction à l'épistémologie génétique, Band III, Paris: Presses Universitaires 1950, S. 287.
22 »ein Handeln auf irgendein Objekt, d.h. eine in allgemeiner Art angepaßte Handlung«. Ibid., S. 288.
23 »Diese Abstraktion oder Differenzierung erstreckt sich bis aufs Zentrum erblicher Koordinationen, da die koordinierenden Mechanismen des Handelns ihrem
Ursprung nach stets mit reflektorischen und instinktiven Koordinationen verbunden sind.« Ibid., S. 289.
175
In der Physik geht die Abstraktion aus dem Objekt hervor,
ist aber auf spezifische Aktionen von seiten des Subjekts zurückzuführen und nimmt dadurch notwendig eine mathematischlogische Form an, daß »des actions particulières ne donnent lieu
à une connaissance que coordonnées entre elles et que cette
coordination est, par sa nature même, logico-mathématique«.24
Die Abstraktion in der Physik führt notwendig zur logischmathematischen Abstraktion zurück, und diese ist, als reine Koordination, die allgemeine Form des Handelns - »Aktion als
solche«. Und diese Koordination begründet Objektivität, weil
sie an erbliche, »reflektorische und instinktive« Strukturen gebunden bleibt.
Piagets Interpretation anerkennt den zuinnerst praktischen
Charakter der theoretischen Vernunft, aber leitet ihn aus einer
allgemeinen Struktur des Handelns ab, die in letzter Instanz
eine erbliche, biologische Struktur ist. Die wissenschaftliche Methode würde letztlich auf einer biologischen Grundlage beruhen,
die über- (oder vielmehr unter-)geschichtlich ist. Angenommen
ferner, daß alle wissenschaftliche Erkenntnis die Koordination
besonderer Handlungen voraussetzt, so sehe ich nicht ein, weshalb eine derartige Koordination »ihrem ganzen Wesen nach«
logisch-mathematisch ist — wenn nicht die »besonderen Handlungen« die wissenschaftlichen Operationen der modernen Physik
sind, in welchem Fall die Interpretation einen Zirkelschluß enthielte.
Im Gegensatz zu Piagets eher psychologischer und biologischer
Analyse hat Husserl eine genetische Erkenntnistheorie geboten,
in deren Brennpunkt die geschichtlich-gesellschaftliche Struktur
der wissenschaftlichen Vernunft steht. Ich gehe hier auf Husserls
Werk25 nur soweit ein, als in ihm herausgestellt wird, in welchem
Maß die moderne Wissenschaft die »Methodologie« einer vorgegebenen geschichtlichen Realität ist, in deren Universum sie sich
bewegt.
24 » . . . besondere Handlungen führen nur dann zur Erkenntnis, wenn sie untereinander koordiniert sind und diese Koordination ihrem ganzen Wesen nach eine
logisch-mathematische ist.« Ibid., S. 291.
25 Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Pbänomenologie, l. c.
176
Husserl geht von der Tatsache aus, daß die Mathematisierung
der Natur zu gültiger, praktischer Erkenntnis führte: zum Aufbau einer Realität von »Idealitäten«, die wirksam auf die empirische Realität »bezogen« werden konnte (S. 19; 42). Aber die
wissenschaftliche Leistung verwies zurück auf eine vorwissenschaftliche Praxis, welche die ursprüngliche Basis (das »Sinnesfundament«) der Galileischen Wissenschaft bildete. Diese vorwissenschaftliche Basis der Wissenschaft in der Welt der Praxis
(»Lebenswelt«), die die theoretische Struktur bestimmte, wurde
von Galilei nicht in Betracht gezogen; mehr noch, sie wurde
durch die weitere Entwicklung der Wissenschaft verdeckt. Es kam
zu dem Schein, daß die Mathematisierung der Natur eine »eigenständige absolute Wahrheit« schaffe (S. 49 f.), während sie in
Wirklichkeit eine spezifische Methode und Technik für die Lebenswelt blieb. Das »Ideenkleid« der mathematischen Naturwissenschaft ist so ein Kleid von Symbolen, das die Welt der
Praxis zur gleichen Zeit »vertritt« und »verkleidet« (S. 52).
Worin besteht die ursprüngliche, vorwissenschaftliche Intention und der Inhalt, die in der begrifflichen Struktur der Naturwissenschaft erhalten bleiben? Die Meßkunst entdeckt praktisch
die Möglichkeit, gewisse Grundformen, Gestalten und Beziehungen zu benutzen, die, »an faktisch allgemein verfügbaren empirisch starren Körpern festgelegt«, dazu dienen, empirische Körper und Beziehungen exakt zu bestimmen und zu berechnen (S.
25). Bei aller Abstraktion und Verallgemeinerung bewahrt (und
verkleidet) die naturwissenschaftliche Methode ihre vorwissenschaftlich-technische Struktur; die Entwicklung jener vertritt
(und verkleidet) die Entwicklung dieser. So »idealisiert« die
klassische Geometrie die Feldmeßkunst. Geometrie ist die Theorie praktischer Objektivierung.
Freilich bauen Algebra und mathematische Logik eine absolute
Realität von Idealitäten auf, befreit von den unberechenbaren
Ungewißheiten und Partikularitäten der Lebenswelt und der in
ihr lebenden Subjekte. Diese ideale Konstruktion ist jedoch die
Theorie und Technik der Idealisierung der neuen Lebenswelt:
In der »mathematischen Praxis erreichen wir, was uns in der
empirischen Praxis versagt ist: >Exaktheit<; denn für die idealen
Gestalten ergibt sich die Möglichkeit, sie in absoluter Identität
177
zu bestimmen,... als allgemein verfügbar« (S. 24). Die Koordination (»Zuordnung«) der idealen zur empirischen Welt befähigt
uns, »die zu erwartenden empirischen Regelmäßigkeiten der
praktischen Lebenswelt zu entwerfen«: »Ist man einmal bei den
Formeln, so besitzt man damit im voraus schon die praktisch
erwünschte Voraussicht« — die Voraussicht dessen, was in der
Erfahrung des konkreten Lebens zu erwarten ist (S. 43).
Husserl betont die vorwissenschaftliche, technische Bedeutung
der mathematischen Exaktheit und Fungibilität. Diese zentralen
Begriffe der neuzeitlichen Naturwissenschaft entstehen nicht als
bloße Nebenprodukte einer reinen Wissenschaft, sondern als zu
deren innerer begrifflicher Struktur gehörig. Die wissenschaftliche
Abstraktion vom Konkreten, die Quantifizierung der Qualitäten, die Exaktheit wie Allgemeingültigkeit liefern, enthalten
eine spezifische konkrete Erfahrung der Lebenswelt — eine spezifische Weise, die Welt zu »sehen«. Und dieses »Sehen« ist trotz
seines »reinen«, desinteressierten Charakters ein Sehen innerhalb
eines zweckbetonten, praktischen Zusammenhangs. Es ist »Voraussehen« und »Vorhaben«. Die Galileische Wissenschaft ist die
Wissenschaft methodischen Vorwegnehmens und Entwerfens.
Aber - und das ist entscheidend - eines spezifischen Vorwegnehmens und Entwerfens — nämlich eines solchen, das die Welt
nach berechenbaren, voraussagbaren Beziehungen von exakt bestimmbaren Einheiten erfährt, begreift und gestaltet. Bei diesem
Entwurf ist universale Quantifizierbarkeit eine Vorbedingung
für die Beherrschung der Natur. Individuelle, nichtquantifizierbare Qualitäten stehen einer Organisation von Menschen und
Dingen im Wege, die an der meßbaren Kraft orientiert ist, die
aus ihnen herausgeholt werden soll. Aber es handelt sich um
einen spezifischen, geschichtlich-gesellschaftlichen Entwurf, und
das Bewußtsein, das diesen Entwurf unternimmt, ist das verborgene Subjekt der Galileischen Wissenschaft; diese ist die Technik, die Kunst der »ins Unendliche erweiterten Voraussicht«
(S. 51).
Gerade weil nun die Galileische Wissenschaft in der Bildung
ihrer Begriffe die Technik einer spezifischen Lebenswelt ist, trans178
zendiert sie diese Lebenswelt nicht und kann es auch nicht. Sie
verbleibt wesentlich innerhalb der grundlegenden Erfahrung
und innerhalb des Universums von Zwecken, wie sie von dieser
Realität gesetzt werden. Nach Husserls Formulierung wird »das
konkrete Universum der Kausalität zu angewandter Mathematik« (S. 113) - aber die Wahrnehmungs- und Erfahrungswelt,
»in der sich unser ganzes Leben praktisch abspielt, bleibt, als die
sie ist, in ihrer eigenen Wesensstruktur, in ihrem eigenen Kausalstil ungeändert« (S. 51; Hervorhebung von mir).
Eine herausfordernde Feststellung, die leicht unterschätzt wird,
und ich nehme mir die Freiheit einer möglichen Überinterpretation. Die Feststellung bezieht sich nicht einfach auf die Tatsache,
daß wir trotz der nichteuklidischen Geometrie immer noch im
dreidimensionalen Raum wahrnehmen und handeln oder daß
trotz des »statistischen« Kausalitätsbegriffs der gesunde Menschenverstand immer noch in Übereinstimmung mit den »alten«
Gesetzen der Kausalität handelt. Ebensowenig widerspricht
die Feststellung den beständigen Veränderungen in der Welt
der täglichen Praxis als dem Ergebnis »angewandter Mathematik«. Es kann um sehr viel mehr gehen: nämlich um die
immanente Grenze der etablierten Wissenschaft und wissenschaftlichen Methode, aufgrund deren diese die herrschende Lebenswelt
erweitern, rationalisieren und sicherstellen, ohne ihre Seinsstruktur zu ändern — das heißt ohne eine qualitativ neue »Sicht«weise
und qualitativ neue Beziehungen zwischen den Menschen und
zwischen Mensch und Natur ins Auge zu fassen.
Im Hinblick auf die institutionalisierten Lebensformen hätte
die (reine wie die angewandte) Wissenschaft so eine stabilisierende, statische, konservative Funktion. Selbst ihre revolutionärsten Errungenschaften wären nur Aufbau und Zerstörung
gemäß einer spezifischen Erfahrung und Organisation der Wirklichkeit. Die fortwährende Selbstkorrektur der Wissenschaft
selbst - die in ihre Methode eingebaute Umwälzung ihrer Hypothesen - treibt dasselbe geschichtliche Universum, dieselbe Grunderfahrung vorwärts und erweitert sie. Sie hält am selben formalen Apriori fest, das einen sehr materialen, praktischen Inhalt
bewirkt. Weit davon entfernt, den grundlegenden Wandel zu
unterschätzen, der mit der Errichtung der Galileischen Wissen179
schaft eintrat, verweist Husserls Interpretation auf den radikalen Bruch mit der vorgalileischen Tradition; der instrumentalistische Denkhorizont war in der Tat ein neuer Horizont. Er
schuf eine neue Welt theoretischer und praktischer Vernunft,
aber er blieb einer spezifischen geschichtlichen Welt verpflichtet,
die ihre offenkundigen Grenzen hat — in der Theorie wie in der
Praxis, in ihren reinen wie in ihren angewandten Methoden.
Die vorangehende Diskussion scheint nicht nur auf die inneren
Schranken und Vorurteile der naturwissenschaftlichen Methode
zu verweisen, sondern auch auf ihre geschichtliche Subjektivität.
Sie scheint überdies das Bedürfnis nach einer Art »qualitativer Physik«, nach Wiederbelebung teleologischer Philosophien
und so weiter zu implizieren. Ich gebe zu, daß dieser Verdacht
berechtigt ist, kann aber an dieser Stelle nur versichern, daß derart obskurantistische Ideen nicht beabsichtigt sind26.
Wie immer man Wahrheit und Objektivität definiert, sie bleiben auf die menschlichen Triebkräfte von Theorie und Praxis
bezogen und auf deren Fähigkeit, die Welt zu begreifen und
zu verändern. Diese Fähigkeit wiederum hängt von dem Umfang ab, in dem die Materie (was immer das sein mag) als das
anerkannt und verstanden wird, was sie in allen besonderen
Formen ist. In dieser Hinsicht ist die zeitgenössische Wissenschaft von unermeßlich größerer objektiver Gültigkeit als ihre
Vorgängerinnen. Es ließe sich sogar hinzufügen, daß gegenwärtig
die naturwissenschaftliche Methode die einzige ist, die solche
Gültigkeit beanspruchen kann; das Wechselspiel von Hypothesen
und beobachtbaren Tatsachen bestätigt die Hypothesen und
weist die Tatsachen nach. Was ich herauszustellen versuche, ist,
daß die Wissenschaft aufgrund ihrer eigenen Methode und Begriffe ein Universum entworfen und befördert hat, worin die
Naturbeherrschung mit der Beherrschung des Menschen verbunden blieb — ein Band, das dazu tendiert, sich für dieses Universum als Ganzes verhängnisvoll auszuwirken. Wissenschaftlich
begriffen und gemeistert, erscheint Natur aufs neue in dem technischen Produktions- und Destruktionsapparat, der das Leben
der Individuen erhält und verbessert und sie zugleich den Herren
26 Cf. Kapitel 9 und 10.
180
des Apparats unterwirft. So verschmilzt die rationale Hierarchie
mit der gesellschaftlichen. Wenn dem so ist, würde die Änderung
der Richtung des Fortschritts, die dieses verhängnisvolle Band
lösen könnte, auch die Struktur der Wissenschaft selbst beeinflussen — den Entwurf der Wissenschaft. Ohne ihren rationalen Charakter zu verlieren, würden ihre Hypothesen sich in
einem wesentlich anderen Erfahrungszusammenhang (in dem
einer befriedeten Welt) entwickeln; die Wissenschaft würde folglich zu wesentlich anderen Begriffen der Natur gelangen und
wesentlich andere Tatsachen feststellen. Die vernünftige Gesellschaft untergräbt die Idee der Vernunft.
Ich habe ausgeführt, daß die Elemente dieses Umsturzes, die
Begriffe einer anderen Rationalität, in der Geschichte des Denkens seit Anbeginn vorhanden waren. Die antike Idee eines
Staates, in dem das Sein zur Erfüllung gelangt, in dem die Spannung zwischen »Sein« und »Sollen« im Kreislauf einer ewigen
Wiederkehr gelöst wird, hat an der Metaphysik der Herrschaft
teil. Aber sie gehört auch zur Metaphysik der Befreiung — zur
Versöhnung von Logos und Eros. Diese Idee zielt ab auf das
Zur-Ruhe-Kommen der repressiven Produktivität der Vernunft,
auf das Ende der Herrschaft im Genuß.
Die beiden entgegengesetzten Rationalitäten können nicht einfach dem klassischen, bzw. dem neuzeitlichen Denken zugeordnet werden, wie dies John Deweys Formulierung »von kontemplativer Freude zu aktiver Manipulation und Kontrolle«
und »vom Wissen als ästhetischer Freude an den Eigenschaften
der Natur ... zum Wissen als Mittel diesseitiger Kontrolle«
nahelegt27.
Das klassische Denken war der Logik diesseitiger Kontrolle hinreichend verbunden, und im modernen Denken gibt es eine
Komponente der Anklage und Weigerung, die genügt, um John
Deweys Formulierung zu entkräften. Als begriffliches Denken
und Verhalten ist Vernunft notwendig Gewalt, Herrschaft. Logos
ist Gesetz, Regel, Ordnung aufgrund von Erkenntnis. Indem es
besondere Fälle unter ein Allgemeines subsumiert, indem es sie
27 John Dewey, The Quest of Certainty, New York: Minton, Balch und Co. 1929,
S. 95, 100.
181
ihrem Allgemeinbegriff unterwirft, erlangt das Denken Gewalt
über die besonderen Fälle. Es wird nicht nur fähig, sie zu begreifen, sondern auch auf sie einzuwirken, sie zu kontrollieren. Während jedoch alles Denken unter der Herrschaft der Logik steht,
ist die Entfaltung dieser Logik in den verschiedenen Denkweisen
verschieden. Die klassische formale und die moderne symbolische
Logik, die transzendentale und die dialektische Logik — eine jede
beherrscht ein anderes Universum der Sprache und Erfahrung.
Sie alle entwickelten sich innerhalb des geschichtlichen Kontinuums der Herrschaft, dem sie Tribut zollen. Und dieses Kontinuum
verleiht den positiven Denkweisen ihren konformistischen und
ideologischen, denen des negativen Denkens ihren spekulativen
und utopischen Charakter.
Zusammenfassend können wir jetzt versuchen, das verborgene
Subjekt der wissenschaftlichen Rationalität und die verborgenen
Zwecke in ihrer reinen Form klarer zu bestimmen. Der wissenschaftliche Begriff einer allseitig kontrollierbaren Natur entwarf
Natur als endlose Materie in Funktion, als bloßen Stoff von
Theorie und Praxis. In dieser Form ging die Objektwelt in den
Aufbau eines technologischen Universums ein — eines Universums
geistiger und materieller Instrumente, von Mitteln an sich. Sie
ist dadurch ein wahrhaft »hypothetisches« System, das von einem
bestätigenden und verifizierenden Subjekt abhängt.
Die Prozesse der Bestätigung und Verifikation mögen rein
theoretischer Art sein, aber sie spielen sich niemals in einem Vakuum ab und münden niemals ein in einen privaten, individuellen Geist. Das hypothetische System von Formen und Funktionen
wird abhängig von einem anderen System - einem vorgegebenen
Universum von Zwecken, in dem und für welches es sich entwickelt. Was dem theoretischen Entwurf äußerlich, fremd erschien, erweist sich als Teil seiner Struktur (Methode und Begriffe) selbst; reine Objektivität offenbart sich als Objekt für eine
Subjektivität, die das Telos, die Zwecke bereitstellt. Beim Aufbau
der technologischen Wirklichkeit gibt es nicht so etwas wie eine
rein rationale wissenschaftliche Ordnung; der Prozeß technologischer Rationalität ist ein politischer Prozeß.
Nur im Medium der Technik werden Mensch und Natur
182
ersetzbare Objekte der Organisation. Die allseitige Leistungsfähigkeit und Produktivität des Apparats, unter den sie subsumiert werden, verschleiern die den Apparat organisierenden
partikularen Interessen. Mit anderen Worten, die Technik ist
zum großen Vehikel der Verdinglichung geworden — der Verdinglichung in ihrer ausgebildetsten und wirksamsten Form. Die
gesellschaftliche Stellung des Individuums und seine Beziehung
zu anderen scheinen nicht nur durch objektive Qualitäten und
Gesetze bestimmt, sondern diese Qualitäten und Gesetze scheinen
auch ihren geheimnisvollen und unkontrollierbaren Charakter
zu verlieren; sie erscheinen als berechenbare Manifestationen
(wissenschaftlicher) Rationalität. Die Welt tendiert dazu, zum
Stoff totaler Verwaltung zu werden, die sogar die Verwalter
verschlingt. Das Gewebe der Herrschaft ist zum Gewebe der
Vernunft selbst geworden, und diese Gesellschaft ist verhängnisvoll darein verstrickt. Und die transzendierenden Denkweisen
scheinen die Vernunft selbst zu transzendieren.
Unter diesen Bedingungen nimmt das wissenschaftliche Denken (wissenschaftlich im weiten Sinne, als unklarem, metaphysischem, gefühlsbetontem, unlogischem Denken entgegengesetzt)
außerhalb der Naturwissenschaften auf der einen Seite die Form
eines reinen und in sich abgeschlossenen Formalismus (Symbolismus) an und die eines totalen Empirismus auf der anderen.
(Der Gegensatz ist kein Widerspruch. Man denke an die sehr
empirische Anwendung von Mathematik und symbolischer Logik in den elektronischen Industrien.) In Bezug auf das bestehende Universum von Sprache und Verhalten sind Nichtwiderspruch und Nichttranszendenz der gemeinsame Nenner.
Der totale Empirismus offenbart seine ideologische Funktion in
der zeitgenössischen Philosophie. Im Hinblick auf diese Funktion
werden im folgenden Kapitel einige Aspekte der Sprachanalyse
diskutiert. Diese Diskussion soll den Versuch vorbereiten, die
Schranken aufzuweisen, die diesen Empirismus davon abhalten,
die Wirklichkeit in den Griff zu bekommen, und führt die Begriffe ein (oder vielmehr wieder ein), die diese Schranken durchbrechen können.
183
7 Der Triumph des positiven Denkens:
eindimensionale Philosophie
Die Neubestimmung des Denkens, die dazu beiträgt, die geistigen Operationen denen in der gesellschaftlichen Wirklichkeit
gleichzuordnen, zielt ab auf eine Therapie. Das Denken steht
dann mit der Wirklichkeit auf einer Ebene, wenn es davon geheilt ist, Begriffe zu überschreiten, die entweder rein axiomatisch
sind (Logik, Mathematik) oder sich mit dem bestehenden Universum von Sprache und Verhalten decken. So behauptet die
Sprachanalyse, Denken und Sprache von verwirrenden metaphysischen Begriffen zu heilen — von »Geistern« einer weniger
entwickelten und weniger wissenschaftlichen Vergangenheit, die
noch immer den Verstand heimsuchen, obgleich sie weder etwas
bezeichnen noch erklären. Betont wird die therapeutische Funktion der philosophischen Analyse — die Korrektur abnormen
Verhaltens im Denken und Sprechen, die Beseitigung von Dunkelheiten, Illusionen und Schrullen oder zumindest ihre Bloßstellung.
In Kapitel 4 diskutierte ich den therapeutischen Empirismus
der Soziologie, der darin besteht, abnormes Verhalten in den
Industriebetrieben aufzudecken und zu korrigieren; ein Verfahren, das zugleich jene kritischen Begriffe ausschloß, die es
vermöchten, ein solches Verhalten auf die Gesellschaft als Ganzes
zu beziehen. Kraft dieser Beschränkung wird das theoretische
Verfahren unmittelbar praktisch. Es ersinnt Methoden besseren
Managements, sichereren Planens, größerer Leistungsfähigkeit,
strengerer Kalkulation. Auf dem Wege der Korrektur und Aufbesserung endet die Analyse in Affirmation; der Empirismus
erweist sich als positives Denken.
Derart unmittelbar wird die philosophische Analyse nicht angewandt. Verglichen mit den Weisen, in denen Soziologie und
Psychologie realisiert werden, bleibt die therapeutische Behandlung des Denkens akademisch. In der Tat können exaktes Denken und die Befreiung von metaphysischen Gespenstern und
sinnlosen Begriffen als Selbstzweck angesehen werden. Zudem
ist die Behandlung des Denkens in der Sprachanalyse dessen
eigenste Angelegenheit und sein eigenes Recht. Ihr ideologischer
184
Charakter darf nicht dadurch präjudiziert werden, daß der
Kampf gegen das begriffliche Transzendieren des bestehenden
Universums der Sprache mit dem Kampf gegen ein politisches
Transzendieren der bestehenden Gesellschaft in Zusammenhang
gebracht wird.
Wie jede Philosophie, die diesen Namen verdient, steht die
Sprachanalyse für sich ein und bestimmt ihre eigene Haltung
gegenüber der Realität. Als ihr Hauptinteresse gibt sie die Entzauberung transzendenter Begriffe an; zu ihrem Bezugssystem
erklärt sie den alltäglichen Gebrauch der Wörter, die Mannigfaltigkeit des vorherrschenden Verhaltens. Mit diesen Merkmalen umschreibt sie ihre Stellung in der philosophischen Tradition — nämlich als Gegenpol zu denjenigen Denkweisen, die
ihre Begriffe in der Spannung, ja im Widerspruch mit dem herrschenden Universum der Sprache und des Verhaltens ausarbeiteten.
Im Sinne des bestehenden Universums sind solche widersprechenden Denkweisen negatives Denken. »Die Macht des Negativen« ist das Prinzip, das die Entwicklung des Denkens bestimmt, und der Widerspruch wird zur unterscheidenden Qualität der Vernunft (Hegel). Diese Qualität des Denkens war nicht
auf einen bestimmten Typ von Rationalismus beschränkt; sie
war auch in der empiristischen Tradition ein entscheidendes Element. Empirismus ist nicht notwendigerweise positiv; seine Haltung zur herrschenden Wirklichkeit hängt von der besonderen
Dimension der Erfahrung ab, die als Erkenntnisquelle und
grundlegendes Bezugssystem fungiert. Zum Beispiel scheinen
Sensualismus und Materialismus per se einer Gesellschaft negativ
gegenüberzustehen, in der vitale, triebmäßige und materielle
Bedürfnisse unerfüllt bleiben. Demgegenüber bewegt sich der
Empirismus der Sprachanalyse innerhalb eines Rahmens, der
einen solchen Widerspruch nicht gestattet — die selbst auferlegte
Beschränkung auf das vorherrschende Universum des Verhaltens
bewirkt eine zutiefst positive Haltung. Trotz des streng neutralen Ansatzes des Philosophen fällt die von vornherein begrenzte Analyse der Macht des positiven Denkens zum Opfer.
Ehe ich es unternehme, diesen wesentlich ideologischen Charakter der Sprachanalyse nachzuweisen, muß ich versuchen, mein
185
scheinbar willkürliches und herabsetzendes Spiel mit den Termini »positiv» und »Positivismus« durch eine kurze Anmerkung
zu ihrem Ursprung zu rechtfertigen. Seit seiner ersten Anwendung, wahrscheinlich in der Schule von Saint-Simon, hat der
Begriff »Positivismus« eingeschlossen: 1. die Bestätigung des
erkennenden Denkens durch die Erfahrung von Tatsachen; 2. die
Orientierung des erkennenden Denkens an den Naturwissenschaften als dem Modell für Sicherheit und Exaktheit; 3. der
Glaube, daß der Fortschritt der Erkenntnis von dieser Orientierung abhängt. Demgemäß ist der Positivismus ein Kampf
gegen alle Metaphysiken, Transzendentalismen und Idealismen
als obskurantistischen und regressiven Denkweisen. In dem
Maße, wie die gegebene Wirklichkeit wissenschaftlich begriffen
und transformiert wird, in dem Maße, wie die Gesellschaft industriell und technologisch wird, findet der Positivismus in der
Gesellschaft das Medium zur Verwirklichung (und Bestätigung)
seiner Begriffe — Harmonie zwischen Theorie und Praxis, Wahrheit und Tatsachen. Philosophisches Denken geht in affirmatives
Denken über: die philosophische Kritik kritisiert innerhalb der
Gesellschaft und brandmarkt nicht-positive Begriffe als bloße
Spekulation, Träume oder Phantasien1.
Das Universum von Sprache und Verhalten, das in SaintSimons Positivismus aufzutreten beginnt, ist das der technologischen Wirklichkeit. In ihr wird die Objektwelt in ein Mittel
überführt. Viel von dem, was sich bis dahin außerhalb der
instrumentellen Welt befindet - unbewältigte, blinde Natur erscheint jetzt in der Reichweite des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts. Die metaphysische Dimension, zuvor ein
genuiner Bereich rationalen Denkens, wird irrational und unwissenschaftlich. Auf dem Boden ihrer eigenen Leistungen weist die
l Die konformistische Haltung des Positivismus gegenüber radikal nonkonformistischen Denkweisen erscheint wohl zum ersten Mal in der positivistischen Anklage gegen Fourier. Fourier selbst (in: La Fausse Industrie, 1835, Band I, S. 409)
hat die totale Kommerzialisierung der bürgerlichen Gesellschaft als die Frucht »unseres Fortschritts in Rationalismus und Positivismus« angesehen. Zitiert nach Andrè
Lalande, Vocabulaire Technique et Critique de la Philosophie, Paris, Presses Universitaires de France, 1956, S. 792. Zu den verschiedenen Nebenbedeutungen des
Terminus »positiv« in der neuen Sozialwissenschaft und im Gegensatz zu »negativ«
cf. Doctrine de Saint-Simon, ed. Bouglé und Halévy, Paris, Rivière, 1924, S. 181 f.,
dt.: Die Lehre Saint-Simons, hg. v. G. Salomon-Delatour, Neuwied 1962.
186
Vernunft Transzendenz von sich. Auf der späteren Stufe, im
gegenwärtigen Positivismus, ist es nicht mehr der wissenschaftliche und technische Fortschritt, der diese Ablehnung motiviert;
jedoch ist die Verkürzung des Denkens nicht weniger streng, weil
sie selbstauferlegt ist — die eigene Methode der Philosophie. Das
gegenwärtige Bemühen, Reichweite und Wahrheit der Philosophie zu reduzieren, ist erschreckend, und die Philosophen selber verkünden die Bescheidenheit und Fruchtlosigkeit der Philosophie. Sie läßt die bestehende Wirklichkeit unberührt; sie verabscheut es, über sie hinauszugehen.
Austins verächtliche Behandlung der Alternativen zum alltäglichen Gebrauch der Wörter und seine Diffamierung dessen, was
wir uns »eines Nachmittags im Sessel ausdenken«; Wittgensteins
Versicherung, daß die Philosophie »alles so läßt, wie es ist« solche Feststellungen2 legen nach meinem Dafürhalten einen akademischen Sadomasochismus an den Tag, eine Selbsterniedrigung
und Selbstanklage des Intellektuellen, dessen Arbeit sich nicht
auf wissenschaftliche, technische oder ähnliche Ergebnisse beschränkt. Diese Beteuerungen von Bescheidenheit und Abhängigkeit scheinen Humes Gesinnung, sich rechtschaffen mit den Grenzen der Vernunft abzufinden, wieder aufzunehmen, die, einmal
anerkannt und gebilligt, den Menschen vor nutzlosen geistigen
Abenteuern bewahren, ihn aber durchaus in den Stand setzen,
sich in der gegebenen Umwelt zu orientieren. Als jedoch Hume
die Substanzen um ihren Kredit brachte, bekämpfte er eine
mächtige Ideologie, während seine heutigen Nachfolger eine
intellektuelle Rechtfertigung für das liefern, was die Gesellschaft längst erreicht hat — nämlich die Diffamierung alternativer
Denkweisen, die dem herrschenden Universum der Sprache
widerstreiten.
Der Stil, in dem dieser philosophische Behaviorismus sich darstellt, wäre einer Analyse wert. Er scheint sich zwischen den
Polen päpstlicher Autorität und gutmütiger Anbiederung zu
2 Ähnliche Deklarationen finden sich bei Ernest Gellner, Words and Things, Boston:
Beacon Press, 1959, cf. S. 100, 256 ff. Der Satz, daß die Philosophie alles so läßt,
wie es ist, mag im Zusammenhang der Marxschen Thesen über Feuerbach (wo er
zugleich verneint wird) wahr sein oder als Selbstcharakterisierung des Neopositivismus; als eine allgemeine Aussage über das philosophische Denken ist er falsch.
I87
bewegen. Beide Tendenzen sind bruchlos verschmolzen in Wittgensteins immer wiederkehrendem Gebrauch des Imperativs mit
dem intimen oder herablassenden »Du«3; oder in dem einleitenden Kapitel von Gilbert Ryles Buch The Concept of Mind, in
dem auf die Darstellung von »Descartes' Mythos« als der
»offiziellen Lehre« über das Verhältnis von Leib und Seele der
vorläufige Nachweis ihrer »Absurdität« folgt, bei dem dann
Herr Schulze und Herr Müller und was sie vom »durchschnittlichen Steuerzahler« halten, beschworen werden.
Überall im Werk der Sprachanalytiker findet sich diese Vertrautheit mit dem Mann auf der Straße, dessen Unterhaltung
in der linguistischen Philosophie eine solch führende Rolle spielt.
Die Intimität in der Redeweise ist insofern wesentlich, als sie
von vornherein das »hochgestochene« Vokabular der »Metaphysik« ausschließt; sie widersetzt sich vernünftiger Nichtanpassung; sie macht den Intellektuellen lächerlich. Die Sprache
von Herrn Schulze und Herrn Müller ist die Sprache, die der
Mann auf der Straße wirklich spricht; sie ist die Sprache, die sein
Verhalten ausdrückt; sie ist damit das Zeichen für Konkretheit.
Sie ist jedoch auch das Zeichen einer falschen Konkretheit. Diese
Sprache, die für die Analyse meist das Material bereitstellt, ist
eine gereinigte Sprache, gereinigt nicht nur von ihrem »unorthodoxen« Vokabular, sondern auch von dem Vermögen, irgendwelche anderen Inhalte auszudrücken als die, mit denen heute
die Individuen von ihrer Gesellschaft versorgt werden. Der
Sprachanalytiker sieht in dieser gereinigten Sprache eine vollendete Tatsache, und er nimmt die verarmte Sprache, wie er sie
vorfindet, wobei er sie absondert von dem, was in ihr nicht ausgedrückt wird, obgleich es als Bedeutungselement und -faktor in
das etablierte Universum der Sprache eingeht.
Indern sie der vorherrschenden Mannigfaltigkeit von Bedeutungen und Verfahrensweisen, der Macht und dem gesunden
Menschenverstand der Alltagssprache Achtung zollt und dabei
3 Philosophische Untersuchungen, in: Schriften, Frankfurt am Main 1960: »und deine
Skrupel sind Mißverständnisse. Deine Fragen beziehen sich auf Wörter . . .« (S. 344).
»Denk doch einmal gar nicht an das Verstehen als >seelischen Vorgang<! — Denn das
ist die Redeweise, die dich verwirrt. Sondern frage dich . . .« (S. 358). »Überlege
dir folgenden Fall . . .« (S. 360) und passim.
188
(als von außen kommendes Material) die Analyse dessen unterbindet, was diese Sprache über die Gesellschaft mitteilt, die
sich ihrer bedient, unterdrückt die linguistische Philosophie noch
einmal, was in diesem Universum von Sprache und Verhalten
fortwährend unterdrückt wird. Die Autorität der Philosophie
erteilt den Kräften ihren Segen, die dieses Universum hervorbringen. Die Sprachanalyse abstrahiert von dem, was die Alltagssprache enthüllt, indem sie in ihrer Weise spricht — die Verstümmelung von Mensch und Natur.
Überdies läßt sich die Analyse nur zu oft nicht einmal von
der Alltagssprache leiten, sondern vielmehr von aufgeblasenen
Sprachatomen, albernen Redefetzen, die sich wie kindliches
Geplapper anhören. Etwa so: »This looks to me now like a
man eating poppies (Das sieht mir jetzt wie ein Mann aus,
der Mohn ißt)«; »He saw a robin (Er sah ein Rotkehlchen)«;
»I had a hat (Ich hatte einen Hut)«. Wittgenstein verwendet
viel Scharfsinn und Raum auf die Analyse von »Mein Besen
steht in der Ecke«. Ich zitiere als repräsentatives Beispiel eine
Analyse aus J. L. Austins Buch »Other Minds«4:
»Zwei recht verschiedene Arten des Zögerns lassen sich unterscheiden.
a) Nehmen wir den Fall, daß wir einen bestimmten Geschmack haben. Wir können sagen: >Ich weiß einfach nicht,
was es ist: ich habe nie zuvor etwas geschmeckt, was auch nur
entfernt so war ... Nein, es hat keinen Sinn: je mehr ich darüber nachdenke, desto verwirrter werde ich: es ist völlig anders und völlig unverwechselbar, etwas ganz Einzigartiges in
meiner Erfahrung!< Das illustriert den Fall, in dem ich in
meiner vergangenen Erfahrung nichts finden kann, womit ich
den vorliegenden Fall vergleichen könnte: ich bin sicher, daß
es keinesfalls so ist wie etwas, das ich je zuvor schmeckte,
nicht hinlänglich wie etwas, von dem ich weiß, daß es dieselbe
Beschreibung verdient. Obgleich unterscheidbar genug, schattet
sich dieser Fall allmählich in den gewöhnlicheren Typ ab, bei
4 In: Logic und Language, Second Series, ed. A. Flew, Oxford, Blackwell, 1959,
S. 137 f. (Austins Fußnoten sind ausgelassen). Auch hier demonstriert die Philosophie ihre getreue Übereinstimmung mit dem gewöhnlichen Sprachgebrauch, indem
sie sich der üblichen Abkürzungen bedient: »Don't . . .«, »isn't . . .«.
189
dem ich nicht ganz sicher bin oder nur einigermaßen sicher
oder praktisch sicher, daß es sich etwa um den Geschmack von
Lorbeer handelt. In all diesen Fällen bin ich bestrebt, den
vorliegenden Gegenstand wiederzuerkennen, indem ich in
meiner vergangenen Erfahrung nach etwas Ähnlichem suche,
nach einer Ähnlichkeit, aufgrund deren er, mehr oder weniger positiv, verdient, durch dasselbe beschreibende Wort beschrieben zu werden, und das gelingt mir verschieden gut.
b) Der andere Fall ist anders, obgleich er sich in sehr natürlicher Weise mit dem ersten verbindet. Was ich hierbei versuche, ist, daß ich die vorliegende Erfahrung berieche, sie anschaue, sie lebendig sinnlich erfasse. Ich bin nicht sicher, ob es
der Geschmack von Ananas ist: ist nicht vielleicht irgendetwas
Eigentümliches an ihm, ein Brennen, ein fehlendes Brennen,
eine widerliche Empfindung, was alles auf Ananas nicht ganz
zutrifft? Ist da nicht ein eigentümlicher Hinweis auf Grün,
der Hellviolett ausscheiden würde und kaum für die Malvenfarbe zuträfe? Oder ist es vielleicht ein wenig seltsam: ich
muß schärfer hinsehen, den Tatbestand immer wieder prüfen:
vielleicht ist da doch die Andeutung eines unnatürlichen
Schimmers, so daß es nicht ganz wie gewöhnliches Wasser
aussieht. In dem, was wir tatsächlich sinnlich wahrnehmen, ist
ein Mangel an Bestimmtheit, der nicht oder nicht nur durchs
Denken zu beheben ist, sondern durch schärfere Wahrnehmung, sinnliche Unterscheidung (obgleich es natürlich wahr
ist, daß das Denken an andere, deutlicher ausgeprägte Fälle
unserer vergangenen Erfahrung unserem Unterscheidungsvermögen helfen kann und auch hilft«.
Was ist an dieser Analyse auszusetzen? An Exaktheit und
Klarheit ist sie wahrscheinlich nicht zu übertreffen - sie ist richtig. Aber das ist auch alles, und ich wende nicht nur ein, daß sie
nicht genügt, sondern daß sie das philosophische Denken und das
kritische Denken als solches zerstört. Vom philosophischen Gesichtspunkt erheben sich zwei Fragen:
1. kann die Erläuterung von Begriffen (oder Wörtern) sich
jemals am gegebenen Universum der Alltagssprache orientieren
und darin einmünden?
190
2. sind Exaktheit und Klarheit Selbstzweck oder sind sie anderen Zwecken verpflichtet?
Ich beantworte die erste Frage positiv, was ihren ersten Teil
angeht. Die banalsten Beispiele der Sprache können gerade
wegen ihres banalen Charakters die empirische Welt in ihrer
Realität erhellen und dazu dienen, unser Denken und Reden
über sie zu erklären — wie dies in Sartres Analysen einer Gruppe
von Menschen der Fall ist, die auf einen Bus wartet, oder in Karl
Kraus' Analyse der Tageszeitungen. Solche Analysen sind erhellend, weil sie über die unmittelbare Konkretheit der Lage und
ihren Ausdruck hinausgehen. Sie gehen über sie in Richtung auf
die Faktoren hinaus, die die Lage und das Verhalten der Menschen herbeiführen, die in dieser Lage sprechen (oder schweigen). (In den eben angeführten Beispielen werden diese transzendenten Faktoren auf die gesellschaftliche Teilung der Arbeit
zurückgeführt.) Hier mündet die Analyse nicht ein ins Universum der Alltagssprache, sondern überschreitet es und eröffnet ein
qualitativ anderes Universum, dessen Termini dem gewöhnlichen
sogar widersprechen können.
Um das noch etwas zu erläutern: Sätze wie »mein Besen steht
in der Ecke« könnten auch in Hegels Logik vorkommen, würden aber dort als unangemessene oder gar falsche Beispiele enthüllt. Sie wären nur Abhub, über den eine Sprache hinweggehen
muß, die nach Begriffen, Stil und Syntax einer anderen Ordnung angehört — eine Sprache, für die es keineswegs »klar ist, daß
jeder Satz unserer Sprache >in Ordnung ist, wie er ist<«5. Vielmehr ist das genaue Gegenteil der Fall — nämlich daß jeder Satz
so wenig in Ordnung ist wie die Welt, die in dieser Sprache
kommuniziert wird.
Die geradezu masochistische Reduktion der Sprache aufs Bescheidene und Gewöhnliche wird zum Programm erhoben: Wenn
die Worte »Sprache«, »Erfahrung«, »Welt« eine Verwendung
haben, so muß sie eine so niedere sein wie die der Worte »Tisch«,
»Lampe«, »Tür«6. Wir müssen »bei den Dingen des alltäglichen
5 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, l. c., S. 339.
6 Ibid.
191
Denkens bleiben . . . und nicht auf den Abweg . . . geraten, wo
es scheint, als müßten wir die letzten Feinheiten beschreiben ...« 7
— als ob dies die einzige Alternative wäre und als ob die »letzten Feinheiten« nicht eher für Wittgensteins Sprachspiele der
passende Ausdruck wären als für Kants Kritik der reinen Vernunft. Das Denken (oder zumindest sein Ausdruck) wird nicht
nur in die Zwangsjacke des alltäglichen Sprachgebrauchs gepreßt,
sondern auch dazu verhalten, keine Lösungen anzustreben und
zu suchen, die über die bereits vorhandenen hinausgehen. »Die
Probleme werden gelöst, nicht durch Beibringen neuer Erfahrung, sondern durch Zusammenstellung des längst Bekannten«.8
Mit all seinen Begriffen dem gegebenen Zustand verpflichtet,
mißtraut das selbststilisierte Elend der Philosophie den Möglichkeiten einer neuen Erfahrung. Die Unterwerfung unter die
Herrschaft der etablierten Tatsachen ist total — zwar sind es nur
sprachliche Tatsachen, aber die Gesellschaft redet in ihrer Sprache, und die gebietet uns zu gehorchen. Die Verbote sind streng
und autoritär: »Die Philosophie darf den tatsächlichen Gebrauch
der Sprache in keiner Weise antasten«.9 »Und wir dürfen
keinerlei Theorie aufstellen. Es darf nichts Hypothetisches in
unsern Betrachtungen sein. Alle Erklärung muß fort, und nur
Beschreibung an ihre Stelle treten«.10
Man könnte fragen, was bleibt dann von der Philosophie
übrig? Was bleibt vom Denken, was von der Einsicht übrig ohne
etwas Hypothetisches, ohne jede Erklärung? Was jedoch auf
dem Spiel steht, ist nicht die Definition oder Würde der Philosophie. Es ist vielmehr die Chance, das Recht und das Bedürfnis
zu wahren und zu schützen, in anderen Ausdrücken als denen
des alltäglichen Gebrauchs zu sprechen und zu denken — Ausdrücke, die gerade deshalb sinnvoll, rational und verbindlich
sind, weil sie andere Ausdrücke sind. Worum es geht, ist die
Ausbreitung einer neuen Ideologie, die sich vornimmt zu beschreiben, was geschieht (und gemeint ist), indem sie diejenigen
Begriffe eliminiert, die fähig sind zu verstehen, was geschieht
(und gemeint ist).
7 Ibid., S. 431.
8 Ibid., S. 342.
192
9 Ibid., S. 345.
10 Ibid., S. 342.
Zunächst einmal besteht ein unaufhebbarer Unterschied zwischen dem Universum des alltäglichen Denkens und Sprechens
auf der einen Seite und dem des philosophischen Denkens und
Sprechens auf der anderen. Unter normalen Umständen ist die
gewöhnliche Sprache in der Tat eine Angelegenheit des Verhaltens — ein praktisches Instrument. Wenn jemand tatsächlich sagt,
»mein Besen steht in der Ecke«, so hat er wahrscheinlich im Sinn,
daß ein anderer, der gerade nach diesem Besen gefragt hat,
ihn nehmen oder ihn dort lassen, zufriedengestellt oder aufgebracht sein wird. Jedenfalls hat der Satz seine Funktion
erfüllt, indem er eine verhaltensmäßige Reaktion hervorruft:
»Die Wirkung verschlingt die Ursache, der Zweck absorbiert
die Mittel«11.
Wenn demgegenüber in einem philosophischen Text oder in
philosophischer Rede das Wort »Substanz«, »Idee«, »Mensch«,
»Entfremdung« zum Subjekt eines Satzes wird, so findet keine
derartige Transformation der Bedeutung in eine Verhaltensreaktion statt, noch ist sie intendiert. Das Wort bleibt sozusagen
unerfüllt — ausgenommen im Denken, wo es das Entstehen
anderer Gedanken bewirken kann. Und auf dem Weg einer
langen Reihe von Vermittlungen innerhalb eines geschichtlichen
Kontinuums kann der Satz helfen, eine Praxis auszubilden und
anzuleiten. Aber selbst dann bleibt der Satz unerfüllt — nur die
Hybris des absoluten Idealismus behauptet die These einer
letztlichen Identität zwischen dem Denken und seinem Objekt.
Die Worte, mit denen die Philosophie es zu tun hat, können
deshalb niemals eine so bescheidene Verwendung haben »wie
die Worte >Tisch<, >Lampe<, >Tür<«.
Exaktheit und Klarheit in der Philosophie sind daher nicht
innerhalb des Universums der Alltagssprache zu erreichen. Die
philosophischen Begriffe zielen auf eine Dimension von Tatsache
und Bedeutung ab, welche die atomisierten Sätze oder Wörter
der Alltagssprache »von außen« erhellt, wobei sie zeigt, daß
dieses »Außen« für das Verständnis der Alltagssprache wesentlich ist. Anders ausgedrückt: wenn das Universum der Alltags11 Paul Valéry, »Poésie et pensée abstraite«, in: Oeuvres, l. c,, S. 1331. Cf. auch
»Les Droits du poète sur la langue«, in: Pièces sur l'art, Paris, Gallimard, 1934,
S.47 f.
193
sprache selbst zum Gegenstand philosophischer Analyse wird,
wird die Sprache der Philosophie zu einer »Metasprache«12.
Selbst wenn sie sich in den bescheidenen Ausdrücken der Alltagssprache bewegt, bleibt sie ihr gegenüber antagonistisch. Sie löst
den bestehenden, empirisch begründeten Bedeutungszusammenhang auf in den wirklichen; sie abstrahiert von der unmittelbaren Konkretheit, um zur wahren zu gelangen.
Aus dieser Position betrachtet, werden die oben angeführten
Beispiele der Sprachanalyse als angemessene Gegenstände einer
philosophischen Analyse anfechtbar. Kann die exakteste und
erhellendste Beschreibung dessen, was gekostet wird und wie
Ananas schmecken kann oder auch nicht, jemals zur philosophischen Erkenntnis beitragen? Kann sie jemals als Kritik dienen,
bei der es um strittige menschliche Verhältnisse geht — um andere
als um die medizinischer oder psychologischer Geschmacksprüfung; Verhältnisse, auf die Austins Analyse sicher nicht abzielt.
Dem größeren und dichteren Zusammenhang entzogen, in dem
der Sprecher spricht und lebt, wird das Objekt der Analyse aus
dem umfassenden Medium herausgenommen, in dem Begriffe
gebildet und zu Wörtern werden. Worin besteht dieser umfassende, größere Zusammenhang, in dem die Menschen sprechen
und handeln und der ihrem Sprechen Bedeutung verleiht — dieser Zusammenhang, der in der positivistischen Analyse nicht erscheint, der a priori durch die Beispiele wie durch die Analyse
selbst abgeschnitten wird?
Dieser größere Zusammenhang von Erfahrung, diese wirkliche, empirische Welt ist heute immer noch die der Gaskammern
und Konzentrationslager, von Hiroshima und Nagasaki, von
amerikanischen Cadillacs und deutschen Mercedeswagen, die des
Pentagon und des Kreml, nuklearer Städte und chinesischer
Kommunen, von Kuba, von Gehirnwäsche und Massakern. Aber
die wirkliche, empirische Welt ist zugleich die, in der diese Dinge
als selbstverständlich hingenommen, vergessen oder verdrängt
werden oder unbekannt sind, in der die Menschen frei sind. Es
ist eine Welt, in der der Besen in der Ecke oder der Geschmack
»von etwas wie Ananas« recht wichtig sind, in der tägliche Mühe
12 Cf. S. 209 f.
194
und tägliche Bequemlichkeiten vielleicht die einzigen Tatbestände
sind, die alle Erfahrung ausmachen. Und dieses zweite, beschränkte empirische Universum ist ein Teil des ersten; die
Mächte, die das erste beherrschen, gestalten auch die beschränkte
Erfahrung.
Freilich ist es nicht die Aufgabe des gewöhnlichen Denkens
in der gewöhnlichen Sprache, diese Beziehung herauszustellen.
Wenn es sich darum handelt, den Besen zu finden oder die Ananas zu kosten, ist die Abstraktion berechtigt, und die Bedeutung
kann ermittelt und beschrieben werden, ohne daß man ins politische Universum überwechselt. In der Philosophie aber geht es
nicht darum, den Besen zu finden oder die Ananas zu kosten —
und noch viel weniger sollte heute eine empirische Philosophie
sich auf abstrakter Erfahrung begründen. Ebensowenig wird
diese Abstraktheit behoben, wenn die Sprachanalyse auf politische Ausdrücke und Sätze angewandt wird. Ein ganzer Zweig
der analytischen Philosophie ist mit diesem Unternehmen befaßt,
aber schon die Methode sperrt die Begriffe einer politischen, das
heißt kritischen Analyse aus. Die operationelle oder behavioristische Übersetzung gleicht Worte wie »Freiheit«, »Regierung«,
»England« solchen wie »Besen« und »Ananas« an und die
Realität jener der Realität dieser.
Die Umgangssprache in ihrem »bescheidenen Gebrauch« kann
für das kritische philosophische Denken in der Tat von hoher
Wichtigkeit sein, aber im Medium dieses Denkens verlieren die
Wörter ihre plane Bescheidenheit und enthüllen jenes »verborgene« Etwas, das für Wittgenstein ohne Interesse ist. Man betrachte die Analyse des »Hier« und »Jetzt« in Hegels Phänomenologie oder (sit venia verbo!) Lenins Vorschlag, wie »dieses
Glas Wasser« auf dem Tisch angemessen zu analysieren sei. Eine
solche Analyse deckt in der Alltagssprache die Geschichte13 auf
als eine verborgene Bedeutungsdimension — die Herrschaft der
Gesellschaft über ihre Sprache. Und dieses Aufdecken zerbricht
die natürliche und verdinglichte Form, in der das gegebene Universum der Sprache zunächst erscheint. Die Worte enthüllen sich
als wahrhafte Termini nicht nur in einem grammatischen und
formallogischen, sondern auch in einem materiellen Sinne, nämlich als die Grenzen, welche die Bedeutung und ihre Entwicklung
195
umschließen — als die Termini, die von der Gesellschaft dem
Sprechen und Verhalten auferlegt werden. Diese historische Bedeutungsdimension läßt sich nicht mehr durch Beispiele wie
»mein Besen steht in der Ecke« oder »auf dem Tisch ist Käse«
erhellen. Freilich können solche Aussagen viele Zweideutigkeiten,
Verwirrungen und Schrullen aufdecken, aber sie alle gehören
demselben Bereich von Sprachspielen und akademischer Langeweile an.
Indem sie sich an dem verdinglichten Universum alltäglichen
Redens orientiert und dieses Reden in den Begriffen dieses verdinglichten Universums darstellt und erläutert, abstrahiert die
Analyse vom Negativen, von dem, was entfremdet und antagonistisch ist und in den Begriffen des herrschenden Sprachgebrauchs nicht verstanden werden kann. Dadurch, daß sie Bedeutungen klassifiziert, unterscheidet und auseinanderhält, reinigt
sie Denken und Sprache von Widersprüchen, Illusionen und
Überschreitungen. Aber die Überschreitungen sind nicht die der
»reinen Vernunft«. Sie sind keine metaphysischen Überschreitungen der Grenzen möglicher Erkenntnis, sie eröffnen vielmehr
einen Erkenntnisbereich jenseits des gesunden Menschenverstandes und der formalen Logik.
Indem sie den Zugang zu diesem Bereich versperrt, errichtet
die positivistische Philosophie eine eigene, selbstgenügsame Welt,
geschlossen und vor dem Eindringen störender Außenfaktoren
geschützt. In dieser Hinsicht ist es von geringer Bedeutung,
ob der begründende Zusammenhang der der Mathematik, logischer Sätze oder der von Sitte und herkömmlichem Sprachgebrauch ist. Auf die eine oder andere Art wird über alle möglicherweise sinnvollen Prädikate im voraus entschieden. Das im
voraus entschiedene Urteil könnte so umfassend sein wie die
gesprochene englische Sprache, das Wörterbuch oder irgendein
Kodex oder eine Konvention sonst. Einmal akzeptiert, bildet es
ein empirisches Apriori, das nicht transzendiert werden kann.
Aber dieses radikale Hinnehmen des Empirischen verletzt das
Empirische; denn in ihm spricht das verstümmelte, »abstrakte«
Individuum sich aus, das nur das erfährt (und ausdrückt), was
13 Cf. S. 98.
196
ihm (in einem wörtlichen Sinne) gegeben ist, das nur die Fakten
und nicht die Faktoren hat, dessen Verhalten eindimensional und
manipuliert ist. Aufgrund der tatsächlichen Unterdrückung ist
die erfahrene Welt das Resultat einer beschränkten Erfahrung,
und die positivistische Säuberung des Geistes schaltet diesen mit
der beschränkten Erfahrung gleich.
In dieser gereinigten Form wird die empirische Welt zum
Gegenstand positiven Denkens. Bei all seinem Erforschen, Bloßstellen und Klären von Zweideutigkeiten und Dunkelheiten gibt
der Neopositivismus sich nicht mit der großen und allgemeinen
Zweideutigkeit und Dunkelheit ab, die das vorgegebene Universum der Erfahrung ist. Und es muß außer Betracht bleiben, weil
die von dieser Philosophie angenommene Methode diejenigen
Begriffe diskreditiert oder »übersetzt«, die das Verständnis der
etablierten Wirklichkeit in ihrer repressiven und irrationalen
Struktur anleiten könnten — die Begriffe des negativen Denkens.
Die Umformung des kritischen in positives Denken findet hauptsächlich in der therapeutischen Behandlung der Allgemeinbegriffe
statt; ihre Übersetzung in operationelle und behavioristische
Termini läuft parallel zu der oben erörterten soziologischen
Übersetzung.
Der therapeutische Charakter der philosophischen Analyse
wird stark betont — daß sie von Illusionen, Täuschungen, Dunkelheiten, unlösbaren Rätseln, unbeantwortbaren Fragen, von
Geistern und Gespenstern kuriert. Wer ist der Patient? Offenbar
eine bestimmte Art von Intellektuellen, deren Geist und Sprache
mit den Ausdrücken der gewöhnlichen Sprache nicht übereinstimmen. In der Tat ist ein gutes Stück Psychoanalyse in dieser Philosophie enthalten — Analyse ohne Freuds grundlegende Einsicht,
daß die Verlegenheit des Patienten in einer allgemeinen Krankheit verwurzelt ist, die nicht durch analytische Therapie kuriert
werden kann. Anders ausgedrückt, in gewissem Sinn ist nach
Freud das Leiden des Patienten eine Protestreaktion gegen die
kranke Welt, in der er lebt. Aber der Arzt muß das »moralische«
Problem außer Betracht lassen. Er hat die Gesundheit des Patienten wiederherzustellen, um ihn zu befähigen, normal in seiner
Welt zu funktionieren.
Der Philosoph ist kein Arzt; es ist nicht seine Aufgabe, Indi197
viduen zu kurieren, sondern die Welt zu begreifen, in der sie
leben — sie im Hinblick auf das zu verstehen, was sie dem Menschen angetan hat und was sie dem Menschen antun kann. Denn
Philosophie ist (historisch, und ihre Geschichte ist noch von Belang) das Gegenteil von dem, was sie nach Wittgensteins Behauptung sein soll, der sie als den Verzicht auf alle Theorie verkündete, als das Unternehmen, das »alles so läßt, wie es ist«.
Und die Philosophie kennt keine nutzlosere »Entdeckung« als
die, welche »die Philosophie zur Ruhe bringt, so daß sie nicht
mehr von Fragen gepeitscht wird, die sie selbst in Frage stellen«14. Und es gibt kein unphilosophischeres Motto als Bischof
Butlers Ausspruch, der G. M. Moores Principia Ethica schmückt:
»Alles ist, was es ist und nichts anderes« — wofern nicht das »Ist«
so verstanden wird, daß es sich auf die qualitative Differenz
zwischen dem bezieht, was die Dinge wirklich sind, und dem,
wozu sie gemacht werden.
Die neopositivistische Kritik richtet ihre Hauptanstrengung
noch immer gegen metaphysische Begriffe und ist durch einen
Begriff von Exaktheit motiviert, der entweder der der formalen
Logik oder der empirischer Beschreibung ist. Ob nun die Exaktheit in der analytischen Reinheit von Logik und Mathematik
oder im Einklang mit der Alltagssprache gesucht wird — an
beiden Polen der Gegenwartsphilosophie findet sich dieselbe Ablehnung oder Abwertung derjenigen Denk- und Sprachelemente,
die das akzeptierte System gültiger Normen transzendieren.
Diese Feindschaft ist höchst durchgreifend, wo sie die Form der
Duldung annimmt, das heißt, wo den transzendenten Begriffen
in einer abgetrennten Sinn- und Bedeutungsdimension (dichterische Wahrheit, metaphysische Wahrheit) ein gewisser Wahrheitswert zugebilligt wird. Denn gerade das Abspalten eines
Sonderbereichs, in dem Denken und Sprache legitimerweise unexakt, vage und sogar widerspruchsvoll sein dürfen, ist die wirksamste Art, das normale Universum der Sprache davor zu
bewahren, von unpassenden Ideen ernsthaft gestört zu werden.
Was immer an Wahrheit in der Literatur enthalten sein mag, ist
eine »dichterische« Wahrheit, was immer an Wahrheit im kriti14 Philosophische Untersuchungen, l. c., S. 347.
I98
schen Idealismus enthalten sein mag, ist eine »metaphysische«
Wahrheit — ihre Triftigkeit, sofern vorhanden, ist weder verbindlich für das alltägliche Sprechen und Verhalten noch für die
ihnen angepaßte Philosophie. Diese neue Form der Lehre von
der »doppelten Wahrheit« sanktioniert ein falsches Bewußtsein,
indem sie die Relevanz der transzendenten Sprache für das Universum der Alltagssprache leugnet, indem sie völlige Nichteinmischung verkündet, während doch der Wahrheitswert jener
gerade in ihrer Relevanz für dieses und darin besteht, sich in sie
einzumischen.
Unter den repressiven Bedingungen, unter denen die Menschen
denken und leben, kann das Denken - jede Art von Denken,
das nicht auf die pragmatische Orientierung innerhalb des Status
quo beschränkt ist - nur dadurch die Tatsachen erkennen und
auf sie reagieren, daß es »hinter sie« geht. Die Erfahrung findet
vor einem verhüllenden Vorhang statt, und wenn die Welt die
Erscheinung von etwas hinter dem Vorhang der unmittelbaren
Erfahrung ist, dann sind wir, mit Hegel zu sprechen, es selbst,
die sich hinter dem Vorhang befinden. Wir selbst, nicht als die
Subjekte des gesunden Menschenverstandes, wie in der Sprachanalyse, noch als die »gereinigten« Subjekte des wissenschaftlichen Messens, sondern als die Subjekte und Objekte des historischen Kampfes des Menschen mit der Natur und mit der Gesellschaft. Die Tatsachen sind, was sie sind, als Vorgänge in
diesem Kampf. Ihre Faktizität ist historisch selbst dort, wo sie
noch die der rohen, unbewältigten Natur ist.
Diese intellektuelle Auflösung, ja Zerstörung der gegebenen
Tatsachen ist die historische Aufgabe der Philosophie und die
philosophische Dimension. Auch die naturwissenschaftliche Methode geht über die Tatsachen hinaus und sogar über die Tatsachen der unmittelbaren Erfahrung. Die naturwissenschaftliche
Methode entwickelt sich in der Spannung zwischen Erscheinung
und Wirklichkeit. Jedoch ist hier die Vermittlung zwischen Subjekt und Objekt des Denkens wesentlich anders. In der Naturwissenschaft ist das Medium das aller anderen Qualitäten entkleidete beobachtende, messende, kalkulierende, experimentierende Subjekt. Das abstrakte Subjekt entwirft und bestimmt
das abstrakte Objekt.
199
Demgegenüber sind die Objekte des philosophischen Denkens
auf ein Bewußtsein bezogen, für das die konkreten Qualitäten
in die Begriffe und ihr Wechselspiel eingehen. Die philosophischen Begriffe bewahren und entfalten die vorwissenschaftlichen
Vermittlungen (die Arbeit der Alltagspraxis, der ökonomischen
Organisation, der politischen Aktion), die die Objektwelt zu
dem gemacht haben, was sie tatsächlich ist — zu einer Welt, in
der alle Tatsachen Ereignisse und Vorgänge in einem historischen
Kontinuum sind.
Die Trennung der Naturwissenschaft von der Philosophie ist
selbst ein historisches Ereignis. Die Aristotelische Physik war ein
Teil der Philosophie und bereitete als solcher die »erste Wissenschaft« vor — die Ontologie. Der Aristotelische Begriff der Materie ist vom Galileischen und nachgalileischen nicht nur im Sinn
verschiedener Entwicklungsstufen der naturwissenschaftlichen
Methode (und der Entdeckung anderer Realitäts»schichten«)
verschieden, sondern auch, und vielleicht in erster Linie, im Sinne
anderer historischer Entwürfe, eines anderen historischen Unternehmens, das eine andere Natur und eine andere Gesellschaft
eingerichtet hat. Die Aristotelische Physik wird objektiv falsch
mit der neuen Erfahrung, mit dem neuen Erfassen der Natur,
mit der historischen Errichtung eines neuen Subjekts und einer
neuen Objektwelt, und die Falsifikation der Aristotelischen
Physik verweist dann zurück auf die vergangene und überholte
Erfahrung und Erfassung15.
Ob sie nun der Naturwissenschaft einverleibt werden oder
nicht, die philosophischen Begriffe bleiben gegenüber dem Bereich
der Alltagssprache antagonistisch; denn sie schließen nach wie
vor Inhalte ein, die in der gesprochenen Welt, im öffentlichen
Verhalten, in den wahrnehmbaren Bedingungen, Dispositionen
oder vorherrschenden Neigungen nicht erfüllt werden. Das philosophische Universum enthält demzufolge weiterhin »Geister«,
»Fiktionen« und »Illusionen«, die insofern vernünftiger als ihre
Leugnung sein können, als sie Begriffe sind, die die Grenzen und
Täuschungen der herrschenden Rationalität erkennen. Sie drükken die Erfahrung aus, die Wittgenstein zurückweist — nämlich
15 Cf. Kapitel 6, besonders S. 179.
200
»>daß sich das oder das denken lasse, entgegen unserem Vorurteil< - was immer das heißen mag«16.
Die Vernachlässigung dieser spezifisch philosophischen Dimension oder das Aufräumen mit ihr hat den zeitgenössischen Positivismus dazu gebracht, sich in einer synthetisch verarmten Welt
akademischer Konkretheit zu bewegen und trügerischere Probleme zu schaffen als diejenigen es waren, die er zerstört hat.
Selten hat eine Philosophie einen unehrlicheren esprit de sérieux
zur Schau gestellt als der, der in solchen Analysen wie die Interpretation der drei blinden Mäuse in einer Studie der »Metaphysischen und Ideographischen Sprache« sich ausdrückt mit ihrer
Diskussion einer »künstlich konstruierten dreifachen PrinzipBlindheit-Mausheit-asymmetrischen Folge, die nach den reinen
Prinzipien der Ideographie konstruiert wurde«.17
Vielleicht ist dieses Beispiel unfair. Es ist jedoch fair zu sagen,
daß die abstruseste Metaphysik keine derart künstlichen und
zünftlerischen Sorgen an den Tag gelegt hat wie die, die im Zusammenhang mit den Problemen von Reduktion, Übersetzung,
Beschreibung, Bezeichnung, Eigennamen usw. entstanden sind.
Die Beispiele werden geschickt in der Schwebe zwischen Ernsthaftigkeit und Witz gehalten: die Unterschiede zwischen Scott
und dem Autor von Waverly; die Kahlheit des gegenwärtigen
Königs von Frankreich; daß Herr Müller den »durchschnittlichen
Steuerzahler« Schulze auf der Straße trifft oder nicht; daß
ich hier und jetzt einen roten Flecken sehe und sage: »dies ist
rot«; oder die Offenbarung der Tatsache, daß die Menschen ihre
Gefühle oft als Zittern, Stechen, Qual, Klopfen, Reißen, Jucken,
Prickeln, Erschauern, Erglühen, Bürde, Übelwerden, Verlangen,
Grauen, Schwäche, Spannungen, als Nagen und Schocks beschreiben18.
Diese Art Empirismus ersetzt die verhaßte Welt metaphysischer Geister, Mythen, Legenden und Illusionen durch eine
Welt von begrifflichen oder sinnlichen Fetzen, von Wörtern und
Äußerungen, die dann zu einer Philosophie organisiert werden.
16 Wittgenstein, l. c., S. 342.
17 Margaret Masterman, in: British Philosophy in the Mid-Century, ed. C. A. Mace,
London, Allen and Unwin, 1957, S. 323.
18 Gilbert Ryle, The Concept of Mind, l. c., S. 83 f.
201
Und all das ist nicht nur legitim, es ist sogar korrekt; denn es
enthüllt das Ausmaß, in dem nicht-operationelle Gedanken, Bestrebungen, Erinnerungen und Bilder konsumierbar, irrational,
verwirrend oder sinnlos geworden sind.
Indem sie in diesem Durcheinander Ordnung schafft, faßt die
analytische Philosophie die gegenwärtige technologische Organisation der Wirklichkeit in Begriffe; aber sie beugt sich auch den
Urteilen dieser Organisation; die Entschleierung einer alten Ideologie wird zum Bestandteil einer neuen. Nicht nur die Illusionen
werden um ihren Nimbus gebracht, sondern auch die Wahrheit
in diesen Illusionen. Die neue Ideologie drückt sich in Feststellungen aus wie »die Philosophie stellt nur fest, was jedermann
zugibt« oder darin, daß unser gewöhnlicher Wortschatz »alle
Unterscheidungen« enthält, »die die Menschen zu machen für
wert befunden haben«.
Worin besteht dieser »gewöhnliche Wortschatz«? Enthält er
Platons »Idee«, Aristoteles' »Wesen«, Hegels »Geist«, Marx'
»Verdinglichung«, in welcher angemessenen Übersetzung auch
immer? Enthält er die Schlüsselworte der poetischen Sprache?
Der surrealistischen Prosa? Und wenn ja, enthält er sie in ihrer
negativen Bedeutung — das heißt als Aufhebung des Universums
des gewöhnlichen Sprachgebrauchs? Wenn nicht, dann wird ein
ganzes Corpus von Unterscheidungen, die die Menschen zu treffen für wert befunden haben, verworfen, in den Bereich der
Dichtung oder Mythologie abgeschoben; ein verstümmeltes, falsches Bewußtsein wird zum wahren Bewußtsein hergerichtet, das
über Bedeutung und Ausdruck dessen befindet, was ist. Der Rest
wird als Dichtung oder Mythologie denunziert — und gutgeheißen.
Es ist jedoch nicht klar, welche Seite in Mythologie befangen
ist. Sicher ist Mythologie primitives und unreifes Denken. Der
Prozeß der Zivilisation nimmt dem Mythos seine Kraft (das ist
geradezu eine Definition des Fortschritts), aber er kann auch das
rationale Denken auf den mythologischen Status zurückwerfen.
Im letzteren Falle werden Theorien, die historische Möglichkeiten feststellen und projektieren, irrational oder scheinen
vielmehr irrational, weil sie der Rationalität des bestehenden
Universums von Sprache und Verhalten widersprechen.
202
So wird im Zivilisationsprozeß der Mythos des Goldenen
Zeitalters und des Milleniums fortschreitender Rationalisierung
unterworfen. Die (historisch) unmöglichen Elemente werden von
den möglichen getrennt — Traum und Dichtung von Wissenschaft,
Technik und Geschäft. Im neunzehnten Jahrhundert übersetzen
die Theorien des Sozialismus den ursprünglichen Mythos in
soziologische Begriffe — oder entdeckten vielmehr in den gegebenen historischen Bedingungen den rationalen Kern des Mythos.
Dann fand jedoch die umgekehrte Bewegung statt. Heute scheinen die rationalen und realistischen Begriffe von gestern wiederum mythologisch, wenn sie mit den tatsächlichen Verhältnissen konfrontiert werden. Die Wirklichkeit der arbeitenden
Klassen in der fortgeschrittenen Industriegesellschaft macht das
Marxsche »Proletariat« zu einem mythologischen Begriff; die
Wirklichkeit des heutigen Sozialismus macht die Marxsche Idee
zu einem Traum. Diese Umkehrung wird verursacht durch den
Widerspruch zwischen Theorie und Tatsachen — ein Widerspruch,
der als solcher jene noch nicht als falsch erweist. Der unwissenschaftliche, spekulative Charakter kritischer Theorie ergibt sich
aus dem spezifischen Charakter ihrer Begriffe, die das Irrationale im Rationalen, die Mystifikation in der Wirklichkeit bezeichnen und bestimmen. Ihre mythologische Qualität spiegelt
die mystifizierende Qualität der gegebenen Tatsachen — die trügerische Harmonisierung der gesellschaftlichen Widersprüche.
Die technische Leistung der fortgeschrittenen Industriegesellschaft und die wirksame Manipulation geistiger und materieller
Produktivität haben eine Verlagerung im Ort der Mystifikation
bewirkt. Wenn es sinnvoll ist zu sagen, daß die Ideologie sich
nunmehr im Produktionsprozeß selbst verkörpert, dann mag es
auch sinnvoll sein zu vermuten, daß in dieser Gesellschaft das
Rationale eher als das Irrationale zum wirksamsten Vehikel der
Mystifizierung wird. Die Ansicht, daß die Zunahme der Unterdrückung sich in der gegenwärtigen Gesellschaft in der ideologischen Sphäre und zunächst im Aufkommen irrationaler Pseudophilosophien (Lebensphilosophie; die Begriffe der Gemeinschaft
gegenüber der Gesellschaft; Blut und Boden usw.) manifestierte,
wurde vom Faschismus und Nationalsozialismus widerlegt. Diese
Regime straften diese und ihre eigenen irrationalen »Philoso203
phien« Lügen durch die umfassende technische Rationalisierung
des Apparats. Es war die totale Mobilisierung der materiellen
und geistigen Maschinerie, die ganze Arbeit leistete und ihre
mystifizierende Macht über die Gesellschaft installierte. Sie
diente dazu, die Individuen unfähig zu machen, »hinter« der
Maschinerie jene zu sehen, die sich ihrer bedienten, von ihr
profitierten und jene, die für sie zahlten.
Heute werden die mystifizierenden Elemente gemeistert und
in produktiver Publicity, Propaganda und Politik eingesetzt.
Magie, Zauberei und ekstatische Hingabe werden in der täglichen Routine zu Haus, im Geschäft und Büro praktiziert, und
die rationalen Fertigkeiten verbergen die Irrationalitäten des
Ganzen. So ist zum Beispiel das wissenschaftliche Herangehen an
das quälende Problem wechselseitiger Vernichtung — die Mathematik und die Kalkulationen des Tötens und mehrfachen Tötens
(over-kill), das Messen von sich ausbreitender oder nicht ganz so
ausbreitender Verseuchung, die Experimente, wie lange abnorme
Situationen ertragen werden — in dem Maße mystifizierend, wie
es ein Verhalten fördert (oder gar verlangt), das den Wahnsinn
akzeptiert. Es wirkt so einem wahrhaft rationalen Verhalten
entgegen — nämlich der Weigerung mitzumachen und dem Bemühen, die den Wahnsinn hervorbringenden Bedingungen zu
beseitigen.
Angesichts dieser neuen Mystifizierung, die Rationalität in ihr
Gegenteil verkehrt, muß an der Unterscheidung festgehalten
werden. Das Rationale ist nicht irrational, und der Unterschied
zwischen einer exakten Erkenntnis und Analyse der Tatsachen
und einer vagen und gefühlsbetonten Spekulation ist so wesentlich wie je zuvor. Das Bedenkliche ist, daß die Statistiken,
Messungen und Feldstudien der empirischen Soziologie und politischen Wissenschaft nicht rational genug sind. Sie werden in
dem Maße zu etwas Mystifizierendem, wie sie von dem wahrhaft konkreten Zusammenhang isoliert werden, der die Tatsachen schafft und ihre Funktion determiniert. Dieser Zusammenhang ist größer und ein anderer als der der untersuchten
Fabriken und Werkstätten, der behandelten Klein- und Großstädte, der Gebiete und Gruppen, über deren öffentliche Meinung befunden und deren Überlebenschance berechnet wird.
204
Und er ist auch wirklicher in dem Sinne, daß er die untersuchten, zurechtgestutzten und berechneten Tatsachen hervorbringt und determiniert. Dieser wirkliche Zusammenhang, in
dem die besonderen Gegenstände zu ihrer wirklichen Bedeutung
gelangen, ist bestimmbar nur innerhalb einer Theorie der Gesellschaft. Denn die Faktoren in den Fakten sind nicht unmittelbar Daten der Beobachtung, Messung und Befragung. Sie
werden zu Daten eben erst in einer Analyse, die es vermag, diejenige Struktur auszumachen, welche die Teile und Prozesse
der Gesellschaft zusammenhält und ihre Wechselwirkung bestimmt.
Zu sagen, daß dieser Metazusammenhang die Gesellschaft
ist, heißt das Ganze gegenüber den Teilen hypostasieren. Aber
diese Hypostasierung findet in Wirklichkeit statt, ist die Wirklichkeit, und die Analyse kann sie nur dadurch überwinden,
daß sie sie anerkennt und ihre Reichweite und Ursachen begreift. Die Gesellschaft ist in der Tat das Ganze, das eine unabhängige Macht über die Individuen ausübt, und diese Gesellschaft ist kein unfaßbarer »Geist«. Sie hat ihren empirischen,
festen Kern in dem System von Institutionen, die etablierte und
geronnene Beziehungen zwischen Menschen sind. Die Abstraktion von diesem Kern verfälscht die Messungen, Befragungen
und Berechnungen — aber in einer Dimension, die in den Messungen, Befragungen und Berechnungen nicht erscheint und
dadurch mit diesen nicht in Konflikt gerät und sie nicht stört.
Sie behalten ihre Exaktheit und sind gerade in ihrer Exaktheit
mystifizierend.
Indem sie den mystifizierenden Charakter transzendenter Ausdrücke, vager Begriffe, metaphysischer Universalien und dergleichen bloßstellt, mystifiziert die Sprachanalyse die Ausdrücke
der Alltagssprache, indem sie diese in dem repressiven Zusammenhang des bestehenden Universums der Sprache beläßt. Innerhalb dieses repressiven Universums findet die behavioristische
Erklärung des Sinnes statt — die Erklärung, welche die alten
sprachlichen »Geister« der Cartesianischen und anderer veralteter Mythen bannen soll. Die Sprachanalyse behauptet, daß,
wenn Herr Schulze und Herr Müller von dem sprechen, was sie
im Sinn haben, sie sich einfach auf die spezifischen Wahrneh205
mungen, Begriffe oder Stimmungen beziehen, die sie gerade
haben; der Geist ist ein verbalisiertes Gespenst. In ähnlicher
Weise ist auch der Wille kein wirkliches Seelenvermögen, sondern einfach eine spezifische Art von spezifischen Stimmungen,
Neigungen und Bestrebungen. Ähnlich steht es mit »Bewußtsein«, »Selbst«, »Freiheit« — sie sind alle in Begriffen erklärbar,
die besondere Arten oder Weisen des Benehmens und Verhaltens
bezeichnen. Ich komme später auf diese Behandlung von Allgemeinbegriffen zurück.
Oft verbreitet die analytische Philosophie eine Atmosphäre,
wie sie der Denunziation in einem Untersuchungsausschuß entspricht. Der Intellektuelle wird zur Rechenschaft gezogen.
Was meinst Du, wenn Du s a g s t . . . ? Verbirgst Du nicht etwas?
Du redest in einer Sprache, die suspekt ist. Du redest nicht
wie wir alle, wie der Mann auf der Straße, sondern eher wie
ein Ausländer, der nicht hierher gehört. Wir müssen Dich
auf ein bescheidenes Format herunterschrauben, Deine Tricks
aufdecken, Dich läutern. Wir werden Dich lehren zu sagen, was
Du meinst, damit »herauszurücken«, die »Karten auf den Tisch
zu legen«. Natürlich erlegen wir Dir und Deiner Denk- und
Redefreiheit keinen Zwang auf; Du darfst denken, was Dir beliebt. Aber wenn Du einmal sprichst, mußt Du uns Deine Gedanken übermitteln — in unserer Sprache oder in Deiner. Freilich
darfst Du Deine eigene Sprache sprechen, aber sie muß übersetzbar sein, und sie wird übersetzt. Du darfst getrost dichterisch
reden — dagegen ist nichts einzuwenden. Wir lieben Dichtung.
Aber wir wollen Deine Dichtung verstehen, und das können wir
nur, wenn wir Deine Symbole, Metaphern und Bilder im Sinne
der gewöhnlichen Sprache interpretieren können.
Der Dichter könnte antworten, er wünsche in der Tat, daß
seine Dichtung verständlich sei und verstanden werde (eben deshalb schreibt er); wäre aber, was er sagt, in der Umgangssprache
sagbar, dann hätte er sich ihrer wahrscheinlich von Anfang an
bedient. Er könnte sagen: Das Verständnis meiner Dichtung
setzt voraus, daß eben jenes Universum von Sprache und Verhalten hinfällig und nichtig geworden ist, in das Ihr sie übersetzen
wollt. Meine Sprache ist erlernbar, wie jede andere Sprache (im
Grunde ist sie auch Eure Sprache), dann aber wird sich zeigen,
206
daß meine Symbole, Metaphern usw. keine Symbole, Metaphern
usw. sind, sondern genau bedeuten, was sie besagen. Eure Toleranz ist trügerisch. Indem Ihr mir eine Sondersphäre von Bedeutung und Bedeutsamkeit einräumt, gewährt Ihr mir Freiheit von
Zurechnungsfähigkeit und Vernunft; aber nach meiner Ansicht
befindet das Irrenhaus sich anderswo.
Der Dichter mag auch den Eindruck gewinnen, daß die solide
Nüchternheit der linguistischen Philosophie eine ziemlich vorurteilsvolle und emotionale Sprache spricht — die zorniger alter
oder junger Männer. Ihr Vokabular quillt über von »ungehörig«,
»wunderlich«, »absurd«, »verwirrend«, »schrullig«, »verstiegen«
und »Kauderwelsch«. Ungehörige und verwirrende Schrullen
müssen beseitigt werden, wenn es zu einem vernünftigen Verständnis kommen soll. Die Kommunikation soll sich nicht über
den Köpfen der Menschen vollziehen; Inhalte, die über den
gesunden Menschenverstand und den der Wissenschaft hinausgehen, sollen das akademische und alltägliche Universum der
Sprache nicht beeinträchtigen.
Kritische Analyse muß sich jedoch von dem abheben, was zu
begreifen sie bestrebt ist; die philosophischen Ausdrücke müssen
anders geartet sein als die gewöhnlichen, damit deren volle Bedeutung erhellt werde19. Denn das vorgegebene Universum der
Sprache trägt durchweg die Male spezifischer Arten von Herrschaft, Organisation und Manipulation, denen die Mitglieder
einer Gesellschaft unterworfen sind. Um zu leben, hängen die
Menschen von Chefs, Politikern, Stellungen und Nachbarn ab,
die sie dazu verhalten, das zu sagen und zu meinen, was sie sagen
und meinen; die gesellschaftliche Notwendigkeit zwingt sie dazu,
das »Ding« (einschließlich ihrer eigenen Person, ihres Denkens
und Empfindens) mit seinen Funktionen zu identifizieren. Wieso
wissen wir etwas? Weil wir fernsehen, dem Radio zuhören, Zeitungen und Illustrierte lesen, mit den Menschen reden.
Unter diesen Umständen ist der gesprochene Satz ein Ausdruck
des Individuums, das ihn ausspricht, und jener, die es dazu anhalten zu sprechen wie es spricht, und Ausdruck einer wie immer
19 Die gegenwärtige analytische Philosophie hat auf ihre Weise diese Notwendigkeit
als das Problem der Metasprache anerkannt; cf. S. 194 und S. 209.
207
beschaffenen Spannung und Widersprüchlichkeit zwischen ihnen.
Indem sie ihre eigene Sprache sprechen, sprechen die Menschen
auch die Sprache ihrer Herren, Wohltäter und Werbetexter. Daher drücken sie nicht nur sich selbst aus, ihre eigene Erkenntnis,
ihre Gefühle und Bestrebungen, sondern auch etwas anderes als
sich selbst. Indem sie »von sich aus« die politische Lage sei's ihrer
Heimatstadt, sei's die internationale, beschreiben, beschreiben sie
(und »sie« schließt uns ein, die Intellektuellen, die es wissen und
kritisieren), was »ihre« Medien der Massenkommunikation ihnen
erzählen - und das verschmilzt mit dem, was sie wirklich denken, sehen und fühlen.
Wenn wir einander unsere Vorlieben und Abneigungen, unsere
Sentiments und Ressentiments mitteilen, müssen wir die Ausdrücke unserer Reklamesprüche, Kinos, Politiker und Bestseller
benutzen. Wir müssen dieselben Ausdrücke zum Beschreiben unserer Automobile, Nahrungsmittel und Möbel, Kollegen und
Konkurrenten benutzen — und wir verstehen einander bestens.
Das muß notwendigerweise so sein; denn Sprache ist nichts Privates und Persönliches; das Private und Persönliche ist vielmehr
vermittelt durch das verfügbare sprachliche Material, das gesellschaftliches Material ist. Diese Situation aber macht die Alltagssprache untauglich für jene Geltung verbürgende Funktion, die
sie in der analytischen Philosophie erfüllt. »Was die Menschen
meinen, wenn sie sagen...«, ist verbunden mit dem, was sie
nicht sagen. Anders gesagt, was sie meinen, kann nicht für bare
Münze genommen werden — nicht weil sie lügen, sondern weil
das Universum des Denkens und der Praxis, in dem sie leben,
ein Universum manipulierter Widersprüche ist.
Umstände dieser Art mögen für die Analyse solcher Aussagen
wie »es juckt mich« oder »er ißt Mohnblumen« oder »das sieht
mir jetzt rot aus« irrelevant sein, aber sie werden äußerst relevant, wenn die Menschen wirklich etwas sagen (»sie liebte ihn
eben«, »er hat kein Herz«, »das ist nicht fair«, »was kann ich
daran ändern«), und sie sind höchst wichtig für die Sprachanalyse
der Ethik, Politik usw. Da es an einer solchen fehlt, kann die
Sprachanalyse zu keiner anderen empirischen Exaktheit gelangen
als zu der, die den Menschen durch den gegebenen Zustand abverlangt wird, und zu keiner anderen Klarheit, als die, die ihnen
208
in diesem Zustand zugebilligt wird — das heißt, sie verbleibt
innerhalb der Grenzen der mystifizierten und trügerischen
Sprache.
Wo sie, wie in den logischen Reinigungen, über diese Sprache
hinauszugehen scheint, bleibt nur das Skelett eben dieses Universums übrig — ein Geist viel geisterhafter als jene Geister, die von
der Analyse bekämpft werden. Wenn Philosophie mehr als ein
Beruf ist, dann zeigt sie die Gründe auf, die die Sprache zu
einem verstümmelten und trügerischen Universum machten. Diese
Aufgabe einem Kollegen in der Abteilung für Soziologie oder
Psychologie zu überlassen, heißt die bestehende Teilung der akademischen Arbeit in ein methodologisches Prinzip verwandeln.
Ebensowenig läßt sich die Aufgabe mit der bescheidenen Insistenz
beiseite schieben, daß Sprachanalyse nur den anspruchslosen
Zweck verfolgt, »konfuses« Denken und Sprechen zu klären.
Wenn eine solche Klärung über eine bloße Aufzählung und
Klassifikation möglicher Bedeutungen in möglichen Zusammenhängen hinausgeht, wobei jedem je nach den Umständen eine
breite Auswahl gelassen ist, dann ist sie alles andere als eine
anspruchslose Aufgabe. Eine solche Klärung schlösse die Analyse
der Alltagssprache in wirklich umstrittenen Bereichen ein, das
Erkennen konfusen Denkens gerade dort, wo es am wenigsten
konfus scheint, die Aufdeckung des Falschen in so viel normalem
und klarem Sprachgebrauch. Dann würde die Sprachanalyse das
Niveau erreichen, auf dem die spezifischen gesellschaftlichen
Prozesse sichtbar und verständlich werden, die das Universum
der Sprache formen und begrenzen.
Hier entsteht das Problem der »Metasprache«; die Ausdrücke,
welche die Bedeutung bestimmter Ausdrücke analysieren, müssen
andere als diese oder von ihnen unterscheidbar sein. Sie müssen
mehr und anders sein als bloße Synonyme, die noch demselben
(unmittelbaren) Universum der Sprache angehören. Wenn aber
diese Metasprache den totalitären Bereich des bestehenden
Sprachuniversums wirklich durchbrechen soll, in dem die verschiedenen Dimensionen der Sprache integriert und einander angeglichen sind, dann muß sie imstande sein, die gesellschaftlichen
Prozesse zu bezeichnen, die das bestehende Universum der Rede
determiniert und »abgeriegelt« haben. Sie kann infolgedessen
209
keine technische Metasprache sein, die hauptsächlich im Hinblick
auf semantische oder logische Klarheit konstituiert ist. Das Desiderat besteht vielmehr darin, die bestehende Sprache selbst dazu
zu bringen auszusprechen, was sie verbirgt oder ausschließt; denn
was aufgedeckt und denunziert werden muß, ist innerhalb des
Universums der Alltagssprache wirksam, und die herrschende
Sprache enthält die Metasprache.
Dieses Desiderat ist im Werk von Karl Kraus erfüllt. Er hat
gezeigt, wie eine »innere« Untersuchung des Sprechens und
Schreibens, der Zeichensetzung, selbst typographischer Irrtümer
ein ganzes moralisches oder politisches System bloßstellen kann.
Diese Untersuchung bewegt sich noch innerhalb des gewöhnlichen
Universums der Sprache; sie bedarf keiner künstlichen Sprache
»höheren Niveaus«, um die untersuchte Sprache zu extrapolieren
und zu klären. Das Wort, die syntaktische Form werden in dem
Zusammenhang gelesen, in dem sie erscheinen — zum Beispiel in
einer Zeitung, die in einer bestimmten Stadt oder einem bestimmten Land durch die Feder bestimmter Personen für bestimmte Ansichten eintritt. Der lexikographische und syntaktische Zusammenhang eröffnet so eine andere Dimension — die
der Bedeutung und Funktion des Wortes nicht äußerlich, sondern für diese konsumtiv ist -: die der Wiener Presse während
und nach dem Ersten Weltkrieg; die Einstellung der Herausgeber
zu dem Gemetzel, zur Monarchie, Republik usw. Im Lichte
dieser Dimension nehmen Wortgebrauch und Satzstruktur eine
Bedeutung und Funktion an, die beim »unvermittelten« Lesen
nicht erscheinen. Die Verstöße gegen die Sprache, die im Stil der
Zeitung erscheinen, gehören zu ihrem politischen Stil. Syntax,
Grammatik und Vokabular werden zu moralischen und politischen Akten. Der Zusammenhang kann aber auch ein ästhetischer und philosophischer sein: Literaturkritik, ein Vortrag vor
einer gelehrten Gesellschaft oder dergleichen. Hier konfrontiert
die Sprachanalyse eines Gedichts oder Essays das gegebene (unmittelbare) Material (die Sprache des jeweiligen Gedichts oder
Essays) mit dem, was der Schriftsteller in der literarischen Tradition vorfand und umformte.
Eine solche Analyse erfordert, daß die Bedeutung eines Ausdrucks oder einer Form, in einem vieldimensionalen Universum
210
entwickelt wird, in dem jede ausgedrückte Bedeutung an mehreren »Systemen« teilhat, die untereinander verbunden sind, ineinander übergreifen und sich widersprechen. Sie gehört etwa:
a) zu einem individuellen Entwurf, d. h. zu einer besonderen
Kommunikation (ein Zeitungsartikel, eine Ansprache), die zu
einer besonderen Gelegenheit zu einem besonderen Zweck
stattfindet;
b) zu einem vorgegebenen überindividuellen System von
Ideen, Werten und Zielsetzungen, an dem der individuelle
Entwurf teilhat;
c) zu einer bestimmten Gesellschaft, die selber verschiedene
und einander sogar widerstreitende individuelle und überindividuelle Entwürfe in sich vereinigt.
Um das zu verdeutlichen: eine bestimmte Rede, ein Zeitungsartikel oder auch eine private Mitteilung wird von einem bestimmten Individuum hervorgebracht, das der (autorisierte oder
nichtautorisierte) Sprecher einer besonderen (Berufs-, Wohn-, politischen, intellektuellen) Gruppe in einer spezifischen Gesellschaft
ist. Diese Gruppe hat ihre eigenen Werte, Zielsetzungen, Kodices des Denkens und Verhaltens, die - bestätigt oder angefochten - in verschieden bewußtem und explizitem Grade in die
individuelle Mitteilung eingehen. Diese »individualisiert« so ein
überindividuelles Bedeutungssystem, das eine Sprachdimension
bildet, die von der individuellen Mitteilung verschieden und
doch mit ihr verschmolzen ist. Und dieses überindividuelle System wiederum ist Teil eines umfassenden, allgegenwärtigen Bedeutungsbereichs, der von dem sozialen System, innerhalb dessen
und von dem aus die Mitteilung stattfindet, entwickelt und gewöhnlich »abgesperrt« worden ist.
Reichweite und Ausmaß des sozialen Bedeutungssystems variieren beträchtlich in verschiedenen historischen Perioden und in
Übereinstimmung mit der erreichten Kulturstufe, aber seine
Grenzen sind klar genug bestimmt, wenn die Mitteilung sich auf
mehr bezieht als auf nichtumstrittene Werkzeuge und Verhältnisse des täglichen Lebens. Heute vereinigen die sozialen Bedeutungssysteme verschiedene Nationalstaaten und Sprachgebiete,
und diese erweiterten Bedeutungssysteme tendieren dazu, mit
211
dem Bereich der mehr oder weniger fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaften auf der einen Seite und mit dem der fortschreitenden kommunistischen Gesellschaften auf der anderen
zusammenzufallen. Während die bestimmende Funktion des sozialen Bedeutungssystems sich im polemischen, politischen Universum der Sprache mit höchster Starrheit durchsetzt, ist es auch
im gewöhnlichen Universum der Sprache in einer verdeckteren,
unbewußten, emotionellen Weise am Werk. Eine wahrhaft philosophische Bedeutungsanalyse muß all diesen Bedeutungsdimensionen Rechnung tragen, weil die sprachlichen Ausdrücke an
ihnen allen teilhaben. Die Sprachanalyse in der Philosophie hat
demzufolge ein außersprachliches Interesse. Wenn sie über einen
Unterschied zwischen legitimem und illegitimem Sprachgebrauch
befindet, zwischen authentischer und illusorischer Bedeutung,
zwischen Sinn und Unsinn, so appelliert sie an ein politisches,
ästhetisches oder moralisches Urteil.
Dem kann entgegengehalten werden, daß solch eine »äußerliche« Analyse (in Anführungszeichen, weil sie in Wirklichkeit
nicht äußerlich ist, sondern vielmehr die innere Entwicklung der
Bedeutung) besonders dort fehl am Platze sei, wo es darum geht,
die Bedeutung von Ausdrücken dadurch zu erfassen, daß ihre
Funktion und ihr Gebrauch in der Alltagssprache analysiert werden. Ich behaupte indessen, daß die Sprachanalyse in der gegenwärtigen Philosophie eben dies nicht tut. Und sie tut es insofern
nicht, als sie die Alltagssprache in ein spezielles akademisches
Universum überträgt, das selbst dort (und gerade dort) gereinigt
und synthetisch ist, wo es mit der Alltagssprache angefüllt wird.
Bei dieser analytischen Behandlung der Alltagssprache wird diese
wirklich keimfrei und unempfindlich gemacht. Die vieldimensionale Sprache wird in eine eindimensionale Sprache verwandelt,
in der verschiedene und einander widerstreitende Bedeutungen
sich nicht mehr durchdringen, sondern auseinandergehalten werden; die sprengende historische Bedeutungsdimension wird zum
Schweigen gebracht.
Wittgensteins endloses Sprachspiel mit Bausteinen oder Herr
Schulze und Herr Müller, die sich unterhalten, können wiederum
als Beispiele dienen. Trotz der einfachen Klarheit des Beispiels
bleiben die Sprecher und ihre Situation unbestimmt. Sie sind X
212
und Y, wie vertraut sie auch miteinander plaudern. Im wirklichen Universum der Sprache aber sind X und Y »Geister«. Sie
existieren nicht; sie sind das Produkt des analytischen Philosophen. Natürlich ist das Gespräch von X und Y völlig verständlich, und der Sprachanalytiker appelliert mit Recht an das normale Verständnis gewöhnlicher Menschen. Aber in Wirklichkeit
verstehen wir einander nur durch ganze Bereiche des Mißverständnisses und Widerspruchs hindurch. Das wirkliche Universum der Alltagssprache ist das des Kampfes ums Dasein. Es ist
in der Tat ein zweideutiges, vages und dunkles Universum und
bedarf sicherlich der Klärung. Eine solche Klärung kann durchaus eine therapeutische Funktion erfüllen, und wenn die Philosophie therapeutisch würde, käme sie wirklich zu sich selbst.
Philosophie nähert sich diesem Ziel in dem Grade, wie sie das
Denken von seiner Versklavung an das vorgegebene Universum
der Sprache und des Verhaltens befreit, die Negativität des Bestehenden erhellt (seine positiven Aspekte werden ohnehin in
reichem Maße publiziert) und seine Alternativen entwirft. Freilich widerspricht und entwirft die Philosophie nur im Denken.
Sie ist Ideologie, und dieser ideologische Charakter ist gerade
das Schicksal der Philosophie, das kein Szientivismus und Positivismus überwinden kann. Und doch kann ihre ideologische
Anstrengung, die Wirklichkeit als das zu zeigen, was sie wirklich ist, und das zu zeigen, was von dieser Wirklichkeit am Sein
gehindert wird, wahrhaft therapeutisch sein.
In der totalitären Ära wäre die therapeutische Aufgabe der
Philosophie eine politische, da das vorgegebene Universum der
Alltagssprache die Tendenz hat, zu einem gänzlich manipulierten
und indoktrinierten Universum zu gerinnen. Dann erschiene Politik in der Philosophie, nicht als Sonderdisziplin oder Gegenstand der Analyse, auch nicht als eine besondere politische Philosophie, sondern als die Intension ihrer Begriffe, die unverstümmelte Wirklichkeit zu begreifen. Wenn die Sprachanalyse zu
einem derartigen Verständnis nicht beiträgt, wenn sie stattdessen
dazu beiträgt, das Denken im Umkreis des verstümmelten Universums der Alltagssprache einzufrieden, ist sie bestenfalls völlig
inkonsequent. Schlimmstenfalls ist sie eine Flucht ins Unbestrittene, Unwirkliche, in das, was nur akademisch zur Debatte steht.
213
Die Chance der Alternativen
8 Das geschichtliche Engagement der Philosophie
Die Gebundenheit der analytischen Philosophie an die verstümmelte Realität von Denken und Sprache geht schlagend aus ihrer
Behandlung der Allgemeinbegriffe hervor. Das Problem wurde
bereits erwähnt im Zusammenhang mit dem immanent-geschichtlichen und zugleich transzendenten, allgemeinen Charakter philosophischer Begriffe. Es erfordert jetzt eine eingehendere Diskussion. Weit davon entfernt, nur eine abstrakte Frage der
Erkenntnistheorie oder eine pseudokonkrete Frage der Sprache
und ihres Gebrauchs zu sein, steht die Frage nach dem Status der
Allgemeinbegriffe im Zentrum des philosophischen Denkens überhaupt. Denn die Behandlung der Allgemeinbegriffe offenbart die
Stellung einer Philosophie in der geistigen Kultur — ihre geschichtliche Funktion.
Die gegenwärtige analytische Philosophie ist darauf aus, solche
»Mythen« oder metaphysischen »Gespenster« wie Geist, Bewußtsein, Wille, Seele, Selbst zu bannen, indem sie die Intention dieser Begriffe in Feststellungen über besondere, identifizierbare
Operationen, Veranstaltungen, Mächte, Stimmungen, Neigungen,
Fertigkeiten usw. auflöst. Das Ergebnis erweist auf merkwürdige
Art die Ohnmacht der Destruktion — der Geist spukt nach wie
vor. Während jede Interpretation oder Übersetzung einen partikularen geistigen Vorgang, etwa einen Akt der Vorstellung dessen, was ich meine, wenn ich »ich« sage, oder was der Priester
meint, wenn er sagt, daß Mary ein »gutes Mädchen« ist, angemessen beschreiben kann, scheint keine dieser Neuformulierungen - auch nicht ihre Summe - die volle Bedeutung solcher
Ausdrücke wie Geist, Wille, Selbst, das Gute zu erfassen oder
auch nur zu umschreiben. Diese Allgemeinbegriffe bestehen fort
im gewöhnlichen wie im »dichterischen« Sprachgebrauch, und in
beiden Fällen unterscheidet sie der Sprachgebrauch von den verschiedenen Weisen des Verhaltens oder Gestimmt-Seins, in denen
dem analytischen Philosophen zufolge ihre Bedeutung sich erfüllt.
215
Freilich können solche Allgemeinbegriffe nicht durch die Versicherung gültig werden, daß sie ein Ganzes bezeichnen, das
mehr als seine Teile und von diesen verschieden ist. Das ist
offenkundig der Fall, aber dieses »Ganze« erfordert eine Analyse des unverstümmelten Erfahrungszusammenhangs. Wird diese
Analyse, die über die Sprache hinausgeht, verworfen, wird die
Alltagssprache für bare Münze genommen - das heißt ein trügerisches Universum allgemeinen Verständnisses unter den Menschen an die Stelle des herrschenden Universums von Mißverstehen und verordneter Kommunikation gesetzt - dann sind
die belasteten Allgemeinbegriffe in der Tat übersetzbar, und
ihre »mythologische« Substanz läßt sich in Weisen des Verhaltens und Gestimmt-Seins auflösen.
Diese Auflösung selbst ist jedoch anzuzweifeln — nicht nur
zugunsten des Philosophen, sondern der einfachen Leute, in deren
Leben und Sprache eine solche Auflösung sich ereignet. Was sie
tun und sagen, gehört nicht ihnen selber an; es stößt ihnen zu
und verletzt sie, da sie durch die »Umstände« gezwungen werden, ihren Geist mit den geistigen Abläufen zu identifizieren und
ihr Selbst mit den Rollen und Funktionen, denen sie in ihrer
Gesellschaft nachzukommen haben. Wenn die Philosophie diese
Prozesse der Übersetzung und Identifikation nicht als gesellschaftliche Prozesse begreift - das heißt als eine Verstümmelung
an Geist (und Körper), die den Individuen von ihrer Gesellschaft
zugefügt wird - dann kämpft die Philosophie nur mit dem Gespenst der Substanz, das sie entmystifizieren will. Der mystifizierende Charakter haftet nicht den Begriffen »Geist«, »Selbst«,
»Bewußtsein« usw. an, sondern ihrer Übersetzung in Verhaltensweisen. Diese Übersetzung ist gerade deshalb trügerisch, weil
sie den Begriff getreu in Weisen des tatsächlichen Verhaltens, in
Neigungen und Stimmungen übersetzt und dabei die verstümmelten und organisierten Erscheinungen (die selbst real genug
sind!) für die Wirklichkeit nimmt.
Jedoch werden selbst in dieser Schlacht gegen die Geister
Kräfte auf den Plan gerufen, die den Scheinkrieg beenden könnten. Eines der störenden Probleme in der analytischen Philosophie ist das von Aussagen über Universalien wie »Nation«,
»Staat«, »die britische Verfassung«, »die Universität von Ox216
ford«, »England«1. Diesen Allgemeinbegriffen entspricht keinerlei partikulares Daseiendes, und doch ist es durchaus sinnvoll, ja
unvermeidlich zu sagen, daß »die Nation« mobilisiert wird, daß
»England« Krieg erklärte, daß ich an der »Universität Oxford«
studierte. Jede reduktive Übersetzung solcher Aussagen scheint
deren Sinn zu ändern. Wir können sagen, daß die Universität
keine besondere Wesenheit gegenüber ihren verschiedenen Colleges, Bibliotheken usw. ist, sondern eben die Art, wie diese organisiert sind, und wir können dieselbe Erklärung, modifiziert, auf
andere Aussagen anwenden. Indessen wirkt die Art, in der solche
Dinge von Menschen organisiert, integriert und verwaltet werden, als eine von ihren Bestandteilen verschiedene Wesenheit —
so sehr, daß sie, wie im Fall der Nation und der Verfassung,
über Leben und Tod verfügen kann. Die Personen, die das Urteil
vollstrecken, tun dies, sofern sie überhaupt feststellbar sind, nicht
als diese Individuen, sondern als »Vertreter« der Nation, des
Konzerns, der Universität. Der zu einer Sitzung versammelte
Kongreß der Vereinigten Staaten, das Zentralkomitee, die Partei, der Ausschuß der Direktoren und Manager, der Präsident,
die Bevollmächtigten und die Fakultät, die zusammentreten und
über die Politik befinden, sind gegenüber den Teilen, aus denen
sie sich zusammensetzen, greifbare und wirksame Wesenheiten.
Sie sind greifbar in den Berichten, in den Ergebnissen ihrer Gesetze, in den Kernwaffen, über die sie gebieten und die sie produzieren, in den Ernennungen, Gehältern und Erfordernissen,
über die sie bestimmen. Im Plenum sind die Individuen die
Sprecher (was ihnen oft nicht bewußt wird) von Institutionen,
Einflüssen und Interessen, die sich in Organisationen verkörpern.
Durch ihre Entscheidung (Stimmabgabe, Ausübung von Druck,
Propaganda), die selbst das Ergebnis konkurrierender Institutionen und Interessen ist, wird die Nation, die Partei, der Konzern, die Universität in Bewegung gesetzt, erhalten und repro1 Cf. Gilbert Ryle, The Concept of Mind, loc. cit., S. 17 f. und passim; J. Wisdom,
»Metaphysics and Verification«, in: Philosophy and Psycho-Analysis, Oxford
1953; A.G.N. Flew in der Einleitung von Logic and Language (First Series), Oxford
I955; D.F. Pears, »Universals«, in: ibid., Second Series, Oxford 1959; J. O. Urmson, Philosophical Analysis, Oxford 1956; B. Russell, My Philosophical Development, New York 1959, S. 223 f.; Peter Laslett (ed.), Philosophy, Politics and
Society, Oxford 1956, S. 22 ff.
217
duziert — als eine (relativ) endgültige, allgemeine Realität, die sich
über die besonderen Institutionen oder Völker hinwegsetzt, die ihr
unterworfen sind.
Diese Realität hat ein von außen kommendes, unabhängiges
Dasein angenommen; Aussagen, die sich auf sie beziehen, gehen
deshalb auf ein Real-Allgemeines und sind nicht angemessen in
Aussagen übersetzbar, die sich auf partikulares Daseiendes beziehen. Und doch deutet der Impuls, eine solche Übersetzung zu
versuchen, der Protest gegen ihre Unmöglichkeit, darauf hin, daß
hier etwas nicht stimmt. Um einen guten Sinn zu ergeben, müßten
»die Nation« oder »die Partei« eigentlich in ihre Konstituentien und
Bestandteile übersetzbar sein. Die Tatsache, daß dem nicht so ist, ist
eine geschichtliche Tatsache, die sich einer sprachlichen und logischen Analyse in den Weg stellt.
Die Disharmonie zwischen den individuellen und den gesellschaftlichen Bedürfnissen und das Fehlen von repräsentativen
Institutionen, in denen die Individuen für sich arbeiten und sprechen, führen zur Realität solcher Allgemeinbegriffe wie die Nation, die Partei, die Verfassung, der Konzern, die Kirche —
eine Realität, die nicht mit irgendeiner feststellbaren partikularen Wesenheit (Individuum, Gruppe oder Institution) identisch
ist. Solche Allgemeinbegriffe drücken verschiedene Grade und
Weisen der Verdinglichung aus. Obgleich real, ist ihre Unabhängigkeit insofern falsch, als sie die partikularer Mächte ist, die
das gesellschaftliche Ganze organisiert haben. Eine Rückübersetzung, die die falsche Substanz des Allgemeinbegriffs auflösen
würde, ist noch immer ein Desiderat — aber ein politisches.
On croit mourir pour la Classe, on meurt pour les gens de
Parti. On croit mourir pour la Patrie, on meurt pour les Industriels. On croit mourir pour la Liberté des Personnes, on meurt
pour la Liberté des dividendes. On croit mourir pour le Prolétariat, on meurt pour la Bureaucratie. On croit mourir sur
l'ordre d'un Etat, on meurt pour l'Argent qui le tient. On croit
mourir pour une nation, on meurt pour les bandits qui la baillonnent. On croit — mais pourquoi croirait-on dans une ombre si
épaisse? Croire, mourir? ... quand il s'agit d'apprendre à vivre?2
2 »Man glaubt für die Klasse zu sterben und stirbt für die Parteiführer. Man glaubt
2l8
Das ist eine genuine »Übersetzung« der hypostasierten Allgemeinbegriffe ins Konkrete, und doch anerkennt sie die Realität
des Allgemeinen, indem sie es beim wahren Namen nennt. Das
hypostasierte Ganze widersetzt sich nicht deshalb einer analytischen Auflösung, weil es eine mythische Wesenheit hinter den
besonderen Sachen und Veranstaltungen ist, sondern weil es der
konkrete, objektive Grund dafür ist, daß jene im gegebenen
gesellschaftlichen und historischen Zusammenhang funktionieren.
Als solcher ist es eine reale Kraft, die von den Individuen in
ihren Handlungen, Umständen und Verhältnissen empfunden
und ausgeübt wird. Sie haben an ihm (in sehr ungleicher Weise)
teil; es befindet über ihr Dasein und ihre Möglichkeiten. Der
reale Geist hat eine sehr gewaltsame Realität, die der getrennten
und unabhängigen Macht des Ganzen über den Individuen. Und
dieses Ganze ist nicht nur eine wahrgenommene Gestalt (wie in
der Psychologie), auch kein metaphysisches Absolutes (wie bei
Hegel) noch ein totalitärer Staat (wie in unzureichender politischer Wissenschaft) — es ist der herrschende Zustand, der das Leben der Individuen bestimmt.
Indes, haben nicht - selbst wenn wir diesen politischen Allgemeinbegriffen eine solche Realität zubilligen - alle anderen Allgemeinbegriffe einen sehr andersartigen Status? Das ist der Fall,
aber ihre Analyse wird nur allzuleicht innerhalb der Grenzen
der akademischen Philosophie belassen. Die folgende Diskussion
beansprucht nicht, in das »Problem der Allgemeinbegriffe« einzutreten; sie sucht lediglich die (künstlich) beschränkte Reichweite
der philosophischen Analyse zu erhellen und auf das Bedürfnis
hinzuweisen, über diese Schranken hinauszugehen. Die Diskussion wird wiederum substantielle Allgemeinbegriffe als von den
logisch-mathematischen (Menge, Zahl, Klasse usw.) verschieden
für das Vaterland zu sterben und stirbt f ü r die Industriellen. Man glaubt für die
Freiheit der Person zu sterben, man stirbt für die Freiheit der Dividenden. Man
glaubt für das Proletariat zu sterben und stirbt für seine Bürokratie. Man glaubt
auf Befehl des Staates zu sterben und stirbt für die Geldmächte, die diesen Staat
zusammenhalten. Sie glauben für eine Nation zu sterben und sterben für die Banditen, die sie knebeln. Man glaubt — aber wieso glaubt man eigentlich noch in
solcher Dunkelheit? Glauben? Sterben? Wenn es sich darum handelt, leben zu lernen?« François Perroux, La coexistence pacifique, loc. cit., Band III, S. 631; dt.
Ausgabe, loc. cit., S. 605 (eigene Übersetzung des dort Fehlenden, A. d. Ü.)
219
in den Brennpunkt stellen und unter jenen die abstrakteren und
umstritteneren Begriffe, die für das philosophische Denken eine
wirkliche Herausforderung sind.
Der substantielle Allgemeinbegriff abstrahiert nicht nur vom
konkreten Dasein, sondern bezeichnet auch ein anderes Dasein.
Der Geist ist mehr und etwas anderes als bewußte Akte und
bewußtes Verhalten. Seine Wirklichkeit könnte versuchsweise
beschrieben werden als die Art oder Weise, in der diese besonderen Akte von einem Individuum synthesiert, integriert werden. Man könnte versucht sein zu sagen, sie werden a priori
synthesiert durch eine »transzendentale Apperzeption«, und zwar
in dem Sinne, daß die integrierende Synthese, welche die besonderen Prozesse und Akte ermöglicht, diesen vorhergeht, sie strukturiert, von »anderen Geistern« unterscheidet. Doch täte diese
Formulierung dem Kantischen Begriff Gewalt an; denn die Priorität eines solchen Bewußtseins ist eine empirische, die überindividuelle Erfahrung, Ideen und Bestrebungen besonderer sozialer
Gruppen einschließt.
Angesichts dieser Merkmale kann das Bewußtsein durchaus
eine Anlage, Neigung oder ein Vermögen genannt werden. Es ist
jedoch keine individuelle Anlage oder ein individuelles Vermögen unter anderen, sondern eine im strengen Sinn allgemeine
Anlage, die, in verschiedenem Grad, den individuellen Mitgliedern einer Gruppe, Klasse und Gesellschaft gemeinsam ist. Auf
dieser Grundlage wird die Unterscheidung zwischen wahrem und
falschem Bewußtsein sinnvoll. Jenes würde die Daten der Erfahrung in Begriffen synthesieren, welche die gegebene Gesellschaft in den gegebenen Tatsachen so umfassend und angemessen
wie möglich reflektieren. Diese »soziologische« Definition wird
nicht aus irgendeiner Voreingenommenheit für die Soziologie
vorgeschlagen, sondern weil die Gesellschaft tatsächlich in die
Daten der Erfahrung eingeht. Folglich ist die Unterdrückung
der Gesellschaft beim Bilden von Begriffen gleichbedeutend mit
einer akademischen Eingrenzung der Erfahrung, einer Beschränkung des Sinnes.
Außerdem erzeugt die normale Einschränkung der Erfahrung
eine weitgehende Spannung, ja einen Konflikt zwischen »Bewußtsein« und bewußten Akten. Wenn ich vom Geist eines
220
Menschen spreche, dann beziehe ich mich nicht nur auf seine
geistigen Prozesse, wie sie sich in seinem Ausdruck, seiner Sprache, seinem Verhalten usw. offenbaren, auch nicht nur auf seine
Anlagen oder Fähigkeiten, wie sie erfahren oder aus Erfahrung
abgeleitet werden. Ich meine auch dasjenige, was er nicht ausdrückt, wofür er keine Anlage zeigt, was aber nichtsdestoweniger
vorhanden ist und in erheblichem Maße sein Benehmen, sein
Verständnis, die Bildung und Reichweite seiner Begriffe bestimmt.
So sind die spezifischen »umweltlichen« Kräfte, die seinen
Geist von vornherein dazu verhalten, bestimmten Daten, Bedingungen und Verhältnissen spontan zu widerstreben, »negativ
vorhanden«. Sie sind vorhanden als abgewehrtes Material. Ihr
Fehlen ist eine Realität — ein positiver Faktor, der seine vorliegenden geistigen Prozesse erklärt, den Sinn seiner Wörter und
seines Verhaltens. Den Sinn für wen? Nicht nur für den Fachphilosophen, dessen Aufgabe es ist, das Falsche zu berichtigen,
von dem das Universum der Alltagssprache erfüllt ist, sondern
auch für jene, die unter diesem Falschen leiden, obgleich sie sich
dessen nicht bewußt sein mögen — für Herrn Schulze und Herrn
Müller. Die gegenwärtige Sprachanalyse umgeht diese Aufgabe,
indem sie die Begriffe am Maßstab eines verarmten und im vorhinein bedingten Geistes interpretiert. Worum es geht, ist die ungeschmälerte und ungereinigte Intention bestimmter Schlüsselbegriffe, ihre Funktion in einem nicht unterdrückten Verständnis
der Realität — in einem nonkonformistischen, kritischen Denken.
Sind die soeben vorgebrachten Bemerkungen über den Realitätsgehalt solcher Allgemeinbegriffe wie »Geist« und »Bewußtsein« auf andere Begriffe, wie die abstrakten und doch substantiellen Allgemeinbegriffe Schönheit, Gerechtigkeit und Glück
sowie ihre Gegensätze, anwendbar? Es scheint, daß das Fortbestehen dieser unübersetzbaren Allgemeinbegriffe als Knotenpunkte des Denkens das unglückliche Bewußtsein einer gespaltenen Welt reflektiert, in der »das, was ist«, dem nicht entspricht,
ja, das verneint, »was sein kann«. Die unaufhebbare Differenz
zwischen dem Allgemeinen und seinen partikularen Momenten
scheint in der primären Erfahrung der unüberwindlichen Differenz zwischen Potentialität und Aktualität verwurzelt — zwischen zwei Dimensionen der einen erfahrenen Welt.
221
Wenn ich von einem schönen Mädchen, einer schönen Landschaft, einem schönen Bild spreche, dann habe ich unzweifelhaft
höchst verschiedene Dinge im Sinn. Was ihnen allen gemeinsam
ist - »Schönheit« - ist weder eine geheimnisvolle Wesenheit noch
ein geheimnisvolles Wort. Im Gegenteil, nichts wird vielleicht
unmittelbarer und klarer erfahren als die Erscheinung der
»Schönheit« in verschiedenen schönen Objekten. Der Freund und
der Philosoph, der Künstler und der Leichenbestatter mögen sie
auf sehr verschiedene Weisen »definieren«, aber alle definieren
denselben spezifischen Zustand oder dieselbe Beschaffenheit —
eine Qualität oder Qualitäten, die bewirken, daß das Schöne
einen Gegensatz zu anderen Objekten bildet. In dieser Unbestimmtheit und Unmittelbarkeit wird die Schönheit im Schönen
erfahren — das heißt gesehen, gehört, gesprochen, berührt, gefühlt, begriffen. Sie wird fast als ein Schock erfahren, vielleicht
infolge des Gegensatzcharakters der Schönheit, der den Umkreis
der alltäglichen Erfahrung durchbricht und (für einen kurzen
Augenblick) eine andere Wirklichkeit eröffnet (zu der das Entsetzen als integrales Element gehören kann) 3 .
Diese Beschreibung hat genau jenen metaphysischen Charakter, den die positivistische Analyse durch Übersetzung zu eliminieren wünscht; aber die Übersetzung eliminiert, was zu definieren war. Es gibt in der Ästhetik mehr oder weniger zufriedenstellende »technische« Definitionen des Schönen, aber es scheint
nur eine zu geben, die den Erfahrungsgehalt des Schönen rettet
und deshalb die am wenigsten exakte Definition ist — Schönheit
als »promesse de bonheur«4. Sie erfaßt die Beziehung auf einen
Zustand von Menschen und Dingen und auf ein Verhältnis von
Menschen und Dingen, die sich flüchtig ereignen und verschwinden, die in so vielen verschiedenen Formen erscheinen,
als es Individuen gibt, und die, im Verschwinden, offenbaren,
was sein kann.
Der Protest gegen den vagen, dunklen, metaphysischen Charakter solcher Allgemeinbegriffe, das Bestehen auf vertrauter
Konkretheit und schützender Sekurität des gesunden und des
3 Rilke, Duineser Elegien, Erste Elegie.
4 Stendhal.
222
wissenschaftlichen Menschenverstandes offenbaren noch etwas
von jener archaischen Angst, welche die überlieferten Ursprünge
des philosophischen Denkens in seiner Entwicklung von der Religion zur Mythologie und von der Mythologie zur Logik begleitete; Verteidigung und Sicherheit sind noch immer wichtige
Punkte im intellektuellen wie im nationalen Haushalt. Die ungereinigte Erfahrung scheint mit dem Abstrakten und Allgemeinen vertrauter als die analytische Philosophie; sie scheint eingebettet in eine metaphysische Welt.
Allgemeinheiten sind primäre Erfahrungselemente — nicht als
philosophische Begriffe, sondern als die Qualitäten eben der
Welt, mit der es einer täglich zu tun hat. Was erfahren wird,
ist zum Beispiel Schnee oder Regen oder Hitze; eine Straße;
ein Büro oder ein Chef; Liebe oder Haß. Besondere Dinge
(Seiendes) und Ereignisse erscheinen nur in einer Gruppe und
einem Kontinuum von Verhältnissen und selbst als Gruppe und
Kontinuum in Gestalt von Vorgängen und Teilen, die in einer
allgemeinen Konfiguration auftreten, von der sie nicht getrennt
werden können; sie können nicht auf andere Weise erscheinen,
ohne ihre Identität zu verlieren. Besondere Dinge und Ereignisse
gibt es nur auf einem allgemeinen Hintergrund, der mehr ist
als ein Hintergrund — er ist die konkrete Grundlage, auf der
sie sich erheben, bestehen und vergehen. Diese Grundlage ist
strukturiert nach Allgemeinheiten wie Farbe, Gestalt, Dichte,
Härte oder Weichheit, Licht oder Dunkelheit, Bewegung oder
Ruhe. In diesem Sinne scheinen die Allgemeinheiten den »Stoff«
der Welt zu bezeichnen:
»Wir können vielleicht den >Stoff< der Welt als das definieren,
was durch Wörter bezeichnet wird, die, wenn sie richtig gebraucht werden, als Subjekte von Prädikaten oder Termini
von Relationen auftreten. In diesem Sinne würde ich sagen,
daß der Stoff der Welt eher aus Dingen wie Weiße besteht als
aus Objekten, die die Eigenschaft haben, weiß zu sein«.
»Traditionellerweise zählten Qualitäten wie weiß oder hart
oder süß zu den Allgemeinbegriffen, aber wenn obige Theorie
gilt, sind sie syntaktisch mehr den Substanzen verwandt«5.
5 Bertrand Russel, My Philosophical Development, New York 1959, S. 170-171.
223
Der substantielle Charakter der »Qualitäten« verweist auf den
erfahrungsmäßigen Ursprung der substantiellen Allgemeinbegriffe, auf die Weise, in der Begriffe unmittelbarer Erfahrung
entspringen. Humboldts Sprachphilosophie hebt den erfahrungsmäßigen Charakter des Begriffs in seinem Verhältnis zur Welt
hervor; er bringt ihn dazu, nicht nur zwischen Begriffen und
Wörtern eine ursprüngliche Verwandtschaft anzunehmen, sondern auch zwischen Begriffen und Lauten. Wenn jedoch das Wort
als das Vehikel der Begriffe das wirkliche »Element« der Sprache
ist, so vermittelt es nicht den gebrauchsfertigen Begriff; es enthält
ihn nicht als bereits fixierten und »geschlossenen«. Das Wort weist
nur auf einen Begriff hin, es bezieht sich auf ein Allgemeines6.
Aber gerade die Beziehung des Wortes auf ein substantiell
Allgemeines (Begriff) macht es Humboldt zufolge unmöglich,
sich den Ursprung der Sprache so vorzustellen, daß sie mit der
Bezeichnung von Objekten durch Wörter beginnt und dann zu
deren Zusammenfügung fortschreitet: »In der Wirklichkeit wird
die Rede nicht aus ihr vorangegangenen Wörtern zusammengesetzt, sondern die Wörter gehen umgekehrt aus dem Ganzen
der Rede hervor«7.
Das »Ganze«, das hier ins Blickfeld tritt, muß von jedem Mißverständnis im Sinne einer unabhängigen Wesenheit, einer »Gestalt« und dergleichen freigehalten werden. Der Begriff drückt
irgendwie die Differenz und Spannung zwischen Potentialität
und Aktualität aus — die Identität in dieser Differenz. Er erscheint in der Beziehung zwischen den Qualitäten (weiß, hart;
aber auch schön, frei, gerecht) und den entsprechenden Begriffen
(Weiße, Härte, Schönheit, Freiheit, Gerechtigkeit). Deren abstrakter Charakter scheint die konkreten Qualitäten als Teilverwirklichungen, Aspekte, Manifestationen einer allgemeineren
und »hervorragenderen« Qualität zu bezeichnen, die im Konkreten erfahren wird8.
6 Wilhelm v. Humboldt, Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues, loc.
cit., S. 197.
7 Ders., Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß
auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts, in: Akademieausgabe, Bd.
VII, I, S. 72.
8 Cf. S. 225 f.
224
Und kraft dieser Beziehung scheint die konkrete Qualität
ebenso eine Negation wie eine Verwirklichung des Allgemeinen
darzustellen. Schnee ist weiß, aber nicht »Weiße«; ein Mädchen
kann schön sein, sogar eine Schönheit, aber nicht »die Schönheit«;
ein Land kann frei sein (im Vergleich zu anderen), weil seine
Menschen bestimmte Freiheiten haben, aber es ist nicht die Verkörperung der Freiheit. Überdies sind die Begriffe nur im erfahrenen Kontrast zu ihren Gegensätzen sinnvoll: weiß zu nicht
weiß, schön zu nicht schön. Negative Aussagen lassen sich mitunter in positive übersetzen: »schwarz« oder »grau« kann an
die Stelle von »nicht weiß« treten, »häßlich« an die von »nicht
schön«.
Diese Formulierungen ändern die Beziehung zwischen dem
abstrakten Begriff und seinen konkreten Verwirklichungen nicht:
der Allgemeinbegriff bezeichnet, was die besondere Wesenheit
ist und nicht ist. Die Übersetzung kann die verborgene Negation
eliminieren, indem sie den Sinn in einem widerspruchsfreien Satz
neuformuliert, aber die nicht übersetzte Aussage deutet auf einen
realen Mangel hin. In dem abstrakten Hauptwort (Schönheit,
Freiheit) ist mehr enthalten als in den Qualitäten (»schön«,
»frei«), die dem besonderen Menschen, Ding oder Zustand zugesprochen werden. Das substantiell Allgemeine intendiert Qualitäten, die über alle besondere Erfahrung hinausgehen, aber im
Geist fortbestehen, nicht als Produkt der Einbildung oder als
bloß logische Möglichkeiten, sondern als der »Stoff«, aus dem
unsere Welt besteht. Kein Schnee ist pures Weiß, und kein grausames Tier oder grausamer Mensch verkörpert in sich alle Grausamkeit, die der Mensch kennt — als eine geradezu unerschöpfliche Kraft in der Geschichte und der Einbildung.
Nun gibt es eine große Klasse von Begriffen - wir müssen
wohl sagen: die philosophisch relevanten Begriffe -, bei denen
die quantitative Beziehung zwischen dem Allgemeinen und dem
Besonderen einen qualitativen Aspekt annimmt, bei denen das
Abstrakt-Allgemeine Potentialitäten in einem konkreten, historischen Sinne zu bezeichnen scheint. Wie »Mensch«, »Natur«,
»Gerechtigkeit«, »Schönheit« oder »Freiheit« auch definiert werden mögen, sie synthesieren Erfahrungsgehalte zu Ideen, die
ihre besonderen Verwirklichungen als etwas transzendieren, was
225
überboten, überwunden werden muß. So umfaßt der Begriff
der Schönheit alle Schönheit, die noch nicht verwirklicht ist, der
Begriff der Freiheit alle Freiheit, die noch nicht erlangt ist.
Oder, um ein anderes Beispiel zu nennen, der philosophische
Begriff »Mensch« zielt auf die vollentwickelten menschlichen Anlagen ab, die seine eigentümlichen Anlagen sind, und die als
Möglichkeiten der Bedingungen erscheinen, unter denen die
Menschen tatsächlich leben. Der Begriff artikuliert die Qualitäten, die als »typisch menschlich« bezeichnet werden. Die vage
Redeweise mag dazu dienen, den Doppelsinn solcher philosophischen Definitionen zu erhellen — sie vereinigen nämlich die
Qualitäten, die allen Menschen, als anderen Lebewesen entgegengesetzt, zukommen und die gleichzeitig als die angemessenste oder
höchste Verwirklichung des Menschen behauptet werden9.
Solche Allgemeinheiten erscheinen daher als begriffliche Instrumente zum Verständnis der besonderen Beschaffenheiten der
Dinge im Licht ihrer Potentialitäten. Sie sind geschichtlich und
übergeschichtlich; sie bringen den Stoff, aus dem die erfahrene
Welt besteht, auf den Begriff und tun dies im Hinblick auf
seine Möglichkeiten, im Licht ihrer gegenwärtigen Beschränkung, Unterdrückung und Verneinung. Weder die Erfahrung
9 Diese Interpretation, die den normativen Charakter der Allgemeinbegriffe unterstreicht, läßt sich mit der Konzeption des Allgemeinen in der griechischen Philosophie in Verbindung bringen — nämlich mit dem Begriff des Allgemeinsten als des
Höchsten, des Ersten an »Vortrefflichkeit« und deshalb als der wahren Realität:
». . . Allgemeinheit ist kein Subjekt, sondern ein Prädikat, ein Prädikat eben der
Erstrangigkeit, die der höchsten Vortrefflichkeit an Erfüllung innewohnt. Das heißt:
Allgemeinheit ist eben deshalb und nur in dem Maße allgemein, als sie >wie< Erstrangigkeit ist. Sie ist also nicht nach Art eines logischen Allgemeinbegriffs, sondern
nach Art einer Norm, die — nur weil sie allgemeinverbindlich ist — es vermag, eine
Vielheit von Teilen zu einem einfachen Ganzen zu vereinigen. Es ist von höchster
Wichtigkeit, sich klar zu machen, daß die Beziehung dieses Ganzen zu seinen Teilen
nicht mechanisch (das Ganze = Summe seiner Teile), sondern immanent-teleologisch ist (das Ganze = verschieden von der Summe seiner Teile). Ferner ist diese
immanent-teleologische Ansicht von der Ganzheit als funktional, ohne zweckhaft
zu sein, bei aller Relevanz für das Phänomen des Lebens nicht ausschließlich oder
gar primär eine >organismische< Kategorie. Sie ist stattdessen in der immanenten,
inneren Funktionalität der Vortrefflichkeit als solcher verwurzelt, die ein Mannigfaltiges gerade im Prozeß seiner >Aristokratisierung< vereinheitlicht, wobei Vortrefflichkeit und Einheit eben die Bedingungen der vollen Realität des Mannigfaltigen sind.« Harold A. T. Reiche, »General Because First«: A Presocratic Motive in Aristotle's Theology (Massachusetts Institute of Technology, Cambridge
1961, Publications in Humanities Nr. 52), S. 105 f.
226
noch das Urteil ist privat. Die philosophischen Begriffe bilden
und entwickeln sich im Bewußtsein einer allgemeinen Lage in
einem geschichtlichen Kontinuum; sie werden aus einer individuellen Position heraus in einer spezifischen Gesellschaft ausgearbeitet. Der Stoff des Denkens ist ein geschichtlicher Stoff — wie
abstrakt, allgemein oder rein er auch in philosophischer oder
wissenschaftlicher Theorie werden mag. Der abstrakt-allgemeine und zugleich historische Charakter dieser »ewigen Objekte« des Denkens wird in Whiteheads Buch Science and the
Modern World erkannt und klar ausgesprochen:
»Ewige Objekte sind ... ihrer Natur nach abstrakt. Unter
>abstrakt< verstehe ich, was ein ewiges Objekt an sich ist das heißt sein Wesen - was ohne Bezugnahme auf irgendeine
partikulare Erfahrung begreifbar ist. Abstrakt sein heißt, das
partikulare Ereignis tatsächlichen Geschehens zu transzendieren. Aber ein tatsächliches Ereignis zu transzendieren, bedeutet
nicht, von ihm losgelöst zu sein. Im Gegenteil, ich behaupte,
daß jedes ewige Objekt in einem eigenen, spezifischen Zusammenhang mit jedem solchen Ereignis steht, den ich als seine
Weise bezeichne, in jenes Ereignis einzubrechen.« »So ist der
metaphysische Status eines ewigen Objekts der einer Möglichkeit für eine Wirklichkeit. Jedes tatsächliche Ereignis ist dadurch in seinem Charakter bestimmt, wie sich diese Möglichkeiten für es aktualisieren«10.
Elemente des Erfahrens, Projektierens und Vorwegnehmens realer Möglichkeiten gehen in die begrifflichen Synthesen ein — in
achtbarer Form als Hypothesen, in verrufener als »Metaphysik«.
Sie sind in mehrfacher Hinsicht unrealistisch, weil sie über das
bestehende Universum des Verhaltens hinausgehen, und sie können im Interesse der Sauberkeit und Exaktheit sogar unerwünscht
sein. Sicher ist bei der philosophischen Analyse »wenig wirklicher
Fortschritt d a f ü r . . . zu erhoffen, daß wir unser Universum so
ausweiten, das es sogenannte mögliche Wesenheiten einschließt«11,
10 New York, Macmillan, 1926, S. 228 f.
11 W. V. O. Quine, From a Logical Point of View, loc. cit., S. 4.
227
aber alles hängt davon ab, wie Ockhams Rasiermesser angewandt wird, das heißt welche Möglichkeiten abgeschnitten werden sollen. Die Möglichkeit einer gänzlich anderen gesellschaftlichen Organisation des Lebens hat nichts mit der »Möglichkeit«
gemein, daß morgen an allen Türeingängen ein Mann mit einem
grünen Hut erscheint; aber ihre Behandlung nach derselben Logik
kann dazu dienen, unerwünschte Möglichkeiten zu diffamieren.
Indem er die Einführung möglicher Wesenheiten kritisiert,
schreibt Quine, daß solch ein »überbevölkertes Universum in
vieler Hinsicht unschön ist. Es beleidigt den ästhetischen Sinn
derjenigen unter uns, die eine Vorliebe für Wüstenlandschaften
haben, aber das ist noch nicht das Schlimmste. [Solch ein] Armenviertel von Möglichem ist eine Brutstätte für unordentliche Elemente«.12
Die Philosophie der Gegenwart ist selten zu einer authentischeren Formulierung des Konflikts zwischen ihrer Absicht und ihrer
Funktion gelangt. Das sprachliche Syndrom aus »Schönheit«,
»ästhetischer Sinn« und »Wüstenlandschaft« beschwört die befreiende Atmosphäre von Nietzsches Denken und durchbricht
Gesetz und Ordnung, während die »Brutstätte für unordentliche
Elemente« zu der Sprache gehört, die von Fahndungs- und
Nachrichtenbehörden gesprochen wird. Was vom logischen Gesichtspunkt als unschön und unordentlich erscheint, kann durchaus die schönen Elemente einer anderen Ordnung umfassen und
damit ein wesentlicher Teil des Materials sein, aus dem philosophische Begriffe gebildet werden. Weder der raffinierteste
ästhetische Sinn noch der exakteste philosophische Begriff ist gegen die Geschichte immun. Unordentliche Elemente gehen in die
reinsten Gegenstände des Denkens ein. Auch diese sind von einem
gesellschaftlichen Boden abgelöst, und die Inhalte, von denen sie
abstrahieren, leiten die Abstraktion.
Damit ist das Gespenst des »Historismus« beschworen. Wenn
das Denken von geschichtlichen Bedingungen ausgeht, die in der
Abstraktion wirksam bleiben, gibt es dann eine objektive Basis,
auf der zwischen den verschiedenen Möglichkeiten, die das Denken entwirft, unterschieden werden kann — unterschieden zwi12 Ibid.
228
sehen verschiedenen und einander widerstreitenden Weisen begrifflicher Transzendenz? Hinzukommt, daß die Frage nicht nur
in Bezug auf verschiedene philosophische Entwürfe diskutiert
werden kann13.
Soweit der philosophische Entwurf ideologisch ist, gehört er
einem geschichtlichen Entwurf an — das heißt einem spezifischen
Stadium und Niveau der gesellschaftlichen Entwicklung, und die
kritischen philosophischen Begriffe beziehen sich (wie indirekt
auch immer!) auf alternative Möglichkeiten dieser Entwicklung.
Die Suche nach Kriterien, von denen aus verschiedene philosophische Entwürfe beurteilt werden können, führt so zu der
Suche nach Kriterien, verschiedene geschichtliche Entwürfe und
Alternativen zu beurteilen, verschiedene wirkliche und mögliche
Weisen, Mensch und Natur zu verstehen und zu verändern. Ich
werde nur einige Thesen vorbringen, aus denen hervorgeht, daß
der zutiefst geschichtliche Charakter der philosophischen Begriffe, weit davon entfernt, objektive Gültigkeit auszuschließen, gerade den Grund für ihre objektive Gültigkeit bestimmt.
Indem der Philosoph für sich spricht und denkt, spricht und
denkt er von einer besonderen Position in seiner Gesellschaft her,
und zwar mit dem Material, das diese Gesellschaft übermittelt
und benutzt. Damit aber spricht und denkt er in ein allgemeines
Universum von Tatsachen und Möglichkeiten hinein. Vermittels
der verschiedenen individuellen Agentien und Schichten der
Erfahrung, vermittels der verschiedenen »Entwürfe«, welche die
Denkweisen von den Geschäften des Alltagslebens bis zur Wissenschaft und Philosophie leiten, hält sich die Wechselwirkung
zwischen einem kollektiven Subjekt und einer gemeinsamen Welt
durch und konstituiert die objektive Gültigkeit der Allgemeinbegriffe. Sie ist objektiv:
1) aufgrund der Materie (Stoff), die dem wahrnehmenden
und begreifenden Subjekt gegenübersteht. Die Bildung der Begriffe bleibt bestimmt durch die in Subjektivität unauflösbare
Struktur der Materie (selbst wenn diese Struktur völlig mathematisch-logisch ist). Kein Begriff kann gelten, der sein Objekt
mit Eigenschaften und Funktionen definiert, die ihm nicht zu13 Cf. zu diesem Gebrauch des Terminus »Entwurf« die Vorrede, S. 18.
229
kommen (zum Beispiel kann ein Individuum nicht als fähig
definiert werden, mit einem anderen identisch zu werden oder
der Mensch als fähig, ewig jung zu bleiben). Die Materie tritt
dem Subjekt jedoch in einem historischen Universum gegenüber,
und die Objektivität erscheint unter einem offenen geschichtlichen Horizont;
2) aufgrund der Struktur der spezifischen Gesellschaft, in der
die Entwicklung der Begriffe stattfindet. Diese Struktur ist allen
Subjekten in dem jeweiligen Universum gemeinsam. Sie existieren unter denselben Naturbedingungen, derselben Produktionsform, derselben Weise, den gesellschaftlichen Reichtum auszuwerten, demselben Erbe der Vergangenheit, derselben Reichweite
von Möglichkeiten. Alle Unterschiede und Konflikte zwischen
Klassen, Gruppen und Individuen entfalten sich innerhalb dieses
gemeinsamen Rahmens.
Die Objekte von Denken und Wahrnehmung, wie sie den Individuen vor aller »subjektiven« Interpretation erscheinen, haben
bestimmte primäre Qualitäten gemeinsam, die folgenden zwei
Realitätsschichten angehören :
1. der physischen (natürlichen) Struktur der Materie und 2.
der Form, welche die Materie in der kollektiven geschichtlichen
Praxis erlangt hat, die sie (die Materie) zu Objekten für ein
Subjekt gemacht hat. Diese beiden Schichten oder Aspekte der
Objektivität (physisch und geschichtlich) sind derart wechselseitig vermittelt, daß sie nicht voneinander isoliert werden können; der geschichtliche Aspekt läßt sich niemals so radikal ausschalten, daß nur die »absolute« physische Schicht übrigbleibt.
Zum Beispiel habe ich zu zeigen versucht, daß in der technologischen Wirklichkeit die Objektwelt (einschließlich der Subjekte) als eine Welt von Mitteln erfahren wird. Der technologische Zusammenhang bestimmt im vorhinein die Form, unter
der die Objekte erscheinen. Sie erscheinen dem Wissenschaftler
a priori als wertfreie Elemente oder Komplexe von Beziehungen,
die der Organisation in einem leistungsfähigen mathematischlogischen System zugänglich sind; und sie erscheinen dem gesunden Menschenverstand als Stoff der Arbeit oder Freizeit, der
Produktion oder des Konsums. Die Objektwelt ist so die Welt
230
eines spezifisch geschichtlichen Entwurfs und ist niemals außerhalb des geschichtlichen Entwurfs erreichbar, der die Materie
organisiert, und die Organisation der Materie ist ein zugleich
theoretisches und praktisches Unternehmen.
Ich habe den Terminus »Entwurf« so oft benutzt, weil er mir
den spezifischen Charakter der geschichtlichen Praxis äußerst
klar zu akzentuieren scheint. Sie geht aus einer bestimmten Wahl
hervor, daraus, daß aus einer Reihe von Weisen, die Realität zu
begreifen, zu organisieren und zu verändern, eine herausgegriffen
wird. Diese ursprüngliche Wahl bestimmt den Spielraum der
Möglichkeiten, die sich auf diesem Wege eröffnen, und schließt
alternative Möglichkeiten aus, die mit ihm unvereinbar sind.
Ich möchte nun einige Kriterien für den Wahrheitswert verschiedener geschichtlicher Entwürfe vorlegen. Diese Kriterien
müssen sich auf die Weise beziehen, in der ein geschichtlicher
Entwurf gegebene Möglichkeiten verwirklicht — keine formalen
Möglichkeiten, sondern solche, die in sich die Weisen der menschlichen Existenz enthalten. Solche Verwirklichung geschieht tatsächlich in jeder geschichtlichen Situation. Jede bestehende Gesellschaft ist eine solche Verwirklichung; mehr noch, sie tendiert
dazu, über die Rationalität möglicher Entwürfe im voraus zu
entscheiden, sie innerhalb ihres Rahmens zu halten. Zugleich
steht jede Gesellschaft der Wirklichkeit oder Möglichkeit einer
qualitativ anderen geschichtlichen Praxis gegenüber, die das
bestehende institutionelle Gefüge zerstören könnte. Die bestehende Gesellschaft hat ihren Wahrheitswert als geschichtlicher Entwurf bereits unter Beweis gestellt. Sie hat den Kampf
des Menschen mit dem Menschen und mit der Natur erfolgreich
organisiert; sie reproduziert und sichert (mehr oder weniger angemessen) das menschliche Dasein (immer mit Ausnahme des
Daseins jener, die zu Geächteten, feindlichen Fremden erklärt
werden sowie anderer Opfer des Systems). Aber gegenüber diesem voll verwirklichten Entwurf treten andere Entwürfe auf,
unter ihnen solche, die den etablierten in seiner Totalität ändern
würden. Mit Bezug auf einen solchen transzendenten Entwurf
lassen sich denn auch die Kriterien für objektive geschichtliche
Wahrheit am besten als die Kriterien seiner Rationalität formulieren:
231
1) Der transzendente Entwurf muß mit den realen Möglichkeiten übereinstimmen, die auf dem erreichten Niveau der materiellen und geistigen Kultur offen sind.
2) Um die je bestehende Totalität als falsch zu erweisen, muß
der transzendente Entwurf seine eigene höhere Rationalität in
dem dreifachen Sinne belegen, daß er
a) die Aussicht bietet, die produktiven Errungenschaften der
Zivilisation zu erhalten und zu verbessern;
b) die bestehende Gesellschaft in ihrer Wesensstruktur, ihren
Grundtendenzen und -beziehungen bestimmt;
c) der Verwirklichung einer Befriedung des Daseins eine größere Chance bietet im Rahmen von Institutionen, die der
freien Entwicklung der menschlichen Bedürfnisse und Anlagen eine größere Chance bieten.
Offenbar enthält dieser Begriff von Rationalität, besonders in
der letzten Aussage, ein Werturteil, und ich betone erneut, was
ich bereits festgestellt habe: ich glaube, daß der Begriff der Vernunft in diesem Werturteil gründet und der Begriff der Wahrheit vom Wert der Vernunft nicht abgelöst werden kann.
»Befriedung«, »freie Entwicklung der menschlichen Bedürfnisse und Anlagen« — diese Begriffe lassen sich im Hinblick auf
die verfügbaren geistigen und materiellen Ressourcen und Vermögen und deren systematische Anwendung zur Herabminderung des Kampfes ums Dasein empirisch bestimmen. Darin
besteht der objektive Grund historischer Rationalität.
Wenn das geschichtliche Kontinuum selbst den objektiven
Grund zur Bestimmung der Wahrheit verschiedener geschichtlicher Entwürfe liefert, bestimmt es dann auch deren Abfolge
und Grenzen? Die geschichtliche Wahrheit ist relativ; die Rationalität des Möglichen hängt ab von der des Wirklichen, die
Wahrheit des transzendierenden Entwurfs von der des verwirklichten. Die Aristotelische Wissenschaft wurde ihrer Falschheit aufgrund ihrer Errungenschaften überführt; würde der Kapitalismus
durch den Kommunismus seiner Falschheit überführt, so würde
er es aufgrund seiner eigenen Errungenschaften. Die Kontinuität
wird durch den Bruch gewahrt: quantitative Entwicklung wird
zu qualitativer Änderung, wenn sie an die innere Struktur eines
232
etablierten Systems heranreicht; die etablierte Rationalität wird
irrational, sobald die Potentialitäten des Systems im Laufe ihrer
inneren Entwicklung über dessen Institutionen hinausgewachsen
sind. Eine solche innere Widerlegung gehört zum geschichtlichen
Charakter der Wirklichkeit, und gerade dieser Charakter verleiht den Begriffen, die diese Wirklichkeit erfassen, ihre kritische
Intention. Sie anerkennen und antizipieren das Irrationale in
der je bestehenden Wirklichkeit — sie entwerfen die geschichtliche
Negation.
Ist diese Negation eine »bestimmte« Negation — das heißt, ist
der innere Verlauf eines geschichtlichen Entwurfs, wenn dieser
einmal zu einer Totalität geworden ist, notwendig durch die
Struktur dieser Totalität vorausbestimmt? Wenn ja, dann wäre
der Terminus »Entwurf« trügerisch. Was historische Möglichkeit
ist, wäre früher oder später wirklich; und die Definition der
Freiheit als begriffene Notwendigkeit hätte einen repressiven
Nebensinn, den sie nicht hat. All dies mag nicht viel ausmachen.
Was aber etwas ausmacht, ist der Umstand, daß eine derartige
geschichtliche Determination (trotz aller subtilen Ethik und Psychologie) die Verbrechen gegen die Menschheit freispräche, die
die Zivilisation fortwährend begeht, und damit deren Fortsetzung erleichterte.
Ich schlage den Ausdruck »bestimmte Wahl« vor, um den Einbruch der Freiheit in die historische Notwendigkeit hervorzuheben; der Ausdruck faßt lediglich den Satz zusammen, daß die
Menschen ihre Geschichte selbst machen, aber unter gegebenen
Bedingungen. Determiniert sind
1)
die spezifischen Widersprüche, die sich in einem geschichtlichen
System als Manifestationen des Konflikts zwischen dem Potentiellen und dem Aktuellen entwickeln;
2)
die materiellen und geistigen Ressourcen, über die das jeweilige
System verfügt;
3)
das Ausmaß an theoretischer und praktischer Freiheit, das mit
dem System verträglich ist. Diese Bedingungen lassen alternative
Möglichkeiten offen, die verfügbaren Ressourcen zu entwickeln
233
und nutzbar zu machen, alternative Möglichkeiten, »sich zu ernähren« und die Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur zu organisieren.
So kann die Industrialisierung im Rahmen einer gegebenen
Situation auf verschiedene Weisen vonstatten gehen, unter kollektiver oder privater Kontrolle und, selbst unter privater Kontrolle, in verschiedenen Richtungen des Fortschritts und mit verschiedenen Zielen. Die Wahl ist in erster Linie (aber nur in erster
Linie!) das Vorrecht jener Gruppen, die zur Kontrolle über den
Produktionsprozeß gelangt sind. Ihre Kontrolle entwirft den
Lebenszuschnitt des Ganzen, und die sich daraus ergebende und
versklavende Notwendigkeit ist das Resultat ihrer Freiheit. Und
die mögliche Aufhebung dieser Notwendigkeit hängt ab von
einem neuen Einbruch der Freiheit — nicht irgendeiner Freiheit,
sondern der von Menschen, welche die gegebene Notwendigkeit
als unerträgliche Qual und als unnötig begreifen.
Als geschichtlicher Prozeß schließt der dialektische Prozeß Bewußtsein ein: daß die befreienden Potentialitäten erkannt und
erfaßt werden. Damit schließt er Freiheit ein. In dem Maße, wie
das Bewußtsein durch die Erfordernisse und Interessen der bestehenden Gesellschaft bestimmt wird, ist es »unfrei«; in dem
Maße, wie die bestehende Gesellschaft irrational ist, wird das
Bewußtsein nur im Kampf gegen sie frei für die höhere geschichtliche Rationalität. Wahrheit und Freiheit des negativen Denkens
haben ihren Grund und Boden in diesem Kampf. So ist nach
Marx das Proletariat nur als revolutionäre Kraft die befreiende
geschichtliche Kraft; die bestimmte Negation des Kapitalismus
tritt ein, wofern und wenn das Proletariat seiner selbst und der
Bedingungen und Prozesse bewußt geworden ist, die seine Gesellschaft ausmachen. Dieses Bewußtsein ist ebenso die Voraussetzung wie ein Element der negierenden Praxis. Dieses »Wofern« gehört wesentlich zum geschichtlichen Fortschritt — es ist
das Element der Freiheit (und Chance!), das die Möglichkeiten
eröffnet, die Notwendigkeit der gegebenen Tatsachen zu überwinden. Ohne es fällt die Geschichte ins Dunkel unbezwungener
Natur zurück.
Wir sind dem »circulus vitiosus« von Freiheit und Befreiung
234
bereits begegnet;14 hier kehrt er wieder als die Dialektik der
bestimmten Negation. Die Transzendenz der bestehenden Bedingungen (von Denken und Handeln) setzt Transzendenz innerhalb dieser Bedingungen voraus. Diese negative Freiheit - das
heißt Freiheit von der bedrückenden und ideologischen Macht
der gegebenen Tatsachen - ist das Apriori der historischen Dialektik; sie ist das Element der Wahl und der Entscheidung in der
geschichtlichen Determination und gegen sie. Keine der gegebenen Alternativen ist von sich aus bestimmte Negation, wofern
und solange sie nicht bewußt ergriffen wird, um die Macht
unerträglicher Bedingungen zu brechen und rationalere, logischere Bedingungen zu erreichen, die von den jetzt herrschenden
ermöglicht werden. In jedem Fall ist die Rationalität und Logik,
woran die Bewegung des Denkens und Handelns appelliert, die
der gegebenen und zu überschreitenden Bedingungen. Die Negation vollzieht sich auf empirischem Boden; sie ist ein geschichtlicher Entwurf innerhalb eines bereits bestehenden Entwurfs und
über diesen hinaus, und ihre Wahrheit ist eine auf diesem Boden
zu bestimmende Chance.
Die Wahrheit eines geschichtlichen Entwurfs wird jedoch nicht
ex post durch den Erfolg erhärtet, das heißt durch die Tatsache,
daß er von der Gesellschaft akzeptiert und verwirklicht wird.
Die Galileische Wissenschaft war bereits wahr, als sie noch verdammt wurde; die Marxsche Theorie war bereits wahr zur Zeit
des Kommunistischen Manifests; der Faschismus bleibt falsch,
selbst wenn er im internationalen Maßstab im Aufstieg ist
(»wahr« und »falsch« immer im Sinne der historischen Rationalität, wie sie oben definiert wurde). In der gegenwärtigen
Periode scheinen sich alle geschichtlichen Entwürfe nach den
beiden im Konflikt liegenden Totalitäten zu polarisieren — Kapitalismus und Kommunismus, und das Ergebnis scheint von zwei
antagonistischen Reihen von Faktoren abzuhängen: 1. von der
größeren Zerstörungskraft; 2. von der größeren Produktivität
ohne Zerstörung. Mit anderen Worten, die höhere geschichtliche
Wahrheit läge bei demjenigen System, das die größere Chance
der Befriedung bietet.
14 Cf. S. 61.
235
9 Die Katastrophe der Befreiung
Das positive Denken und seine neopositivistische Philosophie
widersetzen sich dem geschichtlichen Inhalt der Rationalität. Dieser Inhalt ist niemals ein äußerlicher Faktor oder Sinn, der in
die Analyse aufgenommen werden kann oder auch nicht; er geht
als konstitutiver Faktor in das begriffliche Denken ein und bestimmt die Gültigkeit seiner Begriffe. In dem Maße, wie die
bestehende Gesellschaft irrational ist, führt die an geschichtlicher
Rationalität orientierte Analyse das negative Element in den
Begriff ein — Kritik, Widerspruch und Transzendenz.
Dieses Element läßt sich dem Positiven nicht angleichen. Es
ändert den Begriff völlig in seiner Intention und Gültigkeit. So
werden bei der Analyse einer Wirtschaft, sie sei kapitalistisch
oder nicht, die als eine »unabhängige« Macht gegenüber den Individuen auftritt, die negativen Züge (Überproduktion, Arbeitslosigkeit, Unsicherheit, Verschwendung, Unterdrückung) nicht
begriffen, solange sie bloß als mehr oder weniger unvermeidliche
Nebenprodukte erscheinen, als die »Kehrseite der Medaille« von
Wachstum und Fortschritt.
Zwar kann eine totalitäre Regierung die wirksame Ausbeutung der Ressourcen fördern; das nuklear-militärische Establishment kann infolge seiner enormen Kaufkraft Millionen von Arbeitsplätzen bereitstellen; Plackerei und Schwielen können das
Nebenprodukt des Erwerbs von Reichtum und Verantwortung
sein; tödliche Fehler und Verbrechen seitens der Führer können
sich ausnehmen, als seien sie bloß der Lauf der Welt. Man ist
bereit, ökonomischen und politischen Wahnsinn zuzulassen — und
nimmt ihn in Kauf. Aber diese Art, die »Kehrseite der Medaille«
zu kennen, gehört wesentlich zur Zementierung des Bestehenden,
zur großen Vereinigung der Gegensätze, die qualitativer Veränderung entgegenwirkt, weil sie bezogen ist auf ein völlig hoffnungsloses oder völlig präformiertes Dasein, heimisch geworden
in einer Welt, in der selbst das Irrationale Vernunft ist.
Die Toleranz des positiven Denkens ist aufgezwungen — nicht
von irgendeiner terroristischen Agentur, sondern von der überwältigenden, anonymen Macht und Wirksamkeit der technologischen Gesellschaft. Als solche durchdringt sie das allgemeine
236
Bewußtsein — und das des Kritikers. Die Aufsaugung des Negativen durchs Positive wird bestätigt in der täglichen Erfahrung,
die den Unterschied zwischen rationaler Erscheinung und irrationaler Wirklichkeit verschwimmen läßt. Im folgenden einige
banale Beispiele für diese Harmonisierung:
1)
Ich fahre in einem neuen Auto. Ich erlebe seine Schönheit,
seinen Glanz, seine Stärke und Bequemlichkeit — aber dann
wird mir bewußt, daß es sich in relativ kurzer Zeit abnutzen
und reparaturbedürftig sein wird; daß seine Schönheit und
Oberfläche billig sind, seine Kraft unnötig, seine Größe idiotisch und daß ich keinen Parkplatz finden werde. Es kommt
mir in den Sinn, daß mein Wagen das Produkt einer der drei
großen Automobilkonzerne ist. Diese bestimmen über das Aussehen meines Wagens und bringen seine Schönheit wie seine
Billigkeit hervor, seine Kraft wie seine Unzuverlässigkeit, sein
Funktionieren wie sein Veralten. Ich fühle mich gewissermaßen betrogen. Ich glaube, daß der Wagen nicht ist, was er
sein könnte, daß sich bessere Wagen für weniger Geld herstellen ließen. Aber der andere muß halt auch leben. Die Löhne
und Steuern sind zu hoch; Umsatz ist notwendig; es geht uns
viel besser als früher. Die Spannung zwischen Erscheinung und
Wirklichkeit zergeht, und beide verschmelzen zu einem recht
angenehmen Gefühl.
2)
Ich gehe auf dem Lande spazieren. Alles ist, wie es sein sollte:
die Natur zeigt sich von ihrer besten Seite. Vögel, Sonne,
weiches Gras, ein Blick durch die Bäume auf die Berge, niemand zu sehen, kein Radio, kein Benzingeruch. Dann biegt
der Pfad ab und endet auf der Autobahn. Ich bin wieder
unter Reklameschildern, Tankstellen, Motels und Gaststätten.
Ich war im Nationalpark und weiß jetzt, daß das Erlebte
nicht die Wirklichkeit war. Es war ein »Schutzgebiet«, etwas,
das gehegt wird wie eine aussterbende Art. Wenn die Regierung nicht wäre, hätten die Reklameschilder, die Verkaufsstände für heiße Würstchen und die Motels längst in dieses
Stück Natur ihren Einzug gehalten. Ich bin der Regierung
dankbar; wir haben es viel besser als früher...
237
3)
Die Untergrundbahn während der Hauptverkehrszeit. Was
ich von den Menschen sehe, sind müde Gesichter und Glieder,
Haß und Ärger. Ich habe das Gefühl, in jedem Augenblick
könnte jemand ein Messer hervorziehen — nur so. Sie lesen
oder sind vielmehr vertieft in ihre Zeitung, ihr Magazin oder
ihren Paperback. Und doch können ein paar Stunden später
dieselben Leute, von Gerüchen befreit, gewaschen, festlich oder
bequem gekleidet, glücklich und zärtlich sein, wirklich lächeln
und vergessen (oder sich erinnern). Aber die meisten von ihnen
werden wahrscheinlich zu Hause ein schreckliches Beisammensein erleben oder schrecklich einsam sein.
Diese Beispiele mögen die glückliche Ehe des Positiven und des
Negativen veranschaulichen — die objektive Zweideutigkeit, die
den Daten der Erfahrung anhaftet. Objektiv ist diese Zweideutigkeit deshalb, weil der Wechsel in meinen Wahrnehmungen
und Reflexionen eine Antwort auf die Weise ist, in der die erfahrenen Tatsachen wirklich wechselseitig miteinander verbunden sind. Aber einmal begriffen, zerstört diese Wechselbeziehung
das harmonisierende Bewußtsein und seinen falschen Realismus.
Das kritische Denken ist bestrebt, den irrationalen Charakter
der bestehenden Rationalität (der immer offenkundiger wird)
und die Tendenzen zu bestimmen, die diese Rationalität dazu
veranlassen, ihre eigene Transformation hervorzubringen. »Ihre
eigene«; denn als geschichtliche Totalität hat sie Kräfte und Vermögen entwickelt, die selbst zu Entwürfen werden, die über die
bestehende Totalität hinausgehen. Sie sind Möglichkeiten der
fortschreitenden technologischen Rationalität und umfassen als
solche die gesamte Gesellschaft. Die technische Transformation ist
zugleich eine politische, aber die politische Änderung würde nur
in dem Maße in eine qualitative gesellschaftliche Änderung übergehen, wie sie die Richtung des technischen Fortschritts ändern —
das heißt eine neue Technik entwickeln würde. Denn die bestehhende Technik ist zu einem Instrument destruktiver Politik
geworden.
Solche qualitative Änderung wäre der Übergang zu einer höheren Stufe der Zivilisation, wenn die Technik zur Befriedung
238
des Kampfes ums Dasein bestimmt und benutzt würde. Um die
beunruhigenden Implikationen dieser Feststellung anzudeuten,
gebe ich zu bedenken, daß eine solche neue Richtung des technischen Fortschritts die Katastrophe seiner bestehenden Richtung wäre, keine bloß quantitative Fortentwicklung der herrschenden (wissenschaftlichen und technologischen) Rationalität,
vielmehr deren katastrophische Umwandlung, das Entstehen
einer neuen theoretischen und praktischen Idee der Vernunft.
Diese neue Idee der Vernunft drückt sich aus in Whiteheads
Satz: »Es ist die Funktion der Vernunft, die Kunst des Lebens
zu befördern«1. Im Hinblick auf diesen Zweck ist Vernunft »die
Lenkerin des Angriffs auf die Umwelt«, der sich dem »dreifachen Impuls« verdankt: »1. zu leben, 2. gut zu leben, 3. besser
zu leben«.2
Whiteheads Sätze scheinen ebenso die tatsächliche Entwicklung
der Vernunft zu beschreiben wie ihren Mißerfolg. Mehr noch, sie
scheinen nahezulegen, daß die Vernunft noch entdeckt, erkannt und verwirklicht werden muß; denn bislang ist es auch die
historische Funktion der Vernunft gewesen, den Impuls zu leben,
gut zu leben und besser zu leben zu unterdrücken, ja zu zerstören — oder die Erfüllung dieses Impulses hinauszuzögern und
mit einem übermäßig hohen Preis zu belegen.
In Whiteheads Bestimmung der Funktion der Vernunft bedeutet der Ausdruck »Kunst« zugleich das Element der bestimmten Negation. Angewandt auf die Gesellschaft, ist die Vernunft
bislang der Kunst entgegengesetzt gewesen, während der Kunst
das Vorrecht eingeräumt wurde, einigermaßen irrational zu sein —
wissenschaftlicher, technologischer und operationeller Vernunft
nicht unterworfen. Die Rationalität der Herrschaft hat die Vernunft der Wissenschaft von der der Kunst getrennt; anders ausgedrückt, sie hat die Vernunft der Kunst verfälscht, indem sie
diese in das Universum der Herrschaft eingliederte. Es handelte
sich hier um eine Trennung, weil die Wissenschaft seit Anbeginn
die ästhetische Vernunft enthielt, das freie Spiel und selbst den
1 A. N. Whitehead, The Function of Reason, Boston: Beacon Press, 1959, S. 5.
2 Ibid., S. 8.
239
Übermut der Einbildungskraft, die Phantasie der Umgestaltung;
die Wissenschaft gab sich der vernünftigen Erklärung der Möglichkeiten hin. Dieses freie Spiel blieb jedoch der herrschenden
Unfreiheit verpflichtet, in der es entstand und von der es abstrahierte; die Möglichkeiten, mit denen die Wissenschaft spielte,
waren auch die der Befreiung — die einer höheren Wahrheit.
Hierin besteht das ursprüngliche Bindeglied (innerhalb des
Universums von Herrschaft und Mangel) zwischen Wissenschaft,
Kunst und Philosophie. Es ist das Bewußtsein der Diskrepanz
zwischen dem Wirklichen und dem Möglichen, zwischen der erscheinenden und der authentischen Wahrheit sowie die Anstrengung, diese Diskrepanz zu begreifen und zu meistern. Eine der
frühesten Formen, in denen diese Diskrepanz Ausdruck fand,
war die Unterscheidung zwischen Göttern und Menschen, Endlichkeit und Unendlichkeit, Wandel und Dauer3. Etwas von
diesem mythologischen Wechselverhältnis zwischen dem Wirklichen und dem Möglichen überlebte im wissenschaftlichen Denken und war weiterhin auf eine vernüftigere und wahrere Wirklichkeit gerichtet. Die Mathematik sollte im nämlichen Sinne
wirklich und »gut« sein wie Platons metaphysische Ideen. Wie
wurde dann die Fortentwicklung jener Wissenschaft, während
die Entwicklung dieser Metaphysik blieb?
Die augenfälligste Antwort muß lauten, daß die wissenschaftlichen Abstraktionen in weitem Maße in die tatsächliche Unterjochung und Umgestaltung der Natur eingingen und dabei ihre
Wahrheit bewiesen, während das bei den philosophischen Abstraktionen nicht der Fall war — und nicht der Fall sein konnte.
Denn die Unterjochung und Umgestaltung der Natur vollzog
sich innerhalb von Gesetz und Ordnung eines Lebens, über das
die Philosophie hinausging, indem sie es dem »guten Leben«
eines anderen Gesetzes und einer anderen Ordnung unterordnete.
Und diese andere Ordnung, die einen hohen Grad an Freiheit
von harter Arbeit, Unwissenheit und Armut voraussetzte, war
unwirklich zu Beginn des philosophischen Denkens und während
seiner gesamten Entwicklung, während das wissenschaftliche Denken weiterhin auf eine immer mächtigere und umfassendere
3 Cf. Kapitel 5.
240
Wirklichkeit anwendbar blieb. Die entscheidenden philosophischen Begriffe blieben in der Tat metaphysisch; sie wurden nicht
im Sinne des bestehenden Universums von Sprache und Handeln
verifiziert und konnten nicht verifiziert werden.
Wenn dem aber so ist, dann ist die Frage der Metaphysik und
insbesondere die nach der Bedeutsamkeit und Wahrheit metaphysischer Sätze eine geschichtliche. Das heißt, daß geschichtliche
eher als rein erkenntnistheoretische Bedingungen die Wahrheit,
den Erkenntniswert solcher Sätze determinieren. Wie alle Sätze,
die Wahrheit beanspruchen, müssen sie verifizierbar sein; sie
müssen im Universum möglicher Erfahrung verbleiben. Dieses
Universum ist niemals vom gleichen Umfang wie das bestehende,
sondern erstreckt sich auf die Grenzen einer Welt, die hergestellt
werden kann, indem die bestehende verändert wird, mit den
Mitteln, die diese geliefert oder vorenthalten hat. Die Reichweite der Verifizierbarkeit in diesem Sinne nimmt im Laufe
der Geschichte zu. So erhalten die Spekulationen über das Gute
Leben, die Gute Gesellschaft, den Ewigen Frieden einen stets
realistischer werdenden Inhalt; aus technologischen Gründen tendiert das Metaphysische dazu, physisch zu werden.
Ferner: Wenn die Wahrheit metaphysischer Sätze von ihrem
geschichtlichen Inhalt determiniert ist (das heißt von dem Grad,
wie sie geschichtliche Möglichkeiten bestimmen), dann ist das
Verhältnis von Metaphysik und Wissenschaft ein streng geschichtliches. Zumindest in unserer eigenen Kultur wird jener
Teil des Saint-Simonschen Drei-Stadien-Gesetzes noch immer als
erwiesen angenommen, der besagt, daß das metaphysische dem
wissenschaftlichen Stadium der Kultur vorhergeht. Aber ist diese
Abfolge eine endgültige? Oder enthält die wissenschaftliche Umgestaltung der Welt ihre eigene metaphysische Transzendenz?
Auf der fortgeschrittenen Stufe der industriellen Zivilisation
scheint die in politische Macht übersetzte wissenschaftliche Rationalität der entscheidende Faktor bei der Entwicklung historischer
Alternativen. Dann erhebt sich die Frage: tendiert diese Macht
zu ihrer eigenen Negation — das heißt zur Beförderung der
»Kunst des Lebens«? In den bestehenden Gesellschaften hätte
die fortwährende Anwendung wissenschaftlicher Rationalität mit
der Mechanisierung aller gesellschaftlich notwendigen aber indi241
viduell repressiven Arbeit einen Endpunkt erreicht (wobei »gesellschaftlich notwendig« hier alle Veranstaltungen umfaßt, die
maschinell wirksamer durchgeführt werden können, selbst wenn
diese Veranstaltungen eher Luxusartikel und Verschwendung
produzieren als notwendige Güter). Aber diese Stufe wäre auch
das Ende und die Grenze der wissenschaftlichen Rationalität in
ihrer bestehenden Struktur und Richtung. Weiterer Fortschritt
würde den Bruch bedeuten, den Umschlag von Quantität in
Qualität. Er würde die Möglichkeit einer wesentlich neuen
menschlichen Wirklichkeit eröffnen — nämlich eines Daseins in
freier Zeit auf der Basis befriedigter Lebensbedürfnisse. Unter
solchen Bedingungen wäre der wissenschaftliche Entwurf selbst
frei für Zwecke, die über das bloß Nützliche hinausgehen, und
frei für die »Kunst des Lebens« jenseits der herrschaftlichen Bedürfnisse und Verschwendung. Mit anderen Worten, die Vollendung der technologischen Wirklichkeit wäre nicht nur die Vorbedingung, sondern auch die rationale Grundlage, die technologische Wirklichkeit zu transzendieren.
Das würde die Umkehrung des traditionellen Verhältnisses
von Wissenschaft und Metaphysik bedeuten. Die Ideen, die die
Wirklichkeit in anderen Begriffen als in denen der exakten oder
am Verhalten orientierten Wissenschaft bestimmen, verlören
ihren metaphysischen oder gefühlsmäßigen Charakter als Ergebnis der wissenschaftlichen Umgestaltung der Welt; die wissenschaftlichen Begriffe könnten die möglichen Realitäten eines
freien und befriedeten Daseins entwerfen und bestimmen. Die
Ausarbeitung solcher Begriffe würde mehr bedeuten als die Fortentwicklung der herrschenden Wissenschaften. Sie würde die
wissenschaftliche Rationalität als Ganzes umfassen, die bislang
einem unfreien Dasein verpflichtet war, und würde eine neue
Idee von Wissenschaft, von Vernunft bedeuten.
Wenn die Vollendung des technologischen Entwurfs einen
Bruch mit der herrschenden technologischen Rationalität notwendig macht, dann hängt dieser Bruch wiederum vom Fortbestehen der technischen Basis selbst ab. Denn eben diese Basis hat
die Befriedigung der Bedürfnisse und die Verringerung harter
Arbeit ermöglicht — sie bleibt die wahrhafte Basis aller Formen menschlicher Freiheit. Die qualitative Änderung liegt viel242
mehr im Umbau dieser Basis — das heißt in ihrer Entwicklung
im Hinblick auf andere Zwecke.
Ich habe betont, daß dies nicht die Wiederbelebung von »Werten«, geistigen oder anderen, bedeutet, die die wissenschaftliche
und technologische Umgestaltung von Mensch und Natur ergänzen sollen4. Im Gegenteil, die geschichtliche Leistung von Wissenschaft und Technik hat die Übersetzung der Werte in technische Aufgaben ermöglicht — die Materialisierung der Werte.
Worum es folglich geht, ist die Neubestimmung der Werte in
technischen Begriffen, als Elemente des technologischen Prozesses.
Als technische Zwecke kämen die neuen Zwecke dann beim Entwurf und Aufbau der Maschinerie zur Wirkung und nicht nur
bei ihrer Nutzanwendung. Mehr noch; die neuen Zwecke
selbst könnten sich beim Aufstellen wissenschaftlicher Hypothesen durchsetzen — in der rein wissenschaftlichen Theorie. Von
der Quantifizierung sekundärer Qualitäten schritte die Wissenschaft zur Quantifizierung der Werte fort.
Berechenbar beispielsweise ist das Minimum an Arbeit, mit
dem, und das Maß, in dem die Lebensbedürfnisse aller Mitglieder
einer Gesellschaft befriedigt werden könnten — vorausgesetzt, daß
die verfügbaren Ressourcen zu diesem Zweck verwandt würden,
ohne durch andere Interessen eingeschränkt zu sein und ohne
daß die Akkumulation des Kapitals behindert würde, dessen es
zur Entwicklung der jeweiligen Gesellschaft bedarf. Mit anderen
Worten: quantifizierbar ist der verfügbare Spielraum der Freiheit von Mangel. Quantifizierbar ist auch der Grad, in dem,
unter denselben Bedingungen, für die Kranken, Schwachen und
Alten gesorgt werden könnte — d. h. quantifizierbar ist die mögliche Verringerung von Angst, die mögliche Freiheit von Furcht.
Bestimmbare politische Hindernisse stehen der Verwirklichung
im Wege. Die industrielle Zivilisation hat den Punkt erreicht,
wo hinsichtlich der Bestrebungen des Menschen, die auf ein
menschliches Dasein gerichtet sind, das wissenschaftliche Absehen von Endursachen nach den Begriffen der Wissenschaft
selbst obsolet wird. Die Wissenschaft hat es ermöglicht, Endursachen zu ihrer eigenen Domäne zu machen. Die Gesellschaft
4 Cf. Kapitel 1, bes. S. 37 f.
243
»par une élévation et un élargissement du domaine technique,
doit remettre à leur place, comme techniques, les problèmes de
finalité, considérés à tort comme éthiques et parfois comme
religieux. L'inachèvement des techniques sacralise les problèmes
de finalité et asservit l'homme au respect de fins qu'il se représente comme des absolus«5.
Unter diesem Aspekt werden die »neutrale« wissenschaftliche
Methode und Technik zur Wissenschaft und Technik einer geschichtlichen Phase, die durch ihre eigenen Errungenschaften überwunden wird — die ihre bestimmte Negation erreicht hat. Anstatt von der Wissenschaft und der wissenschaftlichen Methode
getrennt und subjektivem Belieben und irrationaler, transzendenter Sanktion überlassen zu sein, können die ehemals metaphysischen Ideen der Befreiung zum geeigneten Gegenstand der
Wissenschaft werden. Aber diese Entwicklung konfrontiert die
Wissenschaft mit der unangenehmen Aufgabe, politisch zu werden — das wissenschaftliche Bewußtsein als politisches Bewußtsein anzuerkennen und das wissenschaftliche Unternehmen als
politisches. Denn die Überführung der Werte in Bedürfnisse, der
Endursachen in technische Möglichkeiten ist eine neue Stufe der
Unterwerfung oppressiver, unbewältigter Kräfte der Gesellschaft
und der Natur. Sie ist ein Akt der Befreiung:
»L'homme se libère de sa situation d'être asservi par la finalité du tout en apprenant à faire de la finalité, à organiser un
tout finalisé qu'il juge et apprécie, pour n'avoir pas à subir
passivement une intégration de fait.« ... »L'homme dépasse
l'asservissement en organisant consciemment la finalité ...« 6 .
5 »muß durch eine Steigerung und Erweiterung des technischen Bereichs die Probleme der Finalität, die fälschlich als ethische und manchmal als religiöse betrachtet
worden sind, wieder als technische Probleme zur Geltung bringen. Die Unentwickeltheit der Technik fetischisiert die Probleme der Finalität und versklavt den
Menschen an Zwecke, die er sich als Absoluta vorstellt.« Gilbert Simondon, loc.,
cit., S. 151; Hervorhebung von mir.
6 »Der Mensch befreit sich von seiner Situation, der Finalität des Ganzen unterworfen zu sein, indem er lernt, Finalität hervorzubringen, ein »finalisiertes« Ganzes zu organisieren, das er beurteilt und einschätzt, um nicht passiv einer Konstellation von Tatsachen zu unterliegen« . . . »Der Mensch überwindet die Versklavung,
indem er die Finalität bewußt organisiert . . . « . Ibid., S. 103.
244
Indem sie sich jedoch methodisch als politisches Unternehmen
konstituieren, würden Wissenschaft und Technik über die Stufe
hinausgehen, auf der sie infolge ihrer Neutralität der Politik
unterworfen waren und gegen ihre Intention als politische Mittel fungierten. Denn die technologische Neubestimmung und die
technische Meisterung der Endursachen ist der Aufbau, die Entwicklung und Anwendung der (materiellen und geistigen) Ressourcen, befreit von allen partikularen Interessen, die die Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse und die Entfaltung der
menschlichen Anlagen behindern. Mit anderen Worten, sie ist
das rationale Unternehmen des Menschen als Menschen, das
der Menschheit. Die Technik kann so die geschichtliche Korrektur
der verfrühten Identifikation von Vernunft und Freiheit herbeiführen, derzufolge der Mensch mit dem Fortschreiten der sich
selbst perpetuierenden Produktivität auf der Basis von Unterdrückung frei werden und bleiben könne. In dem Maße, wie die
Technik sich auf dieser Basis entwickelt hat, kann diese Korrektur niemals das Ergebnis des technischen Fortschritts selber
sein. Sie macht eine politische Umwälzung notwendig.
Die Industriegesellschaft besitzt die Mittel, das Metaphysische
ins Physische zu überführen, das Innere ins Äußere, die Abenteuer des Geistes in Abenteuer der Technik. Die schrecklichen
Redeweisen (und Realitäten) von »Seeleningenieuren«, »head
shrinkers«, »wissenschaftlicher Betriebsführung«, »Konsumwissenschaft« umreißen (in erbärmlicher Form) die fortschreitende
Rationalisierung des Irrationalen, des »Spirituellen« — die Absage
an die idealistische Kultur. Freilich würde die Vollendung der
technologischen Rationalität, indem sie Ideologie in Wirklichkeit
übersetzt, auch über die materialistische Antithese zu dieser Kultur hinausgehen. Denn die Übersetzung der Werte in Bedürfnisse
ist der doppelte Prozeß 1. der materiellen Befriedigung (Materialisierung der Freiheit) und 2. der freien Entwicklung der Bedürfnisse auf der Basis der Befriedigung (nichtrepressive Sublimierung). In diesem Prozeß erfährt das Verhältnis von materiellen und geistigen Anlagen und Bedürfnissen eine grundlegende
Änderung. Das freie Spiel von Denken und Einbildungskraft
nimmt bei der Verwirklichung eines befriedeten Daseins von
Mensch und Natur eine rationale und leitende Funktion an. Und
245
die Ideen der Gerechtigkeit, Freiheit und Humanität werden
dann auf dem einzigen Boden zu einer Wahrheit und Sache des
guten Gewissens, auf dem sie überhaupt Wahrheit sein und ein
gutes Gewissen haben könnten — als Befriedigung der materiellen
Bedürfnisse des Menschen, als die vernünftige Organisation des
Reichs der Notwendigkeit.
»Befriedetes Dasein«. Der Ausdruck vermittelt unzureichend
genug die Intention, in einer Leitidee den tabuierten und lächerlich gemachten Zweck der Technik zusammenzufassen, die unterdrückte Endursache hinter dem wissenschaftlichen Unternehmen.
Wenn sich diese Endursache materialisieren und wirksam werden
sollte, so würde der Logos der Technik eine Welt qualitativ
anderer Beziehungen zwischen Mensch und Mensch und zwischen Mensch und Natur eröffnen.
An dieser Stelle muß jedoch ein starker Vorbehalt ausgesprochen werden — eine Warnung vor allem technologischen Fetischismus. Ein solcher Fetischismus ist jüngst besonders unter marxistischen Kritikern der gegenwärtigen Industriegesellschaft an den
Tag gelegt worden — Ideen von der künftigen Allmacht des
technologischen Menschen, eines »technischen Eros« usw. Der
Wahrheitskern dieser Ideen erfordert, daß die Mystifizierung, die
sie ausdrücken, entschieden bloßgestellt wird. Als ein Universum von Mitteln kann die Technik ebenso die Schwäche wie die
Macht des Menschen vermehren. Auf der gegenwärtigen Stufe
ist er vielleicht ohnmächtiger als je zuvor gegenüber seinem
eigenen Apparat.
Die Mystifizierung wird nicht dadurch beseitigt, daß die technische Allmacht von partikularen Gruppen auf einen neuen Staat
und zentralen Plan übertragen wird. Die Technik behält durchaus ihre Abhängigkeit von anderen als technischen Zwecken. Je
mehr die technologische Rationalität, von ihren ausbeuterischen
Zügen befreit, die gesellschaftliche Produktion bestimmt, desto
abhängiger wird sie von der politischen Lenkung — von der
kollektiven Anstrengung, ein befriedetes Dasein zu erreichen
mit den Zielen, die sich freie Individuen setzen können.
»Befriedung des Daseins« will keine Akkumulation von
Macht nahlegen, sondern eher das Gegenteil. Friede und Macht,
Freiheit und Macht, Eros und Macht können durchaus Gegen246
sätze sein! Ich werde jetzt zu zeigen versuchen, daß der Umbau
der materiellen Basis der Gesellschaft im Hinblick auf Befriedung eine qualitative wie quantitative Verringerung der Macht
mit sich bringen kann, um den Raum und die Zeit zur Entwicklung der Produktivität unter autonomen Antrieben zu schaffen.
Der Begriff einer solchen Aufhebung der Macht ist ein treibendes
Motiv in der dialektischen Theorie.
In dem Maße, wie das Ziel der Befriedung den Logos der
Technik bestimmt, ändert es das Verhältnis zwischen der Technik und ihrem ursprünglichen Gegenstand, der Natur. Befriedung setzt Herrschaft über die Natur voraus, die das dem sich
entwickelnden Subjekt entgegengesetzte Objekt ist und bleibt.
Aber es gibt zwei Arten von Herrschaft: eine repressive und
eine befreiende. Letztere zieht die Verringerung von Elend, Gewalt und Grausamkeit nach sich. In der Natur wie in der Geschichte ist der Kampf ums Dasein das Zeichen von Knappheit,
Leiden und Mangel. Sie sind die Qualitäten der blinden Materie, des Reichs der Unmittelbarkeit, worin das Leben sein Dasein passiv erleidet. Dieses Reich wird allmählich im Laufe der
historischen Umgestaltung der Natur vermittelt; es wird ein Teil
der Menschenwelt. Insoweit sind die Qualitäten der Natur historische Qualitäten. Im Prozeß der Zivilisation hört die Natur in
dem Maße auf, bloße Natur zu sein, wie der Kampf blinder
Kräfte begriffen und im Licht der Freiheit beherrscht wird7.
Geschichte ist die Negation von Natur. Was bloß natürlich
ist, wird durch die Macht der Vernunft überwunden und wiederhergestellt. Die metaphysische Vorstellung, daß die Natur in der
Geschichte zu sich selbst kommt, verweist auf die noch unaufgehobenen Grenzen der Vernunft. Sie behauptet sie als geschichtliche Grenzen — als eine noch nicht vollendete Aufgabe oder
vielmehr als eine, die erst zu unternehmen ist. Wenn Natur
an sich ein rationaler, legitimer Gegenstand der Wissenschaft ist,
7 Hegels Begriff der Freiheit setzt durchweg Bewußtsein voraus (in Hegels Terminologie: Selbstbewußtsein). Die »Verwirklichung« der Natur ist folglich nicht das
Werk der Natur selbst und kann es niemals sein. Aber sofern die Natur an sich
negativ ist (d. h. ihrem eigenen Dasein nach mangelhaft), ist die geschichtliche Umgestaltung der Natur durch den Menschen als die Überwindung dieser Negativität
die Befreiung der Natur. Oder, in Hegels Worten, die Natur ist ihrem Wesen nach
nichtnatürlich — »Geist«.
247
dann ist sie der legitime Gegenstand der Vernunft nicht nur als
Macht, sondern auch der Vernunft als Freiheit; nicht nur der
Herrschaft, sondern auch der Befreiung. Mit dem Aufstieg des
Menschen als des animal rationale - befähigt, die Natur im Einklang mit den Vermögen des Geistes und den Potenzen der Materie umzugestalten - nimmt das bloß Natürliche als das unter
der Vernunft Stehende einen negativen Status an. Es wird zu
einem von der Vernunft zu begreifenden und zu organisierenden
Reich.
Und in dem Maße, wie es der Vernunft gelingt, die Materie
rationalen Maßstäben und Zielen zu unterwerfen, erscheint alles
vorrationale Dasein als Mangel und Not, und deren Verringerung wird zur geschichtlichen Aufgabe. Leiden, Gewalt und
Zerstörung sind ebenso Kategorien der natürlichen wie der
menschlichen Realität, Kategorien eines hilflosen und herzlosen
Universums. Die schreckliche Vorstellung, daß das vorrationale
Leben der Natur dazu bestimmt sei, für immer ein solches Universum zu bleiben, ist weder philosophisch noch wissenschaftlich;
sie wurde von einer anderen Autorität ausgesprochen:
»Als der Verein zur Verhütung von Grausamkeit an Tieren den Papst um Unterstützung bat, verweigerte er sie mit der
Begründung, daß die Menschen den tiefer stehenden Tieren keine
Pflicht schulden und daß die Mißhandlung von Tieren keine
Sünde ist, und zwar deshalb, weil Tiere keine Seele haben8.«
Der Materialismus, der vom Makel eines solchen ideologischen
Mißbrauchs der Seele frei ist, hat einen umfassenderen und realistischeren Begriff des Heils. Er gesteht der Hölle Realität nur
an einem bestimmten Ort zu, hier auf Erden, und erklärt, daß
diese Hölle durch den Menschen (und die Natur) hervorgebracht
wurde. Zu dieser Hölle gehört die Mißhandlung von Tieren — das
Werk einer menschlichen Gesellschaft, deren Rationalität noch
immer das Irrationale ist.
Alle Freude und alles Glück entspringen der Fähigkeit, die
Natur zu transzendieren — eine Transzendenz, bei der die Na8 Zitiert nach Bertrand Russell, Unpopular Essays, New York: Simon and Schuster,
1950, S. 76.
248
turbeherrschung selbst der Befreiung und Befriedung des Daseins untergeordnet ist. Alle Stille, alles Entzücken ist das Ergebnis bewußter Vermittlung, von Autonomie und Widerspruch. Die
Verherrlichung des Natürlichen gehört zu der Ideologie, die eine
unnatürliche Gesellschaft in ihrem Kampf gegen die Befreiung
schützt. Die Diffamierung der Geburtenkontrolle ist ein schlagendes Beispiel. In einigen rückständigen Gebieten der Welt ist es
auch »natürlich«, daß die schwarzen Rassen den Weißen unterlegen sind, daß den Letzten die Hunde beißen und daß das
Geschäft sein muß. Es ist auch natürlich, daß die großen Fische
die kleinen fressen — obgleich das den kleinen Fischen nicht natürlich erscheinen mag. Die Zivilisation bringt die Mittel hervor,
die Natur von ihrer eigenen Brutalität, ihrer eigenen Unzulänglichkeit, ihrer eigenen Blindheit zu befreien — vermöge der erkennenden und verändernden Macht der Vernunft. Und die Vernunft kann diese Funktion nur als nachtechnologische Rationalität erfüllen, bei der die Technik selbst das Mittel der Befriedung ist, das Organon der »Kunst des Lebens«. Die Funktion
der Vernunft fällt dann mit der Funktion der Kunst zusammen.
Die griechische Vorstellung von der Affinität von Kunst und
Technik mag das fürs erste veranschaulichen. Der Künstler besitzt die Ideen, die als Endursachen die Herstellung bestimmter
Dinge leiten — ganz wie der Ingenieur die Ideen besitzt, die als
Endursachen die Herstellung einer Maschine leiten. Zum Beispiel
bestimmt die Idee einer Bleibe für menschliche Wesen den Bau
eines Hauses durch den Architekten; die Idee einer alles umfassenden nuklearen Explosion bestimmt die Herstellung des
Apparats, der diesem Zweck dienen soll. Die Hervorhebung des
wesentlichen Verhältnisses zwischen Kunst und Technik verweist
auf die spezifische Rationalität der Kunst.
Wie die Technik bringt die Kunst ein anderes Universum von
Denken und Praxis gegen das bestehende und innerhalb seiner
hervor. Aber im Gegensatz zum technischen Universum ist das
der Kunst eines der Illusion, des Scheins. Jedoch ähnelt dieser
Schein einer Wirklichkeit, die als Bedrohung und Versprechen
der etablierten besteht9. In verschiedenen Formen von Masken
9 Cf. Kapitel 3.
249
und Verschweigen ist das Universum der Kunst durch die Bilder
eines Lebens ohne Angst organisiert — in Masken und Schweigen,
weil die Kunst es nicht vermag, dieses Leben herbeizuführen, geschweige denn, es angemessen darzustellen. Und doch bezeugt die
machtlose, scheinhafte Wahrheit der Kunst (die niemals machtloser und scheinhafter gewesen ist als heute, wo sie zu einem
allgegenwärtigen Bestandteil der verwalteten Gesellschaft geworden ist) die Gültigkeit ihrer Bilder. Je schreiender die Irrationalität der Gesellschaft wird, desto größer wird die Rationalität des Universums der Kunst.
Die technologische Zivilisation stellt ein spezifisches Verhältnis von Kunst und Technik her. Ich erwähnte oben den Gedanken einer Umkehrung des Drei-Stadien-Gesetzes und einer »Neubewertung« der Metaphysik auf der Basis der wissenschaftlichen
und technischen Umgestaltung der Welt. Derselbe Gedanke kann
jetzt auf das Verhältnis von Wissenschaft und Technik auf der
einen Seite und Kunst auf der anderen ausgedehnt werden. Die
Rationalität der Kunst, ihre Fähigkeit, Dasein zu »entwerfen«,
noch nicht verwirklichte Möglichkeiten zu bestimmen, ließe sich
dann ins Auge fassen als in der wissenschaftlich-technischen Umgestaltung der Welt bestätigt und in ihr funktionierend. Anstatt
eine Magd des bestehenden Apparats zu sein, der sein Geschäft
und sein Elend verschönt, würde Kunst zu einer Technik, dieses
Geschäft und dieses Elend zu zerstören.
Die technologische Rationalität der Kunst scheint gekennzeichnet durch eine ästhetische »Reduktion«:
»Die Kunst weiß den Apparat, dessen die äußere Erscheinung
zu ihrer Selbsterhaltung bedarf, zu den Grenzen zurückzuführen ..., innerhalb welcher das Äußere die Manifestation der
geistigen Freiheit sein kann.«10
Nach Hegel reduziert die Kunst die unmittelbare Zufälligkeit,
in der ein Objekt (oder eine Totalität von Objekten) existiert,
auf einen Zustand, worin das Objekt die Form und Qualität
der Freiheit annimmt. Solche Umformung ist deshalb eine Reduktion, weil der Status des Zufälligen unter Erfordernissen
10 Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik in: Sämtliche Werke, Glockner, Band 12,
S. 217 f.
250
leidet, die ihm äußerlich sind und seiner freien Verwirklichung
im Wege stehen. Diese Erfordernisse bilden insofern einen
»Apparat«, als sie nicht bloß natürlich sind, sondern vielmehr
freier vernünftiger Veränderung und Entwicklung unterworfen.
So zerbricht die künstlerische Umgestaltung das Naturobjekt,
aber das Zerbrochene ist selbst ein Unterdrücktes; damit ist
ästhetische Umgestaltung Befreiung.
Die ästhetische Reduktion erscheint in der technischen Umgestaltung der Natur, wo und wenn es ihr gelingt, Herrschaft und
Befreiung zu verknüpfen, Herrschaft zur Befreiung hinzulenken.
In diesem Fall verringert der Sieg über die Natur deren Blindheit, Grausamkeit und Fruchtbarkeit — was einschließt, daß sich
die Grausamkeit des Menschen gegenüber der Natur verringert.
Die Bebauung des Bodens ist qualitativ verschieden von seiner
Zerstörung, die Gewinnung natürlicher Ressourcen von Raubbau, die Lichtung der Wälder von einfachem Abholzen. Armut,
Krankheit und krebsartige Wucherungen sind ebenso natürliche
wie menschliche Übel — ihre Verringerung und Beseitigung ist
die Befreiung des Lebens. Die Zivilisation hat diese »andere«,
befreiende Umgestaltung in ihren Gärten, Parkanlagen und
Schutzgebieten erreicht. Aber außerhalb dieser kleinen, geschützten Bezirke hat sie die Natur so behandelt, wie sie den Menschen
behandelt hat — als ein Instrument destruktiver Produktivität.
In die Technik der Befriedung würden ästhetische Kategorien
in dem Maße eingehen, wie die produktive Maschinerie im Hinblick auf ein freies Spiel der Anlagen aufgebaut wird. Aber gegen allen »technischen Eros« und ähnliche Mißverständnisse
»kann die Arbeit nicht Spiel werden«. Diese Feststellung von
Marx schließt jede romantische Interpretation der »Aufhebung
der Arbeit« streng aus. Die Idee eines solchen Milleniums ist in
der fortgeschrittenen industriellen Zivilisation so ideologisch wie
sie im Mittelalter war und vielleicht noch ideologischer. Denn
der Kampf des Menschen mit der Natur wird immer mehr ein
Kampf mit seiner Gesellschaft, deren Zwänge gegenüber dem
Individuum »rationeller« und deshalb notwendiger als je zuvor
werden. Während jedoch das Reich der Notwendigkeit fortbesteht, würde seine Organisation im Hinblick auf qualitativ
andere Zwecke nicht nur die Weise, sondern auch das Ausmaß
251
gesellschaftlich notwendiger Produktion ändern. Und diese Änderung wiederum würde sich auf die menschlichen Träger der
Produktion und ihre Bedürfnisse auswirken:
»Die freie Zeit ... hat ihren Besitzer natürlich in ein andres
Subjekt verwandelt und als dies andre Subjekt tritt er dann in
den unmittelbaren Produktionsprozeß«.11
Ich habe wiederholt den geschichtlichen Charakter der menschlichen Bedürfnisse hervorgehoben. Oberhalb des Animalischen
werden in einer freien und vernünftigen Gesellschaft selbst
die Lebensnotwendigkeiten andere sein als diejenigen, die in
einer irrationalen und unfreien Gesellschaft und für diese produziert werden. Wiederum ist es der Begriff der »Reduktion«,
der den Unterschied veranschaulichen kann.
Im gegenwärtigen Zeitalter ist der Sieg über den Mangel noch
immer auf kleine Bereiche der fortgeschrittenen Industriegesellschaft beschränkt. Ihr Wohlstand verdeckt das Inferno innerhalb und außerhalb ihrer Grenzen; er verbreitet auch eine repressive Produktivität und »falsche Bedürfnisse«. Er ist genau in
dem Maße repressiv, wie er die Befriedigung von Bedürfnissen
fördert, die es nötig machen, die Hetzjagd fortzusetzen, um mit
seinesgleichen und dem eingeplanten vorzeitigen Verschleiß
Schritt zu halten, wie er es fördert, die Befreiung davon, sein
Hirn zu benutzen, auch noch zu genießen und mit den Destruktionsmitteln und für sie zu arbeiten. Die offenkundigen Bequemlichkeiten, wie sie von dieser Art Produktivität hervorgebracht
werden, ja die Unterstützung, die sie einem System profitabler
Herrschaft zuteil werden läßt, erleichtern ihren Import in weniger fortgeschrittene Gebiete der Welt, wo die Einführung eines
solchen Systems immer noch einen kolossalen Fortschritt in technischer und menschlicher Hinsicht bedeutet.
Die enge Wechselbeziehung zwischen technischem und politisch-manipulativem Bescheidwissen, zwischen profitabler Produktivität und Herrschaft leiht jedoch dem Sieg über den Mangel die Waffen, die Befreiung einzudämmen. In hohem Maße
ist es die reine Quantität der Güter, Dienstleistungen, Arbeit
und Erholung in den überentwickelten Ländern, die dieses Ein11 Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, loc. cit., S. 599.
252
dämmen bewirkt. Eine qualitative Änderung scheint demzufolge
eine quantitative Änderung im fortgeschrittenen Lebensstandard vorauszusetzen, nämlich eine Reduktion der Überentwicklung.
Der in den meisten fortgeschrittenen industriellen Gebieten
erreichte Lebensstandard ist kein geeignetes Entwicklungsmodell,
wenn Befriedung das Ziel ist. Im Hinblick darauf, was dieser
Standard aus Mensch und Natur gemacht hat, ist wiederum die
Frage zu stellen, ob er der Opfer wert ist, die seiner Verteidigung
gebracht werden. Die Frage hat aufgehört, unverantwortlich zu
sein, seitdem die »Gesellschaft im Überfluß« eine fortwährende
Mobilisation gegen das Risiko der Vernichtung geworden ist und
der Verkauf ihrer Güter einhergeht mit Verblödung, Verewigung
harter Arbeit und der Beförderung von Enttäuschungen.
Unter diesen Umständen bedeutet die Befreiung von der
Überflußgesellschaft keine Rückkehr zu gesunder und robuster
Armut, moralischer Sauberkeit und Einfachheit. Im Gegenteil,
das Beseitigen profitabler Verschwendung würde den zur Verteilung verfügbaren gesellschaftlichen Reichtum vermehren, und
das Ende der fortwährenden Mobilisierung würde das gesellschaftliche Bedürfnis verringern, Befriedigungen zu verweigern,
die solche des Individuums selber sind — Versagungen, die jetzt
durch den Kult der Gesundheit, Stärke und Ordnung kompensiert werden.
Heute, im gedeihenden Kriegsführungs- und Wohlfahrtsstaat,
scheinen die menschlichen Qualitäten eines befriedeten Daseins
asozial und unpatriotisch — Qualitäten wie die Absage an alle
Härte, Kumpanei und Brutalität; Ungehorsam gegenüber der
Tyrannei der Mehrheit; das Eingeständnis von Angst und
Schwäche (die vernünftigste Reaktion gegenüber dieser Gesellschaft!); eine empfindliche Intelligenz, die Ekel empfindet angesichts dessen, was verübt wird; der Einsatz für die schwächlichen und verhöhnten Aktionen des Protestes und der Weigerung. Auch diese Äußerungen der Humanität werden durch den
notwendigen Kompromiß beeinträchtigt — durch das Bedürfnis,
sich zu decken, imstande zu sein, die Betrüger zu betrügen, ihnen
zum Trotz zu leben und zu denken. In der totalitären Gesellschaft tendieren die menschlichen Haltungen dazu, eskapistisch
253
zu werden und Samuel Becketts Rat zu befolgen: »Don't wait
to be hunted to hide ...«
Selbst ein solch persönliches Zurückziehen der geistigen und
physischen Energie von den gesellschaftlich erforderten Aktivitäten und Einstellungen ist heute nur wenigen möglich; es ist
nur ein inkonsequenter Aspekt der Neuorientierung der Energie, die der Befriedung vorausgehen muß. Außerhalb des persönlichen Bereichs setzt Selbstbestimmung frei verfügbare Energie voraus, die nicht in aufgenötigter materieller und geistiger
Arbeit verausgabt wird. Sie muß auch in dem Sinne freie Energie sein, daß sie nicht in die Beschäftigung mit Gütern und
Dienstsleistungen abkanalisiert wird, die das Individuum befriedigen und zugleich unfähig machen, zu einem eigenen Dasein zu
gelangen, außerstande, die Möglichkeiten zu erfassen, die durch
diese Befriedigung zurückgedrängt werden. Komfort, Geschäft
und berufliche Sicherheit können in einer Gesellschaft, die sich
auf und gegen nukleare Zerstörung vorbereitet, als allgemeines
Beispiel versklavender Zufriedenheit dienen. Die Befreiung der
Energie von den Verrichtungen, deren es bedarf, um den destruktiven Wohlstand aufrechtzuerhalten, bedeutet, daß der Standard
der Knechtschaft herabgesetzt wird, um die Menschen zu befähigen, diejenige Rationalität zu entwickeln, die ein befriedetes
Dasein ermöglichen kann.
Ein neuer Lebensstandard, der Befriedung des Daseins angepaßt, setzt auch voraus, daß die künftige Bevölkerung abnimmt. Ist es verständlich, ja vernünftig, daß die industrielle
Zivilisation das Hinschlachten von Millionen Menschen im
Kriege und die täglichen Opfer all derer als legitim ansieht,
denen es an zureichender Pflege und Schutz fehlt, aber ihre
moralischen und religiösen Skrupel entdeckt, wenn es sich darum
handelt, das Hervorbringen weiteren Lebens in einer Gesellschaft zu vermeiden, die immer noch auf die geplante Vernichtung von Leben im nationalen Interesse und auf den ungeplanten Verlust des Lebens für private Interessen abgestellt ist. Diese
moralischen Skrupel sind verständlich und vernünftig, weil eine
solche Gesellschaft einer stets zunehmenden Zahl von Kunden
und Anhängern bedarf; die beständig erneuerte, überschüssige
Kapazität muß bewältigt werden.
254
Die Erfordernisse profitabler Massenproduktion sind jedoch
nicht notwendig mit denen der Menschheit identisch. Das Problem besteht nicht (und vielleicht nicht einmal in erster Linie)
darin, die wachsende Bevölkerung angemessen zu ernähren
und zu versorgen — es ist zunächst ein Problem der Zahl, der
bloßen Quantität. Die Anklage, die Stefan George vor einem
halben Jahrhundert aussprach, enthält mehr als dichterische Freiheit: »Schon eure Zahl ist Frevel!«
Das Verbrechen ist das einer Gesellschaft, in der die zunehmende Bevölkerung den Kampf ums Dasein angesichts seiner
möglichen Linderung verschärft. Der Drang nach mehr »Lebensraum« macht sich nicht nur in internationaler Aggressivität geltend, sondern auch innerhalb der Nation. Hier ist die Expansion
in allen Formen der Zusammenarbeit, des Gemeinschaftslebens
und Vergnügens in den Innenraum der Privatsphäre eingedrungen und hat praktisch die Möglichkeit jener Isolierung ausgeschaltet, in der das Individuum, allein auf sich zurückgeworfen,
denken, fragen und etwas herausfinden kann. Diese Art Privatsphäre - die einzige Bedingung, die auf der Basis befriedigter
Lebensbedürfnisse der Freiheit und Unabhängigkeit des Denkens Sinn verleihen kann - ist seit langem zur teuersten Ware
geworden, nur den sehr Reichen verfügbar (die keinen Gebrauch
von ihr machen). Auch in dieser Hinsicht offenbart die »Kultur«
ihre feudalen Ursprünge und Schranken. Sie kann nur durch die
Abschaffung der Massendemokratie demokratisch werden, wenn
es nämlich der Gesellschaft gelingt, die Vorrechte der Privatsphäre wiederherzustellen, indem sie sie allen gewährt und bei
jedem einzelnen schützt.
Der Verweigerung der Freiheit und selbst ihrer Möglichkeit
entspricht, daß Ungebundenheit dort gewährt wird, wo sie die
Unterdrückung stärkt. Der Grad, in dem es der Bevölkerung gestattet ist, den Frieden zu stören, wo immer es noch Friede und
Stille gibt, unangenehm aufzufallen und die Dinge zu verhäßlichen, vor Vertraulichkeit überzufließen und gegen die guten Formen zu verstoßen, ist beängstigend. Beängstigend, weil er die
gesetzliche, ja organisierte Anstrengung ausdrückt, das ureigene
Recht des Nächsten nicht anzuerkennen, Autonomie selbst in einer
kleinen, reservierten Daseinssphäre zu verhindern. In den über255
entwickelten Ländern wird ein immer größer werdender Bevölkerungsanteil zu einem einzigen, ungeheuer großen, gefangenen
Publikum — gefangen nicht von einem totalitären Regime, sondern von den Zügellosigkeiten der Bürger, deren Vergnügungsund Erbauungsmedien einen zwingen, ihre Töne, ihren Anblick
und ihre Gerüche über sich ergehen zu lassen.
Kann eine Gesellschaft, die außerstande ist, das private Dasein des Individuums auch nur in den eigenen vier Wänden zu
schützen, rechtmäßig behaupten, daß sie das Individuum achtet
und eine freie Gesellschaft ist? Sicher ist eine freie Gesellschaft
durch mehr und grundlegendere Errungenschaften gekennzeichnet als durch private Autonomie. Und doch beeinträchtigt deren
Fehlen selbst die augenfälligsten Institutionen der ökonomischen
und politischen Freiheit — dadurch, daß in ihren verborgenen
Wurzeln keine Freiheit anerkannt wird. Die massive Vergesellschaftung beginnt zu Hause und hemmt die Entwicklung des
Bewußtseins und Gewissens. Autonomie zu erreichen, erfordert
Bedingungen, unter denen die unterdrückten Dimensionen
der Erfahrung wieder lebendig werden können; ihre Befreiung
erfordert die Unterdrückung der heteronomen Bedürfnisse
und Weisen der Befriedigung, die das Leben in dieser Gesellschaft organisieren. Je mehr sie zu den eigenen Bedürfnissen
und Befriedigungen des Individuums geworden sind, desto mehr
erschiene ihre Unterdrückung als eine nur zu fatale Beraubung.
Aber gerade infolge dieses fatalen Charakters kann sie die
erste subjektive Vorbedingung schaffen für eine qualitative
Änderung — nämlich die Neubestimmung der Bedürfnisse.
Um ein (leider phantastisches) Beispiel zu wählen: die bloße
Abwesenheit aller Reklame und aller schulenden Informationsund Unterhaltungsmedien würde das Individuum in eine traumatische Leere stürzen, in der es die Chance hätte, sich zu wundern, nachzudenken, sich (oder vielmehr seine Negativität) und
seine Gesellschaft zu erkennen. Seiner falschen Väter, Führer,
Freunde und Vertreter beraubt, hätte es wieder sein ABC zu
lernen. Aber die Wörter und Sätze, die es bilden würde, könnten
völlig anders ausfallen, ebenso seine Wünsche und Ängste.
Sicher wäre eine solche Situation ein unerträglicher Alptraum.
Während die Menschen die beständige Herstellung nuklearer
256
Waffen, radioaktiven Regens und fragwürdiger Lebensmittel
unterstützen können, können sie (aus eben diesem Grunde!) nicht
dulden, daß sie der Unterhaltung und Erziehung beraubt werden, die sie dazu befähigen, die Vorkehrungen für ihre Verteidigung und oder Vernichtung zu reproduzieren. Das NichtFunktionieren des Fernsehens und verwandter Medien könnte
so erreichen, was die immanenten Widersprüche des Kapitalismus
nicht erreichten — den Zerfall des Systems. Die Erzeugung repressiver Bedürfnisse ist seit langem zum Bestandteil gesellschaftlich notwendiger Arbeit geworden — notwendig in dem Sinne,
daß ohne sie die bestehende Produktionsweise nicht aufrechterhalten werden könnte. Es geht weder um Probleme der Psychologie noch der Ästhetik, sondern um die materielle Basis der
Herrschaft.
257
10 Beschluß
Die fortschreitende eindimensionale Gesellschaft verändert das
Verhältnis zwischen dem Rationalen und dem Irrationalen. Vor
dem Hintergrund der phantastischen und wahnwitzigen Aspekte
ihrer Rationalität wird der Bereich des Irrationalen zur Stätte
des wirklich Rationalen — der Ideen, die »die Kunst des Lebens
befördern« können. Wenn die bestehende Gesellschaft jede normale Kommunikation verwaltet und im Einklang mit den gesellschaftlichen Erfordernissen bekräftigt oder schwächt, dann
haben vielleicht die Werte, die diesen Erfordernissen fremd sind,
kein anderes Medium, in dem sie kommuniziert werden können,
als das abnorme der Dichtung. Die ästhetische Dimension bewahrt sich noch eine Freiheit des Ausdrucks, die den Schriftsteller
und Künstler befähigt, Menschen und Dinge bei ihrem Namen
zu nennen — das sonst Unnennbare zu nennen.
Das wirkliche Gesicht unserer Zeit zeigt sich in Samuel Becketts
Romanen; ihre wirkliche Geschichte wird in Rolf Hochhuths
Stück Der Stellvertreter geschrieben. Hier spricht keine Einbildungskraft mehr, sondern die Vernunft, in einer Wirklichkeit,
die alles rechtfertigt und alles freispricht — außer der Sünde wider
ihren Geist. Die Einbildungskraft dankt vor dieser Wirklichkeit
ab, welche die Einbildungskraft einholt und überholt. Auschwitz
lebt immer noch fort, nicht in der Erinnerung, wohl aber in den
vielfältigen Leistungen des Menschen — den Raumflügen, den
Raketen und raketengesteuerten Geschossen, dem »labyrinthischen Erdgeschoß unter der Imbißhalle«, den hübschen elektronischen Fabriken, sauber, hygienisch und mit Blumenbeeten, dem
Giftgas, das den Menschen in Wirklichkeit gar nicht schadet, dem
Geheimnis, in das wir alle eingeweiht sind. So sieht das Gefüge
aus, in dem die großen menschlichen Errungenschaften in Naturwissenschaft, Medizin und Technik statthaben; die Anstrengungen, das Leben zu retten und zu verbessern, sind das einzige
Versprechen im Unheil. Das bewußte Spiel mit phantastischen
Möglichkeiten, die Fähigkeit, mit gutem Gewissen zu handeln,
contra naturam, mit Menschen und Dingen zu experimentieren,
Illusionen in Wirklichkeit zu verwandeln und Erdichtetes in
Wahrheit, bezeugen das Ausmaß, in dem die Einbildungskraft
258
ein Instrument des Fortschritts geworden ist. Ein Instrument
freilich, das, wie andere Instrumente in den bestehenden Gesellschaften, methodisch mißbraucht wird. Indem sie Schrittmacher
der Politik wird und deren Stil bestimmt, geht die Einbildungskraft im Umgang mit den Worten weit über Alice in Wonderland
hinaus und verkehrt Sinn in Unsinn, Unsinn in Sinn.
Die ehedem antagonistischen Bereiche verschmelzen auf technischem und politischem Boden — Magie und Wissenschaft, Leben
und Tod, Freude und Elend. Die Schönheit offenbart ihren Terror in nuklearen Fabriken, die an vorderer Stelle stehen, und
Laboratorien werden zu »Industrieparks« in angenehmer Umgebung; das Civil Defense Headquarters stellt einen »erstklassigen
Bunker gegen atomaren Niederschlag« zur Schau, ganz mit Teppichstoff ausgelegt (»weich«), mit Klubsesseln, Fernsehen und
Brettspielen, »entworfen als kombiniertes Zimmer für die Familie
in Friedenszeiten (sic!) und als Familienbunker gegen Atomniederschläge, sollte der Krieg ausbrechen«1. Wenn das Grauenhafte solcher Vorstellungen nicht ins Bewußtsein eindringt, wenn
es sogleich als selbstverständlich hingenommen wird, so deshalb,
weil diese Errungenschaften a) im Sinne der bestehenden Ordnung völlig rational und b) Zeichen menschlicher Erfindungsgabe und Macht sind, die über die traditionellen Grenzen der
Phantasie hinausgehen.
Die abstoßende Verschmelzung von Ästhetik und Wirklichkeit
widerlegt die Philosophien, die die »poetische« Einbildung der
wissenschaftlichen und empirischen Vernunft entgegensetzen. Der
technische Fortschritt ist von einer zunehmenden Rationalisierung, ja Verwirklichung des Imaginären begleitet. Die Archetypen des Grauens wie der Freude, des Krieges wie des Friedens
verlieren ihren katastrophischen Charakter. Ihr Erscheinen im
täglichen Leben der Individuen ist nicht mehr das von irrationalen Kräften — ihre modernen Ersatzgötter sind Elemente technischer Herrschaft und ihr unterworfen.
Indem sie den romantischen Raum der Phantasie einengt, ja
beseitigt, hat die Gesellschaft die Phantasie gezwungen, sich auf
l Nach: The New York Times, Ausgabe vom 11. November 1960, ausgestellt im New
York Civil Defense Headquarters, Lexington Ave. und Fifty-Fifth Street.
259
einem neuen Boden zu bewähren, auf dem ihre Bilder in geschichtlich wirksame Fähigkeiten und Entwürfe übersetzt werden. Die Übersetzung mag so schlecht und verzerrt sein wie die
Gesellschaft, die sie vornimmt. Getrennt vom Bereich der materiellen Produktion und der materiellen Bedürfnisse, war Phantasie ein bloßes Spiel, untauglich im Reich der Notwendigkeit
und nur einer phantastischen Logik und einer phantastischen
Wahrheit verpflichtet. Wenn der technische Fortschritt diese
Trennung beseitigt, so stattet er die Bilder mit seiner eigenen
Logik und Wahrheit aus; er schmälert das freie Vermögen des
Geistes. Aber er verringert auch die Kluft zwischen Phantasie
und Wissenschaft. Die beiden antagonistischen Vermögen werden auf gemeinsamem Boden voneinander abhängig. Ist nicht
angesichts der Leistungsfähigkeit der fortgeschrittenen industriellen Zivilisation alles Spiel der Phantasie ein Spiel mit
technischen Möglichkeiten, die geprüft werden können, wie weit
sie zu verwirklichen sind? Die romantische Idee einer »Wissenschaft der Einbildungskraft« scheint einen stets empirischer werdenden Aspekt anzunehmen.
Der wissenschaftliche, rationale Charakter der Phantasie ist
seit langem in der Mathematik, in den Hypothesen und Experimenten der Naturwissenschaften anerkannt. Er wird gleichermaßen anerkannt in der Psychoanalyse, die theoretisch auf der
Annahme einer spezifischen Rationalität des Irrationalen beruht; umgeleitet, wird die begriffene Phantasie zu einer therapeutischen Kraft. Diese aber kann viel weiter gehen als bis zur
Heilung von Neurosen. Kein Dichter, sondern ein Wissenschaftler hat diese Aussicht umrissen:
»Toute une psychanalyse matérielle peut ... nous aider à
guérir de nos images, ou du moins nous aider à limiter l'emprise
de nos images. On peut alors espérer ... pouvoir rendre
l'imagination heureuse, autrement dit, pouvoir donner bonne
conscience à l'imagination, en lui accordant pleinement tous ses
moyens d'expression, toutes les images matérielles qui se produisent dans les rêves naturels, dans l'activité onorique normale.
Rendre heureuse l'imagination, lui accorder toute son exubérance, c'est précisément donner à l'imagination sa véritable
fonction d'entraînement psychique«.2
260
Die Phantasie ist gegenüber dem Prozeß der Verdinglichung
nicht immun geblieben. Wir sind besessen von unseren Imagines
und leiden unter ihnen. Das wußte die Psychoanalyse und kannte
die Konsequenzen. Es wäre jedoch Regression, wollte man »der
Phantasie alle Ausdrucksmittel gewähren«. Die verstümmelten
Individuen (verstümmelt auch in ihrer Einbildungskraft) würden noch mehr organisieren und zerstören als ihnen jetzt gestattet ist. Eine solche Freisetzung wäre das ungemilderte
Grauen — nicht die Katastrophe der Kultur, sondern das freie
Spiel ihrer regressivsten Tendenzen. Rational ist diejenige Phantasie, die zum Apriori werden kann, das darauf abzielt, den
Produktionsapparat umzubauen und umzudirigieren in Richtung auf ein befriedetes Dasein, ein Leben ohne Angst. Und das
kann niemals die Phantasie jener sein, die von den Bildern der
Herrschaft und des Todes besessen sind.
Eine Befreiung der Phantasie, die es vermöchte, ihr alle Ausdrucksmittel zu gewähren, setzt die Unterdrückung von vielem
voraus, was jetzt frei ist und eine repressive Gesellschaft verewigt. Und ein solcher Umschlag ist nicht Sache der Psychologie
und Ethik, sondern der Politik in dem Sinne, wie dieser Begriff
hier durchweg benutzt wurde: diejenige Praxis, in der die
grundlegenden gesellschaftlichen Institutionen entwickelt, bestimmt, aufrechterhalten und verändert werden. Sie ist die
Praxis von Individuen, ganz gleich, wie sie organisiert sein
mögen. So muß die Frage noch einmal ins Auge gefaßt werden:
wie können die verwalteten Individuen - die ihre Verstümmelung zu ihrer eigenen Freiheit und Befriedigung gemacht haben
und sie damit auf erweiterter Stufenleiter reproduzieren - sich
von sich selbst wie von ihren Herren befreien? Wie ist es auch
nur denkbar, daß der circulus vitiosus durchbrochen wird?
2 »Eine umfassende materiale Psychoanalyse kann . . . uns helfen, uns von unseren
Imagines zu heilen oder zumindest dabei, die Macht unserer Imagines zu beschränken. Man kann deshalb hoffen . . ., die Phantasie glücklich machen zu können,
mit anderen Worten, der Imagination ein gutes Gewissen zu verleihen, indem ihr
alle Ausdrucksmittel voll zugestanden werden, alle materiellen Imagines, die in
natürlichen Träumen entstehen, in der normalen Traumtätigkeit. Die Phantasie
glücklich zu machen, ihr den ganzen Überschwang zu gewähren, das heißt eben,
der Phantasie zu ihrer wahren Funktion als psychischem Impuls und Antrieb zu
verhelfen.« Gaston Bachelard, Le Matérialisme rationnel, Paris, Presses Universitaires, I953, S. 18 (Hervorhebungen von Bachelard).
26l
Paradoxerweise scheint nicht die Vorstellung neuer gesellschaftlicher Institutionen die größte Schwierigkeit zu bieten bei
dem Versuch, diese Frage zu beantworten. Die bestehenden Gesellschaften selbst schicken sich an, die grundlegenden Institutionen im Sinne erhöhter Planung zu verändern oder haben
es bereits getan. Da die Entwicklung und Nutzung aller verfügbaren Ressourcen zur allseitigen Befriedigung der Lebensbedürfnisse die Vorbedingung der Befriedung ist, ist diese unvereinbar
damit, daß partikulare Interessen vorherrschen, die dem Erreichen dieses Ziels im Wege stehen. Qualitative Änderung hängt
davon ab, daß für das Ganze gegen diese Interessen geplant
wird, und eine freie und vernünftige Gesellschaft kann sich nur
auf dieser Basis erheben.
Die Institutionen, im Rahmen derer eine Befriedung ins Auge
gefaßt werden kann, widersetzen sich so der traditionellen Einteilung in autoritäre und demokratische, zentralisierte und liberale Regierungsformen. Heute dient die Opposition gegen zentrale Planung im Namen einer liberalen Demokratie, die in
Wirklichkeit verweigert wird, repressiven Interessen zur ideologischen Stütze. Das Ziel wahrhafter Selbstbestimmung der Individuen hängt ab von wirksamer sozialer Kontrolle über die
Produktion und Verteilung der lebensnotwendigen Güter (gemessen am erreichten materiellen und geistigen Kulturniveau).
Hierbei ist die von ihren ausbeuterischen Zügen befreite technologische Rationalität der einzige Maßstab und Wegweiser für
die Planung und Entwicklung der verfügbaren Ressourcen für
alle. Selbstbestimmung bei der Produktion und Verteilung
lebenswichtiger Güter und Dienstleistungen wäre verschwenderisch. Die zu bewältigende Arbeit ist eine technische Arbeit, und
als wahrhaft technische führt sie zur Abnahme körperlicher und
geistiger Mühsal. In diesem Bereich ist zentralisierte Kontrolle
rational, wenn sie die Vorbedingungen für eine sinnvolle Selbstbestimmung schafft. Diese kann sich dann in ihrem eigenen Bereich auswirken — in den Entscheidungen, zu denen die Produktion und Verteilung des ökonomischen Überschusses gehören,
und im individuellen Dasein.
Auf jeden Fall unterliegt die Verbindung von zentralisierter
Autorität und direkter Demokratie unendlich vielen Abwand262
lungen, je nach dem Entwicklungsgrad. Selbstbestimmung wird
in dem Maße real sein, wie die Massen in Individuen aufgelöst
worden sind, befreit von aller Propaganda, Schulung und Manipulation, fähig, die Tatsachen zu kennen und zu begreifen und
die Alternativen einzuschätzen. Mit anderen Worten, die Gesellschaft wäre in dem Maße vernünftig und frei, wie sie von einem
wesentlich neuen geschichtlichen Subjekt organisiert, aufrechterhalten und reproduziert wird.
Auf der gegenwärtigen Entwicklungsstufe der fortgeschrittenen Industriegesellschaften verneint das materielle ebenso wie
das kulturelle System dieses Erfordernis. Die Macht und Leistungsfähigkeit dieses Systems, die gründliche Angleichung des
Geistes an die Tatsache, des Denkens an das geforderte Verhalten, der Wünsche an die Realität wirken dem Entstehen
eines neuen Subjekts entgegen. Sie wirken auch der Vorstellung
entgegen, daß die Ersetzung der herrschenden Kontrolle über
den Produktionsprozeß durch »Kontrolle von unten« eine qualitative Veränderung ankündige. Diese Vorstellung war und ist
gültig, wo die Arbeiter die lebendige Negation und Anklage der
bestehenden Gesellschaft waren und noch sind. Wo diese Klasse
jedoch zur Stütze der herrschenden Lebensweise geworden ist,
würde ihr Aufstieg zur Kontrolle jene nur verlängern.
Und doch sind alle Tatsachen vorhanden, die die kritische
Theorie dieser Gesellschaft und ihrer schicksalhaften Entwicklung bekräftigen: zunehmende Irrationalität des Ganzen, Verschwendung und Restriktion der Produktivität, das Bedürfnis
nach aggressiver Expansion, die beständige Bedrohung durch
Krieg, verschärfte Ausbeutung, Entmenschlichung. Und all dies
verweist auf die geschichtliche Alternative: die geplante Nutzung
der Ressourcen zur Befriedigung der Lebensbedürfnisse bei einem
Minimum an harter Arbeit, die Umwandlung der Freizeit in
freie Zeit, die Befriedung des Kampfes ums Dasein.
Aber die Tatsachen und Alternativen liegen vor wie Bruchstücke, die sich nicht zusammenfügen lassen, oder wie eine Welt
stummer Objekte ohne Subjekt, ohne die Praxis, die diese Objekte in eine neue Richtung bewegen würde. Die dialektische
Theorie ist nicht widerlegt, aber sie kann kein Heilmittel bieten.
Sie kann nicht positiv sein. Freilich transzendiert der dialektische
263
Begriff die gegebenen Tatsachen, indem er sie begreift. Eben
darin liegt das Zeichen seiner Wahrheit. Er bestimmt die geschichtlichen Möglichkeiten, ja Notwendigkeiten; deren Verwirklichung aber kann nur durch diejenige Praxis erfolgen, die der
Theorie entspricht, und gegenwärtig liefert die Praxis keine
derartige Entsprechung.
Aus theoretischen wie empirischen Gründen spricht der dialektische Begriff seine eigene Hoffnungslosigkeit aus. Die menschliche Wirklichkeit ist ihre Geschichte, und in ihr explodieren die
Widersprüche nicht von selbst. Der Konflikt zwischen ultramoderner, lohnender Herrschaft auf der einen Seite und ihren
Errungenschaften, die auf Selbstbestimmung und Befriedung
hinwirken, auf der anderen, kann so schreiend werden, daß es
unmöglich wird, ihn zu leugnen, aber er kann durchaus weiterhin
ein leicht zu handhabender und sogar produktiver Konflikt sein;
denn mit der zunehmenden technischen Unterwerfung der Natur
nimmt die des Menschen durch den Menschen zu. Und diese
Unterwerfung verringert die Freiheit, die ein notwendiges
Apriori der Befreiung ist. Darin besteht Denkfreiheit in dem
einzigen Sinne, in dem das Denken in der verwalteten Welt frei
sein kann — als das Bewußtsein ihrer repressiven Produktivität
und als das absolute Bedürfnis, aus diesem Ganzen auszubrechen.
Aber eben dieses absolute Bedürfnis herrscht dort nicht, wo es
zur Triebkraft einer geschichtlichen Praxis werden könnte, zur
Wirkursache einer qualitativen Änderung. Ohne diese materielle
Gewalt bleibt auch das geschärfteste Bewußtsein ohnmächtig.
Ganz gleich, wie offenkundig der irrationale Charakter des
Ganzen sich manifestieren kann und mit ihm die Notwendigkeit
der Veränderung — die Einsicht in die Notwendigkeit hat niemals
genügt, die möglichen Alternativen zu ergreifen. Konfrontiert
mit der allgegenwärtigen Leistungsfähigkeit des gegebenen Lebenszusammenhangs, sind dessen Alternativen stets utopisch
erschienen. Und Einsicht in die Notwendigkeit, das Bewußtsein
des schlechten Zustands, wird selbst auf derjenigen Stufe nicht
genügen, auf der die Errungenschaften der Wissenschaft und das
Produktivitätsniveau die utopischen Züge der Alternativen beseitigt haben — wo eher die bestehende Wirklichkeit utopisch ist
als ihr Gegenteil.
264
Bedeutet dies, daß die kritische Theorie der Gesellschaft abdankt und das Feld einer empirischen Soziologie überläßt, die,
bar jeder theoretischen Führung außer einer methodologischen,
den Trugschlüssen einer unangebrachten Konkretheit zum Opfer
fällt und so ihren ideologischen Dienst verrichtet, während sie
die Ausschaltung aller Werturteile verkündet? Oder bezeugen
die dialektischen Begriffe wieder einmal ihre Wahrheit — indem
sie ihre Situation als die der Gesellschaft begreifen, die von ihnen
analysiert wird? Eine Antwort könnte sich aufdrängen, wenn
man die kritische Theorie an ihrem schwächsten Punkt betrachtet — ihrer Unfähigkeit, die befreienden Tendenzen innerhalb der bestehenden Gesellschaft aufzuweisen.
Als die kritische Theorie der Gesellschaft entstand, war sie mit
real vorhandenen (objektiven und subjektiven) Kräften in der
bestehenden Gesellschaft konfrontiert, die sich in Richtung auf
vernünftigere und freiere Institutionen bewegten (oder dahin
gelenkt werden konnten), indem sie die bestehenden abschafften,
die dem Fortschritt hinderlich geworden waren. Sie waren der
empirische Boden, auf dem die Theorie sich erhob, und von diesem empirischen Boden leitete sich die Idee der Befreiung der
inhärenten Möglichkeiten her — der andernfalls blockierten
und verzerrten Entwicklung der materiellen und geistigen Produktivität, Anlagen und Bedürfnisse. Ohne den Aufweis solcher
Kräfte wäre die Gesellschaftskritik zwar noch gültig und
rational, aber außerstande, ihre Rationalität in die Begriffe der
geschichtlichen Praxis zu übersetzen. Was folgt daraus? Daß
»Befreiung der inhärenten Möglichkeiten« die geschichtliche
Alternative nicht mehr angemessen ausdrückt.
Die gefesselten Möglichkeiten der fortgeschrittenen Industriegesellschaften sind: Entwicklung der Produktivkräfte in erweitertem Maßstab, Ausdehnung der Naturbeherrschung, wachsende Befriedigung der Bedürfnisse einer zunehmenden Anzahl
von Menschen, die Schaffung neuer Bedürfnisse und Anlagen.
Aber diese Möglichkeiten werden gradweise durch Mittel und
Institutionen verwirklicht, die ihr befreiendes Potential aufheben, und dieser Prozeß beeinträchtigt nicht nur die Mittel,
sondern auch die Zwecke. Zu einem totalitären System organisiert, bestimmen die Instrumente der Produktivität und des
265
Fortschritts nicht nur über die gegenwärtigen, sondern auch
die möglichen Anwendungen.
Auf ihrer fortgeschrittensten Stufe fungiert Herrschaft als
Verwaltung, und in den überentwickelten Bereichen des Massenkonsums wird das verwaltete Leben das gute Leben des Ganzen,
zu dessen Verteidigung die Gegensätze vereinigt werden. Das ist
die reine Form der Herrschaft. Umgekehrt erscheint ihre Negation als die reine Form der Negation. Aller Inhalt scheint auf
die eine abstrakte Forderung nach dem Ende der Herrschaft
reduziert — das einzige wahrhaft revolutionäre Erfordernis und
das Ereignis, das die Errungenschaften der industriellen Zivilisation bestätigen würde. Angesichts ihrer wirksamen abschlägigen
Beantwortung durch das bestehende System erscheint diese Negation in der politisch ohnmächtigen Form der »absoluten Weigerung« — eine Weigerung, die um so unvernünftiger erscheint,
je mehr das bestehende System seine Produktivität entwickelt
und die Last des Lebens erleichtert. Mit den Worten Maurice
Blanchots:
»Ce que nous refusons n'est pas sans valeur ni sans importance. C'est bien à cause de cela que le refus est nécessaire. Il y a
une raison que nous n'accepterons plus, il y a une apparence de
sagesse qui nous fait horreur, il y a une offre d'accord et de
conciliation que nous n'entendrons pas. Une rupture s'est
produite. Nous avons été ramenés à cette franchise qui ne tolère
plus la complicite3.«
Wenn aber der abstrakte Charakter der Weigerung das Ergebnis der totalen Verdinglichung ist, dann muß der konkrete
Grund für die Weigerung noch vorhanden sein; denn die Verdinglichung ist ein Schein. Aus dem nämlichen Grund muß die
Vereinigung der Gegensätze bei all ihrer Realität eine scheinhafte Vereinigung sein, die weder den Widerspruch zwischen der
3 »Was wir ablehnen, ist nicht ohne Wert oder Bedeutung. Eben deshalb bedarf es
der Weigerung. Es gibt eine Vernunft, die wir nicht mehr akzeptieren; es gibt eine
Erscheinung von Weisheit, die uns in Schrecken versetzt; es gibt die Aufforderung
zuzustimmen und sich zu versöhnen. Ein Bruch ist eingetreten. Wir sind zu einer
Freimütigkeit verhalten, die das Mittun nicht mehr duldet.« »Le Refus«, in: Le 14
juillet, Nr. 2, Paris, Oktober 1958.
266
wachsenden Produktivität und ihrer repressiven Anwendung
beseitigt noch das dringende Bedürfnis, den Widerspruch zu
lösen.
Aber der Kampf um die Lösung ist über die traditionellen
Formen hinausgewachsen. Die totalitären Tendenzen der eindimensionalen Gesellschaft machen die traditionellen Mittel und
Wege des Protests unwirksam — vielleicht sogar gefährlich, weil
sie an der Illusion der Volkssouveränität festhalten. Diese Illusion enthält ein Stück Wahrheit: »das Volk«, früher das Ferment
gesellschaftlicher Veränderung, ist »aufgestiegen«, um zum Ferment gesellschaftlichen Zusammenhalts zu werden. Eher hierin
als in der Neuverteilung des Reichtums und der Gleichstellung
der Klassen besteht die neue, für die fortgeschrittene Industriegesellschaft kennzeichnende Schichtung.
Unter der konservativen Volksbasis befindet sich jedoch das
Substrat der Geächteten und Außenseiter: die Ausgebeuteten und
Verfolgten anderer Rassen und anderer Farben, die Arbeitslosen
und die Arbeitsunfähigen. Sie existieren außerhalb des demokratischen Prozesses; ihr Leben bedarf am unmittelbarsten und
realsten der Abschaffung unerträglicher Verhältnisse und Institutionen. Damit ist ihre Opposition revolutionär, wenn auch
nicht ihr Bewußtsein. Ihre Opposition trifft das System von
außen und wird deshalb nicht durch das System abgelenkt; sie
ist eine elementare Kraft, die die Regeln des Spiels verletzt und
es damit als ein aufgetakeltes Spiel enthüllt. Wenn sie sich zusammenrotten und auf die Straße gehen, ohne Waffen, ohne
Schutz, um die primitivsten Bürgerrechte zu fordern, wissen sie,
daß sie Hunden, Steinen und Bomben, dem Gefängnis, Konzentrationslagern, selbst dem Tod gegenüberstehen. Ihre Kraft steht
hinter jeder politischen Demonstration für die Opfer von Gesetz
und Ordnung. Die Tatsache, daß sie anfangen, sich zu weigern,
das Spiel mitzuspielen, kann die Tatsache sein, die den Beginn
des Endes einer Periode markiert.
Nichts deutet darauf hin, daß es ein gutes Ende sein wird.
Die ökonomischen und technischen Kapazitäten der bestehenden
Gesellschaften sind umfassend genug, um Schlichtungen und
Zugeständnisse an die Benachteiligten zu gestatten, und ihre
bewaffneten Streitkräfte hinreichend geübt und ausgerüstet, um
mit Notsituationen fertig zu werden. Das Gespenst ist jedoch
wieder da, innerhalb und außerhalb der Grenzen der fortgeschrittenen Gesellschaften. Die sich leicht anbietende geschichtliche Parallele zu den Barbaren, die das Imperium der Zivilisation bedrohen, präjudiziert den Tatbestand; die zweite Periode
der Barbarei kann durchaus das fortbestehende Imperium der
Zivilisation selbst sein. Aber es besteht die Chance, daß die geschichtlichen Extreme in dieser Periode wieder zusammentreffen:
das fortgeschrittenste Bewußtsein der Menschheit und ihre ausgebeutetste Kraft. Aber das ist nichts als eine Chance. Die
kritische Theorie der Gesellschaft besitzt keine Begriffe, die die
Kluft zwischen dem Gegenwärtigen und seiner Zukunft überbrücken könnten; indem sie nichts verspricht und keinen Erfolg
zeigt, bleibt sie negativ. Damit will sie jenen die Treue halten,
die ohne Hoffnung ihr Leben der Großen Weigerung hingegeben
haben und hingeben.
Zu Beginn der faschistischen Ära schrieb Walter Benjamin:
Nur um der Hoffnungslosen willen ist uns die Hoffnung gegeben.
Namenverzeichnis
Adorno, Th. W. 3 1 , 8 5 , 8 9 ,
118,138,152,154,172
Aristoteles 140,143,146,
150 ff., 154, 162 f., 200,
202,226
Austin, J. L. 187,189,194
Dickson, W. J. 127 f.
Dingler,H. 163
Dumont, R. 67
Eldersveld, S. J.
Eulau, H. 133
133
Bach, J. S. 82,84
Faulkner, W. 97
Bachelard, S. 168,171
Flaubert, G. 82
Balzac, H. de 97
Flew, A. G. N. 217
Baritz, L. 127
Fourier, Ch. 186
Barkin, S. 47
Frank, P. G. 164 f.
Barthes, R. 88,103,111,
Freud, S. 84, 93, 96 f., 102,
119
ff.
197
Baudelaire, Ch. 84, 96
Beckett, S. 258
Galbraith, J. K. 71,104
Bell, D. 49
Galilei, G. 167,172,177
Benjamin, W. 268
Gellner, E. 187
Berle 19
George, S. 8 5 , 2 5 5
Bloch, E. 138
Gerr, S. 106
Born, M. 164
Goethe, J. W. v. 96
Brecht, B. 86,89
Grünbaum,
A. 164
Bridgmans, P. W. 32 f.
Bunge, M. 165
Hegel, G. W. F. 8 4 , 1 1 5 , 1 5 5 ,
Burke, E. 120
185,191,195,199,202,247,
Butler 198
250
Heidegger, M. 168
Chinoy, E. 50
Heisenberg, W. 164,167
Cook, F. J. 19
Hobbes, Th. 35
Hochhuth, R. 258
Denby, Ch. 45
Hoffmann, L. R. 50
Descartes, R. 35,142,167,
Hoggart, R. 111
188,205
Homer 163
Dewey, J. 181 f.
Horkheimer, M. 152,172
269
Horney, K. 96
Humboldt, W. v. 115, 224
Hume, D. 187
Husserl, E. 146,167,176,
178 f., 180
Ionesco, E.
99
Janowitz, M. 133
Jessup, J. K. 113
Kahn, H.
Kant, I.
Kapp, E.
Korn, K.
Kraus, K.
99
35,167,192
152
121
191, 210
Nietzsche, F.
228
Ockham, Wilhelm von O. 228
O'Neill, E. 97
Packard, V. 19
Perroux, F. 53,74,219
Piaget, J. 175 f.
Platon 60, 84, 140, 143 f.,
148, 150 ff., 162, 202, 240
Pollock, F. 121
Popper, K. 165
Prantl,
C. 146,152
Quine, W. V. O.
163,227f.
Racine, J. B. 96
Reiche, H. A. T. 226
Reichenbach, H. 164 f.
Rilke, R. M. 222
Rimbaud, J. A. 88
Roethlisberger, F. W. 127 f.
111
Roper, E. 137
Rousseau, J. J. 60
Mallarmé, S. 88
Ryle, G. 188,201,217
Mallet, S. 48, 50 f.
Russel,
B. 217,223,248
Mann, F. C. 50
Marvick, D. 133
Saint-Simon,C.H.de 186,241
Marx, K. 36, 41 ff., 44, 46, Sarnoff, D. 113
48, 55 f., 61, 79, 84, 119 f.,
Sartre, J.-P. 18,47,191
169, 187, 202, 234, 251 f.
Schönberg, A. 85
Masterman, M. 201
Shelley, P. B. 84
Meacham, S. 53
Simondon,G. 45,48,174,244
Means 19
Sokrates 141, 149
Mill, J. S. 120
Sombart, W. 118
Mills, C.W. 19,58
Stalin, J. 63
Moore, G. M. 198
Stendhal (Henri Beyle) 222
Stevenson, A. 113
Laslett, P. 217
Latham, Earl 71
Lenin, W. I. 195
Lenk, K. 138
Locke, J. 35
Löwenthal, L.
270
Strindberg, A.
109
Valéry, P.
87,193
Weber, M. 118
Weizsäcker, C. F. v. 170
Whitehead, A. N. 227,239
Whyte,W.H. 19
Wisdom, J. 217
Wittgenstein,L. 187ff., 191 f.,
195, 198, 200 f., 212
Woodhard, L. 137
Walker, R.
45 f., 50
Zworikine, A.
Thomas von Aquin
Tolstoi, L. 96
Urmson, J. O.
217
163
42
271
Sachverzeichnis
Abkürzungen 113
absolute Weigerung 266
Abstraktion 13,116,129,150,
154, 171, 175 f., 178, 195,
227 f., 240
Affirmation 149
Agrarreform 67
Aggressivität 96^,255
Akkumulation, ursprüngliche
66 f., 243
Aktualität 143,146,221,224
Allgemeinbegriff 152,197,
216 f., 218 f., 221 f., 225 f.,
229
Allgemeines 224 f.
Alltagssprache 188,193,205,
208 f., 212, 216
Alternative 13 ff., 18, 36, 71,
119,160,229,241,263,265
Analyse 127, 135, 138, 184,
194, 197, 207, 222, 227
Analytik 154
Anarchismus 34
Änderung,qualitative 15,17,
32, 43, 47, 56, 60, 63 ff., 69,
71^,117,232,236,238,243,
253, 256, 262 ff.
Angestellte 47, 130
Apparat 23,29,160,183,251
Apriori 166, 168, 172, 180,
196,261,264
Arbeit 38, 47 ff., 56, 97, 253
Arbeiter 44, 46 ff., 50, 130,
263
272
Arbeiterbewegung 59
Arbeiterklasse 49,6l
Arbeitsbedingungen 127
Arbeitskraft 57^,92,171
Arbeitsleistung 49
Arbeitslosigkeit, technologische
50
Arbeitsproduktivität 69
Arbeitsprozeß 48
Arbeitsteilung 46,64,145
Arbeitswelt 23,94
Arbeitszeit 23,56,92
Aristotelische Philosophie
146
Ästhetik 259
Atomphysik 170
Aufbau, sozialistischer 61
Aufhebung der Arbeit 36,73
Ausbeutung 44 ff., 68, 97
Aussage, analytische no
Aussagenlogik 146
Außenpolitik 39
Außenwelt 166
Automation 45 f., 48 ff., 55 f.,
57
Autonomie 73,95,249,255 f.
Bedeutungsanalyse,
philosophische 212
Bedürfnisse 18, 21, 24 ff., 28,
38, 43 f., 52, 244 f., 252,
256^,265
Befreiung 66,234,248,251
Befriedigung 22, 27, 36 f.
Befriedung 232, 246 f., 251,
Destruktionstrieb 98
2 5 3 f., 262 ff.
Dialektik 141, 157, 2 3 5
Begriff (s. a. Allgemeinbegriff)
Dialog, platonischer 152
32 f., 77, 104, 114, 124, Dichtung 2 0 6 , 2 5 8
125 ff., 132, 13/f., 147, 150, Dimension 1 9 9 , 2 0 1 , 2 5 8
153 f., 156, 164, 174, 184,
Ding an sich 167
193, 200, 224 f., 227ÎF., 236, Drei-Stadien-Gesetz 2 4 1 , 2 5 0
241 f., 264 f.
Dualismus 167
Behaviorismus 32,35,87,106,
l
%7
Endursachen 141, 143, 153,
Berufspolitiker 122
l?0> 243 ff, 24 g ; 249
Besetzung, libidinöse 93
Eindämmung 37, 58, 71 f.
bestimmte Wahl 233
Empirismus 32,126,133,136,
Betriebsklima 46
158, 183 ff., 201
Bewußtsein 1 6 , 3 1 ^ , 4 9 , 5 8 , Entfremdung 28 f., 31, 44,
81,95 f., 98, ίσο, 102 f., 136,
7 g f . ; 8 o ff. ; 83 ff., 91, 95,
ΐ 6 θ , 199, 202, 2θ6, 215,
j9j
220 f., 234, 244, 247, 267
Entsublimierung 76, 91 ff.,
Basis, technische 37
<^ f.; 97 f.
Bourgeoisie 15,119
Entwurf 18, 141, 144, 146,
Bürokratie 64
I 49> I/2i I/4; I7s, i 8 i f . ,
an, 229, 231 f., 233, 235,
Dadaismus 88
238, 242, 260
Dasein, befriedetes 253^,261
Erfahrung 129,139,142,147,
Definition 107, 114 f., 120,
1 5 5 ^ · . 179, l8 5, 191. i97.
149,152,156,226
199.223,238,256
Demokratie 67, 72 f., 107,
Erfahrungswelt 171
135,262
Erinnerung H7f.
Demokratisierung 83
Erkenntnis 125,162,175,182
Denken
17,32,34^,104,106,
Erkenntnistheorie 141, 175 f.
114,116,118,123,128,139,
Eros
96,143,162,181
142, 144 f., 147, 149 ff., 154,
Erotik 93
I56f., 181, 183 ff., !86, 192,
Erscheinung 141,153,156^
195,197,200,221,234,236, Ethik 141,161
238, 240 f., 245, 263
Ewiger Frieden 241
Denkfreiheit 264
Exaktheit 177,198,227
Denkstil, zweidimensionaler
148
Existenz 18, 141
273
Familie 16
Faschismus 99, 203
Feind 71,98
Fetischismus, technologischer
246
Finalität 244
Formalisierung 171
Formalismus 183
Fortschritt 15, 19, 31, 36, 49,
52, 54 f., 57, 62 f., 65, 67 f.,
72,75,79, 85,90,975., 119,
173, 181, 187, 234, 2385.,
242, 245, 259 f., 265
Freie Welt 34
Freiheit 21 ff., 24, 26 f., 30,
34, 38, 47, 60, 62, 69, 72,
77, 92 f., 97, 140 ff., 143 ff.,
206, 226, 233ff., 243, 245f.,
248, 250, 255, 264
Freizeit 2 3 , 6 9 , 2 4 2 , 2 5 2 , 2 6 3
Frieden 37, 71, 107, 109
Frustration 96
Funktionalismus 94,106,126,
Ι
1
ί°> Ϊ7
Gesellsdiaftstheorie 13 f.
Gewissen 95, 102
Gleichheit 145
Gleichschaltung 23
Glück 25, 72 f., 248
Gott 143, 162
Grammatik 210
Große Weigerung 83 f., 90,
266, 268
Gültigkeit, objektive 229
Handeln 176
Herrschaft 19, 26, 52, 70 f.,
75,84,92,99,122,152,154,
159, 169, 173, 181 f., 239,
247 f., 251 f., 257, 264, 266
Heteronomie 73
Historismus 228
Horizont, geschichtlicher 230
Humanismus 76 f.
Ideal 7/i t g 3
Idealismus 150,166,193
Ideen i47ff., I02Î., 193, 240,
244
Ganzes 216, 218 f., 224
Identifikation 30f., 109, in,
Gegenwartsliteratur 96
114
Geist 153, 167, 220 f., 247
Identität 147,153
Gerechtigkeit 246
Ideologie 31,85,192,202^,
Geschichte 13, 62, i i6ff., 154,
213,245,249
195, 228, 233 f., 241, 247, Imperativ, kategorischer 149
264
Individualität 21
Gesellschaft n, 13 f., 16, 18,
Individuum 16, 22, 3of., 52f.,
24, 27, 31, 46, 62, 73, 84,
57, 62, 70, 77, 91 f., 95, 97,
92, 98, 122, 173, 205, 231,
in, 123, 183, 217 f., 230,
236, 250, 253, 256, 258, 267
246, 254 ff., 261, 263
Gesellschaftsformation 42
Industrialisierung 49,59,62,
Gesellschaftskritik 265
65 ff., 234
274
Industriegesellschaft, fortgeKommunistisches Manifest
II
schrittene 14, i6ff., 21,27,
9>2iS
36 f., 56, 58, 64, 68 f., 71, Konformismus 103
76^,79,85,90,94,96,118, Konkret - Allgemeines 132
124, 159, 203, 245 f., 252,
Konkretheit no, 114, 129,
263, 265, 267
188, 194, 265
Industriesoziologie 126 f.
Konkurrenz 21,72,134
Innenpolitik 39
Konservatismus 70
Innerlichkeit 77
Konsumzwang 27
Interesse 16, 73, 245
Kontemplation 144
Institutionen 262
Kontrolle 18, 27 ff., 30, 40,
Instrumentalismus 174
60, 122, 127, 161, 234, 262
Integration 16, 41, 49 ff., 55,
Konzentrationslager 99
71, 76, 85, 159
Krieg 37, 54, 71 f., 109
Intellektuelle 188
Kriegsführungsstaat 39, 2 5 3
Introjektion 30
Kritik 12, 15, 17, 151, 198,
Intuition 141 f.
236
Irrationalität 2 9 , 2 5 0 , 2 6 3
Kultur 31, 65, 72,76ff., 79Î.,
82, 91 f., 169, 245, 2 5 5 , 261
Kampf ums Dasein 12,24,37,
66,73,159,161,213,232,
239, 2 4 7 , ^ 5 5 , 2 6 3
Kapital 48, 52
Kapitalismus 18, 42 f., 45 f.,
54, 57, 60, 65, 72 f., 235,
257
Kategorien 141,251
Kausalität 179
Klasse 1 6 , 2 8 , 4 4 , 4 8 , 5 2
Klassenkampf 41
Klassifikation 125
Knechtschaft 53
körperliche Dinge 164
Koexistenz 62,65
Kommunikation 88,106,nof,
123
Kommunismus 18, 34, 41,
54, 57, 65, 71, 73, 75, 235
KunSt
8o
*- 83, 95, '39 ^
249 f., 258
Leben 12, 37, 70, 100, 142,
145, 240 f., 247, 251, 258,
261, 266
Lebensphilosophie 203
Lebensstandard 69, 71, 98,
161, 253 f.
Lebenswelt 177 ff.
Liberalismus 70
Libido 93 f., 97
Liebe 81
List der Vernunft 3 5 , 1 1 3
Logik 61, 115, 140, 145 ff.,
148, 151 ff., i54ff-, 175,177,
182
Logos 86,143,146,149,162,
174, 181 f., 247
275
Lust
92,95
Machttrieb
65
Magie 259
Markt 22
Maschine 23, 46
Massen
26
Mobilisierung 3 9 , 4 1 , 7 2 ,
94 f., 204, 253
Möglichkeiten 13,228,23! f.,
ff.
M 2 4 °f t'
Motivforschung 126
Mythologie 202
3
Nationalsozialismus 203
Massendemokratie 255
^ lgj J% 8g> I Î 2 >
Namr
Massenkommunikation 208
^ f - > l 6 g > l;70 f - > ^ l 8 l >
Massenkonsum 266
•^4/ * * · » ^5
Massenkultur 77: 84
Naturbeherrschung 180,249,
Massenmedien 28
g
Materialismus 185,248
Naturwissenschaft 165, 167,
Materie 163, 165 ff., 170,
l6
180,182 229 ff., 247 f.
Negation
2 4 ) 4 2 f., 4 8 ) 7 I ) 7 9 ,
Mathematik 175
82 f., 85, 87, 97, 143, I 4 8ff.,
Mathematisierung 177
I5 6, 22 j, 233 , 235, 239, 241,
Mechanisierung 4 4 , 4 7 , 5 5
247,266
Mehrwert 4 4 , 4 8 , 5 2
Negativität 86,141,143,157
107 f.,
Meinung, öffentliche
Neoko i onia i ismus
6j f.
126, 204
Neokonservativismus 120
Menschen 142, 168, 193, 226,
Neoliberalismus 120
245 ff., 268
Neopositivismus 187,197
Menschenverstand 188
Neutralität der Technik 18
Messung der Arbeit 49
Nichtsein 147
Metaphysik 13,152,186,201, Notwe ndigkeit 62, 233 f.
22 7 , 240 ff., 250
metaphysische Sätze 241
Objekt 163, 166 f., 170, 174,
Metasprache 194, 209 f.
199,230,247
MetaZusammenhang 205
Objektivität 12,26,170,180,
Methode, naturwissenschaft182, 230
liehe 169, 177, 180, 199
Objektivierung 177
Methode, wissenschaftliche
Objektwelt 230
173, 176, 179, 244
Ontologie 167, 200
Militär 54
Operationalismus 37, 104 f.,
Mittel 37, 61 f., 73, 166, 168,
158, 170 f., 173
I7o, I74, 230, 246, 265
Operation 32^, H3f., 1311".,
Mobilisation, totale 88
166,215
276
Opposition 22 f., 30, 35, 38, Produktivkräfte 43,265
58, 68, 91, 103, 105, 160, Produzenten, unmittelbare
262, 267
62 f., 68
Proletariat 15, 44, 46, 119,
2O
Personalarbeit
130 f.
3> 2 34
Protest
Phantasie 259 ff.
W, W, 167
Philosophie I 7 ,i4off.,i4 4 f., Prozeß e *> 2 34
148, 150 f., 163, 174, 185, Psychoanalyse 260 f.
189, 192 f., 195, 198, 202,
206, 208 f, 2 1 3 , 2 1 5 ^ , 2 2 6 , Qualität 152, 171, 223 f.,
22
229, 236, 240
5 f-> 2 4 2
Physik 153, 163, 165 f., 171, Quantität 2 5 2 , 2 5 5
176, 180, 200
Quantifizierung 161,167,
Platonische Dialektik 147
171 f., 178
Pluralismus 14, 71 f., 81
Polis 149
Rationalismus 34, 185
Politik 23 f., 75, 213, 261
Rationalität 15, 19, 22, 31,
Positivismus 33, 158, i86f.,
37, 42Î., 52, 57, 59, 66, 68 f.,
201,213
76 f., 85, 98 f., 103, 116 ff.,
Potentialität 116, 140, 143,
126, 132, 139, 1440°., 150,
146, 148, 151, 221, 224,
153, 159 ff., 162, 170 ff.,
226, 233 f.
173 f., 181 ff., 204, 231 f.,
Praxis 13 f., 43, 144, 149,
236, 238 f., 241 f., 245 f.,
156, 174, 177, 230 f., 261,
248 ff., 254, 258 ff., 262
263 ff.
Realität, technologische 82
Privateigentum 41,63
Realität, gesellschaftliche 172
Privatsphäre 4 7 , 2 5 5
Realitätsprinzip 91, 93, 96
Privilegien, kulturelle 84
Reduktion 250 ff.
Produktion 56
Reflexion 124
Produktionsbasis, sozialistische Regierung, totalitäre 236
63
Regression 54
Produktionsapparat 17,22,98 Reich der Freiheit 22,91
Produktionsprozeß 62
Reich der Notwendigkeit 13,
Produktionsverhältnisse 42
36, 57, 145, 246, 251, 260
Produktionsweise 41, 169
Reichtum 60,253
Produktivität 23,71,85,140, Reklame 32, 77, 104, 108 ff.,
161, 181, 245, 251 f., 263,
122,256
266
Relativitätstheorie 164
277
res cogitans
res extensa
Ressourcen
245, 251
Revolution
Rollen 216
Roman 82
167
167
13, 21, 26, 243,
42,46,52,61,64
Säkularisierung 66
rr
Satze 107, no, ii 4 f., i 4 7f.,
151,191,193,241
Schein 266
c i > ·
Schleier, technologischer 52
Schönheit 81, 222, 225^, 259
Schuld 99
Schuldgefühl 102
Seele 215
Sein 49, 140^, 143, 145,147,
149,155,157,181
Selbst 30, 206, 215 f.
Selbstbestimmung 64, 68 f.,
72, 254, 262
ff.
Selbstbewußtsein 247
Sensualismus 185
Sexualität 47, 91, 93, 96 f.
Sinn 91
Sokratische Rede 149
Sollen 148, 155, 157, 181
Sowjetmarxismus 60
Sowjetsystem 57, 59 f., 63
Soziale Revolution 67
Sozialforschung, empirische
124
Sozialgesetzgebung 70
Sozialisierung 42 f., 94
Sozialismus 42, 61, 72, 203
Soziologie 126,132,204,265
Sprache 104, 106 f., 109 f.,
278
in, 114 f., n6f., 120 ff.,
144, 169, 188, 191, 208
Sprachanalyse 184 f., 189,194,
205, 2θ8 f., 212 f., 221
Status quo 15, 22, 30, 34, 36f.,
77, 84, 93 f.
Subjekt 115, 166f., 170, 174,
182, 199, 229, 247, 252, 263
Subjektivität iji, 182
Sublimierung 91, 93, 95 r.
ee t
f
Substanz
'5 2 ' I63, i66f.,
I8
7' '93
Surrealismus 88 f.
Tatsachen 14, 116, 125, 138,
149,156,181,186,199,238,
264
Technik i 8 f . , 36 f., 42, 53,
67, 168 f., 174, 183, 238,
243 ff., 246 f., 249 ff.
Technologie 50, 56,170, i7zf.
technologischer Schleier 52
Teilung der Arbeit 209
Telos 170, 182
Tendenzen 14, 17,265
Termini operationeile 123
Thanatos 96
Theater 86
Theorie 12, 14 f., 16, 126,
144, 149 f., 203, 205, 235,
247, 263, 265, 268
Theorie und Praxis 37,139f.,
150, 156, 186
Therapie 184
Todestrieb 98
Toleranz 109, 207, 236
Totalitarismus 23, 72 f., 81,
108
Totalität, historische 125
Tradition 67, i8j
Tragödie 82
transzendentale Apperzeption
220
Transzendenz 13, 35 f., 57,
S
5 > 8 7> 9°- 9 8 > 125,187,229,
235 f., 241, 249
Transzendenzphilosophie 156
Triebenergie 92, 94
Über Ich
Vernunft 30 f., 33, 35, 38,
116, 139 f., 157, 161 ff.,
i66f., 173, 1740., 181 ff.,
187, 232, 239, 242, 245,
247 ff., 258 f., 266
Verschwendung 54, 59, 69
Versklavung 45, 47 f., 52,
62, 159, 244
Verstaatlichung 4 3 , 5 5 , 5 8 , 6 3
Verteidigungsgesellschaft 71
Verteidigungswirtschaft 54
Verwaltung 2 6 ^ , 5 2 , 5 5 , 5 7 ,
60, 63, 66 f., 69 f., 122, 183,
95
überentwickelte Länder 256
Umgangssprache 195
266
umweltliche Kräfte 221
Volkssouveränität 267
Unfreiheit 52,69
Voraussicht 178 f.
Universalien 130,216
Vorgeschichte 62
Universum 13, 18, 32, 38,
43 f., 47, 106, 116, 118, 123,
140, 146, 151, 156,168,172, Wahl 2 3^35
174, 179 f., 182, 188, i 9 5 f., Wahl, ursprüngliche 18
200, 210, 212, 221, 2 3 o, Wahrheit 139 ff., 143 ff-, 147
ff.,
151, 166, 180, 186, 232,
249f_
2
5°
Wandel, gesellschaftlicher 14,
Veränderung, qualitative (s. a.
59, 71
Änderung, Wandel) 63,236,
Wandel, qualitativer (s. a. Än263
derung) 63, 236, 263
Veränderung, technologische
Wandel, technologischer 48 f.
48 f.
Warenform 77
Verdinglichung 53, 57, 183,
Weigerung 83^,90,253,266,
218, 261, 266
268
Verelendung 46
Welt 143, 178, 191, 223, 229
Verfremdung 86
Welt, kapitalistische 15
Verfremdungseffekt 86 f,
Welt, objektive 163 f.
Vergesellschaftung 256
Welt, verwaltete 264
Verhalten 32, 104, 263
Welt, vortechnische 92
Vermittlung 15, 104, n 6 f . , Werte 14, 77,142, 161, 243 ff.,
258
124, 142, 193, 199 f., 249
Urteil
146 f., 151
279
Werturteile ι ζ, 142, 265
Wesen 153,1565.
Widerspruch
16,41,86,108,
147, 153, 156 f., 185, 203,
236, 249, 264
Wirklichkeit 1396°., 143,147,
170, 183, i86f., 230, 233,
242, 264
Wirtschaft, freie 21
Wissenschaft 56, 161, 169 ff.,
172, I77ff., i8of., 204, 232,
235, 239 ff., 242 ff., 245,
259 f.
Wohlfahrtsstaat
70, 72
Wort 106,224
39, 58, 68,
Zeichen 152
Zivilisation 83,93,238,247,
249, 254, 268
Zweck 61 f., 73, 161, 174,
246, 265
Zweckursachen 161
Zweite Natur 37