SCHRIFTEN
ZUR VERKEHRS
WISSENSCHAFT
bei___ sonderzahl
1979 wurde die Zeitschrift für Verkehrswissenschaft mit dem Obertitel Tumult
gegründet. Die Schriften zur Verkehrswissenschaft setzen nun diese Linie der
Gegenwartsbeobachtung ohne Pessimismus, Zynismus oder Ressentiment,
jedoch mit der ursprünglichen unzeitgemäßen und libidinös informierten
Haltung weiter fort. Sine ira cum studio.
Herausgegeben von
Ivo Gurschler, Andreas L. Hofbauer
und Walter Seitter
Bd. Nr. 43
Von Wegen
Bahnungen der Moderne
Redaktion
Ivo Gurschler · Christopher Schlembach
mit Beiträgen von
James Beniger · Max Bense · Charles Horton Cooley
Charles Darwin · Régis Debray · Sebastian Hackenschmidt
Frank Jödicke · Christian Kassung · Hermann Knoflacher
Reinhold Knoll · Richard Poulin · Anna Rose
Elisabeth von Samsonow · Gabriele Schabacher
Walter Seitter · Michel Serres · Benjamin Steininger
Rudolf Weidenauer
Publiziert mit Unterstützung des Bundeskanzleramtes – Kunstsektion
und der Kulturabteilung der Stadt Wien, Wissenschafts- und Forschungsförderung.
www.sonderzahl.at
2. Auflage 2019
Alle Rechte vorbehalten
© 2018 Sonderzahl Verlagsgesellschaft m.b.H., Wien
Schrift: Sabon Next, Frutiger
Druck: CPI Birkach
ISBN 978 3 85449 515 4
Umschlag von Thomas Kussin, Foto: Benjamin Steininger
Inhalt
7
Space Syntax – Washington und Peking
9
Von neuen Wegen
Christopher Schlembach und Ivo Gurschler
INFRASTRUKTUR
15
Die Netze verlassen ...
Michel Serres und Régis Debray
25
Die Theorie des Transports
Charles Horton Cooley
39
Die Kontrollrevolution
Technologische und ökonomische Ursprünge der Informationsgesellschaft
James Beniger
49
Medien und Verkehr
Zur Genealogie des Übertragungswissens zwischen Personen, Gütern und
Nachrichten im 19. Jahrhundert
Gabriele Schabacher
69
Transportmetaphysik
Verkehr und das Verwaltungsdenken der Aufklärung
Christopher Schlembach
82
Space Syntax – Berlin
VEHIKULARITÄT
83
Mythos Concorde
Die Form der Geschwindigkeit
Christian Kassung
101
Katalysator
Die Mobilmachung des Materiellen
Benjamin Steininger
115
Platonische Mobilmachung
Zur Revision des Körperbildes im Timaios
Ivo Gurschler
127
Rückwärts durch Neapel
Frank Jödicke und Rudolf Weidenauer
139
Die Körper, die Bewegungen, die ewigen
Terrestrische Verkehre und andere
Walter Seitter
152
Die weggezauberten Pferde oder:
Die Folgen der „asiatischen Effeminierung“
Elisabeth von Samsonow
166
Sitzen als Verkehrszustand
Zur Mobilität der modernen Stahlrohrstühle
Sebastian Hackenschmidt
181
Auto und Information
Das Ich, das Auto und die Technik
Max Bense
TRANSGRESSION
184
Zufällige bzw. gelegentliche Verbreitungsmittel
Charles Darwin
190
Human Trafficking
Militärische Besatzungen im Neoliberalismus
Richard Poulin
205
Space Syntax – London
207
Die Krise moderner Verkehrswissenschaft
Begriffliche Engführungen und deren praktische Folgen
Hermann Knoflacher
220
Stadtgrenzen im Wiener Verkehrsgedächtnis
Reinhold Knoll
233
Space Syntax – Wien und München
235
Das Gewebe der Urbanität
Anna Rose
236
Zu den Autoren
Platonische Mobilmachung.
Zur Revision des Körperbildes im Timaios
Ivo Gurschler
„The habit of walking is expressed in what a man sees
when he keeps still, even in dreams.“
John Dewey
Tetraeder, Hexaeder, Oktaeder, Dodekaeder und Ikosaeder – regelmäßige Würfel
mit je vier, sechs, acht, zwölf und zwanzig kongruenten Flächen (gleichseitige Dreiecke, Quadrate oder Fünfecke) – sind unter dem Namen „Platonische Körper“ bekannt. Systematisch vorgestellt wurden sie erstmals in Platons Timaios (um 360 v.
Chr.), einem Gespräch zwischen Sokrates, dem Athener Kritias und zwei italienischen Gästen: dem Politiker Hermokrates von Syrakus und dem titelgebenden
Philosophen von Lokroi, Timaios. Der Text ist so konstruiert, als hätte der Dialog
unmittelbar nach den tatsächlich bereits zehn Jahre zuvor verfassten Politeia–Gesprächen (um 370 v. Chr.) stattgefunden. Somit wisse man nun bereits über die
wichtigsten Angelegenheiten des idealen Staates Bescheid, jetzt gehe es darum, die
eruierten, als zeitlos erachteten Einsichten „in Bewegung zu sehen“.1 Dieser Vorsatz gilt auch für einen weiteren in der herkömmlichen Timaios-Rezeption zumeist
übersehenen, in derselben Schrift jedoch in extenso behandelten Körper, nämlich
den des Menschen selbst.
Generell gilt Platon als ein diesem Körper gegenüber geradezu feindlich gesinnter Philosoph. Besonders in den früheren Dialogen findet man ein antagonistisches Verhältnis zwischen der für die Erkenntnis zuständigen Seele und den davon bloß ablenkenden körperlichen Angelegenheiten vor: Im Gorgias wird die einem anonymen Weisen zugeschriebene Aussage „unsere Leiber wären nur unsere
Gräber“ (to men soma estin hemin sema) kolportiert;2 im Kratylos wird diese Figur
im Fragen nach der Herkunft und ursprünglichen Bedeutung der Worte „Seele“
und „Körper“ erneut aufgegriffen, dieser zunächst als eine Art „Griffel“ für jene bezeichnet, der dabei behilflich sei, die Sachen „begreiflich“ zu machen, und der Körper schließlich als ein Gefängnis für die Seele bezeichnet, „weil nämlich die Seele,
weswegen es nun auch sei, Strafe leide, deswegen nun diese Befestigung habe, da1
2
Platon: Timaios, Stuttgart 2009, S. 13 (19 b).
Platon: Gorgias. Werke in acht Bänden, Bd. 2, Darmstadt 2011, S. 405 (493 a). Die Ursprünge der
Soma-Sema(=Körper-Kerker bzw. Grab)-Analogie sind vermutlich in den Geheimlehren der Orphik zu suchen, wie Platon selbst im Phaidon nahelegt, vgl. Platon: Phaidon. Werke in acht Bänden,
Bd. 3, Darmstadt 2011, S. 17 (62b).
115
mit sie doch wenigstens erhalten werde“.3 Im Phaidon steigert sich die Leib- zur
Lebensfeindlichkeit, wenn der zum Tode verurteilte Sokrates den Körper bzw. die
vermittelt über diesen laufenden Sinne ‚Gesicht‘ und ‚Gehör‘, nicht mehr als Ermöglichungsbedingung, sondern als Störfaktoren für das ‚reine‘ Denken behauptet: „[S]olange wir noch den Leib haben und unsere Seele mit diesem Übel im Gemenge ist, [werden] wir nie befriedigend erreichen können wonach uns verlangt“.4
Indessen finden sich bereits im Laches und beispielsweise auch in der zur mittleren
Werkphase gehörigen Politeia vereinzelte Bemerkungen zum Menschenkörper und
wie dieser im Rahmen einer ausgewogenen Pädagogik erzogen oder auf staatstragende Weise performativ in Szene gesetzt werden könnte.5 Zu einer regelrechten
Revision des platonischen Körperbildes durch Platon selbst kommt es jedoch erst
im Spätwerk Timaios. Diese wird in drei Stufen vollzogen: Erstens wird die konkrete Erscheinungsweise des menschlichen Körpers mythologisch erklärt, wobei der
Körper als „Fahrzeug“ (ochema) der Seele konzipiert wird; zweitens wird das Körper-Seele-Verhältnis auf den gemeinsamen Nenner der Bewegung (kinesis) gebracht,
und schließlich folgt, drittens, eine wertende Darstellung verschiedener Bewegungsweisen, mittels welcher das ‚Fahrzeug Menschenkörper‘ in Schwung gehalten bzw.
gewartet werden könne.
1.
Die Stellung des Körpers im Kosmos
Nach dem einleitenden Atlantik-Exkurs von Kritias6 präsentiert Timaios seine
mythopoietischen Überlegungen zum Werden des Kosmos und des Menschen.
Offenbar hätten „die mit unserem Entstehen beschäftigten Schöpfer“7 bei der
Konstruktion des Körpers mit dem Kopf begonnen. Dieser sollte der Seele Raum
geben. Dessen charakteristische Rundheit sei von den kreisförmigen Bahnen der
Gestirne und deren Kugelform inspiriert. Ganz ohne weiteres würde dieser Kopf
auf der Erde, „die ja Höhen und Tiefen aller Art besitzt“8, ständig „herumrollen“,
weswegen es unerlässlich war denselben mit einem Körper auszustatten. Mit seinen insgesamt „vier ausstreckbare[n] und biegsame[n] Glieder[n]“, je zwei Armen
und Beinen, steht dieser seither als „eine Art Fahrzeug und Hilfsmittel (ochema)“9
3
4
5
6
7
8
9
116
Platon: Kratylos. Werke in acht Bänden, Bd. 3, Darmstadt 2011, S. 451 (400 b f.).
Platon: Phaidon, a. a. O., S. 29f. (66a–b).
Mehr dazu weiter unten.
Vgl. dazu Herwig Görgemann: „Wahrheit und Fiktion in Platons Atlantis-Erzählung“, in: Hermes,
128. Bd., H. 4 (2000), S. 405–419.
Platon: Timaios, Stuttgart 2009, S. 163 f. (75 b f.).
Ebd., S. 77 (44 e).
Ebd. Ochema bedeutet allgemein „das was trägt“ – in erster Linie Fahrzeuge oder Fuhrwerke und
Ivo Gurschler
zur Verfügung, welches dem Wohnsitz des Göttlichsten und Heiligsten“ – der im
Schädel befindlichen ‚Gehirnseele‘ – als „Bewegungsmittel“ diene und erlauben
würde „überall hinzugehen“.10 Zum Zwecke der besseren Übersicht wurde der
Körper vertikal ausgerichtet, was es auch mit sich bringt, dass der ganz oben platzierte Kopf den „Umläufen des Himmels“11 am relativ nächsten steht und von
diesem, ihm gemäßen Platz aus, leichter die Führung übernehmen kann. Um diesen vertikalen Zug zu betonen, wird der Hals nicht als eine Verbindung, sondern
als eine „Trennung“, metaphorisch als „Landenge zwischen Kopf und Brust“12 beschrieben. Zur Absicherung dieser besonderen Lage diene zudem das etwas weiter unten befindliche Herz. Als eine Art „Wachstube“13 sorge es dafür, dass die
„Herrscherburg“14 Kopf nicht schutzlos den von außen – bzw. unten – an sie herangetragenen Zumutungen ausgeliefert werde. Des Weiteren erlaube die Verwickelung der Gedärme, den Verdauungsprozess möglichst langwierig zu gestalten,
sodass ein Mensch nicht andauernd neue Nahrung zu sich nehmen müsse, was
im Endeffekt „das ganze [Menschen]Geschlecht unphilosophisch und unmusisch“
machen würde und davon abhielte „dem Göttlichsten in uns zu folgen“.15 Hier
wird besonders deutlich, dass Platon der Bewegung niemals bloß um der Gesundheit willen huldigt, sondern seiner charakteristischen „Ideomanie“ (Friedrich
Nietzsche) auch in diesem Zusammenhang insofern verpflichtet bleibt, als alle
Vorschläge zur Körperpflege letztenendes von einem Willen zum Wissen beseelt
sind, und auf eine Steigerung der Erkenntnisleistung hinauslaufen sollen.
Da bekanntlich selbst das beste Fahrzeug nicht vor möglichen Unfällen gefeit
ist,16 wurde der Körper schließlich mit Fleisch umgeben, das wie ein „Filzkissen
10
11
12
13
14
15
16
Wagen, aber auch Schiff, und im übertragenen Sinne „Boden“ bzw. „Standpunkt“ vgl. Gemoll.
Griechisch-deutsches Schul- und Handwörterbuch, Oldenburg 2009, S. 596). Dieselbe Ausdrucksweise findet sich noch einmal auf S. 147 (69 b), wo ochema mit „(eine Art) Wagen“ übersetzt wird.
Ebd. Der Preis für diese praktische Beigabe des Körpers als Transportmittel ist hoch, denn das
im Kopf situierte „unsterbliche Grundelement der Seele“ bekam damit auch „eine andere Art
der Seele hinzu“, und zwar „die sterbliche, die heftige und notwendige Empfindungen in sich
hat, zuerst die Lust, den größten Köder des Schlechten [...]“. Ebd., S. 147. Anders als im Phaidon
oder im Theaitet, wo eine einheitliche Verfassung der Seele vorausgesetzt wird, wird sie hier – wie
auch im Phaidros, in der Politeia – als partitioniert vorgestellt, und ihr bester Teil im obersten Bereich des menschlichen Körpers angesiedelt.
Ebd., S. 207 (90 c).
Ebd., S. 149 (69 e).
Ebd., (70 b).
Ebd., (70 c).
Ebd., S. 157 (73 a).
Mit dem Schiff ging die „Produktion des Schiffbruchs“ und mit der Eisenbahn die „Erfindung
des Zusammenstoßes“ einher. Vgl. Paul Virilio: „Der Urfall (Accidens Originale)“ in: TUMULT.
Zeitschrift für Verkehrswissenschaft, Berlin 1979, S. 77–82, hier S. 77. Zur Gleichursprünglichkeit von
Unfall und Fahrzeug im Allgemeinen im Lichte der Challenger-Katastrophe in Cape Canaveral,
vgl. Michel Serres: Statues: le second livre des fondations, Paris 1987.
Platonische Mobilmachung
117
gegen Stürze“17 funktioniere. Der fleischliche Anteil des Kopfes wiederum sei möglichst gering gehalten worden, um das beste Stück des Menschen nicht bei seinen
Wahrnehmungen zu behindern;18 quasi als Ersatz dafür wurde dasselbe allerdings
mit „einer dichten Behaarung“ versehen: diese natürliche Krönung des Hauptes
habe nicht nur den materialästhetischen Vorzug, besonders leicht zu sein, sondern
vermöge zudem „im Sommer Schatten und im Winter Bedeckung zu spenden“
und dem „Kopfmark“ ganz allgemein einen gewissen Schutz zu bieten.19
2.
Zur Pflege von Körper und Denken
Nach dieser Herleitung der Beschaffenheit des menschlichen Körpers – und vor
der Exposition der eigentlichen ‚Fitnesstipps‘ –, wird derselbe zum einen wie üblich als mögliche Ursache des Lasterhaften, zum anderen aber gleichzeitig auch
als ein Mittel das Gute zu befördern vorgestellt. Im stellenweise ironisch misogynen20, der Absicht nach jedoch philanthropisch angelegten Timaios wird davon ausgegangen, dass von vornherein „niemand schlecht mit Absicht“ 21 sei,
sondern dies nur wider Willen werde: entweder aufgrund von „unsachgemäßer
Erziehung“22 oder eben infolge einer „schlechten Verfassung des Körpers“23. Ausdrücklich wird festgestellt, dass hier zunächst immer die vorherige Generation,
also die „Erzieher, nicht die Erzogenen“ 24 bzw. die „Erzeuger, nicht die
Erzeugten“25 verantwortlich zu machen seien.26 Dem folgt jedoch keine kritische
Analyse der herrschenden politischen oder pädagogischen Verhältnisse, sondern
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
118
Platon, Timaios, a. a. O. S. 161 (74 c).
Platon versichert, es wäre ein Leichtes gewesen das Leben des Menschen zu verlängern, indem
man einfach den Kopf mit einem höheren Fleischanteil versehen hätte; da dies der Feinheit der
Sinneswahrnehmung jedoch abträglich gewesen wäre, waren die menschenproduzierenden
„Werkmeister“ bei der Überlegung, ob „sie ein schlechteres langlebigeres oder ein besseres kurzlebigeres Geschlecht bilden sollten, gemeinsam der Ansicht, dass dem längeren, aber schlechteren Leben das kürzere bessere unter allen Umständen vorzuziehen sei.“ Ebd., S. 163 f. (75 b f.).
Ebd., S. 167 (69 c).
Gemäß der platonischen Seelenwanderungslehre ist ‚Mannsein’ die höchste erreichbare Stufe,
darüber sind nur die Götter bzw. Sterne. Verbrächten Männer ihr Leben jedoch „feige und ungerecht“, kämen sie „nach der wahrscheinlichsten Annahme bei ihrer zweiten Geburt als Frauen
auf die Welt“. Platon, Timaios, a. a. O., S. 209 (19 e).
Ebd., S. 197 (86 d).
Ebd., (86 e).
Ebd., (87 b).
Platon, Timaios, a. a. O.
Ebd.
In seiner einzigen Notiz zum Timaios findet Friedrich Nietzsche gerade dies – „Erzieher und
Staaten und nicht die Kranken verantwortlich zu machen“ – „sehr merkwürdig“, ders. in: Nachgelassene Fragmente [1883], KSA, Bd. 10, München 1999, S. 296 f.
Ivo Gurschler
die Aufmerksamkeit wird auf die Möglichkeiten der „Pflege von Körper und
Denken“ gelenkt, denn schließlich sei es „gerechter über das Gute als über das
schlechte Reden zu führen“.27
Hätte der römische Satiriker Juvenal die Sentenz mens sana in corpore sano so
ernst gemeint, wie sie oft verstanden wurde, könnte man von einer Vorwegnahme
derselben durch Platon sprechen, wenn er die starke Behauptung aufstellt, dass
„was Gesundheit und Krankheit, Tugend und Schlechtigkeit angeht, [...] kein harmonisches oder unharmonisches Verhältnis von größerer Bedeutung [sei] als das
der Seele zum Körper“28. Was sich im Denken des jungen Platon noch als dichotome Konstellation dargestellt hat, erscheint nun als ein paritätisches Verhältnis
wechselseitiger Abhängigkeit. Grundsätzlich werden zwei denkbare Sachlagen unterschieden: entweder überwiegen die Kräfte des Körpers die der Seele, oder umgekehrt, die der Seele die des Körpers. Demzufolge kann es nun insofern auch ein
Zuviel des Guten geben, als eine einseitige Vormachtstellung des Seelischen ein
„ungezügeltes Temperament“ zur Folge haben könne und zu exzessivem Lernen
und Forschen verleiten würde, was den Körper innerlich „ganz und gar durchschüttelt“ und „von innen her mit Krankheit anfüllt“.29
Die Sorge um adäquate körperliche Erziehungsweisen war bereits im Laches
Anlass des Gesprächs: zunächst geht es bei diesen vom Körper ausgehend abstrahierenden Überlegungen um ein tatsächliches Standhalten in handgreiflichen Auseinandersetzungen, dann um die Frage nach der Vorteilhaftigkeit dieser oder jener
Methode (v. a. „Fechten in voller Rüstung“30) und endlich darum zu wissen, für
welche Angelegenheiten sich und seinen Körper einzusetzen überhaupt der Mühe
oder des damit möglicherweise verbundenen Risikos wert sei. Konkrete Techniken
werden so zu abstrakten Überlegungen und der Körper soll idealiter allein schon
dadurch unter die lenkende Obhut der Seele geraten. Die Akzentverschiebung im
Timaios besteht relativ dazu in einer realistischeren Auffassung der Eigenmächtigkeit des Körperlichen, das sich nicht allein durch besseres Wissen oder noch so
durchdachte kognitive Akte einfach unter Kontrolle bringen lässt. Um dieses neu
gewichtete Körper-Seele-Verhältnis begrifflich operationalisierbar zu machen, werden Körper und Seele nun auf den gemeinsamen konzeptuellen Nenner der „Bewegung“ (kinesis) gebracht:
27
28
29
30
Ebd., S. 199 (87 c).
Platon, Timaios, a. a. O., S. 199 (87 d).
Ebd., (88 a).
Platon: Laches, Stuttgart 2005, S. 7 (179 e).
Platonische Mobilmachung
119
„Es gibt eine einzige Rettung für beide, nämlich weder die Seele ohne den Körper
in Bewegung zu versetzen noch den Körper ohne die Seele, damit sie, indem sie sich
gegenseitig in Schach halten, ins Gleichgewicht kommen und gesund werden.“31
Bewegung in diesem umfassenden Sinne beschränkt sich nicht auf den mit ‚freiem
Auge‘ sichtbaren Bereich der Welt, sondern erstreckt sich bis ins Molekulare bzw.
Unkörperliche hinein. Auf wünschenswerte Weise ‚bewegt‘, werde die Seele selbst
etwa durch eine Beschäftigung mit den schönen Künsten sowie „jeglicher
Wissenschaft“32, und der Körper könne – wenn sonst nichts mehr helfe – auch von
innen her, etwa durch die Verabreichung von purgierenden Arzneimitteln, ‚bewegt‘
werden. Nach Möglichkeit jedoch sollten nicht allein innere Organe, sondern der
gesamte Körper in Bewegung versetzt werden, bestenfalls aus eigener Kraft: sich
auf sportliche Weise zu bewegen bzw. zu betätigen (gymnastiké prosomilúnta),33 sei
die vorzüglichste der menschenmöglichen Bewegungsmodi. Am zweitbesten wäre
es passiv, anhand von Transportmitteln bzw. externen Antriebskräften bewegt zu
werden, wie durch „das Schaukeln auf Schifffahrten und wo immer Fahrten stattfinden, die nicht ermüden“34. Am drittbesten – und schlechtesten – sei eine inwendig ansetzende, durch die Einnahme von Pharmaka35 verursachte Bewegungsweise.
Differenziert wird also hierarchisch entlang der zwei Achsen aktiv–passiv (bzw.
selbstbewegt–fremdbewegt) und Bewegung–Fortbewegung.
3.
Die drei platonischen Bewegungsmodi
Wenn es um die Evaluierung konkreter Techniken des Selbst geht, üben sich Philosophen für gewöhnlich in Zurückhaltung. Die Entscheidung für oder gegen eine
körperliche Auseinandersetzung mit sich selbst, und erst recht auf welche Weise
diese geschehen soll, gilt als Privatangelegenheit.36 Vor dem Hintergund der traditionell körpervergessenen Geschichte abendländlischer Philosophie stellen die im
Timaios kategorial ausgearbeiteten „Fitnesstipps“ eine seltene Ausnahme dar, die
bislang kaum beachtet worden ist.37 Abschließend sollen diese drei kinesiatrisch31
32
33
34
35
36
37
120
Ebd., S. 199 (87 d).
Platon, Timaios, a. a. O., S. 201 (88 c).
Ebd., S. 201 (88 c).
Ebd., S. 203 (89 a).
Pharmakon heißt ursprünglich: 1. Gift, Zaubermittel. 2. Gegengifte, Heilmittel. 3. Färbemittel, vgl.
Gemoll, a. a. O., S. 834. Mehr dazu weiter unten ab c) pharmazeutisch.
Eine Reserviertheit die ihren logischen Grund vermutlich in dem Postulat der Unfassbarkeit des
Individuellen (Individuum est inafffibile) hat.
Einzig der Renaissance-Philosoph Marsilio Ficino (1433–1499) hat Platon als ‚Turnvater‘ ernstge-
Ivo Gurschler
kinesiologischen Bewegungs- bzw. Verkehrsmodi – unter den Registern a) automobil b) transportativ und c) pharmazeutisch – im Einzelnen näher vorgestellt, durch
die Heranziehung einiger weiterer, zumeist platonischer Texte plausibilisiert und
ansatzweise anhand ergänzender Beispiele aktualisiert werden.
a) automobil
Was heutigen Sportfreunden das Training im Fitnessstudio ist, war den ‚alten Griechen‘ die Gymnastik.38 Bringt man den eigenen Körper in jüngster Zeit bevorzugterweise in vollklimatisierter Umgebung und dazu passender, leichter Bekleidung
in Form, so hielt man sich früher in der Regel unter freiem Himmel auf, und war
dabei meistens gymnós, d. h. „nackt“. Platons Begriff der Gymnastik wird im Buch
VII der Gesetze näher ausgeführt. Dort geht es, ähnlich wie schon im Laches, um
Fragen der adäquaten „Regelung des Unterrichts“ für den Nachwuchs eines idealen Staates.39 Ab dem sechsten Lebensjahr müsse mit den kindlichen Spielereien
langsam Schluss sein, und die Knaben „und ebenso auch, falls sie damit einverstanden sind, die Mädchen [...] sollen zu den Lehrern im Reiten, Bogenschießen, Speerwerfen und Schleudern gehen“.40 Anders als sein Schüler Aristoteles, der die rechte Körperhälfte als „von Natur“ aus stärker erachtet,41 vertritt Platon den neuroplastischen Standpunkt wonach wir unsere Gliedmaßen erst „durch unsere
Gewohnheiten verschieden gemacht haben“42. Besonders die Unterweisung im
Umgang mit schweren Waffen könne dazu beitragen, die ansonsten vernachlässigte linke Seite des Körpers zu stärken.
Hier wird wiederum deutlich, dass Leibesübungen bei Platon niemals bloß
38
39
40
41
42
nommen und dessen diesbezügliche Lehren im Rahmen der seinerzeitig aktuellen Säftelehre
weiter ausgebaut. Vgl. ders., De vita libri tres / Drei Bücher über das Leben, München 2011.
Von der wesentlich auf Vervollkommnung ausgerichteten Gymnastik kann die medizinische oder
Heilsgymnastik, die auf Höchstleistungen abzielende Athletik und die kämpferische Agonistik
unterschieden werden. Vgl. Julia-Helene Schöler: Über die Anfänge der Schwedischen Heilgymnastik in Deutschland – ein Beitrag zur Geschichte der Krankengymnastik im 19. Jahrhundert, Münster
2005, S. 20. Platon selbst macht diese Unterscheidung nicht. Für eine kurzweiligen Überblick zu
den griechischen Sportarten, vgl. Lukian: Leibesübungen im alten Athen, Zürich 1963.
Platon: Gesetze (Buch VII–XII). Werke in acht Bänden, Bd. 8, Teil 2, Darmstadt 2011, S. 75 (813 b).
Ebd., S. 21 (794 c f.).
Vgl. Aristoteles: Über die Fortbewegung der Lebewesen. Werke in dt. Übersetzung, Berlin 1985, S. 73
(706 a). Aristoteles ist nicht nur von einem natürlichen ‚Rechts-Vorrang’ überzeugt, sondern auch
davon, dass vorne besser als hinten und oben besser als unten ist – jedenfalls für sich aufrecht
auf zwei Beinen fortbewegende Menschen. Bei den sich über Wurzeln ernährenden Pflanzen
hingegen sei unten oben, ebd. (706 b).
Platon, Gesetze, a. a. O., S. 23 (794 e).
Platonische Mobilmachung
121
Selbstzweck sind.43 Während im Timaios eine Bewegung des Körpers dem Wissenserwerb und letztlich dem persönlichen Seelenheil dient, zielen die körperbezogenen Ausführungen in den Nomoi weniger auf eine Kräftigung des individuellen, sondern vielmehr des Staatskörpers ab. Entsprechend werden die „Bewegungen des ganzen Leibes“44 hier nicht im Rahmen einer, einen etwaigen Nachvollzug
nahelegenden Weise, sondern spektaktulär-distanziert als Schauspiel behandelt,
wenn analytisch zwischen den zwei Tanzformen emmelia und phyrriche unterschieden wird.45 In beiden Fällen geht es um die „Darstellung schöner Leiber und einer tapferen Seele“ – bei der ernsten phyrriche um solche, „die in Krieg und gewaltige Anstrengungen verstrickt sind“, bei der emmeleia dagegen um solche, die sich
„guten Gedeihens und maßvoller Lust erfreu[en]“.46 Eine dritte Kategorie, der ekstatisch-exzessive „bakchische Tanz“, wird dann noch erwähnt, im selben Zug jedoch als für staatliche Zwecke bedeutungslos – und deswegen im vorliegenden
Kontext irrelevant – diskursiv eingeklammert.47
Findet bei einer Bewegung gleichzeitig auch eine Ortsveränderung statt, spricht
man von Fortbewegung. Im automobilen Register ist das Gehen der für die conditio humana üblichste Modus, sich von A nach B zu bewegen.48 Dabei wird der ganze Körper bewegt, aber nicht wie beim Springen mit einem Satz (wie schon Aristoteles beobachtet hat),49 sondern indem man einen Fuß vor den anderen setzt:
Während das eine Bein sich durch die Luft pendelnd von hinten nach vorne
schwingt, dient das andere als ‚vorübergehend‘ arretierter Fixpunkt, und umgekehrt.
Somit muss also, wie wiederum Aristoteles beobachtet hat, „im Lebewesen etwas
Unbewegtes vorhanden sein [...], wenn es sich bewegen will“; darüberhinhaus muss
es aber „noch (viel) mehr außerhalb von ihm etwas Unbewegtes geben, auf das gestützt, das Sich-Bewegende sich bewegt“.50
Moderne Fließband- oder Tretmühlen-artige Apparaturen wie Laufbänder, Ergometer und dergleichen erlauben den repetitiven Vollzug von natürlicherweise
mit einem Ortswechsel einhergehenden Bewegungen, ohne sich von der Stelle zu
bewegen. Bei diesem „rasenden Stillstand“ (Paul Virilio) können durch eine Ände43
44
45
46
47
48
49
50
122
Für eine alternative Position vgl. z. B. Hans Ulrich Gumbrecht: Lob des Sports, Frankfurt a. M.
2005.
Ebd., S. 81 (814 d).
Emmeleia, d. h. Wohlklang, Harmonie; phyrriche ist eigentlich die Bezeichnung eines spezifischen
Waffentanzes, steht also pars pro toto.
Ebd., S. 81 (814 d).
Ebd., S. 83 (815 c).
Für eine rezente Ode an die unter Schriftstellern und Philosophen beliebteste Fortbewegungsart
vgl. Tomas Espedal: Gehen. Oder die Kunst ein wildes und poetisches Leben zu führen, Berlin 2011.
Vgl. Aristoteles, a. a. O., S. 70 (705 a).
Ebd., S. 10 (698 b). Aristotelisch betrachtet ist mithin die Forderung auf eigenen Beinen zu stehen ebenso unmöglich, wie der Versuch sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf zu ziehen.
Ivo Gurschler
rung der Geräteeinstellungen Gefälle simuliert und Geschwindigkeiten geändert
werden.51 Zu Aristoteles wie zu Platons Zeiten hingegen, war geräteunterstützte
Bewegung nicht zur Leibesübung, sondern allein im Modus gezielten Fortbewegens, also unter Einsatz von Transportmitteln verbreitet.
b)
transportativ
Der vom beförderten Menschen selbst aufzubringende Anteil an Kraft ist abhängig von Bauart und Größe bzw. Gewicht des jeweils verwendeten Fahrzeugs. Die
Antriebsenergie kann unmittelbar von Lebewesen (Last- bzw. Zugtieren52 oder
menschlichen Trägern) stammen, sich aus natürlich gegebenen Bedingungen ableiten (zu Wasser sind das vor allem Auftrieb und Strömung, auf dem Land Gefälle, und auf beiden der Wind) oder auch indirekt anhand inerter Brennstoffe (wie
Kohle, Öl oder Erdgas), durch Kernspaltung und aus Sonnenstrahlen gewonnen
werden.53 Hinsichtlich der platonischen Klassifikation von Bewegungsmodi gilt:
Je geringer der relative Anteil an der insgesamt erforderlichen Kraft vonseiten desoder derjenigen, welche/r die Bewegung mitvollzieht, desto näher rückt man der
‚transportativen‘ Kategorie. Die Übergänge zwischen diesem Register und den als
‚automobil‘ beschriebenen (Fort-)Bewegungsweisen sind mithin fließend.
Platon erachtet die natürliche Seinsweise des Menschen als eine bewegte.
Krankheit bedeutet eine Blockade des lebendigen Stroms und deswegen lautet
der allgemeine Rat „den Körper am besten niemals im Ruhezustand“ 54 zu belassen. Wenn die Bewegung nicht von sich aus vollzogen werden kann oder aus
eigenem Antrieb möglich ist, kann sie auch unter Einsatz von Fahrzeugen in die
Wege geleitet werden. Derartige Transportunternehmungen haben ihren vorran51
52
53
54
Beim sogenannten Crosstrainer bekommt man das Gefühl, sich wie unter Wasser, oder, je nach
eingestelltem Level, in einem mehr oder weniger dickflüssigen Medium (fort-) zu bewegen. Was
die Beibehaltung von Richtungen sowie die Exaktheit der Bewegungsabläufe betrifft, haben dergleichen Apparaturen eine erleichternde Funktion; es sind jedoch gerade die gezielten Erschwerungen, welche die gewünschten Effekte – eine Stärkung der Muskulatur oder eine Verlängerung
der ‚Ausdauer‘ – herbeiführen sollen.
Am Beispiel von „Esel oder Pferde[n]“, die „von sich auch (wenn sie nicht gerade schwanger sind)
buchstäblich nichts und niemanden mitnehmen können“, macht Walter Seitter klar, dass „mit
Fahrzeug oder Transportgerät [...] immer so eine Art Verbund gemeint [ist]: ein Verbund aus
mindestens zwei ‚Partnern‘.“ Ders.: Physik der Medien. Materialien. Apparate. Präsentierungen, Weimar 2002, S. 244.
Zum Verhältnis von Transport und natürlichen Bedingungen, vgl. Charles Horton Cooley, The
Theory of Transporation (1894), in diesem Band S. xxx–xxx; zur epochalen Bedeutung der erstmaligen Verwendung von Dampfkraft vgl. James Beniger, The Control Revolution (1986), in diesem
Band, S. xxx–xxx.
Ebd., S. 201 (88 d).
Platonische Mobilmachung
123
gigen Zweck nicht in der zielgerichteten Beförderung von jemandem von A nach
B, sondern darin, dass sich die Fahrt beim Passagier eindrücklich spürbar macht.
Dass ausgerechnet das „Schaukeln auf Schifffahrten“ zur Illustration dieser ‚transportativen‘ Kategorie dient, mag verwunderlich erscheinen, da gerade diese Bewegungsweise weniger für ihre wohltuende Wirkung, sondern vielmehr dafür
bekannt ist, mitunter bis zum Erbrechen führende Übelkeit hervorzurufen. Einen Anhaltspunkt zum besseren Verständnis dieser Passage – und die diesem
Vorschlag womöglich zugrundeliegenden empirischen Beobachtungen – finden
sich wiederum in Platons Gesetzen. Dort wird die positive Wirkung vom Getragenwerden und Schaukeln zum einen am Beispiel von Kampfvogelzüchtern illustriert, welche ihre Zuchttiere ständig mit sich Herumtragen würden, da sie
aus Erfahrung wüssten, dass dadurch deren Agilität befördert werde.55 Ein weiteres Beispiel ist das von Frauen, die den ungeborenen Nachwuchs etwa neun
Monate lang nicht nur in sich, sondern damit ‚automatisch‘ auch durch die Gegend tragen – weswegen „die Frau“ von dem Dromologen Paul Virilio zu Recht
als „das erste Transportmittel der Gattung, ihr erstes Fahrzeug“ bezeichnet worden ist.56 Aber auch in den ersten zwei bis drei Jahren nach der Geburt sollten
die Babys nicht einfach herumliegen gelassen werden, sondern möglichst körpernah bei den alltäglichen Verrichtungen mit dabei sein.57 Denn die Neugeborenen könnten so – „als befänden sie sich auf einem Schiff“ – ständig mitschaukeln, „bis sie kräftig genug zum Stehen sind“.58
Durch diese Melange aus zoo- und anthropologischen Beobachtungen soll die
positive Wirkung von Getragenwerden und Schaukeln als hinreichend plausibilisiert gelten, sodass verallgemeinernd festgestellt werden könne,
„dass alle Leiber einen Nutzen davon haben, wenn sie ohne eigene Anstrengung
durch alle Arten von Erschütterungen und Bewegungen bewegt werden, die sie
entweder durch sich selbst oder auch im Wagen oder auch auf dem Meere erfahren
oder wenn sie auf Pferden reiten oder von sonst etwas wie auch immer getragen
werden.“59
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Platon, Gesetze, a. a. O., S. 5 (789 c).
Paul Virilio: Fahren, fahren, fahren ..., Berlin 1978, S. 74.
Mit ihrem in den 1980ern erstmals erschienenen Bestseller Auf der Suche nach dem verlorenen
Glück. Gegen die Zerstörung unserer Glücksfähigkeit (München 2005) hat Jean Lidloff wesentlich
zur Popularisierung der Annahme des Baby-Tragens als ein prägendes Element frühkindlicher
Entwicklung beigetragen, vgl. insb. S. 76 ff. Lidloff hat diese Technik nicht wie Platon von Kampfvogelzüchtern abgeschaut, sondern im Rahmen ethnographischer Studien bei den – als besonders glücklich geltenden – südamerikanischen Ye‘kuana beobachtet.
Platon, Gesetze, a. a. O.
Ebd., (789 d).
Ivo Gurschler
Relativ zum Fahren mit Wasser- oder auch Landfahrzeugen ist das Reiten auf dem
Pferd eine um einiges aktivere Form sich fortzubewegen, bzw. zu schaukeln, womit
man wieder in die Nähe des automobilen Registers gerückt wird. Der beim Reiten
erforderliche persönliche Einsatz beschränkt sich nicht allein auf richtungsweisende Handhabung, sondern erfordert zudem ‚ein gerüttelt Maß‘ an selbst aufzubringenden Kräften.60
c)
pharmazeutisch
Der dritte platonische Fitnesstipp wird nur mit Vorbehalt geäußert: die „Reinigung durch Arzneimittel“ (pharmakeutikos katharseos) sei eine Bewegungsweise,
welcher nur im Notfall, wenn „große Gefahren“ drohen, nachgegangen, oder besser, nachgegeben werden sollte.61 Pharmakologische Einflussnahmen führten
innerliche Bewegungen herbei, die sich völlig der Kontrolle des Patienten (von
lat. patiens: [er]duldend, leidend) entzögen: „Soweit man dazu Zeit hat“, müsse
man „alles Derartige durch eine vernünftige Lebensweise lenken“, andernfalls
laufe man Gefahr, „durch die Gabe von Arzneimitteln (pharmakeionta) ein grimmiges Übel [zu] provozieren“.62 Nur solche Menschen, die keine andere Wahl
haben, da sie etwa ihren Geschäften nachgehen müssen, sollen dieses Risiko überhaupt auf sich nehmen. Freie Männer, die – per definitionem – über hinreichend
Muße verfügen, sollten sich, wie dargestellt, entweder selbst bewegen oder sich
bewegen lassen, sodass gewissermaßen die Zeit ihre Wunden heile. Schließlich
gehören auch Krankheiten zum natürlichen Lauf der Dinge und ihr Auftreten
müsse ebenso gelassen hingenommen, wie ihr Abflauen geduldig abgewartet
werden.
Platons genereller Vorbehalt gegenüber pharmakologischem Interventionismus
jeglicher Art, gilt zunächst freilich nur vor dem Hintergrund des damals gebräuchlichen Arzneimittelschatzes. Und wenn an dieser Stelle von pharmakeutikos katharseos, d. h. „in den Bereich der Mittel gehörende Reinigung“63 die Rede ist, deutet
dies – der medizinischen Herkunft des philosophisch appropriierten KatharsisBegriffs entsprechend – darauf hin, dass es hier nicht zuletzt um die Verabreichung
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Ein literarischer Beleg für die re-kreative Wirkung des Reitens findet sich in Hugo von Hoffmansthals Ein Brief (1902). Erst nachdem er sich „zu Pferde, auf der einsamen Hutweide einen
guten Galopp nehmend, wieder einigermaßen herstellte“, konnte Lord Chandos wieder zur Sprache finden. Vgl. ders.: „Ein Brief“, in: Gesammelte Werke. Erzählungen, Erfundene Gespräche und
Briefe, Reisen, Frankfurt/M. 1979, S. 465.
Platon, Timaios, a. a. O., S. 203 (89 b).
Ebd., S. 205 (89 d).
Ebd. [Hervorherbung, I.G.].
Platonische Mobilmachung
125
von abführend wirkenden „Drogen“, wenn nicht unmittelbar von Einläufen, gehen
könnte.64
Wie Jacques Derrida in „Platons Pharmazie“ ausgeführt hat, hat pharmakon eine
ganze Reihe einander teils widersprechender Bedeutungen, die in Übersetzungen,
eben weil es Übersetzungen sind, zwangsläufig außer Acht gelassen werden müssen.65 Aber wie vielfältig der Bedeutungsgehalt von pharmakon auch ist,66 so liegt
dennoch auf der Hand, dass Derrida bei seinen Ausführungen zu „Platons Pharmazie“ die semantischen Batterien ganz anderer Drogensorten anzapft, um seine
Gedanken mit Vieldeutigkeit aufzuladen. Während die platonischen Pharmakoanalogien grosso modo auf Laxativen basieren, scheint Derrida, dessen Text knapp
zweieinhalbtausend Jahre später, Ende der 1960er-Jahre in Paris verfasst worden ist,
vor allem an halluzinogene Substanzen – wie beispielsweise LSD-25 – gedacht zu
haben.67 Obgleich einschlägig informierte Kreise die gewagte These in den Raum
gestellt haben, dass Platon via Eleusinischer Mysterienspiele selbst in den Genuss
vergleichbar dissoziierend wirkender Substanzen gekommen ist,68 hat er, zumindest im vorliegenden Zusammenhang, nur solche Wirkmechanismen im Blick, die
sich in erster Linie unmittelbar körperlich, eben in Form eines inneren, nicht-metaphorisch gemeinten Transportvorgangs manifestieren.
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Zur Geschichte des Klistiers vgl. Friedrich von Zglinicki: Kallypigos und Äskulap. Das Klistier in
der Medizin, Kunst und Literatur (mit 186 Abbildungen), Berlin 1972.
Vgl. Jacques Derrida: „Platons Pharmazie“, in: Disseminationen, Wien 1995, S. 69–192.
Vgl. weiter oben, Fussnote 35 in diesem Text.
Vgl. dazu Ivo Gurschler: „Pharmakon taxis“, in: Johanna Braun (Hg.): Beschwörungsrituale. An
Elisabeth von Samsonow, Wien/Berlin 2016, S. 195–205.
Diese These ist freilich nicht unumstritten. Auf den unerhörten Punkt gebracht hat sie der Ethnomykologe Gordon Wasson: „It is clear to me, where Plato found his ‚Ideas’ [...] Plato had drunk
of the potion of the Temple of Eleusis and had spent the night seeing the great Vision.“ Vgl. R.
Gordon Wasson, Albert Hoffmann, Carl A. P. Ruck: Der Weg nach Eleusis. Das Geheimnis der
Mysterien, Frankfurt 1984. (Hier zitiert aus dem englischen Originaltext, online auffindbar unter: ergotism.info/en/eleusis.pdf)
Ivo Gurschler